Arbeit und Recht seit 1800: Historisch und vergleichend, europäisch und global 9783412216696, 9783412222789


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Arbeit und Recht seit 1800: Historisch und vergleichend, europäisch und global
 9783412216696, 9783412222789

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Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 87

Joachim Rückert (Hg.) Arbeit und Recht seit 1800

Joachim Rückert (Hg.)

Arbeit und Recht seit 1800 Historisch und vergleichend, europäisch und global

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar.

Umschlagabbildung: „Wir wollen den Frieden, Freiheit und Recht / dass Niemand sei des Andern Knecht / daß Arbeit aller Menschen / Pf licht“ Gestickte und eingerahmte Losung der Arbeiterbewegung. o.J., wohl spätes 19. Jahrhundert © bpk.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22278-9

Inhalt Joachim Rückert Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung: Arbeit definieren

Joachim Rückert Das Reden über Arbeit – allgemein und juristisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ute Schneider Reden über „Arbeit“. Das Bürgerliche Gesetzbuch und das Familiengesetzbuch der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robert Knegt ‚Arbeit‘ und ‚Recht‘: Begriffe und Verhältnisse – ein Kommentar . . . . . . . . . .

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I. Sich Recht verschaffen

Andreas Eckert Recht und „das Evangelium der Arbeit“. Die Etablierung und Praxis arbeitsrechtlicher Regelungen im kolonialen Britisch-Afrika vor dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Naoko Matsumoto Rechtliche Mittel zur individuellen Arbeitskonfliktlösung in Deutschland und Japan um 1900. Ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Jürgen Brand Das geleugnete Erbe. Ancien Régime, modernes Arbeitsrecht und Gewerkschaftsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Willibald Steinmetz Kommentar: Sich Recht verschaffen. Vergleichende Betrachtungen zu Britisch-Afrika, England, Japan und Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin und Recht

Paul-André Rosental Zur Silikose und den Widersprüchlichkeiten des Konzepts „Berufskrankheit“ 189

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Inhalt

Christoph Boyer Sozialpolitik und Recht in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 205 Christoph Conrad Mikro- und Makro-Pfadabhängigkeiten. Ein vergleichender Kommentar . . . 219 III. Arbeitsregime im Übergang

Christoph Rass Unfreie Arbeit und globale Mobilität vom 19. bis ins 21. Jahrhundert . . . . . . 229 Thorsten Keiser Vertragsbeendigung und Arbeitsregime in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Sabine Rudischhauser Eine andere Nation. Überlegungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich, 1890–1918 / 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Friedrich Lenger Arbeitsregime im Übergang – ein vergleichender Kommentar . . . . . . . . . . . . . 319 IV. Der Staat als Arbeitgeber

Therese Garstenauer Der Staat als Arbeitgeber. Österreich und Sowjetrussland / die Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Thomas Pierson Die deutsche Stadt als Arbeitgeber im 19. und 20. Jahrhundert und das öffentliche Dienstrecht in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Lutz Raphael Vergleichender Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Bernd Waas Besonderheiten des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst und vergleichender Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

Joachim Rückert

Einleitung

1. Der Kontext Die Tagung stand im Kontext der Konferenzserie des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte e.V. über „Alte Arbeit – Neue Arbeit. Arbeit und Gesellschaft seit 1800“. Mit diesem Gesamtthema widmete sich der Arbeitskreis in 2010–2012 einem neuen Forschungsbereich. Ziel war es, in vergleichender wie geschichtlicher Perspektive unter Einbeziehung globalhistorischer Ansätze eine neue Vermessung der Geschichte von Arbeit anzustoßen. Sie wird nun verstanden als Beschäftigung mit Arbeit, also nicht vor allem mit der Geschichte der Arbeiterbewegung, sondern auch mit den produktiven wie reproduktiven Aspekten des Lebensalltags der Arbeitenden, dem konkreten Arbeitshandeln, der Arbeitspraxis und ihren Kontexten. Der Bereich Arbeit und Recht spielt bei diesem Interesse eine zentrale Rolle. Denn der Faktor Recht bildet aufgrund der damit verbundenen Zwangsdrohung und Zwangsgewalt eine der härtesten historischen Strukturen, gerade auch in der Welt der Arbeit. Diese Struktur ist nicht nur besonders hart, sondern auch umfassend. Sie betrifft die gesamte Welt der Arbeit, grenzt sie ab, gibt ihr einen prägenden Rahmen und bisweilen scharfe Richtungen. Eine eigene Konferenz dazu erschien daher wichtig und aussichtsreich. Im Bewusstsein der nicht so gewohnten Fragestellung hatten wir, d.h. eine kleine Arbeitsgruppe des Arbeitskreises, der Tagung einen Diskussionstreff vorgeschaltet. Beraten wurde eine Vorlage, die die gemeinsame Fragestellung klären und entwickeln sollte. Diese Vorlage wurde von mir überarbeitet und den Vortragenden mit der Bitte um Beachtung zugesandt. Im Kern kehrt sie nun in den nachfolgenden Überlegungen wieder.

2. Der Forschungsstand Der Bereich Arbeit und Recht ist im Ganzen wenig erforscht. Es existieren zwar manche Überblicke zur Geschichte des Arbeitsrechts, aber sie vernachlässigen den sozial-, kultur- und lebensformgeschichtlichen Aspekt, siehe z. B. Mayer-Maly (1986).1 1

Siehe die Nachweise am Ende dieser Einleitung.

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Eine eigenständige, quellengestützte Gesamtdarstellung der Geschichte der Arbeit fehlt. Erst recht fehlen zusammenfassende Darstellungen des Rechts der Arbeitswelt, wohlgemerkt nicht nur der Geschichte des Arbeitsrechts, wie sie etwa die „Beschreibende Bibliographie zur Geschichte des Arbeitsrechts mit Sozialrecht, Sozialpolitik und Sozialgeschichte“ für den Erfassungszeitraum 1945 bis 1993 verzeichnete.2 Anregend und hypothesenfördernd waren und sind vor allem einige größere allgemeinhistorische Erzählungen, so die klassische Untersuchung von E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, zuerst 1963, die Geschichte der Arbeit von Frans van der Ven, zuerst niederländisch 1965 bis 1968, dann deutsch unter dem Titel „Sozialgeschichte der Arbeit“, Band 1–3, 1972, und die neuere Studie von Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, zuerst französisch 1995, deutsche Übersetzung 2000. Thompson kennt die Rechtsverhältnisse genau und berücksichtigt sie immer wieder. Er interessiert sich aber primär für die Faktoren Lebensform, Kultur, Staat generell und Politik. Van der Ven liefert eine etwas heterogene Gesamtgeschichte und versucht, sie um den Gegensatz von gebundener und freier Arbeit beim Lohndienstvertrag herum zu strukturieren. Er bestimmt freilich diesen Gegensatz nicht klar genug, nämlich zu starr und bloß normativ, und historisiert ihn nicht hinreichend für die einzelnen Epochen und Bereiche von Arbeit. Castel unterscheidet nach Vormundschaft, Vertrag und Status. Er sieht darin einen verstehenden Zugang, dem es vor allem um eine Geschichte der Gegenwart geht. In der Gegenwart beschäftigt ihn die neuartige Gegebenheit, wie er sagt, von Zuständen der Haltlosigkeit innerhalb der Sozialstruktur. Arbeit wird also zu einer Zone sozialer Kohäsion. In diesem Sinne geht es tatsächlich um die Metamorphosen der sozialen Frage und nicht um eine „Chronik der Lohnarbeit“, wie der deutsche Titel nahelegt. Zugleich richtet sich damit das Interesse aber nicht primär auf die Zusammenhänge von Arbeit und Recht, sondern auf die Grenzbereiche von Arbeit und Nichtarbeit.

3. Die Gegenstände „Arbeit“ und „Recht“ Arbeit muss hier weit gefasst werden, um nicht den Geschichtsverlauf und Quellenbereich sofort unkontrolliert zu verengen. Also muss prinzipiell jede Tätigkeit zur 2

Hg. von Joachim Rückert, Baden-Baden 1996, vgl. hier die Hinweise auf Übergreifendes in Nr. 32 ff., 76 ff., 248 ff.; siehe aber inzwischen meinen Beitrag zu Dienstvertragsund Arbeitsvertragsrecht, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Bd. 3: Besonderes Schuldrecht, Tübingen 2013, S. 700–1231, sowie Andreas Deutsch  / /  Thorsten Keiser, ebenda, S. 1232–1351, zu den besonderen Pflichten und zur Beendigung.

Einleitung

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Sicherung des Überlebens in den Blick kommen, die abhängige und grundsätzlich gebundene wie die freie und grundsätzlich ungebundene, die versklavte wie die professionell freie, die auf regionalen und nationalen Märkten ebenso wie die auf internationalen und globalen Märkten. Die Grenze ist das Gegenstück, das otium, die Muße, der moderne Rentier und Kapitalist. Da es um Arbeit und Recht gehen soll, bleibt die Arbeit für sich selbst oder als Gefälligkeit oder ähnlich beiseite. Hier stellen sich keine Rechtsfragen. Gegenstand sind daher die Tätigkeiten für andere gegen irgendein Entgelt. Hier entstehen stets Regelungen und Regelungsprobleme. Ebenso weit zu fassen ist Recht. In den Blick genommen werden muss jede Norm mit Geltung in einer größeren Gruppe, insbesondere mit kollektiven Zwangsdrohungen und entsprechendem Vollzugsapparat. Es kommt aber darauf an, dass außer den Parteien selbst eine die allgemeinen Regeln vollziehende Instanz mitwirkt. Seit der Frühen Neuzeit handelt es sich dabei insbesondere um staatliche Instanzen, aber erst im späteren 19. Jahrhundert so gut wie ausschließlich. Patrimonial- und Zunftgerichtsbarkeit waren nun erst verdrängt. Daneben standen autonomes Zunftrecht, widerständige Praktiken (Blauer Montag, Kurzarbeit) und ähnlich eigensinniges und eigenständiges Recht. In diesem Sinne, mit Sanktion bewehrt, bildet Recht eine harte Struktur, die die Arbeitswelt nachhaltig prägt, steuert, hemmt, bedingt oder sonst beeinflusst. Sie setzt nicht nur einen Rahmen, sondern greift auch direkt zu. Der Rahmen entsteht auf sehr verschiedene Weise, z. B. durch das Rechtsinstitut Eigentum an Menschen in der Sklaverei, durch die Bodenbindung beim Stand der Kolonen, Schollengebundenen und Leibeigenen, durch die Geburtsstandsbindung bei Sklavenarbeit, Handel, Handwerk, ländlicher Arbeit, Gesinde, Taglöhnern usw., durch die bloße Vertragsbindung bei der sog. freien Arbeit (nicht seit der Neuzeit, bes. im frühen Bergrecht und durchaus in den Städten schon des Mittelalters), vor allem aber auch durch weitere Rechtsinstitute wie das Strafrecht zum sog. Vertragsbruch (Pflichtenverletzung wie Nichtantritt, Entlaufen, Abzug usw.), das besondere Arbeitsstrafrecht der Kolonien, das alte Policeyrecht über die sanktionierte Verordnung von Taxen, die Hilfe bei der Ortsbindung (Gesinderückholung), über Zuchthaus, Arbeitshaus usw. Das Prozessrecht mischt sich ein über die Ausbildung oder Nicht-Ausbildung von Gerichtsbarkeiten, wie Zunftgerichte, Stadtgerichte, Patrimonialgerichte, Fabrikgerichte, Handels-, See-, Militär-, Gewerbe-, Arbeitsgerichte usw. Das öffentliche Recht kommt dazu im weitesten Sinne über Armenrecht, Arbeitsmarktregeln, Streikrecht, Versammlungsrecht, Koalitionsrecht, Wahlrecht oder umgekehrt Zwangsarbeit usw. Auch das Privatrecht der Arbeitsverträge ist betroffen etwa durch die rechtliche Disziplinierung in Fabrik-, Arbeits-, Tarif- und Betriebsordnungen, durch Mindestlöhne, zwingende Arbeitsbedingungen, Kündigungsregeln usw.

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4. Zugriff Dieser große Gegenstand Arbeit und Recht in seinem Zusammenhang sollte nach Orten und Räumen, Zeiten und Inhalten durchdacht und erforscht werden. Für die Orte und Räume ist der Ansatz dezidiert global, d.h., es sollte ein Weg gefunden werden, das Thema Arbeit und Recht in einer nicht nur europäischen Perspektive als Problemeinheit zu fassen und zu erforschen, um nicht in Kaleidoskopbildern stecken zu bleiben. Was die Zeiten angeht, konnte nicht von bewährten Epochen ausgegangen werden. Fest steht nur, dass die großen epochalen Brüche, wie etwa in Europa ‚um 1800‘ und erneut mit der deutlicheren Ausbreitung Großbetriebsindustriearbeit nach ca. 1900 oder auch schon im langen Übergang von der Sklaverei und Leibeigenschaft oder besser „Leibherrschaft“ her, in den Blick genommen werden mussten. Ohne die Hypothese einer gewissen Problemeinheit lassen sich diese Felder nicht rational verknüpfen, sondern nur mehr oder weniger interessant abschildern. Eine diskursive Problemeinheit mit den heutigen globalen Räumen lässt sich vor allem herstellen über die Hypothese einer gewissen Ähnlichkeit und Wiederkehr der Probleme und Lösungen. Europa wurde dabei gewissermaßen der alte Vergleichsfall, nicht Modellfall, für die neuen Fälle von Arbeitswelten. In diesem Sinne ließ sich eine Problemeinheit von wiederkehrenden Regelungen und Regelungsproblemen denken und erproben. Damit waren noch keine konkreten Orte, Räume oder Zeiten, keine Makro- und keine Mikroperspektive festgelegt. Diese Festlegungen mussten aus einer konkreteren thematischen Perspektive entstehen. Natürlich muss der Kontext solcher „Wiederkehr“ sehr beachtet werden. Moderne Arbeitswelten liegen im ‚Schatten des Leviathan‘, also der rechtlich und faktisch voll ausgebildeten staatlichen Zwangsgewalt (z. B. wirksame Polizei, Inspektion, Grenzkontrolle usw.). Außerdem haben sich die ökonomischen und sozialen Bedingungen sehr gewandelt (z. B. neue Industriearbeit, hochorganisierte Großbetriebsarbeit, Großvorhaben mit vielen Beteiligten, neue Arbeiterkulturen, neue Widerstandspotentiale).

5. Konkretere Fragestellungen Auch dafür kommt es entscheidend darauf an, gemeinsame Fragestellungen aus einer Problemeinheit zu entwickeln. Nur so kann die additive Schilderung von Arbeitsund Rechtsphänomenen vermieden und ein wirklicher Vergleich in Gang gebracht werden, vertikal wie horizontal. Eine solche gemeinsame Fragestellung kann sich hier nicht sozial-, ökonomie- oder lebensformhistorisch in Bezug auf Arbeit ergeben, sondern muss vom Bereich Recht

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her gefunden werden. Das hat den Vorteil, dass ein durchgehender Fragerahmen gebildet werden kann, der Vergleiche produktiv freisetzen kann. Als grundlegende Perspektive bietet sich immer noch der Gegensatz von prinzipiell gebundener und prinzipiell freier Arbeit an.3 Freilich darf er nicht nur normativprinzipiell verwendet werden, sondern er ist historisch aufzulösen in real erfassbare Intensitätsgrade: Wie frei und wie gebunden in welchem Punkt waren zu einer bestimmten Zeit und in welchen Bereichen die Arbeitswelten rechtlich  /  faktisch strukturiert, das muss die Frage sein. Ein zentrales Kriterium dafür kann sein, welche Alternativen man überhaupt hatte, aus einer konkreten Arbeit in eine andere Arbeit zu wechseln. So hatten der Sklave und der persönlich unfreie, z. B. schollengebundene Arbeiter kaum eine Alternative (Entlaufen, Stadtluft macht frei, Freilassung evtl.). Auch die geburtlich Standesgebundenen hatte nur geringe Alternativen. Rechtlich bessere Alternativen hatten die sog. frei (die Bezeichnung wird erst im 19. Jahrhundert erfunden), d.h. bloß vertraglich Arbeitenden. Aber die rechtlichen Chancen waren vielfach verlegt; teils durch juristische Elemente (etwa teurer Bürgerrechtserwerb in den Städten, Ausbildungskosten, Zertifikate), teils durch reale sozioökonomische Behinderungen. „Frei, aber vogelfrei“ konnte so zum geflügelten Wort werden im späten 19. Jahrhundert in Deutschland, als man die provozierende Spannung zwischen dem Versprechen gleicher Freiheit (nicht schlichter Gleichheit) und den ungleichen Realitäten stark empfand. Direkte und indirekte Zugriffsversuche über das Policeyund Polizeirecht, das Strafrecht, die Steuerung des Arbeitsmarktes, die Verbote von Koalitionen und Streiks konnten Instrumente sein, um die Alternativen zu mindern.4 Ebenso haben die sog. Wohlfahrtseinrichtungen der Großbetriebe im späten 19. Jahrhundert (Werkswohnungen, Kantinen, Kinderbetreuung, Krankenversorgung, Ärzte), soweit sie direkt mit den Arbeitsverträgen verknüpft waren, die Betriebsbindungen relevant erhöht und damit die Alternativen und die freie Emanzipation geschwächt. Man kann davon ausgehen, dass dieses Problem nicht nur ein Problem in Europa war und ist, sondern auch eines der globalen Arbeitswelten und Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Wiederkehr der Probleme lässt sich sehr vermuten – über alle Beschleunigung hinweg.

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Dazu Joachim Rückert in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (Fn. 2), hier zu vor § 611 ff., bes. in Rn. 7 ff, 149 ff., und zu § 611 Rn. 118 ff. Dazu jetzt umfassend die Frankfurter Habilitationsschrift von Thorsten Keiser, Vertragsfreiheit und Vertragszwang im Recht der Arbeit von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne, Frankfurt a. M. 2013.

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6. Durchführungsperspektiven Dieser allgemeine Gesichtspunkt muss konkretisiert werden auf bestimmte reale Regelungsprobleme hin, die gewissermaßen jede Arbeitswelt dem Recht stellt: Eine Reihe von Aspekten bietet sich dafür an: (1) In jedem Arbeitsverhältnis geht es um den Einstieg und Anfang, um die Störungen, um den Umfang, den Ablauf und die Beendigung. (2) Der Einstieg kann geregelt sein durch direkten Zwang (z. B. Arbeitslager, KZ, Gulag), Eigentum (z. B. Sklaven), Geburtsstand (Leibeigene, Frondienstverpflichtung) oder Vertrag allein. Beim Vertrag können sehr verschiedene Abschlusslagen (z. B. auf dem Land, in der Stadt, als Handwerker, beim Gesindemarkt, als Tagelöhner) von Einfluss sein. Die ‚Erfindung‘ stillschweigender Bedingungen ist oft relevant (z. B. stillschweigende Verlängerungen, Gewohnheiten zu Arbeitszeiten, -orten und -prei­sen, Verkehrssitten in bestimmten Verkehrskreisen). (3) Bei den Störungen kann es um konkrete oder generelle Arbeitsausfälle gehen, also um individuelle Störungen oder generelle Krisen, in der Folge dann um Nachholung oder Verzicht, um Lohnzahlung trotz Nichtarbeit, oder auch um Schlechtarbeit, Ersatz und Abzüge. (4) Bei der Lohnzahlung bilden die Naturalentgeltteile oft einen kritischen Bereich, im agrarischen Feld wegen der Verschiebungen des Nahrungs- und Geldwertes, die gerne zur Minderung genutzt wurden, im gewerblichen, wenn es zum sog. Trucksystem kam. Aufrechnungsmethoden, Lohnabzüge und Ähnliches spielen eine große Rolle (z. B. Abzüge bei kleinen Verspätungen, bei Akkordverfehlung im Gedinge oder beim sog. Wagennullen im Kohlebergbau). (5) Störungslösungen müssen für die Risiken und Gefahren bei Unfällen, die Haftung (z. B. objektive Haftung ohne Verschulden) und die Versicherungen (z. B. freie Kassen, gesetzliche Unfallversicherung) sowie für Krankheitsfälle gefunden werden (z. B. Unfall- und Krankenversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Sozialhilfe). (6) Für den Umfang kommt es an auf Vollarbeit, Freizeit, Urlaub, Blauen Montag, Freizeitvorschriften (Feiertage, Arbeitszeiten, Kirchgang, Tanzverbote) und dergleichen. (7) Für den Ablauf zählen Disziplinregeln (Zeit, Ort, Körper, Züchtigung), Aufsicht oder freiere Beweglichkeit. (8) Für die Beendigung kommt es an auf die Struktur als Verträge, auf bestimmte Zeit wie vor 1900 überwiegend (besonders beim Gesinde) oder auf unbestimmte Zeit wie seitdem; entsprechend geht es um außerordentliche Kündigungsmöglichkeiten oder stillschweigende Vertragsverlängerungen bei den Zeitverträgen oder normale befristete Kündigung und sofortige Kündigung bei unbestimmter Zeit.

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(9) Für die Beendigung kommt es zudem an auf einseitig oder zweiseitig und die Gründe, z. B. einseitig freie Kündigung (Tagelöhner), nach Gründen begrenzte (sog. wichtige Gründe, heute § 626 BGB, früher eher nur enumeriert, etwa Krankheit oder Konkurs beim Arbeitgeber, Heirat beim Gesinde oder Erbfall) oder zweiseitig paritätische (z. B. gleichartige Gründe). (10) Rechtliche Instrumente können auch missbraucht werden, so etwa der Vertrag als Knebelung bis hin zur Indentured Servitude. Von besonderem Interesse ist bei alledem auch die Art der Lösung des Schutzproblems in Sachen Arbeitsgefahren, -platz, -zeit, -lohn usw. Dabei müssen vor allem paternale und emanzipierende Lösungen unterschieden werden, da dies gesellschaftlich von höchster Bedeutung ist. Paternal sind Schutzelemente wie die milde Pflege des kranken Gesindes im Hause oder die Versorgung mit Naturalien auch ohne Lohn oder die Mitversorgung Älterer, nicht mehr Arbeitsfähiger, die volle Aufsicht und Weisungsbefugnis usw. Sie müssen unterschieden werden von „modernen“ Schutzelementen, die im Rahmen einer grundsätzlich freigegebenen Arbeitswelt emanzipierend schützen und nicht zugleich bevormunden dürfen. Emanzipierend heißt also, dass dieser Schutz möglichst die individuellen Fähigkeiten stützen und beleben soll, z. B. die (Lid)Lohnsicherung im Konkurs oder der Pfändungsschutz in Sachen Lohn oder die Privilegierung von Arbeiterkoalitionen für erlaubten Kampf oder der Streik als erlaubter Vertragsbruch oder die Einräumung von Mitbestimmung oder der Aufbau besonderer Gerichtsbarkeiten u.Ä. In allen diesen Fällen ist der Schutz nicht bevormundend objektiviert, so dass er der individuellen Leistung und Initiative keinen Raum mehr ließe, sondern er bezieht gerade diese Leistung ein, rechnet mit ihr und versucht sie zu stützen und zu erhalten. Nicht nur normativ entscheidet das viel, sondern daran hängt eine ganze sozioökonomische Struktur mit Anreizen, Chancen und Risiken und sozialen Stützungen. In diesem Sinne ist auch die Sicherung des sog. Existenzminimums zu betrachten. So dient etwa ein Mindestlohn einer Existenzsicherung, die für jede eigene Entfaltung gebraucht wird, ebenso der Pfändungsschutz oder der Lohnschutz, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die Arbeitszeitbeschränkung auf ein durchschnittlich erträgliches Arbeitsmaß oder das Urlaubsrecht als entsprechende Erholungsmöglichkeit. Andererseits werden „Ausstieg“, Überstunden oder „Urlaubsarbeit“ damit nicht verboten. Mutiert der „Mindestlohn“ zum generellen „Normallohn“ oder „gerecht“ gesetzten Lohn, so erhält er paternale Züge. Einige Instrumente zeigen eine gewisse Ambivalenz, aber die Unterscheidung selbst ist von sehr grundsätzlicher Bedeutung. Wird freilich der Verhandlungsraum durch Taxen, Wirtschaftspläne, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, Zwangsschlichtungen, Marktreduktion (Kriegsarbeitsrecht z. B.) geschmälert oder entzogen, so entfällt Emanzipation ohnehin. Es bleibt dann

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Bevormundung generell oder durch objektiv gesetzte Gruppen mit Vorrang vor den Einzelnen. Geht man von diesen Regelungsproblemen aus, die sich in jedem Arbeitsverhältnis stellen und freilich auf sehr verschiedene Weise gelöst und bewältigt werden, so lässt sich eine relativ einheitliche Fragestellung entwickeln für ganz verschiedene Orte und Zeiten. Probleme wie methodischer Nationalismus oder Eurozentrismus erledigen sich damit. Aus so gerichteten Analysen lässt sich dann ein vergleichender Überblick entwickeln, Tendenzen werden erkennbar und Epochen der Dominanz bestimmter Lösungen. Gedacht ist also an eine in diesem Sinne gemeinsame Fragestellung, die jeweils bestimmte Regelungsprobleme in bestimmten Arbeitswelten untersucht und die Eigenart ihrer Probleme und Lösungen zum Verständnis bringt. Auf der Basis der gemeinsamen Fragestellungen und Durchführungen kann dann ein sachhaltiger Vergleich entwickelt werden. Der rechtliche Rahmen erhält z. B. nicht zuletzt die Differenzierungen der ständischen Gesellschaft aufrecht und stützt das paternale Element. Andererseits kann er solche Status-Differenzierungen einebnen und damit anderen Faktoren weitgehend die Gestaltung der Arbeitswelten ermöglichen, etwa ökonomischen, sozialen und politischen. Bei alledem kommt es darauf an, dass die heutigen Unterscheidungen von Privatrecht, öffentlichem Recht, Strafrecht und Prozessrecht nicht etwa als autonome Rechtssektoren verstanden werden. Der rechtliche Rahmen der Arbeitswelt kann nur geklärt werden, wenn das Zusammenspiel all dieser Rechtselemente dabei im Blick bleibt. Das kann natürlich nicht leicht eingelöst werden. Es ergibt sich nicht aus der leichter zugänglichen gelehrten Rechtsliteratur, sondern erst aus der umgekehrten Perspektive vom Fall her, die nicht so quellenreich vertreten ist.

7. Arbeitsregime global In dem auf diese Weise strukturierten Problemrahmen lassen sich nun konkret verknüpfbare Forschungen aus sehr weiten Räumen und Zeiten leisten. Denn überall können die soeben entwickelten Fragen gestellt werden. Die Unterschiede in den Lösungen für Regelungsprobleme in verschiedenen Arbeitsregimen lassen sich sodann strukturieren und vergleichen, teils in den Einzelbeiträgen, teils in zusammenfassenden Zugriffen.

8. Tagungsstruktur und Themenfelder Für eine fruchtbare gemeinsame Durchführung kam es also auf eine gewisse thematische Verknüpfung und explizite Vergleichsarbeit an. Die Ähnlichkeiten- und Wiederkehr-

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Hypothese muss prüfbar werden. Es durften also nicht zu viele heterogene Themenfelder angerissen werden. Vielmehr mussten wenige Schwerpunkte mindestens dreifach bearbeitet werden im Sinne Europa – global – Vergleich. Europa meint den Blick auf einen europäischen Fall, global den Blick auf außereuropäische Fälle. Der Vergleich erfolgte im Wesentlichen in den Kommentaren zu jedem Schwerpunkt. Die Schwerpunkte waren, das sei erinnert, realhistorisch gemeint, die Fragen dazu dann normativ von den Regelungsproblemen her, die Antworten sollten die Verflechtung entwickeln. Es empfahl sich daher nicht, einzelne Regelungsprobleme zu Themen zu machen, z. B. Mindestlohnregeln oder Arbeitsdisziplinregeln usw. Für diesen dreifachen Zugriff wurden entsprechende Schwerpunkte gebildet mit mehreren Referaten und einem vergleichenden Kommentar. Daraus wurden die Einführung und vier Schwerpunkte, nämlich: 0. Arbeit definieren 1. Sich Recht verschaffen 2. Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin und Recht 3. Arbeitsregime im Übergang – Gebundene und freie Arbeit 4. Der Staat als Arbeitgeber

9. Das Ergebnis Das Ergebnis wird hier nur berichtend vorgestellt. Die einzelnen Studien und Kommentare sprechen besser für sich selbst. Trotz viel Geduld, vielleicht zu viel, kam es in zwei Fällen nicht zu einem Beitrag für den Sammelband. Dafür kam ein Beitrag hinzu, der erfreulicherweise auch im Sammelband vertreten ist. Die Einleitung, Arbeit definieren, gab einen sprach- und begriffsgeschichtlichen Überblick und Einstieg. Die bisherigen Perspektiven wurden überprüft, anhand der bisher kaum bekannten Rechtssprache weitergeführt und zeitgeschichtlich ergänzt (Joachim Rückert). Ein sehr bezeichnendes und originelles Beispiel aus dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 kam hinzu. Das BGB enthielt nämlich schon in seiner Erstfassung einige Partien in Sachen Arbeit, zwar nicht im Dienstvertragsrecht, aber an besonderen Stellen (Ute Schneider). Den weitgreifenden Kommentar verdanken wir Robert Knegt. Er betont die harten und riskanten Seiten der Arbeits-Freiheit. Zum BGB ist hier und auch sonst der Hinweis angebracht, dass danach gerade nicht die ganze „Arbeitskraft“ einer Person geschuldet war und ist, sondern stets nur die einzelne Arbeitshandlung, die „Leistung der versprochenen Dienste“ (§ 611 I). Teil 1, Sich Recht verschaffen, thematisierte die Durchsetzung rechtlicher Regeln. Diese Perspektive wird gerne angemahnt, ist aber ohnehin selbstverständlich. Nicht nur die normativ verfestigte Lösung bestimmter Regelungsprobleme ist zu beachten, sondern auch Durchsetzungspotential und -effekt der einmal geschaffenen rechtlichen

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Standards, sei es durch klassisch nationalstaatliches Recht oder durch internationale Vorgaben der ILO, durch Eigenregime oder auf sonstige Weise. Das stellt die Frage, wie sich Individuen bei Problemen im Arbeitsverhältnis Recht verschaffen konnten. Konkrete Widerstandspotentiale spielen hier eine Rolle. Von Bedeutung ist z. B., ob und wie sich diese in kollektivem Protest äußern konnten, ob es Chancen zur individuellen Interessendurchsetzung auf institutionalisierten Rechtswegen gab, oder ob Menschen mangels wirksamer Prozeduralisierung dazu gezwungen waren, ihre Situation durch Wechsel der Arbeitsstelle, des Berufs oder gar durch Migration zu verbessern. In diesem Schwerpunkt ergab sich mit drei Referaten die Chance zu weitgreifenden Vergleichen. Vorgeführt wurden die Verhältnisse in Britisch-Afrika vor dem Zweiten Weltkrieg (Andreas Eckert), die institutionalisierte Konfliktlösung in den Gewerbegerichten in Deutschland und Japan um 1900 (Naoko Matsumoto) und der kritische Übergang vom Ancien Régime zum modernen Staat im 19. Jahrhundert (Jürgen Brand). Willibald Steinmetz gab uns dazu den eindringlichen, vergleichenden Kommentar Teil 2, Arbeitsschutz und später die Arbeitsmedizin, sind seit dem mittleren 19. Jahrhundert ein großes Thema in Europa und seit der ILO in den 1920er Jahren ein globales. Es galt hier, mit den neuen Fragestellungen Bekanntes und neue Einsichten zu erschließen. In einer spannenden Fallstudie zur Silikose traten die Widersprüchlichkeiten des Konzepts „Berufskrankheiten“ deutlich hervor (Paul-André Rosenthal). Zu Sozialpolitik und Recht in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert wurde ein groß angelegter Durchgriff vorgelegt, der besonders zu Vergleichen anregte (Christoph Boyer). Zur Entstehungsphase des Arbeitsschutzrechts in Deutschland um 1880 bereicherte uns das Beispiel Blauer Montag und streikende Bergarbeiter (Wolfgang Kohte), leider kam es nicht zu einem Beitrag im Sammelband. Christoph Conrad übernahm den aufschlussreichen vergleichenden Kommentar. Teil 3, Arbeitsregime im Übergang, sollte die globale Perspektive deutlicher in den Blick nehmen. In welcher Art und Weise unter verschiedenen Arbeitsregimen Recht geschaffen und real umgesetzt wurde, ist von hohem sozial- und rechtsgeschichtlichen Interesse. Die oben erwähnten Regelungsprobleme tauchen in diversen „Arbeitsregimen“ auf, die wiederum anhand bestimmter Entscheidungen für die eine oder andere Lösung verschiedener Regelungsprobleme charakterisierbar werden, z. B. als grundsätzlich ‚freie‘ oder grundsätzlich ‚gebundene‘ oder, wenn man die Rolle der Gewerkschaften stärker akzentuiert, als ‚liberale‘ oder ‚korporative‘ Regime. Die Grenzen von Arbeitsregimen sind dabei nicht ohne weiteres deckungsgleich mit politischen Herrschaftsbereichen. So können innerhalb eines Nationalstaats verschiedene Arbeitsregime für einheimische und ausländische Arbeitskräfte bestehen. Ein besonderes Arbeitsregime konstituierte das Arbeitsrecht der sozialistischen Länder, das sich konkret als Arbeitnehmerrecht verstand und Strukturen der Arbeiterselbstverwaltung in den Vordergrund stellte, deren Effektivität nur im jeweiligen Einzelfall

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auf einer sozialgeschichtlich fassbaren Mikroebene zu beurteilen wäre. In diesem Sinne wurde die Selbstverwaltung in Jugoslawien souverän vorgestellt (Wolfgang Hoepken). Leider kam dieser wichtige Beitrag nicht auch für den Sammelband zu Stande (vgl. aber den Kommentar Lenger, 319 ff.). Das Thema „Globale Mobilität und Unfreie Arbeit“ spannte den Bogen kühn und wurde bemerkenswert informativ und klärend eingelöst (Christoph Rass). Zwei sehr unterschiedliche Arbeitsregime standen auch zur Debatte bei der Frage Vertragsbeendigung und Arbeitsmärkte in Deutschland einschließlich der DDR. Erneut wurden eindringende Ergebnisse vorgelegt (Thorsten Keiser). Der Schwerpunkt wurde bereichert durch einen sehr aufschlussreichen Beitrag zu Deutschland und Frankreich in Sachen Tarifvertragsrecht um 1900 im unmittelbaren Vergleich. Die komplexen Verflechtungen und Besonderheiten traten hier besonders gut hervor (Sabine Rudischhauser). Den wichtigen vergleichenden Kommentar dazu schrieb Friedrich Lenger. Teil 4, Der Staat als Arbeitgeber, musste etwas modifiziert werden. Arbeitsverhältnisse und Arbeitsrecht außerhalb des Privatrechts nehmen historisch und aktuell einen sehr bedeutenden Raum ein. Gemeint sind insbesondere Staat, d.h. öffentlicher Dienst, und Arbeitsverhältnisse in staatlich dominierten Wirtschaftssektoren sowie im kirchlichen Bereich. Relevant sind in diesem Kontext Fragen nach den besonderen Lösungen. Leider kam ein sehr erhoffter Beitrag von Reinhard Schulze aus Bern zum Vorderen Orient nicht zu Stande. Dafür erhielten wir kurzfristig die erwähnte Zugabe zu Deutschland und Frankreich im Teil 3. Die Stadt als Arbeitgeber wurde dann doppelt gründlich und erhellend beleuchtet, für Österreich und die Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit (Therese Garstenauer) sowie für die deutsche Stadt als Arbeitgeber im 19. und 20. Jahrhundert und im Rahmen des öffentlichen Dienstrechts in Europa (Thomas Pierson). In einem Kommentar wurden die Besonderheiten des Arbeitsrechts im heutigen öffentlichen Dienst eigens herausgearbeitet (Bernd Waas). Lutz Raphael schrieb uns den wiederum wichtigen vergleichenden Kommentar.

9. Einige Literaturhinweise Den vorab versandten Überlegungen waren einige, insbesondere rechtshistorische, Literaturhinweise angefügt, die etwas ergänzt auch an dieser Stelle von Nutzen sein dürften. Ersichtlich geht es dabei nur um einige übergreifende Perspektiven, nachfolgend in chronologischer Ordnung: – Thompson, Edward P., The Making of the English Working Class, zuerst 1963; – van der Ven, Frans, Geschiedenis van de Arbeit, Band 1–3, 1965–1968, dt. Übs. als Sozialgeschichte der Arbeit, München, Bd. 1–3, 1972;

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– Mayer-Maly, Theo, Arbeitsrecht, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III 3, München 1986, S. 3635–3747 (dort auch gute Nachweise); – Rückert, Joachim (Hg.), Beschreibende Bibliographie zur Geschichte des Arbeitsrechts mit Sozialrecht, Sozialpolitik und Sozialgeschichte, Baden-Baden 1996; – ders., Die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert, in: Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland. Aktuelle Probleme in historischer Perspektive, hg. von H.G. Nutzinger, Marburg 1998, S. 211–229; – Castel, Robert, Les Métamorphoses de la question sociale. Une chronique du salariat, Paris, Fayard 1995; dt. Übs.: Die Metamorphosen der Sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000; – Richardi, Reinhard, Arbeitsrecht als Teil freiheitlicher Ordnung. Von der Zwangsordnung im Arbeitsleben zur Arbeitsverfassung der Bundesrepublik Deutschland, 2002; – Rückert, Joachim, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006 (= Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie 34); – Rückert, Joachim, Dienstrecht und Dienste-Recht in der Frühen Neuzeit, in: Usus modernus pandectarum, hg. v. H.-P. Haferkamp, T. Repgen, Köln 2007, S. 175–198; – Keiser, Thorsten, Vertragsfreiheit und Vertragszwang im Recht der Arbeit von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne, Frankfurt a. M. 2013. – Rückert, Joachim, Dienstvertrag und Arbeitsvertrag, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hg. von M. Schmoeckel, J. Rückert u. R. Zimmermann, Bd. 3, Tübingen 2013, S. 700–1231.

Von grundsätzlichen Interesse sind auch die leider nicht zusammengeführten Einzelstudien von Thilo Ramm: – Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, in: Kritische Justiz, 1968, S. 109–120; – Die Arbeitsverfassung der Bundesrepublik Deutschland, in: Juristen-Zeitung 1977, S. 1–6; – Die Arbeitsverfassung des Kaiserreichs, in: Festschrift für Walter Mallmann, BadenBaden 1978, S. 191–211; – Die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik, in: In memoriam Sir Otto KahnFreund, München 1980, S. 225–246; – Die deutsche Arbeitsverfassung im „Vormärz“ (1815–1848), in: Freundesgabe für Alfred Söllner, 1990, S. 423–459; – Deutschlands Arbeitsverfassung nach 1945, in: Juristen-Zeitung 1998, S. 473–480. 10. Damit sind die Planungen und Ergebnisse berichtet. Natürlich differiert beides. Das mag Ansporn sein, es besser zu machen. Schmerzlich bemerkbar machte sich freilich nicht nur an dieser Stelle, dass die personellen Ressourcen in diesem Bereich der Rechtsgeschichte sehr begrenzt sind. Seit einem gewissen Boom in den späten

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1970er Jahren5 ist das Fach nur selten mit größeren Studien vorangekommen. Die Strukturbedingungen im Rahmen der juristischen Fakultäten begünstigen in der Rechtsgeschichte eher allgemeine zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Forschungsperspektiven. Das ist natürlich nur eine Feststellung, die immerhin einiges erklären mag. Der Band enthält ein recht genaues Sachregister. Ich habe es eigens erstellt, um Vergleiche quer durch die Beiträge zu erleichtern und die vielen Früchte zugänglicher zu machen. 11. Am Ende steht ein großer Dank an alle Mitwirkenden, die Vortragenden, die Moderierenden und besonders auch an die Kommentatoren, die sich auf teilweiser schmaler Möglichkeit der Vorbereitung so kundig und engagiert einmischten und geduldig manche Verzögerung ertrugen. Sehr herzlich danke ich auch dem kleinen Frankfurter Team mit Audrey Bouffil und Metin Batkin, das auch noch die Redaktion betreute. Zum geistigen und leiblichen Wohlbefinden trug schließlich vor allem auch ein erheblicher Zuschuss der Freunde und Förderer der Universität Frankfurt bei, für den auch an dieser Stelle besonders gedankt sei. Unvergessen bleibt der goldene Herbst auf dem gerade eingeweihten neuen Westend Campus, der so vieles erleichterte und verschönte.

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Siehe den Sammelband von Harald Steindl (Hg.), Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, Frankfurt am Main 1982.

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Das Reden über Arbeit – allgemein und juristisch Arbeit, wie wird sie beredet? Beredet wird sie gewiss, aber handelt es sich auch um einen Grundbegriff der politisch-sozialen Sprache?

I. Conzes Leitfaden Werner Conze hat Arbeit 1972 als einen solchen Grundbegriff verstanden und eine historische Analyse dazu durchgeführt. Sie lohnt sehr als Leitfaden, begegnet aber ebenso wie die Studie von Walther1 zwei wesentlichen Einwänden: Die Rechtssprache und ihre Quellen sind nur peripher und zufällig herangezogen. Und: Das 20. Jahrhundert wird nur gestreift. Ohne einen Blick auf die Rechtssprache geht jedoch ein großer und wesentlicher Teil der politisch-sozialen Dynamik des Redens über Arbeit verloren. In der Rechtssprache wird alles konkreter und schärfer, realistischer und wirklichkeitsnäher. Denn hier geht es darum, zu fixieren, was als Arbeit rechtlich erzwungen werden kann. Und es geht darum, welche Parallelen und Divergenzen zwischen allgemeinen Anschauungen und Recht, Rechtswirklichkeit und Lebenswirklichkeit auftreten. Auch darf das 20. Jahrhundert nicht fehlen, schon weil es das 19. spannend radikalisiert und verändert. Ich werde Conzes wertvollen Leitfaden aufnehmen, die juristische Welt hinzunehmen und den Faden zeitlich weiterspinnen. Leitend sein wird der grundbegriffliche Blick auf die Sprache. Dankbar nutzen werde ich dabei die von Koselleck gelernten Zugriffe auf so unterschiedliche Verwendungen der Worte als Bewegungs-, Kampf-, Streit- oder Relationsbegriffe und vor allem als Kollektiv- oder Allsingulare wie „die Arbeit“ oder „der Dienst“. Derartige Allsingulare indizieren politisch-sozial wesentliche Vorgänge der Universalisierung eines bestimmten Leitbegriffs. Juristen ist dieser Vorgang vertraut aus den Texten der modernen Verfassungen, die damit ihre universalen

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Werner Conze, Arbeit in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1975, S. 154– 215; ergänzend ders., Arbeiter, ebda. S. 216–242, und Rudolf Walther, Arbeit – Ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo, in: Sozialphilosophie der industriellen Arbeit, hg. von Helmut König u.a. (= Leviathan, Sonderheft 11), Opladen 1990, S. 3–25.

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Ansprüche für und gegen alle zum Ausdruck bringen, für die Menschenwürde, für die Freiheit, das Eigentum, die Gleichheit, die Sicherheit usw.

II. Ein Grundbegriff auch im Recht Conze führt seine große Linie von der Antike her über die spätantike und mittelalterlich-christliche Prägung, dann die Sozialphilosophie der frühen Neuzeit, die ökonomische Perspektive der Physiokraten des 18. Jahrhunderts und bis hinein vor allem ins deutsche 19. Jahrhundert. Arbeit in der Antike ist ständisch geprägt, mehr noch: Sie ist Arbeit als schlichte Ware bei den Sklaven, sie ist labor als körperliche Mühsal, aber auch ehrenwertes opus im Falle der operae liberales, also der sog. höheren Arbeiten mit Fachkunde und gegen Honorar statt Lohn. Die römische Rechtssprache unterscheidet das genau und folgenreich. Sie reicht weit in die Neuzeit. Die Bewertung der Arbeit ist ständisch gespalten, negativ und positiv. Die ständische Trennung erscheint in der Rechtswelt zunächst als unterschiedlicher Rechtsstatus. Scharf wird überall unterschieden zwischen Sklaven und Freien. Zweitens wird unterschieden zwischen Arbeit gegen Geld (merces), also um des Lebensunterhalts willen, und Arbeit gegen Honorar, also um der Ehre der Tätigkeit willen. Die Beispiele sind bekannt, hier vor allem die Handwerker und dort vor allem die Juristen, Ärzte, Redner, später Landvermesser usw. Als recht allgemeiner Begriff für die Tätigkeit für andere erscheint immerhin zwar das neutrale operari im Gegensatz etwa zu labor für körperliche, meist agrarische Arbeit.2 Aber die Trennung in operae illiberales und liberales folgt sofort. Die Rechtsform nennt man Locatio conductio, also das, was wir noch heute im weitesten Sinne das Mieten von Arbeit nennen. Eine eigene Passage dazu enthalten die sog. Institutionen des Gaius (um 200) in III 142–147 und eine eigene Rubrik dann die Justinianischen (533) Institutionen in III 24, die Digesten in 19.2., sowie der Codex in 4, 65.

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Dazu Guido Keel, Laborare und operari. Verwendungs- und Bedeutungsgeschichte zweier Verben für ‚arbeiten‘ im Lateinischen und Galloromanischen, St. Gallen, o.J. (Diss. 1942), bes. 31 ff.. Für die Rechtssprache das: Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, von Hermann Gottlieb Heumann, Jena 1846 u.ö., bis heute überarbeitet und nachgedruckt unter Heumann-Seckel; zum allgemeinen Befund für Rom jetzt Fabian Rijkers, Arbeit – ein Weg zum Heil? …, Frankfurt a. M. 2009, S. 46–58; für die liberale Arbeit vor allem Karoly Visky, Geistige Arbeit und die „Artes Liberales“ in den Quellen des Römischen Rechts, Budapest 1977. – Siehe insgesamt jetzt ausführlicher auch meinen Beitrag in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 3, 2013, vor § 611 und § 611 zu Terminologien und Epochen.

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Die Struktur wird, wie es die Worte anzeigen, gesehen in einem Sich-bereitstellen oder Anbieten (locare) von der einen Seite und einem Jemandenwegführen zur Arbeit oder Abnehmen (conducere) von der anderen. In dieser Abstraktion haben die römischen Juristen drei für uns verschiedene Vertragstypen zusammengestellt. Sie haben das, was wir heute Dienstvertrag nennen, allgemeiner als einen Fall von Sichbereitstellen und Jemanden-beschäftigen erfasst; ebenso daher das, was wir heute Werkvertrag nennen, also das Bereitstellen eines Bauwerks oder einer Sache für ein reparierendes Bearbeiten zu einem bestimmten Erfolg, der dann noch als Erfüllung akzeptiert werden muss; und schließlich auch das Bereitstellen einer Sache, auch eines Sklaven, zu deren Benutzung und Gebrauch, was wir heute Miete nennen. „Arbeit“ ist also bei diesen rechtlichen Grundbegriffen nicht die Gemeinsamkeit, sondern etwas abstrakter das uti-frui. Die deutsche Rechtsprache ahmte das locare und conducere bis ins 19. Jahrhundert nach mit den Worten sich oder etwas „verdingen“ bzw. „dingen“ oder „vermieten“ und „mieten“.3 Für die Römer geht es jeweils um ein Bereitstellen und Übernehmen und Dafür-bezahlen, wie genau auch immer. Der Akzent liegt auf dem gemeinsamen prozessualen Zugriff.4 Denn es ging dabei gleichermaßen um die Anbieterklagen (ex locato agere, actio locati) des Arbeitnehmers oder Vermieters auf Geld oder des Reparaturbestellers auf Leistung wie andererseits um die Abnehmerklagen des Arbeitgebers oder des benutzenden Mieters auf Leistung wie des reparierenden Werkunternehmers auf Geld (ex conducto agere, actio conducti). Die römische Rechtssprache störte sich nicht daran, dass es mit der gleichen Klage mal um Geldzahlung ging und mal um Leistung. Die Bildung eines Grundsatzbegriffs

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Dazu vor allem Günther Bernert, Arbeitsverhältnisse im 19. Jahrhundert. Eine kritisch dogmatische Analyse der rechtswissenschaftlichen Lehren über die allgemeinen Inhalte der Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse im 19. Jahrhundert in Deutschland, Marburg 1972, jeweils zu den dreißig einzelnen Partikularrechten, die bis zum BGB noch galten, in § 7, S. 45–59, sowie ausf. zu Preußen, Rheinlande (Code civil), Baden und Sachsen (59–175), und die Quellentexte dazu S. 322–339 für Sachsenspiegel um 1230, Neumünster 1316, Bremen 1433, Bremen 1489, Dithmarschen 1447, Lübeck 1580, Eiderstedt 1591, Hamburg 1603, Kurpfalz 1610, Württemberg 1610, Schaumburg 1615, Nassau 1616, Münster 1740, Bayern 1756, Preußen 1794, Code civil 1804, Badisches Landrecht 1810, Sächsisches BGB 1865 – fast alle mit diesen Termini. Bes. anschaulich dazu Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition, Kapstadt 1990 und Oxford 1996, S. 341 f.

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oder gar eines Allsingulars für „Arbeit“, etwa mit labor5 oder opus,6 war durch diese ständische und prozessuale Perspektive doppelt verlegt. Realhistorisch bemerkt man dazu gerne, dass Sklavenarbeit die wesentliche Arbeit gewesen sei und sich daher kein relevanter Begriffsbedarf gestellt habe, was freilich kaum zutrifft. Die römische Rechtssprache hat über die Rezeption des römischen Rechts in Form des Corpus iuris civilis in Europa im 14. bis 16. Jahrhundert prägende Bedeutung gewonnen und die Tradition des gelehrten, sog. gemeinen, d.h. allgemeinen, Rechts in Europa bis etwa 1900 angeführt. Sie wurde damit auch für die Neuzeit relevant und und unverlierbar in der sicheren Pflege der früh ausgebildeten Juristenprofession. Obwohl man schon im späten Mittelalter das Prozessschema verließ und die drei Vertragstypen ausdrücklicher trennte,7 war mit dieser Rechtsbegrifflichkeit der Weg zu einer Gesamtbezeichnung für Arbeit jedenfalls gehemmt. Das änderte sich erst im 19. Jahrhundert. Im christlichen Sprachbereich erscheint alsbald eine glaubensbedingte Universalisierungstendenz.8 Denn alle arbeiten für Gott. Das bedeutet eine allgemeine und rechtliche Würdigung aller Arbeit in einem positiven Sinne. In den späteren deutschsprachigen Quellen spricht man für Arbeitsverträge dann von „sich verdingen“ oder auch „dienen“.9 „Verdingen“ läuft aus im 19. Jahrhundert, „Dienen“ macht Karriere. Es eröffnet zunächst eine neue, edlere Perspektive für alle. Jeder kann Gott dienen und gewinnt damit Anteil an seiner Hochschätzung. Ebenso kann man Institutionen oder Werten wie der Kirche oder dem Recht oder der Gesundheit dienen. Das erscheint noch heute in der schon älteren Formel, Juristen seien „Diener des Rechts“, die gerne 5

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Zu labor als landwirtschaftliche Arbeit Jaques Le Goff, Zur Dreigliedrigkeit der Gesellschaft …, in ders., Für ein anderes Mittelalter … (frz. 1977), Frankfurt a. M. 1984, 46 ff.; Rijkers (wie Fn. 2) 21, klärend mit R. Fossier (2000) zu den drei Wortfeldern labor, opus und ars; ein zusammenfassender Begriff fehlte auch später (22); auch Thomas Haye, labor und otium im Spiegel lateinischer Sprichwörter und Gedichte des Mittelalters, in: Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten, hg. von Verena Postel, Berlin 2006, S. 79–90. Opus meint meist eine erfolgsbezogene Arbeit, ein Werk, s. nur Heumann (wie Fn. 2) s.v. Dazu Filippo Ranieri, Dienstleistungsverträge: Rechtsgeschichte und die italienische Erfahrung, in: Service contracts, hg. von Reinhard Zimmermann, Tübingen 2010, S.  1–41, hier 2–10; zu den römischen Quellen zuletzt ausf. Roberto Fiori, La definizione della ‚locatio conductio‘. Giurisprudenza romana e tradizione romanistica, Napoli 1999, für eine zweistufige Sicht in den römischen Quellen (prozessuale Einheit, doch auch materielle Trennung im Einzelnen). Conze (wie Fn. 1) 160: prinzipielle Aufhebung des sozialbedingten antiken Arbeitsbegriffs. Anschaulich zu Differenzierungen Rijkers (wie Fn. 2) 67 ff. Dazu als bester, greifbarer Überblick der Quellenanhang bei Bernert (wie Fn. 3) und dazu dort im Text S. 46 ff.

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bei festlichen Würdigungen zelebriert wird. Die Rechtsformen und -möglichkeiten in dieser christlich-mittelalterlichen Periode sind aber sehr gebunden und hängen immer noch vor allem vom Status ab. Zwar kommt der echte Sklavenstatus der Person als Sache kaum noch vor. Doch bleibt es bei den erheblichen Bindungen in der Leibeigenschaft und anderen Unterordnungen. In der Frühen Neuzeit wird Arbeit dann mehr säkular und sozialphilosophisch gefasst als Möglichkeit der Freiheitsentfaltung. Arbeit wird universale Chance. Sie soll für alle in gleicher Freiheit angelegt sein und wird nun vor dem Eigentum wichtig, bekanntlich so bei Locke.10 Arbeit gewinnt also einen emanzipatorischen Charakter und richtet sich als Chance gegen Bevormundung und gebundene Unterordnung. Die Bewertung wird entsprechend positiver. Der ständische Rechtsstatus der Personen ist aber immer noch maßgebend als Grund und Grenze. Er wird erst durch die europäischen Revolutionen aufgelöst und umgewälzt. Die Rechtsquellen zeigen das dramatisch. Zuerst in den Kämpfen der englischen Revolution konstatierten die sog. „Levellers“ um 1647, alle Menschen seien von Geburt rechtlich gleich. Natürlich sind sie noch nie faktisch gleich gewesen. Die Levellers erklärten im ersten sog. Agreement of the People erstmals juristisch und überhaupt so klar: „These things we declare to be our native rights“ – angeborene Rechte werden deklariert, also signifikanterweise nur festgestellt als kraft Geburt gegeben, nicht neu festgesetzt, von wem auch immer. „These things“ meinte ein Recht auf Religionsfreiheit, auf Militärfreiheit, auf Rechtsgleichheit sowie auf Sicherheit und Wohlfahrt.11 Erst die Neuzeit nach 1789 vollendet diese Umwälzung mit dem Rechtszwang zur gleichen Rechtsfähigkeit aller Menschen, also vor allem etwa bei Eigentum, Vertrag, Restitution, Delikt, Ehe und Erbe. Erst dies vollzieht den Abschied von dem ständischen Rechts- und Arbeitsstatus und fixiert dies zugleich juristisch scharf und prägnant. Auf dem Kontinent geschieht dies seit 1789, wenn auch mit erheblichen Inkonsequenzen bezüglich der nach wie vor herrschenden Sklaverei teils in den Kolonien Frankreichs, Englands oder Hollands, und zudem in Nordamerika noch bis 1866. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde „Arbeit“ ein großes Thema der ökonomisch-physiokratischen Autoren in Frankreich. Arbeit wird nun als planbarer Wohlstandsfaktor verstanden. Die Frage der Freiheit interessiert nicht besonders. Auf die Produktivität kommt es an. In diesem Sinne wird Arbeit nun auch juristisch allgemeiner relevant, unabhängig von der römisch-rechtlichen Tradition. Im Februar 1776 erschien in Frankreich der später sehr verbreitete königliche Rechtssatz, es solle

10 Siehe Conze (Fn. 1) 168; und vor allem Dieter Schwab, Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 79 f. 11 Nach dem Abdruck bei Roman Schnur (Hg.), Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1974, S. 73–75.

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„allen Personen, von welchem Stande sie sein mögen … freystehen, in unserem ganzen Königreiche… jede Art der Handelschaft, jede Kunst und jedes Handwerk zu ergreifen, so ihnen belieben wird“.

Keiner mehr soll also in der „Ausübung seiner Handlung oder seines Berufes“ gestört werden. Dieses Recht auf freie Handelstätigkeit und Berufswahl befreite rechtlich einen ersten großen Sektor der Arbeit. Es stand in Minister Turgots berühmtem Edikt über die Abschaffung der Zünfte gleich unter I.12 und kehrt 1793 wieder, dazu sogleich. Im selben Jahr 1776 in den USA und seit 1789 in Frankreich erscheint „Arbeit“ dann im umwälzend neuen Zusammenhang eines Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit, zunächst freilich nur der Sache nach, nicht ausdrücklich. Das ist bedeutsam. Denn normativ wird mit der allgemeien Handlungsfreiheit eine umfassende Regel aufgestellt, Ausnahmen dazu geraten fortan in die Enge und unter Begründungslast. Die bekannte Formulierung der Virginia Bill of Rights vom Juni 1776, es gebe ein Recht auf „pursuing and obtaining happiness and safety“, umfasst in der Sache eine allgemeine Handlungsfreiheit auch für Arbeiten, garantiert aber noch lange nichts für Arbeit speziell. In der Section 1 wird das so ausgedrückt: “That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights … namely the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property and pursuing and obtaining happiness and safety.”

– immerhin werden das acquiring, possessing, pursuing und obtaining bereits eigens konkretisiert. 1811 in Preußen findet das einen erstaunlich treuen Nachklang, der sachlich in der Tat voll trifft. In verfassungshohem Ton heißt es nämlich im grundlegenden Reform-Edikt wegen Beförderung der Landeskultur vom 14. September 1811 abschließend nach § 45: „Es ist für Unser Gefühl höchst erfreulich, daß Wir endlich dahin gekommen sind, alle Theile unserer getreuen Nation in einen freiern Zustand zu versetzen, und auch den geringsten Klassen die Aussicht auf Glück und Wohlstand eröffnen zu können.“13

12 Zitiert nach der zeitgenössischen Übersetzung bei Michael Stürmer (Hg.), Herbst des alten Handwerks, München 1979, S. 297 ff., 304, Ziff. I. 13 Gesetzsammlung 1810 / 11, S. 142 ff., Text vielfach greifbar, hier nach Schering (Hg.), Nachtrag zum Allgemeinen Landrecht, Bd. 1, Berlin 1862, Nr. 118, S. 242.

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Glück also und Wohlstand für alle Theile durch freiern Zustand. Das waren Edikte als Verfassungsersatz – der preußische Reformweg.14 Analog allgemein und schon etwas deutlicher formuliert die französische Declaration 1789 in Art. 2 ein allgemeines Recht auf Freiheit.15 Dies geschieht erneut und schon etwas konkreter in der Fassung von 1791 in Art. 4 sowie im Februar 1793 in Art. 6. Danach besteht die Freiheit darin, „à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui“, mit einer wiederum alten, aber nie so rechtsgrundsätzlich eingesetzten Formel.16 Erst 1793 wird im Art. 18 dann die industrie, d.h. der Fleiß, besser noch der Arbeitsfleiß, unter einen weiten proprieté-, d.h. Eigentums- oder Vermögensbegriff gezogen. Das ermöglicht den scharfen Satz in Art. 18, dass man über seinen Fleiß voll selbst verfügen dürfe. Erstmals setzt schließlich Art. 19 fest, „nul genre de travail“ dürfe verboten werden. Und man setzt sogar speziell für die Arbeit das positive Recht hinzu, jeder dürfe über seine Dienste (services) und seine Zeit frei verfügen (Art. 20). Diese Linie wird auch in der Constitution vom Juni 1793 in Art. 16 und 17 fortgeführt. Damit ist „Arbeit“ aufgerückt unter die großen Freiheitsgarantien, wenn auch stark im Blick zurück auf die Abschaffung ständischer Verbote. Ein „Recht auf Arbeit“ steht dagegen nirgends an, obwohl es literarisch damals aufkam.17 Und „Arbeit“ ist noch kein Allsingular. Die Charte constitutionelle von 1814 wiederholt in Art. 4 die allgemeine individuelle Freiheit, sagt aber nichts mehr von industrie oder travail; ebenso 1830. Im November 1848 wird in Art. IV Abs. 2 travail sehr unverbindlich als eine base von liberté, egalité und fraternité genannt. 1852 fehlen subjektive Recht ganz. Die Verfassung vom Oktober 1946 spricht dann in der Präambel recht groß 14 Dazu der immer noch bes. klärende Vergleich von Dieter Grimm, Soziale, politische und wirtschaftliche Voraussetzungen der Vertragsfreiheit. Eine vergleichende Skizze (1977), jetzt in ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, 165–191, 15 Abdruck dieser und der folgenden französischen Quellen z. B. bei G. Berlia (Hg.), Les constitutions et les principales lois politiques de la France depuis 1789, Paris 1952; zur Sache näher, auch mit den Texten, Joachim Rückert, Verfassungen und Vertragsfreiheit, in: Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindungen in Rechtgeschichte und Philosophie…, hg. von J.-F. Kervégan u. H. Mohnhaupt, Frankfurt 1999, S. 165–196; umfassend zu Frankreich Pierre Lavigne, Le Travail dans les constitutions francaises 1789–1945, Paris 1948, hier bes. 111 ff. zu 1793. 16 Dazu die gute Übersicht von Gottfried Schiemann, Das allgemeine Schädigungsverbot: „alterum non laedere“, in: Jur. Schulung 29 (1989) S. 345–350. 17 Siehe Lavigne (wie Fn. 15) 114: in der Sache im Projet Robespierre April 1793; aber wörtlich nicht, auch nicht 1848 (ebda. 217 f.). Zur Ideengeschichte immer noch präzise Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung, 4. Aufl. Stuttgart u.a. 1910, S. 10–27, mit frühen Belegen für Fourier 1808, 1822 (15 ff.); auch Max Bentele, Das Recht auf Arbeit in rechtsdogmatischer und ideengeschichtlicher Betrachtung, Zürich 1949, S. 117 f.; vgl. mit w. Nwn. jetzt Rückert, in Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (Fn. 2), vor § 611 Rn. 33.

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von travailler und travailleur; sie gibt dort auch ein Recht auf Beschäftigung (le droit d’obtenir un emploi). Es handelt sich jedoch um sog. Programmsätze. Es fehlte an effektiver Verbindlichkeit, zum einen wegen des bloßen Präambelcharakters der Sätze, zum anderen mangels effektiven Verfassungsgerichts, wie es in Frankreich erst in jüngerer Zeit wegen der EU eingerichtet wurde. Nur 1830 und 1946 wird also ein etwas allgemeinerer Gebrauch von travail noch einmal sichtbar. Ein Allsingular steckte darin aber nicht. Die Rechtssprache hat sich damit erstmals 1793 auf eine so allgemeine und zugleich schon konkreter fixierte Weise in einer Verfassung der „Arbeit“ angenommen. „Arbeit“ erscheint hier als rechtlich gleich frei und garantiert für jeden. Aber zugleich wurde sie begrenzt auf eine nützliche Verwendung des Fleißes für Eigentum, Handel, Kultur oder eben Arbeit. Insofern trug sie neben dem emanzipatorischen Element der Befreiung und freien Verfügung auch die ökonomistischen Spuren des Eigentumsdenkens der Physiokraten. Diese allgemeine Entwicklung des Arbeitsbegriffs hat die relativ festen juristischen Prägungen allerdings kaum berührt.18 Zwei Sprachwelten stehen hier nebeneinander zu künftiger Berührung.

III. Die deutsche Lage im 19. Jahrhundert Die deutsche Sprache und besonders die Rechtssprache blieben demgegenüber in einem unentschlossenen Rückstand. Im Bereich der Rechtsquellen fehlte es noch das ganze 19. Jahrhundert, ja über Weimar hinweg bis 1949 zum Grundgesetz, an der Verbürgung einer allgemeinen Handlungsfreiheit, die die Arbeitsfreiheit einschlösse, ganz zu schweigen von einer speziellen Garantie. Die Verfassungen garantieren lediglich immer wieder und wie schon Turgot 1776, z. B. für Württemberg 1819 in § 29, „Das Recht, seinen Stand und sein Gewerbe nach eigener Neigung zu wählen“. Ähnlich sagte man es in Sachsen 1831, Kurhessen 1831, Braunschweig 1832 und in fast allen übrigen rund 80 deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts.19 Auch 1849 in der Reichsverfassung der Paulskirche bestimmt § 133 unter den „Grundrechten des deutschen Volkes“ nur, man dürfe „jeden Nahrungszweig betreiben“. 18 Siehe noch unten nach Fn. 37 zum Code civil 1804. Allgemein Konrad Wiedemann, Arbeit und Bürgertum. Die Entstehung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende zur Neuzeit, Heidelberg 1979; Verena Postel, Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter, Stuttgart 2009; Rijkers 2009 (wie Fn. 2); zur älteren Rechtssprache jetzt wes. Gerhard Dilcher, Arbeit zwischen Status und Kontrakt. Die Wahrnehmung der Arbeit in Rechtsordnungen des Mittelalters, bei Postel 2006 (wie Fn. 5) 107–131. 19 Dazu Rückert 1999 (wie Fn. 15).

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Die Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 enthält bekanntlich keine Grundrechte. Die Weimarer Verfassung von 1919 enthält zwar einen langen Abschnitt über „Das Wirtschaftsleben“ mit nicht weniger als 14 Artikeln (Art. 151–162). Aber „Arbeit“ erscheint nur als „Arbeitskraft“, die unter dem „besonderen Schutz des Reiches“ steht und für die das Reich ein „einheitliches Arbeitsrecht“ schaffen soll (Art. 157); dann als „geistige Arbeit“, die ebenfalls „den Schutz und die Fürsorge des Reichs“ genießen soll (Art. 158 I); als Auftrag zur „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ (Art. 159), als Garantie der „bürgerlichen Rechte“ auch in einem „Dienst- oder Arbeitsverhältnis“ (Art. 160), als Auftrag zur „Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ (Art. 161) und für eine „zwischenstaatliche Regelung der Rechtsverhältnisse der Arbeiter, die für die gesamte ‚arbeitende Klasse‘ der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt“ (Art. 162). Art. 165 schließlich, der sog. Räteartikel, spricht Arbeiter und Angestellte getrennt an. Nur als „arbeitende Klasse“ wird Arbeit hier also allgemeiner. Der Text zeigt bereits neue Trennungen, auf die zurückzukommen sein wird. Bis in das Grundgesetz hinein ist „Arbeit“ im deutschen Raum also kein universaler verfassungsrechtlicher Freiheitsfall und -begriff oder sonstiger Grundbegriff geworden. Es geht vielmehr, wenn überhaupt, um die Handels-, Gewerbe- und Berufsfreiheit wie im 19. Jahrhundert, um den Schutz der arbeitenden Klasse in Weimar oder eben um die Berufsfreiheit in Art. 9 des Grundgesetzes. Die Bedeutung dieser Sprachbefunde tritt in schärferes Licht, wenn man ein wenig ins 19. Jahrhundert zurückblickt, genauer ins Jahr 1845. Relativ früh spricht da von „Arbeitern“ die preußische Gewerbeordnung von 1845 in § 134: „Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den selbständig Gewerbetreibenden und den gewerblichen Arbeitern ist Gegenstand freier Übereinkunft.“

Hier wird der Freiheitsaspekt betont. Ganz ähnlich hatte das auch schon 1811 der § 8 des preußischen Gesetzes Über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe vom 7. Sept. 1811 getan.20 Aber 1811 sprach man noch nicht von „den gewerblichen Arbeitern“, sondern traditioneller partikular von „Gewerbegehilfen und Lehrlingen“. Die norddeutsche Gewerbeordnung von 1869 und die Reichsgewerbeordnungen seit 20 ������������������������������������������������������������������������������������ Gesetzessammlung 1810 / 11, S. 263 ff.: „In diesem Falle [der Annahme als Gewerbegehilfe oder Lehrling] wird die Lehrzeit oder die Dauer des Dienstes, das etwaige Lehrgeld, Lohn, Kost und Behandlung bloß durch freien Vertrag bestimmt.“ Siehe zum ganzen immer noch, auch mit vergleichenden europäischen Bezügen, Justus W. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert. Ein Überblick über die Entfaltung des Privatrechts in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz, 1. Teil, Berlin 1910, hier S. 7 f.; eindringend dazu jetzt Thomas Pierson, Das Gesinde und die Herausbildung moderner Privatrechtsprinzipien, Ms. Frankfurt / M 2012.

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1871 haben § 134 von 1845 wiederholt in § 105. Thema sind also nur und wieder die „gewerblichen Arbeiter“ allein. Die Prägung blieb sektoral, sie wurde nicht juristisch universal auf Grundrechtsniveau für alle.

IV. „Arbeit“ und neues Privatrecht „Arbeit“ erscheint also in dieser Sprachgeschichte nirgends im Allsingular, als allgemeiner oder juristischer Grundbegriff oder gar als Freiheitsbegriff von entscheidender Allgemeinheit für alle. Nirgends steht: Die Arbeit ist frei, oder normativ klarer etwa: Die Freiheit der Arbeit wird garantiert. Die längste Zeit geht Arbeit rechtlich auf im ständischen Status der Personen, dann im gottgefälligen Fleiß im Gegensatz zum Müßiggang, später geprägt vom ökonomischen Nutzen für Eigentum und Vermögen, zunächst für das Gemeinwohl bei den Physiokraten und dann auch für das individuelle Wohl seit den Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts. Immerhin steckt in dem Hinweis auf Arbeit bzw. travail in den französischen Verfassungen seit 1793 ein prinzipieller Aspekt. Arbeit als Produkt und Prozess des persönlichen Fleißes wird als individuelles Abwehrrecht für alle gefasst. Die deutsche Rechtssprache antwortet jedoch darauf noch lange nicht. Die Rekapitulation von Conzes Studie weist in Verbindung mit den rechtsgeschichtlichen Ergänzungen den Weg zum übergreifenden grundbegrifflichen Vorgang. Wenn es um „Arbeit“ als politisch-sozialem Grundbegriff geht, wird die Verwendung des Wortes im Allsingular als „die Arbeit“ wichtig. Daran fehlt es durchweg. Erst seit 1950 gibt es z. B. die wichtige Zeitschrift „Das Recht der Arbeit“. Das klingt eindrucksvoll allgemein, war und ist aber in Wahrheit sehr eng. Denn gemeint ist nur das Recht der unselbständigen Arbeit ohne z. B. das „Arbeitsrecht“ der freien Berufe. „Arbeitsrecht“ ist hier ein Kampfbegriff eher der Arbeitgeberseite, ganz wie im Gegenorgan „Arbeit und Recht“ seit 1953. Dieser Titel von 1950 hat eine längere aufschlussreiche Geschichte. Wir stehen mit ihm in der erneuten Verengung des Arbeitsbegriffes seit dem späten 19. Jahrhundert. Auch das berühmte „Recht auf Arbeit“, das im 19. Jahrhundert nicht selten beschworen wurde und auch im 20. Jahrhundert immer wieder eine rechtspolitische Rolle spielt, war verengt und vor allem auf die unselbständige Arbeit bezogen, die wir heute abhängige Arbeit nennen und im sog. modernen Arbeitsrecht meinen. Dessen Modernität hat also ambivalente Züge. Seltener, aber doch, stößt man auf andere Stimmen.21 Sie entwickeln sich auf dem Fundament einer paradoxen Renaissance des römischen Rechts. Mit der Erfassung von 21 Siehe dazu meine Übersicht in: „Frei“ und „sozial“: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalismen und Sozialismen, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 23

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Arbeit als bloß einem Unterfall von locare-conducere hatte die römische Tradition zunächst eine generelle Erfassung gehemmt. Zudem war der römische Zugriff gebunden an den Kontext von actio und Prozess, von Sklavenarbeit, Hausväterherrschaft und römischer Ständegesellschaft. Seine Regeln wurden aber immer abstrakter von diesem Kontext gelöst und konnten so zu einem sehr allgemeinen privatrechtlichen Modell werden. Interessant wurde dies im 19. Jahrhundert, als der ständische Kontext entfiel und allgemeine Rechtsregeln entwickelt werden mussten. Es kam zu einer zweiten Renaissance großer Teile des römischen Rechts nicht mehr nur als ratio scripta, sondern als allgemeines Privatrecht. Zu den frühen Stimmen in dieser Linie gehört die von Wilhelm Endemann (1825–1899), dem bekannten Handels- und Prozessrechtler, der 1896 eine kleine Schrift vorlegte über „Die Behandlung der Arbeit im Privatrecht“.22 Er spricht allgemein und weit von „Arbeit“ und meint damit auch die nichtproduzierenden Dienstleister sowie die sog. höheren oder früher liberalen, heute freiberuflichen Arbeiten. Umfassend allgemein meint „Arbeit“ dann vor allem auch der erste und wichtigste ‚Vater‘ der Arbeitsrechtswissenschaft in Deutschland, Philipp Lotmar (1850–1922), in seinem Grundlagenwerk „Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches“, Band 1, 1902. Dezidiert erfasst er jeden „zweiseitigen Vertrag …, in welchem Arbeit gegen Entgelt versprochen wird“.23 Denn: „Dieser inhaltsreiche Tatbestand realisiert sich unvergleichlich öfter, als der Zeitungsleser meint, der bei ,Arbeitsvertrag‘ nur an den ‚Arbeitsmarkt‘, die ‚Dienstgesuche‘ und ‚Arbeitsangebote‘ denkt.“24 Lotmar grenzt daher nur noch ab zu Arbeit außerhalb der Arbeitsverträge, also etwa zu freiwilliger Arbeit im eigenen Namen, Arbeit in der Familie, im nachbarlichen Verkehr oder aus Freundschaft und zur Militär- und Beamtenarbeit. Lotmars Abstraktion ist eine umfassend privatrechtliche und damit universal ansetzende. Denn Privatrecht ist ihm Modellrecht für eine Gesellschaft gleich freier Rechtssubjekte. Seine Perspektive gewinnt er zudem dezidiert realistisch und sozial offen aus der Wirklichkeit des Arbeitens, aus Enqueten, Berichten, Tarifverträgen, Statistiken usw. Er vermerkt übrigens auch die außerordentlich reichhaltige Terminologie für konkrete Arbeitgeber- und Arbeitnehmerpositionen wie

(1992) S. 225–294, hier 245 ff., u.a. auch zu L. Brentano, G. Schmoller, M. Weber. 22 Zu Endemann etwa Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industriealisierung bis zum Ende des Kaiserreichs, Frankfurt a.  M. 1995, hier S.  136 f., generell ein ausführliches Stimmenreferat, freilich nicht immer zutreffend; s. dazu Rückert, HKK (Fn. 2) zu § 611 Rn. 83. 23 Lotmar, Arbeitsvertrag I, S. 1, auch unter Bezug auf Endemann (S.14). 24 Ebda. 1 f.

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„Dienstberechtigter, Besteller, Prinzipal, Geschäftsführer, Bauherr, Fabrikant, Besitzer der Fabrik, Gewerbetreibender, Gewerbe-, Betriebs-, Zwischenunternehmer, Schiffseigner, Rheder, Befrachter, oder andererseits Bediensteter, zur Dienstleistung Verpflichteter, Vergütungsberechtigter, Angestellter, Unternehmer, Rechtsanwalt, Verfrachter, Frachtführer, Mäkler, Lehrer, Erzieher, Gesellschafterin, Privat-, Betriebs-, Aufsichts-, Rechnungsbeamter, Handungsgehülfe, Handlungsagent, Arbeiter, Lohn-, Tage-, Fabrik-, Berufs-, Facharbeiter, Lotse, Betriebs-, Arbeiteraufseher, Werkmeister, Maschinen-Bautechniker, Chemiker, Zeichner, Geselle, Gehülfe, Schiffer, Schiffsmann, Seemann, Floßführer, Floßmann“ usw.25

Lotmar hatte also eine noch sehr differenzierte und keineswegs überwiegend industrielle Arbeitswelt voll im Blick – das zeichnet übrigens sein Buch vor allen anderen Werken aus –, er bestand aber doch auf der juristischen Abstraktion im Sinne eines modernen Privatrechts gleich freier Rechtssubjekte. Grundbegrifflich entscheidend ist, dass diese erweiterte Sprechweise über Arbeit und Arbeitsrecht vom gleichen Privatrecht für alle her gedacht ist und nicht mehr vom Stand oder von Gott, vom Fleiß, von der Klasse oder vom Kollektivwohl her. Diese Grundsatzperspektive hat reale Bedeutung, da sie juristisch immer eine Vermutung für den Grundsatz begründet, solange nicht ausdrückliche Gegenregeln fixiert sind. Im Privatrecht hatte sich der Begriff der gleichen Rechtsfähigkeit und der gleichen Rechtssubjektivität (im Gegensatz nur zu den Rechtsobjekten) ohne Rücksicht auf irgendwelche ständischen oder speziellen Bindungen im Handwerk, Gewerbe, Gesinde usw. durchgesetzt. Hier galten alle Rechtssubjekte als rechtlich gleich. Verträge werden daher nach den gleichen Gesichtspunkten auf Typ, Abschluss, Verlauf, Äquivalenz, Störungen, Kündigungen usw. untersucht und anerkannt. Und in diesem Sinne kann man dann von der „Behandlung der Arbeit im Privatrecht“ wie Endemann 1896 sprechen. Hier stößt man also auf eine universale Begriffsverwendung. Unter Lotmars Einfluss erschien auch seit 1914 das Jahrbuch: „Arbeitsrecht. Jahrbuch für das gesamte Dienstrecht der Arbeiter, Angestellten und Beamten“.26 In diesem Titel ist etwas zwitterhaft die Rede von „Arbeitsrecht“ und „Dienstrecht“ zugleich. Die Herausgeber Potthoff und Sinzheimer kamen zu diesem Kompromiss mit Lotmar. Er indiziert die Konkurrenz zweier Allgemeinbegriffe am Ende des deutschen Kaiserreichs mit seinen gewaltigen und sehr grundsätzlichen sozialpolitischen und juristischen Debatten. „Arbeit“ und „Arbeitsrecht“ im weiten Sinn von Lotmar hat sich jedoch allgemein rechtssprachlich nicht durchgesetzt. Bei aller großen Anerkennung für Lotmars Grundlagenwerk blieb man in genau diesem Punkt in der Linie der begrenzten 25 Ebda. 61. 26 Dazu Rückert (wie Fn. 21) 265.

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Verwendung von Arbeit für sog. rechtlich abhängige Arbeit, d.h. vor allem unter Weisungsrecht nach Ort, Zeit und konkreter Tätigkeit. Es handelt sich dennoch nicht um eine Art Sternschnuppe, sondern um eine juristisch und politisch-sozial höchst relevante Position. Viel kam dabei auch auf die Abgrenzung zum sog. öffentlichen Recht an. Es bildet bisher eine Gegenlinie oder eine Überlagerungsposition. Unter seiner Flagge entstanden bei uns die den Zeitgenossen bald nicht mehr als privatrechtlich erklärbaren Regeln zum Arbeiter-Schutzrecht im 19. Jahrhundert. Hier werden Kinder, Frauen, Arbeitszeit und Arbeitssicherheit ins fürsorglich-paternale Auge gefasst, aber immer nur für bestimmte Personen und Probleme im Bereich des Arbeitens. Die Trennung beider Bereiche ist für das deutsche 19. Jahrhundert signifikant zeitgemäß und rechtlich wie politisch-sozial grundbegrifflich wesentlich. Sie hat die Funktion, die im Grundsatz verschieden geregelten Norm- und Lebensbereiche rechtlich widerspruchslos zu verknüpfen. Das geschah durch Bereichstrennung. Ob es dann zusätzlich zu einer Hierarchie und Überlagerung kommt, wie heute mit dem Vorrang des Verfassungsrechts, ist dann erst die nächste Frage. Nicht entscheidend ist, ob die Normen zwingend sind, denn auch Privatrecht kann zwingende Vertragsregeln aufstellen, etwa im heutigen Verbraucherrecht und eben im damaligen Gewerberecht. Der schärfste Theoretiker des Rechts im frühen 19. Jahrhundert, Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), hat es auf den Punkt gebracht. Er unterscheidet zunächst Staatsrecht bzw. öffentliches Recht und Privatrecht: „Übersehen wir von dem nun gewonnenen Standpunkt aus das gesammte Recht, so unterscheiden wir in demselben zwey Gebiete, das Staatsrecht und das Privatrecht … Dennoch bleibt zwischen beiden Gebieten ein fest bestimmter Gegensatz darin, daß in dem öffentlichen Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeordnet erscheint, anstatt daß in dem Privatrecht der einzelne Mensch für sich Zweck ist, und jedes Rechtsverhältnis sich nur als Mittel auf sein Daseyn oder seine besonderen Zustände bezieht.“27

Savigny konkretisiert das an späterer Stelle aufschlussreich. Es werde in den reinen „Vermögensverhältnissen [des Privatrechts] die Herrschaft des Rechtsgesetzes vollständig durchgeführt, und zwar ohne Rücksicht auf die sittliche oder unsittliche Ausübung eines Rechts. Daher kann der Reiche den Armen untergehen lassen durch versagte Unterstützung oder harte Ausübung des Schuldrechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entspringt nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem des öffentlichen Rechts; sie liegt [zum Beispiel] in den Armenanstalten, wozu allerdings der Reiche beyzutragen

27 System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 22 f.

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gezwungen werden kann, wenngleich sein Beitrag vielleicht nicht unmittelbar merklich ist.“28

In dieser Weise wird also ein universaler Privatrechtsbegriff der gleichen Freiheit festgehalten, aber zugleich das zeitgenössische öffentliche Recht auf seinen ganz anderen Begriff gebracht und vom Privatrecht ferngehalten. Damit wurde nun die neue prinzipielle normative Frage entscheidend, ob z. B. Kinderschutz „das Ganze zum Zweck“ hatte und haben sollte oder doch zuerst den „einzelnen Menschen für sich“. Das wurde eine Frage der Ausgestaltung. Es kam darauf an, ob sie eher bevormundend, generell, ‚objektiv‘ oder eher helfend, individuell und emanzipatorisch geschah, mit welchen konkreten Instrumenten usw. Zunächst aber zeigen sich zwei durchgehende Linien: eine begrenzte und eine universale Verwendung von Arbeit wie bei Lotmar. Begrenzt war die Verwendung von „Arbeit“ für den Sektor der alten illiberalen, dann der gewerblichen und der unselbständig abhängigen Arbeit überhaupt. Dabei wurden dann die überlagernden Regelungen des öffentlichen Rechts von großer Bedeutung. Arbeitsrecht erscheint dann gern als tertium, als eigene, neue Rechtsmischung. Zum Zweiten entstand die universal gedachte Verwendung von Arbeit vom Privatrecht als Modellrecht her. Hier wird die neutralisierende Abgrenzung vom anders regelnden öffentlichen Recht wichtig. Arbeitsrecht erscheint dann als allgemeines, auch emanzipierendes (Privat) Recht aller Tätigkeiten gegen Entgelt.

V. „Dienste“ und „Arbeit“ treten in Konkurrenz Einen neuen Aspekt, der schon mit dem erwähnten Jahrbuch „Arbeitsrecht. … das gesamte Dienstrecht …“ von 1914 berührt wurde, hat aber dann sehr folgenreich das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 / 1900 gebracht. Es bildete nun erstmals einen allgemeinen Grundbegriff, aber nicht mit „Arbeit“, sondern mit „Dienstvertrag“. Nach einigen Diskussionen fixierte es den Titel „Dienstvertrag“ im BGB als Abschnitt II 7, 6 für die §§ 611–630 und für alles privatrechtliche Arbeiten. So geschah es bereits 1888 im ersten Entwurf. Es wurde festgehalten bis in die Verabschiedung 1896 und das Inkrafttreten 1900. „Dienstvertrag“ war ein Ergebnis von älteren Diskussionen seit ca. 1850. Der wesentliche Vorläufer in diesem Punkt war nämlich das sächsische Bürgerliche Gesetzbuch von 1863 (es galt bis zum BGB 1900) mit seinem Unterabschnitt III 2, 1, „X. Dienstvertrag“ und dort in dessen erstem Paragraphen, § 1229. Dieser hielt erstmals lapidar fest: 28 Ebda. 371. Siehe zu dieser wichtigen Unterscheidung überhaupt Rückert, HKK (Fn. 2) Bd.1, 2003, zu vor § 1 Rn. 72 ff.

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„Durch den Dienstvertrag verpflichtet sich der eine dem anderen zu Diensten gegen eine Gegenleistung.“

Hier wurde zwar nicht die „Arbeit“ allgemein gestellt, aber dafür, und dies noch allgemeiner, die „Dienste“. Ähnlich verwendeten „Dienstverdingung“ der hessische, bayrische und Dresdener Entwurf eines Zivilrechts bzw. Schuldrechts von 1853, 1861 und 1866.29 Damit wurde wie schon um 180030 der universale und nichtständische Aspekt betont. Wieder etwas anders sprach der Savigny-Schüler Christian Fr. Koch (1798–1872) in seinem „Lehrbuch des preussischen gemeinen Privatrechts“ generell von „Dienstverhältnis“31 und entsprach damit dem Savignyschen Denken zuerst in realen „Rechtsverhältnissen“ statt schon enger in Verträgen. Beide Linien waren bemerkenswert neu und grundsätzlich. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Literatur des 19. Jahrhunderts auf Titel mit „Arbeit“ durchsieht.32 „Dienste“ entwickelt sich also zum allgemeineren Konkurrenzbegriff für „Arbeit“. Militär und Beamte wurden freilich meist nicht einbezogen. Weder aus fürsorglichpaternaler konservativer Sicht noch aus progressiver sozialistischer war „Arbeit“ tauglich zum Allsingular für alles Arbeiten. Aus beiden Perspektiven überwogen die Unterschiede. Das liberal ansetzende BGB knüpfte mit Dienstvertrag an ein schon lange positiv besetztes Wortfeld für Arbeiten an. Das Wort „Dienst“ kam aus dem Lehensdienst, es klang nach edlerem Tun und hatte schon in der höfischen Literatur des Mittelalters die „arbeit“ ersetzt.33 In der Glosse zum Sachsenspiegel unterscheidet der gelehrte Johann von Buch, um 1330, knechte und dyner, wobei Letztere einen besseren Status haben als vertragliches, nicht höriges Gesinde.34 In den mittelalterlichen Rechtsquellen findet sich auch arbeit. Eine Hauptquelle wie die älteste und verbreitetste Aufzeichnung einheimischer Rechtsgewohnheiten, der Sachsenspiegel von um 1230, verwendet 29 Siehe Bernert (wie Fn. 3) 342 ff.; eingehend jetzt auch Rückert, HKK (Fn. 2) zu § 611 Rn. 21 ff. 30 Dazu oben bei Fn. 11 ff.; bemerkenswert auch die philosophischen Stimmen, s. Rückert, ebda., Rn. 26 f. 31 Siehe Bd. 2, Berlin 1846, 451, nach Bernert (wie Fn. 3) 279 Fn. 159. 32 Siehe Rückert (wie Fn. 15) 225–294. 33 Dazu kurz Wiedemann, (Fn. 18) S.  41; im übrigen das Grimmsche Deutsche Wörterbuch, s.v., sowie das Deutsche Rechtswörterbuch, s.v., und meine Überlegungen in „Zwölf Jahre Dienst am Recht“?, in: Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Nationalsozialismus, hg. von H. Lück u. A. Höland, Halle 2011, S. 111–137, bes. 115–130. 34 Siehe jetzt die Edition von Frank-Michael Kaufmann (Hg.), Glossen zum Sachsen­ spiegel-Land­recht. Buch’sche Glosse, 3 Teile, 2001 / 2002, hier II S.  726 f. zu Ssp. II 34,1.

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arbeit zeitgemäß für Feldbestellung oder Kornschneiden,35 also Handarbeit. Der gelehrte Glossator des Sachsenspiegels, Johann von Buch, spricht noch ca. 1330 von arbeiden für Gesinde.36 Ein singulärer Text zum ‚Arbeitsrecht‘ wurde veranlasst durch den Sachsenspiegel und nennt sich Quaestio de jurisdictione servi. Er stammt aus dem 15. Jahrhundert, umfasst ca. 30 Zeilen im heutigen Druck und wurde von kundiger Seite als „Der älteste arbeitsrechtliche Traktat deutscher Sprache“ vorgestellt.37 Er verwendet aber arbeit oder Ähnliches nicht. In der Folge und in der frühen Neuzeit findet sich arbeit vielfach, etwa in der Reichspolizeiordnung 1577 (Art. 25, man soll nicht aus „Dienst und Arbeit treten“), aber stets aber ohne ersichtliche Verschiebung.38 Im 18. Jahrhundert wurde „Dienst“ juristisch häufiger. Vor allem wurde nun die Zusammensetzung „Dienstvertrag“ zunehmend benutzt und ‚modern‘ generell verstanden, etwa auch für „Beamte“, obwohl es wohl nicht in einem Buchtitel erschien.39 Damit traten das universale allgemeine Tätigkeits- und das Konsenselement voran. Insbesondere in der Sprache der Philosophen des deutschen Idealismus, besonders der Kantianer, wurde Arbeit und Arbeitsvertrag universal für jede Tätigkeit verwendet.40 Das griff weit voraus. 35 Ssp. Landrecht II 46,1 zur Feldarbeit, III 37,4 zum Kornschneiden, s. Deutsches Rechtswörterbuch, online, s.v. arbeit. 36 Zu Ssp. I 22, 2, siehe jetzt die Edition von Kaufmann (Fn. 34) hier I S. 256. 37 Friedrich Ebel, Der älteste arbeitsrechtliche Traktat deutscher Sprache, RdA 34 (1981) 294–96; der Text überliefert in einer Breslauer Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert und bei Ebel erstmals mitabgedruckt; die Bezeichnung Traktat ist sehr weit gefaßt, denn eine Quaestio ist gerade nicht systematisch angelegt wie ein Traktat. Sie stellt ein Einzelproblem dar mit Pro und Contra und Conclusio. Auch dies leistet der Text nur rudimentär. Er begnügt sich mit einigen Erklärungen ohne pro und contra. 38 Siehe Deutsches Rechtswörterbuch, wie Fn. 35, und die Hinweise bei Sema Simon, Die Tagelöhner und ihr Recht im 18. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 21 f.; für die RPOn Ernst A.  Koch, Kaiserlicher Bücher-Commissarius (Hg), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede …, in 4 Teilen und 2 Bänden, Frankfurt a. M. 1747, chronologisch unter dem Jahr; 1577 in der RPO 25,2 für Dienstboten und Knechte als „fleißige und getreue Arbeiter … , die nicht aus Dienst und Arbeit treten“; nur als „aus den Diensten treten“ noch in RPO 1548 24,2 und 1530 31,2; konkrete Vertragsbspe. bei G. Möncke (Hg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte mittel- und oberdeutscher Städte im Spätmittelalter (Ausgew. Quellen zur dt. Gesch. des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 38), 1982, mit vielen Rechtsquellen, hier „arbait“ 1362 zum Arzt (324 f.), 1490 zum Werkmeister (374 f.), „dienen“ 1485 zum Handelsdiener (S. 363 f.). 39 Siehe die Treffer in books.google unter „Dienstvertrag, 1700–1800“ (15.6.2011) für 1776, 1786, 1788, und im übrigen erst 1790–1800, aber nichts für einen Titel damit. Für Beamte u.a. bei Christoph Chr. Dabelow, Handbuch des heutigen gemeinen Römisch-Deutschen Privat-Rechts, II 1, Halle 1803, S. 177. 40 Dazu näher Rückert, HKK (Fn. 2), zu § 611 Rn. 26 f. (Kantianer, Fichte).

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Das BGB setzte ebenfalls breit an, dies wurde aber nicht eingelöst, da nicht seine und Lotmars dem BGB entsprechende weite Typen- und Begriffsbildung sich durchsetzte. Vielmehr führte eine „dezentralisierende Bewegung des Arbeitsrechtes“41 zu einem erneuten Recht nur der abhängigen Arbeit, einem „Arbeitsrecht“ als Sonderrecht. Das begann vor 1914 und wurde nach 1918 die dominante Linie bis heute. Es bildete sich außerdem eine weitere und neue wesentliche Scheidung mit einem eigenen Recht der Angestellten seit 1889 in der Sozialversicherung. Die „Angestellten“ erschienen als eigene Gruppe in der Weimarer Verfassung im sog. Räteartikel (Art. 165). Das „Angestelltenrecht“ fand bald eine eigene Großdarstellung42 und lief damit der „atemberaubenden Expansion“ einer „neuen Sozialfigur“ parallel, die als „neuer Mittelstand“ gesehen wird.43 In diesem Sinne war auch hier, zum übergreifenden Dienstvertrag, das BGB ein „Gesetzbuch ohne Chance“. Es war ein Gesetzbuch für sozioökonomische Prosperität und nicht für eine Zeit der Krisen wie seit 1914.44 Sein gleich-freiheitlicher, universaler Ansatz wurde nun sektoral sozial-schützend und ökonomisch-korporativ überformt. Das 20. Jahrhundert bietet dazu noch zuspitzende Alternativen von gerade deswegen hohem Interesse. Die eine entstand aus sozialistischer Perspektive. Schon zum BGB hatte die SPD nichts von „Dienstvertrag“ wissen wollen, sondern stattdessen einen Abschnitt „Arbeit“ verlangt und zu „Dienst“ behauptet, das sei ehrenrührig militärisch.45 Damit traten nun die beiden überkommenen Allgemeinbegriffe in Konkurrenz auf, Dienste und Arbeit. Von „Arbeit“ als Universalbegriff für Tätigkeit geht wieder das erste „Gesetzbuch der Arbeit“ aus, das auf der 4. Tagung des gesamtrussischen Zentralexekutivkommitees am 30. Oktober 1922 angenommen wurde.46 Es heißt dort nämlich: 41 So die treffende Beobachtung Lotmars 1912, in: Die Idee eines einheitlichen Arbeitsrechts, in: Gewerbe- und Kaufmannsgericht 18 (1912 / 13) S. 277–284, 279, Neudruck in ders., Schriften zu Arbeitsrecht, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, hg. von Joachim Rückert, Frankfurt a. M. 1992, S. 603 ff., 607. 42 Siehe J.G. Lautner, Geltendes und künftiges Angestelltenvertragsrecht, auf rechtsvergleichender Grundlage, Teil 1 (mehr nicht erschienen), Graz 1927. 43 Siehe nur Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III: 1849–1914, München 1995, S. 757 ff. , 757. 44 Siehe dazu Joachim Rückert, Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?, in Juristenzeitung 58 (2003) S. 749–760. 45 Dazu jetzt genauer und gegen manche Missverständnisse Rückert, HKK (Fn. 2) zu vor § 611 Rn. 61, 49 und zu § 611 Rn. 44, 61 (Mißverständnisse). 46 Nach der deutschen Übersetzung in W. I. Lenin, Über die Arbeitsgesetzgebung, Berlin 1962, hier S. 633 ff.; zum ganzen jetzt Oleg Sobbotin, Das sowjetische Arbeitsrecht zwischen den Weltkriegen 1917–1941, in: Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen, hg. von Thomas Giaro, Frankfurt a. M. 2007, S. 105–136.

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„Die freiwillige Begründung von Arbeitsverhältnissen durch Bürger der RSFSR erfolgt, mit Ausnahme der in Art. 9 genannten Fälle, durch die Organe des Volkskommissariats für Arbeit.“ (Art. 5).

Diese Überordnung ist genau ausgestaltet in Artt. 5–10 und ergänzt durch sog. Gewerkschaften in Artt. 151 ff. Arbeitspflicht galt als Prinzip.47 Der 1922 wieder ergänzte Abschnitt „Über den Arbeitsvertrag“ (Artt. 27 ff.) überlässt Abschluss und Inhalt den Parteien, aber auch nur in den erheblichen Grenzen der Gesetze, Verordnungen usw. In bemerkenswerter Konsequenz bedeutete dies eine Verteilung der Arbeit nicht mehr durch Vertrag, sondern durch kollektive Organe. Juristisch fehlt also die sog. Abschlussfreiheit. Dieses Gesetzbuch erfasst „alle gegen Entlohnung arbeitenden Personen“ (Art. 1). Das bedeutet, dass alle Arbeit erfasst war, denn „höhere“ oder „geistige“ Arbeit gegen Honorar gab es rechtlich nicht mehr. Art. 9, auf den für Ausnahmen verwiesen wurde, veränderte nur die Einzelkompetenzen des Volkskommissariats, nicht den Organvorrang. „Arbeit“ ist hier also zum Allsingular geworden, freilich auf heteronomer Basis. In der Linie, dass alle arbeiten und arbeiten müssen im Sinne des Gemeinwohls und der Gesamtheit, also nicht vom Vertrag und der Einzelfreiheit her, dachte auch das nationalsozialistische Recht. Das NS-Regime produzierte gleich am 20.1.1934 das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit. Es wurde ergänzt durch ein weiteres Gesetz vom 23.3.1934, das Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben48 im gleichen prinzipiellen Sinn. Beamte und Militär blieben weiter ausgespart. Arbeit wurde zwar noch durch Vertrag begründet, aber nicht mehr als allein vertraglich bestimmt angesehen, sondern als eine Form von „Gefolgschaft“. Besonders deutlich wird die neue Auffassung von dem schon lange arbeitsrechtlich und soziologisch tätigen Heinrich Potthoff (1875–1945) formuliert, der 1935 ein praktisches Handbuch herausgab unter dem Titel „Das Deutsche Arbeitsrecht. Handbuch für Vertrauensleute, Betriebsführer und Gefolgschaft“. Unter Titel IV. „Das neue Arbeitsrecht“ heißt es dort prägnant: „Die wichtigste Umstellung des Arbeitsrechtes ist die vom Geschäftlichen zum Sittlichen. Das auf vermögensrechtlichem Schuldvertrage beruhende Tauschverhältnis wird umgewandelt in ein Treudienstverhältnis nach dem Vorbild des germanischen Gefolgschaftsund des heutigen Beamtenverhältnisses.“

47 Dazu Sobbotin (wie Fn. 46) 110. 48 Text und Kommentar in Alfred Hueck, Hans C. Nipperdey, Rolf Dietz, Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit … . Kommentar, München, Berlin 1934.

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Das Zitat zeigt die grundbegrifflich wesentliche Wendung vom Schuldrecht zurück zum Personenrecht. Der wichtigste Inhalt des Arbeitsvertrags wurde nun nämlich die personale Treue statt des schuldrechtlichen Leistungsaustauschs. Von dort aus sollten nun alle Rechte und Pflichten bestimmt werden. Potthoff hatte, wie er selbst sagt, schon „drei Jahrzehnte lang … gegen die schuldrechtliche Auffassung des BGB angekämpft“ (S. 13). Nun hatte sein Kampfbegriff „Treue“ Erfolg und verdrängte als „Treudienstverhältnis“ jede juristische Gewissheit49. Denn wie wäre „Treue“ als durchsetzbare Haltung genauer und rechtlich allgemein zu bestimmen? Wichtiger ist hier jedoch: Auch er meint mit Arbeitsverhältnis nur etwas Sektorales, das Verhältnis der rechtlich abhängigen Arbeit (S. 11). So repräsentativ wie energisch bestätigt dies auch der Bericht des damals führenden Berliner Arbeitsrechtlers und Richters Hermann Dersch (1883–1961) über die Anfänge des Ausschusses für Arbeitsrecht in der sog. Akademie für deutsches Recht 1933 / 34:50 Neues Arbeitsrecht sei besonders dringend. Denn hier habe man es „mit einem so scharfen Umschwung der Anschauungen des Rechts gegenüber der vergangenen Zeit zu tun, daß man sich kaum einen schärferen Gegensatz denken könnte als den zwischen dem Arbeitsrecht der vergangenen Zeit und den Gedankengängen des neu aufkommenden Arbeitsrechts. Ich brauche nur zu erinnern an die treibenden Kräfte des Arbeitsrechts der Vergangenheit, des marxistischen, klassenkämpferischen, liberalistischen, individualistischen Elements und jetzt des Gedankenguts des Nationalsozialismus, ausgehend – wie es jetzt schon zu einem erheblichen Teile, etappenweise, in dem Arbeitsordnungsgesetz seine Prägung arbeitsrechtlich erhalten hat – von der Betriebsgemeinschaft und seinen Stempel findend in dem neuen Schutz der arbeitsrechtlichen Ehre und in der Gestaltung von Führer und Gefolgschaft im Betriebe unter Ausbildung des Führerprinzips.“

Diese Wende war eine völkische, aber zugleich eine neu-ständische. Die Freiberufe blieben separat geregelt wie andere Arbeit auch. Ganz ähnlich klingt es schließlich im offiziösen Referentenkommentar zum Gesetz,51 in dem Ministerialdirektor Mansfeld ausführt: Es handle sich zwar nach wie vor im Abschluss um einen Vertrag, aber der Rest sei neue Auslegung, die gebunden sei durch die Auffassung als Treudienstverhältnis zwischen Betriebsführer und Betriebsgefolgschaft (S. 85). Wie bei Potthoff wird

49 Zum Verlauf näher Rückert, HKK III (Fn. 2) zu § 611 Rn. 231, 294, 324, 337, 340, 355. 50 Jahrbuch der Akademie für deutsches Recht 1 (1933 / 34), S. 228; s. zu Dersch Rückert, wie Fn. 49, Rn. 341 am Ende. 51 Die Ordnung der nationalen Arbeit. Kommentar …, bearbeitet von W. Mansfeld und W. Pohl, Berlin u.a. 1934.

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dies alles mit historisch-‚germanischen‘ ‚Erinnerungen‘ verbrämt und deutschrechtlich sowie gemeinschaftsrechtlich genannt. In dieser bewusst nichtprivatrechtlichen Ordnung der Probleme war man sich einig mit dem seit 1900 entstandenen „Arbeitsrecht“ als Recht nur der abhängig Arbeitenden, trotz anderer Ordnungsvorstellungen,. Die insoweit gleiche Trennungslinie verfolgten auch die italienische Carta di Lavoro von 1927 und die französische Charte du Travail von 1941.52 Genau umgekehrt und ebenfalls zuspitzend verallgemeinernd hatte 1911 die Schweiz ihr Obligationenrecht von 1881 renoviert und einen 10. Titel neu gebildet mit der Überschrift „Der Dienstvertrag“. Das betraf nun wie im BGB jede Leistung von Diensten. Diese Perspektive war also privatrechtlich und verallgemeinerte vom Privatrecht her, während die sozialistische Perspektive vom Arbeiten her dachte und von hier aus verallgemeinerte. Das betraf sehr bemerkenswert auch die bei uns als Tarifvertrag bekannten kollektiven Vereinbarungen. Sie wurden dort als sog. „Gesamtarbeitsverträge“ (Artt. 322 f.) aufgefasst und stärker von den einzelnen Betroffenen her konstruiert.

VI. Abschied von den „höheren“ Diensten? Dieser stark geraffte Überblick zeigt einige signifikante Bewegungen in der Rechtssprache. Zum Ende des 19. Jahrhunderts kam es also zu einer scharfen Konkurrenz der Bezeichnungen Dienste und Arbeit. Das hat nicht nur ideologische und juristische Bedeutung. Sozialgeschichtlich bezeugt diese Konkurrenz den Aufstieg der politisch erstmals in diesem Ausmaß vereinigten und selbstbewussten Arbeiterklasse, politisch im Wahlrecht und als Partei seit 1871, ökonomisch mit dem kontinuierlichen Anstieg der Reallöhne und sozial mit der Ausbreitung der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Sozusagen im Schatten der industriellen Großbetriebe mit ihren Arbeiterkonzentrationen hatte sich eine neue, selbstbewusste staatsbürgerliche Gruppierung entwickelt, trotz oder gerade wegen der immer wieder forcierten Repressionen, etwa in der sog. Zuchthausvorlage 1899. Diese neue gesellschaftliche Gruppierung hatte nun ihre Vertretung und ihre Sprache im Reichstag gefunden.53 „Arbeitsrecht“ sollte von nun an als pars pro pro toto für alle entgeltliche Tätigkeit im „Bürgerlichen Gesetzbuch“ stehen. Das setzte 52 Dazu Viktor Weidner, Die französische Charte du Travail (1941–1944), in: Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, Paderborn n. a. 1979, S. 567–599; genauer und im gesamteuropäischen Zusammenhang kollektivrechtlicher Gemeinsamkeiten Lavigne 1948 (wie Fn. 15) 283 ff. 53 Siehe zum BGB Rückert, HKK (Fn. 2), zu § 611 Rn. 44, 60, 71, 74 f., 78, 80.

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sich nicht durch. Es kommt vielmehr zu einer langdauernden stabilen Trennung der beiden Tätigkeitswelten, der industriellen und gewerblichen Arbeit einerseits und der Tätigkeit im Handel durch Privatbeamte oder Freiberufler andererseits. Dazwischen bildet sich nach 1900 eine dritte Gruppe deutlich heraus: die Angestellten. Erst die neuere Dienstleistungsgesellschaft verschiebt diese Abgrenzungen erneut. Ich möchte mich daher noch auf die Beobachtung konzentrieren, dass die Quellen zwei grundsätzlich verschiedene Lösungen von politisch-sozialer Allgemeinbedeutung anbieten. Was meine ich damit? Ich meine die Frage, ob Arbeiten und Arbeit rechtlich generell behandelt werden für jede Tätigkeit oder deutlich differenziert werden. Differenzierung war der ständischen Welt seit der Antike selbstverständlich und wurde in manchen neuständisch modernen Welten wiedererfunden. Arbeit wird dann zerlegt in die jeweils ökonomisch, sozial und politisch relevant verschiedenen Tätigkeiten und entsprechend verschiedenen Regeln unterworfen. Das waren dann nicht bloß besondere Anwendungen einer allgemeinen Regel auf grundsätzlich gleich geregelte konkrete Verhältnisse in einer Gesellschaft von rechtlich gleich Freien. Diese beiden Aspekte bieten einen übergreifenden Zugriff, der die Zeitverhältnisse in politischsozialen Typen und ihren rechtlichen Ausprägungen erfassen kann. Das ließe sich freilich nur sehr umfänglich von Quelle zu Quelle systematisch durchführen. Ich wähle daher einen hoffentlich exemplarischen Weg über den Indikator, der mir dafür besonders ergiebig erscheint. Einen solchen Indikator für die Frage, ob Arbeit allgemein oder nur begrenzt gemeint ist, bildet das alte Problem der Regelung der erwähnten sog. höheren Dienste, der operae liberales, oder heute i.W. der sog. freien, d.h. hier freiberuflichen, Dienstverträge. Ganz passend entsteht diese Bezeichnung parallel zu der Verallgemeinerung von Arbeit. Es geht offenbar um ein neues Abgrenzungsbedürfnis. „Freie Berufe“ entstanden seit um 1800 in Abgrenzung zunächst gegen staatliche Regulierung und in analogem Anspruch wie die Gewerbefreiheit, in die sie nicht unmittelbar einbezogen waren. Sie gehen zurück auf die Professionsbildung besonders der Juristen und Ärzte als unabhängige „höhere“ Fach-Berufe schon in Rom und deutlicher seit dem 13. Jahrhundert. Sie grenzen sich nun ab als „gelehrte Stände“ (so noch 1862) gegen Staatsdienst, Handwerk und Gewerbe. Im späten 19. Jahrhundert werden sie dann vor allem statistisch präzisiert, in den 1920er Jahren steuerrechtlich. Die Regulierungsfrage bleibt aktuell.54 Diese „Freien“ störten 54 Entstehung und Kontext der Wendung „freie Berufe“ scheinen nicht genauer geklärt, vgl. Hans Kairat, „Professions“ oder „Freie Berufe“? Professionales Handeln im sozia­ len Kontext, 1960, 12–15: klar nur, daß „selbstständig“ (mit § 18 I EStG); lt. google. books erscheint es zuerst 1844 im Zusammenhang von Sparkassenstatistik. Allg. bes. gründlich zum 19.  Jahrhundert Jochen Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe. Geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem, 1991, vgl. 110 f., 11 in der Fn. zu „gelehrte Berufsstände“ der Advokaten, Ärzte und Apotheker; zur älteren Lage grundlegend am Bsp. Juristen Ulrich Meyer-Holz, Collegia Judicum.

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und stören juristisch systematisch umso mehr, je mehr der engere Arbeitsvertrag als Hauptfall des Dienstvertrages in § 611 BGB gesehen wird. Man sah sich davon immer weniger erfasst und grenzte sich erneut schärfer als selbständig im Freiberuf ab. Auch scheint hier zum einen die Kautelarjurisprudenz zu überwiegen und auch der Rechtsweg nicht so beliebt zu sein wie im Arbeitsrecht. Damit entsteht der falsche Eindruck von vergleichsweiser juristischer Irrelevanz.55 Etwa im Bereich der angestellten Anwälte und Ärzte hat sich in neuerer Zeit aber eine Fülle von durchaus pflichtenintensiven Dienstverhältnissen gebildet, die der Analyse und Typisierung harren. Es ist aufschlussreich zu beobachten, ob diese Sachprobleme gemeinsam mit dem übrigen Arbeiten geregelt wurden oder nicht. Denn in gemeinsamen Regeln steckt ein generalisierender, politisch-sozial grundsätzlicher Abschied von der alten Ständewelt, die nach Geburt, Beruf, Ehre und Ähnlichem unterschied und danach auch die Arbeit gliederte. Wie erwähnt erscheint Dienste als allgemeine Formulierung in Deutschland zuerst in Sachsen, und wohl nicht zufällig gerade in diesem relativ früh industrialisierten Raum, im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1863.56 Privatrecht wird hier pars pro toto mit Verfassungsfunktion.57 Zwar sind gewissermaßen selbstverständlich Militär und Beamte nicht erfasst. Aber das Gesetzbuch bildete einen neuen Abschnitt im traditionellen Recht der Forderungen, im Unterabschnitt „Forderungen aus Verträgen“ als „ X. Dienstvertrag“ in §§ 1229 ff. Der Eröffnungsparagraph 1229 sagte nur noch lapidar: „Durch den Dienstvertrag verpflichtet sich der eine dem anderen zu Diensten gegen eine Gegenleistung.“ Das allgemeinere und immer etwas positiver verwendete Wort „Dienste“58 hat hier sich hier gegen „Arbeit“ behauptet.

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Über die Form sozialer Gruppenbildung durch die gelehrten Berufsjuristen im Ober­ italien des späten Mittelalters, mit einem Vergleich zu Collegia Doctorum Iuris, (Fundamenta Juridica 6), 1989, und ders., Die Collegia Judicum und ihre Bedeutung für die Professionalisierung der Juristen, ZhistForschung 28 (2001) 359–384; vgl. aktuell nur Rolf Stürner / Jens Bormann, Der Anwalt – vom freien Beruf zum dienstleistenden Gewerbe, NJW 57 (2004) 1481–1492. Siehe nach wie vor das Gutachten von Manfred Lieb, Dienstvertrag …, in: Bundesminister der Justiz (Hg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1983, 183–240, vgl. 194 f. zum möglichen Anwendungsbereich; zus.fd. zum heutigen Bereich Monika Anders / Burkhard Gehle, Das Recht der freien Dienste, 2001. Siehe oben vor Fn. 27. Zum Ganzen genaue Schilderung bei Elke Herrmann, Operae liberales, operales illiberales – vom Schicksal einer Unterscheidung, Zs. für Arbeitsrecht 33 (2002) S. 1–27, hier 10 und 22 f., freilich mit bloß kritischer Bewertung der Zusammenführung. Siehe zu diesem wichtigen Zusammenhang immer noch bes. Dieter Grimm, Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung (1981), in ders. (Fn. 14) S. 192–211. Siehe nur die Belege in: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, s. v., und oben bei Fn. 26.

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Außerdem erfasste es klarer alle Tätigkeit gegen Entgelt, d.h. alles Arbeiten in einem weiten Sinne. Diese privatrechtliche Abstraktion erhebt sich also erstmals klar über die bisherigen rechtlichen Gliederungen der Arbeit und nennt dies „Dienstvertrag“. Diese weite Auffassung zog sich bereits durch die sächsischen Beratungen seit 1852.59 Gemeint war nun jede Tätigkeit gegen Entgelt. Der Vereinheitlichung des Disparaten diente nun die alte Technik der Bildung einer Hierarchie von allgemeinen und speziellen Dienstrechten. Eine Ebene spezieller als im Bürgerlichen Recht gab es spezielles Recht der entgeltlichen Tätigkeiten im Gewerbegesetz von 1861, im Berggesetz von 1853, im Handelsgesetzbuch von 1861 und in der Gesindeordnung von 1835 (jeweils sächsisches Recht). Diese Regeln wurden nun als Spezialisierung nach den gleichen Prinzipien wie im Bürgerlichen Gesetzbuch aufgefasst und nicht mehr als inhaltlich eigenständige Regelungen eines Sonderbereichs. Jedenfalls waren damit erstmals fast alle Tätigkeitsverhältnisse für andere gegen Lohn zusammengefasst und auf normative Prinzipien gebracht – mit der ständigen neuzeitlichen Ausnahme der Militärs und Beamten, die bis um 1800 ebenfalls privatrechtlich behandelt worden waren. Das hatte grundsätzlichen, zukunftsweisenden Charakter. Sichtbar wird dies wieder besonders im Vergleich. 1794, im preußischen Allgemeinen Landrecht waren zwar bereits alle „Verträge über Handlungen“ zusammengefasst worden in Teil I 11, 8. Aber dieses Landrecht bewies auch hier seine Janusköpfigkeit, seinen doppelten Blick nach vorne und zurück. Denn diese Allgemeinheit, ein Erbe vernunftrechtlicher Anstöße durch Christian Wolff und seine preußischen Schüler, wurde nicht eingelöst. Überall wurde sie durch statusbedingtes Sonderrecht entscheidend modifiziert, für Gesinde, Landarbeiter und Tagelöhner, Handwerker und sog. Künstler, Fabrikanten und andere Gruppen. Hier herrschen noch immer detaillierte Ordnungen für Taxen, Gesinde u.a. Im ausführlichen Register zum Landrecht verweist „Arbeit“ nur auf das Anhalten der Müßiggänger zu Arbeit (II 19, 3 ff., 7 ff.) und ein Zunftproblem (II 8, 202) sowie im Übrigen auf „Handarbeiter“ – hier zeigt es sich also voll altständisch sektoral in Sachen „Arbeit“.

59 Siehe dazu Barbara Dölemeyer, Bürgerliches Gesetzbuch oder Spezialgesetzgebung? Die Diskussion um die Regelung des Dienstvertrags in den sächsischen Kodifikationsentwürfen, in: Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, hg. von Harald Steindl, Frankfurt am Main 1984, S. 137–172, hier S. 152 f., 140 Fn. 5: trotz Schwankungen zu „Dienstleistungsvertrag“ oder „Lohnvertrag“ blieb das wichtige Element Vertrag ebenso stets wie die getrennte Erfassung als eigener Typ. Nebenbei sei vermerkt, daß bereits spätestens 1837 Karl S. Zachariae die Überschrift „Von dem Dienstvertrage“ wählte, um die Einzelbestimmungen des Code civil dazu zusammenzufassen, s. ders., Handbuch des Französischen Civilrechts, Bd. 2, 4.Aufl. Heidelberg 1837, § 372a – das war das damals dazu führende Werk, auch in Frankreich.

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Schön ergänzend verweist „Dienste“ auf die Gruppen der „Gutsuntertanen“ (II 7, II 11, II 15), auf „Stadtdienste“ (II 8) und „häusliche Dienste“. Auch die erste modernisierte einheimische Kodifikation des Privatrechts überhaupt, Kreittmayrs Bayerisches Landrecht von 1756, der sog. Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, hatte zwar in IV.6 die Dienste, Arbeiten oder Verrichtungen im Sinne der römisch-gemeinrechtlich abstrakten locatio conductio operarum (wörtlich etwa: Anbietung und Annahme von Tätigkeiten) zusammengefasst. Aber die bayerischen Regeln waren mit vielen speziellen Klauseln versehen. Und die sog. höheren Dienste waren nicht einbezogen. Selbst das nicht selten als besonders fortschrittlich gerühmte Privatrechtliche Gesetzbuch für den Kanton Zürich von 1855, hier im Buch 4, „Forderung und Schulden“ bzw. Obligationenrecht, von Johann Caspar Bluntschli (1808–1881), hatte eigene Kapitel gebildet über „Lohndienstvertrag“ (§§ 1560–1566) und „Honorarvertrag (Freidienstvertrag)“ (§§ 1567–1571). Nach § 1560 betraf der Lohndienstvertrag die „Arbeiter“, die freien „Dienste“ meinten dagegen die Lehrer, Erzieher, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Advokaten und Consulenten, Ingenieure, Chemiker und Techniker, Sensalen und Geschäftsagenten „und außerdem alle entgeltlichen Dienstleistungen, bei welchen kein Herrschaftsverhältnis des Lohngebers entsteht“. Dieses Herrschaftsverhältnis wird als „persönliches Abhängigkeitsverhältnis des Arbeiters“ bestimmt, während „bei den freien Diensten der Beauftragte eine selbständigere Stellung dem Auftraggeber gegenüber behauptet“ (Anmerkung zu § 1560). Besonders ausgeprägt erscheint das „persönliche Herrschaftsverhältnis“ im herkömmlichen Gesindeverhältnis, das daher nicht im Obligationenrecht, sondern im Personenrecht, d.h. familienrechtsnah, behandelt wird. Noch 1854 setzte der bekannte Redaktor Bluntschli den Abschnitt „Von dem Dienstbotenverhältnis“(§§ 439–473) in das „2. Buch. Familienrecht“. In § 452 hieß es konkret: „Die Dienstboten sind der Dienstherrschaft zu Fleiß und Gehorsam, Treue und Ehrerbietung verpflichtet.“ Und Bluntschli stellte diesen altehrwürdigen Satz signifikant und bewusst in den neuen juristischen Rahmen: „Die Natur dieser Verpflichtungen ist offenbar keine Schuld (obligatio), sondern eine familienrechtliche, die ganze Persönlichkeit des Dienstboten im Verhältnis zur Dienstherrschaft umfassende. Der Fleiß weist auf die Berufstätigkeit des Dienstboten und das Bedürfnis des Dienstherrn hin, der Gehorsam auf die Unterordnung des erstern unter die Leitung des letztern, die Treue auf den Pietätsverband zwischen beiden, die zu einem Familien- und Hauswesen verbunden sind, und die Ehrerbietung auf die Pflicht des Dienstboten, die Ehre des Dienstherrn und seines Hauses zu wahren und zu fördern“.60

60 Siehe „Das zürcherische Personen- und Familienrecht“, 1854, S. 354, zu § 425.

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Die soziale Differenz schlägt also rechtlich voll durch. Aber das Stichwort „Dienste“ erscheint zugleich als neuer gemeinsamer Aspekt. Ganz anders schon eine Generation später: Das neue Obligationenrecht der Gesamtschweiz von 1881 bildete schon einen einzigen 11. Titel „Dienstvertrag“ (Artt. 338–349), in dem ausdrücklich die höheren Dienste nun einbezogen werden (Art. 348). Ebenso einbezogen waren nun das Gesellen- und Dienstbotenverhältnis (vgl. Art. 344). Die Abgrenzungen nach oben und nach unten verschwanden nun in einem universalen allgemeinen Privatrecht. Bluntschli hatte hier auch als Schüler des berühmten Savigny geschrieben. Dieser Berliner Spitzenjurist mit seinem eminenten Überblick und systematischen Sinn schrieb dazu in seinem erwähnten „System“ (1840–1849),61 einer umfassenden Erörterung der Grundbegriffe des gesamten Rechts, wenige lapidar klärende Sätze zu den wohl schlagendsten Beispielsbereichen, dem Handels-, Handwerker- und Gesinderecht: Das Recht der Kaufleute, Handwerker habe „besondere Gewohnheitsrechte hervorgetrieben“ und ebenso „das Dienstbotenverhältnis“. Letzteres enthalte noch eng „partikuläres Gewohnheitsrecht“ und sei begrenzter [Bd. I 81]. In der Tat blieb noch 1896 das Gesinde- und Landarbeiterrecht ausgeschlossen vom neuen allgemein bürgerlichen Recht des BGB. Es stand nur im EGBGB in Art. 95 als ein großer Posten auf der bekannten „Verlustliste der deutschen Rechtseinheit“. Rechtseinheit wurde hier gegen den Reichstag durch einige Bundesstaaten im Bundesrat blockiert. Diese Verlustliste war zugleich eine Verlustliste der Freiheit und Gleichheit. Immerhin hatte der Reichstag mit der Einbeziehung in das Einführungsgesetz zum BGB zum Ausdruck gebracht, dass auch diese Spezialrechte als privatrechtlich betrachtet werden sollten. Savigny hatte dazu eine weitreichende Erklärung gegeben. Dies Dienstverhältnis sei „vom Mittelalter her … neu entstanden“ [I 366]. Darin müsse ein „sittliches Element“, d.h. ein nicht allgemein privatrechtliches, „als vorzugsweise einflussreich anerkannt werden“, wie schon in den „bey den Römern vorhandenen Familienverhältnissen“. Dieses Element zeige sich besonders „in einem der verbreitetsten Verhältnisse unseres heutigen Zustandes, dem Dienstbotenrecht“: „Vom Standpunkt des Römischen Rechts aus läßt sich dasselbe nur als ein Contract (operae locatae) auffassen, und für die Römer war diese beschränkte Behandlung hinreichend, da wegen des äußerst zahlreichen Sklavenstandes das Befürfniß freyer Dienstboten fast gar nicht wahrgenommen wurde. Anders bey uns, die wir keine Sklaven haben, weshalb jenes Verhältniß zu einem höchst wichtigen und verbreiteten Bedürfniß geworden ist. Nun reichen wir mit der beschränkten Behandlung gleich jedem anderen Arbeitsvertrag nicht aus, und so ist im Preußischen Landrecht auf ganz richtige Weise das Dienstbotenrecht nicht unter die Contracte, sondern in das Personenrecht aufgenommen worden.“ (I 366 f., Hervorhebung hinzugefügt). 61 Oben Fn. 27.

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Und er bestimmte die neue, aktuelle Lage gewohnt grundsätzlich aus der „Natur“ zweier verschiedener „Rechtsteile“, schuf also wieder eine der erwähnten juristischen Bereichstrennungen, um Normkonflikte zu vermeiden: „Was die Gränzscheidung betrifft, so giebt es allerdings einige äußerste Punkte, bey welchen die besondere Natur des einen oder des anderen Rechtstheils ganz unverkennbar ist: so auf der einen Seite das strenge Eigenthum mit unbeschränkter Vindication [d.h. Rechtsverfolgung], auf der anderen Seite der Dienstbotenvertrag und das Mandat [d.h. das Auftragsverhältnis als höherer Dienst]. Allein zwischen diesen liegt eine natürliche Annäherung, ja ein allmäliger Übergang, darin, daß die meisten wichtigsten Obligationen darauf abzwecken, durch fremde Handlungen ein dingliches Recht, oder wenigstens die Ausübung und den Genuß eines solchen, zu erlangen. In dieser Beziehung nun ist im Römischen Recht characteristisch ein scharfes Hervortreten des Eigenthums, welches sich theils in der unbeschränkten Wirkung der Vindication äußert, theils in der sehr beschränkten Möglichkeit einer Verminderung des Eigenthums durch jura in re. Alles hängt nun davon ab, ob die Sache an sich unabhängig von einer fremden Handlung, schon Gegenstand unsres Rechtes ist, oder ob unser Recht unmittelbar nur auf eine fremde Handlung als unsrer Herrschaft unterworfnen Gegenstand, gerichtet ist, mag auch diese Handlung zum Ziel haben, uns das Recht an einer Sache oder den Genuß derselben, zu verschaffen.“62

Nach dieser Grenzscheidung gehörte der Dienstbotenvertrag als pars pro toto für die herkömmlichen Sonderrechte jedenfalls nicht ins Sachenrecht und der Leistungsanspruch geht dabei richtigerweise nur auf bestimmte Handlungen, nicht auf Unterordnung in einem ganzen Verhältnis, d.h. einem persönlichen Herrschaftsverhältnis. Die Zukunft liegt in dieser Bestimmung also schon bereit, nämlich die Umformung auch der herkömmlichen Arbeitsverhältnisse in echte Vertragsverhältnisse, wie es dann im BGB wegweisend geschah. Einen energischeren Versuch in eine allgemeinere Richtung hatte auch nicht der gar nicht so progressive französische Code civil von 1804 unternommen. Er teilte nach ‚römischer‘ Manier das Vermieten in die zwei Arten Sachen / Arbeit (Art. 1768: choses / ouvrage) und die Arbeit wieder in die drei Arten Dienste, Transport und Werke (Art. 1711, 1779: services, transports, entrepreneurs d’ouvrage). Die höhere, liberale Arbeit ist nicht systematisch einbezogen und nur bei der Verjährung erwähnt (Art. 2272). Die Literatur geht von analoger Behandlung aus. Deutlicher wurde das eigentlich europäische Privatrechtsgesetz der Sattelzeit um 1800, das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811. Inspiriert durch Franz von Zeiller (1751–1828), einen treuen Kantianer, hatte das ABGB im 62 Savigny, System I 372 f., Hervorhebung hinzugefügt.

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26. Hauptstück in den §§ 1151 f. einen übergreifenden Abschnitt gebildet: „Von entgeldlichen Verträgen über Dienstleistungen“. Es sprach auch von „Arbeit“ bestellen. Doch meinte es gemäß § 1151 damit nur den „Lohnvertrag“. Das Gesinderecht, hier „die Rechte und Pflichten zwischen den Dienstherren und dem Dienstgesinde“ (§ 1172) ist ausgegliedert, d.h. „in den besonderen darüber bestehenden Vorschriften enthalten“. Bemerkenswerterweise werden aber nun die bisher getrennten höheren Dienste in § 1163 ausdrücklich einbezogen, denn:„Die hier aufgestellten Vorschriften gelten auch von Rechtsfreunden, Ärzten und Wundärzten, Faktoren, Provisoren, Künstlern, Lieferanten und anderen Personen, welche sich für ihre Bemühungen einen Gehalt, eine Bestellung, oder sonst eine Belohnung ausdrücklich oder stillschweigend ausbedungen haben, insofern hierüber keine besonderen Vorschriften bestehen.“ Anschaulich tritt diese lange etablierte zweite Arbeitswelt damit vor Augen. Besondere Vorschriften wurden nicht mehr erlassen. Unabhängig davon unternahm jedenfalls das ABGB von 1811 wohl erstmals eine dezidierte Vereinheitlichung der Regeln für alle Tätigkeiten gegen Entgelt. Die gleichen Rechtsregeln sollen für beide bis dahin und auch weiterhin immer unterschiedene Vertragstypen gelten. Im Zeichen Kants unternahm man eine erste Generalisierung gegenüber der überkommenen ständischen Differenzierung.63 Ohne Zweifel darf man darin eines der modernen progressiven Elemente dieses Gesetzbuchs erblicken. Ebenso universal meinen es dann wie erwähnt erst das sächsische BGB von 1863 und das schweizerische Obligationenrecht von 1881. In Sachsen formulierte man 1863 lapidar: „Die Dienste können in körperlicher Kraftanstrengung oder in Leistungen bestehen, welche eine besondere Sachkenntnis oder wissenschaftliche Bildung erfordern“ (§ 1230).

Damit war die jahrhundertealte Scheidung der niederen und höheren Dienste, der illiberalen und liberalen Dienste, entschlossen eingeebnet. Gleiches Dienstrecht für alle war der neue Grundsatz. Dieser Tendenz folgte dann auch unser BGB von 1896. Es war in Beratung schon seit 1874. In seinen §§ 611–630 zum „Dienstvertrag“ ist ohne besondere Erwähnung jede Tätigkeit gegen Entgelt gemeint. Die sog. höheren Dienste wurden ohne weiteres und bewusst einbezogen. Lediglich bei den Kündigungsfristen werden in § 622 die „Dienste höherer Art“ mit längeren Fristen versehen. Ob dies Vorteil war oder nicht, hing je von Lage und Markt ab. Sehr signifikant erscheint nun, dass diese zur Sattelzeitwende passende, etwas verspätete (wie meist das Recht) juristische Wende zu einem allgemein-privatrechtlichen und damit auch allgemeinrechtlichen Reden über Arbeit nie vollständig vollzogen wurde. Denn eine erneute Wende erfolgte alsbald. Paradigmatisch ist dafür nicht 63 Siehe oben Fn. 40.

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schon das erwähnte Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1911, das den Dienstvertrag noch als allgemeine Form für Tätigkeit und Arbeiten festhielt. Vielmehr kommt es im kaiserlichen Österreich noch 1916 zu der bekannten sog. Teilnovelle zum ABGB, die insbesondere das Dienstvertragsrecht gründlich modifizierte. Schon selbstverständlich sind nun zwar die alten höheren Dienste einbezogen, der erwähnte § 1163 ABGB 1811 wurde ersatzlos gestrichen. Aber in einer neuen, damals progressiven Wende wurden nun erneut echt sonderrechtliche Elemente eingefügt. Dazu gehört die Fürsorgepflicht des Dienstgebers in § 1157, aber insbesondere der Ausbau sog. Sonderrechte in eigenen Verordnungen und Gesetzen.64 Damit kam es wieder zu einer Wende ins Partikulare statt ins Universale. Die Frage, ob die höheren Dienste ganz einfach universal als Dienste bzw. Arbeit im weiten Sinn behandelt wurden oder als eigener Regelungsgegenstand, erweist sich damit als besonders aufschlussreich, so wie daneben die der Behandlung des Gesinderechts. Damit lässt sich erkennen, dass unter dem Zeichen „allgemeinen“, gleich freien und, etwas verkürzt gesagt, liberalen Privatrechts die Unterschiede möglichst minimiert wurden. Gleiche Freiheit auch in der Arbeitswelt war der Grundsatz. In diesem Sinne wird „Dienste“ zum juristischen und politisch-sozialen Ober- und Grundbegriff statt des sozial schon wieder enger verfestigten Wortes „Arbeit“. Dagegen indiziert in der älteren Rechtswelt das Stichwort „Arbeit“, oder etwas moderner „Lohndienste“ wie 1855 in Zürich, die Unterscheidung von einer bestimmten herkömmlich ‚niedrigeren‘ Art von Arbeit, insbesondere der Handarbeiten. Gewohnt lapidar beschrieb Kreittmayr, wohl 1756, „wie sich die Handwerke, und andere von der Handarbeit lebende Professionen unterscheiden: Dann bey Bauersleuten … thut die Natur selbst weit mehr, als die Kunst, und Handarbeit …. Taglöhner, oder Werkleut, zu Latein Operarii producieren für sich allein kein Opus specificum, sondern leisten nur Handlangersdienst dabey, seynd sohin von Handwerkern, wie Ministerium artis ab ipsa arte, unterschieden ….“65

In diesem trennenden Sinne werden nun erneut Sonderrechte teils im 19. Jahrhundert festgehalten, teils danach wieder neu gebildet. Neu war etwa ein besonderes Recht der 64 Informativ die Einleitung zu Österreich in der Quellensammlung: Europäisches Arbeitsvertragsrecht, unter Mitwirkung in- und ausländischer Gelehrten, hg. von E. Molitor, H. C. Nipperdey, Richard Schott, 3. Teil, hg. von Hans Carl Nipperdey, Marburg 1930, hier S. 345 ff. 65 Siehe den Abdruck bei Johann Andr. Ortloff, Corpus juris opificiarii oder Sammlung von allgemeinen Innungsgesetzen und Verordnungen für das Handwerk, Erlangen 1804, 2. Aufl. 1820, S. 481 aus CMBC, Teil 5, Kap. 26. Dieser 5.Teil ist selten, da er in den späteren Abdrucken fehlt, und war mir nicht direkt zugänglich. Hervorhebungen hinzugefügt.

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Angestellten. Neu hinzu kommen auch viele Spezialgesetze oder Sondergesetze für eine Reihe von Arbeits- und Dienstverhältnissen.66 Sie schützen, helfen und privilegieren gegenüber dem allgemeinen Recht für entgeltliche Tätigkeiten in vielfältiger Weise. Die prinzipielle Frage bleibt, ob sie damit das Prinzip gleicher Freiheit im allgemeinem Privatrecht und inzwischen auch im Verfassungsrecht ‚nur‘ in spezielle Anwendungen bringen, also etwa für weniger gleich freie Situationen emanzipierende Hilfen geben, oder ob sie überhaupt einem anderen Prinzip, wie etwa einem Schutzprinzip, folgen. In der Jurisprudenz ist diese grundlegende Frage seit langem stark umstritten.67 Zwischen dem allgemeinen Wort „Dienste“ und dem meist engeren „Arbeit“68 liegen also politisch-soziale wie juristische Welten. Und zwar in doppelt aufschlussreicher Weise: in Diskontinuität zurück in die ständische Welt vor 1800, aber zugleich in neuer Kontinuität hinein in die ökonomische Arbeits-Klassen-Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ob die seit einigen Jahren laufende neuere Diskussion um einen „Abschied“ vom „Normalarbeitsverhältnis“, das es juristisch übrigens gar nicht gibt, einen erneuten Wandel indiziert, erscheint derzeit von hohem historischen Interesse. Vermutlich zerfallen unter unseren Augen die bisherigen sozioökonomischen Arbeitswelten in der Industrie und im Handwerk. Die Dienstleistungswelt der „Angestellten“ dominiert und teilt sich anders. Und daneben stehen nach wie vor die sog. freien Berufe, juristisch freilich unter dem gemeinsamen Dach des bürgerlichen Rechts. Die Scheidung in „höhere“ und niedere“ Dienste lebt also fort in der zwischen „freien Berufen“, die i.W. dem BGB unterfallen, und „abhängiger Arbeit“, die speziellem Arbeitsrecht folgt. Die politisch-soziale Entwicklung verläuft entsprechend nach ökonomischen und sozialen Gruppen. Viele Beteiligte lassen sich lieber schützend bevormunden durch „Arbeitsrecht“ statt emanzipieren durch soziales Privatrecht. Darin liegt gewiss eine historisch relevante Grundentscheidung.

VII. „Dienste“, „Arbeit“, Freiheit und Gleichheit Dieser Unterschied von allgemeinem Arbeits-Privatrecht und abweichendem ArbeitsSonderrecht reflektiert also auch ein weiteres grundsätzliches Problem. In welches juristische Verhältnis nämlich sollten die Regelungen der Arbeit zum Prinzip Freiheit gestellt werden? Darin steckt die rechtliche Frage, in welches Verhältnis das normative Prinzip Freiheit zum Prinzip Gleichheit gesetzt werden sollte. Betroffen war also die 66 Dazu Rückert, HKK (Fn. 2) zu vor § 611 Rn. 104 ff. 67 Siehe ebda., zu § 611 Rn. 77, 272, 298, 322. 68 Siehe Conze (wie Fn. 1) 224 f., der den engen Gebrauch auch im späten 19. Jahrhundert belegt.

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so intensiv diskutierte, damals wie heute, soziale Frage des späten 19. Jahrhunderts. Auch unter diesem Aspekt lassen sich im Reden über Arbeit politisch-soziale Grundbegrifflichkeiten erkennen. Es gibt einen Jahrhundertkampf unter dem Vorzeichen „frei“ oder „sozial“. In der sozialistischen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts steht er unter dem Vorzeichen „sozial und frei“. Unter grundsätzlich individuell freiheitlichen Vorzeichen in der westlichen Welt dreht es sich um die Realisierung von „frei und sozial“. Die entscheidende Frage dabei ist juristisch sehr präzise. Sie lautet: Wie werden die beiden Rechtsprinzipien „frei“ und „sozial“ einander zugeordnet? Werden sie als gegenläufig und unvereinbar verstanden, wie meist in der politischen und ideologischen Polemik, so scheidet sich die auch die Rechtswelt in Liberale und Sozialisten, die sich unversöhnlich unter Polemiken wie manchesterliberal, neoliberal, turboliberal gegen sozialistisch, kommunistisch, kollektivistisch gegenüberstehen. Hier hilft dann nur eine sog. Bereichstrennung, d.h., juristisch werden verschiedene Regelungsbereiche gebildet, die unterschiedlichen Regeln folgen, etwa das allgemeine Dienstvertragsrecht, das Recht der freien Berufe und das Recht der Arbeit. Nur auf diese Weise können dann normative Widersprüche, die eine Rechtsordnung nicht tolerieren darf, da sie das Recht nichtrechtlichen Kräften überließe, vermieden werden. Es gibt aber auch andere Lösungen, die die Gegenläufigkeit auflösen, die Freiheit emanzipatorisch, nicht bloß freistellend, verstehen und daher ein soziales Element einbeziehen und ernst nehmen. Es ist ja nicht ausgemacht, dass man nicht durch „soziale“ Hilfe zur Selbsthilfe und Eigenständigkeit befreien könnte. Die Hilfe darf dann nur nicht in Bevormundung oder Privilegierung umschlagen.69 Nicht erst in der heutigen Rechtswelt ist dieser Gegensatz zwar klar beschrieben, aber nicht klar entschieden. Arbeitsrecht wird überwiegend als Schutzrecht für abhängig Tätige verstanden. Seit Bluntschlis „persönlich“ geprägtem „Herrschaftsverhältnis“ (1855), besonders dann durch Otto von Gierke 1914 und 191770 und bis zum heutigen Arbeitnehmerschutzprinzip hält sich diese Linie. Meist nicht konsequent zu Ende gedacht, sondern juristisch pragmatisch benutzt, steckt darin nach wie vor ein sehr begrenzter Begriff von „Arbeit“. Er macht offenbar in seiner Begrenztheit einen neuen modernen Grundbegriff aus und positioniert sich als Kampfbegriff gegen ‚bloße Freiheit‘. Das Arbeitsrecht dieser „Arbeit“ ließe sich aber sehr gut und womöglich weitertragend als Individualrecht auffassen, das primär vom Vertrag her kommt und auch echte kollektive Verträge, oder schweizerisch: Gesamtarbeitsverträge, kennt. Damit würde es eingefügt in den Grundbegriff Freiheit. Dann würden z. B. das kollektive Arbeitsrecht und das Schutzprinzip verstanden als Teil einer emanzipa69 Siehe dazu meine Studie: „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2007. 70 1914: Die Wurzeln des Dienstvertrages, Festschrift für Heinrich Brunner; 1917 in Deutsches Privatrecht Bd. 3: Schuldrecht, Abschnitt Dienstvertrag; siehe dazu Rückert, HKK III (Fn. 2) zu § 611 Rn 51, 55, 231, 235, 294.

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torischen Rechtsordnung, die zu möglichst gleicher Freiheit für alle Arbeitenden führen soll. Kollektive Identität darf dann nicht Individualität überrollen, z. B. im allgemeinverbindlich vorgeordneten Arbeitsvertrag, beim Streik, beim Tarifvertrag, bei der Mitbestimmung usw. Sie soll vielmehr vor allem als Emanzipationsinstrument dienen, das sich in diesem Bereich als das einzig wirksame erwiesen hat, müsste aber auch auf diesen Zweck begrenzt werden. Immerhin handelt es sich um erlaubten Bruch der Arbeitsverträge, ohne Lohn, durchweg mit Schäden, aber ohne Liquidation dieser Schäden – es ist wohl der einzige erlaubte Bruch geltender Verträge in unserer Rechtsordnung. Es ist klar, dass sich die Instrumente und Ziele für Schutz und für Emanzipation unterscheiden. Dies zeigen verschiedene konkrete Elemente unserer Rechtsordnungen recht drastisch. So legte z. B. das Betriebsrätegesetz von 1920 kollektiv und bevormundend fest, dass man ohne Zustimmung des Betriebsrates nicht gegen Kündigung vorgehen konnte (§ 84). Es war bevormundend, derart den Betriebsrat als potentiellen Verhinderer im Räteinteresse einzusetzen, statt emanzipatorisch nur als Helfer. An diesem Problem von frei und / oder sozial entstand der wohl schärfste politischsoziale Dissens im 20. Jahrhundert, der auch in der Rechtswelt erhebliche Folgen ausgelöst hat. Parolen wie „Freiheit statt Sozialismus“ (1975 im Wahlkampf ) oder „Mehr Sozialstaat“ oder „Mehr soziale Gerechtigkeit“ reagieren alle auf diese Frage.

VIII. Rechtliche Gleichheit durch kollektives Arbeitsrecht Weniger problematisch scheint dagegen das damit verbundene Gleichheitsproblem zu sein. Rechtsgrundsätze, wie „Gleiche Arbeit, gleicher Lohn“, bedeuten ja nicht effektiv gleiche Arbeit und gleichen Lohn für alle. Auch können Instrumente wie Streikrecht, Koalitionsrecht und andere Kampfmöglichkeiten die Emanzipationschancen der abhängig Arbeitenden auf dem Markt sichern und strukturellen Nachteilen im Wettbewerb abhelfen wie beim Verbot von Kartellen und Monopolen. Eine Tendenz in diese Richtung setzte seit den 1860er Jahren ein und ließe sich ebenfalls gut grundbegrifflich politisch-sozial interpretieren. Eine neue, grundsätzliche Antithetik von individual und kollektiv wird nach 1900 ausgebildet. Sie steht quer zu der erwähnten Savignyschen von privat-autonom und öffentlich-heteronom. Man spricht nun von „kollektivem Arbeitsvertrag“ (Lotmar)71 oder „Kollektivverträgen“ (Potthoff )72 für die Tarifverträge, eigentlich ein Wider71 Lotmar 1902 (wie Fn. 23) 557 ff., hier bes. repräsentativ; siehe zu Savigny oben Fn. 32. 72 Heinrich Potthoff, Probleme des Arbeitsrechts, Jena 1912, 22; ebenfalls für diese Zeittendenzen wesentlich. Sinzheimer spricht anders, etwa von „korporativer Arbeitsnormenvertrag“ (1907).

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spruch in sich. Verträge werden individuell geschlossen oder addiert gemeinsam, aber nicht kollektiv. Eine sozialpolitische Begriffsbildung für gruppenautonome Normen, bei denen die Mitwirkung der Einzelnen nicht immer klar ist, setzt sich durch. Seit etwa Mitte der 1920er Jahre sieht man auch eine grundsätzliche Trennung und Doppelung von individuell-privatrechtlichem und kollektiv-anderem Arbeitsrecht, wobei zugleich auf der neuen Einheitlichkeit bestanden wird. „Die Bestimmungen der §§ 611 bis 630 BGB und die dazu ergehenden Entscheidungen sind heute nur verständlich, wenn man sie mit dem übrigen Arbeitsrecht in Zusammenhang bringt. Dieses, als in sich geschlossene Erscheinung, kann aber nicht in den engen Rahmen des Dienstvertragsrechts gezwängt werden; es findet seine Darstellung im 3. Hauptteil dieses Jahrbuchs. Hier wird nur gebracht, was an die §§ 611–630 unmittelbar anknüpft.“73

So dezidiert formulierte man in den Weimarer Anfängen, auch im Rahmen der Planungen für ein Arbeitsgesetzbuch, das die Verfassung in Auftrag gegeben hatte (Art. 157 Abs. 1 WRV). Es kam nicht zu Stande.74 Die systematische Grundsatzbezeichnung „kollektives Arbeitsrecht“ kommt auf, dagegen stellt man nun das „Individualarbeitsrecht“, so prominent und folgenreich im ersten großen Lehrbuch nach Lotmar, bei Hueck und Nipperdey.75 Dessen zweiter Band von Nipperdey trägt erstmals den Titel „Kollektives Arbeitsrecht“. Und dies wird auch dezidiert als neue und wesentliche Tendenz nach 1914 diagnostiziert, nämlich „ein starkes Hervortreten des Kollektivgedankens, das die Gewerkschaft in den Mittelpunkt der arbeitsrechtlichen Entwicklung dieser Zeit stellt“, eine „Wendung“ also vom „Individualrecht zum Kollektivrecht“. Die berühmte Tarifvertragsverordnung, der nachrevolutionäre Großkompromiss Gewerkschaften–Arbeitgeber vom 23.12.1918, erhält daher den Zukunftsnamen „modernes kollektives Arbeitsrecht“.76 1922 hatte Hueck noch nicht so antithetisch und grundsätzlich gesprochen.77 Der Ansatz am Privatrecht als allgemeinem Recht und Modellrecht war damit entscheidend 73 Siehe den repräsentativen Literatur- und Rechtsprechungsnachweis mit resümierenden Übersichten, in Jahrbuch des deutschen Rechts, Jg. 25 (1927) für 1926, S. 213. Begründet wird damit die signifikante Umstellung der Gliederung des Jahrbuchs. Hervorhebungen hinzugefügt. 74 Siehe generell zur Kodifikationsresistenz des Arbeitsrechts Rückert, HKK III (Fn. 2) Rn. 111 ff. 75 Alfred Hueck und Hans Carl Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 1, 1928, Bd. 2, 1930, maßgebend bis in die 1960er Jahre. 76 Siehe die grundsätzliche Einleitung von Hueck (wie Fn. 75) I 16, 27, 28. 77 Siehe das entsprechende Kapitel bei Alfred Hueck, Handbuch des Arbeitsrechts, Bd. 1, Stuttgart 1922, eingangs in der Einleitung.

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relativiert. 1975 hatte man ihn ganz verdrängt. Damals erschien eine verdienstvolle Quellensammlung unter dem Titel „Kollektives Arbeitsrecht. Quellentexte zur Geschichte des Arbeitsrechts in Deutschland“ seit 1840. Der Titel wurde nicht mehr reflektiert. Kollektiv ist einfach das Arbeitsrecht überhaupt. Die Perspektive war die der Kämpfe der „Arbeiterklasse“, antikapitalistisch-marxistisch. Individualarbeitsrecht interessierte nicht.78 Im nun neu sog. „kollektiven Arbeitsrecht“ wird bis heute immer wieder eine „Abkehr vom Vertrag“ gesehen.79 Man denkt dann an den Einzelvertrag und Tarifverträge, Mitbestimmung und Anderes als objektives Schutzrecht. Die Frage ist aber, wie diese Rechtsinstrumente prinzipiell zu deuten sind. Bedeuten sie eine irgendwie objektive Bindung der Arbeitenden, auf die diese also subjektiv gar keinen individuell maßgebenden Einfluss mehr haben? Oder gehören sie zu den emanzipatorischen Instrumenten für eine bessere und möglichst chancengleiche Entfaltung möglichst vieler? Der Unterschied zeigt sich bis hinein in die Konstruktion der Tarifverträge als objektives Recht oder als letztlich von den einzelnen Mitgliedern der Tarifverbände legitimiertes Recht als Vertretene oder über Urabstimmungen oder ähnliche Wege.80 Das Recht verarbeitet auch hier sehr deutlich politisch-soziale Grundgegebenheiten zu Grundbegriffen. Nicht zufällig entstand um 1991 eine Diskussion unter dem Stichwort „Wiederentdeckung des Individuums und arbeitsrechtliche Normen“.81 Handelte es sich um einen dubiosen Zeitgeist? Und entstand ebenso Misstrauen bei dem schon verkündeten „Abschied vom Normalarbeitsverhältnis“ auf dem Deutschen Juristentag 2010?82 Doch gilt zunächst einfach die Feststellung, die unselbständige Arbeit zerfalle als Phänomen, es entwickle sich ein Neokorporatismus83 und wichtiger werde wieder der Arbeitnehmer als Person. Jedenfalls liegen wir mit dieser Diskussion an der Spitze der westlichen Welt des Wohlstands, also auch eines „Rechtswohlstands“.

78 Band 1, 1840–1933, Reinbek 1975, siehe die Einleitung S. 18 ff. 79 Dazu grundsätzlich Spiros Simitis, Wiederentdeckung des Individuums und arbeitsrechtliche Normen, in: Gekantelde Arbeitsverhoudingen („Sinzheimer Cahiers 2), 1991, S. 7–42, hier 15. 80 ���������������������������������������������������������������������������������� Siehe zu der juristischen Diskussion in den Anfängen des Konzepts bei und mit Lotmar meine Einleitung: Philipp Lotmars Konzeption von Freiheit und Wohlfahrt durch „soziales Recht“ in: Philipp Lotmar. Schriften zu Arbeitsrecht, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1992, hier S. LX–LXVI. 81 Simitis (Fn. 84). 82 ���������������������������������������������������������������������������������� Siehe den Abdruck der Gutachten usw. in den: Verhandlungen des Deutschen Juristentages, 68. Juristentag in Berlin 2010, München 2010. 83 Simitis (Fn. 84) 8.

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Auf fast schon globaler Ebene erwägt man aus kanadisch-nordamerikanischer Sicht ein „Labour Law after Labour“.84 Dabei werden auf einer konkreteren Ebene eine Fülle von bemerkenswert disparaten Begründungen referiert und dann überführt in eine kleine Abwägung von drei Leitmodellen: Arbeitsrecht als Hilfe für Menschenrechte, als Hilfe für die Arbeiter individuell und als Hilfe für Gerechtigkeit am Arbeitsplatz und auf dem Arbeitsmarkt.85 Diese Diskussion läuft unter etwas anderen Bedingungen durchaus parallel zum hier Gezeigten. Die ersten beiden Visionen entsprechen weitgehend dem Modell gleich freien und sozial emanzipatorischen Rechts. Die dritte führt eine Art Gebundenheit ein, freilich die denkbar allgemeinste ‚einfach‘ an Gerechtigkeit.

IX. Ergebnisse Anhand des Redens über „Arbeit“ und „Dienste“ habe ich einige historische Linien skizziert und zwei mir wesentlich erscheinende Veränderungen hervorgehoben, die grundbegriffliche, politisch-soziale Entwicklungen reflektieren. Als Ergebnis möchte ich festhalten: 1. „Arbeit“ ist ein politisch-sozialer und rechtlicher Grundbegriff. Das gilt heute im Zeichen erneuter allgemeiner Verrechtlichung ganz besonders. 2. Das Stichwort „Arbeit“ zeigt bei näherer Analyse einen grundlegenden Zusammenhang mit zwei sehr verschiedenen, den grundsätzlich rechtlich gleich freien und den grundsätzlich rechtlich gebundenen Gesamtlagen im Bereich der Tätigkeiten für andere gegen Entgelt. Die Bindungen bleiben auch unter historisch wechselnden Kontexten. Sie waren vor allem status-rechtlich, ständisch-rechtlich, öffentlich-rechtlich oder sonder-rechtlich gesetzt. Inhaltlich sprach man dann hauptsächlich von Bindungen aus der Natur des Menschen, aus gottgegebener Ordnung, aus sachnotwendiger personaler Treue, aus gegebener Gemeinschaft, aus notwendigem Gemeinwohl oder Kollektivwohl oder ähnlich, jedenfalls aus objektiven Größen außerhalb menschlicher Kompetenz. 3. Auch am Stichwort „Arbeit“ zeigt sich eindrücklich die politisch-soziale Wende der Sattelzeit um 1800. Das wird an der Rechtssprache besonders gut greifbar. Sie reflektiert diese Wende von einer prinzipiell gebundenen Welt der vielen Dienste und Arbeiten ohne juristische Einheit für „Arbeit“ zu einem allgemeinen und gleichen, einheitlich privatrechtlichen Reden über Arbeit und zurück zu einem neu gespaltenen, sonderrechtlichen Reden. Im 20. Jahrhundert werden dann 84 Siehe Harry Arthurs, in: Osgoode Hall Law Scholl (Hg.), York University, Research Paper Series Nr. 15 / 2011, Toronto 2011, S. 13–29. 85 Arthurs (wie Fn. 84) 13 f. und 22–28.

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gegen das 19. grundsätzlich antithetisch Individual- und Kollektivarbeitsrecht, d.h. hier Gruppenrecht und Einzelrecht, auseinandergenommen und einander gegenübergestellt. Das überlagert die alte Scheidung in privatrechtlich (Einzelne als Zweck) und öffentlich-rechtlich (das Ganze als Zweck). 4. Die Rechtssprache bietet in Sachen Arbeit reiche Belege: Arbeit als Sklaventätigkeit, als „liberale“ und illiberale, höhere Arbeit, im Treudienst, in „Dienstmiete“, im „Lohndienstvertrag“, „Freidienstvertrag“, „Dienstvertrag“, moderner: im „abhängigen Arbeitsvertrag“ und „Angestelltenvertrag“ und daneben freiberuflich. Verstanden wurde Arbeit als Mühsal im Status, als Element der Gottgefälligkeit, als nützlicher Wohlfahrtsfaktor, als Teil des Eigentums am eigenen Fleiß, als Element der allgemeinen Handlungsfreiheit zwecks Emanzipation, als Gemeinwohlfaktor, als kollektive Pflicht – alle diese Bezüge zeigen anschaulich und signifikant wesentliche Kampfplätze und Wegscheiden der Geschichte und Gegenwart unserer Rechts- und Lebenswelt des Tätigseins für andere gegen Entgelt. Die Rechtssprache war hier nicht selten Pionier. Sie nahm z. B. zuerst alle Arbeit, auch die nichtabhängige, sog. liberale, konkret ins allgemeine Visier, sei es als „Arbeit“ weit verstanden, sei es als „Dienst“. 5. Am Stichwort „Arbeit“ lässt sich besonders gut ein zentrales normatives Problem des 20. Jahrhunderts verfolgen, das bereits im 19. Jahrhundert angelegt war und als „soziale Frage“ diskutiert wurde, nämlich das Problem eines ökonomischen, politischen und sozialen Ausgleichs der gesellschaftlichen Prinzipien „frei“ und „sozial“. 6. Solche Arbeit und alle ihre grundsätzlichen Perspektiven finden sich gewiss auch in globaler Weite. Aktuell synchron betrachtet nehmen wir massive Ungleichzeitigkeiten wahr. Die historische Perspektive belehrt uns, dass darin Parallelentwicklungen, Ähnlichkeiten, Wiederholungen und Kontinuitäten liegen können, wenn es sich um vergleichbare Reaktionen auf vergleichbare Probleme handelt. Dem globalen Feld konnte hier nicht zugleich nachgegangen werden. Jedenfalls erweist sich also die Historie des Redens über Arbeit als ebenso geschichtsmächtig wie aktuell.

Ute Schneider

Reden über „Arbeit“ Das Bürgerliche Gesetzbuch und das Familiengesetzbuch der DDR

Das ‚Reden über „Arbeit“‘ in Zusammenhang mit dem Recht lässt Nichtjuristen in erster Linie an das Arbeitsrecht denken, allenfalls noch an das Strafrecht und Debatten über Strafen und ihren Vollzug. Bei einem Blick in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in seiner gegenwärtigen Fassung lässt sich jedoch feststellen, dass in mehreren seiner Teile Fragen von Arbeit und Arbeitsrecht behandelt und geregelt werden. Dies gilt etwa im Zusammenhang der Geschäftsfähigkeit (§ 113), in größerem Umfang im gesamten Komplex zum „Dienstvertrag“ (§§ 611–630) und nicht zuletzt im Familienrecht bei der Behandlung des Güterrechts und von Unterhaltsfragen geschiedener Ehegatten (§§ 1569–1586). Eine noch deutlichere Sprache im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung von Arbeit spricht das Familiengesetzbuch der DDR (FGB), das, aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch herausgelöst, nach einem langen Diskussions- und Kodifikationsprozess im Jahr 1966 in Kraft trat. Bereits in der Präambel verkündet der Gesetzgeber: „Harmonische Beziehungen in Ehe und Familie haben einen großen Einfluss auf die Charakterbildung der heranwachsenden Generation und auf das persönliche Glück und die Lebens- und Arbeitsfreude des Menschen.“1 In den Grundsätzen zur elterlichen Erziehung heißt es dann ferner „(…) erziehen die Eltern ihre Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus“.2 Diese programmatische Erklärung war mehr als sozialistische Rhetorik, denn sie formulierte das Ergebnis jahrelanger Diskussionen der Gesetzgebungskommission, die sich zwischen 1949 und 1965 nahezu kontinuierlich mit der Neukodifikation des Familiengesetzbuches auseinandergesetzt und das Thema „Arbeit“ ununterbrochen diskutiert hatte.3 Dabei war das „Reden über Arbeit“ jedoch kein Spezifikum des 1 2 3

Kanzlei des Staatsrates der DDR (Hg.), Ein glückliches Familienleben – Anliegen des Familiengesetzbuches der DDR. Familiengesetzbuch der DDR und Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der DDR, Berlin (Ost) 1965, S. 117. Familiengesetzbuch 1965, § 42,2. Zur Entstehung des Familiengesetzbuches siehe Ute Schneider, Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR, Köln 2004.

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sozialistischen Kodifikationsprozesses, vielmehr hatten bereits die Redaktionskommissionen des Bürgerlichen Gesetzbuches ausgesprochen häufig über „Arbeit“ gesprochen. Anlass für das „Reden über Arbeit“ und die daraus resultierenden Regelungen sind die gesellschaftlichen Bezüge des Privatrechts, das unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedingungen und Veränderungen kodifiziert werden musste und mit dem zugleich eine Entscheidung für das Fortschreiben dieser Bedingungen durch das Recht oder mit der Implementierung von gesellschaftsgestaltenden Perspektiven verbunden war. Im Fall des BGB verweisen die Regelungen des Dienstvertrages und in beiden Fällen, BGB und FGB, die Behandlung güterrechtlicher und unterhaltsrechtlicher Fragen auf Prozesse gesellschaftlichen Wandels, die zu Auseinandersetzungen innerhalb der Kommissionen, aber auch darüber hinaus führten. So warfen die Debatten über den Dienstvertrag am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Gleichbehandlung unterschiedlicher Arbeitsformen und Arbeitsverhältnisse auf, nicht zuletzt im Hinblick auf die rechtliche Behandlung des Gesindes, das nach einer verbreiteten Argumentation „nicht ausschließlich als ein gewöhnliches Vertragsverhältnis angesehen werden könne, sondern auch eine familienrechtliche Seite habe“.4 Im Familienrecht boten die behandelten Komplexe des ehelichen Güterrechts und des Unterhaltsrechts insbesondere in Folge von Scheidung, die beide eng mit Fragen des Vermögens und seines Erwerbs, d.h. auch mit der Frage von „Arbeit“ verbunden sind, ausreichend Anlass für ein „Reden über Arbeit“. Diese Verzahnung zeigt sich in den Debatten nicht zuletzt an Verweisen und Bezügen auf das Gewerberecht im Kontext des BGB und das Arbeitsrecht im Fall des Familiengesetzbuches. In beiden Fällen hängt die ökonomische Dimension mit dem Fehlen oder dem Ungenügen staatlicher Fürsorgeleistungen zusammen, die im Fall von Scheidung die Versorgung an die Individuen rückverweisen. Sowohl den Debatten über den Dienstvertrag als auch denen über die Unterhaltsfragen liegt – mit jeweils unterschiedlichen politischen und ideologischen Voraussetzungen – ein Diskurs über Arbeit entlang sozialer und geschlechtsbezogener Differenzierungen zugrunde. Geht es im Fall des BGB darum, die unterschiedlichen „Geschlechtscharaktere“ (Karin Hausen) in ihren jeweiligen Sphären Familie und Erwerbsleben zu verankern, so kämpfte die Kommission in der DDR mit Fragen der Gleichberechtigung und dem postulierten „Recht auf Arbeit“. Gemeinsam ist beiden Gesetzgebungsprozessen, BGB wie FGB, dass sich die beteiligten Juristen mit der Frage

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Horst Heinrich Jakobs / Werner Schubert (Hg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Recht der Schuldverhältnisse II §§ 433–651, Berlin / New York 1980, S. 760, aus dem Bericht des bayrischen Gesandten Heller über die Reichstagsberatung vom 11.3.1896 zum Entwurf aus der Begründung eines abgelehnten Antrags von Gröber / Zentrum.

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der Gewichtung bzw. Gleichwertigkeit verschiedener Tätigkeiten in der Gesellschaft und einer damit verbundenen sozialen Differenzierung auseinandersetzen mussten. Der berühmte „Tropfen sozialistischen Öls“ (Gierke) und der patriarchale Charakter des BGB wurden in der Forschung breit diskutiert und stehen im Folgenden nicht im Vordergrund.5 Vielmehr erlaubt das „Reden über Arbeit“ Einblicke in zeitgenössische Arbeitsbegriffe und Konzepte, wie sie im Kontext der Gesetzgebungsverfahren diskutiert und kodifiziert wurden. Zugleich stellt sich die Frage nach einem Wandel, wie ihn Werner Conze in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ und Joachim Rückert am Beispiel der Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 herausgearbeitet haben.6 Dabei, so die These im Folgenden, zeichnete sich der Gesetzgeber des BGB durch eine große Zurückhaltung gegenüber dem Arbeitsbegriff aus, diskutierte in der Kommission wie im Reichstag jedoch Fragen von Arbeit intensiv entlang sozialer und Geschlechtergrenzen. Demgegenüber kam dem Arbeitsbegriff im Familiengesetzbuch eine prominente Rolle zu, und auch diese Kommission diskutierte entlang des Geschlechts, das jedoch in ganz anderer Weise als beim Bürgerlichen Gesetzbuch mit sozialen Unterschieden verklammert wurde. Dass im Folgenden das Dienstvertragsrecht, das unter den veränderten Wirtschaftsstrukturen der DDR Eingang in die Neuregelungen des Arbeitsrechtes seit den 1950er Jahren fand und aus dem Zivilrecht gelöst wurde, überhaupt Berücksichtigung findet7, begründet sich durch die intensiven Debatten über Arbeit, die im Zusam5

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Elisabeth Koch, Ehe- und Familienrechtsgeschichte, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 29 (2007), S.  277–286; Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001; Werner Schubert, Die ‚Stellung der Frau‘ im Familienrecht und in den familienrechtlichen Reformprojekten der NS-Zeit, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S.  828–850; Günther Schulz, Soziale Sicherung von Frauen und Familien, in: Hans-Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 117–150; Dieter Schwab, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20.  Jahrhundert, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 790–827. Werner Conze, Arbeit, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1972, S. 154–215; Joachim Rückert, „Frei“ und „sozial“: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalismen und Sozialismen in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 23 (1992), S. 225–294. Zur Rechtsentwicklung der DDR siehe Gerhard Dilcher, Vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu den „Rechtszweigen“ – Sozialistische Modernisierung oder Entdifferenzierung des Rechts?, in: Gerhard Dilcher (Hg.), Rechtserfahrung DDR. Sozialistische Modernisierung oder Entrechtlichung der Gesellschaft?, Berlin 1997, S. 89–142; Axel Dost, Arbeitsrecht, in: Jens-Uwe Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und

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menhang mit seiner Kodifikation am Ausgang des 19. Jahrhunderts geführt wurden. Die hier getroffenen Entscheidungen entwickelten sich zu einem Referenzpunkt für die Redaktoren des BGB und schließlich auch in den Reichstagsdebatten.

I. „Reden über Arbeit“: Das Bürgerliche Gesetzbuch 1. Der Dienstvertrag

Das zweite Buch des BGB zum „Recht der Schuldverhältnisse“ regelt in den §§ 611– 630 unter dem Begriff des „Dienstvertrags“ im weitesten Sinne Arbeitsverhältnisse, ohne dass der Begriff „Arbeit“ verwendet wird, sieht man von einer noch zu betrachtenden Ausnahme ab.8 Entgegen einem Sprachverständnis des 21. Jahrhunderts, das mit „Dienstvertrag“ etwa die Beschäftigung von Hauspersonal verbindet, geht es in den Regelungen keineswegs um eine Integration des „Gesinderechts“ und damit eines „Sonderrechts“ für soziale Gruppen in das Bürgerliche Gesetzbuch. Vielmehr wird explizit das „Dienstverhältnis der mit festen Bezügen zur Leistung von Diensten höherer Art“ wie etwa der Angestellten, „insbesondere der Lehrer, Erzieher, Privatbeamten, Gesellschafterinnen“ (§ 622) als Erwerbstätige, genannt. Auf einen Dienstbegriff, der gewissermaßen das umfasst, was wir heute als „Arbeit“ oder berufliche Tätigkeiten bezeichnen würden, verweist der Gesetzgeber zudem einleitend, indem er den Regelungsumfang des Dienstvertrages mit „Diensten jeder Art“ (§ 611) definiert. Die Konsequenz eines derartig verwendeten Dienstbegriffes erklärt schließlich auch die einzige Verwendung des Arbeitsbegriffes in diesem Regelungskomplex, denn für den Fall, dass „der Verpflichtete in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen“ sei, obliege dem „Dienstberechtigten (…) in Ansehung der Arbeits- und Erholungszeit“ (§ 618) eine angemessene und entsprechende Fürsorge. Im Unterschied zu den „höheren Diensten“, für die das Dienstverhältnis in der Erwerbstätigkeit bestand, musste für Personen in abhängigen Dienstverhältnissen, wie etwa das Gesinde, die Dienstzeit in Arbeits- und Freizeit geschieden werden.9 Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S. 95–145; Joachim Göhring / Axel Dost, Zivilrecht, in Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung, S. 475–516. 8 ��������������������������������������������������������������������������������� Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich nebst Einführungsgesetz. Text-Ausgabe, 1900. 9 Nach Artikel 95 des Einführungsgesetzes galten nur die §§ 617–619 und 624 für das Gesinde, ansonsten bestand hier das Landesrecht fort. Siehe dazu Renate Dürr, „Der Dienstbote ist kein Tagelöhner …“ Zum Gesinderecht (16. bis 19. Jahrhundert), in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 115–139; Repgen, Die soziale Aufgabe (Fn. 5), S. 219.

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Das Dienstvertragsrecht im BGB, das verschiedene Rechtstraditionen vereint, fußt auf einem umfassenden, aber letztlich unspezifischen Dienstbegriff, der die klassische Unterscheidung von „operae liberales“ und „operae illiberales“ und damit verschiedene Formen abhängiger und unabhängiger Erwerbstätigkeit zusammenführt.10 Arbeit und Erwerb sind nach dem BGB Bestandteile des Dienstes, allerdings gilt ein umfassender Erwerbsbegriff, während von Arbeit ausschließlich in Bezug auf abhängige Tätigkeiten unter Bedingungen der „häuslichen Gemeinschaft“ gesprochen wird. Ein derartig umfassendes Verständnis von Dienst ist für das 19. Jahrhundert keineswegs ungewöhnlich, allerdings wird es meist mit dem Arbeitsbegriff verbunden. Schon im Adelung von 1793 findet sich neben dem Lemma „Dienst“, das verschiedene Formen des Dienstes und des Dienens auflistet, ein Eintrag „Dienstarbeit“, die „allerley Berufsgeschäfte“ umfasse.11 Ein breites Spektrum von Dienstleistungen führt in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Grimmsche Wörterbuch an, während der Brockhaus in seiner 14. Auflage aus dem Jahr 1894 unter persönlichen Diensten „menschliche Arbeitsleistungen“ versteht, die auf die Produktion materieller und immaterieller Güter gerichtet sei.12 Vor dem Hintergrund dieser semantischen Annäherungen des Dienst- und Arbeitsbegriffes seit dem späten 18. Jahrhundert fällt die Abstinenz des BGB umso mehr auf. Dabei handelte es sich um eine bewusste Entscheidung der ersten Gesetzgebungskommission, die terminologische Fragen bereits 1883 diskutiert und entschieden hatte. Denn, so die Begründung, sowohl die „operae liberales“ als auch die „operae illiberales“ könnten als entgeltliche Leistung unter den Dienstvertrag gefasst werden, zumal „bei einer dauernden Anstellung mit festen Bezügen schon der Sprachgebrauch das Vorhandensein eines Dienstverhältnisses“ anerkenne.13 15 Jahre 10 Joachim Rückert, Employment and Labor Law: Medieval and Post-Medieval Roman Law, in: Stanley Nider Katz (Hg.), The Oxford International Encyclopedia of Legal History, Oxford 2009, S. 428–431. 11 „Dienst“ in Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Band 1, Wien 1793, S. 1486–1488. 12 „Dienst“ in Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 2, Leipzig 1860 [1984], Sp. 1115–1121; „Dienst“ in Brockhaus’ Konversations-Lexikon in 16 Bänden, Band 5, Berlin 1894, S. 277–278. Kein Eintrag findet sich Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch. Ein Versuch, Straßburg 1906, der aber verschiedene Komposita von „Arbeit“ verzeichnet. 13 Horst Heinrich Jakobs / Werner Schubert (Hg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Recht der Schuldverhältnisse II, §§ 433–651, Berlin 1980, S.  744; Benno Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich. Band 2, Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1899, S. 896–917, Zitat S. 897.

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später, in den Reichstagsdebatten 1896, sah sich diese Entscheidung heftiger Kritik ausgesetzt. Der sozialdemokratische Abgeordnete Arthur Stadthagen, ein Jurist, der sich auf Fragen des Arbeitsrechts spezialisiert hatte, griff in seiner Kritik des Dienstvertragsrechts auch die auffallende Terminologie auf. „Bei den Kündigungsfristen bezüglich des Dienstvertrags – Arbeitsvertrag giebt es ja nicht im Gesetzbuch; daß Arbeit überhaupt existiert, kann man aus dem Gesetzbuch nicht ersehen; daß Arbeitsprodukte zu existieren scheinen, sieht man aus dem Sachenrecht; aber daß Arbeit existiert; – i nein! Dienstverhältnis, Gewaltverhältnis, der altrömische Dienstvertrag, der aus dem Gewaltverhältnis zwischen Herrn und Sklaven jener Zeit bestand. Der besteht allerdings; den Arbeitsvertrag suchen Sie vergeblich im Gesetzbuch (…).“14 Für Stadthagen verbarg sich hinter der terminologischen Frage eine soziale Differenzierung und Ungleichbehandlung der Berufstätigen, die dem „freien Arbeitsvertrag“, auf dem die „gesammte Wirthschaft“ beruhe, zuwiderlaufe.15 Deswegen sei ihm mit einer „Aenderung des Namens wenig gedient. Denn es ist ein Dienstvertrag, wenn seine Bestimmungen so sind, daß der Inhalt ein unterwürfiges, ein Dienstverhältnis aufweist, und es wird dadurch noch kein Arbeitsvertrag, wenn man dem Kind einen anderen Namen giebt, dem Inhalt aber die Dienstnatur läßt. Aber es ist bezeichnend, daß man auch nicht den Versuch einer Definition im Entwurf gemacht hat“.16 Die Ungleichbehandlung insbesondere des Gesindes führten nicht allein die Partikularrechte und die Landesgesetzgebungen fort, es sei vielmehr eine „Rechtsunsicherheit“, wer zum Gesinde zu rechnen sei; mancherorts seien dies „selbst gewerbliche Arbeiter, ferner ein Teil der ländlichen Arbeiter, hier und da Kellner, Gärtner, Portiers, Tagelöhner“.17 14 Arthur Stadthagen am 4.2.1896, in Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Band 143, Berlin 1895 / 97, S. 743. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Angemessenheit des Arguments von Stadthagen zu betrachten, dessen Kritik im Rahmen des BGB letztlich fehl ging. Zu Stadthagens Arbeitsrechtsverständnis siehe Rückert, „Frei“ und „sozial“ (Fn. 6), 259–260; Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs, Frankfurt am Main 1995, S. 242–244; Arthur Stadthagen, Das Arbeitsrecht: Rechte und Pflichten d. Arbeiters in Deutschland aus dem gewerbl. Arbeitsvertrag, d. Unfall-, Kranken-, Invaliden- u. Altersversicherung unter bes. Berücks. d. Bürgerlichen Gesetzbuchs, Berlin 1900. Zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Arbeit und des Arbeitsbegriffs innerhalb der Sozialdemokratie siehe Karl Frohme, Arbeit und Kultur. Eine Kombination naturwissenschaftlicher, anthropologischer, kulturgeschichtlicher, volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Studien, Hamburg 1905. 15 Arthur Stadthagen an 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2792. 16 Arthur Stadthagen am 4.2.1896, in Stenographische Berichte, S. 747. 17 Arthur Stadthagen am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S.  2793. Diese von Stadthagen thematisierte Unsicherheit wurde durchaus auch von der Kommission und anderen Abgeordneten zugegeben. Politisch war die Kritik jedoch angesichts der

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Das Argument der freien Arbeit statt des unterwürfigen Dienstes leuchtete den Kommissionsvertretern in diesen Debatten nicht ein, sie betonten vielmehr die rechtliche Gleichbehandlung durch den Dienstbegriff. „Der Dienstvertrag des Entwurfs bezieht sich, wie Ihnen bekannt ist, auf a l l e [sic!] Arten der Dienstleistungen, operae liberales, operae illiberales, höhere und niedere, alle bilden sie den Gegenstand des ,Dienstvertrages‘. (…) Weshalb soll der Name ,Dienstverhältnis‘ das Arbeitsverhältnis entwürdigen? Im Gegentheil, er adelt das Arbeitsverhältnis als einen Dienst, der Anderen geleistet wird.“18 Deutlicher als mit dieser Wortwahl hätte der Jurist Rudolf Sohm die beiden Konnotationen des Dienstbegriffes kaum zum Ausdruck bringen können: Einerseits suchte man durch die Terminologie eine Gleichsetzung verschiedener körperlicher und geistiger Tätigkeiten – mit der expliziten Ausnahme des Gesindes –, andererseits machte Sohm die dem Dienstbegriff inhärenten Differenzierungen von „höheren und niederen“ Diensten explizit und brachte in seiner Rede vom „Adeln des Arbeitsverhältnisses“ die damit verbundenen sozialen Unterschiede zum Ausdruck.19 Den „adelnden“ Charakter des Dienstes betonten auch andere Redner und unterstrichen zugleich, dass „eine ganze Reihe von Leistungen, welche unter den Dienstvertrag fallen, im Sprachgebrauch nicht als Arbeit bezeichnet werden. Dazu gehören die Leistungen der Anwälte, Lehrer, Aerzte u.s.w.“.20 Auf den Punkt brachte die zugrundeliegenden sozialen Differenzierungen der Jurist und Kommissar des Bundesrates, Hermann Struckmann, für den es sich bei dem „,Arbeitsvertrag‘, wenigstens nach dem gegenwärtigen Sprachgebrauch […] bloß um Verträge handelte, die körperliche Thätigkeit zum Gegenstande haben“.21 Nahezu jeder Redner der Reichstagsschlussdebatte im Sommer 1896 verwies auf „falsche, schiefe, sich kreuzende Begriffe“,22 denn letztlich waren die terminologischen Schwierigkeiten Ausdruck eines sozialen Wandels, der parallel zum Gesetzgebungsprozess verlief. Die Differenzierung von Berufen im gewerblichen und industriellen Sektor warf zum einen die Frage nach der Reichweite von Arbeitsverträgen auf. Für den Juristen und Zentrumsabgeordneten Adolf Gröber lag allein darin schon eine „unlösbare Aufgabe. Dadurch, daß man die jetzt geltenden Bestimmungen für die gewerblichen Arbeiter schlankweg ausdehnt auf alle Arbeiter überhaupt, sind die

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drohenden Vetomacht des Bundesrates aussichtlos; vgl. zum Ganzen jetzt auch Rückert, HKK III, 2013 (s. Einleitung Fn. 2), vor § 611 Rn. 61,49. Rudolf Sohm am 5.2.1896, in Stenographische Berichte, S. 757. Im Einführungsgesetz des BGB wurden diese Differenzierungen insofern eingeebnet, als es für das Gesinde allgemein den Dienstbegriff verwendet. Siehe dazu EGBGB vom 18.6.1896, Art. 95. Ludwig Enneccerus am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2800. Hermann Struckmann am 22.6.1898, in Stenographische Berichte, S. 2799. Arthur Stadthagen am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2795.

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Schwierigkeiten keineswegs gelöst; denn die Entwicklung der Verhältnisse bei den verschiedenen Arbeiterklassen geht viel zu weit auseinander, als daß man diese für gewerbliche Verhältnisse allmählich errungenen Bestimmungen ohne weiteres auf andere Arbeiter ausdehnen könnte.“23 Für die Abgeordneten stand aber mit dieser Ausdehnung mehr als nur die Reichweite von Arbeitsverträgen zur Debatte, es ging vielmehr auch um die Frage, inwieweit die „Arbeitsverhältnisse, obwohl sie ihrer Natur nach sehr verschieden sind, unter dieselben Vorschriften gestellt werden (…)“.24 Eine derartig einheitliche Regelung von Arbeitsverhältnissen durch das BGB kam für die Mehrzahl der Abgeordneten überhaupt nicht in Betracht, da das Recht der gesellschaftlichen Entwicklung zu folgen und nicht sie zu gestalten hatte. Landes- und Spezialgesetze konnten hier, so die Argumentation, der wirtschaftlichen Entwicklung besser und schneller nachkommen als Regelungen im Gesetzbuch, deren Unveränderlichkeit über einen längeren Zeitraum vorausgesetzt wurde. „Das bürgerliche Recht sei jedoch, so wurde ausgeführt, nicht der Ort, an dem sich die Fortschritte auf dem Gebiete der Sozialpolitik zu vollziehen hätten, es müsse vielmehr den Zustand, der durch die fortschreitenden Bestrebungen auf dem Gebiete der Sozialpolitik geschaffen worden sei, seiner Regelung zu Grunde legen und dürfe nicht aktiv in die Entwicklung dieser Bestrebungen eingreifen.“25 Die Ablehnung vereinheitlichender Regelungen und das Fortschreiben von Differenzierungen innerhalb der Gruppe der Berufstätigen hatte aber eine weitere Stoßrichtung und zielte u.a. auf die Abgrenzung des Gesindes. Mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die einen konsequenten Einschluss des Gesindes in den Bereich des Bürgerlichen Gesetzbuches forderten, sprachen sich die Kommissionsmitglieder wie Reichstagsabgeordneten für eine gesonderte Behandlung des Gesindes durch die Gesindeordnungen der einzelnen Länder aus. Denn im Unterschied zu Fabrikarbeitern und gewerblichen Arbeitern zeichnete sich ihrer Meinung nach gerade das Verhältnis des Gesindes zur „Herrschaft“ durch eine andere Form gegenseitiger Rechte und Pflichten aus. „Es hat – auch das liegt eben in der Natur des Gesindeverhältnisses – auch heutzutage noch das Gesindeverhältnis mehr oder weniger einen familienrechtlichen Charakter, und diesen familienrechtlichen Charakter, meine Herren, möchte ich im Interesse der Dienstboten selbst, insbesondere im Interesse der zahlreichen jugendlichen Dienstboten, nicht vermissen.“26 23 Adolf Gröber am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2799. 24 Hermann Struckmann als Regierungsvertreter am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2798. 25 Benno Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich. Band 2, Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1899, S. 903–904; siehe dazu auch Adolf Gröber am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2799. 26 Hermann Struckmann als Regierungsvertreter am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2798.

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Jugendlichkeit und Unkenntnis in Gesetzesfragen führten die Redner als Argumente an, die es nicht für „wünschenswerth“ hielten, „daß das Gesinde und die Dienstherrschaft geschäftsmäßig sich einander gegenübergestellt werden wie gewöhnliche Kontrahenten“.27 Das zum Ausdruck gebrachte Herrschaftsverständnis und der damit assoziierte „familienrechtliche Charakter“ schlugen sich in der Fortführung des Gesinderechtes nieder, während im zweiten Buch des BGB ganz allgemein Verantwortungen „mit Rücksicht auf die Gesundheit, die Sittlichkeit und die Religion“ (§§ 617 und 618) gegenüber „Verpflichteten“, die Aufnahme in die „häusliche Gemeinschaft“ gefunden hatten, festgeschrieben wurden. Zu diesen Pflichten gegenüber dem Gesinde gehörte auch die Berücksichtigung von „Arbeits- und Erholungszeiten“ (§ 618 Abs. 2), die jedoch nicht weiter spezifiziert werden. Ausschließlich im Zusammenhang mit den allgemein formulierten sozialen Pflichten im Wesentlichen gegenüber dem Gesinde griff der Gesetzgeber auf den Arbeitsbegriff zurück. Dass er von Integration in die „häusliche Gemeinschaft“ und nicht von Familie spricht, hängt mit dem „bürgerlichen“ Familienverständnis zusammen, das dem BGB unterlag, obgleich die Redaktoren auf eine Definition von Familie bewusst verzichtet hatten.28 Außerdem hatten insbesondere die Sozialdemokraten in den Reichstagsdebatten 1896 auf Widersprüche zwischen dem Gesinderecht etwa in Preußen und dem Familienrecht des BGB hingewiesen, die hier nicht weiter betrachtet werden sollen.29 Der Verweis auf den „familienrechtlichen Charakter“ ist aber deshalb von Bedeutung, weil auch in das Familienrecht des BGB der Begriff der Arbeit Eingang gefunden hat. 2. Das Familienrecht

Eine Durchsicht des vierten Buches „Familienrecht“ des BGB ergibt einen interessanten Befund: Während in den Regelungen, die den Mann betreffen, grundsätzlich von „Erwerb“ gesprochen wird, finden sich in den Regelungen zum weiblichen Part Formulierungen wie „Betrieb eines Erwerbsgeschäfts“ (§ 1367) und der Begriff der „Arbeit“. Schon in den Beratungen der I. Kommission von 1876 findet sich dazu eine Stellungnahme, nach der „nach dem regelmäßigen Laufe der Dinge doch der Mann 27 Hermann Struckmann als Regierungsvertreter am 22.6.1896, in Stenographische Berichte, S. 2798. 28 Werner Schubert (Hg.), Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. Einführung, Biographien, Materialien, Berlin 1978, S. 265, bei Beschlüssen über termini-technici vom Juli 1876. 29 Siehe dazu etwa Arthur Stadthagen am 4.2.1896, in Stenographische Berichte, S. 741– 749.

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vorzugsweise der erwerbende Theil ist, während die Frau nur indirekt dabei hilft (…)“.30 Diese Form der Hilfe wird ebenfalls festgelegt und mit dem Arbeitsbegriff umschrieben, wenn es heißt: „Zu Arbeiten im Hauswesen und im Geschäfte des Mannes ist die Frau verpflichtet, (…)“ (§ 1356). Bei genauerer Lektüre des Güterrechts finden sich weitere Regelungen zur „Arbeit“, die auf einen anderen Arbeitsbegriff jenseits der häuslichen Tätigkeit verweisen. Das eheliche Güterrecht hatte die Redaktoren des Bürgerlichen Gesetzbuches vor besondere Herausforderungen gestellt, galt es doch, verschiedene Rechtssysteme zu erfassen und ein Einheitliches herauszubilden.31 Die Entscheidung für die Verwaltungsgemeinschaft (§ 1363) warf die Frage auf, wie mit den persönlichen Gegenständen der Frau zu verfahren sei. Nach langen Debatten wurde schließlich das „Vorbehaltsgut“ von der Nutznießung und Verwaltung durch den Mann ausgenommen. In diesem Zusammenhang taucht eine Erweiterung des Vorbehaltsguts auf, wenn es heißt: „Vorbehaltsgut ist, was die Frau durch ihre Arbeit oder durch den selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts erwirbt“ (§ 1367). Dass hier sowohl die häusliche als auch die außerhäusliche Tätigkeit der Frau unter den Arbeitsbegriff subsumiert wurden, war der Kommission wohl bewusst, die in ihren Beratungen erklärte, dass „das Wort ‚selbstständig‘ bei Betrieb wird richtig sein; es hat den festen Sprachgebrauch der Gewerbeordnung für sich. (…) 2. ‚Arbeit‘. Getroffen soll werden die gesammte körperliche und geistige Tätigkeit. ‚Dienste‘ (Sächs. Gesetzbuch § 1668) würde zu eng sein. Eher würde ‚Thätigkeit‘ passen.“32 Um diesen zweiten Arbeitsbegriff kreisten die Debatten und Stellungnahmen zu den Entwürfen, weil er letztlich eine Verbesserung der Rechtsstellung der Ehefrauen bedeutete, die auf eine außerhäusliche Erwerbstätigkeit angewiesen waren, die jedoch über die Arbeit als Gesinde hinausgehen konnte. „Auch gegenwärtig bildet die Beschränkung der Tätigkeit der Ehefrau auf Arbeit der bezeichneten Art (häusliche Tätigkeit, U.S.) in den wohlhabenden Ständen noch die Regel; doch kommt auch bei diesen der Betrieb eines selbständigen Erwerbszweiges von Seiten der Frau in mannigfach verschiedenen Formen, als Handelsfrau, Lehrerin, Angestellte im Post-, Telegrafen- oder Privatdienste, als Schauspielerin, Sängerin usw. bisweilen vor. Bei den sog. arbeitenden Klassen ist aber eine selbständig erwerbende Thätigkeit der Frau sehr häufig und nicht selten für die Erhaltung der Familie unentbehrlich.“33 30 Horst Heinrich Jakobs / Werner Schubert (Hg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Familienrecht I. §§ 1297–1563, Berlin 1987, S. 371, zu den Beratungen der 1. Kommission von 1876. 31 Repgen, Die soziale Aufgabe (Fn. 5) S. 397–403. 32 Jakobs / Schubert (Hg.), Familienrecht I. §§ 1297–1563, Berlin 1987, S.  393 zur Redaktionsvorlage zum ehelichen Güterrecht. 33 Benno Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich. IV. Familienrecht, Berlin 1899, S.  96. Zur sozialen Bedeutung

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Diese funktionale und soziale Differenzierung des Arbeitsbegriffs wird expliziter im Unterhaltsrecht. Während in den Allgemeinwirkungen der Ehe festgelegt ist, dass der Mann wie auch die Frau dem Ehepartner Unterhalt nach „Maßgabe ihres Vermögens und ihrer Erwerbsfähigkeit zu gewähren“ habe (§ 1360), spricht das Scheidungsrecht eine andere Sprache. Der für „schuldig erklärte Mann“ hat seiner Frau einen „standesgemäßen Unterhalt“ zu gewähren, sofern sie ihn nicht „aus dem Ertrag ihrer Arbeit bestreiten kann“ und vorausgesetzt, dass die Ehegatten in Verhältnissen gelebt haben, in denen der „Erwerb durch Arbeit der Frau üblich ist“ (§ 1578). Letztlich findet sich im Familienrecht des BGB von 1900 ein Arbeitsbegriff, der ausschließlich auf die weibliche Tätigkeit bezogen ist und sowohl die häusliche als auch die außerhäusliche Arbeit umfasst, allerdings durch Adjektive, Pronomina und die Verbindung mit dem „männlich“ und sozial konnotierten Begriff des „Erwerbs“ voneinander geschieden wird. Ausdrücklich hatte der Gesetzgeber nämlich nicht die „gewerbetreibenden Ehefrauen, insbes. die Handelsfrauen“ im Blick, deren „freiere Stellung im deutschen Güterrechte von jeher anerkannt und durch die neueren Gesetze bestätigt ist“.34 Vielmehr hat er mit Rücksicht auf die ökonomischen Bedingungen und Notwendigkeiten einer weiblichen Berufstätigkeit innerhalb der Unterschichten den im Dienstvertragsrecht sozial enggeführten Arbeitsbegriff im Familienrecht fortgeführt. Der Unterschied zum Dienstvertragsrecht liegt ausschließlich darin, dass der Arbeitsbegriff explizit auf das weibliche Geschlecht bezogen wird, während im Dienstvertrag nicht entlang der Geschlechtergrenzen differenziert wird. Das war in den wenigen Regelungen zum Dienstvertrag wegen der Spezialgesetzgebung nicht nötig, während das Familienrecht im Hinblick auf das Güterrecht zwischen häuslicher und nichthäuslicher Arbeit zu unterscheiden hatte. Denn vor dem Hintergrund der breit diskutierten „sozialen Frage“ und kaum ausgebildeter staatlicher sozialer Sicherungssysteme zielte das Familienrecht auf eine ökonomische Stabilisierung der Familie und auf eine Gewährleistung ökonomischer Sicherheit.35 Am Stellenwert von Arbeit im Allgemeinen und Hausarbeit im Unterschied zur außerhäuslichen Tätigkeit arbeitete sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch die Gesetzgebungskommission des Familienrechtes in der DDR ab. Sie ging damit weit über die Debatten der Weimarer Republik und die Entwicklungen im Nationalsozialismus hinaus. In der Weimarer Republik hatte neben einem weiteren Ausbau des Arbeitsrechts36 vor allem eine Neuregelung des Nichtehelichen- und des Scheidungsrechts dieser Differenzierung siehe Repgen, Die soziale Aufgabe (Fn. 5), S. 402. 34 Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien, IV, S. 133. 35 Repgen, Die soziale Aufgabe (Fn. 5), S. 388–397; Franz Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, Kronberg / Ts. 1975, S. 22–25. 36 Siehe dazu den Beitrag von Joachim Rückert in diesem Band und näher ders., HKK (Fn. 17), vor § 611 Rn. 105 ff. u. § 611 Rn. 263 ff.

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auf der Agenda gestanden. In diesem Zusammenhang wurden auch die Schuld- und die Unterhaltsfrage diskutiert. Im Vordergrund stand die materielle Sicherung der Frau auf der Basis des während der Ehe „durch ihrer Hände Arbeit und durch ihren Verstand“ geleisteten Miterwerbs, wie Elisabeth Lüders es formulierte.37 Einen vollständigen Umbau des Zivilrechtes nahmen die Nationalsozialisten in Angriff. Im Volksgesetzbuch erscheint der Arbeitsbegriff an zentraler Stelle im ersten Buch unter dem Titel „Ehre und Arbeitskraft“. In den einzelnen Regelungen zeichnet sich jedoch eine Verschiebung vom Arbeits- zum Begriff der Tätigkeit ab, der zwischen „Tätigkeit im Hauswesen“ (§ 1) und „Erwerbstätigkeit“ (§ 66) unterscheidet. Hinter diesem Wandel, der auf der begrifflichen Ebene weder eine soziale noch eine Unterscheidung nach Geschlecht vornimmt, stehen intensive Diskussionen der verschiedenen Ausschüsse, die eigener Untersuchungen bedürfen und in diesem Kontext nicht weiterverfolgt werden sollen, weil das Volksgesetzbuch Makulatur blieb.38 Von Gültigkeit war weiterhin das BGB, das, von nationalsozialistischen Regelungen bereinigt, in den Besatzungszonen und später den beiden deutschen Staaten in Kraft blieb. Galt dies für die Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung uneingeschränkt, so setzten in der DDR schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit Überlegungen zu einem Umbau des Zivilrechtes ein. Das Familienrecht, das im Folgenden betrachtet werden soll, stand zwar schon in der Sowjetischen Besatzungszone auf der Agenda einzelner Juristen; das „Reden über Arbeit“ im Kontext des Familienrechtes zog sich jedoch bis zu seiner Verabschiedung im Jahr 1965.39

37 Werner Schubert, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, Paderborn 1986, S. 513. 38 Hans Hattenhauer, Das NS-Volksgesetzbuch, in: Arno Buschmann / Franz-Ludwig Knemeyer / Gerhard Otte / Werner Schubert (Hg.), Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag 28. Juli 1983, Bielefeld 1983, S.  255–279; Werner Schubert (Hg.), Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, Berlin 1988; Werner Schubert (Hg.), Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen, Paderborn 1993. 39 Gerhard Dilcher, Vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu den „Rechtszweigen“ – Sozialistische Modernisierung oder Entdifferenzierung des Rechts?, in: Gerhard Dilcher (Hg.), Rechtserfahrung DDR. Sozialistische Modernisierung oder Entrechtlichung der Gesellschaft?, Berlin 1997, S. 89–142; Axel Dost, Arbeitsrecht, in: Jens-Uwe Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S. 95–145; Rainer Schröder, Das ZGB der DDR von 1976 verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetzbuches der Nationalsozialisten von 1942, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, Goldbach 1995, S. 31–71;

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II. „Reden über Arbeit“: Das Familiengesetzbuch der DDR Die anfänglich kleine Kommission, die sich in der Justizverwaltung, dem späteren Ministerium, konstituiert hatte, griff Debatten der Weimarer Republik wieder auf, da ihre dringlichste Aufgabe darin bestand, das Familienrecht des BGB in Übereinstimmung mit der verfassungsmäßig postulierten Gleichberechtigung zu bringen. Zudem „verbürgte“ die Verfassung ein „Recht auf Arbeit“, was in erster Linie ideologischen Grundsätzen entsprach, denn „Arbeit“ betrachtete die marxistische Theorie als entscheidenden Faktor im Emanzipationsprozess.40 Noch während der Arbeiten am Kodex, im Jahr 1961, hatte der XXII. Parteitag der KPDSU die Bedeutung von „Arbeit“ für die sozialistische Gesellschaft erneut herausgestellt, was in der DDR zur Aufnahme und Betonung von „Arbeit“ in der eingangs zitierten Präambel führte. Der im Familiengesetzbuch gefasste Begriff der „Arbeit“ vermeidet in der verabschiedeten Fassung von 1965 geschlechtsspezifische Konnotationen und steht im Gesetzbuch gleichsam synonym neben den Begriffen der „Tätigkeit“ und der „Berufstätigkeit“. Semantisch sind es drei Arbeitsbegriffe, die im Familiengesetzbuch im Begriffsfeld von „Arbeit“, „Berufstätigkeit“ und „Erwerb“ fixiert sind, nämlich die berufliche, die gesellschaftliche und die Hausarbeit. Hinter dieser Ausdehnung des Arbeitsbegriffes im Vergleich zum BGB steht eine sich über zwei Jahrzehnte hinziehende diskursive Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Arbeit“ in gleichermaßen ideologischer wie typologischer und sozialer Hinsicht, durchzogen aber auch von einem Genderbias. 1. Arbeit und Gleichberechtigung

Für die am BGB geschulten Juristen der Familienrechtskommission waren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weder die Fragen der Gleichberechtigung noch die marxistische Ideologie vertrautes Terrain. Im Gesetzgebungsprozess zu berücksichtigen hatten sie außerdem die drängenden wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten, die die DDR wegen der spezifischen demographischen Situation der Nachkriegszeit

40 Conze, Arbeit (Fn. 6), S. 196–205; Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige, Berlin 2000. Intensiv hatte der Verfassungsausschuss diskutiert, ob nicht sogar die „Pflicht zur Arbeit“ in die Verfassung aufgenommen werden solle, sich aber schließlich in Artikel 15 für eine Verbürgung des Rechts auf Arbeit ausgesprochen. Siehe dazu auch 12. Sitzung des Verfassungsausschusses am 8.10.1948 in Bundesarchiv (BArch) DP 1, Ministerium der Justiz, SE 1841, Blatt 64.

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mit ihrem hohen Frauenanteil vor besondere Herausforderungen stellte.41 Dementsprechend konturierte die Frage von weiblicher Arbeit insbesondere im Sinne von Berufstätigkeit die Debatten unter den Juristen vor allem in den 1950er Jahren und kann nicht zuletzt auch als ein Prozess der ideologischen Selbstverständigung unter den Juristen und der öffentlichen diskursiven Etablierung betrachtet werden. Denn zu einem zentralen Punkt aller Entwürfe bis zur Verabschiedung der „Verordnung über die Eheschließung und Eheauflösung“ im Jahr 1955 wurde die Verknüpfung von Arbeit und Gleichberechtigung, die ohne auf einen verfassungsmäßigen Arbeitszwang zurückzugreifen, die „Einreihung der Frau in den Beruf “ oder in die Produktion, wie es in diesem Kontext heißt, zum Ziel hatte.42 Denn, so argumentierte einer der Juristen gegenüber dem Kreisvorstand des Demokratischen Frauenbundes (DFD) in Halle im Jahr 1954, „die Frau unterliegt in unserer Gesellschaftsordnung nicht mehr der doppelten Ausbeutung wie in einem kapitalistischen Staat. Ihr steht gleiches Recht auf Arbeit und gleicher Lohn gesetzlich zu.“43 Alle Verordnungen, die in den 1950er Jahren in Kraft traten, wie auch der breit diskutierte erste Entwurf des Familiengesetzbuches aus dem Jahr 1954, formulierten die Gleichberechtigung in Verbindung mit einer Berufstätigkeit als individuelle Errungenschaft und stellten sie als Überwindung der Unselbständigkeit heraus. Dementsprechend betonten die Juristen in ihren Beiträgen innerhalb und außerhalb der Kommission wie auch in den Kommentaren zum Entwurf des Jahres 1954 die Bedeutung „eigener Arbeit“ und die „Freude an ihrem Arbeitsverdienst“, die den Frauen auch über die Regelung des Güterrechtes nicht genommen werden dürfe.44 Dass es sich bei der Verknüpfung von „Arbeit“ und Gleichberechtigung aber kaum um ein Angebot individueller Wahl handelte, zeigte sich im Unterhaltsrecht. Mehrere Jahre kreisten die Debatten der Juristen um die Frage, inwieweit der Staat staatliche Fürsorgeleistungen für nicht berufstätige Frauen im Scheidungsfall leisten könne, was von der Finanzverwaltung bereits abgelehnt worden war. Schon 1952 entschied 41 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR. Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre, Köln 1996; Schneider, Hausväteridylle (Fn. 3), S. 79; Dieter Schwab, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20.  Jahrhundert, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 790–827; Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995. Siehe dazu auch Lawrence Meir Friedman, Private Lives. Families, Individuals, and the Law, Cambridge Mass. 2004. 42 ������������������������������������������������������������������������������� BArch DP 1 SE 1126, Erklärungen der Regierungsvertreter in der gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses, des Ausschusses für Arbeit und Gesundheitswesen und des Haushalts- und Finanzausschusses der Provisorischen Volkskammer der DDR am 29.5.1950, S. 4. 43 BArch DP 1 SE 3655, Band II, Blatt 155. 44 BArch DP 1 Se 1126, Erklärungen vom 25.9.1950, S. 16.

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sich die Kommission für eine auf zwei Jahre befristete Unterhaltszahlung, die im Entwurf, der Eheverordnung von 1955 und schließlich auch im Familiengesetzbuch festgeschrieben wurde.45 Über die Folgen insbesondere für ältere Bürgerinnen waren sich die Juristen völlig im Klaren. „Durch unsere Regelung werden viel mehr Frauen gezwungen zu arbeiten, und der Arbeitsmarkt wird dadurch in einem günstigen Sinne beeinflusst“, erklärte eines der Kommissionsmitglieder in aller Offenheit.46 Diese Unterhaltsregelung ließ den geschiedenen Bürgerinnen keine Wahl und besaß sowohl soziale Sprengkraft, wie sich an den Eingaben in den 1950er Jahren ablesen lässt, als auch normative Kraft im Hinblick auf die Berufstätigkeit von Frauen, denen unter dem Zwang des Gesetzes die Berufstätigkeit als Ausdruck von Gleichberechtigung propagiert wurde. Die Haltung, dass es „für die Frau ein Glück ist, wenn sie gezwungen wird, sich auf eigene Füße zu stellen“, vertraten zu Beginn der 1960er Jahre nur noch die älteren Kommissionsmitglieder. Für die jüngeren dagegen, die bereits in der DDR ausgebildet worden waren, stand eine „moralische Pflicht zur Arbeit“ im Vordergrund.47 Diese Pflicht war nicht zuletzt Ergebnis eines theoretischen Paradigmenwechsels vom „Ich zum Wir“48 unter expliziter Betonung der gesellschaftlichen Aufgaben. „Die volle Gleichberechtigung der Frau hat nur in ihrer Teilnahme am Arbeitsprozess eine reale Grundlage. Vom wirtschaftlichen Standpunkt liegt die Bedeutung der Frauenarbeit darin, dass auf die Mitarbeit der Frauen an der gesellschaftlichen Produktion nicht verzichtet werden kann und dass ihre Teilnahme am Arbeitsprozess entscheidend dazu beiträgt, den Wohlstand der Gesellschaft zu mehren.“49 Da die DDR gleichzeitig aufgrund des demographischen Wandels und hoher Scheidungsziffern der Familie und ihrem Erhalt eine höhere Bedeutung zumaß als noch in den 1950er Jahren, bestand in der Kommission Konsens, dass „die Arbeit des nichtberufstätigen Ehegatten im Haushalt und bei der Erziehung sowie der Betreuung der Kinder als eine mit den gesellschaftlichen Interessen übereinstimmende Tätigkeit angesehen wird“.50 Diese Regelung war Ergebnis 45 BArch DP 1 7185, Sitzung der Familienrechtskommission vom 6.12.1952, S. 21–22; Eheverordnung vom 24.11.1955, § 13. 46 BArch DP 1 7185, Sitzung der Familienrechtskommission vom 6.12.1952, S. 22. 47 BArch DP 1 VA 1925, Protokoll der Sitzung der FGB-Grundkommission vom 5.6.1962, S. 12, 15. 48 Zum Wandel siehe Inga Markovits, “The Road from ‚I‘ to ‚We‘”: Family Law in the Communitarian State, in: Utah Law Review (1996), S. 487–536; Ute Schneider, Das Familienrecht als Instrument der Gesellschaftsgestaltung in der DDR, in: Michael Becker / Ruth Zimmerling (Hg.), Politik und Recht. Politische Vierteljahresschrift Sonderheft, Wiesbaden 2006, S. 601–620, hier 603–604. 49 BArch SAPMO DY 31 DFD 1078, Blatt 149. 50 �������������������������������������������������������������������������� FGB § 29; BArch DP 1 VA 7576, Protokoll der 5. Tagung der FGB Grundkommission am 26.5.1964, Blatt 63. Allerdings sprach sich die Kommission in der gleichen

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langjähriger Debatten über die Gewichtung unterschiedlicher Formen von weiblicher Arbeit, und zwar im Haus und im Beruf. 2. Formen von Arbeit

Diese beiden Formen weiblicher Arbeit finden sich, wie wir bereits gesehen haben, schon im Familienrecht des BGB.51 Aber nicht nur aus diesem Grund hatte sich die Kommission in der DDR mit der Regelung auseinanderzusetzen, sondern auch, weil es einerseits volkswirtschaftliche Notwendigkeiten für eine Steigerung weiblicher Erwerbsstätigkeit gab, und andererseits aber für die Mehrzahl der Frauen die „Hausfrauenehe“ charakteristisch und Leitbild war. Im Unterschied zur Bundesrepublik, die die Hausfrauenehe als alleiniges Leitbild in der Nachkriegszeit fortschrieb, entschied sich die DDR, im Familiengesetzbuch die „Arbeit im Haushalt und die Betreuung der Kinder“ als einen gleichwertigen Beitrag zu den Aufwendungen für die Familie anzuerkennen (§ 12). Diese Anerkennung galt allerdings nur für funktionierende Ehen und hatte ihre Grenzen im Unterhaltsrecht, das im Fall einer Scheidung die Zahlungen auf zwei Jahre befristete und nur für den Fall zugestand, dass der „geschiedene Ehegatte wegen Krankheit, wegen der Erziehung der Kinder oder aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, sich durch Arbeit oder aus sonstigen Mitteln zu unterhalten (…)“ (§ 29, 1). Eine unbefristete Unterhaltszahlung war nur möglich, „wenn vorauszusehen ist, dass sich der Unterhaltsberechtigte keinen eigenen Erwerb schaffen kann (…)“ (§ 29, 3). In der „Arbeit im Haushalt“ lässt sich auf den ersten Blick eine Fortführung der „Arbeit im Hauswesen“ vermuten, wie sie sich schon im BGB von 1900 finden lässt. Ein Vergleich der verschiedenen Entwürfe zeigt jedoch, dass die Kommission sich offensichtlich an diesem Arbeitsbegriff regelrecht „abarbeitete“ und vor dem Hintergrund einer nahezu selbstverständlichen Berufstätigkeit der Frauen und veränderter ideologischer Prämissen zu einem Arbeitsbegriff gelangte, der synonym zu „Tätigkeit“ und für beide Geschlechter gleichermaßen Verwendung fand.

Sitzung auch dafür aus, „gesellschaftliche Kräfte in die Rechtspflege einzubeziehen, die der Frau bei der Arbeitsaufnahme helfen, sie bei ihrer Berufstätigkeit unterstützen, um die Wirksamkeit der gerichtlichen Entscheidung durchzusetzen.“ 51 Irene Stoehr, Housework and motherhood. Debates and policies in the women’s movement in Imperial Germany and the Weimar Republic, in: Gisela Bock / Pat Thane (Hg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States, 1880–1950s, London 1991, S. 213–232.

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Demgegenüber zeichnen sich die ersten Entwürfe noch durch eine andere Sprache aus, indem sie von „Tätigkeit im Haus oder außerhalb des Hauses“ sprechen.52 Intensiv hatte die Kommission 1952 die Auslegung des Arbeitsbegriffes diskutiert und sich dezidiert gegen eine zu weite Auslegung gewandt. Voller Überzeugung sprachen sich die Kommissionsmitglieder für eine strikte Trennung der beiden Formen von Arbeit aus. „Die Arbeit im Beruf und im Haushalt muss unterschieden werden. Die Arbeit im Haushalt stumpft die Frau auf jeden Fall ab, während die Arbeit im Beruf die Frau immer wieder anregt, und das wirkt auf den ganzen Körper der Frau zurück.“53 Unter Betonung der Gleichberechtigung heben schließlich die verschiedenen Entwürfe das individuelle Recht der Frau auf Berufstätigkeit und Berufsausübung hervor. In diesem Kontext sind auch die Regelungen zum Unterhalt in der Eheverordnung von 1955 zu sehen, die zwar von „Arbeitseinkünften“ spricht, aber sich damit explizit auf die entlohnte Tätigkeit außerhalb des Hauses bezieht.54 Während der Entwurf des Familiengesetzbuchs von 1959 bereits die „Mitarbeit“ der Frau in „Staat und Wirtschaft und auf allen anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens“ betonte, die Formulierung von der „Tätigkeit im Hause oder außerhalb des Hauses“ jedoch beibehielt, deuten sich in den Diskussionen der Kommission zu Beginn der 1960er Jahre Annäherungen der Begrifflichkeiten „Arbeit“ und „Tätigkeit“ an. Dass dies keine politische Gleichwertigkeit bedeutete, bedurfte zu Beginn der 1960er Jahre einer besonderen Betonung. „Die Arbeitsleistung der Frau, die berufstätig ist, ist gesellschaftlich höher zu bewerten als die der Frau, die nur im Haushalt arbeitet“, führte ein Kommissionsmitglied als Begründung für seine Forderung nach einem erweiterten Ausgleichsanspruch an.55 Das Familiengesetzbuch schließlich schreibt die Differenzierung zwischen Arbeit und Tätigkeit nicht fort, sondern regelt vielmehr verschiedene Formen von Arbeit und Einkünften aus Arbeit und Erwerb. Neben den beiden Formen von „Arbeit“, der im „Haushalt“ und der „Berufstätigkeit“, hoben bereits der Entwurf von 1954 und schließlich auch das Familiengesetzbuch die „gesellschaftliche Arbeit“ heraus, die der Ehegatte in „kameradschaftlicher Rücksichtnahme und Hilfe“ zu unterstützen habe (§ 10). Bringt die Aufnahme dieser Regelung in das Zivilrecht zum einen die Verquickung von Familie, Staat und Politik 52 BArch DP 1 VA 135, Entwurf für ein Gesetz zur Neuordnung des Familienrechts 1950, § 6. Interessanterweise spricht die ebenfalls im Jahr 1950 erlassene Verordnung von der „Arbeit im Haushalt“ und dem „Geldverdienst“ der Frau. BArch 209–225, Rechtsgrundsätze für die Behandlung von Familienstreitigkeiten von 1950. Zur Verordnung siehe Schneider, Das Familienrecht, 2006, S. 607. 53 BArch DP 1 VA 7185, Stenographische Niederschrift der Gesetzgebungskommission vom 1.12.1952, S. 26, 42. 54 Eheverordnung vom 24.11.1955, § 13. 55 BArch DP 1 VA 1925, Protokoll der Sitzung der FGB-Grundkommission vom 5.6.1962, S. 19.

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und die Steuerungsfunktion des Rechts zum Ausdruck, so verbergen sich dahinter aber auch gravierende Probleme und nicht zuletzt massive innerfamiliäre Konflikte über das gesellschaftliche Engagement und die dafür aufgewandte Zeit, die etwa in Eingaben und den Diskussionen des Familienrechtsentwurfs im Jahr 1954 ein Ventil fanden. Obgleich die „gesellschaftliche Arbeit“ als Aufgabe beider Geschlechter betrachtet wurde, zielte die Regelung insbesondere auf die Frauen, deren „ideologische Rückständigkeit“ sich nach Einschätzung der Kommission in den 1950er Jahren in den Klagen über die Abwesenheit der Ehemänner niederschlug und in den 1960er Jahren mit Rekrutierungsproblemen in Verbindung gebracht wurde, die insbesondere die Frauenorganisationen betrafen.56 3. Reden über Arbeit: Herkunft, Geschlecht und Alter

Wie schon in den Debatten über das Bürgerliche Gesetzbuch spielten auch in der Kommission für das Familienrecht soziale Einschätzungen, Urteile und Vorurteile über Geschlecht und Alter eine zentrale Rolle. Beispiele aus Briefen und Eingaben, persönliche Erfahrungen und konstruierte Fälle wurden in den Diskussionen über Arbeit, Gleichberechtigung und Unterhaltszahlungen stetig bemüht. Sie verweisen ebenso auf die normative Seite des Gesetzbuches, wie sie Rückschlüsse auf politische und gesellschaftliche Perspektiven und ihren Wandel der beteiligten Juristen erlauben. Auch wenn das Familiengesetzbuch im Unterschied zum BGB nicht zuletzt aus einem ideologischen Selbstverständnis heraus keine sozialen Unterscheidungen im Hinblick auf „Arbeit“ traf, so durchzogen sie doch die Diskussionen wie ein roter Faden. Allerdings wurden in der Nachkriegszeit weder eine „bürgerliche“ Herkunft, die im Übrigen die Mehrzahl der älteren Juristen verband, noch „bürgerliche“ Familien als solche thematisiert. Durch die starke Fokussierung auf die Gleichberechtigung waren es vielmehr die beiden Ehepartner, die im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, so dass soziale Fragen mit Geschlecht und vor allem Alter verbunden wurden. Grundsätzlich fanden dabei die Frauen mehr Aufmerksamkeit als die Männer. „Wenn eine Frau, die sich selbst nicht mit entwickelt, die an beruflicher Arbeit kein Interesse hat, die im Hause bleiben will und nur an Vergnügen denkt, die wegen der Tätigkeit 56 „Betrachten wir die realen Verhältnisse! Ein großer Teil der Männer arbeitet nicht nur im beruflichen, sondern auch im gesellschaftlichen Leben und hat für die Familie kaum Zeit, was auch zu vielen Zerwürfnissen führt. Die Frau macht dann nicht mehr mit. (Arzt: Weil sie ideologisch nicht entwickelt ist!) In einem solchen Fall hat sich die Frau eines Funktionärs aufgehängt“. Aus der Sitzung der Familienrechtskommission am 6.12.1952, S. 29, in DP 1 VA 7185. Siehe dazu auch Petra Scheidt, „Karriere im Stillstand? Kaderarbeit und Strukturen des Funktionärskorps im hauptamtlichen Apparat des DFD vor dem Hintergrund der SED-Kaderpolitik“, Ms. Dissertation Essen 2008.

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ihres Mannes viel freie Zeit hat, auf sich selbst angewiesen ist und dann weggeht, wo die Verhältnisse dann zur Scheidung führen, soll diese Frau dann wie jede andere gestellt werden? Umgekehrt auch der Mann?“57 Im Unterschied dazu wurden männliche Erwartungen und Haltungen nicht unter der Perspektive „Rückständigkeit“, wohl aber Bequemlichkeit und Gewohnheit thematisiert. „Wir können doch die Frau während des gemeinschaftlichen Lebens nicht zwingen, die Arbeit aufzunehmen. Wir können es leider nicht verhindern, dass die Frau zu Hause sitzt, nur weil der Mann es so gern hat.“58 Sieht man einmal von wenigen Ausnahmen in der unmittelbaren Nachkriegszeit ab, als die Kommission die „Arbeitsfähigkeit“ – ein im Übrigen häufig verwendeter Begriff – von Kriegsheimkehrern und Kriegsversehrten debattierte, drehte sich das Reden über Arbeit um die Berufstätigkeit von Frauen und nicht selten von älteren Frauen. Während zu Beginn der 1950er Jahre die spätere Ministerin, Hilde Benjamin, vor allem Mütter und Frauen jenseits der 50 unter Verweis auf Physis und Psyche von den befristeten Unterhaltsregelungen ausnehmen wollte, wiesen andere Stimmen in der Kommission auf wirtschaftspolitische Notwendigkeiten hin und erklärten, dass nur durch die Befristung „Frauen in die Produktion“ zu bekommen seien.59 Geleitet wurden Benjamins Vorstellungen von der Erfahrung mit den herkömmlichen Biographien ihrer Geschlechtsgenossinnen und Einschätzungen des Arbeitsangebotes bei einem Wiedereinstieg. „Man soll also eine Frau, die jetzt 50 Jahre alt ist und vor 25 Jahren kaufmännische Angestellte gewesen ist, nicht darauf verweisen: du kannst ja heute als Trümmerfrau arbeiten. Das würde zwar dem Grundsatz: jeder kann arbeiten und du willst ja das Recht auf Arbeit haben, entsprechen, aber es würde unbillig sein.“60 Diese Fragen und Probleme weiblicher Erwerbsbiographien stellten sich zu Beginn der 1960er Jahre nicht mehr. Gleichwohl blieb die Berufstätigkeit von Frauen ein Thema der Familienrechtskommission. Lediglich die Perspektive verschob sich von der älteren Generation auf die jüngeren Frauen. Eine 1964 durchgeführte Umfrage zum ehelichen Güterrecht und innerehelichen Umgang mit Vermögen hatte gezeigt, dass tendenziell mit höheren Einkommen die „Berufsarbeit“ der Frau abnahm.61 Diese Ergebnisse mündeten in den Diskussionen über Unterhaltszahlungen und ihre Befristungen im Scheidungsfall in die Einschätzung der Kommission, dass die Regelung „dem Schutz der Familie dienen“ solle, „ohne jedoch jungen unbelasteten 57 DP 1 VA 7185, Sitzung der Familienrechtskommission am 6.12.1952, S. 29. 58 DP 1 VA 1925, Protokoll der Sitzung der FGB-Grundkommission vom 5.6.1962, S. 15. 59 DP 1 VA 7185, Sitzung der Familienrechtskommission am 1.12.1952, S.  11, 26; zu Benjamin siehe Schneider, Hausväteridylle (Fn. 3), S. 52–57; Andrea Feth, Hilde Benjamin – Eine Biographie, Berlin 1997. 60 DP 1 VA 7894, Bl. 386. 61 DP 1 VA 7576, Protokoll über den Verlauf der Unterkommissionssitzung am 23.4.1964.

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arbeitsfähigen Frauen ein parasitäres Einkommen zu sichern“.62 Im Unterschied zur Nachkriegszeit, in der – sieht man einmal von der Generationsverschiebung ab – eine ähnliche Stellungnahme kaum verwundert hätte, hatten sich aber die politischen und gesellschaftlichen Parameter völlig verschoben. Es ging eben nicht mehr darum, Frauen durch die Regelungen des Familienrechts in die Produktion zu zwingen, sondern um die demographische Frage und eine Verbindung von Berufstätigkeit und Familie. Aus diesem Grund verlief das Reden über Arbeit in der Gesetzgebungskommission bis zur Verabschiedung des Familiengesetzbuches entlang der Geschlechterfrage und generationeller Grenzen. Auch wenn die DDR bis zu ihrem Ende trotz vielfacher Forderungen das Familienrecht nicht mehr grundlegend fortbildete,63 blieben die Fragen weiblicher Arbeit mit ihren rechtlichen und gesellschaftlichen Implikationen auf der politischen und sozialen Agenda der DDR und seit 1989 des vereinigten Deutschlands. Ein Vergleich der gegenwärtigen Gesetzgebung zum Unterhaltsrecht mit den Regelungen der DDR weist interessante Parallelen auf, die jedoch nicht allein unter der Perspektive des Redens über Arbeit betrachtet werden können. Abschließend lässt sich festhalten, dass „Arbeit“ auch im Kontext des Zivilrechts im 19. und 20. Jahrhundert zu den Leitbegriffen gehört, die die von Reinhart Koselleck charakterisierten Prozesse der Demokratisierung, Verzeitlichung, Ideologisierbarkeit und Politisierung in ihrer gesellschaftlichen Dimension spiegeln. Im Rahmen der Zivilrechtskodifikationen kam dem Arbeitsbegriff durchaus normative Kraft zu. Im Familienrecht spielt er nicht zuletzt deshalb eine zentrale Rolle, weil sich in diesem Bereich des Zivilrechts private und staatliche Ökonomie mit dem politischen System und seinen Fürsorgeformen verbinden.

62 DP 1 VA 7576, Protokoll der 5. Tagung der FGB Grundkommission am 26.5.1964, S. 4. 63 Anita Grandke, Familienrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995, S. 173–210.

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‚Arbeit‘ und ‚Recht‘: Begriffe und Verhältnisse – ein Kommentar

‚Arbeit und Recht‘ deutet ein wichtiges, aber noch ziemlich weites Problemfeld an. In seinem Beitrag durchquert Joachim Rückert dieses Feld anhand des Leitfadens des Grundbegriffs ‚Arbeit‘ und gibt uns eine Übersicht über die Entwicklung des Begriffs in der (deutschen) Rechtssprache der letzten Jahrhunderte. Sein Ziel ist es, eine Lücke in der historischen Analyse des Grundbegriffs ‚Arbeit‘ zu füllen – eine Lücke, die darin besteht, dass „die juristische Welt“ in dieser Analyse vernachlässigt worden ist. Das ‚Reden über Arbeit‘, auf das sein Beitrag Bezug nimmt, ist also das Reden der Juristen, seine Geschichte die eines mühsamen Wegs von standes­gebundener Diversität zur begrifflichen Abstraktion und Universalität. Der Beitrag Ute Schneiders macht deutlich, wie beschränkt der Begriff ‚Arbeit‘ auch vor kurzem noch aufgefasst wurde und zum Teil noch immer wird. In diesem Sinne ist die Geschichte des ‚Redens über Arbeit‘ im Rückblick die einer allmähli­ chen, aber umstrittenen Erweiterung der vom Arbeitsbegriff gedeckten Arten von Tätigkeiten und auch die einer von der ökonomischen Betrachtungsweise ausgelösten, zunehmenden Abstraktion der Arbeit. Aus meinem Blickwinkel – dem eines Rechts­ soziologen mit besonderem Interesse für den praktischen Einfluss der Gestaltung von Normativität auf Arbeitsverhältnisse – lädt der Ansatz beider Beiträge zu einer Er­weiterung – die zwangsläufig auch die Grenzen einer nur begriffsgeschichtlichen Analyse überschreitet – und teilweise auch zu einer Umkehrung der Perspektive ein. Ich werde die Erweiterung, für die ich hier eintreten möchte, anhand von vier Kernbegriffen erläutern: ‚Freiheit‘, ‚Arbeit‘, ‚Recht‘ und ‚Arbeitskontrakt‘. Zuvor noch eine Bemerkung über die Zeitperspektive. Die Wende um 1800 wird auch hier als zeitlicher Beginn einer Erforschung von ‚Arbeit und Recht‘ vorausgesetzt. Wenn man einen kritischen Punkt sucht, dann gibt es für diesen gute Gründe. Was mich aber immer verwundert, ist, wie einfach man oft das Arbeitsrecht erst danach, im 19. Jahr­hun­dert, anfangen lässt. Vielleicht trifft das weniger auf die deutsche Literatur zu,1 aber die niederländische Literatur (abgesehen von Frans van der Ven) lässt 1

Wilhelm Ebel, Gewerbliches Arbeitsvertragsrecht im Deutschen Mittelalter. Weimar: Böhlhaus, 1934; Theo Meyer-Maly, ,Vorindustrielles Arbeitsrecht‘, Recht der Arbeit 1975, Heft 1, 59–63; Werner Ogris (1967), ,Geschichte des Arbeitsrechts vom Mit-

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die Regulie­rung von Arbeit immer mit dem ersten staatlichen Gesetz, das 1874 der Kinder­arbeit Zügel anlegte, anfangen. Damit wird gedankenlos eine nationalstaatliche Perspektive auf das Recht übernommen und man übersieht Jahrhunderte von Regulierungen, die es wert sind, dass sie auch aus der Perspektive der Kontinuität untersucht werden – und aus der Perspektive der Wiederkehr der Probleme und Lösungen, auf die Joachim Rückert in seinem programmatischen Paper verwiesen hat. Es scheint mir oft, als ob die Ideologie der liberalen Wende um 1800 vielen noch immer den Blick auf den vorhergehenden Zeitraum nimmt. Die oft stark negativ gefärbte Darstellung der Zünfte, das Bild einer Stunde null des Liberalismus, dessen unbeab­sichtigte Folgen ab Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich von sozialer Gesetzgebung kompensiert würden, die Idee, dass erst die Industrialisierung zum Arbeitsrecht geführt hätte – dies alles sind Vorurteile, die meines Erachtens eine adäquate Rekonstruktion der Regulierung von Arbeitsverhältnissen erschweren.

1. Freiheit Der Gegensatz von prinzipiell gebundener und prinzipiell freier Arbeit scheint mir, nicht nur für langfristige Entwicklungen, sondern bestimmt auch für Arbeitsverhältnisse der Gegenwart, eine wichtige Dimension zu sein. Auf rein normativer Ebene sind die Abschlussfreiheit und die prinzipielle Abgrenzung von Arbeit und privater Sphäre Errungenschaften, die aus heutiger Sicht zu begrüβen und zu verteidigen sind. Wenn man sich aber nicht auf die begriffliche Ebene beschränkt und ‚von unten‘ oder aus der Vergangenheit schaut, dann ist weniger klar, was mit ‚freier Arbeit‘ angedeutet werden soll. Eine erste Bemerkung sei, dass ebenso wie der Begriff ‚Arbeit‘ auch der Begriff ‚Freiheit‘ Bedeutungswandlungen erfahren hat. Wenn konstatiert wird, dass Mitte des 18. Jahrhunderts ‚die Frage der Freiheit nicht besonders interessiert‘ (Rückert, oben S. 27), dann mag das zutreffen, wenn man von einem modernen, individualistischen Freiheitsbegriff ausgeht.2 Im hohen Mittelalter dagegen bezieht ‚Freiheit‘ sich auf die Einbettung in enge mensch­liche Beziehungen, auf ‚geschützt sein‘, z. B. in der

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telalter bis in das 19. Jahrhundert‘ Recht der Arbeit 1967, Heft 8 / 9, 286–297; Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland: vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 1995, 29 dagegen nimmt an, dass es vor 1800 keine private Ordnung gegeben hat, die es ermöglichen würde, Kontinuität der Regulierung mit der des 19. Jahrhunderts anzunehmen. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1976, 399; Hans Strahm, ,Mittelalterliche Stadtfreiheit‘, Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, Bd. 5 (1947), 77–113.

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häuslichen Sphäre, oder auf den ‚Schutz und Schirm‘, den die Einwohnerschaft einer Stadt mit sich bringt.3 ‚Frei‘ ist eben, wer sich ‚geschützt‘ weiß, weil er in irgendein Kollektiv integriert ist. Erst später wird es dazu kommen, dass diese Einbettung negativ als „Bevormundung“ gewertet wird. Es scheint mir in dieser Hinsicht bedeutend zu sein, dass ‚Freiheit‘ während der Französischen Revolution vielmehr negativ als ideologische Waffe gegen das Ancien Régime mobilisiert wurde als dass sie, z. B. im Feld der Arbeit, einen positiven Inhalt erlangt hätte. Zweitens muss bekanntlich immer deutlich unterschieden werden zwischen einer normativen Freiheit, z. B. der Freiheit des Bürgers, Kontrakte einzugehen, und den realen Möglichkeiten, aus Alternativen zu wählen. Wie bekannt, kann die formale Freiheit der Arbeit „praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen“ mitbringen.4 In der Literatur gibt es Beispiele aus dem Mittelalter von Hörigen und Tagelöhnern, die auf demselben Hof nebeneinander arbeiten. Die letzteren sind formal ‚frei‘, aber den Folgen jeden Rückgangs in der Agrarwirtschaft völlig ausgesetzt, die Hörigen nicht frei, aber in ihren Lebenschancen bedeutend besser durch Garantien patrimonialer Art gesichert. Und wir brauchen für solche Verhältnisse nicht weit zurückzugehen: Die Finanzkrise hat in Holland, wenn man Konkurse und Einkommensrückgang betrachtet, die frei und selbständig Arbeitenden am schwersten in ihren Lebenschancen getroffen. Diese ‚Freiheit‘, im Sinne einer formalen Zuständigkeit der Wahl zwischen Alternativen, und die andere ‚Freiheit‘, im Sinne einer faktischen Breite des Handelns und der Nutzung von Lebenschancen, befinden sich also auf verschiedenen Ebenen, die gewiss einen bedeutende Zusammenhang haben, aber immer deutlich unterschieden werden müssen. Dieser Zusammenhang bringt eben nicht mit sich, dass die formale Vorstellung (z. B. ‚freie Wahl‘) und die praktischen Chancen übereinstimmen müssten. Ich möchte unterstreichen, dass wir immer beide Dimensionen berücksichti­gen müssen, wenn wir verstehen wollen, was in bestimmten Verhältnissen passiert. Mir fällt auf, dass oft eine der beiden Dimensionen vernachlässigt wird oder versucht wird, die eine auf die andere zu reduzieren. Zum Beispiel: Von den Zünften im 18. Jahrhundert wird gesagt, dass die zunehmende faktische Verschiedenheit der Betriebsgrößen der Zunftauffassung der brüderlichen Gleichheit widersprach. Daraus wird dann gefolgert, dass diese Zunfttheorie obsolet geworden sei und keiner weiteren Berücksichtigung bedürfe.5 Zu Unrecht, weil es gerade die Spannung zwischen beiden Dimensionen sei, zwischen normativem Selbstbild und der Erkenntnis einer geänderten Praxis, 3 4 5

Clausdieter Schott, ,Freiheit und Libertas‘ Zs der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte, GA 104 (1987), 84–109 (101–2). Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 439 Z.B. Gervase Rosser, ‘Crafts, guilds and the negotiation of work in the Medieval town’, Past & Present, Feb 1997, No. 154, 3–31.

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die es uns ermögliche zu verstehen, wie man in dieser Zeit die sozial-ökonomischen Veränderungen zu meistern sucht. Die es z. B. ermöglichen zu verstehen, weshalb, anders als die liberale Historiographie uns manchmal glauben machen will, nicht nur die Handwerker, sondern auch die Industriellen in verschiedenen nordwesteuropäischen Städten Anfang des 19. Jahrhunderts dringend gebeten haben, die Zünfte aufrechtzuerhalten.6 Es mag so sein, dass aus der Perspektive der Arbeitenden der Gegensatz von ‚Freiheit‘ und ‚Unfreiheit‘ prinzipiell ist. Aus der Perspektive der Arbeitsverhältnisse scheint mir dagegen ‚Bindung‘ von größter Bedeutung zu sein. Ich möchte diese Perspektive so kurz zusammenfassen: Arbeitsverhältnisse implizieren eine Interdependenz mit einer fast immer zeitlichen Dimension: Wie kurz auch, man arbeitet eine Weile für einen oder mit einem anderen. Diese Zeitdimension wiederum impliziert Kontingenz, die man immer auch wechselseitig dadurch zu bewältigen sucht, dass man unerwünschte Handlungs­alterna­tiven normativ einschränkt. Die Geschichte der Regulierung von Arbeits­verhält­nis­sen ist also teils eine Geschichte verschiedener Techniken der Kontingenzbewältigung. Aber diese normativen Einschränkungen sind nicht nur negativ; sie sind zugleich Teil von verschiedenen umfassenden Gebilden von Arbeitsverhältnissen, in welchen auch positiv legitime wechselseitige Verhaltenserwartungen zum Ausdruck gebracht werden. Diese Perspektive kann in fünf Punkten zusammengefasst werden. Erstens schafft Interdependenz in der Sphäre der Arbeit das Bewusstsein von der Kontingenz des zukünftigen Handelns der anderen. Zweitens drängt diese Erfahrung der zeitlichen Dimension des Arbeitsverhältnisses zur Bewältigung von Kontingenz durch normative Regulierung. Drittens tendiert in einer solchen Situation der Interdependenz diese normative Regu­lie­rung dazu, Teil zu werden eines umfassenden, legitimen Gebildes des Verhältnisses, eines gewissermaßen konsistenten Narrativs, worin die wechselseitigen Rechte und Pflichten ihre ‚natürlichen‘ Stellen bekommen. Clifford Geertz hat das als ‚eine unterschiedliche Vorstellungsweise des Realen‘ (“a distinctive way of imagining the real”) charakterisiert; ein hier naheliegendes Beispiel ist die kontraktuelle Vorstellung des Arbeitsverhält­nisses. Viertens hat dieses normative Gebilde eine eigene Existenz neben, und normalerweise in, einem beständigen Spannungsverhältnis zu kognitiven Erkenntnissen der realen (Macht-)Ver­hältnisse. Dieses Spannungs­verhältnis, zum Schluss, mag uns manchmal vorkommen wie eine Dissonanz, die wir dann aber wie in der Musik zu interpretieren haben. Statt davor die Ohren zu verschließen, täten wir besser daran, ihr zuzuhören, weil sie Teil der musikalischen Struktur ist und uns die Musik oft erst gut verstehen lässt.

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Cornelis Wiskerke, De afschaffing der gilden in Nederland. Amsterdam, 1938.

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2. Arbeit Viel eher als im Recht wird schon Ende des Mittelalters ‚Arbeit‘ als Allgemeinbegriff für eine produktive und zugleich mühselige Anstrengung üblich.7 Sie wird dabei auch auf geistliche und sogar auf ritterliche Aktivität (‚arbeit umbe êre‘) ausgedehnt. „Wir menschen (sind) von got zu der arbeit wie der vogel zu dem fliegen“ geschaffen, sagen im Jahre 1529 Zunftgesellen, zitiert von Knut Schulz.8 In der Volkssprache hat der Begriff verschiedene Bedeutungen bekommen, die mit anstrengender Aktivität ebenso wie mit deren Resultat zu tun haben können. ‚Arbeit‘ ist auch etwas, das man ‚haben‘, ‚nicht haben‘ oder ‚verlieren‘ kann. Die Arbeitsstelle wird dann als etwas ‚eigenes‘ erfahren, obwohl ein jeder weiß, dass man kein ‚Eigentümer‘ seiner Stelle ist. In der gesellschaftstheoretischen Literatur ist ‚Arbeit‘ als eine abstrakte Kategorie, die auswechselbare produktive Aktivitäten umfasst, vor Mitte des 18. Jahrhunderts fast unbekannt. Adam Smith hatte sie 1776 in der ökonomischen Analyse als universellen Maßstab des Wertes von Sachen vorgestellt, erst Ricardo macht sie zur Grundlage einer Werttheorie.9 Im Recht könnte man einen Anfang der Generalisierung in der englischen Rechtsprechung sehen, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf die Frage, was es ist, das servants an ihre masters liefern, antwortet: ‚Zeit‘.10 Die Abstraktion des Arbeitsbegriffes ist das Resultat einer im 18. Jahr­hundert voll­ zoge­nen Kombination von politisch-ökonomischem und naturrechtlichem Denken. Ihre Verbindung mit einer Kontrakttheorie zu einer kontraktuellen Konzeption von Arbeits­verhältnissen hat es ermöglicht, polemisch eine Stimme gegen die damaligen politischen Herrscher und die institutionellen Einrichtungen des Ancien Régime zu erheben. Dieser primär negative als ‚Befreiung‘ von ‚alten Fesseln‘ vorgestellte institutionelle Rahmen wird von Radikalen begrüßt, aber bleibt während des größten Teils des 19. Jahrhunderts auf allen Ebenen umstritten. Das zeigt sich am Streit um die Aufhebung der Zünfte. Wo vorher Kaufleute die eigene Rechtssphäre und Gerichtsbarkeit der Zünfte widerwillig respektiert hatten, bot die Tendenz zur Uniformierung des (staatlichen) Rechts am Anfang Wolfgang Haubrichs, ,Das Wortfeld von ,Arbeit‘ und ,Mühe‘ im Mittelhochdeutschen‘ in: Verena Postel (Hrsg.), Arbeit im Mittelalter; Vorstellungen und Wirklichkeiten, Akademie Verlag, 2006, 91–106 (99, 104). 8 Knut Schulz, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter: Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts. Sigmaringen: Thorbecke, 1985, 124. 9 Nicholas J. Theocarakis, ‘Metamorphoses: the concept of labour in the history of political economy’, The Economic and Labour Relations Review vol. 20, nr. 2 (2010), 7–38 (13). 10 Carolyn Steedman, Master and Servant: Love and Labour in the English Industrial Age. Cambridge University Press 2007, 74. 7

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des 19. Jahrhun­derts ihnen die Chance, in einer Allianz mit dem Staat zum Angriff überzugehen.11 Dieser Streit hat bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer gespaltenen Rechtslage geführt, in der die zünftige Autonomie teils erfolgreich aufrechterhalten wurde „gegenüber dem neuzeitlichen, auf die territoriale Durchdringung angelegten Recht“.12 In einer Arbeitswelt, in der die Verschiedenheit und eine gewisse Anordnung der beruflichen Aktivitäten lange Zeit selbstverständlich und bis weit in das 19. Jahr­ hundert auch institutionell abgesichert war, wurde die Idee, dass alle diese Aktivitäten sich auf einem Arbeitsmarkt eigentlich ausglichen, zuerst als Sakrileg erfahren. Dass alle Aktivitäten, die gegen Entgelt stattfinden, dadurch uniformiert würden, wird als eine Verzerrung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht hingenommen. Wie der Beitrag Ute Schneiders zeigt, stößt genau diese (reale oder drohende) Vermarktung der Arbeitsbeziehungen Ende des 19. Jahrhunderts auf Widerstand, der sich an den Begriff ‚Dienst‘ heftet. Nicht nur beim Gesindeverhältnis, sondern auch im weiteren Sinne wird dann die Erkenntnis abgelehnt, dass Personen, die in irgendwelchem Verband (Haus, Fabrik, Büro) zusammenarbeiten, vom juristischen Kontraktmodell „einander gegenübergestellt werden wie gewöhnliche Kontrahenten“ (Struckmann, zitiert von Schneider, S. 8). Man könnte, rückblickend aus der heutigen Position des Arbeitsrechts, die Entwicklung als einen – teils realisierten, teils bevorstehenden – Siegeszug der ‚privatrechtlichen Freiheit‘ im Konzept des Arbeitskontrakts feiern.13 Joachim Rückerts Geschichte des ‚Redens über Arbeit‘ scheint orientiert zu sein auf das offensichtlich klare Endziel eines abstrakten, universalistischen Begriffs der Arbeit und des Arbeits­ kontrakts. Aus einer Perspektive der Systematik (‚von oben‘) kann ich mir vorstellen, dass ein abstrakter Begriff immer den Vorzug genießt, aber ‚von unten‘ ist es bestimmt weniger klar, weshalb wir ihn als Prinzip der Regulierung von Arbeitsverhältnissen einer differenzierteren normativen Struktur vorziehen sollten. Ich möchte diese Frage anhand eines kleinen Beispiels erläutern. Die Amsterdamer Torfträgerzunft hat im 17. und 18. Jahrhundert die Arbeit ihrer Mitglieder (Transport des Torfs, von dem die Stadt für ihre Energie abhängig war) unter der Aufsicht der Stadtverwal­tung selbst organisiert. Die Mitglieder behielten ihren Status als selbstän­dige Torfträger dank eines spezifischen, raffinierten Systems der Allokation des Torf­angebots, das auch eine partielle Kompensation im Fall der Arbeitsunfähig­ 11 Jürgen Brand, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Bd. 1, Pfaffenweiler: Centaurus, 1990, 338. 12 Jürgen Brand, ibidem. 395. 13 Joachim Rückert, ,„Frei“ und „sozial“: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalis­men und Sozialismen’, Zeitschrift für Arbeitsrecht 23 (1992), 225–94 (291).

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keit umfasst. Die Wende Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer privatrechtlichen Ordnung unter Abschaffung der Zunftstruktur beendete ihre Selbständigkeit und unterminierte ihre selbst geschaffene soziale Sicherheit. Sollten wir diese Ände­rung nun als von der privatrechtlichen Ordnung realisierte ‚Freiheit‘ begrüßen? Wie Max Weber (siehe Fn. 4) schon wusste: Abstraktes ‚Reden über Arbeit‘ kann mit realem Freiheitsverlust zusammen­gehen. Es ist fraglich, ob mit einer radikalen Verprivatrechtlichung das Problem gelöst – oder eher verschoben – worden ist. Was ist aber das Problem? Ich möchte das auf zweierlei Art beleuchten. Erstens ist ‚Arbeit‘ ein derartiges ‚Objekt‘ eines Rechtsverhältnisses, dass es immer Mühe gekostet hat, es in die Schablone eines Kontrakts über Tausch auf dem Markt zu pressen. Die Aufklärung hat es gewiss als eine glänzende Idee begrüßt, dass man die Arbeits­kraft als Eigentumsobjekt auffassen und diese dann mittels Kontrakt veräußern konnte. Sie hat es doch ermöglicht, die in Arbeitsverhältnissen unentbehrliche Unterordnung mit dem Gleichheitsprinzip der bürgerlichen Freiheit in Übereinstimmung zu bringen. Aber es hat damit immer wenigstens zwei Unbequemlichkeiten gegeben:14 (a) Dass ein Arbeitnehmer seiner Gegenpartei kontraktuell betrachtet ‚nur‘ das Arbeitsvermögen liefert und nicht die eigene Person (weil sonst Sklaverei entstünde), ändert nichts daran, dass Ersteres unverbrüchlich mit Letzterem verbunden ist. Beim ‚Reden über Arbeit‘ wurde deshalb auch die Position ver­treten, dass Arbeit „keine Ware“ sei, eine nur „fiktive Ware“ (Polanyi) oder „eine Ware ganz spezifischer Art“.15 Ökonomen sprechen von „incomplete contracts“ und meinen damit, dass im Moment der Transaktion, anders als beim normalen Markttausch, die zu liefernde Leistung noch unbe­stimmt – weil in der Zukunft gelegen und von Akten der Auftraggeber abhängig – ist. Die Frage ist also: Wie ist die zukünftige Arbeit einer Person als Objekt eines Tauschkontrakts aufzufassen? (b) Damit hängt zusammen, dass, zweitens, der Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber formal auf der gleichen Ebene der Freiheit der Kontraktparteien handeln mag, aber mit dem Abschließen des Kontrakts inhalt­lich eben seine Handlungsfreiheit (teils) aufgibt. Joachim Rückert zitiert in diesem Zusammenhang Kant, der meinte, dass eben wegen dieses Freiheitsverlusts der Arbeitnehmer kein Subjekt

14 Alain Supiot, Critique du droit du travail. Paris: Quadrige / Presses Universitaires de France, 2002, 8–10. 15 Karl Polanyi, The Great Transformation: the political and economic origins of our time. New York: Rinehart, 1944. Im holländischen Gesetzgebungsprozess um 1905 wurde Wert darauf gelegt, dass Arbeit wie ,eine Ware ganz spezifischer Art‘ behandelt werden sollte.

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sei und nicht am Kontrakt festgehalten werden dürfte.16 Supiot sieht diesen Inhalt des Arbeits­kontrakts als fundamental unvereinbar mit dem Aufklärungsprinzip an, dass der menschliche Leib kein Gegenstand von Eigentum sein kann.17 Die Frage ist also: Wie ist die Freiheit und Gleich­heit der kontrahie­renden Subjekte zu vereinen mit der beim Kontrakt realisierten Unterordnung des Arbeit­nehmers? Ein zweiter Zugang zum Problem erkennt, dass auch Verhalten im Kontext von Arbeitsverhältnissen von jeweils verschiede­nen, inkompatiblen Gesichtspunkten aus gewertet werden kann und wird. Ein generischer Arbeitsbegriff darf nicht verhüllen, wie groß die Diversität ist, nicht nur der Situationen, in denen sie verrichtet wird, sondern auch der Bedeutungen die mit ihr verbunden werden. Außer dass der Arbeitende dafür Entgelt bekommt, ist Arbeit meistens auch Selbstentfaltung, Selbsterfüllung, Partizipation an gesellschaftlichen Verbänden, soziale Distinguierung und Verwirklichung sozialer Ziele – ich nenne nur einige Perspektiven ohne Anspruch auf Vollständigkeit, von denen jede ihre juristische Komponente mitbringen könnte. Es leuchtet nicht von vornherein ein, dass das Recht mit Bezug auf Arbeit nur eine dieser Perspektiven zu würdigen habe, nämlich: Marktfreiheit zu garantieren. Aus moderner Sicht könnte man sich beim Thema ‚Arbeit und Recht‘ – und dies insbeson­dere, wenn man ein abstraktes juristisches Konzept befürwortet – vielmehr auf alle produktive menschliche Aktivität beziehen, die innerhalb irgendeiner intermenschlichen Beziehung stattfindet und �������������������������������������������� deswegen mit Verbindlichkeitsvorstellungen einhergeht. Das macht z. B. schon Hugo Sinzheimer, der ‚Arbeit‘ ganz generell definiert als „die zweckbewusste Tätigkeit des Menschen zur Befriedigung fremder Bedürfnisse“.18 Der juristische Begriff aber, der konstituiert, was wir heute unter ‚Arbeitsrecht‘ verstehen, hat sich im letzten Jahrhundert eingeengt auf die Tätigkeiten, die man (a) unselbständig, (b) gegen Zahlung und (c) im nicht-öffentlichen Bereich ausführt. Die institutionelle Definition der ‚Arbeit‘ schließt also alle menschliche Aktivität mit Verbindlichkeitscharakter, die sich nicht auf Marktwerte bezieht, aus (Schulung, Familienarbeit usw.).19 Damit hat sie gestaltend zum heutigen Marktregime in den Arbeitsverhältnissen beigetragen. Allerdings sind die genannten Schranken keine festen Errungenschaften, sie sind heutzutage alle wieder in Frage gestellt, in der 16 Joachim Rückert, ,„Frei“ und „sozial“‘ (wie Fn. 13); siehe auch: Diethelm Klippel, ,Der Lohnarbeitsvertrag in Naturrecht und Rechtsphilosophie des 18. und 19.  Jahrhunderts‘, in: G. Köbler, M. Heinze & J. Schapp (Hrsg.), Geschichtliche Rechtswissenschaft, Gießen: Brühlscher Verlag, 1990, p. 161–184 (170–1). 17 Alain Supiot, Critique du droit du travail. Paris: Quadrige / Presses Universitaires de France, 2002, 59–60. 18 Hugo Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts. Jena: Gustav Fischer, 1927, 6. 19 Alain Supiot, ‘Perspectives on work’, International Labour Review 135 (1996), no. 6, 5.

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Diskussion über Scheinselbständigkeit, über Lebenslaufperspektiven oder über das Ende des Beamtenverhältnisses.20 Rückert kritisiert die zurückgebliebene Abstraktion des Arbeitsbegriffs, scheint aber die Einschränkung auf Marktaktivitäten zu akzeptieren. Ich möchte im Rahmen der Thematik ‚Arbeit und Recht‘ bezweifeln, ob es richtig wäre, die im 19. Jahrhundert zustande gekommene, marktorientierte Definition der ‚Arbeit‘ – obwohl wir uns bestimmt alle an sie gewöhnt haben – auch für Forschungsziele einfach hinzunehmen. Die heutigen Diskussionen unterstreichen, dass es wertvoll sein könnte, breiter anzu­setzen und wenigstens am Anfang alle menschliche Aktivität mit Verbindlichkeits­charakter (entweder gegen Zahlung oder nicht) auf ihre rechtliche Komponente zu untersuchen.21 Aus soziologischer Sicht hat diese Vorgehensweise den Vorteil, die Fragen nicht von einer historisch kontingenten, juristischen Konzeptualisierung abhängig zu machen, sondern sie in diesem Sinne ‚abstrakt‘ von unten, ‚von der Sache her‘, zu stellen und die Sache erst in zweiter Instanz auf ihre juristische Komponente zu untersuchen.

3. Recht ‚Recht‘, zweitens, wird bei dieser Konzeptualisierung von ‚Arbeit‘ auf den Gegenstand der Diskussion der Juristen über staatliches Recht beschränkt. Auch hier erhebt sich die Frage, was wir verpassen, wenn wir damit eine spezifische, kontingente Entwick­lung als Grundlage der Analyse hinnehmen. Reichen die angeblich im 19. Jahrhun­dert durch die akademischen Juristen gewonnene Suprematie und die Vorherrschaft des staatlichen Rechts als Gründe aus, das Thema ‚Arbeit und Recht‘ insoweit einzuengen? ‚Arbeit‘ findet fast immer in gesellschaftlichen Verhältnissen irgendwelcher Art statt und geht dann – auch wenn sie ‚unfrei‘ ist – immer mit normativer Gestaltung dieser Verhält­nisse einher. Diese normative Gestaltung aber hat bestimmt nicht immer die Gestalt staatlichen Rechts. Vor einem Jahrhundert hat Max Weber eine Definition vorgestellt, die mir aus soziolo­gischer Sicht noch immer fruchtbar vorkommt: Eine Ordnung soll ‚Recht‘ heißen, wenn „eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges‘ existiert“, die darin besteht, dass „die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die (…) von einer oder mehreren 20 Robert Knegt (ed.), The employment contract as an exclusionary device. Antwerp – Oxford – Portland: Intersentia, 2008. 21 Benutzen wir diese breite Definition, dann ist die Schlussfolgerung, dass nicht weniger als ein Drittel der Deutschen im Alter von 65–74 Jahren schon heute in diesem Sinne ,arbeitet‘ (WZB Mitteilungen, 04 / 11) [Vgl. in diesem Sinne jetzt Rückert, HKK III, 2013 (wie oben Einleitung Fn. 2), durchweg].

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Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintretens des betreffenden Tatbestandes bereithalten“.22 Es wird deutlich sein, dass mit dieser Definition die Einschränkung auf staatliches Recht überwunden wird und dass die Frage, wie man überhaupt Arbeitsverhältnisse normativ gestaltet, fundamentaler gestellt werden kann. Dass wir es hier mit mehr als Wortklauberei zu tun haben, zeigt sich, wenn wir mit der Weberschen Definition an die Arbeitsverhältnisse des 19. Jahrhunderts herangehen. Wenn die Taschenlampe des staatlichen Rechts uns nicht länger in die Augen leuchtet, dann werden wir allmählich der verschiedenen Verbände und Kreise gewahr, die besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch – viel mehr als das staatliche Recht – die normative Gestaltung der Arbeitsverhältnisse auf sich nehmen. Jürgen Brand hat in seiner umfassenden Studie der Arbeits­gerichtsbarkeit nachgewiesen, wie lange noch im 19. Jahrhundert die gewerbliche „Sonderordnung“ auf den Traditionen der Zünfte aufgebaut hat, teils mit Wissen derselben staatlichen Autoritäten, die anfangs geglaubt hatten, die Zünfte aufheben zu können, teils eben mit deren Unterstützung.23

4. Arbeitskontrakt Der Arbeitskontrakt zieht, sicherlich in seiner ursprünglichen Form, enge Grenzen um das, was ‚Arbeit‘ heißen kann und deshalb Objekt des Kontrakts sein darf. Man könnte sagen, dass dies sowohl seine Kraft als auch seine Verletzlichkeit ausmacht. Seine Kraft: Denn Freund und Feind loben den abstrakten Charakter des Arbeitskontrakts. Seine Verletzlichkeit: Denn in einer Gesellschaft, die komplexer wird, in der Ausbil­dung für die Arbeit immer wichtiger ist, in der Männer und Frauen einen fast gleichen Anteil am Arbeitsmarkt haben, in der die Grenze zwischen Arbeit und ‚privater‘ Sphäre nicht mehr vom Fabriktor oder von der Fabrikglocke markiert ist, wird es immer schwieriger zu behaupten, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich außer um die kontraktuellen Verpflichtungen gar nicht um einander zu kümmern haben – und insbesondere der Arbeitgeber um das, was weiter im Leben des Arbeitnehmers passiert. Positiv formuliert: Ihre zunehmende Interdependenz tendiert dazu, das Maß ihrer außerkontraktuellen gegenseitigen Verpflichtungen zu steigern.24 22 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr, 1976, 185. 23 Jürgen Brand, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. 3 Bde, Pfaffenweiler: Centaurus, 1990 und Frankfurt a. M.: Klostermann, 2002 und 2008. 24 P.F. van der Heijden, ‘De wederkerige arbeidsbetrekking’, in: idem, R.H. van het Kaar & A.C.J.M. Wilthagen, Naar een nieuwe rechtsorde van de arbeid?. Den Haag:

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Wenn wir heutzutage geneigt sind, sowohl vom individuellen Kontrakt als auch von einem diskreten Bereich der ‚Arbeit‘ auszugehen, dann sollten wir uns vergegenwärtigen, dass beides Errungenschaften eines langen gesellschaftlichen Differenzie­ rungspro­zesses sind. Aus soziologischer Sicht könnte man vielmehr umgekehrt fragen: Wie ist es eigentlich möglich, dass Ernährung, Unterkunft, Reproduktion, Ausbildung und Sorgepflichten außerhalb des Bereichs der normativen Regelung des Arbeitsverhältnisses geraten sind? Man kann dies zum Teil einem vernünftigen Einfall der Aufklärung zuschreiben: der Idee, dass der Bürger wie ein Eigentümer seiner Arbeitskraft anzusehen sei und dass er diese, wie anderen Besitz, veräußern könne – sei es auch nicht auf unbegrenzte Dauer, weil das auf Sklaverei hinauslaufen würde. Die Modellierung des Arbeits­kontrakts nach dem Modell einer Markttransaktion hat es erlaubt, wie bei Letzterem, sich normativ von vielem zu verabschieden, was unbestreitbar zu den Entstehungs­bedingungen des Gelieferten gehört, aber vom Käufer nicht berücksichtigt zu werden braucht – oder, besser gesagt: Der Teil des Preises, den er auf dem Markt bezahlt, erlaubt ihm, mit diesen Bedingungen nichts zu schaffen zu haben. Es wird ökonomisch vorausgesetzt, dass sie in dem Preis ihren Ausdruck gefunden haben und der Käufer auf dem Markt von aller Verantwortlichkeit für den historischen Kontext des Gelieferten befreit wird. Angewandt auf Arbeit– und wir befinden uns jetzt ganz in der normativen Dimension – bedeutet dieses Modell des Arbeitskontrakts: (1) eine radikale Individualisierung: Objekt des Kontrakts ist die Übertragung der Verfügung über die Arbeitskraft eines Individuums an einen Arbeitgeber; gibt es eine Arbeitsorganisation, dann ist diese normativ konstruiert als eine hierarchische Sammlung von einzelnen Kontrakten mit dem Arbeitgeber an der Spitze, und ohne dass zwischen den Arbeitern ein direktes rechtliches Band besteht; alles Kollektive ist im Prinzip ausgeschlossen; (2) den alleinigen Bezug auf die Arbeitskraft: Alle anderen Verhältnisse, in die der Arbeitnehmer aufgenommen wird, sind prinzipiell von Relevanz ausgeschlossen; (3) eine strikte zeitliche Begrenzung: nur für die Zeitspanne zwischen Anfang und Ende der Lieferung der Arbeit gegen Lohn; was dem vorangeht oder folgen mag, ist vom Bereich des Kontrakts ausgeschlossen. Während Juristen es bevorzugen zu behandeln, was der Kontrakt einschließt, hat es sich als fruchtbar erwiesen, den Arbeitskontrakt wie einen Ausschluss­mecha­nismus zu

Sdu, 1999, 43–56. In diesem Sinne auch schon Hugo Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts. Jena: Gustav Fischer, 1927, 62: „der Begriff des Arbeitsvertrags erschöpft die Beziehungen nicht“.

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analysieren.25 Es ist eine juristische Technik, die es ermöglicht, sich von Verantwort­ lich­keiten zu befreien, sich zu distanzieren. Robert Castel hat darauf verwiesen, dass es nicht zufällig die unteren zehn Prozent der Berufstätigen waren, die zuerst mit der Idee eines ‚kontraktuellen‘ Verhältnisses konfrontiert wurden.26 Gestattet sei die Bemerkung, dass die Art der Implementation des hier dargestellten Modells im letzten Jahrhundert viel von seiner Schärfe verloren hat. Aber wichtig ist, dass es doch nicht mehr als eine Modifikation des Modells gegeben hat – das Modell selbst ist immer noch dominant. Die Diskrepanz zwischen formaler und materieller Freiheit hat im Laufe des 20. Jahr­hunderts zu dem ‚Sonderrecht‘ Anlass gegeben, das als ‚Arbeitsrecht‘ an das Kri­te­rium der Abhängigkeit angeknüpft hat. Teils zielte es auf den direkten Schutz der ab­hängig Arbeitenden und insbesondere auf den der sog. personae miserabiles (insbesondere Frauen und Kinder). Rückert bedauert dieses Schutzrecht, insoweit es ‚bevormundend‘ und nicht auf das Schaffen von Freiheitschancen ausgerichtet ist. Teils aber war ‚Abhängigkeit‘ nur eine Konsta­tierung eines Sachverhalts und zielte das Recht vielmehr konstitutionell auf das Herbeiführen von dem, was man heute ein level playing field nennen würde, in den Worten Hugo Sinzheimers (im Jahr 1914): „Ein wichtiges Grundrecht der Arbeit, das heute zu verteidigen und zu schützen ist, ist der Schutz der Freiheitssphäre des arbeitenden Menschen gegenüber dem Arbeits­ vertrag, der immer mehr alle menschliche Beziehungen für seine Zwecke einzuspan­nen sucht. Wie das Vermögensrecht im Sacheigentum ein Recht geschaffen hat, welches dem Vermögen­den persönlich Unabhängigkeit verbürgt, so ist für den arbeitenden Mensch durch gesell­schaftsrechtliche Maßnahmen ein Recht heranzubilden, das ihm in der Wirkung gleich­kommt. Die Freiheitssphäre des arbeitenden Menschen bedarf des dreifachen Schutzes. Neben der Freiheit des Arbeitsvertrages ist die Freiheit im Arbeitsvertrag und vor dem Arbeits­vertrag grundrechtlich sicherzustellen.“27

‚Sonderrecht‘ soll also nach dieser Auffassung dazu beitragen, Freiheit zu realisieren. Obwohl Arbeitsrecht in der Literatur oft als ‚Schutzrecht‘ aufgefasst wird, sind seine Anord­nun­gen nicht generell als den Arbeiter bevormundende Ausnahmen vom allgemeinen Privatrecht anzusehen. Rückert meint, zwischen ‚bevormundender‘ und ‚emanzipierender‘ Hilfe unterscheiden zu können; anders aber als für Sinzheimer ist 25 R. Knegt (ed.), The employment contract as an exclusionary device. Antwerp – Oxford – Portland: Intersentia, 2008. 26 Robert Castel, Les métamorphoses de la question sociale. Paris: Gallimard, 1995. 27 Hugo Sinzheimer, Über den Grundgedanken und die Möglichkeit eines einheitlichen Arbeitsrechts für Deutschland, 1914, 51; auch abgedruckt in: Arbeitsrecht und Rechtssoziologie, Bd. 1, 1976, p. 375.

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für ihn Emanzipation immer eine Sache der Befähigung von Individuen zur Markt­ teilnahme.28 Es ist fraglich, ob für die Beurteilung der Adäquatheit von Regulierung die liberale Perspektive individueller Freiheit genügt, sogar wenn es Marktteilnahme betrifft. Auch Ökonomen gestatten, dass Märkte juristische Existenzbedingungen haben, die nicht auf obrigkeitliche Protektion von Eigentum und Kontrakten beschränkt sind.29 Es ist oft eine Bedingung für das adäquate Funktionieren von Märkten, wie auch dem Arbeitsmarkt, dass der Zugang zum Markt rechtlich an bestimmte Modalitäten gebunden wird, weil nur dann von einem level playing field die Rede sein kann. Das ist nicht eine Frage eines zu reparierenden ‚Marktversagens‘ – wie in der naturalisierenden Auffassung neoliberaler Ökonomen –, sondern der immer politisch und rechtlich definierten Bedingungen der Teilnahme an Märkten. ‚Schutz‘ und ‚Freiheit‘, ‚Sonder-‘ und ‚Marktordnung‘ können dann näher beieinander liegen, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

28 Joachim Rückert, Frei und sozial (wie Fn 13), 42. Kollektive Aktionen können als Instrument zur Emanzipation individueller Arbeiter beitragen, aber wenn Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt würden, trete wieder ‚Bevormundung‘ ein (ibidem, S. 50). 29 Der Ökonom / Nobelpreisträger Ronald Coase z. B. weist darauf hin, dass: “What is exchanged on a market is not, as economists often suppose, physical entities, but rights to carry out certain actions”. Das Rechtssystem hat deshalb einen tiefgehenden Einfluss auf das Funktionieren der Märkte. R.H. Coase, ‘The Institutional Structure of Production’, American Economic Review vol. 82 (1992), no. 4, 717.

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Recht und „das Evangelium der Arbeit“ Die Etablierung und Praxis arbeitsrechtlicher Regelungen im kolonialen Britisch-Afrika vor dem Zweiten Weltkrieg

I. 1935 erfasste eine Streikwelle das Britische Imperium, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg hinziehen sollte.1 Auch in den Minenregionen Nordrhodesiens traten Arbeiter in den Ausstand. Der von den Entwicklungen überraschten Kolonialadministration gelang es relativ rasch, die Kontrolle wiederzuerlangen.2 Gleichwohl gaben die Ereignisse den Anlass, intensiver über die „Arbeitsfrage“ nachzudenken. Im November 1937 kam Major Granville St. J. Orde Browne in die Kolonie, um die Situation der Arbeiter und Probleme der Arbeitswelten zu untersuchen. In seinem Bericht stellte er fest: “An outstanding peculiarity of the African labour market must here be emphasized … the worker has almost complete control of the situation owing to the constant demand for his services. He is almost always able to find another employer anxious to engage him, so he can at any time leave his job and find another where conditions or type of work are more attractive … Briefly, discharge carries no threat for the African worker. Consequently ‘desertion’ is a common and demoralizing offence, so common that it handicaps any attempt to improve the labourer’s lot by adding to the employer’s responsibilities.”3

Die Kolonialverwaltung stand Orde Browne zufolge also vor einem grundlegenden Problem. Afrikaner vermochten den Arbeitsprozess und den Arbeitsmarkt in hohem 1 2 3

Dazu am besten Frederick Cooper, Decolonization and African Society. The labor question in British and French Africa, New York 1996, S. 58–65. Zu den Streiks in Nordrhodesien vgl. etwa Jane Parpart, Labor and Capital on the African Copperbelt, Philadelphia 1983. Zit. nach Cooper, Decolonization (Fn. 1), S. 60. Granville St. John Orde Browne (1883– 1947), ein ehemaliger Militär, hatte über viele Jahre für die britische Kolonialverwaltung in Ostafrika gearbeitet und eine der wenigen profunden Studien zur „Arbeitsfrage“ in Afrika vor dem Zweiten Weltkrieg („The African Labourer“, London 1933) verfasst.

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Maße zu prägen; ein höherer Bedarf an afrikanischer Arbeitskraft würde lediglich deren Disziplin und die Fähigkeit der Kolonialherren, die Arbeiter zu kontrollieren, reduzieren. Für dieses Problem fiel Orde Browne nur eine Lösung ein: Der koloniale Staat müsse seine Autorität entfalten, um durch rechtliche Sanktionen jene Afrikaner zu belangen, die ihrem Arbeitsplatz fernblieben, und zugleich auf rechtlichem Wege extrem ausbeuterisches Verhalten von europäischen Arbeitgebern unterbinden.4 In nahezu allen britischen Afrikakolonien gab es bis zum Zweiten Weltkrieg kein eigenständiges „Labour Department“; Arbeit galt als Teil der normalen Aufgaben eines Distriktbeamten. Angesichts der Streikwelle begann das Kolonialministerium in London jedoch zunehmend über die Notwendigkeit eigenständiger administrativer Abteilungen für Arbeit in den Afrika-Kolonien nachzudenken und drängte die Verwaltungen vor Ort auf entsprechende Umsetzungen.5 Doch in den Kolonien stieß dieses Drängen zunächst auf wenig Resonanz. Dies wiederum sorgte in London für Missstimmung, denn im Colonial Office fürchtete man, dass die in den britischen Kolonien weiterhin existierende Regelung des Master and Servant Act,6 die erlaubte, im Falle des Vertragsbruchs strafrechtliche Sanktionen gegen Einheimische durchzuführen, zunehmend internationale Kritik auf sich ziehen könnte, etwa von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf.7 Vgl. Cooper, Decolonization (Fn. 1), S. 60f., auch für den folgenden Abschnitt. Zur diesbezüglichen Debatte im Colonial Office vgl. einige Dokumente in S.R. Ashton / Sara E. Stockwell (Hg.), Imperial Policy and Colonial Practice 1925–1945, Part II: Economic Policy, Social Policies and Colonial Research (British Documents on the end of Empire, Series A, Vol. 1), London 1996, z. B. Doks. 129, 130, 136, 138. 6 ������������������������������������������������������������������������������������ Der Master and Servants Act war für über vierhundert Jahre ein Eckpfeiler des englischen Arbeitsrechts. Es verschaffte englischem Justizpersonal in den Kolonien einen von der Metropole relativ unkontrollierten, umfassenden Ermessensspielraum in Bezug auf Arbeitsbeziehungen, darunter die Macht, Männer, Frauen und Kinder für den Bruch eines Vertrags mit einem privaten Arbeitgeber auszupeitschen, ein Bußgeld aufzuerlegen oder ins Gefängnis zu stecken. Das englische Modell wurde in mehr als tausend kolonialen Statuten und Verordnungen aufgegriffen, angepasst und umgedeutet, welche die Rekrutierung, den Umgang und die Disziplinierung von Arbeitern in Minen, Fabriken, auf Plantagen und auf See, auf Farmen und in Wäldern regulierten. Vgl. zur globalen Dimension dieses „Acts“ die Beiträge in Douglas Hay / Paul Craven (Hg.), Masters, Servants and Magistrates in Britain and the Empire, 1562–1955, Chapel Hill / London 2004. Für Afrika siehe weiter unten. 7 ������������������������������������������������������������������������������������� Die 1919 mit Sitz in Genf gegründete Internationale Arbeitsorganisation bzw. International Labour Organization (ILO) sollte auf nationaler Ebene errungene Fortschritte durch die Definition internationaler Arbeitsstandards auf zwischenstaatlicher Ebene absichern. Die Normen, welche die ILO zunächst verabschiedete, waren freilich im Wesentlichen auf die Situation in den europäischen Industrienationen bezogen. Die Arbeitssituation in den Kolonien war auf dem Radar der Organisation nicht zentral, 4 5

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Die Interventionen der ILO in den Kolonien bezogen sich zu diesem Zeitpunkt vor allem auf Aspekte wie Verträge mit „indigenen Arbeitern“ oder Strafpraktiken im Falle von Vertragsbrüchen. Die im Kontext der Master and Servant-Verordnungen in vielen britischen Kolonien vorgesehenen Strafen sollten in den Augen der ILO und der humanitären Kräfte in Großbritannien der Vergangenheit angehören, da sie als ein Relikt der Periode der Sklaverei angesehen wurden. Im Londoner Kolonialministerium hegte man jedoch Zweifel, ob ohne entsprechende Sanktionen genügend Arbeitskräfte mobilisiert werden könnten. Die internationale, vor allem von der ILO orchestrierte Debatte über Arbeit in den Kolonien nahm vor dem Zweiten Weltkrieg Fragen, die in der nicht-kolonialen Welt als „normal“ galten, nicht in den Blick, Fragen der Arbeitszeit etwa oder Aspekte der sozialen Wohlfahrt. In den ILO-Debatten und Konventionen hatte Arbeit in den Kolonien eine juristische Dimension – sie sollte „frei“ sein – und eine soziale Bedeutung, denn sie wurde als Teil der sozialen Ordnung der kolonisierten Gesellschaften angesehen. Die Kritik an der Zwangsarbeit, wie sie die ILO nachdrücklich formulierte, betonte die Verwerfungen, die der europäische Kolonialismus auslösen konnte. Aber im Mittelpunkt der Diskurse standen stets europäische Kolonialverwaltungen und ihr Verhalten. Der Arbeitsprozess selbst und die afrikanischen Arbeiter spielten hingegen keine Rolle.8 Der folgende Beitrag fragt am Beispiel der britischen Afrika-Kolonien nach der Etablierung und Praxis arbeitsrechtlicher Regelungen vor dem Zweiten Weltkrieg mit einem kurzen Ausblick auf die Nachkriegsdekade. Welche Regelungen wurden mit welchen Zielen erlassen, und welche Kontroversen provozierten sie? Wie groß war überhaupt ihre Wirksamkeit? Spielten Arbeitsschutz und Wohlfahrt eine Rolle? Wie stark waren afrikanische Arbeiter von diesen Erlassen betroffen? Oder vermochten sie die kolonialen Arbeitsgesetze gar für ihre eigenen Zwecke zu nutzen?

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gleichwohl gab es einige bemerkenswerte ILO-Aktivitäten in diesem Feld. Dazu zählte die in den 1930er Jahren begonnene Ausarbeitung einer Reihe von Übereinkommen, die später in den sog. „Native Labour Code“ mündeten. Dieser Code war nicht zuletzt eine Reaktion auf die staatlich geförderten oder wenigstens geduldeten Zwangs- und Pflichtarbeitssysteme, die sich in vielen Kolonien im Zeichen der Mise en valeur und auch im Zuge der Weltwirtschaftskrise etablierten. Auf diese Weise setzte die ILO den schlimmsten Formen des Missbrauchs kolonialer Arbeitskraft international anerkannte oder zumindest beachtete Grenzen. Vgl. Daniel Maul, The International Labour Organization and the Struggle against Forced Labor from 1919 to the Present, in: Labor History 48 (2007), S. 477–500; Luis Rodriguez Piñero, Indigenous People, Postcolonialism and International Law. The ILO Regime (1919–1989), Oxford 2006. Allgemein zur ILO: Jasmien van Daele et al. (Hg.), ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and Its Impact on the World during the Twentieth Century, Bern usw. 2010. Vgl. Cooper, Decolonization (Fn.1), S. 55 f.

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II. Zur angemessenen Diskussion dieser Fragen ist es zunächst notwendig, einige allgemeine Hinweise sowohl zum Recht als auch zur Arbeitsfrage im kolonialen Afrika zu geben. Recht war ein zentraler Aspekt des Kolonialismus in Afrika.9 Von Europäern konzipiert und durchgesetzt, wurde es von Afrikanern ausgelegt, erfahren und verwendet. Gesetzen und Gerichten, der Polizei und Gefängnissen kam eine politische und eine wirtschaftliche Schlüsselrolle bei den Bemühungen der Europäer zu, ihre politische Dominanz aufrechtzuerhalten, die lokalen Ökonomien auf die Exportproduktion für die europäischen Märkte auszurichten und Arbeitskräfte für afrikanische und europäische kommerzielle Unternehmungen zu mobilisieren. Der Kolonialismus strebte danach, eine neue politische, ökonomische und moralische Ordnung einzuführen, die sich auf Loyalität zum Mutterland und zum Kolonialstaat gründete, auf Disziplin, Ordnung und Gleichmäßigkeit im Arbeitsleben, in der Freizeit und in den Körpergewohnheiten. Die Gesetzgebung spielte eine entscheidende Rolle bei der moralischen Erziehung und Disziplinierung, weil sie eine Möglichkeit zur Durchsetzung von Gesundheits-, Hygiene-, Freizeit- und Verhaltensnormen bot. Schließlich schien die Vorstellung vom Rechtsstaat ein Beleg für die Annahme, dass die Anwesenheit der Europäer in Afrika im Interesse der Afrikaner sei, und war damit ein wichtiges Element der Rechtfertigung kolonialer Herrschaft. Kurzum: In der Kolonialzeit stellte das Recht einen Bereich dar, in dem Afrikaner und Europäer ihre Konflikte austrugen – ein Feld der Auseinandersetzungen, auf dem sie um den Zugang zu Ressourcen und Arbeitskräften kämpften, die Macht- und Autoritätsverhältnisse festlegten und um die moralische und kulturelle Deutungshoheit stritten. Dabei wurden Afrikaner mit den Realitäten des Kolonialismus konfrontiert und gestalteten zusammen mit den Europäern die Gesetze und Institutionen, die Beziehungen und Prozesse, die Deutungsmuster und Kompromisse der Kolonialzeit. Recht war nicht nur ein Mittel zur Aufrechterhaltung europäischer kolonialer Dominanz. Afrikaner bedienten sich des Rechts als einer Ressource in Auseinandersetzungen mit Europäern (und untereinander). Rechtliche Normen und Verfahrensweisen wurden zum Mittel des Widerstands, der Anpassung und der Innovation von Afrikanern. Galt dies auch – und wenn ja in welchem Maße – für den Kontext Arbeit? Diese Frage ist in der Forschungsliteratur bisher selten systematisch gestellt worden. Obwohl Arbeit 9

Zu den folgenden Ausführungen vgl. Kristin Mann / Richard Roberts (Hg.), Law in Colonial Africa, Portsmouth / London 1991 (insbesondere die Einleitung). Vgl. auch die grundlegenden Erörterungen von Martin Chanock, The Law Market: The Legal Encounter in British East and Central Africa, in: Wolfgang J. Mommsen / J.A. De Moor (Hg.), European Expansion and Law. The Encounter of European and Indigenous Law in 19th- and 20th-Century Africa and Asia, Oxford / New York 1992, S. 279–305.

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zumindest zeitweise ein zentrales Thema der Afrika-Geschichtsschreibung war,10 haben Aspekte der rechtlichen Definition und Regelung von Arbeit oder die Versuche von Afrikanern, die koloniale Rechtsordnung im Bereich der Arbeit für sich zu nutzen, bislang recht wenig Aufmerksamkeit gefunden.11 Die europäischen Kolonialmächte kamen nach Afrika, um ihre dortigen Kolonialbesitzungen mit Hilfe arbeitender Afrikaner aufzubauen. Dieser Prozess ist freilich nicht nur von einer langen Geschichte der Ausbeutung geprägt, sondern reflektiert ebenso eine lange Geschichte vergeblicher Unterwerfung. Der Kolonialismus war keineswegs in der Lage, sich die Afrikaner in der Weise dienstbar zu machen, wie es Planer und Militärs, Kaufleute und Missionare, Wissenschaftler und Lehrer wünschten. Afrikas Räume und soziale Strukturen boten machtvolle Widerstandsmittel gegen die Versuche, Kontrolle über Arbeit zu erlangen. Die große Bedeutung, welche die Kolonialherren der Arbeit zumaßen, spiegelte sich nicht zuletzt darin, dass die den Afrikanern unterstellte Faulheit im Kontext kolonialer Ideologien zu einem der wichtigsten Merkmale wurde, das die afrikanische Bevölkerung angeblich von „zivilisierten“ Menschen unterschied. Der „faule Eingeborene“ entwickelte sich rasch zu einem gleichsam klassischen Motiv der Kolonialliteratur.12 Dieses Stereotyp gibt einen Hinweis darauf, dass die europäische Herrschaft selbst auf dem Höhepunkt der kolonialen Durchdringung Afrikas keineswegs allmächtig war. Denn die Charakterisierung afrikanischer Arbeiter als „faul“ implizierte letztlich die Anerkennung der Grenzen kolonialer Dominanz. Die Kolonialherren entwickelten nun eine Vielzahl von politischen, ökonomischen und psychologischen Techniken, mit deren Hilfe sie den Afrikanern spezifische Plätze in der kolonialen Ordnung zuzuweisen gedachten. Um ihr Ziel zu erreichen, mussten die Europäer versuchen, eine Plantage, eine Werft, das Führerhaus einer Lokomotive oder eine Fabrik unter ihre Kontrolle zu bringen – 10 Vgl. Andreas Eckert, Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte in Afrika, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 502–530; Bill Freund, Labor and Labor History in Africa. A Review of the Literature, in: African Studies Review 27 (1984), S. 1–58. 11 So ist es bezeichnend, dass Bill Freunds profunde Überblicksdarstellung („The African Worker“, Cambridge 1988) keine Hinweise zur rechtlichen Dimension von Arbeit enthält. Ein neuerer Aufsatz bringt nun zwei vernachlässigte Aspekte der Geschichtsschreibung zu Arbeit in Afrika zusammen – Gender und Recht. Siehe Meredeth Turshen, Reproducing Labor. Colonial Government Regulation of African Women’s Reproductive Lives, in: Karl Ittmann et al. (Hg.), The Demographics of Empire. The Colonial Order and the Creation of Knowledge, Athens / OH 2010, S. 217–244. 12 Klassisch dazu (allerdings ohne Bezug auf Afrika) Syed H. Alatas, The Myth of the Lazy Native, London 1977. Für das koloniale Afrika etwa Reimer Gronemeyer (Hg.), Der faule Neger. Vom weißen Kreuzzug gegen den schwarzen Müßiggang, Reinbek 1991; Gerd Spittler, Verwaltung in einem afrikanischen Bauernstaat. Das koloniale Französisch-Westafrika 1919–1939, Wiesbaden 1981.

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Orte also, an denen es Arbeiter gab, die den Plänen und Strategien der Kolonialherren ihre eigenen Vorstellungen von Arbeit, ihre eigenen Interessen und ihren eigenen Willen entgegenbrachten.13 In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts hatten die Kolonialherren eine Sichtweise entwickelt, gemäß der Afrika ein Kontinent voller „Stämme“ war, seine Bewohner fest und unwandelbar in die sozialen Beziehungsgeflechte des Dorfes eingebunden. Folglich reagierten die Europäer äußerst besorgt angesichts des Aufstiegs von sozialen Gruppen, die nicht in dieses Schema zu passen schienen: Missionskonvertiten, gut ausgebildete Afrikaner und Lohnarbeiter. Diese Leute wurden oft als „detribalisiert“ bezeich­net. Die politische Sprache der kolonialen Staaten war offenbar lediglich in der Lage, die Leute durch das zu etikettieren, was sie nicht waren. So ist es wenig erstaunlich, dass bis Mitte der 1930er Jahre in den Kolonialbürokratien äußerst unregelmäßig Diskussionen über Arbeiterfragen geführt wurden. Die Beamten in Britisch- und Französisch-Afrika waren vornehmlich an Zahlen interessiert und beklagten fortwährend den angeblich endemischen Mangel an Arbeitskräften. Konkrete Informationen über Arbeits- und Lebensbedingungen finden sich dagegen kaum in den Akten. Dieser Befund lässt sich mit dem Mythos vom „traditionellen“ Afrikaner erklären, welcher implizierte, dass Arbeiter in den Städten oder Minengebieten nach ihrem Einsatz so schnell wie möglich wieder in die ländlichen Regionen zurückgesandt werden sollten. Auch frühe Kritiker der kolonialen Arbeiterpolitik wie Missionare, Reisende oder gelegentliche „Dis­sidenten“ innerhalb der Verwaltung operierten in diesem Argumentationsrahmen, dokumen­tierten die Schrecken der Zwangsarbeit, plädierten für ein Ende der brutalen Rekrutierungs­methoden und suchten zu zeigen, dass Migrantenarbeit die Integrität der ländlichen Gesell­schaften zerstörte. Im gleichen Atemzug betonten sie, dass Afrikaner für Lohnarbeit und städtisches Leben ungeeignet seien. Lohnarbeit wurde zunächst nicht als ein Feld wahrgenom­men, das spezifische soziale Probleme beinhaltet.14 Die europäischen Kolonialherren hatten insgesamt große Schwierigkeiten, Afrikaner zu verlässlichen Produzenten für die europäischen und Weltmärkte zu machen. Koloniale Regierungen konnten ihre Forderungen nach Steuern und Tributen in Gestalt von Zwangsarbeit mit Hilfe einheimischer Oberer zwar partiell umsetzen. Schwieriger war es, Afrikanern den Zugang zu Land zu verwehren und sie umfassend 13 Vgl. Frederick Cooper, Africa in the Capitalist World, in Darlene Clark Hine /  Jacqueline McLeod (Hg.), Crossing Boundaries. Comparative History of Black People in the Diaspora, Bloomington 1999, S. 391–418. 14 Vgl. ders., On the African Waterfront. Urban Disorder and the Transformation of Work in Colonial Mombasa, New Haven 1987. Eine typische zeitgenössische Kritik an der Zwangsarbeit in Afrika formulierte Raymond Leslie Buell, The Native Problem in Africa, 2 Bde., New York 1928.

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zur Lohnarbeit zu zwingen. Selbst in Südafrika, wo eine weiße Siedlerschaft die Kontrolle über die Beschäftigungsmöglichkeiten hatte und eine große Bürokratie ein rassistisch bestimmtes Wanderarbeitssystem kontrollierte, bestimmten Afrikaner in vielerlei Weise die Grenzen ihrer eigenen Ausbeutung – durch den Druck, Tagelohn einzuführen oder zu erhalten, durch ihr Drängen auf Arbeitervereinigungen in den Städten und ihr Beharren auf Systemen der Pachtarbeit, die Familienarbeit und entsprechende Arbeitsrhythmen ermöglichten bzw. erleichterten. Die Komplexität der sozialen Beziehungen in Afrika machte es für afrikanische Mächtige wie europäische Invasoren besonders schwer, jene Voraussetzungen für die systematische Ausbeutung zu schaffen, die für den Kapitalismus charakteristisch sind.15

III. Einer der vielleicht aufschlussreichsten Kommentare zur britischen Arbeitspolitik in Afrika in der Zwischenkriegszeit findet sich im Bericht eines kolonialen Verwaltungsbeamten in Kenia aus dem Jahre 1918. Der Erfolg, Arbeitskräfte für weiße Farmer von einem einheimischen Chief zu bekommen, hänge davon ab, wie weit dieser Chief dazu gebracht werden könne, seine Befugnisse zu überschreiten. Und Kolonialminister Lord Milner erklärte zwei Jahre später, dass er einen mittleren Kurs anstrebe “between allowing the natives to live in idleness and vice and using improper means to get them to work”.16 In der Tat praktizierte die britische Verwaltung in vielen ihrer afrikanischen Kolonien eine gemischte Politik aus Zwang, Anreizen und der Privilegierung bestimmter Regionen für den Anbau von Cash Crops. Die meisten Territorien im südlichen, zentralen und partiell auch im östlichen Afrika waren durch ein Patchwork verschiedener Zonen – kleinbäuerliche Agrarwirtschaft, Arbeiterreservoirs, weiße Siedlungen – charakterisiert. In Westafrika hingegen lebten kaum europäische Siedler, die einheimische landwirtschaftliche Produktion dominierte, und die Urbanisierung war hier stärker vorangeschritten, wobei sich die Städte durch relativ flexible Arbeitsmärkte auszeichneten.17 In den britischen Kolonien in Westafrika – Gambia, Goldküste, Liberia und Nigeria – gab es nicht nur kaum europäische Siedler, sondern auch wenig Industrie und entsprechend eine kleine industrielle Arbeiterschaft.18 Zu Beginn des Zweiten 15 Vgl. Cooper, Africa in a Capitalist World (Fn. 13). 16 Zit. nach Ders., African Workers and Imperial Designs, in: Philip D. Morgan / Sean Hawkins (Hg.), Black Experience and the Empire, Oxford 2004, S. 296 f. 17 Vgl. ebd. 18 Für den folgenden Abschnitt vgl. Richard Rathbone, West Africa, 1874–1948: Employment Legislation in a Nonsettler Peasant Economy, in: Hay / Craven, Masters (Fn. 6),

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Weltkriegs wurden in den britischen Westafrika-Territorien circa 200.000 Afrikaner / innen von europäischen Arbeitgebern beschäftigt, davon allein 90.000 in den Minen und rund 20.000 bei der Eisenbahn. Es gab in diesen Territorien kaum direkte Steuern (die andernorts als Mittel dienten, um Afrikaner zur Lohnarbeit zu zwingen), auch Hüttensteuern wurden selten ernsthaft eingesammelt. Man kann festhalten, dass nur wenige Afrikaner aufgrund einer erfolgreich orchestrierten Arbeitspolitik in die Lohnarbeit gezwungen wurden. Fast über die gesamte koloniale Periode bildeten Lohnarbeiter die Minderheit der erwachsenen, wirtschaftlich aktiven Bevölkerung. Der Weg von Menschen in die Lohnarbeit war stark von der jeweiligen ökonomischen Entwicklung einzelner Regionen und von ökologischen Unterschieden abhängig. Die Arbeitskraft in den Minen oder den afrikanischen Cash-Crop-Farmen entstammte zu einem hohen Anteil aus Gebieten, die unter Trockenheit und endemischer Armut litten.19 Die Arbeitsmigranten kamen oft von weit her, getrieben von Hunger und dem Mangel an lokalen Alternativen. Diese Migration war häufig grenzüberschreitend: In Nigeria und in der Goldküste entstammten viele in der Industrie und Landwirtschaft tätigen Arbeitsmigranten aus den benachbarten französischen Territorien. Die Landwirtschaft bot selbst in Zeiten der Wirtschaftskrise eine Nische für Personen mit Zugang zu und Rechten an Land und vor allem für jene, die Familienarbeit mobilisieren oder Kapital für Lohnarbeiter auftreiben konnten. Den Kolonialregimen in Afrika ging es vornehmlich darum, Arbeit für europäische Zwecke (Minen, Großplantagen, Infrastruktur) zu mobilisieren. Der Zugang afrikanischer Bauern zu Arbeit und die Bedingungen landwirtschaftlicher Tätigkeit wurden hingegen durch die koloniale Gesetzgebung und administrative Praxis kaum beeinflusst. Wichtiger war in diesem Zusammenhang die sich beständig wandelnde Partizipation von Individuen an größeren Märkten und politischen Arenen. Ebenso bedeutsam erscheint das jeweilige, kulturell konstruierte Verständnis von Autorität und Verpflichtung im Rahmen von Haushalten, Verwandtschaftsgruppen, Kommunen und anderen sozialen Netzwerken.20 Dabei ließen sich Verwandtschafts- und Klientelsysteme sehr wohl mit landwirtschaftlicher Marktproduktion für die Weltmärkte verbinden. Afrikanische ländliche Unternehmer waren also durchaus in der Lage, Marktanreize aufzunehmen und dafür Ressourcen in Form von Land und Arbeit zu mobilisieren. S. 481–497. 19 Zu Minen und Minenarbeitern im anglophonen Westafrika vgl. u.a. Bill Freund, Capital and Labour in the Nigerian Tin Mines, New York 1981; Raymond E. Dumett, El Dorado in West Africa. The Gold-Mining Frontier, African Labor, and Colonial Capitalism in the Gold Coast, 1875–1900, Athens / OH 1998. 20 Vgl. Sara Berry, No Condition is Permanent. The Social Dynamics of Agrarian Change in Sub-Saharan Africa, Madison / Wisc. 1993; Cooper, Africa in a Capitalist World (Fn. 13).

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Die Geschichte des Kakaoanbaus in der Goldküste (dem heutigen Ghana) und Nigeria verdeutlicht, dass sich die flexiblen Produktionsbeziehungen im ländlichen kolonialen Westafrika nicht auf das Entweder-Oder von „bäuerlicher“ oder „kapitalistischer“ Wirtschaft reduzieren lassen. Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft führte hier keineswegs zu einer entscheidenden Transformation von Sklaven- und Familienarbeit zu Lohnarbeit, sondern zu einer Reihe von sich partiell überlappenden Arrangements. Diejenigen, die Böden kontrollierten, die besonders für den Kakaoanbau geeignet waren, verpachteten diese häufig an auswärtige Unternehmer, die wiederum häufig Verwandte oder andere marktwirtschaftlich erfolgreiche Farmer einsetzten, um sie beim Pflanzen von Bäumen zu unterstützen. Weitere Arbeitskraft wurde von Gelegenheitsarbeitern und Tagelöhnern bzw. Wanderarbeitern oder Menschen gestellt, die entweder längerfristige Klientelbeziehungen eingingen oder jene Lohnarbeit suchten, die dem westlichen Muster entsprach. Farmer rekrutierten erst dann bezahlte Arbeitskräfte, als ihre ersten Pflanzungen gut etabliert waren und ein regelmäßiges Einkommen abwarfen. Dabei kam es zu beträchtlichen regionalen Differenzen. Während einige Kakaofarmer in der südlichen Goldküste bereits 1908 über bezahlte Arbeitskräfte verfügten, begann eine entsprechende Rekrutierung in anderen Gebieten erst nach dem Ersten Weltkrieg.21 Dieses gemischte System ländlicher Arbeit begrenzte zugleich die Möglichkeiten der Ausbeutung. Pflanzer konnten nicht beliebig expandieren, konnten ihre Arbeiter nicht maßlos ausbeuten und andere nicht zu sehr bedrängen, denn die Dauer ihrer Pachten und ihr Zugang zu Arbeitskräften hingen von genau diesen Sozial- und Klientelbeziehungen ab, die sie nicht unbegrenzt strapazieren konnten.22 Spielten kolonialrechtliche Regulierungen zu Arbeit in den britischen Territorien in Westafrika vor dem Zweiten Weltkrieg also überhaupt eine Rolle? Koloniale Administratoren und Planer kamen nicht mit fertigen Programmen nach Afrika. Ihre politische Praxis vollzog sich im Kontext der ungleichen Parameter von großen Ambitionen und budgetären Engpässen.23 Diese Parameter waren auch zentral für Lord Lugards berühmtes Modell der indirekten Herrschaft, welches ursprünglich für Uganda vorgesehen war, dann im Kontext Nordnigerias verfeinert wurde und sich 21 Vgl. Gareth Austin, The Emergence of Capitalist Relations in South Asante Cocoafarming, c. 1916–1933, in: Journal of African History 28 (1987), S. 259–279; Inez Sutton, Labour and Commercial Agriculture in Ghana in the Late Nineteenth and Early Twentieth Century, in: Journal of African History 24 (1983), S. 461–483. 22 Vgl. Frederick Cooper, Afrika am Ende dieses Jahrhundert: Vorstellungen und Erklärungen, in: SOWI 27 (1998), S. 220–227, hier: S. 222. Umfassend dazu Sara Berry, Fathers Work for Their Sons: Accumulation. Mobility and Class Formation in an Extended Yoruba Community. Berkeley 1985. 23 Sara Berry, Hegemony on a Shoestring. Indirect Rule and Access to Agricultural Land, in: Africa 62 (1992), S. 327–355.

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schließlich zum Eckpfeiler britischer Kolonialpolitik mauserte. Indirekte Herrschaft war weit davon entfernt, ein kohärentes und theoretisches fundiertes Modell aufgeklärter Kolonialpolitik zu sein, sondern glich eher einem Managementprojekt, das als Antwort auf galoppierende Verwaltungskosten und fehlgeschlagene Versuche, die Herrschaft beim Gouverneur zu zentralisieren, entstand. Wesentliche Verwaltungstätigkeiten wurden durch von der Kolonialadministration bezahlte einheimische Chiefs übernommen, die nicht selten ihre Position als Mittler zwischen Kolonialverwaltung und der lokalen Bevölkerung nutzten, um Leute auf ihren eigenen Pflanzungen zur Arbeit zu bewegen. Es war daher kein Zufall, dass Chiefs in Westafrika oft zu den wichtigsten Cash Crop-Produzenten zählten.24 Koloniale Zwangsarbeit war in Britisch-Westafrika weniger verbreitet als in anderen Teilen des Kontinents.25 In Folge der 1930 in Genf von der ILO verabschiedeten Konvention gegen die Zwangsarbeit wurde in den verschiedenen Territorien eine Reihe von entsprechenden Gesetzen erlassen, an deren Umsetzung es zuweilen freilich haperte.26 Vor allem für den Straßenbau griffen die Kolonialverwaltungen weiterhin auf Zwangsrekrutierungen zurück. So hieß es in der 1933 für Nigeria verabschiedeten Ordnung, jede Form der Zwangsarbeit sei verboten, dies gelte jedoch nicht im Bereich von „transport purposes“.27 Insgesamt ging Zwangsarbeit in den 1930er Jahren jedoch zurück, was nicht allein das Resultat der neuen Gesetzgebung war, sondern auch Folge der Wirtschaftskrise, in der mehr verarmte Leute bereit waren, auch unter schlechten Bedingungen zu arbeiten.28 Schaut man sich die frühe koloniale Gesetzgebung an, so sieht man das Bemühen, die große Kluft zwischen europäischen und afrikanischen Erwartungen und rechtlichen Vorstellungen und Normen zu überbrücken.29 Denn in Westafrika im 19. Jahrhundert hatte das Fehlen einer gemeinsamen Vorstellung über Verträge, die Zurückzahlung 24 Vgl. für die Ashanti-Region in der Goldküste (Ghana): Gareth Austin, Labour, Land, and Capital in Ghana. From Slavery to Free Labour in Asanta, 1807–1956, Rochester / NY 2005. 25 In bestimmten Regionen griff die britische Kolonialmacht in beträchtlichem Maße auf Zwangsarbeit zurück. Vgl. etwa Roger Thomas, Forced Labour in British West Africa: The Case of the Northern Territories of the Gold Coast, 1906–1927, in: Journal of African History 14 (1973), S. 79–103; Don C. Ohadike, Exploitation of labour: waged and forced, in: Toyin Falola (Hg.), Britain and Nigeria: Exploitation or Development?, London 1987, S. 142–163. 26 Zu dieser Convention vgl. Maul, International Labour Organization (Fn. 7). 27 Forced Labour Ordinance, N°22 (1933), zit. in Dirk Kohnert, Klassenbildung im ländlichen Nigeria. Das Beispiel der Savannenbauern in Nupeland, Hamburg 1982, S. 391. 28 Für Nordnigeria dazu: Moses Ochonu, Colonial Meltdown. Northern Nigeria in the Great Depression, Athens / OH 2009. 29 Für das Folgende vgl. Rathbone, West Africa (Fn. 18).

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von Schulden und Verlässlichkeit zu zahllosen Friktionen und diversen Problemen im Handel geführt.30 Die geringe Zahl von „modernen“ Beschäftigungsverhältnissen in Afrika war Teil einer Ökonomie, die von Sklaverei und Obligationen gegenüber traditionellen Hierarchien geprägt war. Vor diesem Hintergrund war die frühe koloniale Arbeitsgesetzgebung von dem Versuch geprägt, ein Set von Regularien zu schaffen, um Arbeit zu kontrollieren. Ganz zentral für die erlassenen Arbeitsgesetze im späten 19. Jahrhundert war der Versuch, die Sklaverei einzudämmen, indem man Sklavenhaltern die Idee nahezubringen versuchte, bestehende Vorstellungen vom „Besitz“ an Arbeitskräften durch die Notwendigkeit von Verträgen zu ersetzen. Wollten also Arbeitgeber per Gericht „Deserteure“ wieder zurückholen, mussten sie laut Gesetz fortan einen Vertrag vorweisen können.31 Allerdings scheinen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Gesetzgebung wenig genutzt zu haben. Auffällig und erklärungsbedürftig ist zudem, dass die Arbeitsgesetzgebung im Gegensatz zu allen anderen Bereichen des sich entwickelnden kolonialen Rechtssystems nur selten von der Gruppe der gut ausgebildeten afrikanischen Anwälte in Frage gestellt wurde. Afrikanische Anwälte erzielten den Großteil ihres Einkommens und ihrer Reputation durch Land- und Nachfolgekonflikte.32 Zudem waren sie auch wichtige Arbeitgeber, sowohl in ihrem beruflichen Feld als auch auf der Ebene des Haushalts. In den 1940er Jahren beklagten sich jedenfalls Gewerkschafter zunehmend, dass sie für ihre Anliegen von diesen Anwälten kaum Unterstützung bekommen würden.33 Wir haben also eine elaborierte, aber wenig genutzte Gesetzgebung, die in vielen Hinsichten gleichsam antizipatorisch angelegt war. Ende des 19. Jahrhunderts hofften viele Imperialisten auf wachsende Märkte und ein größeres Maß an Lohnarbeit, für das eine entsprechende Gesetzgebung nötig wäre. Diese Erwartungen wurden jedoch 30 Vgl. etwa Martin Lynn, Commerce and Economic Change in West Africa. The Palm Oil Trade in the Nineteenth Century, Cambridge 1997. 31 Übergreifend dazu Frederick Cooper, Conditions Analogous to Slavery. Imperialism and Free Labor Ideology in Africa, in: Ders. et al., Beyond Slavery. Explorations of Race, Labor, and Citizenship in Postemancipation Societies, Chapel Hill 2000, S. 107–156; Suzanne Miers / Martin A. Klein (Hg.), Slavery and Colonial Rule in Africa, London 1999. 32 Vgl. Augustus Casely-Hayford / Richard Rathbone, Politics, Families and Freemasonery in the Colonial Gold Coast, in: Jacob F. Ade Ajayi / John D.Y. Peel (Hg.), People and Empires in African History. Essays in Memory of Michael Crowder, London 1992, S. 143–160; Richard Rathbone, Law, lawyers and politics in Ghana in the 1940s, in: Dagmar Engels / Shula Marks (Hg.), Contesting Colonial Hegemony. State and Society in Africa and India, London 1994, S. 227–247; Patrick Cole, Modern and Traditional elites in the politics of Lagos, Cambridge 1975. 33 Für das Beispiel Nigeria vgl. Lisa Lindsay, Working with Gender. Wage Labour and Social Change in Southwestern Nigeria, Portsmouth 2003.

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lange enttäuscht. Für die Arbeiter in den Minen oder im ländlichen Bereich bestand kaum Zugang zu Arbeitsgesetzen, viele von ihnen waren Migranten, Fremde, und oft sozial wie formal von zahlreichen Rechten ausgeschlossen. Zudem verfügten sie oft schlicht nicht über das Wissen und die Mittel, ihre Anliegen in kolonialen Gerichten vorzutragen. Dass die Arbeitgeber in Britisch-Westafrika die Gesetzgebung nicht nutzten, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie trotz anderslautender Rhetorik in der Regel genügend Arbeitskräfte zu einem für sie akzeptablen Preis fanden.

IV. In der ostafrikanischen Kolonie Kenia spielte die Arbeitsgesetzgebung eine bedeutendere Rolle als in den meisten britischen westafrikanischen Kolonien. Dies hing nicht zuletzt mit der signifikanten Präsenz europäischer Siedler in Kenia zusammen, die ein großes Interesse an einem möglichst problemlosen Zugriff auf eine ausreichende Anzahl billiger Arbeitskräfte hatten. Der koloniale Staat war freilich auch hier der größte Arbeitgeber im formalen Sektor und teilte daher das Interesse der Siedler, Afrikaner zum Eintritt in den Arbeitsmarkt zu bewegen und dabei die Löhne und Gehälter möglichst niedrig zu halten. Allerdings herrschten unter europäischen Siedlern und Administratoren keineswegs einheitliche Ansichten. Die Arbeitsgesetzgebung in Kenia vor dem Zweiten Weltkrieg war daher auch das Produkt der Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe der Kolonialherren. Überdies existierte zuweilen eine große Diskrepanz zwischen den in London oder Nairobi erdachten und verfassten Direktiven und den Rekrutierungspraktiken durch Siedler und Verwalter in den Bezirken. Schließlich wissen wir relativ wenig über die sozialen Erfahrungen afrikanischer Arbeiter, speziell der auf den Farmen und in den Haushalten tätigen Personen. In diesen wichtigen Beschäftigungsfeldern nutzten Afrikaner nur selten das Recht, um ihre Interessen zu sichern. Und auch die Siedler neigten dazu, Arbeitskonflikte nicht mit Hilfe der staatlichen Justiz zu „lösen“.34 Ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte Kenias war die 1902 einsetzende Ankunft europäischer Siedler, welche die Nachfrage nach einheimischer Arbeitskraft wesentlich erhöhte. Bereits vier Jahre später lebten über 600 weiße Farmer in der Kolo34 Grundlegend zur Arbeitsgesetzgebung in Kenia vor dem Zweiten Weltkrieg: David Anderson, Master and Servant in Colonial Kenya, 1895–1939, in: Journal of African History 41 (2000), S.  459–486; ders., Kenya, 1895–1939. Registration and Rough Justice, in: Hay / Craven, Masters (Fn. 6), S.  498–528. Vgl. ebenfalls: Anthony Clayton / Donald C. Savage, Government and Labour in Kenya, 1895–1963, London 1974; Roger M. van Zwanenberg, Colonial Capitalism and Labour in Kenya, 1919–1939, Nairobi 1975; Bruce Berman, Control and Crisis in Colonial Kenya: The Dialectic of Domination, London 1990.

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nie, von denen die meisten sogleich afrikanische Arbeiter zu beschäftigen suchten und entsprechende rechtliche Regularien nicht nur forderten, sondern selbst formulierten. Vertreter der Colonists’ Association entwarfen nach dem Vorbild der Goldküste und Transvaal eine Verordnung, die weitgehend unverändert in London als East African Ordinance des Master and Servant Acts ratifiziert wurde. Eine solche Ordnung, befand man im Londoner Kolonialministerium, sei notwendig “in order to obtain reasonable service from the natives who are unused to the benefits and obligations of continuous labour”.35 Es ist aufschlussreich, dass keine einzige Klausel in der Verordnung Hinweise zum Schutz der Arbeiter enthielt. Dies änderte sich in späteren Zusätzen, allerdings wurde auch eine Trennung der Arbeiterschaft in „rassische“ Kategorien eingeführt. Dahinter stand die Auffassung der europäischen Siedler, dass sich afrikanische Arbeit auf einem niedrigeren Entwicklungsstand befinde als die asiatische oder europäische Arbeit und folglich einer anderen Gesetzgebung bedurfte.36 Diesen vermeintlich „niedrigen Entwicklungsstand“ bemühten die europäischen Unternehmer, Siedler und Verwalter zudem, wenn es um Fragen sozialer Sicherheit ging. Sie verwiesen auf die lokalen Ökonomien, die in ihren Augen diese Aufgaben wahrzunehmen hatten. Sharon Stichter hat für Kenia diesen Sachverhalt prägnant zusammengefasst: „Im System der Wanderarbeit, das im Bereich des Handels, der Minen, des Handwerks und auch der Landwirtschaft vorherrschte, wurden die über die Deckung der täglichen Subsistenz des Arbeiters hinaus anfallenden Arbeitskosten auf die Schultern der vorkapitalistischen Ökonomie geladen. Kosten betreffend Altersversorgung, soziale Sicherheit, Ausbildung, Gesundheit, und für die Heranziehung der kommenden Arbeitergeneration, Kosten, die in den kapitalistischen Kernnationen des 20. Jahrhunderts von den Löhnen und Profiten gedeckt wurden, mussten in diesem System von der Wirtschaft der afrikanischen Reservate getragen werden. Sie unterstützte die Frau des Arbeiters, seine Kinder und im Krankheitsfall und Alter ihn selbst. Auf diese Weise wurden die lokalen Ökonomien zu Anhängseln der neuen Plantagenökonomie und subventionierten die niedrigen Löhne.“37

35 Zit. nach Anderson, Kenya (Fn. 34), S. 501 f. 36 Vgl. ebd., S. 504. 37 Vgl. Sharon Stichter, Migrant Labour in Kenya. Capitalism and African Response 1895–1975, London 1982, S. 27 f. Übers. A. E. Überblick zur kolonialen Sozialpolitik in Afrika bei Andreas Eckert, Wohlfahrtsmix, Sozialpolitik und „Entwicklung“ in Afrika im 20. Jahrhundert, in: Johannes Jäger et al. (Hg.), Sozialpolitik in der Peripherie. Entwicklungsmuster und Wandel in Lateinamerika, Afrika, Asien und Osteuropa, Wien 2001, S. 99–116.

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Die kolonialstaatliche Praxis, so gut wie keine sozialen Sicherungssysteme für die afrikanische Bevölkerung zu etablieren, wurde noch in den späten 1930er Jahren vom großen Theoretiker der britischen Kolonialpolitik, Lord Hailey, gleichsam geadelt. In seiner einflussreichen Schrift „An African Survey“ schrieb er zu dieser Frage: „Die Reservate werden als ‚Puffer‘ verwendet, insofern sie die Bedürfnisse der Arbeitslosen, Kranken, Alten befriedigen, ohne dem Staat zur Last zu fallen […] Die einzige Alternative wäre ein ständiges Arbeiterpotential in den Städten, in der Nähe der Minen und Fabriken, völlig von der Erde getrennt; doch ein solches Arbeiterpotential erforderte höhere Löhne, angemessene Wohnungen, Schulen, Zerstreuungen und soziale Sicherungen.“38 Da wundert es kaum, dass die wenigen sozialpolitischen Maßnahmen des Staates in Kenia wie anderswo bis zum Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich Europäern zugutekamen.39 Die Regulierungen des Master and Servant Act wurden in Kenia durch eine Reihe weiterer Gesetze ergänzt, die ebenfalls den Bereich der Arbeit betrafen. Dazu gehörte die Registration of Native Ordinance von 1915, welche besagte, dass jeder über 15 Jahre alte Mann sich bei seinem lokalen Bezirksamt registrieren lassen musste und mit einem mit seinem Fingerabdruck versehenen Pass ausgestattet wurde. Dieses Dokument, das bald unter dem Namen kipande firmierte, enthielt einige Angaben zur Person und diente als Beschäftigungsdokument. Die Kolonialverwaltung legte ein zentrales Register an, das 1931 bereits zwei Millionen kipande umfasste. Dieses Gesetz machte es für Arbeitgeber schwieriger, die Beschäftigten um ihren Lohn zu betrügen; vor allem aber begrenzte es die Mobilität von afrikanischen Arbeitern beträchtlich, denn bevor ein Arbeiter sich nicht offiziell bei seinem alten Arbeitgeber abgemeldet hatte, war es illegal, eine neue Beschäftigung anzutreten. Jeder Arbeiter, der seine bisherige Arbeitsstelle ohne formale Abmeldung verlassen hatte, galt mithin als Deserteur und wurde strafrechtlich verfolgt.40 Als die europäischen Siedler 1906 für die Einführung einer Master and ServantsVerordnung agitierten, ging es ihnen primär darum, die Desertationen einzudämmen und Arbeiter stärker an den Arbeitsplatz zu binden. Doch das Gesetz scheint wenig Einfluss auf das Desertieren gehabt zu haben. Dagegen stiegen die Verurteilungen von Arbeitern wegen kleinerer disziplinarischer Delikte stetig an. Die Gerichte erschienen allen Europäern offenbar zuvorderst als Instrumente zur Bestrafung afrikanischer Arbeiter. Verbrämt wurde diese Haltung freilich mit dem Verweis auf die Notwendigkeit, den Afrikanern die zivilisierende Disziplin der Arbeit zu vermitteln. Im Übrigen 38 Lord Hailey, An African Survey, London 1938, S. 605. 39 Vgl. für Kenia Maximilian Fuchs, Soziale Sicherheit in der Dritten Welt. Zugleich eine Fallstudie Kenia, Baden-Baden 1985, S. 100 ff. 40 Vgl. Anderson, Kenya (Fn. 34), S. 506; Clayton / Savage, Government (Fn. 34), S. 32; van Zwanenberg, Colonial Capitalism (Fn. 34), S. 183 ff.

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war jeder Distriktverwalter unabhängig von seinem Rang berechtigt, Master and Servant-Fälle zu hören. Viele von zeigten einen besonderen Ehrgeiz, Sanktionen gegen afrikanische Arbeiter auszusprechen. Der Oberste Gerichtshof in Nairobi sah sich veranlasst, regelmäßig Rundschreiben an die Magistrate zu versenden und sie daran zu erinnern, dass Urteile gegen afrikanische Arbeiter die Existenz eines Arbeitsvertrages voraussetzten. Auf den meisten Farmen in europäischem Besitz blieb ohnehin Willkür die Regel. Die Siedler waren häufig nicht willens, Konflikte mit Hilfe der Ordnungen des Master and Servant Acts zu regeln; afrikanischen Arbeitern wurde diese Möglichkeit verwehrt, oder sie zogen sie nicht in Erwägung.41 Eine zu Beginn der 1920er Jahre vom Legislativrat in Kenia eingesetzte Kommission, welche das Strafsystem in der Kolonie und speziell den Umgang mit Strafen im Bereich der Arbeit untersuchen sollte, hörte die Sicht zahlreicher europäischer Siedler und Verwalter auf die „Arbeitsfrage“. Die europäischen Arbeitgeber machten aus ihrer Unzufriedenheit mit der Praxis der Master and Servant-Verordnungen kein Hehl. Die Gerichtsverfahren seien zeitaufwendig und würden Arbeitskräfte von den Farmen abziehen. Die Gerichte arbeiteten langsam und schwerfällig. Die Magistrate würden häufig den Afrikanern zu sehr Glauben schenken und daher viele berechtigte Klagen abweisen. Und schließlich seien die Gerichte viel zu nachsichtig in ihrem Strafmaß gegenüber verurteilten Angeklagten. Die Magistrate hingegen beklagten, dass sie durch die hohe Anzahl der Verfahren oft völlig überfordert seien. Zudem bestand bei ihnen eine große Unsicherheit bezüglich der genauen juristischen Vorgehensweise und des zu veranschlagenden Strafmaßes. Dies bezog sich vor allem auf die Vor- und Nachteile von Körperstrafen. Die Mehrheit erachtete das Auspeitschen als notwendiges Übel. Dies änderte sich erst in den 1930er Jahren, als zunehmend Geldstrafen verhängt wurden, die von der Mehrheit der verurteilten Afrikaner jedoch nicht gezahlt werden konnten. Sie landeten dann im Gefängnis.42 Die meisten Arbeitskonflikte in Kenia wurden vor dem Zweiten Weltkrieg nicht vor einem Gericht ausgetragen. Das Argument vieler Siedler, dies sei auch im Sinne der afrikanischen Arbeiter gewesen, war ohne Zweifel auch ein Vorwand für willkürliche Bestrafungen. Aber selbst die (wenigen) Afrikaner, die Kenntnisse von ihren Rechten besaßen, hatten wenig Vertrauen in die kolonialen Gerichte: “For employee and employer alike”, spitzt David Anderson die Konstellation zu, “summary justice on the farm may have appeared more attractive than the roulette wheel of the courtroom.”43 Die europäischen Siedler forcierten eine Gesetzgebung, die es ihnen erlaubte, Arbeit in einer Weise zu rekrutieren und zu erzwingen, die im „Mutterland“ England politisch und sozial schon lange nicht mehr akzeptabel war. Die Entwicklung der Master and 41 Vgl. Anderson, Kenya (Fn. 34), S. 510; 516. 42 Vgl. ebd., S. 516 ff. 43 Ebd., S. 527.

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Servant-Verordnungen in Kenia in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnelte der in England vor 1870. Die Gründe dafür liegen zum einen in der Evolution der politischen Ökonomie in Kenia, sind überdies aber mit den in dieser Zeit vorherrschenden rassistischen Überzeugungen der Europäer verknüpft. In der Tradition des britischen imperialen Paternalismus sollten Afrikaner einer Rechtsprechung unterworfen werden, die ihrem Status und ihrem vermeintlichen „Entwicklungsstand“ entsprach.

V. Der Zweite Weltkrieg markiert in der neueren Geschichte Afrikas eine wichtige Wasserscheide, nicht zuletzt in Bezug auf die „Arbeitsfrage“. Allein in den britischen Afrikakolonien wurden über eine halbe Million Menschen mithilfe der Armee, der Polizei und einheimischer Chiefs für den Militärdienst mobilisiert. Zwang spielte in diesem Zusammenhang eine große Rolle.44 Darüber hinaus rekrutierten die Briten Afrikaner in beträchtlichem Maße für die Produktion. Besonders drastisch gingen sie in den Zinnminen Nigerias vor, die nach dem Verlust von Malaya große Bedeutung für die Kriegsproduktion erlangten. Über 100.000 zwangsverpflichtete Afrikaner mussten für zwei Jahre in den Minen schuften. Die lokalen Agrarwirtschaften litten beträchtlich unter dem Abzug der Arbeitskräfte, der vielerorts zu Hungerperioden führte. Die Sterberate in den extrem schlecht ausgestatteten Minencamps war extrem hoch.45 Viele Afrikaner reagierten auf die Zwangsrekrutierungen der Kriegszeit, wie sie vorher auf Zwangsarbeit oder Gewalt am Arbeitsplatz reagiert hatten – sie desertierten. Während des Krieges und dann vor allem in den ersten Nachkriegsjahren kam es in den britischen Afrika-Kolonien (wie auch im frankophonen Afrika) zu zahlreichen, zum Teil umfassenden Streiks, die von den Verwaltungen vor Ort und in London als massive Bedrohung der kolonialen Ordnung empfunden wurden.46 Das Gefühl, die Kontrolle über die Arbeiterschaft zu verlieren, hatte einen doppelten Effekt auf die koloniale Herrschaftsausübung. Erstens reduzierten die Streiks innerhalb der kolonialen Bürokratie die Bedeutung der einst dominanten Provinz- bzw. Distriktbeamten, die gleichsam „ihre Eingeborenen kannten“ und darum bemüht waren, Afrikaner in das Gehäuse tribaler Identitäten zu pferchen. An ihre Stelle trat zunehmend eine neue Generation von Technokraten, deren Strategien und Interventionen in den Universalismen des europäischen Social Engineering fußten. „Labour officers“ wurden zu Schlüsselakteuren im spätkolonialen Afrika. 44 Vgl. David Killingray (mit Martin Plaut), Fighting for Britain. African soldiers in the Second World War, Oxford 2010. 45 Vgl. Freund, Capital and Labour (Fn. 19); Cooper, Decolonization (Fn. 1), S. 125. 46 Für das Folgende grundlegend Cooper, Decolonization (Fn. 1).

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Zweitens führte die Notwendigkeit, die Kontrolle in Minen, auf den Schienen, in den Häfen und in den Städten zurückzuerlangen, dazu, das hegemoniale Projekt „Entwicklung“ ernster zu nehmen und es stärker mit dem sozialen Alltag der Afrikaner zu verknüpfen. Angesichts der großen Streiks der 1930er und 40er Jahre und angesichts des massenhaften Zuzugs von Menschen in die Städte nach dem Zweiten Weltkrieg erachteten es die Kolonialadministratoren als notwendig, einen „neuen Arbeiter“ zu schaffen. Der afrikanische Arbeiter musste gleichsam aufhören, „Afrikaner“ zu sein. Seine Ernährung, sein Familienleben und seine Einstellung zu Arbeit, Karriere und Besitz sollten die des modernen europäischen Arbeiters werden. Die kolonialen Offiziellen überzeugten sich dabei selbst, dass diese Umformung letztlich nur machbar sei, indem man ein kleines, reformiertes Milieu afrikanischer Arbeiter schuf und gewissermaßen vom Rest Afrikas trennte. Dieser Dualismus spiegelte sich im zunehmend dichotomischen zeitgenössischen Denken der Sozialwissenschaften und der Kolonialpolitik, insbesondere im Dualismus von „traditionell“ und „modern“. Der „traditionelle Afrikaner“ erschien nicht mehr, wie noch in der Zwischenkriegszeit, als irgendwie kurioses, manchmal gefährliches, in jedem Fall „natürliches“ Wesen, dessen Konservierung durchaus kompatibel mit der kolonialen Ordnung war. Von nun an wurde er beschuldigt, ein Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt nach westlichem Muster zu sein, der jetzt auch für Afrika möglich schien.47 Diese neue Sicht erforderte neue arbeitsrechtliche Regelungen. Die Abschaffung des repressiven Master and Servants Act erschien unabdingbar. Gewerkschaften, obgleich beständig unter Verdacht, kommunistisch infiltriert zu sein, wurden nun als notwendige Partner in den Arbeitsbeziehungen eingestuft. Rasch setzte in den britischen Afrikakolonien (wie auch in den französischen Kolonialterritorien) zudem eine Debatte um die Einführung staatlicher Sicherheitssysteme ein, die jedoch von der Furcht geprägt wurde, dass Arbeiterverbände und Gewerkschaften etwa die Einführung von Familienbeihilfen zum Anlass nehmen könnten, generelle Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen und politischer Teilhabe zu stellen. Entsprechende Entwicklungen in Französisch-Westafrika dienten als Warnung.48 Gleichwohl erkannten britische Kolonialpolitiker, dass die von ihnen nun auch für Afrika imaginierte industrielle Gesellschaft Mechanismen sozialer Sicherheit erforderlich machen würde. Die britische Politik, die Arbeiterschaft neu zu formieren, implizierte, dass afrikanische Arbeiter denselben Risiken ausgesetzt wurden wie alle anderen Lohnabhängigen, etwa Einkommensverluste durch Arbeitsunfälle, Krankheit 47 Vgl. Cooper, On the African Waterfront (Fn. 14), Einleitung. 48 Zu den Entwicklungen im frankophonen Westafrika vgl. Ders., The Dialectics of Decolo­­nization. Nationalism and Labor Movements in Postwar French Africa, in: Ders. / Ann L. Stoler (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 206–235.

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oder hohes Alter. Zwischen London und diversen Kolonien setzte eine ausführliche Diskussion über soziale Sicherheitssysteme ein.49 Kolonien mit vergleichsweise großer Industrie – Kenia, Nigeria und Nordrhodesien – begannen Mitte der 1950er Jahre, nationale Rentensysteme zu erarbeiten. Doch diese Unternehmungen scheiterten. Das Hauptproblem bei der Etablierung der Altersversorgung lag offenbar im Mangel an verlässlichen Daten. Die fragmentarischen Informationen erlaubten es der Verwaltung nicht, verlässliche Register über Geburten, Heiraten und Todesfälle anzufertigen. So konnte nicht sichergestellt werden, dass bestimmte Personen die ihnen zustehenden Rentenzahlungen erhielten. Der koloniale Staat, der die „neue afrikanische Arbeiterklasse“ definieren und schaffen wollte, sah sich letztendlich nicht einmal im Stande, Arbeitern nach jahrzehntelanger Tätigkeit ein wenig materielle Sicherheit zu bieten.

49 Vgl. Ders., Decolonization (Fn. 1), S. 323 ff.

Naoko Matsumoto

Rechtliche Mittel zur individuellen Arbeitskonfliktlösung in Deutschland und Japan um 1900 Ein Vergleich1

I. Ausgangspunkt Sind Gerichte bei individuellen Arbeitskonflikten brauchbar? Nutzt ein Arbeiter in der Arbeitsgesellschaft Gerichte als Mittel, um sich Recht zu verschaffen? Die Antwort ist je nach Zeit und Land unterschiedlich. Der Aufsatz versucht, ansatzweise einen überprüfbaren Vergleich zwischen Deutschland und Japan um 1900 vorzulegen. Dabei geht es in Deutschland um Gewerbegerichte, die durch ein Reichsgesetz von 1890 der Standard für die Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland überhaupt geworden waren: Es geht also um den Vorläufer der heutigen Arbeitsgerichte. Im Folgenden wird versucht, die Funktion der Gewerbegerichte zum Rechtsschutz der Arbeiter, d.h., was, wie und vor allem wer durch diese Fachgerichte geschützt wurde, anhand des Gewerbegerichts Worms zu analysieren. Demgegenüber scheiterte in Japan für die gleiche Zeit das Vorhaben zur Einführung der Gewerbegerichte. Zu untersuchen ist also erstmal der Hintergrund dieses Vorhabens und der Grund für den Verzicht auf das Fachgericht, dann die Existenz damals möglicher Alternativen zur Konfliktlösung. Eine Grafik aus dem Jahr 2008 zeigt den heutigen Unterschied der Anhängigkeit der zu verhandelnden Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und -nehmern vor Gericht in beiden Ländern (Grafik 1). In Deutschland wurden im Jahr 2008 454.892 Klagen vor einem Arbeitsgericht eingereicht.2 In Japan sind im gleichen Jahr insgesamt 1 2

Eine modifizierte Fassung des Referats im Schwerpunkt I: Sich Recht verschaffen. Ich danke neben den Diskussionsbeiträgern des Arbeitskreises Martha Caspers und Gerhard Schuck für anregende Diskussion. Mit den unerledigten Klagen zu Jahresbeginn (126.980) sind insgesamt 581,872 Fälle im Jahr 2008 vor einem Arbeitsgericht anhängig in Deutschland. Statistik aus der Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales: http: /  / www.bmas. de / portal / 38022 / 2009__09__15__statistik__der__arbeitsgerichtsbarkeit__2008. html (zuletzt besucht am 16.09.2010) Vgl. den internationalen Vergleich etwa bei Asakura u.a., Rōdōhō [Arbeitsrecht], 3. Aufl., S. 83; Ryūichi Yamakawa, Shogaikoku tono

114

Arbeitsverhältnissen vor Gericht gebracht worden.3 Wenn man den Unter Naoko Matsumoto

Bevölkerungszahl der beiden Länder mit einrechnet,4 wird in Deutschland das 1

als in Japan verhandelt. 5.006 Arbeitsgerichtsfällen Streitigkeiten aus Arbeitsverhältnissen vor Gericht gebracht worden.3 Wenn man den Unterschied der Bevölkerungszahl der beiden Länder mit einrechnet,4 wird in Deutschland das 140fache an Arbeitsgerichtsfällen als in Japan verhandelt. Grafik1:1:Fälle Fälleder dervor vorGericht Gericht gebrachen gebrachten Arbeitskonflikte Grafik Arbeitskonfliktein Deutschland und in Deutschland undJapan Japan2008 2008 454,892

5,006 Deutschland

Japan

Quelle: Siehe Fn. 2 und 3.

Quelle: Siehe Fn. 2 und 3. Vergleicht man das Verhältnis auf der Zivilrechtsebene, so wird die Diskrepanz zwischen Deutschland und Japan im Bereich der Arbeitsprozesse noch deutlicher, denn manist das Verhältnis„nur“ auf sechsmal der Zivilrechtsebene, so wird die die ProzessrateVergleicht in Zivilsachen in Deutschland höher als in Japan zwischen Deutschland und Japan im Bereich der Arbeitsprozesse noch deutliche

3

4

Prozessrate Zivilsachen ist [Arbeitsschlichtung in Deutschland „nur“ höher als in Japan hikaku kara mitainrōdō shinpan seido in Japansechsmal im internationalen Vergleich], in: Hōritsu no hiroba [Law Forum] Vol. 59, Nr. 7 (2006), 53–60. Christian Wollschläger zeigte durch seine historisch-vergleichenden s Diese Zahl besteht aus drei verschiedenen Verfahren. 1) als Zivilprozess 2.052 Fälle, 2)Untersuchungen als einstweilige Verfügungen (kari shobun)461 Fälle, 3) als Schlichtungsantrag am sich in Ja der Prozessrate in Zivilsachen, wie kontinuierlich Ausschuss für Arbeitsschlichtung (rōdō shinpan) vor dem Landgericht 2.493 Fälle. Nachkriegszeit trotz erst der2006 postwar economic expansion eine niedrige Prozessr Das letzte Verfahren–wurde in Japan eingeführt, wobei zwei– Beisitzer und ein Berufsrichter im Ausschuss am Landgericht die Streitigkeiten in Arbeitssachen gemeinsam schlichten sollen. Daten aus einem Bericht auf der Homepage des Supreme Court of Japan (zuletzt besucht am ): http: /  / www.courts.go.jp / about / siryo / jinsoku / hokoku / 03 / pdf / siryo155–238.pdf Die Bevölkerungszahl im Jahr 2008 war in Deutschland ca. 82.002.000, in Japan ca. 127.692.000. Pro 100.000 Einwohner klagen also in Deutschland ca. 554,74, in Japan 3 Zahl besteht dreiHomepage verschiedenen Verfahren.Amts 1) als 2.052 Fälle, 2) al ca. Diese 3,92 Personen. Datenaus aus der des statistischen desZivilprozess jeweiligen Staates Verfügungen (kari shobun)461 Fälle, 3) als Schlichtungsantrag am Ausschuss für Arbeitsschl (zuletzt besucht am 16.09.2010). http: /  / www.stat.go.jp / data / jinsui / 2009np / index. shinpan) vor dem Landgericht 2.493 Fälle. Das letzte Verfahren wurde erst 2006 in Japan eingefüh htm http: /  / www.destatis.e / jetspeed / portal / cms / Sites / destatis / Internet / DE / NaviBeisitzer und ein Berufsrichter im Ausschuss am Landesgericht die Streitigkeiten in Arbeitssach gation  / Statistiken   Bevoelkerung  / Bevoelkerungsstand  / Bevoelkerungsstand.psml schlichten sollen./Daten aus einem Bericht auf der Homepage des Supreme Court of Japan (zuletzt

http://www.courts.go.jp/about/siryo/jinsoku/hokoku/03/pdf/siryo155-238.pdf 4 Die Bevölkerungszahl im Jahr 2008 war in Deutschland ca. 82.002.000, in Japan ca. 127.692.000 Einwohner klagen also in Deutschland ca. 554,74, in Japan ca. 3,92 Personen. Daten aus d desstatistischen Amts des jeweiligen Staates (zuletzt besucht am http://www.stat.go.jp/data/jinsui/2009np/index.htm http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Statistiken/Bevoe elkerungsstand/Bevoelkerungsstand.psml

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Rechtliche Mittel zur individuellen Arbeitskonfliktlösung

(Grafik5 2). Christian Wollschläger zeigte durch seine historisch-vergleichenden stahat. Wesentlich extremer noch, so kann man alsowie über Wollschläger feststellen, tistischen Untersuchungen der Prozessrate in Zivilsachen, kontinuierlich sichhinaus in 6 Japan der Nachkriegszeit – trotz der economic expansion – eine niedrige sichindiese geringe Anwendung derpostwar Justiz im Bereich des Arbeitsrechts. 5 Prozessrate erhalten hat. Wesentlich extremer noch, so kann man also über Wollschläger hinaus feststellen, zeigt sich diese geringe Anwendung der Justiz im Bereich des Arbeitsrechts.6 Grafik 2: Prozessrate in Zivilsachen (Zahl der Grafik 2: Prozessrate in Zivilsachen (Zahl der angenommenen angenommenen erstinstanzlichen Zivilprozesse proEinwohner) 100.000 erstinstanzlichen Zivilprozesse pro 100.000 Einwohner) Japan (1999)

373.5

Taiwan (2002)

445.2

Poland (1999) Frankreich (1999) Sürkorea (2000) Deutschland (1999) England&Wales (2000)

891.7 1110.7 1528.8 2287 3002.7

USA (1997/2000)

5411.9

Die Grafik ist übernommen von HIROWATRARI (Fn. 6), S. 394. Die Grafik ist übernommen von Hirowatari (Fn. 6), S. 394.

So kann man aus aktuellen Untersuchungen entnehmen, dass Deutschlan

So kann man aus aktuellen Untersuchungen dass Deutschland im Ende inter- der Skala steh internationalen Vergleich in Hinsicht entnehmen, der Klageerhebung am einen nationalen Vergleich in Hinsicht der Klageerhebung am einen Ende der Skala steht Japan am anderen.7 Dies heißt jedoch nicht, dass es in Japan keinen Bedar

Konfliktlösungsmitteln gäbe. Die Zahl von 250.000 Meldungen wegen Rechtsstreitigk

Christian Wollschläger, Historical Trends of Civil Litigation in Japan, Arizona, Sweden, and Germany: Japanese Legal Culture in the Light of Judicial Statistics, in: Harald Baum (ed.), Japan. Economic Success and Legal System, Berlin / New York 1997, S. 104 f. Die 5 Prozessrate zwischen 1954 und 1973 sank sogar auf die Hälfte der Durchschnittsrate Christian Wollschläger, Historical Trends of Civil Litigation in Japan, Arizona, Sweden, and Ger im imperialen Japan (1889–1937). Die “contemporary development” ab 1974 bis 1994 Japanese Legal Culture in the Light of Judicial Statistics, in: Harald Baum (ed.), Japan. Economic Succe zeigeSystem, allerdings “a new pattern”, “rising demand civil justice” (ebd.). 1954 und 1973 sank sogar a Legal Berlin/New York d.h. 1997, S. 104f. Die for Prozessrate zwischen 6 Hälfte Auchder für Durchschnittsrate die Jahrhundertwende macht Hirowatari auf die im Vergleich mit Zivilsachen im imperialen Japan (1889-1937). Die “contemporary development” ab 19 noch vielallerdings größere Differenz der Arbeitsprozesse aufmerksam, auf einige 1994 zeige “a new pattern”, d.h. “rising demand for civil indem justice”er(ebd.). 6 Prozessraten in Arbeitsverhältnissen promit100.000 Auch für die Jahrhundertwende macht (Deutschland Hirowatari auf691.9 die imProzesse Vergleich Zivilsachen noch viel g Differenz der[1999], Arbeitsprozesse aufmerksam, indem1.6er[2000]) auf einige Prozessraten Einwohner Frankreich 280.7 [1999], Japan verweist. Dadurch ist in Arbeitsverhäl (Deutschland 691.9 Prozesse Einwohner [1999], Frankreich [1999], Japan 1.6 [ gleichzeitig zu erkennen, dasspro der100.000 Unterschied zwischen Deutschland und 280.7 Japan vor verweist. Dadurch ist der gleichzeitig zu erkennen, dass der Unterschied zwischen und Japan vo zehn Jahren – vor Einführung des Arbeitschlichtungssystems von 2006Deutschland – noch Jahren – vor der Einführung des Arbeitschlichtungssystems von 2006 – noch viel größer war. Seigo Hiro viel größer war. Seigo Hirowatari (Hg.), Hōsō no hikakuhō shakaigaku [ Juristen im (Hg.), Hōsō no hikakuhō shakaigaku [Juristen im rechtssoziologischen Vergleich], University of Tokyo rechtssoziologischen Vergleich], University of Tokyo Press 2003, S. 394. 2003, S. 394. 5

7

Vgl. etwa Yamakawa (Fn. 2), S. 53-60. Die vor Arbeitsgerichten in Deutschland anhängigen Prozesse 630,066 Fälle für das Jahr 2003, während vor dem englischen Employment Tribunal 172.322 (2004 französischen Conseil de prud’homme 164.033 (2000), vor United States District Court 19.912 (2004) Kla individuellen Arbeitskonflikten angenommen wurden. Auch die gesamte Zahl der Konfliktbetr einschließlich der Schlichtungsorgane in diesen Ländern reicht nicht an das Nieveau in Deutschland hera Summe der beim Employment Tribunal und ACAS (Advisory, Conciliation, and Arbitration S angenommenen Fällen in England beispielsweise macht ca. 260.000 (2002) aus. Vgl. eine chronolo

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und Japan am anderen.7 Dies heißt jedoch nicht, dass es in Japan keinen Bedarf an Konfliktlösungsmitteln gäbe. Die Zahl von ca. 250.000 Meldungen wegen Rechtsstreitigkeiten bei Arbeitsberatungsstätten im Jahr 2009 zeigt die große Zahl von potentiellen Klägern aus individuellen Arbeitskonflikten.8 Analog gilt auch für die Zeit um 1900, dass die Nichtexistenz einer speziellen Gerichtsbarkeit für individuelle Arbeitskonflikte nicht bedeuten muss, dass kein Bedarf dafür existierte,9 und dass nicht Alternativen zur gerichtlichen oder außergerichtlichen Verhandlung von Arbeitsstreitigkeiten genutzt werden konnten.

II. Deutschland um 1900 1. Aufbau der Gewerbegerichte nach dem Gewerbegerichtsgesetz (GGG) von 1890

Nach dem Gewerbegerichtsgesetz von 1890 (GGG)10 konnten Gewerbegerichte errichtet werden, um gewerbliche Streitigkeiten zwischen „Arbeitern“ und „ihren Vgl. etwa Yamakawa (Fn. 2), S. 53–60. Die vor Arbeitsgerichten in Deutschland anhängigen Prozesse waren 630,066 Fälle für das Jahr 2003, während vor dem englischen Employment Tribunal 172.322 (2004), vor französischen Conseil de prud’homme 164.033 (2000), vor United States District Court 19.912 (2004) Klagen zu individuellen Arbeitskonflikten angenommen wurden. Auch die gesamte Zahl der Konfliktbetreuung einschließlich der Schlichtungsorgane in diesen Ländern reicht nicht an das Nieveau in Deutschland heran. Die Summe der beim Employment Tribunal und ACAS (Advisory, Conciliation, and Arbitration Service) angenommenen Fällen in England beispielsweise macht ca. 260.000 (2002) aus. ������������������������������� Vgl. eine chronologisch-statistische Tabelle von Koshi Endo, Individual Labour Disputes in the UK. Issues concerning their Theoretical Concept and Survey of their History, in: Keiei ronshū vol. 54 / 1 (2006), S. 45. https: /  / m-repo.lib.meiji.ac.jp / dspace / bitstream / 10291 / 690 / 1 /  keieironshu_54_1_27.pdf (zuletzt besucht am 16 / 12 / 10). 8 Bei diesen Beratungsstätten gab es insgesamt ca. 1.14 Millionen Meldungen für den amtlichen Jahrgang 2009 / 2010, und darunter waren 247.302 Fälle wegen zivilrechtlicher Streitigkeiten. http: /  / www.mhlw.go.jp / stf / houdou / 2r98520000006ken.html (zuletzt besucht am 16 / 12 / 10) 9 Wie viele konkrete Fragen nach tatsächlicher Leistung der Gerichte man klären müsste, „bevor vage über Verrtrauensverlust und Entfremdung zwischen Recht und Arbeitswelt“ spekuliert wird, betont Willibald Steinmetz, Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002. S. 12–22, insbes. 12. 10 Gesetz, betreffend die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890. RGBl. 1890, S. 141–162. 7

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Arbeitgebern“ sowie zwischen Arbeitern desselben Arbeitsgebers zu entscheiden. Im Allgemeinen galten sie vor allem mit ihrer paritätisch besetzten Richterbank (§ 12 GGG) und mit dem hauptsächlich auf den Schlichtungszweck gerichteten Verfahren (§ 57 GGG) als Vorläufer heutiger Arbeitsgerichte, hatten aber drei charakteristische Unterschiede zu ihren Nachfolgern. Zum ersten waren Gewerbegerichte nach dem GGG vom Staat ziemlich unabhängig in dem Sinne, dass sie von einer Gemeinde durch ein Ortsstatut eingerichtet und finanziert werden sollten (§§ 1, 8 GGG). Ordentlichen Gerichten untergeordnet waren sie von Land und Reich also nicht. Mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit hatten Gewerbegerichte nur eine schmale Verbindung in der Berufungsmöglichkeit zum Landesgericht in Fällen mit über 100 Mark Wert des Streitgegenstands (§ 55 GGG). Zum zweiten galten sie als Laiengerichte in der Hinsicht, dass sie keinen Berufsrichter besaßen. Weder der Vorsitzende noch die aus der Verhältniswahl gewählten Beisitzer brauchten eine juristische Ausbildung (§§ 9–13 GGG). Der dritte Punkt betrifft ihre Kompetenz. Zwar konnten im Unterschied zu der Zeit der Fabrikengerichte im Rheinland, wo ein intensiver Kompetenzstreit mit Handelsgerichten durch Rechtsprechungen und Anweisungen verfolgt wurde,11 nun die im Verlagssystem arbeitenden Heimarbeiter bzw. Hausgewerbetreibende ausdrücklich ihre Klagerechte in Anspruch nehmen (§ 4 GGG). Einige Berufsgruppen waren aber immer noch von den Gewerbegerichten ausgeschlossen, wie Arbeiter im kaufmännischen Betrieb und Dienstboten, die unter der Regulierung der Gesindeordnung statt der Gewerbeordnung standen.12 Außerdem hatten Gewerbegerichte anfänglich keine ausschließliche Kompetenz für arbeitsrechtliche Angelegenheiten. Die theoretisch

11 Jürgen Brand, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Bd. 3: Die Rechtsprechung der Rheinpreußischen Gewerbegerichte von 1840 bis 1891 unter besonderer Berücksichtigung des Gewerbegerichts in Elberfeld (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; Bd. 232), Frankfurt 2008, S. 24–38. 12 Naoko Matsumoto, Justiznutzung durch Frauen vor dem Gewerbegericht um 1900. Das Beispiel Worms, ZNR 31 (2009), S. 30–51. Für Dienstboten war theoretisch etwa ein Beschwerdegang zur Polizei möglich. In Preußen konnten sie beim Schiedsmann als Vergleichsstelle einen Antrag zum Vergleich stellen.

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in Konkurrenz zu betrachtenden Amtsgerichte,13 Innungsschiedsgerichte14 und vor allem der in Preußen eingeführte Schiedsmann15 blieben aber, zumindest soweit es die schon untersuchten Quellen zeigen, irrelevant. Die Zahl der Gewerbegerichte im Reich, die schon um 1900 mehr als 300 betrug, stieg im Jahre 1913 auf 504.16 Die statistischen Daten der Gewerbegerichte kann man durch die 1895 gegründete Zeitschrift des Verbandes für Gewerbegerichte erfahren. Wir erfahren z. B. von der Statistik aus dem Jahr 1900, dass sie insgesamt über 84.000 anhängig gemachte Klagen im Jahr hatten,17 und rund 8.600 Beisitzer im selben Jahr 13 Nach dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 § 23 umfasste die Zuständigkeit der Amtsgerichte in Zivilsachen nicht nur „Streitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche“ mit Streitwert bis 300 Mark, sondern auch „Streitigkeiten zwischen Dienstherrschaft und Gesinde, zwischen Arbeitgebern und Arbeitern hinsichtlich des Dienst- und Arbeitsverhältnisses“. RGBl. Bd. 1877, Nr. 4, S. 41–76. § 108 der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund lautet: „Streitigkeiten der selbstständigen Gewerbetreibenden mit ihren Gesellen, Gehülfen oder Lehrlingen, die sich auf den Antritt, die Fortsetzung oder Aufhebung des Arbeits- oder Lehrverhältnisses, auf die gegenseitigen Leistungen während der Dauer desselben oder auf die Ertheilung oder den Inhalt der in den §§. 113. und 124. erwähnten Zeugnisse beziehen, sind, soweit für diese Angelegenheiten besondere Behörden bestehen, bei diesen zur Entscheidung zu bringen. Insoweit solche besondere Behörden nicht bestehen, erfolgt die Entscheidung durch die Gemeindebehörde. Gegen die Entscheidung der Gemeindebebörde steht den Betheiligten eine Berufung auf den Rechtsweg binnen zehn Tagen präklusivischer Frist offen; die vorläufige Vollstreckung wird aber hierdurch nicht aufgehalten. Durch Ortsstatut (§. 142.) können an Stelle der gegenwärtig hierfür bestimmten Behörden Schiedsgerichte mit der Entscheidung betraut werden. Dieselben sind durch die Gemeindebehörde unter gleichmäßiger Zuziehung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu bilden.“ (BGBl. des Norddeutschen Bundes Bd. 1869, Nr. 26, S. 245–282.) 14 ����������������������������������������������������������������������������������� Die Zuständigkeit der Innungen zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und ihren Lehrlingen sowie die Zuständigkeit der Innungs-Schiedsgerichte „erleiden durch dieses Gesetz keine Einschränkung.“ (§ 79 GGG). 15 Eine Fallstudie zeigt, dass Schiedsmänner eines Amtsgerichtsbezirks in Braunschweig nur verschwindend wenige Anträge wegen des Arbeitsvertragsbruchs erhielten. Vgl. Naoko Matsumoto, doitsu no chōtei. Preußen no Kankainin seido to Vechelde no unyō rei [ in Deutschland. Schiedsmannswesen in Preußen und die Praxis in Vechelde], Keisō-Shobō; 2010, S. 130f. Zur Entstehung der Institution vgl. Andreas Koch, Die historische Entwicklung des Schiedsmannswesens in Preußen von 1808 bis 1900, Berlin 2003. 16 Vgl. Alfred Söllner, Die Arbeitsgerichtsbarkeit im Wandel der Zeiten, in: Die Arbeitsgerichtsbarkeit: Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes, Neuwied / Kriftel / Berlin 1994, S. 1–17, hier S. 5–8. 17 Das Gewerbegericht. Monatsschrift des Verbandes Deutscher Gewerbegerichte, Jg. 6 (1901), Sp. 271–274. Hier auch Belege für die im Text folgenden statistischen Angaben.

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tätig waren.18 Nutzer der Gewerbegerichte waren überwiegend Arbeiter, die rund 90 % der Kläger stellten. Die mit Vergleich beendeten Fälle machen 44 % aller im selben Jahr erledigten Klagen aus. Nur knapp ein Fünftel (19 %) dagegen kam zu einem Endurteil. Fast 60 % aller Klagen wurden innerhalb einer Woche erledigt. Nur 0,3 % aller Klagen im ganzen Reich gingen in Berufung zum Landesgericht. Aus diesen statistischen Daten könnte man sagen, Gewerbegerichte waren um 1900 eine Standardinstitution zur Konfliktlösung im Bereich der Arbeitsverhältnisse, die sich von ihrer Tätigkeit her besonders in Hinsicht des Arbeiterschutzes als erfolgreich bezeichnen lassen (These 1). Zwar darf man nicht vergessen, dass der Aktivitätsgrad der einzelnen Gewerbegerichte äußerst unterschiedlich war; vor allem in kleineren Gemeinden tendierten sie eher dazu einzuschlafen.19 Es blieb aber die grobe Tendenz, dass die Gewerbegerichte in Deutschland, wie Steinmetz im Vergleich zur Entwicklung in England feststellte, „das Konfliktverhalten deutscher Arbeitnehmer und Arbeitgeber entscheidend veränderten“.20 Gewerbegerichte spielten in Deutschland um 1900 eine zentrale Rolle für die Erledigungen von individuellen Arbeitskonflikten, während in England eher das Modell des kollektiven Verhandelns herrschte. Wie schon Peter Schöttler über die rheinischen Fabrikengerichte in den 1840er Jahren und neulich Jürgen Brand für Elberfeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend belegt haben,21 fungierten auch Gewerbegerichte um 1900 eindeutig als Rechtsschutzorgane für Arbeiter, die hauptsächlich als Kläger vorkamen. Vor allem kann man anhand der Untersuchungen von Wollschläger und Steinmetz feststellen, dass die Prozessrate der Gewerbegerichte mit einem Viertel der damaligen Prozessrate in Zivilsachen überraschend hoch war22 und somit Gewerbegerichte in der ganzen Gerichtsverfassung eine unübersehbare Bedeutung hatten. 18 Ebd., Sp. 277–282. Die Zahl der Beisitzer war je nach Gewerbegericht unterschiedlich von der nach dem GGG vorgesehenen Mindestzahl vier bis 300 (Dortmund). 19 Siehe dazu Ursula Zimmermann, Die Entwicklung der Gewerbegerichtsbarkeit in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Bayern, Hamburg 2005, S. S. 417–472. 20 Steinmetz (Fn. 9), S.  300. Die Wahrscheinlichkeit der arbeitsrechtlichen Prozesse in Deutschland sei gegen Ende des 19.  Jahrhunderts „etwa zehn mal so hoch wie die Wahrscheinlichkeit für englische Arbeiter und Arbeitgeber, wegen einer Streitigkeit aus dem Arbeitsvertrag vor die Friedensrichter zitiert zu werden“ (321). 21 Peter Schöttler, Die rheinischen Fabrikengerichte im Vormärz und in der Revolution von 1848 / 49, ZNR 7 (1985), S. 160–180; Brand (Fn. 11). 22 Wollschläger ([Fn. 5], S.  138) berechnet die Zahl der erstinstanzlichen ordentlichen Prozesse in Zivilsachen pro 1.000 Einwohner im Deutschen Reich mit 32.0 (1896). Diese Prozessrate ist ca. 4,2 mal hoch wie die bei Gewerbegerichten, wenn 756 Klagen pro 100.000 Beschäftigten für dasselbe Jahr erhoben worden seien (Steinmetz [Fn. 9], S. 321 f.).

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2. Klägerschaft: Gewerbegericht Worms als Beispiel

Wurden Gewerbegerichte so gut genutzt, waren sie jedoch nicht für alle Berufsarten gleich brauchbar. Dass Dienstmädchen und damit eine erhebliche Zahl der weiblichen Arbeitskräfte von der Gesetzgebung daran gehindert waren, sich vor Gewerbegerichten Rechte zu verschaffen, habe ich schon erwähnt. Das Beispiel von Worms zeigt ferner, dass Klageerhebungen von Fabrikarbeitern im wirtschaftlichen Verhältnis der Stadt vergleichsweise selten waren. Worms war nämlich um 1900 gerade im Aufschwung wegen der Entwicklung der Lederindustrie, deren Fabrikarbeiter von ihrer Zahl her die Stadt dominierten.23 Von einem weiteren Beispiel der „auffällig geringe[n] Zahl der Klagen aus den modernen zentralisierten Betrieben“ berichtet Jürgen Brand für Elberfeld, dem „deutschen Manchester“. Auch auf Reichsebene seien ähnliche Phänomene für die zentralisierten Betriebe in verschiedenen Städten nach der Einführung des GGG berichtet worden.24 Ein wesentlicher Grund dafür dürfte die paternalistische Herrschaft der Unternehmer über ihre Arbeiter sein, früher etwa durch das intern gültige Statut, die Hausgerichtsbarkeit mit etlichen Strafbefugnissen gegenüber ihren Arbeitern,25 und gegen die Jahrhundertwende dann durch Wohlfahrtsmaßnahmen bzw. -einrichtungen. Bei der größten Lederfabrik in Worms, Cornelius Heyl, etwa reichten solche betriebliche Fürsorgeeinrichtungen von der Näh-, Bügel- und Kochschule, einer eigenen Entbindungsanstalt sowie der Anstellung von Wochenschwestern bis zur Anschaffung von Arbeiterwohnhäusern.26 Als Preis dafür unterlagen die Arbeiter „einer gewissen sozialen Kontrolle durch ihren Arbeitgeber“, der „ihnen unmissverständlich klarmachte, dass er eine Mitgliedschaft seiner Beschäftigten in den Freien Gewerkschaften oder in der Sozialdemokratischen Partei nicht wünschte“.27 Vor allem durch die Förderung des Eigenhauserwerbs blieben die Wormser Lederarbeiter trotz des im örtlichen Vergleich deutlich niedrigeren Lohnniveaus28 an Ort und Arbeitgeber gebunden. Wer nutzte dann die Gewerbegerichte am meisten? Das waren in Worms außer Tagelöhnern vor allem Maurer, Schreiner und Bäcker, also Handwerker (Grafik 3). Das Gewerbegericht Worms wurde eigentlich durch die starke Initiative der Handwerker Matsumoto(Fn. 12), S. 34 f. Brand (Fn. 11), S. 156. Brand (Fn. 11), S. 158. Hedwig Brüchert, Frauen- und Kinderarbeit in der Provinz Rheinhessen 1890–1918, unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Worms, in: Der Wormsgau 19 (2000), S. 103–128, hier 118 f. 27 Hedwig Brüchert, Soziale Verhältnisse und Arbeitsbedingungen in der Industriestadt Worms bis zum Ersten Weltkrieg, in: Gerold Bönnen (Hg.), Geschichte der Stadt Worms, Stuttgart 2005, S. 793–823, insbes. S. 802 f. 28 Brüchert (Fn. 27), S. 798. 23 24 25 26

Errichtung gebracht. Schon zwei Jahre vor der Errichtung von 1895 begann der Ortsverband 121

Rechtliche Mittel zur individuellen Arbeitskonfliktlösung

Deutscher Gewerbevereine zu Worms, ein Verband mehrerer gewerkschaftlicher Ortsvereine, seine Aktivität, indem er ein Gesuch an die Bürgermeisterei für einen Antrag an die

zur Errichtung gebracht. Schon zwei Jahre vor der Errichtung von 1895 begann der

Stadverordnetenversammlung zur Einführung des ein Gewerbegerichts schrieb. Das Interesse Ortsverband Deutscher Gewerbevereine zu Worms, Verband mehrerer gewerk-

schaftlicher Ortsvereine, er einauch Gesuch die Bürgermeisterei fand sich wohl nicht nurseine bei Aktivität, Arbeitern,indem sondern bei an Arbeitgebern, denn zum Gesuch

für einen Antrag an die Stadtverordnetenversammlung zur Einführung des Gewerbegerichts schrieb. Das Interesse fand sich wohl nicht nur bei Arbeitern, sondern auch 29 Dementsprechend wurde dieneben Beisitzerbank in Worms von beigelegt. bei Arbeitgebern, denn zum Gesuch waren 283 Unterschriften von hauptsächlich Arbeit29 30 nehmern auchbesetzt. 77 Unterschriften von Arbeitgebern beigelegt. Dementsprechend Von der Intitiative zur Gerichtsgründung bis zur Klägerschaft fällt in Handwerkern wurde die Beisitzerbank in Worms hauptsächlich von Handwerkern besetzt.30 Von Worms eine starke Teilnahme von Handwerkern auf. Das Gewerbegericht Worms war also der Intitiative zur Gerichtsgründung bis zur Klägerschaft fällt in Worms eine starke hauptsächlich Gericht für auf. Handwerker (These 2). Worms war also hauptsächlich Teilnahme vonein Handwerkern Das Gewerbegericht ein Gericht für Handwerker (These 2). waren neben 283 Unterschriften von Arbeitnehmern auch 77 Unterschriften von Arbeitgebern

Grafik 3: Berufsarten der Arbeiter als Kläger vor dem Gewerbegericht Worms Grafik 3: Berufsarten der Arbeiter als Kläger vor dem Gewerbegericht

31 Worms 1895–1905 (Gruppe ab 30 Fälle)31 1895-1905 (Gruppe ab 30 Fälle) Koch, Köch(in)

32

Tüncher

34

Sattler, Tapezier

37

Kutscher

38

Schneider

43

Zimmermann

42

Handarbeiter(in)

49

Ziegelarbeiter(in), Ziegler

50

Fabrikarbeiter(in)

54

Metzger

56

Schlosser

67

Hausbursche, Hausdiener

87

Kellner(in), Büffetdame

97

Fuhrknecht, Fuhrmann

136

Maurer

138

Bäcker u. Konditor

177

Schreiner

179

Tagelöhner

267 0

50

100

150

200

250

300

29 Matsumoto (Fn. 12), S. 35. 30 Japan Bei den Wahlen zwischen 1895 –und 1911 (im Abstand von jeweils vier Jahren) umfünf 1900 – Kodifikationszeit Rezeptionszeit III. wurden auf der Arbeitgeberbeisitzerbank für 18 Beisitzer jeweils nur ein Fabrikbeamter und ein „Gerbermeister“ gewählt (Ausnahme für das Jahr 1911 mit zwei Fabrikbeamtern und keinem Gerbermeister). Auf der Arbeitnehmerbeisitzerbank ebenfalls für 29 Matsumoto (Fn. 12), S. 35. 18 Beisitzer wurden allerdings immer fünf „Fabrikarbeiter“ (1911 sechs) gewählt. Vgl. 30 Bei den fünf Wahlen zwischen 1895 und 1911 (im Abstand von jeweils vier Jahren) wurden auf der Verwaltungs-Rechenschaft des Oberbürgermeisters der Stadt Worms, Arbeitgeberbeisitzerbank für 18 Beisitzer jeweils nur ein Fabrikbeamter und in: ein Stadtarchiv „Gerbermeister“ gewählt Worms,fürDienstbibliothek MDmit 12. zwei Fabrikbeamtern und keinem Gerbermeister). Auf der (Ausnahme das Jahr 1911 Arbeitnehmerbeisitzerbank 18 Beisitzer wurden allerdings immer fünf „Fabrikarbeiter“ (1911 31 Von Matsumoto (Fn.ebenfalls 12), S. 41,fürGrafik 2 entnommen. sechs) gewählt. Vgl. Verwaltungs-Rechenschaft des Oberbürgermeisters der Stadt Worms, in: Stadtarchiv Worms, Dienstbibliothek MD 12. 31 Von Matsumoto (Fn. 12), S. 41, Grafik 2 entnommen.

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III. Japan um 1900 – Kodifikationszeit – Rezeptionszeit Gerade um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert vollzog sich in Japan der größte Kodifikationsprozess in seiner Geschichte, wobei alle sechs wichtigsten Gesetzbücher stark von deutschen Gesetzgebungen beeinflusst wurden. Das heißt, Japan befand sich in dieser Zeit gleichzeitig in einer der größten Rezeptionsphasen überhaupt als Folge der Verwestlichungspolitik der 1868 durch die Meiji-Restauration entstandenen neuen Regierung. Das Interesse der Regierungseliten an Preußen / Deutschland war schon durch den Sieg gegen Frankreich und die Staatsgründung in der Form der Monarchie erweckt worden, der klare Transfer der Rechtsnormen begann jedoch erst mit der Ankündigung der Gründung des Parlaments und der dafür zu erlassenden Verfassung von 1881. Auch das Gerichtsverfassungsgesetz von 1890 entstand in dieser Konstellation. Der erste Entwurf wurde von dem deutschen Richter Otto Rudorff (1845–1922),32 einem der Rechtsberater im Justizministerium Japans, verfasst.33 Rudorff hatte in seinem Entwurf neben dem Handelsgericht das Gewerbegericht ausdrücklich als Spezialgericht vorgesehen. In der 1890 erlassenen Textfassung des Gesetzes sind beide Gerichte nicht mehr vorhanden. Wie es dazu kam, also wie und warum der Vorbehalt dieser Spezialgerichtsbarkeiten im Verlauf der Entwurfsbearbeitung gestrichen wurde, blieb bis jetzt unklar.34 Die Frage ist also, was die Gesetzgeber daran hinderte, 32 Ursprünglich wurde Rudorff 1894 als Dozent für Römisches Recht und öffentliches Recht an der Universität Tokyo in Japan berufen, schloss dann aber mit dem Justizminister Yamada einen Vertrag, worauf er „nach Anweisungen des Justizministeriums Fragen von Präsidenten der Gerichte und Staatsanwaltschaft bzw. Leiter der Abteilungen des Justizministeriums beantworten sollte und nach einzelten Mandaten Gerichtsverhandlungen zuhören, damit er den Richtern Rat geben und Gutachten dazu schreiben kann.“ (Übers. N. M.) Am Justizministerium war er 1885 bis 1890 angestellt. Vgl. Shihōshō Chōsabu [Untersuchungsausschuss des Justizministeriums] (Hg.), Otto Rudorffs Saibansho Kōsei Hō chūshaku narabini Saibansho Kōsei Hō giji sokkiroku (Nihon rippō shiryō zenshū Bd. 95) [Commentar zum Gerichtsverfassungsgesetze für Japan von Otto Rudorff: Stenographisches Protokoll zur Verhandlung des Untersuchungsausschusses der Gesetze (Sammlung Japanischer Gesetzgebungen Bd. 95], o.O. 1939 (Nachdruck Shinzan-sha; 2009), S. 1–5. Vgl auch Paul-Christian Schenck, Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens. Deutsche Rechtsberater im Japan der Meiji-Zeit, Stuttgart 1997, S. 281–287. 33 Hiroshi Asako u.a. (Hg.), Japanische Rechtsgeschichte, Seirin-shoin; 2010, S. 284. 34 Rudorff selbst schreibt in seinem Kommentar zum Gerichtsverfassungsgesetz nur, dass dieser Vorbehalt „jetzt mit Recht als Folge der allgemeinen Fassung des Art. 2 fallen gelassen“ sei. Dieser Artikel 2 lautet: „Die ordentlichen Gerichte entscheiden alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen; ausgenommen jedoch solche Sachen, welche durch Gesetz zur Zuständigkeit besonderer Gerichte verwiesen werden.“ Siehe

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Gewerbegerichte einzuführen. Weil das Thema in der Forschung bisher nur am Rande untersucht wurde,35 versuche ich hier anhand von zwei gedruckten Quellengruppen die Entwicklung des Einführungsprozesses näher zu betrachten. 1. Stenographische Protokolle

Die erste Quelle sind die stenographischen Protokolle zur Lesung des Entwurfes des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1887 (Meiji 20), die in der Gesetzgebungskommission im Justizministerium stattfand.36 Der in den Protokollen enthaltene Entwurf nennt mit einem etwas veralteten Ausdruck, aber noch ausdrücklich die Fachgerichte „in Streitsachen zwischen Fabrikherren und Arbeitern“ (Art. 5).37 Bei der ersten Sitzung der Kommission ging es hauptsächlich darum, ob ein Spezialgericht auch eine Strafgerichtsbarkeit ausüben dürfe. Taizō Miyoshi, Staatssekretär des Justizministeriums, der offenbar einen Änderungvorschlag vorgelegt hatte, meinte, man solle den „Arbeitergerichten“ oder Handelsgerichten die Strafbefugnis auf keinen Fall einräumen. Rinshō Mitsukuri, der frühere offiziell beauftragte Übersetzer des Code Civil, meinte dagegen, eine Strafgerichtsbarkeit könne ohne weiteres auch von Spezialgerichten ausgeübt werden, wenn sie durch ein Spezialgesetz geregelt sei. Andere Ausschussmitglieder schwankten. Einer fragte, ob es überhaupt Strafsachen in der Handels- bzw. Seegerichtsbarkeit gebe. Ein anderer war der Meinung, so ein Gericht würde sich dann nicht lohnen, wenn es z. B. eine Klage für Fälle nicht annehmen könne, wo es zwischen einem Fabrikbesitzer und Arbeiter zu einer Schlägerei komme und ein Gebäude beschädigt würde. Miyoshi, der Staatssekretär, verteidigt seine Meinung durch das Argument, Richter der Spezialgerichte sollten jeweils Personen aus den betreffenden Bereichen sein: Handelssachen von Händlern, Arbeitsverfahren von Arbeitern betreut werden. Spezialgerichte seien also ausgestattet mit Laien und nicht mit ausgebildeten Fachjuristen und hätten daher höchstens die Funktion von Schiedsrichtern. Einem solchen Gericht Rudorff, Commentar zum Gerichtsverfassungsgesetze für Japan, Bd. 1, S.  6  f. in: Shihōshō (Fn. 32), S. 2. 35 Zu Handelsgerichten gibt es eine Überlegung bei Takeshi Mizubayashi, Nihon „kindai hō“ ni okeru minji to shōji [Zivil- und Handelssachen im japanischen „modernen Recht“], in: Mitsuki Ishii u.a. (Hg.), Kindaihō no saiteii [Neuverortung des neuzeitlichen Rechts], Sōbunsha; 2001, S. 190–192. 36 Shihōshō (Fn. 32), S. 255–259. 37 Shunichirō Koyanagi, Hōmutoshokan shozō Saibanshokōseihō kanren bunsho no shōkai. Meiji 20nen doku-ei-futsugo gen-an (1) [Materials concerning the Law of the Constitution of the Courts of Japan: drafts of 1887 (Part 1)] , in: Dokkyō Hōgaku [Dokkyō Law Review] 76 (2008), S. 107–154. Zitat S. 117.

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könne keine Strafbefugnis erteilt werden, die Rechte und Körper von Menschen beträfe und ihnen Vermögen entziehen könne. Mitsukuri, der Veteran, meldete sich noch einmal und meinte, ein Gesetz müsse nicht die letzten Einzelheiten schildern. Am Ende der Diskussion wurde die Nichtänderung des Entwurfs beschlossen.38 In der zweiten Lesung wurde keine inhaltliche Diskussion mehr vorgenommen. Ein Mitglied fragte nur, wie die Spezialgerichte für Konflikte zwischen Fabrikherren und Arbeitern heißen sollten. Der Berichterstatter Komatsu meinte, er erinnere sich daran gerade nicht.39 Bei der Diskussion in der Kommission sind zwei Punkte auffallend: Erstens wurde der Strafgerichtsbarkeit ein hohes Maß an Respekt entgegengebracht. Miyoshi, Staatssekretär im Justizministerium, meinte, einem Laienrichter (von Spezialgerichten) dürfe keine Strafbefugnis erteilt werden, „die Rechte und Körper von Menschen beträfe und Vermögen entziehen könne“. Auch das Augenmerk der anderen Kommissionsmitglieder scheint auf die Strafgerichtsbarkeit und ihre Grenze gerichtet gewesen zu sein. Ihr Bild von Fachgerichten entsprach somit – zumindest in Bezug auf Gewerbegerichte – eher demjenigen des anfänglichen 19. Jahrhunderts, wo Gewerbegerichte noch eine disziplinierende und sanktionierende Kompetenz ausübten.40 Eine Frage von einem Mitglied nach der Kompetenz der Gewerbegerichte, ob sie eine Schadensersatzforderung wegen der Beschädigung eines Gebäudes aufgrund einer Schlägerei annehmen könnten, ist offenbar aus der Perspektive des Arbeitgebers gestellt und verrät gleichzeitig die Unkenntnis darüber, dass Gewerbegerichte in Deutschland schon damals überwiegend von Arbeitnehmern genutzt wurden. Als Zweites wird das fehlende Interesse unter den Kommissionsmitgliedern – gerade durch ihre Unkenntnis – deutlich. Die Einrichtung von Fachgerichten wie die Gewerbegerichte war für sie eine zweitrangige Frage. 2. Das Gerichtsverfassungsgesetz als Mittel für die Verhandlung zur Vertragsrevision

Die zweite Quellengruppe betrifft die außenpolitische Konstellation zur Entstehung des Gesetzes. Neuere, sich auf bisher unbekannte Quellen stützende Untersuchungen zeigen klarer, dass gerade das Gerichtsverfassungsgesetz unter starkem Einfluss der Verhandlungen zwischen Japan und den Großmächten um die Revision der sog. ungleichen Verträge stand, die den Großmächten das Konsularjurisdiktionsprivileg einräumten und kein Selbstbestimmungsrecht für Zolltarife auf der japanischen Seite 38 Shihōshō (Fn. 32), S. 259. 39 Ebd., S. 215. 40 Über die Strafbefugnis der älteren Gewerbegerichte vgl. Brand (Fn. 11), S. 58–61.

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beinhalteten.41 Für die Aufhebung des Ersteren brauchte die Regierung möglichst schnell ein neues europäisches Strafgesetzbuch und eine Strafprozessordnung, aber auch als Basis für diese Gesetzgebungen ein Gerichtsverfassungsgesetz. Diese außenpolitische Konstellation zeigt sich in der Tatsache, dass Rudorffs Originalentwurf, der jetzt als verschollen gilt, zuerst in der im Juni 1886 gegründeten Gesetzgebungskommission im Außenministerium und nicht in der schon erwähnten gleichnamigen Kommission im Justizministerium eingebracht wurde, um ihn vor allem durch drei europäische Rechtsberater – Gustave Émile Boissonade (1825–1910), William Montague Hammett Kirkwood (1850–1926) und eben Otto Rudorff überprüfen zu lassen.42 Der von ihnen bearbeitete Entwurf wurde dann, zusammen mit der englischen und französischen Übersetzung,43 1887 zur Verhandlung der Vertragsrevision den Vertragspartnerländern vorgelegt. In der Verhandlung wurde in erster Linie über die Frage diskutiert, ob man neben japanischen auch ausländische Richter in japanischen Gerichten einsetzen sollte, um Nichtjapaner von ihnen richten zu lassen.44 Erst nach dieser auswärtigen Verhandlung wurde der Entwurf zu den vorhin vorgestellten Lesungen im Justizministerium gebracht.45 Nun, nach Abschluss der außenpolitischen Verhandlungen, war die politische Bedeutung dieser ausschließlich von Japanern getragenen Lesungen jedoch eher gering. Auch waren die Teilnehmer an den Lesungen über den Inhalt der vorausgehenden Diskussion offenbar kaum informiert, außer dem Staatssekretär Miyoshi, der als Kommissionsmitglied des Außenministeriums bei der Bearbeitung des Originalentwurfs beteiligt gewesen war.46 Da die Diskussion jener drei europäischen Rechtsberater für die Bearbeitung des Originalentwurfs offenbar nicht protokolliert wurde,47 wissen wir heute auch nichts von den Argumenten der einzelnen Diskussionsteilnehmer. Dass die Debatte 41 Vgl. Akihisa Fujiwara, Nihon jōyaku kaisei-shi no kenkyū [Untersuchungn zur Geschichte der Revision der Verträge in Japan], Yūshōdō; 2004. Shunichirō Koyanagi, Otto Rudorff ni tsuite. Tokyo daigaku doitsuhō kōshi kara shihōshō komon Saibansho Kōseihō kiansha he [Otto Rudorff (1845–1922): from lecturer in German law at University of Tokyo to legal counsel to the Ministry of Justice], in: Dokkyō Hōgaku [Dokkyō Law Review] 73 (2007), S.  117–177. So auch Schenck (Fn. 32), S.  283: „Bezeichnenderweise wurden die Kodifikationsarbeiten vornehmlich als Gebiet der Außen- und damit Vertragsrevisionspolitik gesehen.“ 42 Koyanagi, Rudorff (Fn. 41), S. 161. Vgl. auch Wilhelm Röhl (ed.), History of Law in Japan since 1868, E. J. Brill; 2005, S. 737. 43 Abgedruckt in Koyanagi, Materials (Fn. 37); Fortsetzungen in vol. 77 (2008), S. 366– 335; vol. 79 (2009), S. 212–183. 44 Vgl. Fujiwara (Fn. 41) mit vielen Quellen zur Verhandlung der Vertragsrevision im Bezug auf den Entwurf des Gerichtsverfassungsgesetzes. 45 Koyanagi, Rudorff (Fn. 41), S. 123. 46 Vgl. Koyanagi, Rudorff (Fn. 41), S. 123, 161. 47 Vgl. Koyanagi, Materials (Fn. 37), S. 110.

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manchmal sehr kontradiktorisch verlief, kann man einem Brief von Rudorff, dem Verfasser des Originalentwurfs, entnehmen. Er schrieb, dass die „… drei Europäer von theilweise entgegengesetzten Grundanschauungen ausgingen und daß die beiden anderen [NM: Boissonade und Kirkwood] wenn möglich die ihrigen in das System des Entwurfes hineinbringen wollten, natürlich auf Kosten jedes Systems“.48 Was Rudorff hier darstellte, betraf gerade ihn selbst. Dass Rudorff als Deutscher überhaupt mit der Verfassung des Entwurfs beauftragt worden war, war kein Zufall. Japan stand gerade an der Wende der Rezeption vom französischen zum deutschen Recht. Rechtsinstitutionen wie „conciliation“ (Schlichtung vor dem Friedensrichter), Avocat, alte Straf- und Strafverfahrensgesetze, die in den 1870er Jahren hauptsächlich von dem französischen Rechtsberater Boissonade konzipiert worden waren, wurden ab Mitte 1880 nach und nach durch deutsche Rechtsverfahren ersetzt.49 Bemerkenswert ist dabei, dass Rudorff sich offenbar nicht besonders für die Einführung der Fachgerichte einsetzte. In einem für das Justizministerium verfassten Gutachten von September 1885 schrieb er nichts über Fachgerichte.50 Erwähnt wird dort in dem Zusammenhang nur eine Kompetenz der Friedensgerichte für Arbeitskonflikte, deren Funktionieren er „aus seiner eigenen Erfahrung als Friedensrichter im Rheinland“ bestätigen könne.51 Im nächsten Jahr, kurz vor jener Diskussion mit Boissonade und Kirkwood im Außenministerium, erwähnte Rudorff in einer Rede zwar Gewerbegerichte, stellte sie aber als eigentlich französische Erfindung vor, die zuerst nur im Rheinland, dann in ganz Preußen eingeführt worden seien.52 Dann weist er darauf hin, dass der Entwurf der Reichsregierung zur reichsweiten Einführung von 1878 allerdings abgelehnt worden sei. Das sagte er ohne Bewertung, aber eine Passion für die Einführung der Gewerbegerichte in Japan ist hier nicht spürbar. Zu Handelsgerichten nahm Rudorff eine noch klarere Stellung ein, indem er feststellte, dass sie in Deutschland aufgrund der im Rheinland gemachten

48 Brief vom 8. März 1887. Zitat aus Schenck (Fn. 32), S. 285, Fn. 81. 49 Vgl. etwa Asako (Fn. 33), S. 269–281, 284–288. Vgl. auch Naoko Matsumoto, Transfer europäischer Rechtsnormen nach Japan, in: Europäische Geschichte Online (EGO). http: /  / www.ieg-ego.eu / matsumoton–2010-de (zuletzt besucht am 08.01.2011) 50 Das Gutsachten ist abgedruckt in Koyanagi, Rudorff (Fn. 41), S. 165–177. 51 Koyanagi, Rudorff (Fn. 41), S. 168–169. Rudorff wurde 1872 zum Friedensrichter in Baumholder ernannt, dann zum Richter eines Amts- und Landgerichts in Düsseldorf, Cassel und Hannover. Vgl. Ebd., S. 126. 52 Koyanagi, Otto Rudorff bunsho no shōkai. „Rudorff-shi Enzetsu“ (Meiji 19 nen 6 gatsu) etc. ����������������������������������������������������������������������� [Materials concerning the Law of the Constitution of the Courts of Justice (1890) drafted by Otto Rudorff ], in: Dokkyō Hōgaku [Dokkyō Law Review] 74 (2008), S. 157–200, insbes. 170, 176 f.

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schlechten Erfahrungen abgeschafft worden seien. Dass Rudorff die französische Abstammung der beiden Sondergerichte erwähnt, ist wahrscheinlich kein Zufall.53 3. Sozialer und historischer Hintergrund

Neben fehlenden Arbeiterschutzgesetzen, auf die man sich bei einer Klageerhebung hätte stützen können,54 sind hinter dem politischen Scheitern der Einführung der Gewerbegerichte sozialökonomisch mehrere Gründe denkbar. Als grundsätzliche Ausgangslage Japans ist vor allem die noch meist landwirtschaftlich orientierte Wirtschaft zu erwähnen. In Japan begann erst in den mittleren 1890er Jahren die industrielle Revolution, die erste Gewerkschaft wurde erst 1897 gegründet.55 Wir haben allerdings schon oben im zweiten Teil des Aufsatzes gesehen, dass beim Beispiel von Worms und Elberfeld die Fabrikarbeiter der Großunternehmen nicht zu den typischen Nutzern der Gewerbegerichte zählten. Es soll auch nicht vergessen werden, dass die ersten Gewerbegerichte in Deutschland in der Rheinbundzeit, also lange vor der industriellen Revolution entstanden sind, geschweige denn ihre Vorläufer in Frankreich, die conseils de prud’hommes. Was man als mögliche soziale und (rechts-)historische Hintergründe für die Nichtrezeption der Gewerbegerichte nennen könnte, möchte ich abschließend anhand einiger Ergebnisse neuerer Untersuchungen darlegen. a) Justizstatistik: Die überraschend hohe Zahl der vor Gericht gebrachten Zivilkonflikte in den 1880er Jahren könnte das im vergleichenden Recht gängige Bild Japans als

53 ��������������������������������������������������������������������������������������� Er riet auch von anderen französischen Rechtsinstitutionen, beispielsweise der Schlichtungsfunktion der Friedensrichter, ab und empfahl die Einführung des deutschen Rechtssystems. Koyanagi, Materials (Fn. 37), S. 113 f. 54 Das erste Arbeiterschutzgesetz in Japan war das Fabrikgesetz von 1911. Vgl. etwa Tatsuo Yano, Rōdōhō no keisei to tenkai [Gestaltung und Entwicklung des Arbeitsrechts], in: Toshitani / Mizubayashi / Yoshii (Hg.), Hō ni okeru kindai to gendai, Nihon-hyōronsha [Bedeutung der Neuzeit und Gegenwart für die Rechtsgeschichte Japans]; 1993, S. 291–313. 55 �������������������������������������������������������������������������������� Zur Gründungszeremonie dieser Gewerkschaft für Metallarbeit wurde der Ex-Staatssekretär im Justizministerium Miyoshi als Ex-Präsident des höchsten Gerichtshofs eingeladen. Vgl. Kazuo Nimura, Rōdō ha shinsei nari, ketsugō ha dorzoku nari. Takano Fusatarō to sono jidai Takano Fusatarō [Takano Fusatarō und seine Zeit],Iwanamishoten; 2008, S. 197–200.

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ein Land der Prozessverdrossenheit56 modifizieren.57 Aus welchem Grund auch immer,58 Millionen (Grafik 4). Eine allgemeine Scheu vor Prozessen kann deshalb als Hintergrund für stieg die Zahl der von Frankreich rezipierten Conciliations vor Friedensgerichten (kandas Desinteresse an der Einführung der Gewerbegerichte nicht gelten. kai) im Jahr 1883 auf über eine Million, die Gesamtzahl der Zivilgerichtsfälle betrug damit ca. 1,2 Millionen (Grafik 4). Eine allgemeine Scheu vor Prozessen kann deshalb als Hintergrund für das Desinteresse an der Einführung der Gewerbegerichte nicht gelten. Grafik 4: Erledigte Fälle in Zivilsachen (erste Instanz) in Japan 1875-1890 1,400,000 1,200,000 1,000,000 800,000 600,000 400,000 200,000 0 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890

Kankai (conciliation)

ordentl. Prozesse

Grafik von Katsuta (Fn.57), 57),S. S. 55 vereinfacht. DieDie Grafik ist ist von Katsuta (Fn. 55 übernommen übernommen und etwas etwas vereinfacht.

56 Seit der Modernisierungsthese von Takeyoshi Kawashima, Dispute Resolution in Die nächsteJapan, Fragein:wäre, obTaylor Arbeitnehmer damals diese Cambridge kankai (conciliation) Comtemporary Arthur von Mehren (Hg.), gerade Law in Japan, 1963, S. 41–72 setzt sich die Diskussion um mögliche Gründe für die niedrige Pro- sich diese als Mittel zur Konfliktlösung nutzten. Anhand der Untersuchung Katsutas lässt zessrate in Japan lange fort. Vgl. John O. Haley, The Myth of the Reluctant Litigant, in: Frage verneinen. Von den eine Million Anträgen im Jahr 1883 waren nämlich 87 % der Fälle Journal of Japanese Studies 4 (1978), S. 359–390. J. Mark Ramseyer / Minoru NakaGeldangelegenheiten, d.h. Gelddarlehen, Kaufpreisforderung undinDepositen. Die restlichen zato, The Rational Litigant: Settlement Amounts and Verdict Rates Japan, in: Jourof Legal Miete Studiesbzw. 18, 2 Leihe (1989),(3,4 S. 263–290; Christian Wollschläger, Die historische durch Reis Fällenalbetrafen %), Wertpapiere (2,5 %), Naturalleistung Entwicklung der Zivilprozeßhäufigkeit in Japan und Europa seit dem 19. Jahrhundert: (2,4 Kawashimas %), Kauf bzw. eines Grundstücks (1,7 %), Personalsachen (1,0of% inklusive TheseBelastung im internationalen Vergleich, in: Hikaku Hō Zasshi [Review Comparative Law], 27 / 2 (1993), 1–33; Ders., Trends (Fn. 5). Eine Zusam- Gerichten Scheidungen) und Gebäude (0,7 %) S.  (Grafik 5). Auch Zivilprozesse in neue ordentlichen menfassung ergänzt durch eigene, differenzierende Untersuchungsergebnisse bei Takao 59 im selben eine gleiche mitRate 86 and % Geldangelegenheiten. Tanase, Jahr Soshōzeigen riyō to kindaika kasetsuStruktur [Litigation Hypothesis of Modernisa-Die extrem tion],Justiznutzung in: Yoshimitsu im Aoyama u.a. (Hg.), Minji soshōhō riron no kōchiku [TheZivilsachen geringe Bereich der Arbeitsverhältnisse ist aratana also auch in den New Era of Civil Procedural Theories in Japan] Yūhikaku; 2001, S. 287–322. festzustellen. Sich im Rechtsweg Recht zu verschaffen, war und ist in Japan besonders für 57 Aritsune Katsuta, Funsō shorihō keiju no ichidanmen. Kankai seido ga imi suru mono Arbeitnehmer [Kankai alsschwierig. Beispiel der Rezeption der europäischen Konfliktlösungsmittel], in: Jurisprudentia 1 (1990), S. 6–69. Dagegen versteht Wollschläger ([Fn. 5] , S. 101) die extrem hohe Prozesswelle als Folge der spezifischen Probleme der Meiji-Reform betreffend das Grundstückseigentum und die landwirtschafliche Steuer, die als ein einmaliges Ereignis betrachtet werden solle. 58 Genannt wird die sog. Matsukata-Deflation, also eine Rezession um diese Zeit. Katsuta (Fn. 57), 59 Katsuta (Fn. S. 61. 57), S. 57. Vergleiche Steinmetz (Fn. 9), S. 188, Grafik 2.2. Der Prozessanteil der Klagen unter den Master and Servant Acts zu summarisch verhandelten Fällen vor Friedensgerichten in England & Wales war bis 1875 noch 2.25%, sank und blieb dann auf dem Niveau von 1%.

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Die nächste Frage wäre, ob Arbeitnehmer damals gerade diese kankai (conciliation) als Mittel zur Konfliktlösung nutzten. Anhand der Untersuchung Katsutas lässt sich diese Frage verneinen. Von den eine Million Anträgen im Jahr 1883 waren nämlich 87 % der Fälle Geldangelegenheiten, d.h. Gelddarlehen, Kaufpreisforderung und Depositen. Die restlichen Fälle betrafen Miete bzw. Leihe (3,4 %), Wertpapiere (2,5 %), Naturalleistung durch Reis (2,4 %), Kauf bzw. Belastung eines Grundstücks (1,7 %), Personalsachen (1,0 % inklusive Scheidungen) und Gebäude (0,7 %) (Grafik 5). Auch Zivilprozesse in ordentlichen Gerichten im selben Jahr zeigen eine gleiche Struktur mit 86 % Geldangelegenheiten.59 Die extrem geringe Justiznutzung im Bereich der Arbeitsverhältnisse ist also auch in den Zivilsachen festzustellen. Sich im Rechtsweg Recht zu verschaffen, war und ist in Japan besonders für Arbeitnehmer schwierig. Grafik 5: Erledigte Fälle der conciliation nach Streitgegenstand 1883 1.7% 2.4%

1.0%

3.4% 2.5%

0.7%

1.2%

Geldangelegenheiten Miete bzw. Leihe Wertpapier Naturalleistung durch Reis Grundstück Personalsachen Gebäude Sonstige 87.0%

Die Grafik ist von Katsuta (Fn. 57), S. 56 übernommen.

Die Grafik ist von Katsuta Fn. 57), S. 56 übernommen. b) Alternativen: Was konnte dann damals ein Arbeitnehmer für die Durchsetzung seines Rechts unternehmen, wenn Klageerhebung für ihn nicht üblich war? Alternativen zumb) Rechtsweg in Japan waren wohl mindestens in einigen Branchen Aufstände, Alternativen: Was konnte dann damals ein Arbeitnehmer für die Durchsetzung seines Rechts unternehmen, wenn Klageerhebung für ihn nicht üblich war? Alternativen zum Rechtsweg waren wohl mindestens in 9), einigen die vor allem im 59 Katsuta in (Fn.Japan 57), S. 57. Vergleiche Steinmetz (Fn. S. 188,Branchen Grafik 2.2.Aufstände, Der Prozessan60 teil der unter den Mastergehäuft and Servant Acts zu summarisch verhandelten Als der erste Streik Fällen im modernen Sinne Bergbau inKlagen den 1870er Jahren vorkamen. vor Friedensgerichten in England & Wales war bis 1875 noch 2.25%, sank und blieb 61 wird dann für auf dasdem Jahr 1886vonder Niveau 1%.Arbeitskampf von über 100 Spinnerinnen berichtet. Solche zentralisierten Betriebe gehörten aber in Japan vor der industriellen Revolution noch zur Ausnahme. Die Arbeitnehmer in den 1880er Jahren bestanden noch hauptsächlich aus Handwerkern.62 c) Handwerker und Dienstboten: Der Arbeiterbewegungs-Historiker Sumiya betont

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die vor allem im Bergbau in den 1870er Jahren gehäuft vorkamen.60 Als der erste Streik im modernen Sinne wird für das Jahr 1886 der Arbeitskampf von über 100 Spinnerinnen berichtet.61 Solche zentralisierten Betriebe gehörten aber in Japan vor der industriellen Revolution noch zur Ausnahme. Die Arbeitnehmer in den 1880er Jahren bestanden noch hauptsächlich aus Handwerkern.62 c) Handwerker und Dienstboten: Der Arbeiterbewegungs-Historiker Sumiya betont dabei die schwache Autonomie der Handwerker gegenüber der Obrigkeit.63 Sie hätten keinen vergleichbar starken Widerstand gegen die Auflösungspolitik der Meiji-Regierung geleistet, wie es bei Zünften in Europa der Fall gewesen sei. Die im frühneuzeitlichen Japan entstandene Nakama („Genossenschaft“) als eine Art von Zunft stand schon unter einer starken Regulierung. Der Shōgunat (Bakufu) der EdoZeit (1603–1868) wies im frühen 18. Jahrhundert für jede Betriebsart die Gründung der Nakama an, um Warenqualitätssicherung, Preisregulierung und Disziplinierung zu sichern.64 Die starke Regulierung durch die Obrigkeit ging anscheinend mit einer schwachen Autonomie der Zünfte einher. Städte in der Edo-Zeit wurden von Samurai verwaltet und nicht von Handwerkern oder Kaufleuten. Der entscheidende Unterschied zu Deutschland scheint darin zu liegen, dass es keine autonome Gerichtsbarkeit der Nakama gab, die mit dem Zunftgericht in Deutschland verglichen werden könnte. Auch das Gesinde in der Edo-Zeit hatte kein Klagerecht gegen den Dienstherrn;65 eine Klage von einem Dienstboten gegen seinen Dienstherrn wegen nicht bezahltem 60 So z. B. in der Ikuno-Kupfermine 1870, der Sado-Goldmine 1872, der TakashimaKohlengrube 1872 und 1878, dem Innai-Bergwerk 1878 und der Miike-Kohlengrube 1883. Vgl. Mikio Sumiya, Nihon chingin rōdōshiron. Meiji-ki ni okeru rōdōsha kaikyū no keisei [A history of wage labor in Japan: The formation of the laboring class of early Meiji], 2. Aufl., University of Tokyo Press; 1974. 61 Es geht um einen Streik der gut einhundert Fabrikarbeiterinnen der Amemiya-Seidenspinnerei in Kōfu gegen die Lohnsenkung und Arbeitszeitverlängerung von 14 auf 14½ Stunden pro Tag. Vgl. Tsunehisa Kojima, Nihon no rōdōundō [Arbeiterbewegung in Japan], Kawaide-Shobō; 1987, S. 35 f. 62 Die Zahl der Fabrikarbeiter betrug 1877 noch 111,791, während sie nach zehn Jahren auf 457,913, also auf das Vierfache wuchs. Vgl. Kojima (Fn. 61), S. 43. 63 Sumiya (Fn. 60), S. 35 f. Vgl. auch Kazuo Nimura, Nihon rōshi kankei no rekishiteki tokushitsu [Historischer Charakter der Arbeitsverhältnisse in Japan], in: Yukiyasu Nishioka (Hg.), Nihon no rōshi kankei no tokushitsu [Charakter der Arbeitsverhältnisse in Japan], Ochanomizu-Shobō; 1987, S. 77–95, insbes. 82–86. Nimura behauptet die fehlende Tradition der „craft union“ in japanischen Arbeitsverhältnissen. Diese These wurde auch neulich wieder zusammengefasst von Yano Fn. 54), S. 291–313, bes. 293. 64 Asako (Fn. 33), S. 182. 65 Es sei denn, sie verklagten ihre eigenen Herren wegen schwerer Verbrechen gegenüber der Obrigkeit. Asako (Fn. 33), S. 189.

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Gehalt wurde also vom Gericht nicht angenommen. Die Kündigung des Vertrags durfte nur von der Seite des Herrn vorgenommen werden.66

IV. Fazit Was die quantitative Nutzung rechtlicher Mittel bei individuellen Arbeitskonflikten angeht, scheint der anfangs vorgestellte heutige Unterschied zwischen Deutschland und Japan auch vor über 100 Jahren existiert zu haben. Gewerbegerichte in Deutschland um 1900 kann man, trotz des unterschiedlichen Aktivitätsgrades im Einzelnen, insgesamt – auch im internationalen Vergleich – als eine für den Arbeiterrechtsschutz durchaus erfolgreiche Institution betrachten. Mit ca. 500 Gewerbegerichten im ganzen Reich (1913) und mit einer eigenen Fachzeitschrift des Verbandes der Gerichte fungierten sie als das Standard-Konfliktlösungsorgan für Arbeitsverhältnisse (These 1). Die Gewerbegerichte wurden aber nicht von allen Arbeitnehmern genutzt. Das Beispiel des Wormser Gewerbegerichts zeigt, dass es meistens von Handwerkern, Fuhrleuten und Tagelöhnern genutzt wurde und nicht von den Fabrikarbeitern der Lederindustrie, die von der Zahl her die größte Gruppe der in Worms erwerbstätigen Einwohner ausmachten. Der paternalistische Schutz und die Kontrolle der Arbeiter durch die Großunternehmen hielten sie davon ab, das rechtliche Mittel (Klage vor dem Gewerbegericht) zu suchen. Dienstmädchen, die typische Arbeitsweise für weibliche Erwerbstätige, waren ohnehin vom Klagerecht ausgeschlossen. Das Gewerbegericht Worms war also hauptsächlich ein Gericht für Handwerker (These 2). Zur gleichen Zeit in Japan war die Einführung der Gewerbegerichte in einem Regierungsentwurf zum Gerichtsverfassungsgesetz vorgesehen worden, wurde aber im Verlauf der Bearbeitung des Entwurfs gestrichen. Deutschland und Japan um 1900 haben also, im Gegensatz zu mehreren Gemeinsamkeiten in der Verfassungsgeschichte wie die neue Staatsgründung, konstitutionelle Monarchie und Kodifikationsarbeit, keine gemeinsame oder vergleichbare Entwicklung im Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit. Dass Japan in der späteren Phase der Kodifikationsarbeit hauptsächlich deutsch / preußische Gesetze und Rechtsinstitutionen übernahm, änderte daran nichts (These 3). Die Frage, wie die niedrige Justiznutzung durch Arbeiter in Japan zu klären ist, bleibt offen. Die oben aufgeführten Quellen und Literatur erlauben noch keine durchweg überzeugende Erklärung. Insgesamt lässt sich immerhin feststellen, dass das Gewerbegericht um die Jahrhundertwende angesichts des Großprojekts der Regierung zur Vertragsrevision kein großes Interesse von Seiten der japanischen Gesetzgebebungsbürokraten anziehen konnte. Die Nichtexistenz einer Massenarbeiter­bewegung 66 Asako (Fn. 33), S. 189 f.

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musste dagegen kein Grund für das Desinteresse an der Arbeitsgerichtsbarkeit sein. Der Kontrast zwischen der relativ hohen Nutzung der Zivilgerichtsbarkeit durch die Bevölkerung und der extrem seltenen Einschlagung des Rechtswegs zur Lösung von Arbeitskonflikten deutet möglicherweise darauf hin, dass Gerichte in Japan kein attraktives Mittel der Konfliktlösung für Arbeitnehmer waren (Hypothese 1). Die traditionell fehlende Autonomie der Handwerker lag dieser Tendenz in Japan wohl als entscheidender Unterschied zu Deutschland zugrunde (Hypothese 2).

Jürgen Brand

Das geleugnete Erbe Ancien Régime, modernes Arbeitsrecht und Gewerkschaftsbewegung “The period, that we have come to call the Industrial Revolution was not the radical break with the past, that we sometimes believe it to have been.” Douglass C. North1

I. Modernes Arbeitsrecht und Ancien Régime 1. Die unhistorische Rechtsschule

Die Französische Revolution und die sog. Industrielle Revolution sind die beiden Ereignisse, die auf Wirtschaft und Gesellschaft bis heute in einem kaum zu überschätzenden Umfang eingewirkt haben und den Gang der Geschichte bestimmten. Während die politische Revolution in allen Facetten erforscht und dokumentiert ist, und das gilt auch und in besonderem Maße für die Gesetzgebung und die sie begleitenden politischen und rechtstheoretischen Debatten, bleibt die rechtliche Steuerung in der Ära des umfassenden technischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels der „Industriellen Revolution“ in ein tiefes Dunkel gehüllt. Es durchaus problematisch, ob es sich bei der Entwicklung der Wirtschaft im 19. Jahrhundert wirklich um eine totale Umwälzung im Sinne einer Revolution handelte. Offensichtlich ist dagegen, daß die ungeheure Steigerung der Produktion, die vorangetriebene Arbeitsteilung und die Ausdifferenzierung der Fertigung gleichzeitig zu einem exponentiell wachsenden Arbeitsmarkt führten. Beide, die gestiegene Produktion und der massenhafte Einsatz der Arbeitskräfte, sind ohne ein begleitendes und steuerndes Regelwerk undenkbar. Aber seltsamerweise existieren neben den Fabrikordnungen für die geschlossenen Betriebe, also für die „Fabriken“ im heutigen Sprachgebrauch, kaum Zeugnisse über die rechtliche Steuerung der gewerblichen Arbeit. Selbst ausgewiesene zeitgenössische Fachleute in Verwaltung und Wissen1

Douglass C. North, Structure and Change in Economic History, New York 1981, p. 162.

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Jürgen Brand

schaft bekannten im 19. Jahrhundert freimütig, ihnen sei die entsprechende Praxis auf diesem Felde unbekannt. Bezeichnenderweise gingen sie aber davon aus, daß es in der gewerblichen Produktion Regeln gebe, die wir heute Arbeitsrecht nennen.2 Diese Unkenntnis dauert im Wesentlichen bis heute an. Paradoxerweise sind wir über die mittelalterlichen Rechtsverhältnisse im Arbeitsleben besser informiert als über diese Zeitperiode, die unsere Urgroßeltern noch erlebt haben. Nur durch ganz wenige Forschungen über das geltende Arbeitsrecht im 19. Jahrhundert ist hier und da Licht in dieses Dunkel gefallen. Angesichts der fehlenden Quellen hat es durchaus den Anschein, als habe man sich das moderne Arbeitsrecht in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den Ministerien und den ersten Gewerbe- und Arbeitsgerichten „ausgedacht“. Oder ist es etwa, wie bei Moses auf dem Berge Sinai, für alle Beteiligten vom Himmel gefallen? Der Titel der Tagung, der diesem Sammelband zugrunde liegt, lautet „Arbeit und Recht im 19. und 20. Jahrhundert“. In der Tagungsgliederung wird eingangs „Arbeit“ definiert, aber die Kennzeichnung oder Umschreibung dessen, wie „Recht“ im Bereich der Arbeit ausgestaltet war und ob es für diesen Bereich im 19. Jahrhundert überhaupt existierte, fällt aus. Joachim Rückert sagt in seinem Thesenpapier vom 23. März 2010: „Sich Recht verschaffen meint die Durchsetzung rechtlicher Regeln.“ Er spricht dort auch von „rechtlichen Standards“. Welches Recht wollten sich denn die zeitgenössischen Protagonisten verschaffen bzw. welche Standards wollten sie durchsetzen? Anders gefragt: Gab es vor 1900 überhaupt neben der römisch-rechtlichen Dienstmiete ein durchsetzbares Recht, das wir als Arbeitsrecht bezeichnen können?3 Wenn es dieses Arbeitsrecht gab, war es auch justiziabel? Allein dieses Wort weckt ja im Arbeitsrecht erhebliche Zweifel, wie Rückert auf S. 4 seiner erwähnten Thesen 2

Typisch ist die Äußerung des Berliner Direktors der Generalverwaltung für Handel und Gewerbe, Kunth, der den 1822 vorgelegten Entwurf einer „Fabrikenordnung für Berlin“, mit der Bemerkung kommentierte, auch in Potsdam, Breslau und namentlich in Magdeburg, Köln, Elberfeld und Barmen existierten im großen Umfang „Fabrikanstalten und Verlagsfabriken“, und er frage sich, „wie dort die Verhältnisse in Ordnung gehalten“ würden. Geheimes Preußisches Staatsarchiv, Rep. 120, B V 33, Nr. 4, Bd. 1, Bl. 69. 3 ������������������������������������������������������������������������������� Auch die Ausnahme, die man mit dem Regulativ von 1839, das Verbot der Kinderarbeit betreffend, immer wieder ins Feld führt, hatte bei weitem nicht die Wirkung, die man ihr immer wieder zuschreibt. Das Regulativ galt nur für die „Fabriken“ und damit, wie noch darzulegen ist, lediglich für einen relativ kleinen Teil der Arbeitsverhältnisse. Als vor dem Aachener Landgericht in den fünfziger Jahren mehrere Weber wegen Mißhandlung ihrer Lehr­linge angeklagt wurden, mußten sie freigesprochen werden, weil die gesetz­lichen Bestimmungen (neben dem Regulativ von 1839 das Abänderungsgesetz vom 16. Mai 1853, GS 1853, S.  225) nicht für die Verlagsproduktion galten (Bericht des Oberprokurators bei dem Appellationsgerichtshof in Köln an die Regierung in Aachen vom 12. Juni 1853, HStAD, Regierung Aachen, Nr. 14114).

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selbst einräumt. Und wenn auch dies der Fall sein sollte, wo und wie ist es mangels staatlicher Gesetzgebung entstanden? Insofern sind wir ein wenig wie ein Reiter ohne Pferd, d.h., wir reden über das Reiten, wissen aber nicht, ob den Zeitgenossen ein Pferd überhaupt zur Verfügung stand. Die ungesicherte Faktenlage läßt mitunter auch den Schluß zu, daß es sich um das sagenhafte Einhorn handele. Keiner hat es je gesehen, aber alle reden darüber. Mit anderen Worten, wer die Durchsetzung einer arbeitsrechtlichen Ordnung erörtern will, muß zunächst einmal untersuchen, ob und in welcher Ausprägung sie überhaupt existierte. Die beschriebenen Schwierigkeiten haben ihre Ursachen nicht nur in der geschilderten außergewöhnlichen Quellenlage. Bei näherer Untersuchung drängt sich der Verdacht auf, daß es sich auch um ein Problem der Historiographie und der an einer notwendigen Aufklärung beteiligten Wissenschaftsdisziplinen handelt. Was die Rechtswissenschaft betrifft, so verwehrte ihr im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet, das wir heute als Arbeitsrecht bezeichnen, die imposante Architektur des Römischen Rechts den Blick auf die Realität.4 Es zählt zu den erstaunlichsten Entwicklungen der Geistesgeschichte, daß die Gipfelstürmer der Pandektistik in einer Art Höhenrausch die arbeitsrechtlichen Niederungen aus der Welt der Beschäftigten aus dem Blick verloren hatten. Bei einer Durchsicht der berühmten juristischen Lehrbücher, die vor der Wende zum 20. Jahrhundert erschienen, beschleicht nicht nur den juristischen Laien eine gewisse Fassungslosigkeit über die völlige Ausblendung der Welt der Arbeit (Rückert: „Verblüffende gähnende Leere“5). In Rom gab es Sklaven bzw. Unfreie. An die diesbezüglichen Regelungen konnte man schlecht anknüpfen. Also ließ man es mehr oder weniger sein6 oder behalf sich mit Regelungen im öffentlichen Recht, auf deren Vorbild unten noch näher einzugehen ist. Ernst Forsthoff hat in seinem Aufsatz „Der Jurist in der industriellen Gesellschaft“ die Entwicklung im 19. Jahrhundert damit charakte­risiert, daß das „innere Gesetz der Rechtswissenschaft“ den „Bewegungen des Geistes, nicht der Wirklichkeit“ verbunden gewesen sei.7 Das Verhältnis zur Realität war aber nicht nur in Deutschland gestört. So hat Otto Kahn-Freund 1977 in einer zu Oxford gehaltenen Gedenkvorlesung für William Blackstone angemerkt, der Jubilar habe mit seiner Ausblendung der tatsäch4 5

6 7

Vgl. dazu Jürgen Brand, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, Band 2 „Von der Ehre zum Anspruch“, Frankfurt a. Main, 2002, S. 239 ff. Joachim Rückert, „Frei“ und „sozial“: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalismen und Sozialismen, in: ZfA, 23 (1992), S. 225–294 (287). Im Übrigen dazu Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), Einleitung oder: à la recherche du droit perdu. Dazu ausführlich Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 239 ff. NJW 1960, S. 1273.

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lichen Verhältnisse dazu beigetragen, daß es zu einer unzureichenden Erfassung der realen Verhältnisse des Arbeitslebens durch die englischen Juristen gekommen sei: “One cannot believe that Blackstone would have distributed his emphasis that way if his image of the working population had been more realistic, if his horizon had encompassed a larger segment of the economic landscape.“8

Für Frankreich stellte Jean Cruet 1908 in seiner Abhandlung „La vie du droit et l’impuissance des lois“ fest, die kollektiven Vereinbarungen im Recht der Arbeit seien die Frucht einer natürlichen Entwicklung und nicht einer gesetzgeberischen Entscheidung. Er fuhr dann fort: «En France, il est difficile, sinon impossible, d’en concilier les traits caractéristiques avec les principes traditionnels de notre législation civile.»9

Joachim Rückert hat die Rolle der Juristen angesichts „antiliberaler Vorurteile in der Geschichtsschreibung“ positiver bewertet, als dies gemeinhin geschieht.10 Aber es waren vor allem die Nationalökonomen, die auf die neuralgischen Punkte aufmerksam machten.11 Zwar war man auch hier durchweg der Auffassung, daß die Wirtschaft möglichst von rechtlichen Beschränkungen verschont werden müsse, um im Sinne des liberalen Prinzips durch eine derartige Enthaltsamkeit die bestmöglichen Chancen zur Entfaltung individueller Interessen zu gewährleisten. Aber eine starke Strömung in der deutschen Nationalökonomie („Kathedersozialisten“) sah im Bereich der arbeitsvertraglichen Beziehungen Probleme, die zur Erörterung einer möglichen Intervention der Gesetzgebung Anlaß gaben.12 Nach der Jahrhundertwende erkundeten dann einige Außenseiter der Rechtswissenschaft das praktizierte Recht der Arbeit und nahmen damit indirekt auch einen Anlauf zur Entschleierung der Geschichte dieses für die Moderne überragend wichtigen Rechtsgebietes. Otto Kahn-Freund, Blackstones neglected child: The contract of Employment, in: Law Quaterly Review 93 (1977), p. 508–528 (p. 521). 9 J. Cruet, La vie du droit et l’impuissance des lois, Paris 1908, p. 156. 10 Joachim Rückert, Sozial und frei (wie Fn. 5), S. 289 ff. 11 Hans-Jürgen Teuteberg, Die Doktrin des ökonomischen Liberalismus und ihre Gegner. Dargestellt an der prinzipiellen Erörterung des Arbeitsvertrages im „Verein für Socialpolitik“ (1872–1905), in: Coing / Wilhelm (Hrsg.)Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. 2, 1977, S. 47–73. 12 Ausführlich dazu Martin Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs, Frankfurt a.  M. 1995, S. 151 ff. 8

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1902, also neun Jahre vor Eugen Ehrlich und seinem „lebenden Recht“ in der Bukowina,13 veröffentlichte Philipp Lotmar den ersten Band seines zweibändigen Werkes „Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des deutschen Reiches“.14 Er orientierte sich dabei an den Protokollen, Berichten, Denkschriften und Resolutionen zur tatsächlichen und rechtlichen Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse, vor allem aber an den bislang abgeschlossenen Tarifverträgen.15 Das Ergebnis der Aufnahme des praktizierten Rechts düpierte die etablierte Rechtswissenschaft und begeisterte Fachgenossen wie Hugo Sinzheimer und Max Weber.16 Lotmar war bewußt, daß die Rechtsinstitute, die er als „tatsächliche Erscheinungen des Lebens“17 vorfand, nicht ad hoc entstanden waren, sondern sich historisch entwickelt hatten. Ihre Ausprägung am Ende des Jahrhunderts war das Ergebnis einer Entwicklung, die er als geschichtliche voraussetzte, die aber für ihn als Romanisten über den empirischen Befund hinaus weitgehend im Dunklen lag und deren Erforschung er deshalb ausdrücklich als Desiderat kennzeichnete. In rechtshistorischer Hinsicht wurde damit nichts anderes gefordert als die Erforschung der arbeitsrechtlichen Sonderordnung. Diese Chance wurde nie ergriffen. Die erste Phase nach der Veröffentlichung des wirklich praktizierten Rechts kann man mit einer Art Schockstarre umschreiben. Acht Jahre nach dem Erscheinen des „Arbeitsvertrages“ von Lotmar nahm Karl Kober als Bearbeiter des Dienstvertrages in der 5. / 6. Auflage des BGB-Großkommentars von Staudinger (1910) die beiden Bände von Lotmar aus den Jahren 1902 und 1908 in die Literaturliste auf, auch die Besprechung von Sinzheimer18 wurde dort angeführt. In der eigentlichen Kommen13 Eugen Ehrlich, Die Erforschung des lebenden Rechts, Czernowitz 1911; Wiederabdruck in: Manfred Rehbinder (Hrsg.), Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, Berlin 1967. 14 Philipp Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des deutschen Reiches, Bd. 1, Leipzig 1902; Bd. 2, 1908. 15 Eine Auflistung der von Lotmar ausgewerteten Tarifverträge findet sich bei Klaus Dieter Waldt, Die Lehre vom Arbeitsvertrag bis zum Ende der Weimarer Republik, insbesondere ein Beitrag zum Arbeitsvertrag von Philipp Lotmar, Diss. Münster 1974, S. 50 ff. 16 Hugo Sinzheimer, Rezension zu Philipp Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des deutschen Reiches, in: Ein Rechtssystem der Arbeit, Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 34, Berlin 1910, S. 291–322 (295). Max Weber, Rezension zu Philipp Lotmar, Der Arbeitsvertrag, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 17 (1902), S.  723–734; Wiederabdruck in: Max Weber, Gesamtausgabe, Bd. 8, Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik – Schriften und Reden 1900–1912, hrsgg. von W. Schluchter u. a, Tübingen 1998, S. 34–61 (37). 17 Hugo Sinzheimer, Ein Rechtssystem der Arbeit, in: Archiv für Bürgerliches Recht, Bd. 34 (1910), S. 291–322 (294). 18 Ebda.

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tierung bezeichnete Kober das Werk von Lotmar als „epochemachend“ und erwähnte es auch im Zusammenhang mit den dogmatischen Kämpfen zur Abgrenzung von Dienst- und Werkvertrag. Wie wenig man aber geneigt war, dem Entdecker in die terra incognita zu folgen, ergibt sich aus den ersten beiden Sätzen der „Vorbemerkung“ Kobers zu den Regelungen des Dienstvertrages: „Unter den Vertragsentscheidungen des täglichen Lebens hat der Dienstvertrag eines der breitesten Anwendungsgebiete. Dieser Bedeutung entspricht es, daß dem Rechtsverhältnis im BGB eine eingehende Regelung zuteil geworden ist.“19

20 Paragraphen zum Dienstvertrag (§§ 611–630) stellten in dem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch unzweifelhaft einen Fortschritt gegenüber den neun Bestimmungen im ersten Entwurf20 zu dieser Kodifikation dar. Aber im Verhältnis zu den vier Bestimmungen der Eigentumsverhältnisse von „ausgezogenen“ oder „vereinigten Bienenschwärmen“ (§§ 961–964) nimmt sich die „eingehende Regelung“ „eines der breitesten Anwendungsgebiete“ doch recht dürftig aus, insbesondere wenn man bedenkt, daß die Rechte des Gesindes und der Bergarbeiter weiterhin den speziellen Regeln der Einzelstaaten des Reiches unterworfen blieben. Gleichwohl, die zeitgenössische Rechtswissenschaft war offensichtlich damit zufrieden, obwohl sich der Reichstag bereits am 11. Dezember 1896 dafür ausgesprochen hatte, eine einheitliche Regelung zum Arbeitsvertrag auf den Weg zu bringen.21 Die zweite Phase ist dadurch gekennzeichnet, daß der nicht dem römischen Recht zugehörige Bastard „Arbeitsrecht“ durch Lotmar den etablierten Familienangehörigen bekanntgemacht und nolens volens adoptiert worden war. Es blieb aber der Makel, daß sich die Rechtswissenschaft an seiner Zeugung nicht beteiligt hatte. Als Lösung bot sich an, über die obskure Herkunft des Findelkindes hinwegzusehen und zu versuchen, es so zu formen, daß es in Habitus und Manieren in die aufnehmende Familie der klassischen Jurisprudenz paßte.

19 Karl Kober, in: J. v. Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Einführungsgesetze, 2. Bd., 2. Teil, Vorbemerkung z. 6. Titel. Dienstvertrag. München 1910. 20 Horst Heinrich Jakobs und Werner Schubert (Hrsg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1980, S. 741 ff. 21 „… die Verträge, durch welche jemand sich verpflichtet, einen Teil seiner geistigen oder körperlichen Arbeitskraft für die häusliche Gemeinschaft, ein wirtschaftliches oder gewerbliches Unternehmen eines anderen gegen einen vereinbarten Lohn zu verwenden, baldmöglichst einheitlich zu regeln“. Prot., Verhandlungen des Reichstags, 11. Dez. 1896, S. 3846.

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Bei Walter Kaskel, einem Pionier der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft, sind die entsprechenden Anstrengungen deutlich erkennbar. Im Vorwort zur ersten Auflage seines Arbeitsrechts von 1925 heißt es: „Das wissenschaftliche Ziel meiner Arbeit war eine über die bloße Gesetzesparaphrase hinausgehende Herausarbeitung der dogmatischen Grundlagen des Arbeitsrechts, deren Kenntnis allein seine wissenschaftliche Behandlung verbürgt, die Aufdeckung der Zusammenhänge des Arbeitsrechts mit dem sonstigen Privatrecht, öffentlichen Recht und Prozeßrecht, die allein es ermöglicht, das Arbeitsrecht aus einem bloßen Spezialistentum loszulösen und diesen scheinbaren Fremdkörper unserem Gesamtrecht organisch einzufügen.“22

Die Wortwahl von Kaskel ist verräterisch. Der von ihm so bezeichnete „scheinbare Fremdkörper“ war nicht ein „scheinbarer“, es war ein wirklicher Pfahl im Fleische der überkommenen Jurisprudenz, insbesondere des Privatrechts. Dieser Fremdkörper sollte mit dem Instrumentarium einer „wissenschaftlichen Behandlung“ kompatibel gemacht werden, indem man die „Zusammenhänge“ mit dem „sonstigen“ Recht „aufdeckte“ und die „dogmatischen Grundlagen“ herausarbeitete. Tatsächlich war das von Kaskel umschriebene Einfangen des fremden Rechtsgebietes mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. So ließ sich beispielsweise nicht leugnen, daß die tausendfach abgeschlossenen Tarifverträge, die um die Jahrhundertwende als Herzschrittmacher den arbeitsrechtlichen Blutkreislauf des führenden Industriestaates Europas regulierten und deren System ohne Zutun der Jurisprudenz entstanden war, nur unter allergrößten dogmatischen Verrenkungen in das überkommene normative System integriert werden konnten. Auch andere arbeitsrechtliche Institute, wie spezielle Kündigungsvorschriften, die Treuepflicht oder das Konkurrenzverbot, waren schon vor der Aufnahme in die Rechtswissenschaft bekannt, und so kam Kaskel nicht umhin, eine lange Tradition von arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen und entsprechenden rechtlichen Instituten einzuräumen. Gleichzeitig erklärte er aber apodiktisch: „Ein Arbeitsrecht im heutigen Sinne, also ein Sonderrecht der Lohnarbeit verrichtenden Berufsstände ist dagegen ein Kind des 19. Jahrhunderts, dessen Entstehung auf bestimmte, erst damals auftauchende Wirtschaftsformen zurückzuführen ist, und von dem frühere Spuren finden zu wollen daher zwecklos ist.“23

22 Walter Kaskel, Arbeitsrecht, 2. Aufl., Berlin 1925, Vorwort. 23 Ebda, S. 5.

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Noch heute ist die von Kaskel vertretene Auffassung Gemeingut der Arbeitsrechtswissenschaft. Ein prominentes Beispiel für diese Sicht findet sich in der von Reinhard Richardi im Jahre 2004 verfaßten Einleitung zur 64. Auflage seiner Textsammlung „Arbeitsgesetze“: „Das moderne Arbeitsrecht verdankt seine Entstehung vor allem zwei sozioökonomischen Voraussetzungen: der Liberalisierung der Wirtschaftsordnung und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.“24

Offenbar haben sich die Vertreter dieser Diskontinuitätsthese die Entstehung der modernen Industrie im 19. Jahrhundert als eine Art „big bang“ vorgestellt, der mit einer revolutionären Veränderung der Produktion zugleich ein völlig neues Recht entstehen ließ, „von dem frühere Spuren finden zu wollen […] zwecklos“ sei. Wie wenig eine solche, wenngleich verbreitete Auffassung mit der tatsächlichen Entwicklung übereinstimmt, konnte man allerdings bereits dem „Kapital“ von Karl Marx entnehmen, der die „Revolution“ bezeichnenderweise über einen Zeitraum von mehr als drei Generationen erstreckte.25 Auch Henning hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, daß es „sich bei einer genauen Beschäftigung mit der Entstehung der Industrie in den einzelnen Ländern Europas schnell herausstellt, daß es sich eher um einen langsamen, in den einzelnen Bestandteilen über Jahrzehnte hinziehenden Prozeß handelte, der eher als Evolution bezeichnet werden kann und bezeichnet werden sollte.“26

„Industrialisierung“ umfaßt demnach die Umwälzung und Neuausrichtung der Produktion in organisatorischer und technischer Hinsicht in der Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Während aber Marx die neuartig organisierte Arbeit mit Hilfe von Maschinen als auslösenden Faktor identifizierte, haben bereits Max Weber und später die neuere Forschung mit Douglass C. North und seiner „Theorie des institutionellen Wandels“ (Structure and Change in Economic History) herausgearbeitet, daß die sog. „Industrielle Revolution“ eher als 24 München 2004, S. XIV. Ähnlich Richardi in: ders., Münchener Kommentar, 3. Aufl. 2009, § 2, Rdnr. 5: „neben dem Untergang der feudalen Gesellschaft durch die Liberalisierung der Wirtschaftsordnung verdankt das moderne Arbeitsrecht seine Entstehung vor allem der Industrialisierung“. 25 „Als John Wyatt 1735 seine Spinnmaschine und mit ihr die industrielle Revolution ankündigte ….“, Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, 1867, 4. Aufl. 1890 (MEW, Bd. 23), S. 392. 26 Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn 1996, S. 344.

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eine Evolution begriffen werden muß.27 Einige Historiker sprechen inzwischen schon vom „Mythos der Industriellen Revolution“.28 Die Umwälzungen in der Produktion waren nicht allein auf den technischen Wandel zurückzuführen, sondern gingen in ebenso hohem Maße auf organisatorisch-betriebswirtschaftliche Veränderungen zurück. Nicht die Maschine, sondern der neue Geist des Unternehmertums bewirkte die epochalen Umwälzungen. Max Weber beschreibt sie in der Abhandlung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ folgendermaßen: „Irgendwann nun wurde diese Behaglichkeit plötzlich gestört, und zwar ganz ohne daß dabei irgendeine prinzipielle Aenderung der Organisations f o r m – etwa Uebergang zum geschlossenen Betrieb, zum Maschinenstuhl und dgl. – stattgefunden hätte. Was geschah, war vielmehr oft lediglich dies; daß irgendein junger Mann aus einer der beteiligten Verlegerfamilien aus der Stadt auf das Land zog, die Weber für seinen Bedarf sorgfältig auswählte, ihre Abhängigkeit und Kontrolle zunehmend verschärfte, sie so aus Bauern zu Arbeitern erzog, […]“.29

Erst mit den dadurch bewirkten verringerten Transaktionskosten und einer verbesserten Kontrolle der Arbeitskräfte konnte es dann zu der einzigartigen Akkumulierung von Kapital und der Erschließung von neuen Absatzmärkten kommen. Diese Entwicklung begann schon relativ früh und führte in England im 18. Jahrhundert und in Deutschland und Frankreich um 20 bis 50 Jahre später zu einer erheblichen Ausweitung der Produktion, ohne daß dieser außerordentliche Anstieg sich nach heutigen Vorstellungen in regelrechten „Industrierevieren“ oder „Industriezonen“ mit rauchenden Schloten und hochaufragenden neuzeitlichen Fabriken manifestiert hätte. 2. Produktionsanteile und rechtliche Steuerung a. Die „Fabrik“ – Brutkasten des modernen Arbeitsrechts?

Im kollektiven Bewußtsein ist jedoch vor allem eine bestimmte Ausprägung der geschilderten Entwicklung bestimmend gewesen: die neuzeitliche Fabrik. Dieser neue Typus des zentralisierten Betriebes oder, wie er zeitgenössisch genannt wurde, das „geschlossene Etablissement“ hat von Anfang an eine große Wirkung auf die 27 Nach der Ansicht von North erstreckt sich die Umwälzungsperiode auf einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, North (wie Fn. 1), p. 168. 28 M. Fores, The Myth of a British Industrial Revolution, in: History 66 (1981), p. 181– 198. 29 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 5. Aufl., Tübingen 1963, S. 52.

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Zeitgenossen ausgeübt.30 Das 1875 entstandene Bild „Eisenwalzwerk“ von Adolph Menzel erhielt schon bald nach seiner Fertigstellung den Beinamen „Moderne Cyclopen“ und stand mit dieser Konnotation für die Moderne, die den fortschrittsbegeisterten Betrachtern die Richtung bis in die heutigen Schulgeschichtsbücher wies. Noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts lebte das Marketing der hochaufragenden Fabrik und der rauchenden Schlote auf dem Zwiebackpaket („Brandt-Zwieback“) und der Likörflasche („Stonsdorfer“) und zehrte von diesen „wonders of the world“. Diese anhaltende Faszination hat auch vor der Rechtsgeschichte nicht haltgemacht. In dem neuzeitlichen „Fabrikwesen“ und ihren „erst damals auftauchenden Wirtschaftsformen“ i.S. Kaskels glaubte man die Wiege des neuen Arbeitsrechts gefunden zu haben.31 Die Realität sah anders aus. Wie die nachfolgende Graphik zur Beschäftigungsstruktur von Industrie und Handwerk zwischen 1835 und 1861 ausweist,32 entfiel in Deutschland zwischen 1835 und 1861 der Löwenanteil der gewerblich Beschäftigten auf die Textilindustrie:

Komme unten nic Punkte an

50,0 45,0 40,0 35,0

in %

30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0

1861

Baugewerbe

1835

Nahrung

Holz, Druck, Papier

Wirtschaftssektoren

Textil, Leder, Bekleidung

Feinmechanik

Metallerzeugung und -verarbeitung

Steine, Erden, Chemie

Bergbau

0,0

30 Zu den fatalen Folgenbildete für dasinArbeitsrecht s. auch Brand, Untersuchungen, 3 (wie In diesem Industriezweig bestimmten Regionen nach wie vor der Verlag,Bd. bzw. seine Fn. 43), S. 23 ff (Der Kampf um den Arbeitnehmerbegriff ). Mischform, also der Betrieb mit zentralisierter Vorbereitung, dezentralisierter Fertigung 31 S. die von Theo Mayer-Maly aufgeführte Literatur in Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch (Weben) und zentralisierter Bearbeitung Privatrechtsgeschichte, des Produkts, das Rückgrat der der Quellen und Literaturabschließender der neueren europäischen 3. Bd., 3. Teilbd., München 1986, S. 3713 ff. höherwertigen Textilproduktion. Dabei hatte die gewerbliche Massenproduktion für 32 Quelle: W. Fischer u. A. Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 1, München 1982, überregionale Märkte in Westfalen, Schlesien, Württemberg, am Niederrhein, in der Eifel und S. 54. im Bergischen Land vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts

ländliche, dezentral organisierte Riesenbetriebe entstehen lassen mit jeweils Tausenden von ländlichen Arbeitskräften, die in Heimarbeit vorwiegend für den Export in alle Welt fertigten. Seitdem Franklin Mendels 1972 die vielfach beschriebene dezentrale Produktion der Hausindustrie (Heimarbeit) in Form des Verlages mit einem neuen Etikett versah33 und als

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In diesem Industriezweig bildete in bestimmten Regionen nach wie vor der Verlag, bzw. seine Mischform, also der Betrieb mit zentralisierter Vorbereitung, dezentralisierter Fertigung (Weben) und zentralisier­ter abschließender Bearbeitung des Produkts, das Rückgrat der höherwertigen Textilproduktion. Dabei hatte die gewerbliche Massenproduktion für überregionale Märkte in Westfalen, Schlesien, Württemberg, am Niederrhein, in der Eifel und im Bergischen Land vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts ländliche, dezentral organisierte Riesenbetriebe entstehen lassen mit jeweils Tausenden von ländlichen Arbeitskräften, die in Heimarbeit vorwiegend für den Export in alle Welt fertigten. Seitdem Franklin Mendels 1972 die vielfach beschriebene dezentrale Produktion der Hausindustrie (Heimarbeit) in Form des Verlages mit einem neuen Etikett versah33 und als sog. „Protoindustrialisierung“ in den Fokus rückte,34 ist der Industriegeschichte diese Form der Industrialisierung bewußter geworden, als dies bisher der Fall war. Die Rechtsgeschichte hat von ihr bis zu den Untersuchungen des Verfassers kaum Notiz genommen, obwohl die Verlagsindustrie den entscheidenden Faktor und das materielle Substrat für die Gewerbegerichtsbarkeit als Vorläufer unserer heutigen Arbeitsgerichtsbarkeit bildete.35 Nach der Anzahl der Beschäftigten in den zentralisierten Betrieben einerseits und den verlegten Kräften (der Hausindu­strie) andererseits ergab sich z. B. für das gewerblich führende Sachsen, das insofern eine ähnliche Struktur wie einige hochindustrialisierte Regionen des Rheinlandes aufwies, für die Jahre 1849 und 1861 folgendes Bild:

33 Auf dieses Ausgreifen der Industrie in das bislang agrarisch geprägte Umland der Städte hatte bereits frühzeitig die historische Schule der deutschen Nationalökonomie aufmerksam gemacht. Zu den Einzelheiten W. Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft 1988, S. 275–303. 34 Franklin Mendels, Industrialization and population pressure in eighteenth-century Flanders, New-York 1981. 35 Jürgen Brand, Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, Bd. 1, Zwischen genossenschaftlicher Standesgerichtsbarkeit und kapitalistischer Fertigungskontrolle, Pfaffenweiler 1990, S. 102 ff (Die Neuorganisation der Wirtschaft); ders., Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, Band 3, Die Rechtsprechung der rheinischen Gewerbegerichte von 1840 bis 1891 unter besonderer Berücksichtigung des Gewerbegerichts in Elberfeld, Frankfurt a. M. 2008, S. 138 ff.

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20

18

16

14

Fabrikindustrie 12

Hausindustrie

in % 10 8

6

4

2

0

1849

1861 Jahr

Beschäftigte in „geschlossenen Etablissements“ (Fabrikindustrie) und im Verlag (Hausindustrie) in Sachsen in % aller Erwerbstätigen36

Während die Unterscheidung von Handwerk und Verlag (Hausindustrie) bei der statistischen Aufnahme wegen der vielfachen Überschneidungen nicht immer ganz zweifelsfrei sein dürfte, unterliegt die zahlenmäßige Bestimmung der Be­schäftigten in den „geschlossenen Etablissements“ keinen derartigen Vorbehalten. Die Bedeutung der zentralisierten Betriebe blieb im „hochindustrialisierten“ Sachsen mit lediglich 6,9 % der Beschäftigten auch noch 1861 gegenüber der Hausindustrie mit 19,3 % bemerkenswert gering. Das Handwerk konnte gegenüber dem Verlag und gegenüber der zentralisierten Produktion im gesamten Deutschen Bund seine domi­nierende Position unter den gewerblich Beschäftigten bis etwa in die siebziger Jahre halten.37 Nur allmählich traten die zentralisierten Einheiten, die von der Dampfkraft und dem Maschinentakt bestimmt waren, an die Stelle der dezentralen Massenfertigung. 36 Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlichen Sächsischen Ministeriums des Innern, 9, 1863, S. 74–75. 37 Zu den Beschäftigten im Handwerk in Deutschland 1800–1900 vgl. F. W. Henning, Industrialisierung in Deutschland 1800–1914, Paderborn 1973, S.  20, 130. unter Berücksichtigung der von Kocka errechneten Korrekturen (Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlage der Klassen­bildung im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Bonn 1990, S. 303 (Tabelle 30) und S. 603, Fn. 14).

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Allerdings betraf diese Verschiebung der Gewichte nur bestimmte Produktionssparten und erstreckte sich über längere Zeit.38 Hahn hat die Phase der Beschleunigung i.S. von Rostows „take off “ für Deutschland auf die Zeit zwischen 1845 / 1850 bis 1873 festgelegt.39 Nach den von Henning ermittelten Werten40 waren 1850 in der dezentralen Produktion (Verlag) 1,5 Millionen oder 10 % aller Arbeitskräfte aller drei Sektoren der deutschen Volkswirtschaft beschäftigt. In den Manufakturen / Fabriken arbeiteten mit 600.000 oder 4 % weniger als die Hälfte der Beschäftigten. 23 Jahre später betrug das Verhältnis Verlag / „Fabrik“ immer noch 1,1 Millionen oder 6 % zu 1,8 Millionen oder 10 % aller Beschäftigten. Erst um die Jahrhundertwende entwickelten sich die Produktionsverhältnisse dann so, wie dies heute bei der Verwendung des Begriffes „Industrialisierung“ immer vorausgesetzt wird: 500.000 (2,0 %) zu 5,7 Millionen (22 %). Gegenüber diesen Verschiebungen waren die Anteile des Handwerks erstaunlich stabil. Sie entwickelten sich von 1,7 Millionen (12 %) im Jahre 1850 zu 3,3 Millionen (13 %), wobei Henning allerdings Handwerk und Bergbau zusammengefaßt hat. Aus den genannten statistischen Aufnahmen für das Gebiet des Deutschen Bundes ergibt sich, daß die von der heutigen Arbeitsrechtswissenschaft als Wegbereiter des modernen Arbeitsrechts eingestuften zentralisierten Einheiten bereits in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung für die Industrialisierung im 19. Jahrhundert grotesk überschätzt werden. Selbst für England, das der übrigen Welt in der Industrialisierungsepoche des 19. Jahrhunderts um Jahrzehnte voraus war, hat bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Sir John Clapham konstatiert, daß die kleinen dezentralen Betriebe ohne „steam mechanization“ eine typischere Form der Produktion dargestellt hätten als die neuzeitliche Fabrik.41 Die von mir für die deutschen Zustände festgestellte Faszination des geschlossenen Etablissements und seine Gleichsetzung mit der Industriellen Revolution findet sich in eben dieser Fokussierung aber auch in England. So ist etwa Clive Behagg der Auffassung, daß die angelsächsische Geschichtsschreibung mit ihrer „dramatic manifestation of the industrializing process“ die Aufmerksamkeit der Sozial- und Wirtschaftshistoriker gleichsam „absorbiert“ habe.42 38 Kocka, ebda., S. 373 ff. 39 Hans-Werner Hahn, Die Industrielle Revolution in Deutschland, München1998, S. 55. 40 Henning (wie Fn. 26), S. 130. 41 John H. Clapham, An Economic History of Great Britain, vol. II, Free Trade and Steel 1850–1866, Cambridge 1963, p. 22–46. Vgl. auch John Foster, Class Struggle and the Industrial revolution. Early industrial capitalism in three English towns, London 1974, p.18 f. 42 Clive Behagg, Politics and Production in the early Nineteenth Century, London 1989, p. 1.

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Bei den geschilderten Produktionsverhältnissen sind zunächst zwei Fragen zu klären: 1) Welche Änderungen traten durch die zentralisierte Produktion („erst damals auftauchende Wirtschaftsformen“ / „Industrialisierung“) ein und welchen Einfluss hatten sie auf das, was wir heute Arbeitsrecht nennen? 2) Welches Recht galt im 19. Jahrhundert in den dezentralisierten Einheiten und im Handwerk? Was die arbeitsrechtlichen Konsequenzen der neu „auftauchenden Wirtschaftsformen“, d.h. der „modernen Fabriken“ betrifft, so ist zu fragen, inwiefern sie das moderne Arbeitsrecht vorbereitet bzw. die Grundlage für dieses neue Recht geschaffen haben. In einer von dem Verfasser vorgenommenen größeren Untersuchung der Elberfelder Gewerbegerichtsbarkeit von 1840–1890, in der etwa 2.000 Verfahren ausgewertet wurden, sind auch die diesbezüglichen Produktionsfaktoren und ihre arbeitsrechtlichen Korrelationen in Elberfeld, der ersten Industriestadt Deutschlands43, untersucht worden. Für das „deutsche Manchester“, einen „Vorreiter im deutschen Modernisierungsprozeß“,44 das bereits Max Weber in seiner berühmten Abhandlung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ als Folie gedient hat,45 ergibt sich folgendes Bild: Von den insgesamt ausgewerteten 1.919 Fällen entfielen nur 51 Klagen auf die Beschäftigungsverhältnisse in „Fabriken“. Zwar stieg die Zahl der in dieser Kategorie anhängigen Sachen von einer einzigen Klage im Jahr 1842 auf 27 Fälle im Jahre 1891. Bei dem 1891 auf insgesamt 1.033 Klagen angestiegenen Klagevolumen erscheinen diese 27 Fälle aber geradezu verschwindend gering, insbesondere dann, wenn man die Beschäftigungszahlen in der modernen Fabrikindustrie vor der Jahrhundertwende berücksichtigt. Untersucht man in der Elberfelder Auswertung die Namen der insgesamt beteiligten Arbeitgeber, so fällt auf, daß bestimmte große Firmen, wie z. B. Bayer, als Kläger und Beklagte nicht vor Gericht erschienen. Rogowski / Tooze berichten ähnlich niedrige Zahlen auf Reichsebene für die zentralisierten Betriebe in verschiedenen Städten nach Einführung des Gewerbegerichtsgesetzes von 1890. Danach lagen die Klagen aus den „Fabrikarbeitsverhältnissen

43 Nähere Einzelheiten u. Literaturhinweise bei Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (Fn. 35), S. 97 ff. 44 Jürgen Reulecke, Das Wuppertal – ein Vorreiter im deutschen Modernisierungsprozeß. Ein Nachwort. In: Hermann Herberts, Alles ist Kirche und Handel…. Wirtschaft und Gesellschaft des Wuppertals im Vormärz und in der Revolution 1848 / 49, Neustadt / Aisch 1980, S. 239–255. 45 Max Weber, Die protestantische Ethik (Fn. 29), S. 28.

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nicht nur proportional, sondern auch absolut unter denen des Handwerks und der Dienstleistungsbranche“.46 Bei der Suche nach den Gründen muß man differenzieren. Anders als im Verlag, der in vielen Bereichen noch mit Rechtsinstituten zünftiger Provenienz gesteuert wurde,47 wurden in den zentralisierten Betrieben diejenigen „Fabrikarbeiter“, die keine herausgehobene Position einnahmen, nach der hergebrachten rechtlichen Konstruktion des Tagelöhnerstatus behandelt. Zwar blieb ihnen nicht mehr, wie noch beim Berliner Fabrikengericht, der Weg zum Gericht versperrt. Zu Klagen von ihrer Seite kam es aber nur, wenn Lohnrückstände zu ihren Gunsten bestanden. Die aus der Zunft herrührende und bis zur Gewerbeordnung von 1845 übliche Kündigungsfrist von 14 Tagen war regelmäßig durch das Fabrikreglement ausgeschlossen. So führte der Präsident des Fabrikengerichts von Lennep zur Frage der Kündigungsfrist aus, daß für die in den Werkstätten des Fabrikherrn beschäftigten „Fabrikarbeiter“ keine Kündigung üblich sei. Bei der großen Zahl der Arbeitsuchenden könne eine erledigte Stelle gleich wieder besetzt werden. Deshalb sei in Lennep zwischen den Fabrikarbeitern und den Fabrikherrn, die „für die vorgeschriebenen mechanischen Verrichtungen“ zu zahlen hätten, noch nie eine Klage vorgekommen.48 Einen weiteren Grund für die auffällig geringe Zahl der Klagen aus den modernen zentralisierten Betrieben bildete auch im Wuppertale das rechtliche Korsett der Betriebsorganisation mit der Hausgerichtsbarkeit als dem kennzeichnenden Moment. Diszipliniert wurde mit Hilfe der hausinternen „Polizei-Ordnung“,49 die bereits mit ihrer Bezeichnung50 den Anspruch einer quasi hoheitlichen Gewalt deutlich machte. Regelmäßig hatte man die Arbeitsverhältnisse so konstruiert, daß rechtliche und tatsächliche Hindernisse eine Anrufung des Gerichts enorm erschwerten. Für Beiträge an Kranken- und Sterbe-Kassen wurden Beiträge vom Lohn abgehalten, die beim Ausscheiden der Arbeitskraft aus der Fabrik „sei es mit oder gegen ihren Willen“,

46 Ralf Rogowski / Adam Tooze, Individuelle Arbeitskonfliktlösung und liberaler Korporatismus, in H. Mohnhaupt u. D. Simon (Hg.), Vorträge zur Justizforschung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1992, S. 317–386. 47 Z.B. durch das millionenfach verwendete Institut der Forderungssicherung des sog. „Losscheins“, dazu Brand, Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 46 ff. 48 Jahresbericht vom 12. November 1847, HStAD, Regierung Düsseldorf, Nr. 2189. 49 Z.B. die Polizei-Ordnung der „Jung’schen Spinnerei“, Abdruck in: Karl Emsbach, Die soziale Betriebsverfassung der rheinischen Baumwollindustrie im 19.  Jahrhundert, Bonn 1982, S. 674. 50 Max Weber: „Schutzmannjargon“, Diskussionsbeitrag in: Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik, Bd. 116 (1905), S. 214.

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verloren waren.51 Karl Marx sprach in diesem Zusammenhang von der Fabrikordnung als einer „Ordnung, die jeder Fabrikant zu seinem Privatgebrauch habe, als „einem Strafgesetzbuch“, das für alle absichtlichen und unabsichtlichen Vergehen Bußen festsetzte, um die Arbeiter in finanzielle Abhängigkeit zu bringen.52 Der „despotisme de la fabrique“53 war hier Ausdruck der Souveränität „im Hause“.54 Im Übrigen bestand in allen Elberfelder „Etablissements“ die Praxis, daß jede Arbeiterin vor Aufnahme ihrer Tätigkeit über „ihre bisherigen Leistungen einen Schein ihres letzten Arbeitgebers beizubringen“ hatte. Das Arbeitgeberkartell schuf sich so einen eigenen lokalen Rechtskreis, der den Wechsel des Arbeitsverhältnisses und die streitige Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber außerordentlich erschwerte und zu einer absoluten Ausnahme machte.55 Lujo Brentano hat die besonderen Gewaltverhältnisse in den „Riesenbetrieben“, in denen eine privatautonome Gestaltung des Arbeitsvertrages ausgeschlossen war, folgendermaßen umschrieben: „Die Macht, welche die Riesenbetriebe über die von ihnen Beschäftigten erlangen, erstreckt sich sogar über das Arbeitsverhältnis hinaus; sie erstreckt sich auf ihr gesamtes soziales, religiöses und politisches Dasein. […] Innerhalb des Reiches entstehen Gebiete, in denen nicht der Wille des Gesetzgebers, sondern der Betriebsinhaber Gesetz ist.“56

Der neue Typus des „Arbeiters“ in den zentralisierten Einheiten, d.h. den „Fabriken“, war wenig mehr als die dressierte Ergänzung zur Maschine, geknebelt durch die einseitig verfügten Fabrikordnungen eines Unternehmers, der „Fabrikant […] Gesetzgeber, 51 Reglement der Firma Leser & Comp., abgedruckt bei Damaschke, Zwischen Anpassung und Auflehnung, Wuppertal 1992, S. 114. Dieses Knebelungsmittel war weithin Standard in der Textilindustrie. Vgl. die entsprechenden Vorschriften in der „FabrikOrdnung“ der Baumwoll-Spinnerei und Weberei von Staub & Comp. in Kuchen bei Geislingen, abgedruckt in: Peter Borscheid, Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung. Soziale Lage und Mobilität in Württemberg (19. Jahrhundert), Stuttgart 1978, S. 554 f. 52 Karl Marx, Rede über die Frage des Freihandels, in: Marx / Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 2, Berlin 1970, S. 364. 53 Alain Supiot, Critique du droit du travail, Paris 1994, p. 210 54 Joseph Alois Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung – eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 8. Aufl. (unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. 1934), Berlin 1993, S. 133. 55 Zur Entwicklung vgl. Gustav Schönberg, Die gewerbliche Arbeiterfrage, in: ders., Handbuch der politischen Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl. 1898, Bd. 2, S. 22 f. 56 Lujo Brentano, Arbeitsverhältnis in privaten Riesenbetrieben, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 116 (1906), S. 135 (141). Dazu Max Weber, Diskussionsbeitrag, in: Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben, in: Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik, Bd. 116 (1905), S. 212.

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Kläger, Zeuge und Richter zugleich“ war.57 So blieb der „Fabrik-Herr“ zugleich auch der Herr des Arbeitsrechts. Die Fabrik als „erst damals auftauchende Wirtschaftsform“ i.S. Kaskels bzw. die „Industrialisierung“ förderten insofern in der „Fabrik“ lediglich das System einer rechtlichen Strangulierung. Das Kommunistische Manifest erscheint nach dem Zusammenbruch im Osten kaum noch zitierfähig. Aber Marx und Engels waren vorzügliche Kenner der tatsächlichen und rechtlichen Situation: „Arbeitermassen in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt.“58

Auch in dem vom Verf. untersuchten Wuppertale waren es allein die in der vorindustriellen Tradition der Gesellenschaften stehenden Facharbeiter, wie z. B. die Färbergesellen, die mit ihren organisierten „Strikes“ von 1855, 1857, 1868 und 1889 die kollektiven Auseinandersetzungen in Form von tarifvertragsähnlichen Vereinbarungen zu lösen suchten.59 In den übrigen zentralisierten Betrieben fehlte ganz überwiegend diese Tradition. Hier gab es kaum Angehörige des traditionellen Handwerks. Die Arbeiter, die vom Lande in die Industriezonen einwanderten, um dort Arbeit zu finden, waren als Ungelernte froh, den Verhältnissen als Knecht, Tagelöhner oder Landarbeiter unter quasifeudalen Verhältnissen entronnen zu sein. Ebenso wie die Frauen, denen die Fabrikarbeit größeren individuellen Freiraum bot als die Verhältnisse in der Landwirtschaft oder das Dienstbotendasein, waren sie trotz der unsäglichen Arbeitsbedingen eher bereit, sich dem Diktat der Arbeitgeber zu beugen. Ihre Bezeichnung als „Fabrikherren“ belegt, daß man die eine Herrschaft mit einer neuen getauscht hatte. Die „Fabrikarbeiter“ waren in der Masse wenig qualifiziert und leicht ersetzbar. Ihre Konfliktfähigkeit war entsprechend reduziert. Die Entwicklung in der modernen Fabrik bestätigt die organisationssoziologische Theorie, daß eine hohe Zentralität mit hierarchischem Aufbau mit einem niedrigen Konfliktniveau korreliert, solange es gelingt, diese Konflikte zu unterdrücken oder zu kanalisieren.60 Ohne die „Arbeiteraristokraten“ mit ihrer Qualifikation und einem „zünftigen“ Traditionsbewußtsein konnte kein modernes Arbeitsrecht erkämpft werden. Daß ein 57 Gesellschaftsspiegel, Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart, 1. und 2. Bd. 1845 / 46 (Neudruck Amsterdam 1971). Bd. 1, 1845, S. 17. 58 Karl Marx / Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest (1848), in: diess., Ausgewählte Schriften, Berlin 1953, S. 33. 59 Einzelheiten bei Brand, Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 225 ff. 60 Jörg Sydow, Strategische Netzwerke. Evolution und Organisation, Wiesbaden 1999, S. 260.

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solches Recht aber von den Arbeitgebern freiwillig zugestanden worden sei, dürften selbst die vehementesten Vertreter eines Neuanfangs i.S. der Diskontinuitätsthese nicht behaupten. Sewell, der die Verhältnisse in Frankreich untersucht hat, stellte ausdrücklich für ganz Europa fest: “Tailors, carpenters, shoemakers, building craftsmen, print workers and the like were the vanguard of a labour struggle, which was born in the craft workshops, not in the dark satanic mill.”61

b. Handwerk und Verlag als Vermittler der Sonderordnung

Anknüpfend an die Bewertung von Sewell ist festzuhalten, daß in den meisten Staaten des Deutschen Bundes die zünftige Gewerbeverfassung, wenn auch mit vielen Modifikationen, bis in die sechziger Jahre fortbestand.62 Das Bündnis, das, nach den Worten von Gierke, der souve­räne Staat und das souveräne Individuum gegen die Korporation eingegangen waren,63 zielte hier nicht auf die Abschaffung, sondern eher auf die Einschränkung des kor­porativen Modells. Die wichtigste Ausnahme stellt auf den er­sten Blick Preußen dar. Ideengeschichtlich ist diese Ausnahmestellung von großer Be­deu­tung gewesen. Die preußische Politik der Gewerbefreiheit hat mit dem Edikt vom 2. November 181064 das beste­hende his­to­rische Bewußtsein stark geprägt.65 Sie nahm aus heutiger Sicht die spätere Ent­ wick­lung in den übrigen Territorien vorweg. Damit erschwert sie aber zugleich eine differenzierte Betrachtung. Denn die Zünfte wurden im Zuge dieser Reformpolitik nicht aufgehoben, sie wurden jedoch ihrer öffentlich-rechtlichen Struktur und damit

61 William Hamilton Sewell, Work and revolution in France: The language of labor from the old regime to 1848, Cambridge 1980, p. 1. 62 Vgl. Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (Fn. 4), S. 27, Fn. 28. 63 Otto von Gierke, Naturrecht und Deutsches Recht, Frankfurt a. M. 1883, S. 28. 64 Zu den Einzelheiten Kurt von Rohrscheidt, Vom Zunftzwange zur Gewerbefreiheit, Berlin 1898 (Neudruck Glashütte / Ts. 1976), S. 375 ff. 65 Aus der Fülle der Veröffentlichungen seien genannt: Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, Stuttgart 1967; Barbara Vogel (Hrsg.), Preußische Reformen 1807–1820, Königsstein Ts. 1980.

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ihrer Exklusivrechte beraubt.66 Mit dem Edikt vom 27. Oktober 181067 und dem Gesetz vom 7. September 181168 stufte man sie zu „bloßen Gewerbsvereinen“ herab.69 Franz Wieacker hat bei der Würdigung der Rezeption des römischen Rechts vor der Einschätzung gewarnt, daß es möglich sei, durch bloße Willensakte des Ge­ setzgebers oder der Wissenschaft eine neue Rechtsordnung „gleichsam zu fabri­zieren“.70 Dieselbe Unmöglichkeit gilt auch für das Gegenteil, die Abschaffung einer ganzen Rechtsordnung, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Tatsächlich zeigte sich in dem preußischen Experiment der Gewerbefreiheit in aller Deut­lichkeit, daß man eine seit Jahrhunderten eingewurzelte Gewerbeverfassung nicht einfach aufheben und gleichsam auf den Müll der Geschichte befördern kann. Demgemäß blieben, anders als in den zentralisierten Betrieben, die zünftigen Standards in der verlagsmäßig organisierten Massenproduktion wie auch im eigentlichen Handwerk weiterhin bestimmend.71 Sie prägten in der Folgezeit weiterhin die Rechtsordnung im gewerblichen Bereich. Bereits 1822 hatte der Berliner Fabrikenrichter Langerhans nach dem umstrittenen Modernisierungsschritt von Hardenberg72 in einem Gutachten vom 4. Juni 182273 auf die unerläßlichen Ergänzungen zum neuen System der Gewerbefreiheit hingewiesen. Das Novemberedikt habe aus­drücklich in § 31 alle Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts und ent­gegen­stehende besondere Verordnungen aufgehoben „ohne dafür etwas an­deres an seine Stelle zu setzen“. Der Fehler liege darin, daß man nur den staats­wirtschaftlichen Gesichtspunkt im Auge behalten habe, ohne zu beachten, daß bei der Aufhebung des Systems der Zünfte und Innungen 66 Zum Ablauf: Hugo Roehl, Beiträge zur Preußischen Handwerkerpolitik vom Allgemeinen Landrecht bis zur Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845, in: Schmollers Staatsund socialwissenschaftliche Forschungen, 17. Bd. 1900, S. 89 ff.; Rohrscheidt (Fn. 64), S. 375. 67 „Edikt über die Finanzen des Staats und die neuen Einrichtungen wegen der Abgaben u.s.w. vom 27. Oktober 1810“, Gesetzssammlung, S. 1810–11, S. 25–31. 68 Gesetz vom 7. 9. 1811 über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe, in Bezug auf das Edikt vom 2ten November 1810, wegen Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer, GS 1810–1811, S. 263–283. 69 Romeo Maurenbrecher, Lehrbuch des heutigen gemeinen deutschen Rechts, 2. Abt., Bonn 1834, S. 824. 70 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 243. 71 Brand, Untersuchungen, (wie Fn. 4), S. 19 ff (Der Wettkampf der Systeme). 72 So Hardenberg: „Wir müssen dasselbe von oben machen, Majestät, was die Franzosen von unten auf gemacht haben.“ Zit. n. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts, 8. Aufl., Stuttgart 1954, S. 65. 73 GStA, Rep. 120, B V 33, Nr. 4, Bd. 1, Bl. 158–185. Abgedruckt bei Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 597 ff. Zur Entstehungsgeschichte und Bedeutung, ebda, S. 202–236.

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„eine Menge Privatrechte der Gewerbe­treibenden untereinander“ aufgehoben worden seien. Für die aufge­hobenen oder ab­geänderten Privatrechte müsse man nunmehr neue gesetzliche Bestimmungen er­lassen. Denn durch die Reformgesetzgebung sei „eine Lücke in der Gesetzgebung selbst entstanden, deren Ausfüllung immer dringender nötig“ werde.

Diese Lücke bestand nach Ansicht des Fabrikenrichters vor allem in dem Bereich, den wir heute als Arbeitsrecht bezeichnen. Die neue Gesetzgebung habe aus­schließlich die öffentlich-rechtlichen Beziehungen der jeweiligen Gewerbetreiben­den geregelt, nicht aber, „welche Rechte und Verbindlichkeiten aber künftig zwi­schen ihm und seinem Hülfsarbeiter oder Lehrling bestehen sollten“. Es sei mit der Aufhebung der Zünfte im November 1810 versäumt worden, diejenigen Pri­vatrechtsverhältnisse, die das Gewerbe betrafen, zu bearbeiten und ebenso fort­zu­schreiben wie die „staatswirthschaftliche“ Gesetzgebung. Man dürfe nämlich nicht außer Acht lassen, daß im „neueren Zeitalter, das von dem der Römer höchst verschieden“ sei, immer schon ein Mangel einer hier ansetzenden subsidiari­schen Gesetzgebung bestanden habe. Keinesfalls könne man die von ihm geforderten Spezial­be­stimmungen für die Arbeitsverhältnisse durch Verweisung auf das allgemeine Vertragsrecht entbehr­lich machen: Es „begründet fast jedes einzelne verschiedenartige bürgerliche Verhältnis, ja jede einzelne Geschäftsführung und oft jedes einzelne Geschäft selbst, verschiedenartige Privatrechte, die wiederum spezielle Beurtheilungsnormen, mithin specielle gesetzliche Bestimmungen erfordern. Eben darin liegt der Sinn, worin man mit den allgemeinen Theorien des Privatrechtes überall in der Gesetzgebung nicht ausreicht, sondern sich zur speciellen Be­ arbeitung der einzelnen Rechtsverhältnisse bequemen muß und je weiter eine Nation im Luxus, in der Cultur, im Umfange ihres Kennens und Wissens, ihres Handels und ihrer Gewerbe fortschreitet […] immer wie Verhältnisse zwischen den Individuen dabei und dadurch sich aufstellen, je größer und weiter muß dadurch das Gebiet dieser speciellen Rechtstheorien werden, indem kein neues bürgerliches Verhältnis entstehen kann, an das sich nicht auch neue Privatrechte und Verbindlichkeiten anschließen. Diese speciellen Rechtsbestimmungen kann man dadurch nicht entbehrlich machen, daß man etwa die gewerbetreibenden Individuen in jedem einzelnen Fall auf Abschließung einzelner Contracte und Feststellung ihrer Privatrechte durch dieselben verwiese. Wäre dies überhaupt möglich, so würde der größte Teil der b2ürgerlichen Privatrechtslehre entbehrlich werden. Daß er dies aber nicht ist, ergibt die tägliche Erfahrung. Die meisten Geschäfte des bürgerlichen Lebens werden geschlossen, ohne daß die Schließenden sich aller ihrer privatrechtlichen Folgen, die daraus entstehen können, oder sogar notwen­dig entstehen müssen, im Voraus bewußt sind.

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Es sind daher Streitigkeiten aller Art über Rechtsfragen unvermeidlich, die keine der Partheien vorausgesehen, mithin auch im Voraus nicht festgestellt hat. Für diese muß daher die bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit und die aus ihr hervorgehende bürgerliche Gesetzgebung die Auskunftsmittel und die Entscheidungsnormen liefern.“

Selbst am Niederrhein, wo mit der napoleonischen Herrschaft die Zünfte ganzlich aufgehoben worden waren und nicht mehr, wie in Preußen, als privatrechtlich organisierte Organisationen eine konkurrierende Rechtsordnung „in the shadow of the law“ aufrechterhielten, forderten die großen Verleger die Rückkehr zu „zunftähnlichen Verhältnissen“.74 Diesen Forderungen nach Einführung eines ‚arbeitsrechtlichen Korsetts‘ lag die Einsicht zugrunde, daß bei den verlagsmäßig betriebenen Riesenbetrieben (die Fa. v. d. Leyen beschäftigte mehr als 3.000 „Arbeiter“) eine rechtliche Steuerung des Einsatzes der Arbeitskräfte, ihre Verwaltung nach formalen Regeln und Gleichbehandlung unerläßlich waren, wenn die Organisation der Produktion nicht aus dem Ruder laufen sollte. Die Muster der zünftigen Tradition bildeten regelungstechnisch die Vorlagen, die zu Gebote standen. Sie wurden nicht nur von dem Fabrikenrichter Langerhans, der das täglich praktizierte Recht in seinen Enwurf für Berlin einarbeitete, sondern auch in den übrigen Teilen der Monarchie, wo es wegen des fehlenden „law in the books“ zu einem Regelungsvakuum gekommen war, in unterschiedlichem Umfang als praktiziertes Gewohnheitsrecht übernommen. In Württemberg sprach die Allgemeine Gewerbeordnung von 1828 das aus, was anderen Orts unter der Decke gehalten wurde und im allgemeinen Bewußtsein verschüttet ist: „Die Bestimmungen der Art. 14, 16–25 über die Verhältnisse des Lehrlings zum Lehrmeister, der Art. 33–41 über das Verhältnis zwischen Meistern und Gesellen, der Art. 43–45 über Gesellen-Mißbräuche und der Art. 60 und 61 über den Gewerb-Betrieb außerhalb des Niederlassungs-Ortes finden auch auf die unzünftigen Gewerbe ihre Anwendung.“75

In Sachsen ermöglichte die Regierung in Dresden noch 1844 den Maschinenwerkstätten der sächsischen Eisenbahnunternehmen, also der „high-tech“-Industrie jener Zeit, die Beschäftigung zünftiger Gesellen, um „sachverständige und geübte Arbeiter bei der Hand zu haben“.76 Dort galten bis zum Gewerbegesetz von 1861 neben einigen 74 Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 51. 75 Regierungsblatt für das Königreich Württemberg, 1828, S. 237–268. 76 Ministerialverordnungen an die Kreisdirektionen zu Dresden und Zwickau vom 28. Jan. 1844 und 28. Nov. 1842, abgedruckt bei Funke, Die Polizei-Gesetze und Ver­ ordnungen des Königreiches Sachsen, 4. Band, S. 282 f.

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Mandaten aus dem 17. Jahrhundert, die also noch vor der Reichszunftordnung von 1731 erlassen worden waren, die Generalinnungsartikel vom 7. Januar 178077 und das Mandat vom 7. Dezember 1810 als die wesentlichen Grund­lagen der zünftigen Arbeitsverfassung.78 Gleichwohl blieb Sachsen neben den von Preußen neu erworbenen Rheinlanden das führende Wirtschaftszentrum Deutschlands. Anders als in Preußen, wo die Probleme bis zur Gewerbeordnung von 1845 immer wieder von den Regierungen vorgetragen, aber in der Ministerialbürokratie ohne Resonanz blieben,79 entschloß man sich im Großherzogtum Baden angesichts des Dilemmas zu einer bezeichnenden Koexistenz von Ancien Régime und Code civil als der Inkarnation der Moderne. Der Code civil wurde unter dem Ettikett des „Badischen Landrechts“ beibehalten, aber erstaunlicherweise auch die Zunftverfassung. Theoretisch war diese Kohabitation eine Unmöglichkeit, sie bewährte sich aber in der Praxis. Dementsprechend galten in Baden bis zum Inkrafttreten des Gewerbegesetzes von 1862 im Wesentlichen die Ge­neralzunftartikel von 1760.80 Mit Ausnahme der Regelungen zum Ausbildungsverhältnis enthielten diese Generalzunftartikel als Rahmenordnung keine „arbeitsrechtlichen“ Bestimmungen für das Verhältnis zwischen Gesellen und Meistern,81 so daß die jeweiligen Zunftordnungen heran­zuziehen waren. In diesem Territorium, in dem nach einer Gewerbeaufnahme aus dem Jahre 1858 19.000 nichtzünftige und etwa 61.000 zünftige Gewerbetreibende gezählt wurden,82 war für das Handwerk bis zum Jahre 1862 also zu einem Großteil reines Zunftrecht bestimmend. Die in Baden praktizierte Lösung war bei näherer Betrachtung gar nicht so exotisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn selbst in Frankreich hielt man auf arbeitsrechtlichem Gebiet die Verbindung zum Ancien régime aufrecht, wenn auch in eher camouflierter Form. Die Stoßrichtung der Revolution hatte sich in erster Linie gegen die Korporationen gerichtet, die als intermediäre Organisationen den Durchgriff auf den einzelnen citoyen behinderten und mit der berühmten Loi Le 77 Mandat, die General-Innungs-Articul für Künstler, Professionisten, und Handwerker hiesi­ger Lande betr. vom 8. Jan. 1780, abgedruckt bei G. L. Funke (wie Fn. 75), 6. Bd., Leipzig 1847, S. 9 ff. 78 Mandat, die Abstellung einiger Innungsgebrechen betr. vom 7. Dez. 1810, a.a.O., S.  20  ff. Vgl. dazu den Entwurf einer Gewerbeordnung für das Königreich Sachsen nebst dazu ge­hörigem Entschädigungsgesetz, Dresden 1857, S. 1. 79 Vgl. Brand, Untersuchungen, Bd. 2, (wie Fn. 4), S. 28 ff, 167 ff,. 80 Rudolf Goldmann, Die rechtlichen Grundlagen der badischen Gewerbegesetzgebung im 19. Jahrhundert, Diss. Freiburg 1953, S. 5 ff. 81 Art. XI bis XXI, Carl Fridrich Gerstlacher, Sammlung aller Baden-Durlachischen [ .] Anstalten und Verordnungen, 3. Bd., Frankfurt 1774, S. 491 ff. 82 Entwurf eines Gewerbe-Gesetzes für das Großherzogthum Baden, Karlsruhe 1861, Beil. C.

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Chapelier vom 14. Juni 179183 abgeschafft wurden. Es war Napoleon persönlich, der die geheiligte Doktrin der Revolution, das Verbot jeglicher Sondergerichtsbarkeit, durchbrach. Mit der von ihm 1806 angeordneten Wiedereinführung der gewerblichgenossenschaftlichen Gerichtsbarkeit in der Form der Prud’hommes-Gerichte und der Verabschiedung von arbeitsrechtlichen Reglements unterhalb der Ebene des Code civil kam die alte Ordnung gleichsam durch die Hintertür wieder herein.84 Die hier praktizierte Rechtsprechung, mit Hilfe der Inhaltskontrolle über Art. 1135 des Code („Billigkeit und Herkommen“) sowie über das System der équité den Schutz der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber zu organisieren, wurzelte in den Prinzipien des Ancien régime. Diese Praxis erfuhr in Frankreich ihren entscheidenden Stoß durch die Entscheidung des Pariser Kassationshofes vom 14. Februar 1866. Er stellte in dem angefochtenen Prud’hommes-Urteil allein auf den Wortlaut des Arbeitsvertrages ab und verwarf die Berücksichtigung der Sonderordnung, insbesondere der équité.85 Die Kassation bedeutete den Wendepunkt in der französischen Arbeitsrechtsprechung. Sie fixierte die Vorrangigkeit der zivilrechtlichen Vertragslehre und zugleich der ordentlichen Justiz gegenüber dem Bastard der arbeitsrechtlichen Prud’hommes-Rechtsprechung. Die Parallelität der Entwicklung in Deutschland ist verblüffend. Die 1860er Jahre bedeuteten nicht nur für Frankreich eine Zeitenwende. In Deutschland kam es zu dieser Zeit auch in denjenigen Staaten des deutschen Bundes, die dem vorpreschenden Preußen zunächst nicht gefolgt waren, zur endgültigen Aufhebung der Zunftverfassung,86 so auch in Baden. Es galt nunmehr das Zivilrecht, abgemildert durch die neuen Gewerbeordnungen. Sie nahmen einen Teil des bis dahin geltenden Zunft- und Gewohnheitsrechts auf. Ein Beispiel für diese Ausstrahlung der zünftigen Sonderordnung ist in der folgenden Synopse dargestellt:

83 Loi relative aux Assemblées d’ouvriers et artisans de même état et profession, Loi et actes du gouvernement III mars à jouillet 1791, p. 287 ff; deutsche Übersetzung in: Walter Markow, Revolution im Zeugenstand, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1987, S. 158 ff. 84 Vgl. die Einzelheiten bei Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 335 ff und Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 179 ff. 85 Einzelheiten bei Brand, Untersuchungen Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 212 ff. 86 U.a. Bremen, Nassau, Oesterreich, Oldenburg, die thüringischen Staaten, Sachsen, Württemberg. Vgl. die Übersicht in Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 26, Fn. 28.

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Kontinuität arbeitsrechtlicher Regelungen von der Zunft bis zur staatlichen Gesetzgebung am Beispiel der außerordentlichen Kündigung Allgemeines Landrecht von 1794 2.Teil, 8.Titel

Preußisches Reglement von 1801 für die Textilindustrie

Kurhessische Zunftordnung von 1816

Entwurf einer Fabrikordnung für Berlin von 1822

Gesetz über die Innungen und Zünfte im Großherzogtum WeimarEisenach von 1821

Preußische Sächsisches Gewerbe- Gewerbegesetz ordnung von 1861 von 1845

Gewerbeordnung des norddeutschen Bundes von 1861

§ 379

§6

§ 113

§ 118

§ 90

§ 140

§ 66

§ 111

Ohne dergleichen Aufkündigung kann der Meister einen Gesellen sofort entlassen

In folgenden Fällen ist der Meister befugt, seinen Gesellen sogleich, ohne vorgängige Ankündigung, zu entlassen:

Entlassen kann der Meister den Gesellen sofort,

(Entlassung ohne Aufkündigung.) Jeder Lohnherr kann seinen Gehülfen ohne Aufkündigung entlassen:

Entlassen kann dagegen der Meister den Gesellen sofort:

Vor Ablauf der vertraglichen Arbeitszeit und ohne vorhergegangene Aufkündigung können Gesellen und Gehülfen entlassen werden:

Entlassung der Arbeiter ohne Kündigung. Ohne Rücksicht auf Kündigung darf der Arbeiter, soweit nicht der Arbeitsvertrag oder die Fabrikordnung weitergehende Bestimmungen enthält, sofort entlassen werden:

Vor Ablauf der vertragsmäßigen Arbeitszeit und ohne vorhergegangene Aufkündigung können Gesellen und Gehülfen entlassen werden:

1) wenn derselbe ihn oder seine Familie durch Thätlichkeiten, Schimpf und Schmähworte oder ehrenrührige Nachreden beleidigt

1) wenn derselbe ihn oder seine Familie durch Thätlichkeiten, Schimpf und Schmähworte oder ehrenrührige Nachreden beleidigt;

1) wenn derselbe ihn oder seine Familie durch Thätlichkeiten, Schimpfworte oder böse Nachreden beleidigt;

2) wenn er ihn oder seine Familie durch Thätlichkeiten, Schimpfund Schmähworte oder ehrenrührige Nachrede beleidigt;

a) wenn derselbe ihn oder seine Familie durch Thätlichkeiten, Schimpfworte oder böse Nachrede beleidigt;

3) wenn sie sich Thätlichkeit oder Schmähungen gegen den Arbeitsherrn oder die Mitglieder seiner Familie erlauben;

d) wenn er den Arbeitsherrn oder ein Glied seiner Familie oder seines Hausstandes, oder eine in der Werkstatt zur Aufsicht angestellte Person thätlich oder sonst schwer beleidigt;

4) wenn sie sich Thätlichkeiten oder grobe Ehrverletzungen gegen den Arbeitgeber oder die Mitglieder seiner Familie zu Schulden kommen lassen;

§ 380 2) wenn er sich beharrlichen Ungehorsam und Widerspänstigkeit gegen die Anweisungen des Meisters schuldig macht;

2) wenn er sich beharrlichen Ungehorsams und Widerspänstigkeit gegen die Anweisungen des Meisters schuldig macht;

2) wenn er beharrlichen Ungehorsam oder Widersetzlichkeit gegen die Anweisungen des Meisters bezeigt;

3) wenn er sich beharrlichen Ungehorsams und der Widerspänstigkeit gegen dessen Anordnungen schuldig macht;

b) wenn er beharrlichen Ungehorsam oder Widersetzlichkeit gegen die Anweisung des Meisters bezeigt;

1) wenn sie eines groben Ungehorsams oder beharrlicher Widerspenstigkeit sich schuldig machen

f ) wenn er sich weigert, die ihm übertragene Gewerbearbeit auszuführen

2) wenn sie den in Gemäßheit des Arbeitsvertrages ihnen obliegenden Verpflichtungen nachzukommen beharrlich verweigern;

Soweit man das Recht des Ancien Régime in die Gewerbeordnungen inkorporiert hatte, wurde es zu einem der wenigen arbeitsrechtlichen Normen i.S. von „law in the books“, mit dem auch die Juristen hantieren konnten. Mit dem „law in action“ standen sie in doppelter Weise auf Kriegsfuß. Ihnen war das lebende Recht im Sinne von Eugen Ehrlich

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bis zu dem Erscheinen von Lotmars „Arbeitsrecht des Deutschen Volkes“ unbekannt. In den Palästen der Pandektistik, gebaut aus dem rechtlichen Marmor Roms, war man nicht an der Bauweise von Fachwerkhäusern des Ancien Régime interessiert. Lotmar hatte deshalb 1902 scharf­sinnig bemerkt, die Juristen gehörten hinsichtlich des Rechts der Arbeit „gewissermaßen einer anderen Nation“ an.87 Die Folgen lassen sich aus den gescheiterten Versuchen ablesen, im 19. Jahrhundert mit der Ziviljustiz oder auch nur mit juristischen Vorsitzenden Institutionen für die Entscheidung von Arbeitsstreitigkeiten zu etablieren. Bis auf die reinen Laiengerichte nach französischem Vorbild sind sie sämtlich gescheitert.88 Aus der erwähnten Untersuchung der Elberfelder Gewerbegerichtsbarkeit ist das Übergewicht der verlagsmäßig organisierten Massenproduktion im Jahre 1842 mit 50 % sowie 35 % der aus dem Handwerk stammenden Klagen deutlich ersichtlich. In diesen beiden Sektoren, die den Löwenanteil stellten, galt das überkommene Recht des Ancien Régime. 1891, am Ende der Untersuchungsperiode, ist der Strukturwandel deutlich ersichtlich. Auf den Verlag entfallen nur noch 8 % der Klagen, während sich das Handwerk behauptete und mit 42 % sogar noch zulegte. Auffällig ist 1891 die stark angestiegene Zahl der anhängigen Sachen, die weder dem Handwerk noch den „Fabriken“ noch dem Verlag zugeordnet werden konnten. Es handelte sich hier vor allem um den tertiären Sektor mit seinen weit ausgefächerten Dienstverhältnissen, der sich an den Instituten der Sonderordnung orientierte. Materiellrechtlich standen für den Untersuchungszeitraum von 1842–1891 die Klagen auf Lohnzahlung mit 33,8 % und die Schadensersatzansprüche mit 41,1 % im Vordergrund.89 Bei den letztgenannten Ansprüchen ging es ganz überwiegend um die Nichteinhaltung der gewohnheitsrechtlichen Kündigungsfristen durch die Arbeitgeber und die Geltendmachung des Lohns für diese Zeit. Gleichsam spiegelbildlich entfielen die zweitmeisten Klagen auf die Arbeitgeber, die Schadensersatz von denjenigen forderten, die ihren Arbeitsplatz ohne Kündigung verlassen hatten. Auch im Verlag dominierte das zünftige Vorbild insofern, als überkommene Rechtsinstitute, wie Kündigungsfristen, Schadensersatzleistungen bei Verzug und Unmöglichkeit, sowie gewisse Verhaltenspflichten in das „Arbeitsverhältnis“ eingingen und von den Rheinischen Gewerbegerichten als „Recht“ sanktioniert wurden. Zusammen mit den genannten Streitgegenständen sowie den Klagen aus Verzug, Schlechterfüllung, 87 Lotmar, Arbeitsvertrag (Fn. 14), S. 26. 88 Vgl. dazu Brand, Untersuchungen, , Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 212 ff. 89 Diese Werte stimmen mit den Statistiken der Gewerbegerichte im Jahre 1900 überein, die ebenfalls ein Drittel der anhängigen Sachen als Kündigungssachen auswiesen, vgl. Alfred Glücksmann, Aus der Praxis der gewerblichen Sondergerichte, in: Preuß. VerwBl. 1907, S. 181–185 (182).

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Verletzung der Ausbildungspflichten, den Treue- und Verhaltenspflichten sowie der Rechtsprechung zum Betriebsrisiko wurden auf der Grundlage der Rechtsordnung des Ancien Régime entscheidende Weichen für das heutige Arbeitsrecht gestellt.90 Nach dem erwähnten Sieg des Zivilrechts über die Sonderordnung in Frankreich durch die Rechtsprechung des Kassationshofes und der parallelen Beendigung des Ancien Régime durch die flächendeckende Einführung der Gewerbefreiheit im Deutschen Bund in den 1860er Jahren waren die Reservate der alten Ordnung beseitigt. Ihr Ende schien besiegelt. Wie in einem kommunizierenden Röhrensystem pegelte sich aber über den Aufstieg der Tarifverträge das Verhältnis der konkurrierenden Rechtsmassen wieder ein. Kollektive Vereinbarungen waren ja nicht Neues. Man hatte die frühen Tarifverträge des 18. Jahrhunderts91 und die entsprechenden Anläufe in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts keinesfalls vergessen.92 Sie blieben Vorbild für die Arbeiterbewegung, die an maßgebender Stelle von „Gesellen“ geführt wurde. Sie waren es auch, die trotz verschärfter Antikoalitionsgesetzgebung in den sechziger Jahren die regionalen Tarifverträge vorbereiteten. Aufschlußreich ist hier die Formulierung in Ziff. 3 des Statuts der ZigarrenarbeiterAssoziation von 1848 / 49.93 Danach war es das Ziel der Vereinigung, „daß die Rechte der Arbeiter den Rechten der Arbeitgeber ge­genüber gegenseitig geordnet werden“.94 Man ging auf seiten der Gesellen wie der „Arbeiter“ nicht von obrig­keit­lichen „Gesetzen“ aus, sondern von bestehenden „Rechten“, die nach ihrer Fin­dung mit dem gefundenen Recht der Gegenseite in Übereinstimmung gebracht werden mußten.95 Insbesondere die stets präsenten und nie aufgegebenen Vorstellungen vom „gerechten Lohn“96 fanden in den Tarifverträgen das eingangs erwähnte rechtliche Pferd, das mit 90 Vgl. im Einzelnen die Ergebnisse der Auswertung in Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 128 ff. 91 Vgl. den unter dem Dach der Zunft von den Tarifparteien autonom ausgehandelten und der Düsseldorfer Regierung 1785 für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag für die Messerfabrikation in Solingen, in: Brand, Untersuchungen, Bd.1, (wie Fn. 34), S. 373 ff. (Die kollektiven Vereinbarungen). 92 Köllmann (Hrsg.), Wuppertaler Färbergesellen-Innung und Färbergesellen-Streiks 1848–1857, S.  89–97. Fanny Imle, Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland, Jena 1907; Eduard Rosenthal, Die gesetzliche Regelung des Tarifvertrages, Tübingen 1908; Hans-Peter Ullmann, Tarifverträge und Tarifpolitik in Deutschland bis 1914, Frankfurt a. M. 1977. 93 Toni Offermann, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutsch­land 1850– 1863, Bonn 1979, (S. 114–123). 94 Ebda, S. 116. 95 Brand, Untersuchungen, Bd 1 (Fn. 35), S. 69 ff, Bd. 2 (Fn. 4), S. 101 ff. 96 Vgl. etwa die Diskussionen über „den gerechten Lohn“ in der Lyoner Seidenindustrie zwischen den „Tarifparteien“ in: L’Écho de la Fabrique, 22. Jan. 1832, p. 4–6, bzw. die Ausführungen im Elberfelder Gesellschaftsspiegel, Organ zur Vertretung der besitzlo-

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seiner Kapazität und Zugkraft, noch vor der individuellen Rechtsdurchsetzung, zum wichtigsten Gestaltungsmittel der Arbeitnehmer wurde. Als 1869 in der Gewerbeordnung die Koalitionsfreiheit für gewerbliche Arbeitnehmer eingeführt wurde, stand das Tor offen. Am 9. Mai 1873 kam es mit dem Tarif für das Buchdruckergewerbe zum ersten Tarifvertrag auf Reichsebene. Andere Gewerbe folgten.97 Im Bewußtsein der Arbeitnehmer war die Vorstellung von einem für alle gleichmäßig geltenden „Tarif “ nunmehr so verankert, wie er in § 38 I des Buchdruckertarifs von 1889 niedergelegt war: „Der Tarif ist der von Prinzipalen und Gehilfen anerkannte Ausdruck dafür, was für die beiderseitigen Beziehungen und Leistungen im deutschen Reiche allgemein als gerecht und billig festzuhalten ist“.98

Man kann gegen Ende des „Langen Jahrhunderts“ geradezu von einer Explosion dieser Vereinbarungen sprechen, mit denen man sich nach dem erzwungenen äußerlichen Abschied vom Recht des Ancien Régime nunmehr kollektiv materiell das Recht der abgeschafften Sonderordnung verschaffte. 1907 waren bereits 5.327 kollektive Vereinbarungen für 111.050 Betriebe und 974.564 Personen abgeschlossen worden. Drei Jahre später wurde ihre Klagbarkeit durch das Reichsgericht anerkannt.99 Im Jahre 1914 regelten 11.309 Tarifverträge für 157.008 Betriebe und 1,5 Millionen Beschäftigte das gewerbliche Leben,100 ohne daß die Gesetzgebung entscheidend an Inhalt und Form beteiligt gewesen wäre.101 Diese rasante Verbreitung und Akzeptanz eines angeblich neuen Rechtsinstituts wäre nicht möglich gewesen ohne das rechtskulturelle Bewußtsein einer autonom geschaffenen Ordnung, das in dieser Breite und Tiefe unmöglich erst in den drei vergangenen Jahrzehnten entstanden sein konnte. In Deutschland erklärten die Gewerkschaften bezeichnenderweise in den Beratungen zum Entwurf des Arbeitsvertrags-

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sen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart, hrsgg. v. Moses Heß, 1. und 2. Bd. 1845 / 46 (Neudruck Amsterdam 1971). Theo Mayer-Maly, Arbeitsrecht, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 3. Bd., 3. Teilbd., München 1986, S. 3707. Abgedruckt bei Ullmann, Tarifverträge (Fn. 91), S. 18. Die Entscheidung vom 20. 10. 1910 in RGZ 73, 92 ff betraf einen Tarifvertrag der Tischlereibranche mit Vereinbarungen über Mindestbeträge im Stundenlohn und Akkord. Ullmann, Tarifverträge (Fn. 92), S. 227. So beklagte die Metallarbeiter-Zeitung, das Verbandsorgan des Deutschen Metallarbeiterverbandes, im Jahre 1913, daß es zwar immer mehr Gruppenverträge gebe, der Tarifvertrag „aber in der Gesetzgebung so gut wie gar nicht berücksichtigt“ sei.

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gesetzes von 1923, daß sie Tarifverträge in bestimmten Bereichen den Vorzug gäben vor gesetzlichen Regelungen, und in Frankreich lehnte die „Confédération générale du travail“ auf dem Kongress von Amiens 1906 geschlossen die gesamte geplante Arbeitsgesetzgebung mit dem Argument ab, sie beruhe auf dem Römischen Recht.102 3. Vertragsfreiheit als Dogma und Realität

Integraler Bestandteil des modernen Arbeitsrechts ist das normative und liberale Ideal der persönlichen Freiheit. Wenn es also nicht die Fabrik als „die neue Form der Produktion“ und auch nicht die Gewerbefreiheit waren, die ein neues „modernes“, vorher unbekanntes Recht generierten, so bleibt die Frage nach der Rolle der Privatautonomie und damit der Vertragsfreiheit als Ausdruck des Individualisierungsprozesses, den die Gesellschaft im 19. Jahrhundert durchmachte. Wurde die „freie Übereinkunft“ erst mit der Industrialisierung verwirklicht, war sie vorher gänzlich unbekannt oder noch nicht entwickelt oder erfuhr sie erst mit dem Sieg der modernen Privatrechtskodifikationen ihren Durchbruch? Seitdem Maine mit seinem fokussierenden Schlagwort from status to contract eine Hinwendung der „progressiven Gesellschaften“ zur „freien Übereinstimmung von Individuen“ konstatiert hat,103 nehmen Teile der Literatur für die gewerblichen Arbeitskräfte vor der „Industrialisierung“ eine Art rechtlicher Fesselung an, die nicht mehr weit von der Sklavenmiete römischer Provenienz entfernt ist. So heißt es bei Richardi: „Zwar hat es auch in den vorhergehenden geschichtlichen Epochen eine Arbeitsverfassung gegeben; denn jede Kultur beruht auf dem Grundsatz der Arbeitsteilung. Diese war aber durch eine rechtlich gesicherte soziale Herrschaftsgewalt über Personen verwirklicht worden. Das Recht auf die Dienstleistung stand demjenigen zu, dem Herrschaftsgewalt über die Person gegeben war. Eine gleichberechtigte Mitgestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen war nicht einmal formal gewährt.“104

Joachim Rückert hat in seiner Abhandlung „Frei und sozial: Arbeitsvertrags-Konzeptionen um 1900 zwischen Liberalismen und Sozialismen“ das gesamte zeitgenössi102 XVe Congrès national corporatif, Compte rendue des Travaux, Amiens, 1906; nach Norbert Olszak, Histoire du droit du travail, Paris 1999, p. 7. 103 Henry Summer Maine, Ancient Law, Repr. of the 3. ed., London 1866, New Brunswick, NJ, 2002, S. 168. 104 Reinhard Richardi, Einleitung zur 64. Auflage seiner Textsammlung „Arbeitsgesetze“, München 2004, S. XIV.

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sche Schrifttum zum Problem der normativen und individuellen Freiheit eingehend untersucht.105 Dabei sind die in der Literatur verbreiteten holzschnittartigen und klischeehaften Beschreibungen der rechtshistorischen Wirklichkeit (wie oben) zugunsten einer grundsätzlicheren Analyse reduziert worden: „Rechtsgeschichtlich Neues [im Arbeitsrecht] beginnt mit den ersten grundsätzlich privatrechtlichen Fragen an die alten arbeitsrechtlichen Regeln, die immer schon ‚sozial‘ Problematisches regelten. Begriff der Freiheit und Anschauung der realen Unfreiheit zusammen erst bewirken Neues, nicht einfach industrielle Produktionsformen [!] oder Abhängigkeitsquantitäten an sich. Im Lichte der privatrechtlichen Freiheitsfrage tritt die Abhängigkeit hervor, die jahrhundertelang vorhanden, aber sklavenrechtlich, ständerechtlich, zunftrechtlich oder handwerksrechtlich eingebunden war.“106

In einem Einführungsbeitrag zum „Historisch-kritischen BGB-Kommentar“ präzisiert Rückert seine vorsichtige Ablehnung einer arbeitsrechtlichen Kontinuität unter der Kapitelüberschrift „a. Große Prinzipien: vom gebundenen zum freien Privatrecht“ mit der Behauptung, selbstverständlich habe es auf diesem Gebiet „jahrhundertelang“ Verträge gegeben, aber „keine grundsätzliche Vertragsfreiheit“.107 Das Handwerk, das vor der „Industrialisierung“ und während des Umbruchs im 19. Jahrhundert die meisten ausgebildeten Arbeitskräfte stellte, ist auf diesen „Freiheitswert“ i.S. Rückerts konkret zu untersuchen. Wenig hilfreich sind die dabei immer wieder gebrauchten Stereotypen von den rechtlichen Schranken, die erst mit der Gewerbefreiheit gefallen seien und mit deren Aufhebung für das zivilrechtliche Prinzip der Vertragsfreiheit erst „die Geburtsstunde geschlagen“ habe.108 Zunächst ist zu differenzieren zwischen den Angehörigen der Korporationen, sei es, daß sie freiwillig bestanden, wie in Preußen, sei es, daß sie öffentlich-rechtlichen Zwangscharakter hatten, wie in den meisten Staaten des Deutschen Bundes bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Sodann ist zu klären, wie die Arbeitsverträge in diesem Bereich tatsächlich zustandekamen und wie sie inhaltlich ausgestaltet waren. Nimmt man das Gesetz vom 15. Mai 1821 über die Innungen und Zünfte für das Großherzogtum Weimar-Eisenach109 als Beispiel, so diente nach dem Ein­tritt in den 105 Joachim Rückert, „Frei“ und „sozial“ (Fn. 5), S. 227. 106 Ebda, (227). 107 Joachim Rückert, Das BGB und seine Prinzipien: Aufgabe, Lösung, Erfolg, in: Schmoeckel / Rückert /  Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, Tübingen 2003, vor § 1, Rdnr. 69. 108 Reinhard Richardi, in: ders. (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, Bd. 1, § 2, Rdnr. 1. 109 Gesetz vom 15. Mai 1821 über die Innungen und Zünfte, Sammlung Groß­herzogl. S.-Weimar-Eisenachischer Gesetze, Verordnungen und Circularbefehle in chro­

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Gesellenstatus eine Karenzzeit von vier Wochen dazu, die gegen­seitigen Ansprüche aus der Lehrzeit abzuklären.110 Auch die Aushandlung der Be­ding­ungen und der Antritt des „Arbeitsverhältnisses“ waren genau geregelt. War der Geselle nach Erhalt der Kundschaft mit seinem Wanderbuch in eine fremde Stadt eingewandert, so wurde er von dem Altgesellen auf der Herberge an denjenigen Meister gewie­sen, der auf der entsprechenden Liste111 oben eingetragen war.112 Ein Kontrahierungszwang bestand insofern, als eine individuelle Aus­wahl des Meisters durch den Gesellen nicht möglich war.113 Im Falle einer gescheiterten Einigung über die nachstehend angeführten arbeitsvertraglichen Punkte konnten aber neue Verhandlungen mit dem nächsten Meister, der auf der Liste stand, aufgenommen werden. Meister und Ge­selle hatten sich jeweils zwingend über folgende Gegenstände „zu vertragen“:114 1. die Dauer des Vertrages. 2. den Lohn. War er durch Zunftartikel „oder auf andere Weise, gesetzlich bestimmt“, konnte die Obergrenze nicht überschritten werden. Abschlüsse mit geringerem Lohn waren (nach dem Gesetz) zulässig. 3. die Wohnung, die regelmäßig im Hause des Meisters liegen mußte. Lediglich für besondere Berufsgruppen, wie Maurer, Zimmerleute und an­dere Handwerker, die die Arbeit nicht in dem betroffenen Hause verfertig­ten, waren Ausnahmen möglich.115 4. die Modalitäten der Verpflegung. Erst wenn beide Seiten sich über eine dieser Mindestvoraussetzungen des Ver­trages „nicht vereinigen“ konnten, durfte der Geselle zu dem nächsten in der Liste aufgeführten Meister gebracht werden. Allerdings war es möglich, daß die Zunftvorsteher in den Fällen, in denen „übermäßige oder ordnungs­widrige For­derungen“ des Gesellen vorlagen, „den Ausspruch“ taten. Der ohnehin gewohn­heits­mäßig und durch „Tarifverträge“ festgelegte Vertragsinhalt wurde also notfalls durch die Intervention der Zunftleitung weiter an den Standard angeglichen. Auch die dem Vertragsschluß folgende Probezeit von 14 Tagen diente dazu, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Hatte es sich herausgestellt, daß man nicht

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nologischer Ordnung, hrsgg. von F. von Göckel, 2. Theil, 2. Abtheilung, 1820–1827, Eisen­ach 1830, S. 872–940. Ebda, § 67. Ebda, § 78. Ebda, § 71. Ebda, § 77. Ebda, § 81. Ebda, § 81c i. Verb. mit § 36.

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zueinander paßte, dann konnten innerhalb dieser Frist beide Teile ohne Begrün­dung „von dem Vertrage abgehen“.116 Der Geselle erhielt den Lohn für die Tage, an denen er tatsächlich gearbeitet hatte. Hinzu trat die Vergütung für Sonn- und Festtage.117 Die allgemeinen Verpflichtungen aus dem Dienstverhältnis, mit dem die Treue­ pflicht des Gesellen umschrieben wurde, entsprachen dem hergebrachten Zunft­recht.118 Nach Ablauf der eingegangenen Vertragszeit stand es den Parteien frei, einen neuen Vertrag zu schließen. Geschah dies nicht, galt für beide Seiten eine Kündi­ gungsfrist von 14 Tagen119 (eine Bestimmung, die 1890 vom Reichstag in § 122 der Gewerbeordnung übernommen wurde). Für den Gesellen war die außerordentliche Kündigung mit sofortiger Wirkung erlaubt, wenn der Meister a. sich ohne dringende Veranlassung tätlich an dem Gesellen vergriff; b. den guten Ruf des Gesellen zu kränken suchte; c. den verdienten oder ausgemachten Lohn des Gesellen ungerecht zu­rückhielt.120 Zwar war das Arbeitsverhältnis insofern öffentlich-rechtlich verankert, als die Liste der Arbeitgeber (der Meister) abgearbeitet werden mußte, aber ein grundsätzlicher Kontrahierungszwang bestand nicht. Der Geselle konnte sämtliche Angebote ablehnen und weiterwandern.121 Aus dem Umstand, daß bei Übertretung bestimmter Regelungen der Zunftordnung öffentlich-rechtliche Sanktionen möglich waren, zu folgern, es habe keine freien Verträge gegeben und „eine gleichberechtigte Mitgestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen [sei] nicht einmal formal gewährt“ worden, bedeutet eine Verengung der Vertragsfreiheit auf eine bestimmte, nicht unwichtige, aber im gesamten Kontext nicht entscheidende Variable. Max Weber hat die der Vertragsfreiheit stets immanenten Schranken deutlich benannt: „Die Vertragsfreiheit ist dabei in keiner Rechtsordnung eine schrankenlose, dergestalt, daß das Recht für jeden beliebigen Inhalt einer Vereinbarung seine Zwangsgarantie zur Verfügung stellte. Charakteristisch für die einzelne Rechtsordnung ist vielmehr: für welche Vertragsinhalte dies geschieht und für welche nicht.“122

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Ebda, § 83. Ebda, § 83. Ebda, §§ 86, 87. Ebda, § 88. Ebda, § 89. Zu dieser wichtigen, tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeit Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 90 ff. 122 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 134), S. 399.

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Auch hier lohnt ein Vergleich dieser in der Korporation durch präzise Regeln eingeräumten Möglichkeit einer individuellen Vertragsgestaltung mit der „durch Rechtsschemata reglementierten Ermächtigungsautonomie“123 beim „Eintritt“ des Arbeiters in eine „Fabrik“. Das hier privatrechtlich begründete besondere Gewaltverhältnis griff in den meisten Fällen schwerer und nachhaltiger in die persönliche Freiheit ein als die öffentlich-rechtlichen Konstruktionen der Korporation. Im übrigen sollte man die oben genannten Bestimmungen mit den heute herrschenden Verhältnissen vergleichen, in denen die weitaus meisten Arbeitnehmer auf der Grundlage von bestimmten Tarifverträgen „eingestellt“ werden, ohne daß es etwas zu verhandeln gibt. Erstaunlich ist hier die Fokussierung der Vertreter der Diskontinuitätstheorie auf die Zwangsnatur der Korporation, deren Regeln man nach der Aufnahme vollständig ausgeliefert gewesen sei, immerhin durch eine auf der Grundlage der Privatautonomie abgegebene Willenserklärung! Hingegen wird bei dem Eintritt in die zentralisierten Betriebe, mit gleichzeitiger Unterwerfung unter das Fabrikreglement, die Vertragsfreiheit als konstituierendes Element des neuen modernen Arbeitsrechts hervorgehoben und gefeiert. Was nun die zunftfreien Arbeitskräfte in Handwerk und Verlag betraf, so zeigte sich in der erwähnten Untersuchung des Verf. zur Schlichtung und Rechtsprechung des Elberfelder Gewerbegerichts, daß in dieser ersten deutschen Industriestadt auch in den fünfziger Jahren bis in die sechziger Jahre hinein das Statusrecht des Ancien régime in der routinierten Wiederholung bestimmter codierter Handlungen gelebt wurde.124 Der Unterschied zu den heutigen staatlichen oder kollektiv getroffenen Interventionen, die die Gestaltungsmacht der Parteien einschränken, bestand damals (noch) nicht oder allenfalls rudimentär. Auch wenn individuelle Vorstellungen der Parteien nur bedingt zum Ausdruck kamen, heißt dies noch nicht, daß eine privatautonome Gestaltung der Beziehungen durch entsprechende Willenserklärungen ausgeschlossen gewesen wäre. Aber nicht eine schöpferische Ausgestaltung der durch einen Vertrag festzulegenden Abmachungen als vielmehr die fortgeschriebene Regelung der überkommenen gegenseitigen Verpflichtungen gehörte zum Alltag des Arbeitsvertrages. Sein Inhalt speiste sich aus dem gewohnheitsrechtlichen Kanon.125 Die vielzitierte Gewerbefreiheit und der geltende Code civil änderten daran für den Geltungsbereich des Rheinischen Rechts zunächst nur wenig, in einigen gewerblichen Bereichen so gut wie gar nichts.126

123 Ebda, S. 439. 124 Einzelheiten bei Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 232 ff. 125 Zum typischen Ablauf im Handwerk vgl. Brand, Untersuchungen, Bd. 2, (wie Fn. 4), S. 72. 126 Zu den Einzelheiten s. Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 232.

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Diese Ergebnisse des Verf. decken sich mit der Feststellung von Schmoller aus dem Jahre 1874: „Ein schriftlicher Vertrag ist überhaupt äußerst selten; man hat dazu nicht die Zeit. Die arbeitenden Klassen haben vielfach gar keinen Begriff davon, daß das nötig sei. Sie nehmen an, mit dem Eintritt in dieses oder jenes Dienstverhältnis seien gewisse herkömmliche Sätze, von denen sie so ungefähr vom Hörensagen wissen, rechtens. Die lokalen Gewohnheiten und Traditionen beherrschen auch heute noch den Arbeitsvertrag, soweit er nicht gesetzlich geregelt wird.“127

Atiyah schließlich hinterfragt für den hier interessierenden Zeitraum den individualistischen Freiheitsbegriff, indem er darauf hinweist, daß die nach der klassischen deutschen Theorie herrschende Doktrin einer Bindung durch den geäußerten kongruenten Willen der Parteien in England erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß Savignys allmählich an Einfluß gewonnen habe: “Traditionally, a contract was primarily conceived as a relationship involving mutual rights and obligations; there was not necessarily an implication that the relationship was created by a conscious and deliberate of will, still less that the rights and duties thereby generated were the creatures of the will, […] The somewhat mystical idea [!] had gained acceptance that an obligation could be created by a communion of wills, an act of joint, is purely mental procreation. Even pragmatic English judges who have usually been strong on experience and weak on theory, began to talk in these terms.”128

Wenn der von Rückert als Bannerträger des unverfälschten Privatrechts in Anspruch genommene Lotmar129 konstatierte, daß es keinesfalls zu einem abrupten Wechsel in Richtung eines „freien Arbeitsvertrages“ gekommen sei,130 so fragt es sich, ob die Entscheidung, ein wichtiges Element der Lebensbeziehung freiwillig nach „herkömmlicher Art“ zu gestalten, als „bevormundend kollektiv“,131 d.h. als unfrei i.S. der Vertragsautonomie, einzustufen ist. Tatsächlich bestätigt die Auswertung für die ersten Jahre der Spruchtätigkeit des Elberfelder Gerichts die Auffassung von Atiyah,

127 Gustav Schmoller, Die Natur des Arbeitsvertrages und der Kontraktbruch, in: Zeitschrift für die gesamte Staatsrechtswissenschaft Bd. 30 (1874); überarbeitet in: ders., Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart, Leipzig 1890, S. 68. 128 P.S. Atiyah, The Rise and the Fall of Freedom of Contract, Oxford 1979, p. 407. 129 Rückert, Frei u. soz. (Fn. 5), S. 245 ff, 130 Lotmar, Arbeitsvertrag,(wie Fn. 14), 1. Bd. S. 16 ff. 131 Rückert, Frei u. soz. (Fn. 5), S. 283.

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that “a man did, what he did, not because he chose to, or agreed to, but because it was customary”.132 Empirisch reduzierte sich hier die „Freiheit“ auf die Abschlußfreiheit, d.h. die Freiheit, die betreffende „herkömmliche“ Verpflichtung im Arbeitsleben einzugehen. Überlieferung, Moral und lokale Vorstellungen beförderten die Umsetzung und Ausfüllung des abstrakt bestehenden, aber in der sozialen Wirklichkeit nicht bestehenden Spielraums: “Justice was more important than freedom of choice.”133 Basis der im Hinblick auf die im konkreten Falle unbestimmten, aber bestimmbaren Einzelheiten war die von Max Weber vertretene Auffassung von der „Geltung“ einer Ordnung. Nach der von ihm herausgearbeiteten sog. „Marktethik“134 werden die Beziehungen jenseits der positiven Rechtsordnung durch ein ungeschriebenes Werte- und Normensystem gesteuert, das in seiner Gesamtheit die Erwartungshaltung und die daraus folgende Handlungsorientierung der Akteure135 konditioniert. Sie ist abhängig von der Vorstellung und der Verbindlichkeit bestimmter Regelungen. Ihre Beachtung und Befolgung nur aus Pflichtgefühl oder aus Furcht oder aus „stumpfer Gewöhnung“ vermag keine Stabilität zu begründen. Die Betroffenen müssen vielmehr von der „Richtigkeit“ der Ordnungselemente überzeugt sein. Die Akzeptanz dieses herkömmlichen Rechts, bzw. seiner bestimmbaren Inhalte, durch ausdrückliche oder konkludente Willenserklärungen der Akteure vor den Gewerbegerichten verstieß daher weder gegen die Vertragsfreiheit noch gegen die Privatautonomie. Bei diesen Abschlüssen kraft Tradition und akzeptierter Geltung i.S. Max Webers werden fast immer die Lohntaxen übersehen. Die unter Beteiligung der Zunft obrigkeitlich festgestellten Lohntaxen, die in Preußen mit § 163 des Gewerbeedikts vom 7. September 1811 aufgehoben worden waren, in der Realität vielerorts aber weiterbestanden,136 hatten eine dreifache Funktion: Sie beseitigten die Gefahr der konkurrierenden Lohnunter­bietung, garantierten einen Mindestlohn und sicherten durch die zünftige Organisa­tion die Abführung der Sozialabgaben. Dieses oftmals als Relikt des Obrigkeits­staates und finsterer Zunftverhältnisse gescholtene Institut hatte also nicht nur die Wirkung eines Tarifvertrages. Es institutionalisierte auch die Mitwirkung der betroffenen Parteien. Aus diesem Grunde legte 1850 eine zu diesem Problem eingerichtete Kommission der Bremer Bürgerschaft auch großen Wert darauf, daß „vorab ein Einverständnis unter den Meistern und den Gesellen über die Höhe 132 Atiyah, Freedom of Contract (Fn. 128), S. 61. 133 Ebda, S. 62. 134 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Auflage 1976, besorgt von J. Winckelmann, Tübingen 1976, S. 383. 135 Dazu auch Wilbert E. Moore, Social Aspects of Economic Development, in: Paris (ed.), Handbook of modern Sociology, Chicago, 1964, p. 882 ff (893). 136 Brand, Untersuchungen, Bd. 1 (wie Fn. 35) S. 373 ff; Bd. 2 (wie Fn. 4) S. 372, 753 f; Bd. 3 (wie Fn. 35), S. 233.

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der Taxe vorhanden sein müsse“.137 Auf diesem Gebiet ist noch durch Archivarbeit zu klären, ob, wo und in welcher Form Meister und Gesellen an der Aushandlung des Ta­rifs beteiligt waren, bevor er in Form der „Taxe“ für ‚allgemein­ver­bindlich‘ erklärt wurde. Der Arbeitsvertrag wurde demgemäß im Sprengel des Elberfelder Gewerbegerichts nicht nur als Begründungstatbestand des „Arbeitsverhältnisses“138 gesehen, sondern, ähnlich wie in der heutigen modernen Lehre, als „causa“ für die sodann eingreifenden Regelungen.139 Es kann also auch für die beginnende Industrialisierung des 19. Jahrhunderts von „inhaltsleeren“ Arbeitsverträgen140 gesprochen werden, ohne daß deshalb der Rückschluß erlaubt wäre, hier handele es sich hier um „status before contract“. Anders als in den heutigen Massenarbeitsverhältnissen wurde die Vertragshülse aber häufig nicht mit gesetzlichen oder tarifvertraglichen Bestimmungen aufgefüllt, sondern mit dem Normengeflecht der Sonderordnung, zu dem dann noch kollektive Vereinbarungen traten. Alle diejenigen, die mit dem Konstrukt des „freien Arbeitsvertrages“ das moderne Arbeitsrecht beginnen lassen, müssen sich aber fragen lassen, inwiefern sich die heutigen Massenarbeitsverträge, bzw. die „Normalarbeitsverträge“,141 von den geschilderten Umständen unterscheiden. Auch die standardisierten Verträge in der Industrie oder im öffentlichen Sektor kommen weitgehend ohne „frei“ ausgehandelte Bestimmungen, ohne die gestaltende Tat zustande. Die betreffenden Arbeitnehmer werden unter Verwendung der sog. Bezugnahmeklauseln „eingestellt“. Vereinbart werden sehr oft nur der Antrittstermin und die Probezeit. Alles andere wird lediglich „mitgeteilt“,142 ein Umstand, den bereits Sinzheimer in seinem „korporativen Arbeitsnormenvertrag“ beschrieben hat.143 Der Widerstand der Arbeitnehmer gegen einseitig diktierte Vertragsbedingungen hatte im Industriezentrum Elberfeld den größten Erfolg in der verlagsmäßig organisierten Industrie. Hier ließen sich die in der Sonderordnung seit langer Zeit und teilweise europaweit eingeführten tatsächlichen Standards und rechtlichen Institute nicht ohne weiteres so verändern, daß sie sich mit den Rechtsverhältnissen 137 Bericht der wegen des Tagelohns der Maurer- und Zimmergesellen niedergesetzten Com­mission, in: Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom Jahre 1850, S. 196 f. 138 Dazu umfassend Richardi, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. München 2000, S. 55 ff. 139 Richardi (Fn. 138), S. 122 ff; Rebhahn, Der inhaltslose Arbeitsvertrag und die Betriebsnormen, AuR. 1963, S. 238 ff; Hugo Sinzheimer, Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 1. Teil, 1907, S. 9 ff. 140 Alfred Söllner, Arbeitsrecht, 5. Aufl., Stuttgart 1976, S. 205. 141 Zu diesem Begriff Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis (Fn. 12), 12 ff. 142 Rehan (Fn. 139), S. 238. 143 Hugo Sinzheimer, Arbeitsnormenvertrag, (Fn. 139) S. 9 ff.

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in den „geschlossenen Etablissements“ gedeckt hätten. Eine solche Entwicklung verbot sich auf Grund der fehlenden tatsächlichen Kontrolle in den dezentralen Fertigungsstätten. Auch die auf eine Stückfertigung abgestellten kurzen Laufzeiten der „Arbeitsverträge“144 ermöglichten eine erhebliche größere Unabhängigkeit der verlegten Kräfte. Sie begünstigten zugleich den Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber. Er geschah in den Zeiten der Hochkonjunktur oftmals ohne Fertigstellung des vereinbarten Arbeitsergebnisses, ein Problem, das die dezentrale Produktion seit ihren Anfängen begleitete und den „Arbeitnehmern“ eine tatsächlich stärkere Stellung einräumte, als dies heute vermutet wird.145 Bei den Arbeitsverhältnissen in der Zunft und im zunftfreien Handwerk bzw. im Verlag des 18. und 19. Jahrhunderts verbieten sich demgemäß Vorstellungen eines „ständischen Inkorporiertseins“, in dem der „Dienstverpflichtete“ „gleichsam leibeigen mit seiner ganzen Person der Gegenstand der rechtlichen Bindung war“.146 Hier war der Handwerksgeselle in seiner Entscheidung, ob ein Vertrag abgeschlossen wurde, ebenso frei wie der verlegte ländliche, zunftfreie Weber am Niederrhein oder der zunftangehörige Scherer in Aachen oder in Württemberg. Lohntaxen und generelle Verhaltens- und Abwicklungsvorschriften machten aus ihnen ebensowenig Objekte einer „rechtlich gesicherten soziale Herrschaftsgewalt“ wie aus den Arbeitnehmern im 20. oder 21. Jahrhundert. 4. Die Gewerkschaftsbewegung in England und Deutschland und das Ancien Régime

Bei der Frage nach dem erkenntnisleitenden Interesse für und wider die Kontinuitätsthese erweist sich eine Analyse der über 100 Jahre andauernden intensiven englischen Diskussion zur Kontinuität der Gesellenverbände und den modernen Gewerkschaften erhellend. Was England betrifft, so ist die Literatur zum eigentlichen Arbeitsrecht begrenzt. Aber die Bemerkung von Rainer Schröder, daß Arbeitsrechtsgeschichte zu einem guten Teil Legitimationsgeschichte sei,147 läßt sich beispielhaft an dem Verlauf der englischen Forschung zur Herausbildung der englischen Gewerkschaften und der 144 Vgl. dazu Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (wie Fn. 35) S.  23 ff (Der Kampf um den Arbeitnehmerbegriff ). 145 Vgl. die Fallstudie bei Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (Fn. 35), S. 46 ff. 146 So Eduard Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens. Ein Lehrstück zur Privatautonomie am Beispiel Otto v. Gierkes. In: Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, hrsgg. v. Wolfgang Schön, Köln 1997, 879–953 (883). 147 Rainer Schröder, Die Arbeitsverfassung des Spätmittelalters, Berlin 1984, S. 12.

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„Arbeiterklasse“ in der Industriellen Revolution dokumentieren. Obwohl es sich dabei nur am Rande um Ausführungen zur Rechtslage oder zu arbeitsrechtlichen Normen handelt,148 eröffnet ein Blick auf die ansonsten reiche englische Historiographie wertvolle Einsichten in die politische und ideologische Bedingtheit der deutschen und kontinentaleuropäischen Paradigmen zur Arbeitsrechtsgeschichte. Sidney und Beatrice Webb beherrschten seit 1894 mit ihrer „Geschichte des Britischen Trade Unionism“149 die Diskussion über eine Kontinuität von Zunft und Gewerkschaftsbewegung. Nach ihrer Auffassung, mit der sie eine ganze Forschungsepoche prägten, war ein organischer Zusammenhang zwischen den Gesellenvereinen und ihrer zünftigen Handwerkstradition und der Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts völlig ausgeschlossen.150 Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde eine Diskussion über die Kontinuität zwischen Ancien Régime und der industrialisierten Welt des 19. Jahrhunderts durch ihre Definition der Gewerkschaft in Abgrenzung zu den Gesellenverbänden bestimmt. Letztere könnten nicht als Vorläufer der ersteren betrachtet werden, weil es an drei Parametern fehlte, an den ökonomischen Bedingungen einer kapitalisierten und technisierten Wirtschaft, der Ausbildung von Klassen und ihrer Trennung sowie der organisatorischen Kontinuität. Die Gewerkschaftsgeschichte begann nach dieser Auffassung erst nach den Koalitionsverboten. Als Mitglieder der Fabian Society, zu der auch Bernhard Shaw gehörte, begründeten die Webbs die fabianisch-sozialistische Arbeiterhistoriographie, die nach dem Zweiten Weltkrieg von E.J. Hobsbawm und E.P. Thompson fortgesetzt wurde. Das methodische Konzept von Thompson beruht auf seinem Paradigma der Moralischen Ökonomie, die als überkommene sozialkonservative Überzeugung der englischen Unterschicht gleichsam i.S. eines moralisch unterfütterten Leitbewußtseins soziale Proteste in allen möglichen Formen gesteuert habe. „Bread riots“, die den Ausgangspunkt seiner Theorie bildeten, waren wie „Katzenmusiken“ ebenso Revolten und Proteste wie die Auseinandersetzungen über den Arbeitslohn. Thompson hat die Unterschichten im Blick. Die Organisationen der Handwerksgesellen waren für ihn lediglich „Gewerbebrüderschaften“,151 denen das Bewußtsein fehlte, zu einer bestimmten „Klasse“ zu gehören. Das war marxistisch konsequent. Im 148 Eine Ausnahme bildet Carolyn Steedman, Master and Servant. Love and Labour in the English Industrial Age, Cambridge 2007. 149 Sidney and Beatrice Webb, The history of trade unionism, 1894; deutsche Ausgabe: Die Geschichte des Britischen Trade Unionismus, 2., unveränd. Aufl., Stuttgart 1906, Stuttgart 1906. 150 Sidney und Beatrice Webb, The history of trade unionism, 1894; deutsche Ausgabe: Die Geschichte des Britischen Trade Unionismus, 2., unveränd. Aufl., Stuttgart 1906. 151 Edward P. Thompson, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19.  Jahrhunderts, ausgew. u. eingel. von Dieter Groh, Frankfurt / M. 1980, S. 287 f.

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Kommunistischen Manifest werden die Handwerker unter denjenigen erwähnt, die die Bourgeoisie nur zurückhaltend bekämpften. Nach der Auffassung von Marx hatten sie eher eine reaktionäre Grundhaltung.152 Ihr revolutionäres Bewußtsein konnten sie nur durch einen Übertritt in das Lager des Proletariats entwickeln. Thompson folgt mit seiner Fokussierung auf die plebeischen Akteure insofern den in England wie in Deutschland vertretenen Verfechtern einer Diskontinuität der Rechtsordnung und Gesellenverbänden / Gewerkschaften zwischen den „Epochen“ des Ancien Régime und der „Industriellen Revolution“ des 19. Jahrhunderts.153 Insofern ist es kein Zufall, daß wir bei ihm keine Schwerpunkte zum Recht oder zu (gewohnheits-)rechtlich gesteuerten Verfahren bei den Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit finden. Erst in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts setzte eine behutsame Distanzierung von den Dogmen der Webbschen Diskontinuitätsthese ein. Ihre Kritiker machten geltend, diese sei zu sehr von einem sozialistischen Bezugsrahmen bestimmt gewesen und habe die begleitenden, aber entscheidenden Phänomene der Gewerkschaftsbewegung, wie etwa die Tarifverhandlungen, Arbeitszeitregelungen und Lohnabsprachen, aus dem Blick verloren.154 Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang, daß die „idea of recurrent behavior“ bei einer möglichen Kontinuitätsbewertung unberücksichtigt geblieben sei.155 Angesichts der breiten Unterströmung im Bewußtsein bestimmter Berufe, die regelmäßig an ihrem Arbeitsplatz zusammenkamen und den dort internalisierten „customs of work-regulation and systematic trade practices“ folgten, könne man nicht auf moderne Strukturen, insbes. schriftlich niedergelegte, formal konstituierte Organisationen abheben.156 Auch Dieter Groh hat in seiner Einleitung zu Thompsons „Plebeischer Kultur“ die Verengung einer Geschichtsschreibung auf die „Geschichte von unten“ als zu reduktionistisch“ kritisiert. Damit träten insbesondere die Ökonomie und prinzipiell objektive Faktoren in den Hintergrund.157 1980 erklärte dann niemand anders als

152 Friedrich Engels sah sich in dieser Einschätzung bei dem Elberfelder Aufstand vom Mai 1848 bestätigt, als die Färbergesellen nach dem Abschluß eines faktischen Tarifvertrages weiter arbeiteten und sich nicht an der Aufstandsbewegung beteiligten. Brand, Untersuchungen, Bd. 3 (wie Fn. 35) S. 227 f. 153 Zum verfehlten Epochendenken nach dem Muster von Ranke vgl. Dieter Groh, Einleitung in Thompson, (Fn. 151), S. 16. 154 A. E. Musson, The Webbs and their phasing of Trade-Union Development between the 1830s and 1860s, in: Bulletin of the Society for the Study of Labour History (seit 1990 Labour History Review) No. 4 (1962), p. 6–8, p.6. s. auch: Ders., British Trade Unions 1800–1875, London 1975, p.12. 155 John Rule, The Experience of Labour in the Eighteenth Century, London 1981, p. 151. 156 H. A. Turner, Trade Union Growth Structure and Policy, London 1962, p. 51, 58, 78. 157 Dieter Groh, Einleitung in Edward P. Thompson, Plebeische Kultur (Fn. 151).

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Eric Hobsbawm, daß die einseitige Fokussierung auf die Arbeiterklasse überholt sei. Er bekannte sich weiterhin ausdrücklich zum Marxismus, betonte aber: “It is now widely accepted that the British labour aristocracy, and indeed all British labour organisation was, until the 1880s, deeply marked by its pre-industrial heritage, and in particular by that of the pre-industrial elite of journeymen.”158

Dies bedeute nicht, daß die Vertreter des Alten Handwerks identisch mit der „labour aristocracy“ von 1850 bis 1914 seien. Aber die historischen Kontinuitäten seien gleichwohl „fundamental“.159 Hobsbawm zog daraus den Schluß, daß die Diskussion über dieses Thema inhaltlich und chronologisch erweitert werden müsse in eine „general study of the artisan heritage as a whole“.160 Auch die neueren Detailuntersuchungen der englischen Zustände bestätigen, daß es nicht die ungelernten Proletarier waren, die als neu entstandene Klasse die Speerspitze des Widerstandes bildeten und dabei institutionell und materiell Verbesserungen ertrotzten. Der Widerstand gegen die Arbeitgeber ging von den Fachkräften aus (Scherer, Färber).161 Sie sahen ihre festgefügte Ordnung „by custom and law“ durch die Masse der Ungelernten bedroht.162 Die gut ausgebildeten Handwerker, wie die Drucker, Färber, Scherer und Hutmacher, hielten in England wie in Deutschland an dem überkommenen Ausbildungsmodus, insbesondere an einer Lehre mit Freisprechung fest und blickten auf das Proletariat herab, zu dem sie in England die „rough“ artisans, in Solingen die „Wilden“, in der Aachener und Wuppertaler Textilindustrie die „Winkelarbeiter“ und die schlecht ausgebildeten Hilfskräfte im Verlag (Hausindustrie, bzw. „outdoor apprenticeship“) und neuzeitlicher Fabrik rechneten. Dabei waren sie sich nur ihrer Fachkenntnisse und guten Ausbildung bewußt, das, was John Rule in einem bemerkenswerten Aufsatz als „property of skill“ bezeichnet hat.163 Sie transportierten auch ihre eigene Rechtsordnung an den jeweiligen Arbeitsplatz und führten sie gegenüber 158 E. Hobsbawm, Debating the Labour Aristocracy, in: ders., Worlds of Labour. Further Studies in the History of Labour, London 1984, pp. 214–226, p. 224. 159 Ebda. 160 Ebda. In einer anderen Veröffentlichung aus dem Jahre 1984 bestätigte Hobsbawm noch einmal „… the men who formed labour organisations were largely skilled craft workers, educated and socialized in craft tradition.“ The Transformation of Labour Rituals, in: Ders., Worlds of Labour. Further Studies in the History of Labour, London 1984, pp. 66–82, p. 69. 161 John Rule, The property of skill, in: P. Joyce (ed.), The Historical Meanings of Work, Cambridge 1987, pp. 99–118, p. 100 f. 162 Ebda, p. 101 f. 163 Ebda, pp. 99–118.

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beiden, den Ungelernten wie den Unternehmern, ins Feld. Rule führt einige Verse der Londoner Sattler an, die dieses Bewußtsein prägnant spiegeln und eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit einem Aufruf an die deutschen Drucker aus dem Jahre 1863 aufweisen:164165 “Her memory still is dear to journeymen, For sheltered by her laws, now they resist Infringments, which would else persist: Tyrannic masters, innovating fools Are check’d and boundet by her glorious rules.”164

„Die Arbeit gibt dem Menschen heil’ge Rechte, Doch, werden sie nicht von ihm selbst geschützt, So sinkt er bald herab zum feilen Knechte, Der niemals sich, nur seinen Pein’gern nützt! Drum ist’s ein ernstes, pflichtgebot’nes Ringen, Der Kampf der Arbeit mit dem Kapital! Wir müssen selbst auf Besserwerden dringen, Es bleibt uns weiter keine andre Wahl!“165

Zu diesen „laws“ und „glorious rules“ in England, die die Arbeitgeber beschränkten und das Recht zum Widerstand gaben, und den „heil’gen Rechten“ der „Soldaten Gutenbergs“, auf die sie sich „im Kampf der Arbeit mit dem Kapital“ beriefen und die man selbst schützen mußte, gehörten geschriebenes und ungeschriebenes Recht. Welches Recht war aber gemeint? Sicherlich waren es naturrechtliche Kategorien. Ihre konkrete Ausprägung konnte man sich aber nur in den Instituten der arbeitsrechtlichen Sonder­ordnung vorstellen. Auch als man aus den Fesseln der alten Korporation mit ihrem allumfassenden Regelungs­anspruch hinausdrängte in die neuen Assoziationen, nahm man die Vorstellung mit, daß man seine Ansprüche auf „das Recht“ stütze, und daß dieses Recht auch als Kampfmittel einzusetzen war. Wie in England hielt man es in Deutschland bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts für abwegig, einen Kontinuitätsstrang zwischen Korporation und neuzeitlicher Assoziation herzuleiten. Eine solche Verbindung könne bei der „Mittelalterlichkeit“ der Gesellenvereine nur als irreführender romantisch-verklärender Denkansatz eingestuft werden. Bei den Arbeiterassoziationen des 19. Jahrhunderts habe es sich um ein Aliud gehandelt, das als „Novum“166 keine Verbindungslinien

164 Zit. nach E. P. Thompson, English trade unionism and other labour movements before 1790, in: Bulletin of the Society for the Study of Labour History (seit 1990 Labour History Review) No. 17 (1968), p. 23. 165 „Aufruf an die Soldaten Gutenbergs“ aus dem Jahre 1863, zit. n. Ulrich Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“. Bd. 1, Stuttgart 1977, S. 169. 166 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174–205, S. 179. S. 180.

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zur den Gesellenverbindungen aufgewiesen habe.167 Anders als die überkommenen Gesellenverbindungen seien sie ein Ergebnis von Individualisierungs- und Emanzipationsprozessen gewesen,168 die die Verbindung zu der alten Welt der Korporation gänzlich abgeschnitten hätten. Bei allen geschilderten Zuständen und rechtlichen Ausformungen ist aber immer im Auge zu behalten, daß sich die Entwicklung zu modernen Organisationen, wie zu einem „Arbeitsrecht“, über einen langgestreckten Zeitraum vollzogen hat und daß sich demgemäß Übergangsformen in allen möglichen Schattierungen und Ausformungen finden. Es erscheint deshalb unangemessen, ja unhistorisch, bestimmte Idealtypen, wie sie etwa Thomas Nipperdey mit seiner Fallstudie zur Modernisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des Vereins als Nachfolger der Korporation herausgearbeitet hat,169 absolut zu setzen.170 Der im Gegensatz zur ständischen Gebundenheit „neue, auf Vernunft und Autonomie gegründete Individualismus“171 war in den aus der polyfunktionalen ständischen Organisation herausgelösten Segmenten keineswegs neu, sondern orientierte sich auch im modernen Verein an den alten rechtlichen und organisatorischen Mustern. Wir finden hier vom Verruf bis zum ehemaligen Gesellengericht und der Urabstimmung alle Elemente des „Arbeitsrechts“ aus dem Ancien Régime im neuen Gewande.172 Die Übergänge waren in Deutschland wie in England fließend. Typisch für die Metamorphose ist der „Entwurf zu einem Gesellenreglement“, der in der Zeitschrift „Das Volk“,173 dem von Stephan Born herausgegebenen „Organ des Central-Komitees für Arbeiter“, am 27. Juni 1848 veröffentlicht wurde. Nach den Worten von Bernstein betraf er trotz seiner Bezeichnung die „Organisation der gewerb­lichen Lohnarbeiter“.174 Hinsichtlich seiner Organisationsprinzipien unter­scheidet sich 167 Hartwig Brandt, Ansätze einer Selbstorganisation der Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Berlin 1978 (= Beihefte zu „Der Staat, Heft 2), S. 51–87. 168 Nipperdey, Verein (wie Fn. 166) S. 179 f. 169 Ebda, S. 174–205. 170 Kritik an dieser Sichtweise auch bei Martin Henkel / Rolf Taubert, Maschinenstürmer. Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des technischen Fortschritts, Frankfurt 1979, S. 174–205. 171 Nipperdey, Verein (wie Fn. 166), S. 180. 172 Einzelheiten bei Brand, Untersuchungen, Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 141 (Urabstimmung), 143 ff. 173 Das Volk. Organ des Central-Komitees für Arbeiter; eine sozialpolitische Zeitschrift; Berlin Nr. 1–35 vom 1. Juli 1848 bis 29. August 1848, hrsgg. von Stephan Born, Neudruck Glashütten i. Ts. 1973. 174 Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1907, S. 60.

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der Entwurf nur unwesentlich von den beschriebe­nen Institutionen der geheimen Gesellenverbindungen.175 Vorgesehen war die Bildung von „Gemeinschaften“ an jedem Ort. Ihr hatten alle Gesellen beizutreten. Auch die Lohnbedingungen sollten mit den überlieferten Methoden aus dem 17. und 18. Jahrhundert gesichert werden. Widerspenstige wurden, wie in den Jahrhunderten zuvor, mit dem Verruf bedroht. 176 Renzsch hat das Verhältnis von Handwerkern und Lohnarbeitern in der Arbeiterbewegung des Jahrzehnts der Reichsgründung im Baugewerbe, der Konfektinsindustrie und im Maschinenbau untersucht.177 Dabei stellte sich heraus, daß in allen drei Sektoren, trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen, die qualifizierten Handwerker jeweils das Rückgrat der entstehenden Gewerkschaftsorganisationen bildeten, wobei die weiterexistierenden Vorstellungen aus der handwerklichen Welt mitgenommen und in den Organisationsprozeß eingespeist wurden. Die Übernahme tradierter Organisations- und Artikulationsmodelle war nach Renzsch der entscheidende Faktor für den Erfolg von Vereinigungsinitiativen. Vereinzelt aufgestellten Forderungen innerhalb der entstehenden Arbeiterschaft, mehr Klassenbewußtsein statt „Korporationsstolz“ zu zeigen,178 verraten die Tradition. In Deutschland machten in den neu entstandenen Handwerker-, Arbeiter-, Arbeiterbildungs- oder „Corporations“-Vereinen am Ende der fünfziger Jahre von den unselbständigen Mit­gliedern die „Fabrikarbeiter“ nur 2,75 % aus.179 Dagegen entfielen auf die Hand­werksgesellen 41,5 %. Da sie überwiegend den traditionell zünftigen Gewerken angehörten,180 waren sie es, die ihre organisatorischen und inhaltlichen Vorstellungen einbrachten und weitertrugen. Aber auch auf staatlicher Seite stand man, gleichsam spiegelbildlich, in der Tradition. Die seit jeher bestehenden und bekannten Repressionsakte gegen die Gesel175 Vgl. dazu Brand, Untersuchungen, Bd. 1 (wie Fn. 35) S. 69 ff; Bd. 2 (wie Fn. 4), S. 101 ff. 176 „§ 3. Die Gesellen werden darauf achten, daß sich keiner ihrer Gewerks­genossen von ihrer Gemeinschaft ausschließe und, sollte es dennoch ge­schehen, mit dem sich von ihnen Ausschließenden nicht arbeiten und ihm in vorkommenden Fällen ihre Unterstützung verweigern.“ „§  13. Kein Geselle darf unter dem festgesetzten Arbeitstarif oder außer der bestimmten Arbeitszeit arbeiten. Wer dieses Gesetz übertritt, ist von der Gemeinschaft der Gesellen ausgeschlossen, er darf ihre Versammlungen nicht besuchen, hat für immer das Stimmrecht in denselben verloren und kein Geselle arbeitet mit ihm in einer Werkstatt.“ Das Volk, Nr. 10, 24. Juni 1848, S. 42. 177 Wolfgang Renzsch, Handwerker und Lohnarbeiter in der frühen Arbeiterbewegung. Zur sozialen Basis von Gewerkschaften und Sozialdemokratie im Reichsgründungsjahrzehnt, Göttingen 1980. 178 Ebda, S. 195. 179 Vgl. Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“ (Fn. 165), S. 110, mit weiteren ausführlichen Nachweisen. 180 Ebda, S. 111.

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lenbewegungen des Ancien Régime181 gleichen den Verordnungen gegen die neuen Koalitionen der Arbeiterbewegung nicht nur inhaltlich, sondern teilweise bis in die einzelnen Maßregelungen hinein.182

II. Ergebnisse Es waren die gewerbliche Sonderordnung des Ancien régime und das von ihr beeinflußte Handwerk und Verlagssystem, die die heute geltenden Vorstellungen einer arbeitsrechtlichen Ordnung entwickelten und als rechtskultureller Speicher auch in den Zeiten der Industrialisierung bewahrten. Die entstehende „Arbeiterbewegung“ war dadurch ge­kennzeichnet, daß man sozialpsychologisch Abschied genommen hatte von dem alten zünftigen Leitbild eines Gesellen, für den die abhängige Beschäftigung nur ein Durchgangsstadium vor der Meisterschaft gebildet hatte. Diese Herauslösung aus dem geschlossenen System der Korporation bedeutete allerdings nur bedingt eine Änderung jener in­haltlichen Grundsätze, die das Handeln der Gesellen in den Jahr­hun­derten davor bestimmt hatten. Die ehemaligen zünftigen Angehörigen des Alten Handwerks übten bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts einen großen persönlichen Einfluß aus.183 Dabei war die substantielle Grundlage der Sonderordnung stark genug, um das ideologische Bewußtsein der neuen Assoziationen auf dem politischen und sozialen Felde so tiefgehend zu prägen, daß sie über inhaltliche Wertvorstellungen und rechtliche Institute auch organisatorisch entscheidend wirkten. Insofern bildet die Entstehung der Gewerkschaften in England und Frankreich das Seitenstück zu der Rezeption des Sonderrechts im modernen Arbeitsrecht. Der Ansatz, daß eine moderne, fortschrittliche Organisation wie die Gewerkschaft zu einem Großteil auf korporativ-ständischer Überlieferung aufbaute, deren reaktionäre Grundlage mit dem Etikett „zünftlerisch“ in der neueren Geschichtsschreibung

181 Dazu Brand, Untersuchungen, Bd. 1 (wie Fn. 35), S. 54 ff. 182 �������������������������������������������������������������������������������� Vgl. hierzu etwa den Bundesbeschluß von 1854 mit seinen „Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im deutschen Bund, insbesondere das Vereinswesen betreffend“, abgedruckt bei Elisabeth Todt, Die gewerkschaftliche Betätigung in Deutschland von 1850–1859, Berlin 1950, S. 35 ff. 183 Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“ (Fn. 165), S. 101 f.; Toni Offermann, Arbeiterbewegung (Fn. 93), S.  525 ff, (Anlage III, Daten zur Berufsstruktur Deutscher Arbeitervereine); F. Saupe, Geschichte des Verbandes der Kupferschmiede Deutschlands, Berlin 1911, S. 50 ff; W. Conze, Der Beginn der deutschen Arbeiterbewegung, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein, Festschrift für H. Rothfels, Göttingen 1963, S. 323–338.

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geradezu stigmatisiert war,184 verstößt offenbar nicht mehr länger gegen die political correctness der aktuellen Geschichtsschreibung. Die Ursachen für das erstaunliche Beharrungsvermögen, mit dem die Gesellengerichte, Unterstützungsvereine und Arbeiterassoziationen den vereinigten politischen und wirtschaftlichen Kräften des 19. Jahrhunderts entgegentraten, liegen daher in einer ungebrochenen ideologischen Tradition, die die Selbständigkeit der eigenen Rechtsordnung einschloß. Sie überdauerte auf den hier interessierenden sozialen Feldern auch eine Herauslösung aus ständischen Schranken und die mit der Emanzipation verbundene Vereinzelung. Die frühen Gewerbegerichte berücksichtigten sie in ihrer Spruchpraxis und bildeten so eine weitere Brücke zum modernen Arbeitsrecht. Nach der Gewerbefreiheit und dem Sieg des Zivilrechts gingen wesentliche Rechtsinstitute als rechtskulturelles Erbe in die Gewerbeordnungen ein und fanden ihren materiellen Ausdruck seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den Inhalten der ansteigenden Zahl von Tarifverträgen. Die neuen Fabriken hatten mit dieser Entwicklung so gut wie nichts zu tun. Ihre Produktionsanlagen waren modern, ihr Arbeitsrecht war reiner Absolutismus des Fabrikherrn. Diese Verhältnisse zur Grundlage des heutigen Arbeitsrechts zu machen, läßt sich nur mit ideologischen Scheuklappen erklären, wie sie, freilich mit ganz anderer Ausrichtung, auch in der englischen Historiographie zur Gewerkschaftsbewegung vorhanden waren.

184 Dazu Winfried Reininghaus, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter, Wiesbaden 1981, S. 239.

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Kommentar: Sich Recht verschaffen Vergleichende Betrachtungen zu Britisch-Afrika, England, Japan und Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert Es ist kaum möglich, einen Vergleich ‚des Arbeitsrechts‘ insgesamt für so verschiedene Rechtsräume und Zeitabschnitte wie das koloniale Britisch-Afrika der Zwischenkriegszeit, das sich rapide modernisierende Japan um 1900 und das im Laufe des 19. Jahrhunderts erst langsam zu einem einheitlichen Rechtsraum werdende Deutschland durchzuführen. Der Vergleich müsste zudem so abstrakt bleiben, dass der Erkenntniswert gering bliebe. Etwas leichter zu realisieren – und jedenfalls sinnvoller – ist ein auf bestimmte Probleme eingegrenzter Vergleich. Der leitende Gesichtspunkt für die hier zu kommentierenden Beiträge hieß verkürzt: „Sich Recht verschaffen“. Konkret galt es zu klären, in welchem Ausmaß und auf welche Weise Arbeitende und Arbeitgeber in bestimmten Ländern das Recht nutzten, um das, was sie für ihr ‚gutes Recht‘ hielten, durchzusetzen. Allgemeiner ging es um die relative Bedeutung des (staatlichen) Rechts überhaupt für die Normierung von Arbeitsverhältnissen und die Konfliktlösung in der Arbeitswelt. Eine wichtige Frage wäre also etwa, inwieweit sich diejenigen, die ein Arbeitsverhältnis eingingen, überhaupt nach gesetzlichen Vorgaben bzw. den aus der Rechtspraxis ableitbaren Normen richteten, ob sie z. B. wussten, dass sie einen ‚Vertrag‘ schlossen. Ebenso könnte man untersuchen, in welchem Umfang Arbeitende und Arbeitgeber auf die vom Staat eingerichteten oder subsidiär zugelassenen Gerichte zurückgriffen, um ihre Konflikte auszutragen. Und in umgekehrter Richtung wäre zu ermitteln, welche Bedeutung im Vergleich dazu Normen anderen Ursprungs (moral economy-Vorstellungen, religiöse Vorschriften, ökonomisches Kosten-Nutzen-Denken) und andere Konfliktlösungsformen (physischer Zwang, Gewalt, Streik, Aussperrung, Verruf, Boykott, kollektive Verhandlung, freiwillige Schiedssprüche, individuelle Aushandlung, materielle Anreize) besaßen. Fragen wie diese vergleichend zu bearbeiten, ermöglicht nicht nur – wie bei Vergleichen üblich –, Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen, sondern erlaubt es auch, historische Erklärungen für unterschiedliche Wege von Verrechtlichung oder Entrechtlichung im Bereich des Arbeitslebens zu finden.185 Unter ‚Verrechtlichung‘ 185 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zu ‚Verrechtlichung’ als einem unter mehreren master narratives, die als Folie rechtsvergleichender Studien dienen könnten, vgl. Willibald Steinmetz, Introduction: Towards a Comparative History of Legal Cultures, 1750–1950, in: ders.(Hg.), Private Law and

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soll ein Prozess verstanden werden, im Zuge dessen eine Sozialbeziehung (hier: die Arbeitsbeziehung) zunehmend zum Gegenstand rechtlicher Normierung wird und die Akteure sich auch tatsächlich diesen Rechtsnormen entsprechend verhalten, sei es im alltäglichen Vollzug der Sozialbeziehung, sei es im Konfliktfall. Letzteres, also die tatsächliche Akzeptanz der Rechtsnormen, ist entscheidend. Eine bloße Vermehrung und Verdichtung arbeitsrechtlicher Bestimmungen und damit befasster Gerichte allein genügt nicht, um von der Verrechtlichung des Arbeitslebens zu sprechen. Erst wenn diese Bestimmungen und Gerichte tatsächlich wahrgenommen und habituell genutzt werden, um ‚sich Recht zu verschaffen‘, soll von Verrechtlichung die Rede sein. Verrechtlichungs- und Entrechtlichungsprozesse zu untersuchen erfordert eine Perspektive, die rechts-, sozial- und kulturgeschichtliche Betrachtungen integriert.186 Die drei hier zu kommentierenden Aufsätze sind einer solchen Perspektive verpflichtet und folgen, wenn auch mit sehr verschiedenen Akzenten, der soeben skizzierten Fragerichtung. Statt jeden Beitrag einzeln zu kommentieren, konzentriere ich mich hier auf einige Teilfragen des mit dem Begriff ‚Verrechtlichung‘ umschriebenen Problemzusammenhangs und gehe auf die Beiträge nur insoweit ein, als sie sich dazu äußern. Der Schwerpunktsetzung der Autoren entsprechend steht dabei der Aspekt der Konfliktlösung im Mittelpunkt, während der – ohnehin schwieriger zu erforschende – Gesichtspunkt der Anpassung des alltäglichen Verhaltens an rechtliche Normen nur am Rande berücksichtigt werden kann. Mein Kommentar folgt also einer eigenen Systematik. Das führt dazu, dass viele interessante Punkte, etwa Jürgen Brands Thesen zum ‚vormodernen‘ Erbe im ‚modernen‘ deutschen Arbeitsrecht oder Naoko Matsumotos Einblicke in die genauen Umstände des Transfers europäischer Rechtsnormen und -einrichtungen nach Japan oder Andreas Eckerts Erörterung der zunehmenden Rechtfertigungsnöte, in die britische Kolonialadministratoren wegen ihrer Arbeitspolitik gegenüber der ILO und der kolonialen wie eigenen Öffentlichkeit gerieten, hier nicht ausreichend gewürdigt werden. Für diese Auslassungen bitte ich die Autoren, den Herausgeber sowie die Leserinnen und Leser um Verständnis. Um zu klären, wie wichtig in den untersuchten Räumen das staatliche Recht überhaupt für die Lösung von Arbeitsstreitigkeiten war und welche Rolle die Gerichte dabei spielten, sollen hier drei Aspekte behandelt werden: erstens die Regelungsdichte im materiellen Recht, zweitens die Fähigkeit des Staates zur Normdurchsetzung, drittens die Inanspruchnahme des Rechtswegs durch potentielle Streitparteien.

Social Inequality in the Industrial Age. Comparing Legal Cultures in Britain, France, Germany, and the United States, Oxford 2000, S. 1–41, bes. 13–17 u. 22–24. 186 Durchgeführt am englischen Beispiel: Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002.

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1. Regelungsdichte im materiellen Recht Geht man zunächst von den europäischen und europäisch geprägten Privatrechtssystemen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus, so lässt sich festhalten, dass sie Arbeitsverhältnisse generell nur schwach normierten. Weder der französische Code civil und die durch ihn beeinflussten Zivilrechtsgesetzbücher deutscher Einzelstaaten noch das deutsche BGB und das ihm nachgebildete japanische Zivilrecht noch das britische Common law und die ihm – in je unterschiedlichem Ausmaß – folgende Rechtsprechung im britischen Kolonialreich hatten für das Arbeitsverhältnis mehr als einige wenige, sehr allgemein gefasste Rechtssätze anzubieten. Über konkrete Inhalte möglicher Arbeitsverträge schwiegen sie sich weitgehend aus. Auch die gelehrten Kommentare und wissenschaftlichen Abhandlungen zum allgemeinen Privatrecht kümmerten sich, wie Jürgen Brand am deutschen Beispiel zeigt, wenig um die Arbeitenden und ihre (potentiellen) Rechtsprobleme.187 In Deutschland änderte sich dies ab etwa 1890 / 1900 u.a. durch die kommentierende Literatur zu den Gewerbegerichten und Philipp Lotmars grundlegendes Werk. In Japan war das Interesse anscheinend – doch das bliebe zu überprüfen – noch lange weitaus geringer. Und im britischen Rechtskreis begann eine systematische Arbeitsrechtswissenschaft erst um die Zeit des Zweiten Weltkriegs, wobei deutsche Emigranten (Otto Kahn-Freund) eine führende Rolle spielten. Die Regelungsabstinenz des Privatrechts und das Desinteresse der Jurisprudenz waren Ausdruck der im 19. Jahrhundert, insbesondere im viktorianischen Zeitalter, bei Richtern, Gesetzgebern und gelehrten Juristen aller Vergleichsländer vorherrschenden Leitidee der größtmöglichen individuellen Dispositionsfreiheit beim Abschluss von Verträgen. Ob die vertragschließenden Parteien, vor allem die normalerweise verhandlungsschwächeren Arbeitnehmer, eine solche Dispositionsfreiheit tatsächlich besaßen, steht auf einem anderen Blatt. Richter und Juristen begnügten sich im Konfliktfall mit der Annahme, dass der Arbeitnehmer mit dem Eintritt in ein bestimmtes Arbeitsverhältnis zugleich seine Zustimmung zu einseitigen Anordnungen des Arbeitgebers, etwa geltenden Fabrikordnungen oder ‚gewohnheitlichen‘ Regeln in dem betreffenden Gewerbe (z. B. Kündigungsfristen) gegeben hatte. Damit war das Denkmodell des freien Vertrages in der Theorie gesichert, auch wenn es mit dem Frei187 Freilich gab es schon seit der Frühen Neuzeit und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine ausgefächerte Spezialliteratur zu den Dienste-Rechten und Dienstverhältnissen verschiedener ständischer oder beruflicher Gruppen: Gesinde, Handwerker, Seeleute, Bergarbeiter usw. Vgl. die Hinweise bei Joachim Rückert, Dienstrecht und DiensteRechte in der Frühen Neuzeit, in: Hans-Peter Haferkamp u. Tilman Repgen (Hg.), Usus modernum pandectarum. Römisches Recht und Naturrecht in der Frühen Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag, Köln 2007, S. 175–198.

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heitsgefühl der Arbeitnehmer nicht im geringsten übereinstimmen mochte. Mutatis mutandis bedienten sich Richter und Juristen sowohl im kontinentaleuropäischen als auch im britischen Rechtskreis bei Nicht-Vorliegen eines expliziten Vertrags dieser Argumentationsfigur der implizit – durch Performanz – kundgegebenen Willenserklärung (Konkludenz). Eine größere Regelungsdichte ergibt sich, wenn man im britischen Fall das statutarische, strafend oder regulierend eingreifende Recht (Factory Acts, Master and Servants Acts usw.), im kontinentaleuropäischen Fall die zum Policey- oder öffentlichen Recht zählende Arbeitsgesetzgebung (Gewerbeordnungen, Bergwerksgesetze, Gesindeordnungen usw.) auf staatlicher und mitunter sogar lokaler Ebene in die Betrachtung einbezieht.188 Allerdings blieben derartige Regelwerke bis ins 20. Jahrhundert hinein eher punktuell, und auch die Bemühungen der ILO, wenigstens bestimmte Standards durchzusetzen, hatten vorerst wenig Erfolg. Wie Andreas Eckert hervorhebt, hatte diese Ordnungsgesetzgebung in Britisch-Afrika (mit Ausnahme Südafrikas) keinerlei arbeiterschützende Anteile, sondern nahezu ausschließlich strafenden Charakter. Sie setzte damit in den Kolonien die Praxis der alten Master and Servant Acts fort, die im Mutterland 1875 abgeschafft worden war. In Britisch-Afrika ebenso wie andernorts betrafen die strafende und schützend-regulierende Gesetzgebung zudem stets nur bestimmte Sektoren, Personengruppen und Einzelaspekte der Arbeitswelt, größtenteils die Arbeitsverhältnisse der handarbeitenden Klassen, in einigen Ländern aber auch, wenn man etwa an das Disziplinarrecht der deutschen Beamten denkt, diejenigen eines Teils der Gebildeten. Trotz zunehmender Verdichtung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galten diese ‚öffentlich-rechtlichen‘ Statuten und Ordnungen 189 in keinem der hier verglichenen Länder für Arbeitsverhältnisse schlechthin, sondern immer nur für die in den betreffenden Gesetzen bezeichneten speziellen Personenkreise, Beschäftigungen, Orte und Sachverhalte. Sofern diese Gesetze überhaupt in den Inhalt möglicher Arbeitsverträge eingriffen, galten diese Eingriffe als Ausnahme von der als Regel angesehenen Vertragsfreiheit, auch wenn diese ‚Ausnahmen‘ seit dem späteren 19. Jahrhundert immer größere Zahlen von Arbeitenden und Arbeitgebern betrafen. Zu einem allgemeinen, für abhängige Beschäftigungsverhältnisse 188 ��������������������������������������������������������������������������������� Matsumoto geht in ihrem Beitrag auf diesen Aspekt nicht ein, doch auch im japanischen Fall gab es, wenngleich erst relativ spät, derartige Regelwerke, so das erste japanische Fabrikgesetz von 1911. Vgl. als umfassenden, nahezu alle Länder der Erde, auch die Kolonialreiche berücksichtigenden zeitgenössischen Überblick den Artikel „Arbeiterschutzgesetzgebung“, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 1, Jena 1923, S. 401–701, hier S. 684–686 zu Japan. 189 In einer kontinentaleuropäisches und anglo-amerikanisches Recht vergleichenden Betrachtung ist der Begriff‚ öffentliches Recht’ zumindest problematisch. Mit Blick auf England und das Empire ziehe ich es vor, von strafend oder regulierend eingreifendem statutarischem Recht (statute law) zu sprechen.

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schlechthin geltenden Arbeitsgesetzbuch ist es in den hier betrachteten Zeiträumen nirgends gekommen. Eine weitere Konkretisierung materiell-rechtlicher Normen zur inhaltlichen Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen ergab sich, worauf Jürgen Brand hinweist, in einigen Staaten dadurch, dass der Gesetzgeber ältere Zunftverfassungen explizit fortgelten ließ, so im Großherzogtum Baden bis 1862, oder dass er deren Normbeständen „durch die Hintertür“ (Brand, s. dort bei Fn. 83) zumindest als Bezugspunkt der Rechtsprechung untergeordneter Spezialgerichte wieder Geltung verschaffte, so im Falle der französischen Conseils de Prud’hommes bis zu einem Urteil der Cour de Cassation von 1866. Auch in einem Staat wie Preußen, in dem Zünfte und ähnliche Korporationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu bloßen Vereinen herabgestuft worden waren, konnten ihre ehemals als Teil des öffentlichen ‚Rechts‘ anerkannten Regelungen – nunmehr als orts- oder branchenübliche ‚Gewohnheiten‘ deklariert – ihre Geltung in der Rechtsprechung der Gewerbe- und Fabrikengerichte behaupten.190 Die letztlich in allen deutschen Staaten sich durchsetzende Alternative zu diesen Zwischenlösungen bestand darin, diejenigen materiell-rechtlichen Bestimmungen der alten Zunftverfassungen, die man behalten wollte, in die sukzessive seit den 1840er Jahren neu erlassenen Gewerbeordnungen aufzunehmen und dadurch in staatliches Recht zu überführen. Dass dieser Übergang mit einem Wegfall zahlreicher Spezialbestimmungen einherging, war im Interesse der (auch aus ‚nationalen‘ Motiven) vorangetriebenen Einheitlichkeit der Rechtsprechung in den Einzelstaaten, im Norddeutschen Bund und schließlich im Deutschen Reich unvermeidlich. Je stärker das Begehren nach Einheitlichkeit des Rechts und je größer das Territorium, desto abstrakter wurden die materiell-rechtlichen Normen. Für das entstehende, erst seit etwa 1900 auch so genannte ‚Arbeitsrecht‘ bedeutete der hier skizzierte Transformationsprozess, der nicht zufällig im ‚liberalen Jahrzehnt‘ der 1860er Jahre seinen Kulminationspunkt erreichte, zunächst einen Verlust an materiell-rechtlicher Konkretion. Der Verlust wurde – in Deutschland – in den Folgejahrzehnten dadurch wieder aufgefangen, dass der staatliche Gesetzgeber einerseits neue, meist nicht mehr an zünftische Traditionen anknüpfende Schutzbestimmungen für verschiedene Klassen von Beschäftigten erließ, andererseits mit den Gewerbe-, Kaufmanns- und schließlich Arbeitsgerichten eine Spezialgerichtsbarkeit konstitutierte, deren akkumulierte und

190 Wenn man, wie Brand, die Kontinuität zünftischer Normen in der Rechtsprechung betont, sollte man nicht außer Acht lassen, dass deren Verbindlichkeit nachließ, wenn sie lediglich als ‚Gewohnheiten’ behandelt wurden. In einer Einzelfallanalyse wäre zu prüfen, wie weit diese ‚Gewohnheiten’ in Konfliktfällen entgegenstehenden vertraglichen Abmachungen oder auch einseitigen Anordnungen eines Meisters, die als Teil einer vertraglichen Abmachung interpretiert wurden, weichen mussten.

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systematisierte Rechtsprechung im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Grundlage des bestehenden deutschen Arbeitsrechts wurde. Ob sich ein vergleichbarer Prozess zunächst abnehmender, dann wieder zunehmender Konkretion und Verdichtung materiell-rechtlicher Normen zum Arbeitsverhältnis in den anderen hier betrachteten Ländern bzw. Rechtsräumen ereignete, lässt sich auf der Basis der vorliegenden Aufsätze nicht sicher entscheiden. Im Falle Japans deutet jedoch schon die von Naoko Matsumoto belegte geringe Falldichte von Arbeitsstreitigkeiten vor den Gerichten darauf hin, dass zumindest die Rechtsprechung nicht im gleichen Maße wie in Deutschland als Motor der inhaltlichen Fortbildung des Arbeitsrechts in Frage kam. Wie weit der Aktivismus des japanischen Gesetzgebers in dieser Hinsicht reichte, wäre zu ermitteln. Die Tradition der den Zünften etwa vergleichbaren betrieblichen Genossenschaften (Nakama) der Edo-Zeit scheint nach Matsumoto eher die Unterdrückung des Gedankens an arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen befördert zu haben. In Britisch-Afrika wiederum war, Eckert zufolge, zumindest das importierte und den Einheimischen oktroyierte ‚Arbeitsrecht‘ der Kolonialadministration so einseitig auf das Problem der Mobilisierung und Disziplinierung einheimischer Arbeitskräfte für die Zwecke der Kolonialherren fixiert, dass eine anderweitige Aus- und Fortbildung des materiellen Arbeitsrechts offenbar kaum diskutiert wurde. Wie weit der im Prinzip in allen britischen Kolonien befolgte Grundsatz, zivile Streitigkeiten zwischen Einheimischen nach einheimischem Recht (sofern ‚natürlichen‘ Moralvorstellungen nicht widersprechend) und von einheimischen chiefs entscheiden zu lassen, auch Arbeitsstreitigkeiten berührte, muss hier ebenso offen bleiben wie die Frage, ob das im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse schwach entwickelte, aber immerhin vorhandene Fallrecht des englischen Common Law in den – zweifellos seltenen – Revisionsfällen vor den jeweils höchsten Gerichten der afrikanischen Kolonien Anwendung fand. Man wird aber als Hypothese riskieren können, dass die mit Arbeitsgesetzgebung und Rechtsprechung befassten Magistrate, Gouverneure und höchsten Richter der afrikanischen Kolonien kaum mehr Interesse und Gelegenheit gehabt haben dürften, das Arbeitsrecht materiell fortzuentwickeln, als die Richter und Gesetzgeber im Mutterland selbst. Dort, in England, kam es vom späten 19. Jahrhundert bis ins mittlere 20. Jahrhundert zumindest für den Kern der Arbeitsbeziehung, den Arbeitsvertrag, eher zu einer Stagnation und Entleerung als zu einer Verdichtung und detaillierteren Fassung der Rechtsbestimmungen.

2. Fähigkeit zur Normdurchsetzung Damit potentielle Kläger ‚sich Recht verschaffen‘ können, müssen nicht nur Rechtsnormen in hinreichender Konkretion vorhanden sein; mindestens ebenso wichtig

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ist die Fähigkeit des Staates und der Gerichte, die geltenden Normen auch effektiv durchzusetzen. Nimmt man die Aufmerksamkeit, die in den drei zu kommentierenden Aufsätzen diesem Thema gewidmet wird, als Indikator, scheinen Vollzugsdefizite vor allem in kolonialen Kontexten ein erhebliches Problem gewesen zu sein. Wenn, wie Eckert berichtet, die britischen Kolonialadministratoren immer wieder über die angeblich fehlende Arbeitsmoral der Afrikaner klagten, und die weißen Siedler wiederholt auf den Erlass neuer – und schärferer – Master and Servant Acts drängten, so deutet dies darauf hin, dass die Strafpraxis letztlich den ihr zugedachten Zweck, die Kontrolle und Erziehung zur Arbeitsamkeit, verfehlte. Es war möglicherweise weniger die Kritik der ILO, britischer Philanthropen oder der afrikanischen Elite an den nach europäischen Maßstäben archaischen Strafpraktiken als vielmehr deren erwiesene Ineffizienz, die in der britischen Kolonialverwaltung im Laufe der Zwischenkriegszeit nach und nach zu einem Umdenken führte. Statt sich auf strafrechtliche Sanktionen zu verlassen, griff man zunehmend zu materiellen Anreizen und rudimentären Sozialleistungen, um die Arbeitsdisziplin zu sichern. Das ohnehin in seiner Bedeutung beschränkte ‚Arbeitsrecht‘ verlor damit in Britisch-Afrika eher noch an Bedeutung. In Deutschland und Japan war hingegen Normdurchsetzung im Bereich des Arbeitsrechts offenbar ein zweitrangiges Problem; zumindest gehen weder Brand noch Matsumoto auf diesen Aspekt ein. Man könnte allenfalls spekulieren, ob ein Grund für die vergleichsweise geringe Nutzung der Gerichte in Japan durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber darin liegen könnte, dass die Urteilsvollstreckung ungewiss war. Die vielfältigen Techniken insbesondere von Arbeitgebern, das Recht zu umgehen und Arbeitnehmerklagen ins Leere laufen zu lassen, wären ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit Defiziten der Normdurchsetzung Beachtung verdiente. Hierzu müsste man die Arbeitsorganisation selbst in den Blick nehmen. So dienten beispielsweise im viktorianischen England die unendlich variablen Formen des Subunternehmertums nicht zuletzt dem Zweck, Klagen der staatlichen Bergwerks- und Fabrikinspektoren wegen Verstößen gegen die Arbeiterschutzgesetze sowie Arbeitnehmerklagen auf Zahlung ausstehenden Lohns oder auf Schadensersatz wegen Arbeitsunfällen abzuwehren: Der Prinzipal versteckte sich dabei gleichsam hinter seinen scheinselbständigen Subunternehmern, so dass die Frage, wer für die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Lohnzahlung letztlich ‚verantwortlich‘ war, wenn es zum Prozess kam, im Unklaren blieb. Weil die kleinen und kleinsten Subunternehmer zudem selbst oft mittellos waren, lohnte sich eine Zivilklage gegen sie in aller Regel nicht und unterblieb daher oft ganz.191 Es steht zu vermuten, dass derartige Methoden der Verschleierung von Verantwortlichkeit am Arbeitsplatz auch auf afrikanischen Plantagen, deutschen Baustellen oder in japanischen Häfen üblich waren und die Normdurchsetzung aus Arbeitnehmersicht erschwerten. Eindämmen ließen sich 191 Zahlreiche Beispiele in: Steinmetz, Begegnungen vor Gericht.

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derartige Praktiken nur durch detaillierte und zwingende Rechtsvorschriften zur Verantwortlichkeit im Konfliktfall oder durch Gesetze zur Regulierung der Formen des Subunternehmertums oder – im Hinblick auf die Arbeitsunfälle – durch Versicherungslösungen. Wenn afrikanische, englische und japanische Arbeitnehmer seltener als ihre deutschen Kollegen vor die Gerichte zogen, um Ansprüche geltend zu machen, mag dies – doch das wäre für Britisch-Afrika und Japan erst zu überprüfen – auch mit Praktiken der Rechtsumgehung seitens der Arbeitgeber und einer darauf nicht ausreichend reagierenden Präzision des materiellen Arbeitsrechts zusammenhängen. Eine extreme Variante des Unterlaufens geltender Arbeiterschutzgesetze, die im viktorianischen England partiell möglich, hingegen im deutschen Rechtskontext nur schwer vorstellbar war, war schließlich das sog. contracting out: die explizite, Arbeitnehmern oft aufgenötigte vertragliche Vereinbarung, dass die Bestimmungen eines Gesetzes in dem betreffenden Arbeitsverhältnis oder Betrieb nicht gelten sollten.192 Die englischen Common Law-Gerichte leisteten derartigen Versuchen Vorschub, indem sie einer sehr weiten Auslegung des ius dispositivum der Vertragsparteien gegenüber stets aufgeschlossen waren. Parallel dazu war der englische Gesetzgeber extrem zurückhaltend, die Vertragsfreiheit durch ius cogens einzuschränken. In Deutschland war dies, das zeigt auch sehr deutlich das Max Weber-Zitat (Brand, s. dort bei Fn. 121) im Aufsatz von Jürgen Brand, deutlich anders. Welche gesetzlichen Bestimmungen abdingbar waren und welche nicht, war hier zumindest in den meisten Fällen klar geregelt. Wie sich in diesem Punkt der Abdingbarkeit gesetzlicher Bestimmungen Normen und Praxis in Japan und Britisch-Afrika verhielten, wäre zu untersuchen.

3. Inanspruchnahme des Rechtswegs Wie oft und mit welchem Erfolg potentielle Streitparteien – hier: Arbeitende und Arbeitgeber – vor die Gerichte zogen, um ‚sich Recht zu verschaffen‘, ist mehr als die bisher behandelten Punkte ein sicheres Indiz für die relative Bedeutung des Rechts in einem Land oder Rechtsraum sowie für Verrechtlichungs- oder Entrechtlichungstendenzen. Weil hier auch Quantifizierungen möglich sind, entweder auf der Basis offzieller Justizstatistiken oder durch mühevolle eigene Zählung archivalisch dokumentierter Fälle, sind Vergleiche gerade in diesem Punkt besonders aussagekräftig. Die Vergleiche können sich auf verschiedene mögliche Klägergruppen und ihre Erfolgsraten vor bestimmten Gerichten innerhalb eines Rechtsraums beziehen (Arbeitgeber / Arbeitnehmer, Handwerker / Fabrikarbeiter, Männer / Frauen usw.), so in den detaillierten Untersuchungen Jürgen Brands zur rheinisch-bergischen Gewerbegerichtsbarkeit bis 192 Vor allem der Employers’ Liability Act (1880) wurde auf diese Weise von englischen Arbeitgebern nicht selten ‚ausgehebelt’.

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1891, die er in seinem Aufsatz resümiert; sie können sich aber auch auf Unterschiede zwischen verschiedenen Rechtsräumen und Gerichtstypen konzentrieren, so im Aufsatz von Naoko Matsumoto, die die Klagetätigkeit vor deutschen Gewerbegerichten mit dem Klageverhalten vor japanischen ordentlichen Gerichten vergleicht. Die konkreten Zahlenbefunde und die Problematik der Vergleichbarkeit können hier nicht im Detail diskutiert werden, die Hauptergebnisse Brands und Matsumotos ergeben jedoch ein klares Bild, zumal sie sich gegenseitig bestätigen und auch durch andere quantifizierende Studien gestützt werden.193 Zwei Ergebnisse sind hervorzuheben: Erstens, Spezialgerichte für Arbeitsstreitigkeiten im Allgemeinen und die deutschen Gewerbe- und späteren Arbeitsgerichte im Besonderen boten potentiellen Klägern, vor allem Arbeitnehmern, ungleich bessere Chancen, ‚sich Recht zu verschaffen‘, als ordentliche Zivil- oder Strafgerichte. Die von Matsumoto herausgearbeiteten Differenzen zwischen Deutschland und Japan sind so enorm, dass keine andere Schlussfolgerung möglich ist. Zweitens, die Kläger und Klägerinnen vor den deutschen Gewerbegerichten gehörten zumindest in den Jahrzehnten bis etwa 1900 überwiegend handwerklichen und dienstleistenden Berufen an und sie arbeiteten nicht in fabrikmäßig organisierten Großbetrieben, sondern in eher kleinteiligen, dezentralen, relativ individualisierten Beschäftigungsverhältnissen. Dieser Befund mag für einzelne Regionen und Branchen, wie Brand betont, auf traditionell gute Erfahrungen mit älteren Zunftgerichtsbarkeiten zurückzuführen sein; er kann aber auch damit zusammenhängen, auch darauf weist Brand hin, dass die betreffenden Arbeitnehmergruppen, insbesondere die geringer qualifizierten, leicht ersetzbaren Arbeitskräfte, weniger gute Chancen hatten, sich ihr ‚gutes Recht‘ auf andere Weise – etwa durch kollektive Aktion, Streiks, gewerkschaftliche Organisation und Tarifabsprachen – zu sichern. Über die möglichen Gründe, weshalb die japanischen ordentlichen Zivilgerichte im Gegensatz zu den deutschen Spezialgerichten für Arbeitsstreitigkeiten selten genutzt wurden, äußert Matsumoto aufgrund fehlender Forschungen nur Vermutungen. Zumindest einen denkbaren Grund schaltet sie aber mit Recht und gestützt auf Zahlen zur allgemeinen Klagetätigkeit aus: die (völkerpsychologische) Annahme einer vermeintlich generellen Unwilligkeit der Japaner, Gerichte in Anspruch zu nehmen. Ob die in Japan „traditionell fehlende Autonomie der Handwerker“ (Matsumoto, s. dort bei Fn. 66) hingegen ein entscheidender Faktor für den Unterschied im Kla193 Neben Brands dreibändigem Werk und Steinmetz, Begegnungen vor Gericht, S. 183– 332, ist hier u.a. zu verweisen auf Ralf Rogowski u. Adam Tooze, Individuelle Arbeitskonfliktlösung und liberaler Korporatismus. Gewerbe- und Arbeitsgerichte in Frankreich, Großbritannien und Deutschland im historischen Vergleich, in: Heinz Mohnhaupt u. Dieter Simon (Hg.), Vorträge zur Justizforschung, Bd. 1, Frankfurt / Main 1992, S. 317–386.

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geverhalten war, würde ich bezweifeln. Sehr wahrscheinlich waren in Japan, ähnlich wie in England, andere Gründe dafür ausschlaggebend, dass Arbeitnehmer – in der Regel minderbemittelte Leute – selten vor die ordentlichen Gerichte zogen: in erster Linie zu hohe Kosten, darüber hinaus dann Unkenntnis und Unverständlichkeit des gelehrten (in Japan zudem aus dem Ausland importierten) Zivilrechts, daher Anwaltszwang, Langsamkeit der Verfahren, Unkalkulierbarkeit der Prozessausgänge, Risiken von Berufungsverfahren usw. Diese vergleichsweise ‚harten‘ Fakten dürften die Entscheidung, den eigenen Arbeitgeber vor Gericht zu ziehen, mehr beeinflusst haben als kulturelle Dispositionen gleich welcher Art. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang auch, inwieweit die japanischen Gewerkschaften und Berufsverbände, ähnlich wie die englischen und deutschen, stark genug und bereit waren, ihre Mitglieder wenigstens in herausragenden, potentiell Präzedenzwirkung entfaltenden Fällen vor Gericht bis in die höchsten Instanzen zu vertreten und zuvor zu beraten, wie das in Deutschland die Arbeitersekretäre, in den größeren englischen Gewerkschaften oft spezielle Berater, nicht selten professionelle solicitors, besorgten. Dass einheimische Arbeitnehmer in Britisch-Afrika, und dieser Befund dürfte für Kolonialregime verallgemeinerbar sein, offenbar noch seltener als in Japan überhaupt die Möglichkeit hatten, eine Zivilklage gegen ihren Arbeitgeber, insbesondere wenn er Weißer war, anzustrengen und durchzufechten, hatte ähnliche Gründe. Andreas Eckert weist andeutungsweise darauf hin. Die Instanzen, die zunächst als Adressaten einer solchen Klage in Frage kamen, waren hier überdies so stark durch ihre strafende und disziplinierende Macht charakterisiert, dass schon die Idee, man könne sich dort sein ‚Recht verschaffen‘, abwegig erscheinen musste. Fasst man die Ergebnisse der vergleichenden Betrachtungen zusammen, ergibt sich, dass die inhaltliche Ausdifferenzierung des (staatlichen) Arbeitsrechts und die Ausgestaltung der damit befassten Gerichte potentielle Streitparteien, insbesondere Arbeitnehmer, im deutschen Rechtsraum offenbar stärker animierte, den Klageweg zu beschreiten, als in Japan, Britisch-Afrika oder dem Mutterland England. Das Resultat in Deutschland war eine durchgreifende Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen in einem Zeitraum, der in den Vergleichsländern eher durch eine Stagnation oder gar Entrechtlichungstendenzen geprägt war. Andere, meist kollektive Konfliktlösungsformen – betriebliche Vereinbarungen, Streiks, Gewalt – mögen den fehlenden oder unattraktiven Rechtsweg zum Teil kompensiert haben. Für nicht kollektiv organisierte oder organisierbare Beschäftigte bedeutete die fehlende Chance, sich vor Gerichten ‚Recht zu verschaffen‘, aber in jedem Fall einen Verlust.

Paul-André Rosental

Zur Silikose und den Widersprüchlichkeiten des Konzepts „Berufskrankheit“

Aufgrund der hohen Zahl an Opfern ist die Silikose die schwerste Berufskrankheit des 20. Jahrhunderts, ja vielleicht sogar der Geschichte. Sie war auch über die Minen hinaus in fast allen Bereichen der Industrie verbreitet und befiel massenweise die dort arbeitenden Menschen, ohne dass Aussicht auf Genesung bestand.1 Entgegen der ersten Intuition erreicht sie erst mit der Mechanisierung der Minen im 20. Jahrhundert ihr volles Ausmaß. Durch die Industrialisierung der Länder des Südens und die Kohleabhängigkeit von Ländern wie China überschattet sie aber auch das neue Jahrhundert. Hinzu kommt die Verwandtschaft der Silikose mit den Asbestkrankheiten in der großen Familie der Pneumokoniosen – arbeitsbedingte Stauberkrankungen, die rechtlich oftmals eng zusammenhängen. Es sind Pathologien, die zu einer Schädigung der Lunge führen (und keine Infektionskrankheiten) und die in der Tat wesentliche gemeinsame Merkmale aufweisen. Dazu gehören ein langer Zeitraum – manchmal können Jahrzehnte vergehen – bis zum Ausbrechen der Funktionsstörungen und eine Neigung, diverse Komplikationen zu verursachen, was ihre medizinische und rechtliche Anerkennung erschwert und verzögert hat. Die Merkmale der Silikose und der anderen Pneumokoniosen steigern sämtliche Ausprägungen und Widersprüchlichkeiten, die mit dem Konzept „Berufskrankheit“ verbunden sind. Der Begriff wird ursprünglich medizinisch definiert. Anfang des 18. Jahrhunderts beschäftigt sich der italienische Mediziner Bernardino Ramazzini (1633–1714) in einer immer noch berühmten Abhandlung mit den Pathologien, die durch verschiedene Arbeitsumfelder ausgelöst werden.2 Die Haltung gegenüber dieser immer wieder herangezogenen Referenz beginnt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verändern. Den Medizinern geht es immer weniger darum, 1

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Dieses Kapitel ist eine angepasste Fassung von Paul-André Rosental, „De la silicose et des ambiguïtés de la notion de ,maladie professionnelle‘“, Revue d’histoire moderne et contemporaine, 2009, 1, S. 83–98. Es ist ein Ergebnis des Forschungsprojekts „Étude transnationale d’une maladie professionnelle exemplaire: la silicose et la santé au travail en France et dans les pays industrialisés“, das in Frankreich vom Programme Santé-environnement-travail (SEST) der Agence nationale de la recherche und der Dares finanziert wurde. Bernardino Ramazzini, Die Krankheiten der Handwerker, Würzburg 1998 [1700].

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Risikoberufe auszumachen, sondern bestimmte Arbeitsphasen und biochemische Prozesse zu identifizieren. Medizinische Innovationen (Entwicklung der Industrietoxikologie) gehen mit einem neuen politischen Kräfteverhältnis einher: Die Arbeiterbewegung verleiht den hygienistischen Konzeptionen eine andere Bedeutung und Tragweite – ganz gleich, ob dies durch direkte Forderungen geschieht oder durch eine von ihr möglicherweise ausgehende Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung. Ihre Rolle für gesunde Arbeitsplätze wird derzeit von der Geschichtsschreibung neu bewertet.3 Zusammen mit den Auswirkungen der Entwicklung der Sozialversicherungen vollzieht der Begriff der „Berufskrankheit“ einen Wandel: Von einem rein medizinischen Begriff wird er zu einem rechtsmedizinischen – eine in der gesamten industrialisierten Welt gleichzeitig ablaufende Veränderung.4 Diese Verwandlung geht mit einer starken Reduzierung einher. Vom juristischen Standpunkt aus sind nun nicht alle Krankheiten, die man sich am Arbeitsplatz zuzieht, „Berufskrankheiten“: Nur die offiziell vom Gesetz anerkannten gelten auch als solche. Hier kann man den Unterschied zwischen der rechtlichen und der rechtsmedizinischen Kategorie erkennen. „Berufskrankheiten“ sind verhandelte Krankheiten – ein Euphemismus, der auf häufig lange und heftige Kämpfe zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verweist. Die Behörden zögerten dagegen, vermittelnd einzugreifen, oder taten es nur stoßweise, je nach politischem Kontext oder sanitären Katastrophen. In den meisten Industriestaaten wird die Gesetzgebung bezüglich Arbeitsunfällen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf Berufskrankheiten ausgeweitet. Häufig ist dieser Prozess die Folge einer starken gewerkschaftlichen Mobilisierung, bei der es gelingt, anlässlich einer Krankheit mit spektakulären Auswirkungen für eine Weile die öffentliche Meinung für sich einzunehmen. Durch diesen Kampf für die Anerkennung dieser oder jener mit der Arbeitswelt verbundenen Krankheit

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Siehe z. B. B. Bowden und B. Penrose, “Dust and Silicosis: Conflicting Narratives and the Queensland Royal Commission into Miners’ Phthisis”, Australian Historical Studies, 37, 128, 2006, S. 89–107; M. W. Bufton und J. Melling, “Coming Up for Air: Experts, Employers, and Workers in Campaigns to Compensate Silicosis Sufferers in Britain, 1918–1939”, Social History of Medicine, 18, 1, 2005, S. 63–86; Michael Bloor, “The South Wales Miners Federation, Miners’ Lung and the Instrumental Use of Expertise, 1900–1950”, Social Studies of Science, 30, 1, 2000, S. 125–140. Julia Moses, “����������������������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������������ Foreign Workers and the Emergence of Minimum International Standards for the Compensation of Workplace Accidents, 1880–1914”, Journal of Modern European History, 2009, 2, S. 219–239. Für den besonderen Fall der Silikose erlaube ich mir den Verweis auf Paul-André Rosental, „La silicose comme maladie professionnelle transnationale“, Revue Française des Affaires Sociales, 2–3, 2008, S. 255–277.

Zur Silikose und den Widersprüchlichkeiten des Konzepts „Berufskrankheit“

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vollzieht sich eine Auseinandersetzung um das Konzept der Berufskrankheit, das lange ein schwaches und instabiles ist.5 Diese Auseinandersetzung wird auch heute noch mit unverminderter Härte geführt. In Frankreich, wo die Entschädigungszahlungen für Berufskrankheiten ausschließlich zu Lasten der Arbeitgeber gehen, gerät sie zu einer Art Klassenkampf, und zwar in dem Sinne, dass die Verhandlungen hier, im Gegensatz zu den anderen Sozialversicherungszweigen, „Block gegen Block“ zwischen den Arbeitgebervertretern auf der einen und den für einmal vereinten Arbeitnehmervertretern auf der anderen Seite geführt werden.6 Aber seit dem Durchbruch des Konzepts und der Politiken der „Arbeitsmedizin“ in den 1930er Jahren und seiner Erweiterung hin zum Schutz der „Gesundheit bei der Arbeit“ ungefähr ab den 1970er Jahren ist die Berufskrankheit nur noch ein Element in einem größeren institutionellen Rahmen. In dieser kurz angedeuteten Chronologie nimmt die Silikose einen wichtigen Platz ein: Dass ihr schon in der Zwischenkriegszeit als erste der Pneumokoniosen – und lange vor dem Asbest (dessen Gefährlichkeit bereits vermutet wurde) – so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, beeinflusst die Fragestellungen, die nun bezüglich der Berufskrankheiten diskutiert werden. Als dieses Konzept gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der Rechtsmedizin institutionalisiert wurde, beschäftigte man sich bevorzugt mit Vergiftungspathologien wie der Bleivergiftung oder dem Phosphorismus. Die Schädlichkeit verschiedener Staubarten war zwar schon lange bekannt7 und ging so weit, dass man vermutete, sie seien für Krankheiten verantwortlich, die sich schließlich

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Laut Albert Thomas, Dix ans d’Organisation Internationale du Travail, Genève, BIT, 1931, S. 145, hat die internationale Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1925 zwar als „wichtigstes Merkmal die Definition der Berufskrankheit“, aber die Kommission, die sie erarbeitet hat, „wendete viel Zeit und Mühe auf, eine (Definition) zu finden, hatte jedoch keinen Erfolg. Schließlich beschränkte sie sich darauf – wie es dann auch die Konferenz machte und vor ihr viele Staaten bei der Ausarbeitung ihrer nationalen Gesetzgebung gemacht hatten -, eine Liste von Krankheiten aufzuzählen, für die man aus berufsbedingten Gründen entschädigt werden muss“. Marc-Olivier Déplaude, „Les maladies professionnelles: les usages conflictuels de l’expertise médicale“, Revue française de science politique, 53, 5, 2003, S. 707–735. In der reichlich verhandenen Literatur zu dieser besonders nicht-linearen Geschichte siehe Luigi Carozzi, „Contributo bibliografico alla storia della pneumoconiosi ,silicosi‘ (dal XXVII sec. A.C. al 1871)“, Rassegna di Medicina industriale, siebenteilige Artikelreihe (12, 10, 1941 à 1942, 13, 5); sowie Jacques Delore, Contribution à l’étude historique des maladies pulmonaires professionnelles des mineurs depuis l’Antiquité jusqu’au début du XXe siècle, Lyon, Bosc Frères, 1952; George Rosen, The History of Miners’ Diseases: A Medical and Social Interpretation, New York, Schuman’s, 1943; A.  G. Heppleston, “Coal workers’ pneumoconiosis: A historical perspective on its pathogenesis”, American Journal of Industrial Medicine, 22, 1992, S. 905–923.

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als mikrobiell verursacht herausstellten.8 Aber erst mit der Silikose – zum Zeitpunkt der Mechanisierung der Minen – wird diese Art der Schädlichkeit übermächtig. Diese Verschiebung ist nicht unbedeutend. Tatsächlich betont und offenbart sie zwei große Widersprüchlichkeiten des rechtsmedizinischen Konzepts „Berufskrankheit“. Die erste Widersprüchlichkeit, die unbedingter Bestandteil des Konzepts ist, betrifft die Temporalität seiner Wirkung. Als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Prinzip der finanziellen „Entschädigung“ von Arbeitsunfällen Gestalt annimmt, wird das in mehreren Ländern vorgeschlagene Projekt, ihnen die Berufskrankheiten hinzuzufügen, wegen ihrer unterschiedlichen zeitlichen Auswirkungen abgelehnt: Während die Folgen eines Unfalls sofort in Erscheinung treten, können die mit einer Krankheit verbundenen funktionellen Beschwerden erst sehr spät einsetzen. Daraus ergeben sich Kausalitäts- und Zurechnungsfragen: Während dieses Auslösungszeitraums kann der Geschädigte den Arbeitgeber gewechselt haben, wodurch nicht festgestellt werden kann, welches Unternehmen die Verantwortung und somit die Kosten der Entschädigung übernehmen muss. Um es einfacher zu sagen: Die betroffenen Arbeitnehmer müssen damit rechnen, dass das Unternehmen ihnen persönliche Gründe als Auslöser ihrer Krankheit anlastet. In einer mindestens seit der Moderne immer wieder aktualisierten Argumentationslinie ist es verlockend, die Beweislast umzukehren, indem man die Arbeitsbedingungen entlastet und die Erbanlagen und den angenommenen Lebenswandel der kranken Arbeiter verantwortlich macht:9 Genau darin besteht der Sinn des rechtsmedizinischen Konzepts der Berufskrankheit – einen Mantel der Unwissenheit über die Ursachen der Erkrankungen auszubreiten und diese ein für alle Mal als berufsbedingt anzuerkennen. Dieses Problem zeitlicher Verschiebung stellt sich schon beim Umgang mit toxischen Materialien. Bei den Stauberkrankungen wird es jedoch zum entscheidenden Faktor, weil sich die Beschwerden buchstäblich erst Jahrzehnte später einstellen können. Die zweite Widersprüchlichkeit des Konzepts „Berufskrankheit“ betrifft die medizinischen Komplikationen. Silikose schwächt die Lungen und begünstigt zusätzliche 8 9

Siehe z. B. Bernard-Pierre Lecuyer, „Les maladies professionnelles dans les Annales d’hygiène publique et de médecine légale ou une première approche de l’usure au travail“, Le Mouvement social, 124, 3, 1983, S. 45–69. Zur Kontinuität vom Ancien Régime bis zur Gegenwart, vgl. Arlette Farge, „Les artisans malades de leur travail“, Annales ESC, 32–5, 1977, S. 993–1006; und PaulAndré Rosental, „La tragédie de l’amiante a-t-elle modifié le régime de reconnaissance des  maladies professionnelles?  Fondements historiques des perspectives d’évolution contemporaines“, in Jean-Marie Mur (Hg.), L’émergence des risques, INRS-EDP Sciences, Les Ulis, 2008, S. 19–41. Für allgemeine Überlegungen über die Tatsache, gesellschaftlich bedingte Krankheiten Personen anzulasten, siehe Howard M. Leichter, “Evil Habits” and “Personal choices”: Assigning Responsibility for Health in the 20th century“, The Milbank Quarterly, 81, 4. 2003, S. 603–626.

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Erkrankungen. Damit treten scheinbar „private“ Krankheiten ein, die in Umkehrung der Kausalität leicht als die wahren Auslöser der Silikose bezichtigt werden können: So konnte Tuberkulose, die den Lebensbedingungen zugeschrieben wurde, als wahrer Grund für die Silikose dargestellt werden und übermäßiger Tabakkonsum als Grund für berufsbedingte chronische Bronchitis usw. Historisch betrachtet nutzten die Arbeitgeber diese beiden Schwachstellen aus. Zunächst beriefen sie sich auf sie, um die Anerkennung der Silikose als spezifische Krankheit hinauszuzögern. Später dann, als die Anerkennung erreicht war, stellten sie damit die Entschädigungsansprüche in Frage. Hier zeigen die Pneumokoniosen die Grenzen des Begriffs der Berufskrankheit auf – ein Konzept, das in seiner rechtsmedizinischen Bedeutung ja nicht unumstritten war. Es bricht nicht nur, wie schon angedeutet, mit der Herangehensweise, die Ramazzini entsprechend den medizinischen Theorien seiner Zeit angewandt hatte.10 Auch die ersten großen Kämpfe der Arbeiterbewegung konzentrierten sich eher auf eine bedingungslose Abschaffung oder Substitution der als gefährlich betrachteten Materialien.11 Erst anschließend und mangels Alternativen bemühte sich die Arbeiterbewegung, zeitgleich zum Wirken der Sozialreformer, das rechtsmedizinische Konzept „Berufskrankheit“ zu vertreten und zu erweitern. Ihrer Ansicht nach sollten die Arbeitgeber die Entschädigungen für die arbeitsbedingten Krankheiten tragen, einerseits, um sie zu sanktionieren, weil sie die Gesundheit ihrer Angestellten beeinträchtigt haben, und andererseits, um sie zur Prävention anzuhalten. Ohne über einen politischen und ökonomischen Kompromiss zu urteilen, der vor über 100 Jahren geschlossen wurde, werde ich versuchen, seine immer noch aktuellen Auswirkungen auf den Kampf gegen berufsbedingte Krankheiten aufzuzeigen. Erstens hat die rechtliche Konstruktion des Konzepts Berufskrankheit – die wie gesagt zu Anfang des 20. Jahrhunderts sämtliche Industrienationen betraf – die Vorstellung bestätigt, dass es legitime, weil unvermeidliche Erkrankungen gab, und das, obwohl eine Zeit angebrochen war, in der man begann, Prävention ins Zentrum einer ehrgeizigen staatlichen Gesundheitspolitik zu stellen: Das ist die Geburtsstunde – oder zumindest die Verstärkung und Institutionalisierung – der Aufspaltung in berufsbedingte und private Krankheiten. Es ist sehr schwer zu ermitteln, inwieweit das Konzept Berufskrankheit, das sich in der Praxis als ein umstrittener, aber solider Schutz 10 Laut Jean-Baptiste Fressoz und Fabien Locher, „Le climat fragile de la modernité. Petite histoire climatique de la réflexivité environnementale“, La Vie des Idées, 20. April 2010, ist Ramazzini vor allem bestrebt, die Werkstätten „als medizinische Mikroklimata aufzufassen“. 11 Judith Rainhorn, „Le mouvement ouvrier contre la peinture au plomb. Stratégie syndicale, expérience locale et transgression du discours dominant au début du XXe siècle“, Politix, 2010, 23, 91, S. 9–26.

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für die Arbeitskräfte erwies, dazu beitrug, mit Hilfe des Rechts und der Medizin die Vorstellung einer Akzeptabilität des Tods bei der Arbeit zu begründen.12 Die Beispiele Blei und Asbest sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Es ist noch schwieriger, auf das Risiko aufmerksam zu machen, mit dem die Arbeiter rechnen müssen, die mit dem unbehandelten Rohstoff hantieren, als auf das Risiko, das auf den Nutzern von fertigen Produkten lastet, z. B. im Fall der Bleifarbe für Anstreicher.13 Dasselbe Risiko wird hingegen buchstäblich untragbar, wenn es die Endverbraucher trifft.14 Im 20. Jahrhundert wurde diese Akzeptabilität des Risikos bei der Arbeit, und insbesondere bei der industriellen Arbeit, durch das Prinzip des Grenzwerts objektiviert, d.h., es wurde ein als zumutbar beurteiltes Risiko festgelegt: Die Formulierung dieses Konzepts kann man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bei einigen Hygienikern15 ausmachen. Einige Jahrzehnte später gewinnt es mit dem Fall der Pneumokoniosen, der Silikose und den Asbesterkrankungen erneut an Bedeutung – und zeigt seine ganze Gefährlichkeit. Und es steht zu befürchten, dass es weiter sein Unwesen treiben wird unter den Millionen von Arbeitnehmern, die Produkten ausgesetzt sind, die nachweislich oder potentiell krebserregend sind. Ist das der unberechtigte Anspruch eines Historikers, die Zukunft vorauszusehen? Wir werden auf die Frage wiederkehrender Ereignisse zurückkommen – sie entstehen aus einem sich stets wiederholenden Kampf zwischen den Bemühungen um den Schutz der Arbeiter und den Produktions- und

12 Der Historiker verweist mit aller gebotenen Vorsicht auf ein anthropologisches Indiz. Demnach wäre es akzeptabel, dass die Arbeit schwächt, Behinderungen verursacht oder tötet, solange dieser Umstand die manuellen Arbeiter betrifft, also diejenigen, die direkt mit der Materie konfrontiert sind. Auch hier wären die Minen, die einst mit Fronarbeit betrieben wurden, wieder einmal das extremste Beispiel. So schreibt Ramazzini noch 1700, dass „dieses Geschäft mit der Unterwelt“ (Ausgabe von 1777, S. 2) das Risiko birgt, von „Geistern und Gespenstern“ heimgesucht zu werden. 13 Jean-Paul Barrière, „Perception du risque au travail et préhistoire d’une maladie professionnelle. L’industrie de la céruse dans le Nord de la France (1800–1950)“, in Denis Varaschin (Hg.), Risques et prises de risques dans les sociétés industrielles, Berne, Peter Lang, 2007, S. 87–108. 14 Julien Vincent, „La réforme sociale à l’heure du thé: la porcelaine anglaise, l’empire britannique et la santé des ouvrières dans le Staffordshire (1864–1914)“, Revue Histoire Moderne et Contemporaine, 56, 1, 2009, S. 29–60, zeigt an konkreten Beispielen, wie Verbraucherverbände (oder Verbraucherinnen-) versucht haben, diese Zwangsläufigkeit zu überwinden, indem sie Druck ausübten, um annehmbare Produktionsbedingungen durchzusetzen. 15 Caroline Moriceau, Les douleurs de l’industrie. L’hygiénisme industriel en France, 1860–1914, Paris, Éds de l’EHESS, S. 155 f.

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Führungsstrukturen, der im Übrigen nicht nur im kapitalistischen System oder in Privatunternehmen stattfindet.16 Zweitens springt ins Auge, wie sehr die rechtliche Grenzlinie zwischen berufs- oder nicht berufsbedingten Krankheiten, die von einem rein medizinischen Standpunkt aus gesehen bisweilen ja nicht ganz ohne Willkür gezogen wird,17 sich auf die medizinischen Konzeptionen auswirkt, und zwar ebenso sehr bei den Fachleuten wie bei den Arbeitnehmern. Ganz abgesehen von den Ländern, in denen die finanzielle Entschädigung von der vorherigen Eintragung in eine offizielle Liste abhängt,18 gibt es zahlreiche Beispiele von Arbeitsmedizinern, die es nicht wagen, sich auf ihre alltäglichen Erfahrungen und ihr praktisches Wissen zu verlassen, um sich gegen Gesetzeslücken zu stellen – die oft durch die Auffassungen von einflussreichen Hochschullehrern bestärkt werden, die die Industriellen im Bedarfsfall als Experten bezahlen. Von einem soziologischen Standpunkt aus betrachtet erklärt die Ausübung dieser medizinischen Autorität, die sich auf eine institutionelle, sehr formalisierte Hierarchie stützt, die Bedeutung des Einzelgängers: Er stellt buchstäblich im Alleingang und gegen alle Widerstände einen Korpus klinischer und radiologischer Beobachtungen zusammen, sucht sich Vermittler in Gewerkschafts- oder Fachkreisen und nutzt die verfügbaren Foren (Fachzeitschriften, Konferenzen, wissenschaftliche Gesellschaften, paritätische Ausschüsse und Gerichte). Damit tritt er gegen die häufig mit höheren Titeln dotierten Experten der Arbeitgeber an und versucht, die vorsichtig-abwartende Haltung seiner Kollegen und der Behördenvertreter zu erschüttern. Die Verbreitung der medizinischen Erkenntnisse bei den kranken Arbeitnehmern ist ebenso bedeutend. Wie bereits erwähnt, neigte die Geschichtsschreibung lange dazu, die Bedeutung herunterzuspielen, die die sanitären Bedingungen am Arbeitsplatz für die Arbeiter und die gewerkschaftlichen Organisationen hatten. Sie hat diese Gleich16 Abgesehen von den verstaatlichten Kohlenbergwerken in Frankreich, siehe dazu Emanuela Macek und Paul-André Rosental, „Les démocraties populaires d’Europe de l’Est ont-elles protégé la santé de leurs travailleurs? La Tchécoslovaquie socialiste face à la silicose“, Journal of Modern European History, 2009, 2, S. 240–264. 17 ��������������������������������������������������������������������������������� Einer der Gründerväter der Arbeitsmedizin bekennt, „dass diese Gesetzgebung zweifellos endlose Diskussionen über diesen oder jenen Fall verhindert, aber zugleich dazu führt, Krankheiten gesetzlich als berufsbedingt zu betrachten, die es vielleicht gar nicht sind und andere nicht anzuerkennen, obwohl sie es wahrscheinlich sind, denn gegenüber einem kranken Individuum wird die berufsbedingte Ätiologie manchmal als gesichert gelten können, manchmal aber auch nur als eine Möglichkeit, ohne dass das eine oder das andere endgültig nachgewiesen werden kann“ (Henri Desoille, La médecine du travail, Paris, PUF, Reihe Que sais-je?, 3. Auflage, 1979). 18 Wie das lange in Frankreich der Fall war, nachzulesen in Nicolas Hatzfeld, „Les malades du travail face au déni administratif: la longue bataille des affections péri-articulaires (1919–1972)“, Revue Histoire Moderne et Contemporaine, 56, 1, 2009, S. 177–196. 

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gültigkeit gern kulturalisiert, indem sie sie einfach proletarischem und maskulinem „Imponiergehabe“ und dem Gespött zuschrieb, dem diejenigen ausgesetzt waren, die den Versuch wagten, sich zu schützen. So gesehen kann man nicht sagen, dass die Geschichte der Gesundheit bei der Arbeit geschlechtsspezifische Aspekte vergessen hat, sondern dass sie diese bisweilen auf essentialistische Weise gebraucht hat.19 Die aufmerksame Beobachtung der Schutzpraktiken der Arbeiter lässt erkennen, wie viel Besorgnis und Verdrängung die ostentative Kühnheit gegenüber dem Risiko enthält:20 Hier steht tatsächlich das Verhältnis einer Gesellschaft zu einem tödlichen Risiko zur Diskussion, das man auf sich nimmt, ihm trotzt, es aber auch kaschiert – dieses Verhältnis sollte Gegenstand der Geschichtsschreibung sein. Die „kulturelle“ oder „anthropologische“ Interpretation ist nicht per se falsch,21 wenn sie jedoch als bevorzugte oder sogar alleinige Erklärung hochgehalten wird, eröffnet sie die Möglichkeit, sich einige präzisere, objektivierbarere und in gewisser Weise auch „rationellere“ Untersuchungen zu ersparen. Zunächst einmal spielten bei den Abwägungen der Arbeiter die verschiedenen Arten der Bezahlung eine wichtige Rolle, wobei besonders die Leistungsprämien verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit hatten: Wiederum sind die Gefahren durch Staub dafür ein perfektes Beispiel, denn sie wachsen mit dem Aktivitätsniveau (Freisetzung von Partikeln), der Atemfrequenz und durch die ablehnende Haltung gegenüber individuellen oder kollektiven Schutzmaßnahmen, die der Produktivität häufig abträglich sind.22 Insgesamt gesehen könnte man die im 19. Jahrhundert von den Hygienikern aufgestellte Behauptung bis auf unsere Zeit ausweiten: „Der Schutz gegen Risiken darf die Arbeit nicht behindern, ganz gleich ob das geschehen könnte, indem er die Bewegungen 19 Dazu der Artikel von Ronnie Johnston, Arthur McIvor, „Oral History, Subjectivity, and Environmental Reality: Occupational Health Histories in Twentieth-Century Scotland“, Osiris, 2. Series, 19, 2004, S. 234–249 – im Übrigen ein schönes Beispiel für Oral History bei den Krankheiten der Grubenarbeiter –, der auf eine derartige Formbarkeit der Risikobereitschaft durch die „Maskulinität“ schließen lässt (S. 242 f ), dass man sich fragen kann, wie stichhaltig das Konzept ist. 20 Siehe die gut dokumentierte Untersuchung von Marie Pezé, Ils ne mouraient pas tous mais tous étaient frappés: Journal de la consultation, Paris, Flammarion, Coll. Champs, 2010 [2008]. 21 So versteht es ein Autor wie Thomas Miller Klubock, „Working-Class Masculinity, Middle-Class Morality, and Labor Politics in the Chilean Copper Mines“, Journal of Social History, 30, 2, 1996, S. 435–463, die Bedeutung des Geschlechterverhältnisses auf das Verhalten der Grubenarbeiter nachzuweisen, ohne es zu kulturalisieren: Er sieht es als Produkt einer Geschäftsführung, die Schwierigkeiten hatte, ihre Arbeitskräfte zu halten. 22 Siehe beispielsweise Theo Nichols, The Sociology of Industrial Injury, Londres, Mansell, 1997.

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verlangsamt, sie komplizierter, schwieriger oder ermüdender macht.“23 Der Historiker darf aber auch nicht vergessen, dass das Argument des fehlenden Schutzes oft auch von den Arbeitgebern vorgebracht wird, was darauf hinausliefe, dass die Rolle der Betriebsabläufe auf die Gesundheit geringer ist als angenommen. Die Betriebsabläufe sind aber ebenso entscheidend wie die Rolle der Betreuung, wenn es darum geht, ob Sicherheitsmaßnahmen wirklich angewendet werden oder nicht.24 Die Geschichtsschreibung neigte auch zur Vernachlässigung eines Aspekts, den man als phänomenologischen Horizont der Arbeitnehmer bezeichnen könnte. Er interpretiert die Unterscheidung zwischen der jeweiligen zeitlichen Dimension von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten noch einmal völlig neu. Sicherlich ist in vielen Industrien die Sterblichkeit durch Berufskrankheiten deutlich höher als die durch Unfälle – auch hier ist das Beispiel der Minen und der Silikose aufschlussreich. Statistisch gesehen tötet das Schlagwetter weniger als die Silikose. Aber in der Praxis ist das Risikoempfinden vor einem tödlichen Unfall – das zwar relativ betrachtet kleiner, dafür jedoch unmittelbar ist – stärker ausgeprägt als das Risikoempfinden für eine schwere, aber ferne Krankheit: Wie die Aussagen von Ehefrauen oder Witwen von Grubenarbeitern heute belegen, war ihr dringendster Wunsch, wenn ihr Mann morgens zur Arbeit ging, dass er am Abend wieder lebend nach Hause kam. Hinzu kommt, dass die alleinige Betrachtung der Sterblichkeit die Tatsache der häufig vorkommenden Verletzungen ausblendet, die oft sowohl an sich als auch finanziell für den Arbeiter und seine Familie drastische Konsequenzen haben. Dieses Unfallrisiko ist umso gegenwärtiger, als es kollektiv und damit sehr spektakulär ist und darüber hinaus innerhalb einer Arbeitsgemeinschaft geteilt werden kann. Obwohl die großen Grubenunglücke theoretisch keinen direkten Einfluss ausübten, bestimmten die von ihnen hervorgerufenen Mobilisierungen die Geschichte der Silikose. Schließlich gibt es eine politische Sichtweise: Die produktivistischen Tendenzen, die einige Gewerkschaften in der einen oder anderen Phase ihrer Geschichte zeigten, sollen hier nicht verschwiegen werden. Für Frankreich sei an das Beispiel der CGT erinnert, die sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in den verstaatlichten Kohlengruben an der Bataille du charbon („Kohlenschlacht“) beteiligte. Für die Arbeiterbewegung gilt, dass ein Teil ihrer angeblichen Gleichgültigkeit hinsichtlich der Risiken bei der Arbeit aus ihrem Misstrauen gegen die „bourgeoisen“ sozialen oder sanitären Institutionen rührte, sowie deren wirklichen oder vermuteten produktivistischen 23 Caroline Moriceau, „Les perceptions des risques au travail dans la seconde moitié du XIXe siècle: entre connaissance, déni et prévention“, Revue Histoire Moderne et Contemporaine, 56, 1, 2009, S. 11–27. 24 Zur Rolle der Betriebsabläufe über die technischen Bestimmungen hinaus siehe Elaine Katz, The White Death. Silicosis on the Witwaterstrand Gold Mines, Johannesbourg, Witwaterstrand University Press, 1994.

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Hintergedanken, die man ihnen zuschrieb. Dieses Misstrauen findet Widerhall in der lange und letztlich vergeblich vorgebrachten Forderung eines von den Gewerkschaften kontrollierten medizinischen Gewerbeaufsichtsamts, die in Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts laut wurde. Auf lokaler Ebene – und damit auf der am wenigsten sichtbaren – ist es im Übrigen für den Kampf der Gewerkschaften oft leichter, die sanitären Bedingungen bei der Arbeit in den Vordergrund zu stellen, weil diese auf nationaler Ebene oftmals lediglich als Argument dienen, neue Löhne auszuhandeln. Die Handhabung dieser unterschiedlichen Interventionsebenen wird noch komplizierter durch die Vielfalt der Forderungen, für die sich die Arbeiterorganisationen einsetzen müssen. Während die Zwischenkriegszeit mit ihrem Kampf um die Anerkennung der Krankheit für den Historiker zunächst relativ spektakulär ist, sind die alltäglichen Kämpfe, die mit der Umsetzung der Gesetzgebung einhergehen, viel verwässerter und technischer: Nach der Anerkennung der Silikose wird das Tauziehen mit den Arbeitgebern gleichzeitig hinsichtlich der tatsächlichen Bedingungen der finanziellen Entschädigungen, der medizinischen Behandlung der Krankheit (die wiederum in Erkennung, Behandlung und Forschung unterteilt wird) oder der Prävention ausgetragen. Im Allgemeinen müssen die Gewerkschaften zwischen diesen verschiedenen Fronten eine Auswahl treffen.25 Zu all diesen Faktoren gilt es also noch, die Bedeutung der medizinischen Kenntnisse der Arbeitnehmer hinzuzufügen, denn dieser Punkt ist wesentlich nicht nur für das Verständnis der Prävalenz der Krankheiten, sondern auch für die mit ihrer Entschädigung verbundenen Konflikte: David Rosner und Gerald Markowitz erinnern daran, dass die Unternehmen, wenn sie den Arbeitern die Verantwortung aufbürden wollen, beweisen müssen, dass diese voll über das Risiko unterrichtet waren, dem sie sich aussetzten. Die Arbeitnehmer sind aber über die Krankheiten, deren Opfer sie sind, nicht immer informiert. Entweder erfassen sie diese mit Kategorien des Gesundheitswesens, mit denen man sie vertraut gemacht hat (so überschattet beispielsweise die panische Angst vor Tuberkulose in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Silikose), oder sie haben Mühe, ihre eigenen Kategorien an die der legitimen medizinischen Kenntnisse anzupassen. Eine Arbeit von Bernard Thomann nennt dafür ein gutes Beispiel. Sie illustriert, wie die „einheimischen“ Konzeptionen für Lungenbeschwerden, die die japanischen Grubenarbeiter seit dem 17. Jahrhundert entwickelt haben, im 20. Jahrhundert die Einführung und Aneignung des „westlichen“

25 Vgl. die kluge Analyse von Dieter Grant Hogaboam, Compensation and Control: Silicosis in the Ontario Hardrock Mining Industry, 1921–1975, MA thesis, Queen’s University, 1997, insbesondere S. 82 f.

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Silikosebegriffs durch die dortigen Sozialreformer beeinflussen: Diese Anpassungsarbeit zeigt sich sogar in den Bezeichnungen der neuen Gesundheitsgremien.26 Am japanischen Fall lässt sich im Übrigen ein anderer unerwünschter Nebeneffekt der rechtlichen Abgrenzung von Berufskrankheiten nachvollziehen. Er besteht darin, dass eine berufsbedingte Erkrankung durch eine andere überdeckt wird: Die schon im Jahr 1930 erfolgte Anerkennung der Silikose in Japan ist einerseits eine Pionierleistung, andererseits ist sie ein Hemmschuh für die Anerkennung der anderen Pneumokoniosen, die erst 30 Jahre später vollzogen wird. Obwohl die Internationale Arbeitsorganisation in vielen Ländern eine unermüdliche Initiatorin von gesundheitspolitischen Maßnahmen bei der Arbeit ist, stößt ihre Strategie hier an Grenzen. Die Organisation steht zwischen ihren kleinlichen Mitgliedsstaaten und ist zu Kompromissstrategien gezwungen, so dass sie sich häufig mit den am wenigsten strittigen Punkten medizinischen Wissens zufriedengeben muss und nur Minimaldefinitionen von Berufskrankheiten festlegen kann.27 Die daraus hervorgehenden internationalen Konventionen können unleugbare soziale und sanitäre Fortschritte und zugleich ein Hemmschuh für die weitere Entwicklung der Gesetzgebung sein, wie das bei der Silikose der Fall war.28 Natürlich ist diese Geschichte medizinischer Wahrnehmungskategorien zum Teil unverkennbar kognitiv – daher rührt die Bedeutung von Sensibilisierungskampagnen für Arbeitnehmer bezüglich dieser oder jener Berufskrankheit, wie sie von den Gewerkschaften oder Reformmedizinern durchgeführt wurden. Aber sie ist auch institutionell geprägt, denn die Verbreitung neuer medizinischer Vorstellungen von der Gesundheit bei der Arbeit setzt die Existenz entsprechender Instanzen voraus. Diese müssen die Forderungen in den Augen der Medien und der öffentlichen Meinung legitimieren, ihre Verbreitung verstärken sowie eine Vermittlungsrolle hinsichtlich des Verwaltungsapparats übernehmen. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Organisation einer Politik für den Kampf gegen Berufskrankheiten Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich die Gründung einer Kommission für industrielle Hygiene voraussetzte, in Großbritannien einen Ad-hoc-Ministerausschuss und gleichwertige Gremien in Japan und anderen Ländern. Die Entwicklung des Konzepts Berufskrankheit gegen 26 Bernard Thomann, „L’hygiène nationale, la société civile et la reconnaissance de la silicose comme maladie professionnelle au Japon (1868–1960)“, Revue Histoire Moderne et Contemporaine, 56, 1, 2009, S. 142–176. 27 Vgl. Paul Weindling, “Social medicine at the League of Nations Health Organisation and the International Labour Office compared”, in idem, International Health Organisations and Movements 1918–1939, Cambridge, Cambridge University Press, 1995, S. 134–153. 28 Thomas Cayet, Paul-André Rosental, Marie Thébaud-Sorger, “How international organisms compete: Health and safety at work in the ILO, a diplomacy of expertise”, Journal of Modern European History, 2009, 2, S. 174–196.

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Ende des 19. Jahrhunderts hängt chronologisch mit Orten zusammen, die dafür bestimmt sind, in Anwesenheit von Experten und staatlichen Vertretern den Dialog zwischen den Sozialpartnern zu gewährleisten – oder, um es direkter zu sagen: bei Konflikten zu vermitteln oder zu schlichten. So gesehen ist die „Berufskrankheit“ nicht nur eine rechtsmedizinische, sondern ganz unbedingt auch eine politische Kategorie, die Verhandlungen und eine agency voraussetzt. Eine der Regelmäßigkeiten, die man in der vergleichenden Geschichte der Gesundheit bei der Arbeit beobachten kann, ist die Art, wie medizinische Untersuchungen als Feld der Auseinandersetzung für die Konfliktparteien dienen: Die Anerkennung von Berufskrankheiten ist weit entfernt von einer apolitischen Expertisegeschichte. Bei ihr muss jedes Mal geprüft werden, wie Hygieniker, „Einzelgänger“ und manchmal auch Gewerkschaftsexperten versuchen, einen Korpus aus Fakten und Beweisen zusammenzustellen; wie die Arbeitgeber Ärzte drängen, sie zu widerlegen; und wie schnell – oder zumeist langsam – sich ihre Kräfteverhältnisse konstruieren und verschieben. In diesem Tauziehen macht die Wissenschaft ihre Fortschritte niemals allein, und die zeitliche Verschiebung von medizinischen Kenntnissen und rechtlicher Anerkennung kann Jahrzehnte dauern. So gesehen – das gilt für die Silikose ebenso wie für die Asbesterkrankungen – fallen die sanitären Auswirkungen von Krankheiten, von denen arbeitsintensive Industrien massiv betroffen sind, im Vergleich zu den mit ihnen verbundenen finanziellen Dimensionen manchmal kaum ins Gewicht, solange die betroffenen Arbeitgeber sich organisieren und vis-à-vis der Regierung und dem Parlament geschickt handeln. Wir befinden uns hier in einem wahrhaft konstruktionistischen Prozess, wenn man diesem abgedroschenen Adjektiv wieder seine ganze Bedeutung zurückgeben will: Die langsame Akkumulation empirischer Tatsachen allein reicht nicht aus, den Staat zum Erlass von Gesetzen zu bewegen, aber sie verändert die Lage und nötigt die Arbeitgeber, eine Gegenargumentation zu entwickeln, die immer mehr unter Druck und Zwang steht. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Anerkennungsgeschichte der Silikose in Frankreich, Belgien, Japan und anderswo dieselben kognitiven und narrativen Strategien aufweist wie die Gesamtheit der Berufskrankheiten. Die Arbeitgeberexperten leugnen anfangs die Existenz der Krankheit und in einem zweiten Schritt ihren berufsbedingten Ursprung.29 Hier gewinnt die transnationale Dynamik 29 Vgl. den Bericht des großen Hygienikers Étienne Martin, zitiert von Philippe Davezies in Encore une fois, eugénisme etsilicose,2004 (http: /  / clinique.travail.free.fr / download / down / Encore_eug%E9nisme_et_silicose.pdf ): „Jedes Mal, wenn ich im Laufe meiner langen Karriere eine Berufskrankheit erkannt habe, stieß ich bei den Arbeitgebern auf dieselben Widerstände (…). Als ich während des Ersten Weltkriegs in den Pulvermagazinen die ersten Vergiftungsfälle durch Dinitrophenol feststellte, widersetzten sich die Arbeitgeber den Schlussfolgerungen meiner Untersuchungen. Nein, hieß es, Dinitrophenol ist nicht toxisch, genauso wenig wie das Trinitrophenol. Die schweren

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entscheidende Bedeutung: Wenn der wissenschaftliche Druck im internationalen Umfeld wächst und manche Länder, die die Krankheit als berufsbedingt anerkannt haben, auf die Annahme internationaler Konventionen drängen, damit ihre Unternehmen keine Wettbewerbsnachteile haben, knickt die „verneinende Rhetorik“ ein: Dann geht es nicht mehr ums Leugnen, sondern darum, Spuren zu verwischen, Zweifel zu nähren und – vor allem – Zeit zu gewinnen. Und schließlich, wenn die Aussicht auf eine gesetzliche Anerkennung unvermeidlich wird, besteht die letzte Umstellung der Arbeitgeberargumentation darin, den Gültigkeitsbereich der Anerkennung in den Verhandlungen soweit wie möglich einzugrenzen, indem man eine geschlossene Liste der Berufe und Industriesektoren aufstellt, die ein Recht auf Entschädigungszahlungen haben, oder in dem man beispielsweise Expositionsuntergrenzen festlegt. Diese restriktiven Bedingungen wurden durch einen einschränkenden Gebrauch des Konzepts Berufskrankheit im rechtsmedizinischen Sinne ermöglicht und haben für die Arbeitgeber noch einen weiteren, indirekten Vorteil. Jede Einschränkung vergrößert die Bürde der vom kranken Arbeitnehmer zu erbringenden Beweise und ermöglicht eine restriktive Interpretation seiner Rechte. Bei den französischen Grubenarbeitern beispielsweise mag die Auflage, fünf Jahre unter Tage gearbeitet zu haben, um als Silikosekranker entschädigt zu werden, harmlos erscheinen: In der Praxis ist es aber nicht selten, dass diesen fünf anerkannten Jahren 20 oder mehr effektiv gearbeitete Jahre entsprechen.30 Der Nutzen des Konzepts „Berufskrankheit“ für die Arbeitnehmer, der in einer automatischen finanziellen Entschädigung besteht, ist dadurch entsprechend geringer. Die Art der Entschädigung durch die Sozialversicherungen ist – ebenso sehr für die der Anerkennung vorausgehende Verhandlungsphase wie für die Umsetzung der Gesetzgebung – die operative Variable, sie lässt die Unterschiede zwischen den Ländern entstehen.31 Denn das ist die vierte Facette des zeitgenössischen Konzepts „Berufskrankheit“: Neben der medizinischen, der rechtlichen und der politischen gibt es auch die finanzielle. Statisch betrachtet erscheint sie vor allem als ein nicht von der Hand zu weisender sozialer Fortschritt, der, wie wir gesehen haben, Gerechtigkeit (den Arbeitgeber zwingen, für die verheerenden Folgen der von ihm verantworteten Tätigkeit Entschädigungen zu zahlen) und Effizienz (ihn zwingen, seine AngestellUnfälle und das Unwohlsein treten nur bei alkoholkranken Arbeitern auf. Dieselbe Argumentation hörte ich, als im Pulvermagazin von Saint-Chamas auf die Giftigkeit von Dinitrotoluol hinwies. Wenn ich Krankheitssymptome beschrieb, war immer der Alkoholismus der Arbeiter der Hauptgrund. Bei der Silikose war es dasselbe“. 30 Annie Thébaud-Mony, La reconnaissance des maladies professionnelles, Paris, La Documentation française, 1991. 31 Martin Lengwiler, „Internationale Expertennetzwerke und nationale Sozialstaatsgeschichte: Versicherung der Silikose in Deutschland und der Schweiz (1900–1945)“, Journal of Modern European History, 2009, 2, S. 197–218.

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ten besser zu schützen) verbindet. Aber in der Praxis nutzen die Unternehmen das Konzept dynamisch: Sie passen es den finanziellen Unterstützungsmaßnahmen an. Die vergleichende Geschichtswissenschaft liefert für diese Logik einen geradezu experimentellen Beweis. Die (verfrühte) Anerkennung der Silikose in Japan im Jahr 1930 war möglich, weil es im Sozialversicherungssystem keine Unterscheidung zwischen Berufskrankheiten und nicht berufsbedingten Krankheiten gab: Die Unternehmen konnten eine Regulierung akzeptieren, deren finanzielle Auswirkungen entsprechend begrenzt waren. Man muss nur eine Generation weitergehen, um die Wirkung einer 1947 geschaffenen Kategorie für Arbeitsleiden zu „testen“: Bei den Arbeitgebern löste sie Mitte der 1950er Jahre automatisch eine heftige Opposition gegen jegliche Reform der Silikose-Gesetzgebung aus.32 Der belgische Fall ist ebenso exemplarisch. Mitte der 1930er Jahre beschließen der Staat und die Sozialpartner in beiderseitigem Einvernehmen, die Kosten der Silikose auf die Berufsunfähigkeitsversicherung zu übertragen: Aufgrund dieses für die Beteiligten zufriedenstellenden Kompromisses erkennt Belgien in den folgenden drei Jahrzehnten die Silikose nicht als Berufskrankheit an. Erst 1963 übernimmt Belgien unter dem Druck italienischer Einwanderer, die von dieser Regelung benachteiligt sind, die internationalen Normen. Über diese beiden sehr detaillierten Fälle hinaus kann man einen anderen unerwünschten Effekt der Trennung zwischen berufsbedingten und privaten Krankheiten beobachten: Die Arbeitgeber können sowohl bei der Anerkennung wie auch bei der Entschädigung eine medizinisch poröse Dichotomie umso mehr in Frage stellen, als sie in ihrer Stellung als wichtigste Partner der Sozialversicherungen diese manipulieren können, um für die Entschädigungen der Arbeitspathologien aufzukommen. Es ist eine tragische, aber strukturelle Fehlentwicklung des Wohlfahrtsstaats, dass er aufgrund der Kräfteverhältnisse der Sozialpartner einen geringeren Schutz vor Risiken bei der Arbeit zulässt, oder genauer gesagt die Übertragung einer finanziellen Last aus Entschädigungszahlungen auf die Solidargemeinschaft, obwohl diese Schäden direkt mit den Arbeitsbedingungen in den Unternehmen zusammenhängen. Es trifft zu, dass diese Analyse auf einem umfangreichen Vergleich nationaler und zu unterschiedlichen Zeitpunkten gemachter Erfahrungen beruht, indem sie den „normalen Ausnahmefall“ der Silikose verallgemeinert. Der Historiker ist hier zwischen zwei Versuchungen hin- und hergerissen: der Suche nach einer klugen und vereinzelnden Kontextualisierung oder dem Streben, dauerhafte Strukturen offen zu legen. Wenn man die heutigen, von Gerald Markowitz und David Rosner geschilderten, Erfahrungen von Historikern, die als Experten bei amerikanischen Gerichten tätig sind, damit vergleicht, wie im historischen Rückblick die Silikose anerkannt wurde, gelangt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Unbewusst durchlaufen die Anwälte, die heute amerikanische Unternehmen in den Prozessen um Entschädigungszahlungen 32 Bernard Thomann, „L’hygiène nationale …“, (Fn. 26).

Zur Silikose und den Widersprüchlichkeiten des Konzepts „Berufskrankheit“

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aufgrund berufsbedingter Krankheiten verteidigen, dieselben Argumentationspfade wie die von Kohlenbergwerken bezahlten Ärzte vor rund 75 Jahren.33 Die Figur des Historikers ist beispielhaft: Er entscheidet einen Konflikt zwischen medizinischen und gerichtlichen Experten, indem er die zu ihrer Zeit anerkannten Ursachen für Jahrzehnte vorher ausgebrochene Krankheiten ausgräbt, und beeinflusst damit den Lauf von Prozessen, die finanziell so bedeutend sind, dass ihr Ausgang die Börsenkurse erschüttert. Durch seine transnationale rechtsmedizinische Konstruktion vor 100 Jahren hat das Konzept „Berufskrankheit“ die Basis für Prozesse geschaffen, die sich wiederholen, von einem Land zum anderen ausbreiten und interagieren. Es kann auf diesem Gebiet keine ausschließlich nationale Geschichte geben. Die Gesundheit bei der Arbeit und erst recht der Kontext und die größeren Problematiken, mit denen sie zusammenhängt, lassen sich nicht auf die Berufskrankheiten reduzieren. Diese bilden die Grundlage, auf der ein gesetzlicher Schutzschirm für berufliche Risiken aufgebaut wurde, dessen Wirkung Anlass zu Diskussionen gibt. Die Geschichte des Konzepts Berufskrankheit verweist auf eine lange Chronologie, deren kognitive Fundamente in die moderne Epoche und deren institutionelle und rechtliche Grundlagen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen: Die Entwicklungen des Kampfs gegen die Pneumokoniosen zu untersuchen, ist eine Art, die Ausprägungen dieser Geschichte in all ihren Nuancen zu erörtern. Wie bei einem Gedankenexperiment ermöglicht sie es, ein Paradoxon nachzuempfinden, das von den aktuellen Reformmaßnahmen und -projekten allzu häufig vernachlässigt wird, wenn sie – ohne es zu wissen – Wege gehen, die in der Vergangenheit schon viele Male zurückgelegt wurden. Einerseits ist das Konzept Berufskrankheit, wenn es als eine unzweifelhaft und spezifisch am Arbeitsplatz zugezogene Krankheit verstanden wird, analytisch und epidemiologisch über alle Zweifel erhaben. Andererseits unterscheidet es sich gerade durch seine Institutionalisierung von allgemeinen Gesundheitsproblemen und „privaten“ Krankheiten. Dies vollzieht sich über eine Abgrenzung, die – trotz der steigenden Sensibilität der vom Menschen erzeugten sanitären Gefahren – immer wieder und beständig neu definiert wird. Diese Dichotomie schafft eine Hierarchie zwischen den Krankheiten des Konsumenten und denen des Arbeiters, und sie macht die Arbeitgeber zu Akteuren, die mit ihren beträchtlichen Einflussmöglichkeiten auf die Expertisen an einer Verharmlosung von Risiken interessiert sind. Damit läuft sie der Aufteilung in Gesundheit bei der Arbeit und öffentliches Gesundheitswesen zuwider. In diesem Paradoxon und in diesem Zwischenbereich müssen alle Versuche angesiedelt sein, den Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu verbessern: Immerhin erlaubt es die

33 David Rosner und Gerald Markowitz, „L’histoire au prétoire. Deux historiens dans les procès des maladies professionnelles et environnementales“, Revue Histoire Moderne et Contemporaine, 56, 1, 2009, S. 227–253.

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Paul-André Rosental

Geschichte, indem sie die Konturen aufzeigt und sich mit der Komplexität der Frage befasst, zu verstehen, warum diese Gleichung bisher nicht zu lösen war.

Christoph Boyer

Sozialpolitik und Recht in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert

I. Einleitung 1. Meine Überlegungen1 zur Sozialpolitik im Ostmitteleuropa des 20. Jahrhunderts sollen nicht ganz so breitflächig ausfallen, wie der Titel des Beitrags dies womöglich befürchten lässt. Aus dem umfangreichen Gesamtfeld soll der Teilbereich ‚Arbeit‘ und ‚Arbeitspolitik‘ genauer in den Blick genommen werden. Lohnabhängige Erwerbsarbeit – um diese geht es hier in erster Linie – muss ‚produziert‘ und verteilt, sie muss gesichert, gestaltet, entlohnt, irgendwann auch beendet werden. Dies spielt sich, zum einen, in den ‚kleinen Räumen‘ und im Arbeitsalltag ab. Zum anderen werden, in der Makro-Dimension und in institutionalisierten Formen, die Sozial- und die Arbeitsverteilungspakte zwischen Klassen oder Schichten verhandelt. Hier geht es – was im Wust technischer Detailregelungen und in den Dickichten des Arbeitsund Sozialrechts häufig unterzugehen droht – letztlich um Fragen der guten und gerechten Gesellschaft und der Legitimität von Herrschaft. 2. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die langen Entwicklungslinien der Sozialpolitik in der europäischen ‚Hochmoderne‘ seit dem späten 19. Jahrhundert, wie sie sowohl von der allgemeinen Geschichte2 als auch von der Wirtschafts-3 und

1 2

3

Der mündliche Duktus der Ausführungen wurde in vielen Hinsichten beibehalten. In strenger Auswahl: Walther L. Bernecker, Europa zwischen den Weltkriegen 1914– 1945, Stuttgart 2002; Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, London 2005, S. 13 ff.; David Reynolds, One world divisible. A Global History since 1945, New York / London 2000. Ebenfalls in strenger Auswahl: Jeffry A. Frieden, Global Capitalism. Its Fall and Rise in the Twentieth Century, New York / London 2006; Derek H. Aldcroft, The European Economy 1914–2000, New York / London 2004; Barry Eichengreen, The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond, Princeton / Oxford 2006, S. 15 ff.; Ivan T. Berend, An Economic History of Twentieth Century Europe, Cambridge / New York 2006, S. 190ff.; ders., From the Soviet Bloc to the European Union. The Economic and Social Transformation of Central and Eastern Europe since 1973, Cambridge 2009.

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Christoph Boyer

Sozialgeschichte4 synthetisierend in den Blick genommen werden, so fällt ins Auge, dass in diesem Kontext immer komplexere und weiter ausgreifende Arbeitsschaffungs- und Arbeitsgestaltungspolitiken ausgebildet worden sind. Sozialpolitik sorgt für diejenigen, die nicht selbst arbeiten können, nicht nur durch Transferleistungen, sondern auch dadurch, dass sie eben Arbeit schafft. Der Wirtschaftsinterventions- und der Sozialstaat haben sich als ‚kombinierter Reparaturbetrieb‘ im Kontext einer zusehends intensiveren Planung und Steuerung, Verrechtlichung und Ver­wissenschaftlichung des Sozialen ausgebildet. Der Bogen spannt sich von den frühen Bemühungen um die Pazifizierung des industriellen Klassenkonflikts im 19. Jahrhundert hinüber zur Zwischenkriegszeit: Dort wird, maßgeblich in Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, in West- und in Nordeuropa ein Arrangement ‚erfunden‘, das sich als längerfristig erfolgreich herausstellen wird: antizyklische Wirtschaftssteuerung, die Vollbeschäftigung und Preisstabilität sichern soll. Sie wird flankiert durch öffentliche Arbeiten, Sozialprogramme und den Ausbau der Versicherungssysteme. Dieser frühe, schüchterne Keynesianismus – teilweise vor Keynes – wird getragen vom Interessenabgleich der Arbeiterparteien mit ‚dem Kapital‘; auch die agrarischen Kräfte sind eingebunden. Offensichtlich geht es hier zentral auch um die gesamtgesellschaftliche Produktion und Regulierung von Arbeit. In den trente glorieuses nach 1945 erweitert sich der Aktionsradius dieses Modells, etwa auf Westdeutschland und Österreich. Die ökonomische Prosperität vergrößert die Verteilungsspielräume ungeahnt – nicht nur hinsichtlich der Sozialtransfers: Das Wachstum schafft jetzt genug Arbeit für alle. Der klassische Erwerbstätige in der klassisch-fordistischen Industriegesellschaft der 4

Gerald Ambrosius / Peter Baldwin, The Politics of Social Solidarity. Class bases of the European Welfare State 1875–1975, Cambridge / New York / Melbourne 1990; immer noch bestechend als Synthese: Gerald Ambrosius / William H. Hubbard, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20.  Jahrhundert, München 1986; Lutz Raphael, Europäische Sozialstaaten in der Boomphase (1948–1973). Versuch einer historischen Distanzierung einer ’klassischen’ Phase der europäischen Wohlfahrtsstaaten, in: Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hrsg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004, S. 51–73; Béla Tomka, Western European welfare states in the 20th century. Convergences ��������������������������������������������������� and divergences in a long-run perspective, in: International Journal of Social Welfare 12, 2003, S. 249–260; Ders., Welfare in East and West. Hungarian social security in an International Comparison, 1918–1990, Berlin 2004; Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 332–360; Göran Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945–2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt am Main / New York 2000; Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt am Main 1997; Fritz W. Scharpf / Vivien A. Schmidt, Introduction, in: dies., Welfare and Work in the Open Economy. Vol. I: From Vulnerability to Competitiveness, Oxford / New York 2000, S. 1–20¸ Christoph Boyer, Lange Entwicklungslinien europäischer Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Eine Annäherung, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 49 (2009), S. 25–62.

Sozialpolitik und Recht in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert

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zweiten industriellen Revolution, die in den sechziger Jahren ihren Höhepunkt erreicht, ist der männliche Familien-Alleinernährer im ‚Normalarbeitsverhältnis‘; auch die Frauenerwerbstätigkeit nimmt zu. So bewirkt der demokratisch-keynesianischneokorporatistische nationale Wohlfahrtsstaat, durch seine Sozialpolitik im engeren Sinn, aber auch durch die breitgestreute und gut abgesicherte Verteilung von Arbeit, einen bis dahin ungekannt hohen Grad der Inklusion der Bevölkerung: als Staatsbürger, und eben als Arbeitende. 3. Die Lehrbuchweisheiten sind an dieser Stelle noch einmal resümiert worden, weil sie als Folie dienen, wenn im Folgenden gezeigt wird, dass dieser Entwicklungspfad – der manchmal als ‚der gesamteuropäische‘ apostrophiert und dann z. B. mit dem US-amerikanischen Pfad kontrastiert wird – nur einer unter mehreren in Europa gewesen ist. Womöglich ließe sich vom ‚westlichem Modell‘ sprechen. Dies ist dann nicht in erster Linie geographisch gemeint, sondern als die Bezeichnung eines Typus, wie er sich etwa auch in Skandinavien und seit dem Ende der iberischen Diktaturen auch in Südeuropa findet. Es gibt in Europa mindestens einen zweiten Pfad: den ostmitteleuropäischen. Die idealtypisierende West-Ost-Taxonomie erschöpft natürlich nicht den Raum der Möglichkeiten; vorgestellt wird lediglich ein – erweiterungsbedürftiges und -fähiges – Teilstück einer umfassenderen historischen Theorie. Die folgenden Ausführungen versuchen zunächst einmal eine Beschreibung der genannten beiden Pfade. Die hierbei verwendeten Fügungen ‚der Westen / Osten‘ bzw. ‚im Westen / Osten‘ u.Ä. sind nicht als simplifizierende Schablonen gemeint, sondern als abkürzende Chiffren. Zur Erörterung stehen auch die Ursachen der Pfadverläufe. Wichtig ist hier: Die Ursachenanalyse enthält keine Teleologiebehauptungen. Die im Blick auf die enorme Bandbreite westlicher Wohlfahrtsstaatlichkeit von der Forschung ausgearbeiteten elaborierten Typologien – zu denen auf der Ostseite vorerst ohnehin kein ähnlich ausgefeiltes Pendant existiert – fallen dem skizzenartigen Charakter dieser Überlegungen zum Opfer. ‚Ostmitteleuropa‘ meint pragmatisch (d.h. unter Ausblendung der einschlägigen, wert- und politikgeladenenen, deshalb end- und fruchtlosen semantischen Debatten) die Großregion zwischen Deutschland und Russland bzw. Sowjetunion, zwischen Baltikum und Balkan. Ostmitteleuropa ist eine sozialökonomische Konfiguration; in diese Sichtweise geht ein idealtypisierendes Element ein. Wäre dies nicht der Fall, würde die Untersuchung in Myriaden von Details auseinanderfallen. Kriterium der Zuordnung zu dieser Konfiguration ist Familienähnlichkeit; die Diversität innerhalb des Clusters ist, mit anderen Worten, geringer als die zwischen ihm und seiner Außenwelt. Familienähnlichkeiten sind keine Essenzen, sondern werden als – testbare – empirische Hypothesen formuliert. Sie variieren in der Regel mit dem Zeitverlauf: So wird nicht Ostdeutschland vor 1945, aber die SBZ / DDR nach 1945 unter den Vorzeichen der vom Staatssozialismus gestifteten massiven Ähnlichkeiten eingemeindet.

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Ivan Berend hat ein so verstandenes Ostmitteleuropa mustergültig in den Kategorien der Modernisierungstheorie beschrieben.5 Die Modernisierungstheorie liefert eine nützliche, ja eigentlich alternativlose Beschreibungssprache für die hier interessierenden sozialökonomischen Phänomene und deren Wandel. Eine – häufig vorschnell und unreflektiert unterstellte – Teleologie der Modernisierung ist damit nicht impliziert, ebenso wenig eine Parteinahme für die in dieser Theorie zweifellos enthaltenen Wertungen. Die in Berends Texten implizit oder explizit enthaltenen Wertprämissen sind übrigens nicht diejenigen des Autors, sondern Beschreibungen der handlungsleitenden Orientierungen der realhistorischen Akteure; diese beiden unterschiedlichen Ebenen, ja logischen Welten werden in einer von political correctness angeleiteten Kritik an Berend häufig konfundiert. Wie auch immer: Ostmitteleuropäische Gesellschaften sind, laut Berend, Agrargesellschaften mit lediglich insulärer Industrialisierung. Hier eine schmale aristokratische Elite, dort die arme, analphabetische ländliche Masse – also krasse soziale Ungleichheit. Das Bürgertum ist schwach, ebenso die industrielle Arbeiterschaft. Dies ist so um die Wende zum 20. Jahrhundert, und es bleibt im Wesentlichen so in der gesamten Zwischenkriegszeit: Nachholende Entwicklung durch importsubstituierende Industrialisierung gelingt kaum. In der Politik führt nach 1918 der Weg vom nationaldemokratischen Aufbruch zu in der Wolle gewirkt ‚rechten‘ Regimen – allerdings ist das dann nicht ein massenmobilisierender Faschismus, sondern die Herrschaft alter Eliteformationen in Armee und Bürokratie. In diesen wirtschaftlich schwächer entwickelten, schroffer hierarchischen, von tieferen sozialökonomischen und – das ist eminent wichtig – auch von markanten ethnisch-nationalen Bruch- und Konfliktlinien durchzogenen Gesellschaften sehen die Sozial- und speziell die Arbeitspolitik in mehrfacher Hinsicht anders aus als das, was wir aus dem früher demokratisch-industriegesellschaftlichen Westen mit seinem vergleichsweise hohen Maß an Gleichheit und zivilgesellschaftlicher Kompromissfähigkeit kennen. Vorgestellt werden sollen nun zunächst die drei Hauptetappen dieses ostmitteleuropäischen Pfads; abschließend ein Wort über den Gesamtzusammenhang, also die Pfadabhängigkeiten. Weil damit ein weites Feld aufgespannt ist, ist schon eingangs die Bitte um Nachsicht für manche Grobschlächtigkeit angebracht. Wichtig sind die großen Linien; es kommt mehr auf die Vermessung des Feldes im Großen an als auf Akribie im Detail.

5

Ivan T. Berend, Decades of Crisis. Central and Eastern Europe before World War II, Berkeley / Los Angeles / London 1998; ders., An Economic History of Twentieth Century Europe. Economic Regimes from Laissez-faire to Globalization, Cambridge / New York 2006, S. 92–132; ders., History derailed. Central and Eastern Europe in the long nineteenth Century, Berkeley / Los Angeles / London 2003.

Sozialpolitik und Recht in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert

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II. Der ostmitteleuropäische Pfad 1. Die Zwischenkriegszeit6

Die einheitliche Signatur auf dem ersten Pfadabschnitt, der Zwischenkriegszeit, wird von den ‚nationalen Verhältnissen‘ gestiftet (eine ziemlich ähnliche Problemlage existiert aber bereits vor 1918, also in der Spätzeit der Imperien). Es gibt in Ostmitteleuropa keine abgerundeten, säuberlich gegeneinander abgegrenzten Nationalgesellschaften, sondern eine ethnisch-nationale Gemengelage. Die Nachfolgestaaten sind, entgegen allen offiziellen Bekundungen, keine National-, sondern Nationalitätenstaaten mit gewichtigen Minderheiten. In der Wirtschaft findet sich häufig so etwas wie eine Funktionsteilung zwischen den Nationalitäten. So begegnet man in den Schlüsselstellungen der Unternehmen häufig Deutschen oder Juden. Die Verteilung von Arbeit wird im Spannungsfeld dieser ‚nationalen Verhältnisse‘ ausgehandelt, auch ausgekämpft. Charakteristisch ist, dass soziale Konfliktlinien durch nationale überlagert werden. Soziale Antagonismen werden als nationale interpretiert; wahrscheinlich verstärken sie sich dadurch wechselseitig. Es stehen also z. B. nicht Unternehmer gegen Arbeiter, sondern Juden gegen Polen. Vielfach verlaufen in diesen Auseinandersetzungen um – im doppelten Sinn des Begriffs – national-ökonomische Besitzstände die Konfliktlinien quer zu den aus dem Westen gewohnten sozialen. So konkurrieren etwa Angestellte oder Arbeiter des ‚Staatsvolks‘ mit denen der nationalen Minderheiten um Arbeitsplätze. Der Staat, der Nationalstaat sein will, ergreift hier gerne Partei. So werden, im Kontext des nation-building, etwa die Stellen in Militär und Bürokratie gerne für die Konnationalen reserviert – für ehemalige Offiziere der kaiserlichen Armeen, oder für nach dem Neuzuschnitt der Staatsgrenzen repatriierte Beamte. Nationalpolitik wird so zu Arbeitsmarktpolitik und vice versa. Arbeitskampf ist nationaler Kampf um Arbeitsplätze, Arbeitsschutz ist Schutz der nationalen Arbeit. Das ist nicht nur so in der Peripherie im strikt Berendschen Sinn; auch im Nationalitätenstaat Tschechoslowakei mit seiner industrialisierten Wirtschaft und seiner entfalteten bürgerlichen Gesellschaft finden sich die typischen Ingredienzien: Der Sozialstaat ist soziales Komplement der nationalen Emanzipation der Tschechoslowaken; diese besteht nicht nur in der neu errungenen politischen Autonomie. Geboten 6

Vgl. zum folgenden Abschnitt Berend, Decades of Crisis.; ders., Economic History of Twentieth Century Europe, ders., History derailed, Walther L. Bernecker, Europa zwischen den Weltkriegen 1914–1945, Stuttgart 2002, S. 231–265, S. 469–474; Erwin Oberländer (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Osteuropa 1919–1944, Paderborn 2001. Die langen Linien betont Alice Teichova (Hrsg.), Central Europe in the Twentieth Century. An Economic History Perspective, Aldershot etc. 1997; Tomasz Inglot, Welfare States in East Central Europe, 1919–2004, Cambridge / New York 2008.

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ist jetzt auch die Nationalisierung der Volks-Wirtschaft im emphatischen Sinn des Begriffs, etwa durch die „Tschechisierung“ – so der Kampfbegriff der Gegenseite – der leitenden Angestelltenschaft zu Lasten des alteingesessenen, häufig aus böhmischen Deutschen rekrutierten Managements. Die Auseinandersetzungen um die ‚nationalen Verhältnisse‘ sind eine eigenständige Größe, auch wenn sie von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht abzulösen sind. Ihre Intensität schwankt mit den Konjunkturen auf dem Arbeitsmarkt; in der Weltwirtschaftskrise wird die Konkurrenz um Arbeitsplätze deutlich schärfer. Insgesamt allerdings wird in der ‚nationalen Arbeitspolitik‘ nicht so heiß gegessen wie gekocht. Es ist schwer, die Region über einen Leisten zu schlagen, aber Umschichtungen gehen doch meist nicht ‚einfach so‘. In der Tschechoslowakischen Republik etwa dämpft der Rechtsstaat zum Missfallen chauvinistischer Heißsporne eine nationaltschechische Arbeitsmarktpolitik. Vor allem auch das wirtschaftliche Kalkül schiebt regellosen „Säuberungen“ einen Riegel vor. Die tschechischen Kapitalisten wollen ja eigentlich schon ihre Landsleute als Betriebsleiter. Aber sie tun gut daran, die Ablösung deutscher Manager und Ingenieure nicht zu überstürzen, sonst schneiden sie sich ins eigene Fleisch. A la longue verschieben sich die Gewichte schon, aber eben behutsam und meist auf geregelten Wegen: Etwa durch die Fixierung nationaler Schlüssel, die eine „gerechte“ Beteiligung der Nationalitäten an der Wirtschaft sichern. Industrielle Klassenauseinandersetzungen nach westlichem Muster gibt es in der Region natürlich auch. Aber aus diesen Konflikten kristallisiert sich eben nicht das ‚westliche‘ Muster der (proto-)keynesianisch regulierten industriellen Marktwirtschaft mit dem Tripartismus von Industriekapital, Arbeit und agrarischen Interessen heraus. Konflikte werden häufig überhaupt nicht bearbeitet, sondern durch den ökonomischen Dirigismus des autoritären Staates stillgestellt. Für Vollbeschäftigungspolitik westlichen Stils im Verein mit Sozialprogrammen wären die Verteilungsspielräume in vielen Fällen ohnehin zu eng und die öffentlichen Kassen zu mager bestückt. 2. Der Staatssozialismus: Aufbau- und Reformzeit7

Nach 1945 beschreitet Ostmitteleuropa, bekanntlich nicht ganz freiwillig, im Staatssozialismus sowjetischen Typs den Weg in eine industrielle Moderne eigenen Zuschnitts. 7

Vgl. zur sozialistischen Sozialpolitik in striktester Auswahl: Christoph Boyer / Klaus– Dietmar Henke / Peter Skyba (Hrsg.), Deutsche Demokratische Republik 1971–1990. Bewegung in der Sozialpolitik, Erstarrung und Niedergang (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 10), Baden-Baden 2008; Christoph Boyer, Arbeiter im Staatsozialismus: ein Leitfaden in theoretischer Absicht. In: Bohemia 42 (2001),

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Systeme sowjetischen Typs8 werden – idealtypisch, in der klassischen Form – als Kombination der folgenden drei Elemente gefasst: a) Prinzipieller und unbedingter Primat der Politik über Wirtschaft und Gesellschaft: das – ungeachtet aller faktischen Begrenzungen – rechtlich nicht gebändigte Machtmonopol der marxistisch-leninistischen Staatspartei und des von ihr angeleiteten bürokratischen Gesamtapparats auf der Grundlage des Monopols ideologischer Gestaltungsmacht. Politik steuert ein Mega-Projekt politischsozial-ökonomischer Transformation, das die Arbeiterklasse ins Zentrum des gesellschaftlichen Gefüges rückt. b) Dominanz staatlichen und quasistaatlichen Eigentums; tendenzielle Beseitigung autonomer Akteure auf dem Markt; bürokratische (vertikale, hierarchische) Koordinierung der Wirtschaft durch umfassende zentrale Planung physischer Größen der industriellen Bruttoproduktion. c) Forcierte industrielle Wachstumspolitik mit markanter Präferenz für die Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien. Klassisch-staatssozialistisches industrielles Wachstum ist extensiv: Es überspannt Ressourcen und Entwicklungstempo ohne Rücksicht auf ökonomische und soziale Kosten und produziert mit hoher Wahrscheinlichkeit Mangelkrisen in Permanenz. In diesem Systemkontext werden jetzt die alten Industrieländer Ostdeutschland und – die westliche – Tschechoslowakei um- oder nachindustrialisiert, Polen, Ungarn und die Slowakei werden überhaupt erst durchindustrialisiert. ‚Aufbau des Sozialismus‘ heißt also: extensive investitionsgüterorientierte Schwerindustrialisierung nach sowjetischem Vorbild. Wird dieses auch auf Bajonetten importiert, so hat die Sowjetisierung als Fortsetzung der autoritären Modernisierung der Zwischenkriegszeit doch ihre eigene Plausibilität. Rechtsautoritarismus und Kommunismus sind prima facie unvereinbare Welten, aber beide sind eben doch Entwicklungsdiktaturen.

8

S.  209–219; Ders. (Hrsg.), Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frankfurt am Main 2007; Ders., Zwischen Pfadabhängigkeit und Zäsur. Ost- und westeuropäische Sozialstaaten seit den siebziger Jahren des 20.  Jahrhunderts, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 103–119; Peter Hübner / Christa Hübner, Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968–1976. Mit einem Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei, Köln / Weimar / Wien 2008; Inglot, Welfare States; Tomka, Welfare in East and West. Dies in Anlehnung an die klassische Darstellung in: János Kornái, Das sozialistische System. Die politische Ökonomie des Kommunismus, Baden-Baden 1995, S. 35–428.

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Als solche können die Staatssozialismen nun, nachdem, zynisch gesagt, die ‚nationale Heterogenität‘ durch die Vertreibungen und großangelegten Bevölkerungsverschiebungen bedeutend reduziert worden ist, voll durchstarten. Die nachholende Entwicklung erwartet sich alles von der Forcierung der Industriearbeit, von deren Wachstum nach Plan. Es ist dies tayloristische Industriearbeit der zweiten industriellen Revolution. Man könnte durchaus auch von Fordismus reden, insoweit es um standardisierte großbetriebliche Massenproduktion geht. Industriearbeit – inklusive industrialisierte Landarbeit – ist der zentrale Mechanismus sozialer Integration; die Gesellschaft ist prononciert betriebszentriert. Die Perhorreszierung von ‚NichtArbeiten‘ ist die Rückseite dieser Medaille. Dies hat eine praktische Seite: Arbeit wird gebraucht. Aber dahinter steht auch eine Vorstellung von Emanzipation. Weil das Vertrauen in die automatische Perfektionierung der Gesellschaft durch Produktion nach Plan anfangs noch stark ist, stellt ‚das Soziale‘ kein originäres Politikfeld dar. Zwar gibt es Sozialpolitik avant la phrase, aber meist verdeckt durch die parteioffizielle Illusion, Produktion und Produktivität allein seien imstande, alle alten und neuen sozialen Probleme zu lösen. Die im Parforceritt nachgeholte ursprüngliche Akkumulation steigert ungeahnt die vertikale und horizontale Mobilität; dies schafft weite Räume neuer Lebenschancen. Aber: Um die extensive Ausschöpfung, ja exzessive Ausbeutung von Arbeitskraft durchzusetzen, bedient sich die Partei- und Staatsmacht, zumindest in der Aufbauphase, vielfältiger Varianten halbfreier, militarisierter und Anstalts-Arbeitsverhältnisse bis hin zur offenen Zwangsarbeit. Auch dies ist eine Art industrieller Klassenkonflikt – allerdings der zwischen den Arbeitern und dem Parteistaat. Ist im Westen genug Arbeit für alle da, so gibt es im Osten eben mehr als genug Arbeit für alle. Gegen die Zumutungen von Produktivismus und Konsumverzicht reagieren die Arbeiter brachial; erstaunlich muten die Häufigkeit und die Schärfe der Auseinandersetzungen ausgerechnet unter dem terroristischen Hochstalininismus an. Die „Aufbaukrisen“ 1953 in der DDR und der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Polen 1956 sind hinsichtlich der Abläufe im Detail zwar kontingent. Das Krisengeschehen beinhaltet jedoch doch etwas Zwangsläufiges, insofern es aus den Grundspannungen des stalinistischen Industrialisierungsmodells mit seiner systematischen Präferenz von Akkumulation gegenüber Konsum erwächst. ‚1953‘ und ‚1956‘ sind die Gipfel des Eisbergs; hier werden soziale Forderungen zu politischen. Die ‚Systemfrage‘ wird gestellt. Weniger auffällig, aber womöglich wirkmächtiger sind die evasiven und die Exit-Taktiken des Alltags: Arbeit nach Vorschrift, Umfunktionieren der Direktiven vom grünen Tisch, Absentismus oder gehäufter Arbeitsplatzwechsel. Da die staatssozialistische Macht per definitionem Arbeitermacht ist, die nicht in Gegensatz zu den Arbeiterinteressen geraten kann, ist die Bearbeitung industrieller Konflikte unterinstitutionalisiert, ‚unter-vergewerkschaftlicht‘ und vergleichsweise schwach verrechtlicht. Bargaining bildet sich durch ‚Selbstorganisation‘

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zwar heraus, aber nicht als legales Procedere. Über aller industrial unrest hängt das Damoklesschwert der Eskalation ins Politisch-Grundsätzliche. Trotzdem kristallisiert sich, in Antwort auf die Unruhezone Mitte der 1950er Jahre, eine neue Überlebensstrategie der Parteiführungen heraus. Aufstände niederzuschlagen ist schließlich kostspielig im weiten Sinn des Begriffs. Hinzu kommt: Die Position der Arbeiter ist angesichts der extensiven Wirtschaftsweise, d.h. niedriger Produktivität und der hierdurch bewirkten Arbeitskräfteknappheit, ziemlich stark. Häufig beginnt die Konfliktentschärfung auf dem shop floor, durch lohn- und normenpolitische Konzessionen ad hoc. Von hier führen in den sechziger Jahren die Entwicklungslinien hin zur ‚sozialistischen Sozialpolitik‘, als Reparaturbetrieb des Sozialismus und Agentur der Loyalitätsproduktion. In den Siebzigern und Achtzigern wird diese Politik zum stabilisierenden Herzstück des Honeckerschen ‚Realsozialismus‘ und des Husákschen ‚Normalisierungsregimes‘; Polen geht unter Gierek ähnliche Wege, in Ungarn hat der Kádárismus schon bald nach 1956 auf den sprichwörtlichen Gulaschkommunismus umgestellt. Nun werden immer größere Teile der Bevölkerung in ein zusehends dichter gewebtes Netz immer vielfältigerer Sozialleistungen inkludiert. In der Richtung ähnlich wie im Westen, wenn auch in geringerem Umfang und mit weniger Erfolg, wird ‚klassische Sozialpolitik‘ ausgeweitet zur Teilhabe am Konsum. Der Weg führt von der Nachkriegs-austerity zu einer bescheidenen Wohlstandsgesellschaft, die schließlich überschichtet wird durch neue, eher an westlichen Vorbildern als an Vorstellungen einer sozialistischen Gegenmoderne orientierte Konsumgüter-Wunschwelten. An dieser Stelle sollen die Fäden zusammengezogen, gleichzeitig soll der VergleichsBlick eingeschaltet werden: Die staatssozialistischen – dies sei bewusst so zugespitzt – fordistisch-tayloristischen Arbeits- und Wachstumsgesellschaften sind eine Antwort auf den Entwicklungsrückstand der Region. Aber unbeschadet der nicht hinwegzudisputierenden Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur liegen, unterhalb des manifesten Ost-West-Gegensatzes in Zeiten des Kalten Kriegs, die basalen Ähnlichkeiten zum Westen auf der Hand. Beide Makromodelle zielen auf industrielles Wachstum und auf ‚Wohlstand für alle‘ durch die Arbeit aller. Beide teilen den Grundkonsens über Nutzen und Notwendigkeit vergleichsweise weitreichender Wirtschafts- und Gesellschaftssteuerung. Im Grundsatz vergleichbar sind auch die Fokussierung auf die Arbeitsbiografie sowie die universalisierenden, egalisierenden, inkludierenden Intentionen und Auswirkungen von Sozial- und Arbeitspolitik insgesamt. Allerdings: Die staatssozialistische Variante ist die weitaus harschere; sie geht, wie erwähnt, ohne mit der Wimper zu zucken bis zur Zwangsarbeit – zumindest in den Anfangsjahren. Dies hat mit dem Nachholen-und-Aufholen-Müssen zu tun, mit der Arbeitskräfteknappheit, sicherlich auch mit den Möglichkeiten, wie sie die Diktatur eben so bietet. Die westliche Politik der Produktivität setzt früher und deutlicher auf Akkordierung von Wachstum und Verteilung, von Arbeit und Konsum. Zwar lernt in dieser Hinsicht auch der Staatssozialismus: Er ‚erfindet‘ die Sozialpolitik und er wird,

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im Rahmen seiner Möglichkeiten, zur Konsumgesellschaft. Aber die sozialpolitische Wende muss erst brachial durch ‚1953‘ bzw. ‚1956‘ angestoßen werden. Die Werktätigengesellschaft zeichnet sich weiterhin durch markante Betriebszentriertheit und eine schroffe Ungleichbehandlung von Arbeitenden und Nichtarbeitenden aus. Das hat sicher mit der unzureichenden Leistungskraft der Planwirtschaft zu tun, es hängt aber wohl auch an der Arbeits- und Betriebszentrierung des Weltbilds. Der Sozialstaat des Staatssozialismus hat deutlicher ausgeprägte autoritär-paternalistische Züge, die Rechtsgarantien für Leistungen sind schwächer, die Koppelung von politischem Wohlverhalten und Versorgung ist enger, die Sozialrechte sind nicht als subjektive Rechte konzipiert. Der Umgang mit Arbeitskonflikten bewegt sich konvulsivisch zwischen Repression und Eruption. Gemessen an den geradezu elegant-verbindlichen Problembearbeitungsmechanismen des Neokorporatismus in der offenen Gesellschaft ist er, wie erwähnt, weniger verrechtlicht und institutionalisiert. Es gibt das Klischee von der autoritären Überregulierung im bürokratischen Sozialismus. Faktisch handelt es sich, zumindest in bestimmten Bereichen und vor dem Hintergrund des Klischees überraschenderweise, eher um Unterregulierung. 3. Pfadverläufe ab den siebziger Jahren

Auf die Fortsetzung dieser Geschichte ab dem Ende der Nachkriegs-Booms, also ab den frühen siebziger Jahren, kann im Folgenden nur mehr ein kursorischer Blick fallen. Der in diesem Zusammenhang häufig auftauchende Be­griff der Krise9 bezeichnet nicht die offen zutage liegende oder gar dra­ma­tisch zu­gespitzte Ent­scheidungssituation, nicht also das in summo discrimine rerum. Gemeint ist vielmehr ein Ensemble meist unübersichtlich ineinander verschlungener Steue­rungs-, Reproduktions-, Umweltanpassungs- und Legitimationsprobleme ineins mit der – häu­fig langwierigen und mühsamen – Suche nach Lösungen für diese. Kri­sen ha­ben In­ku­ba­tionszeiten und bleiben, manchmal für geraume Zeit, unterhalb der Wahr­neh­mungs­schwel­le. Sie können, womöglich über längere Zeiträume hinweg, schleichend ver­lau­fen und in eher unauffälligen Formen verhandelt werden. Wo­möglich münden sie in grundstürzenden

9

Vgl. Walter L. Bühl, Krisentheorien. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang, Darmstadt 1988; ders., Sozialer Wandel im Ungleichgewicht. Zyklen, Fluktuationen, Katastrophen, Stuttgart 1990. Vgl. zur Krisensemantik der siebziger Jahre Martin H. Geyer, Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Sozialstaatsdebatten der 1970er-Jahre und die umstrittenen Entwürfe der Moderne, in: AfS 47, 2007, S. 47–93.

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Wandel oder sogar in den Zerfall des Systems, vielleicht aber auch in bescheidener dimensionierte adaptierende Umbauten.10 Kardinale neue Herausforderung wird nun, im Osten wie im Westen,11 der Übergang von der Industriegesellschaft der zweiten industriellen Revolution zur Dienstleistungsgesellschaft auf der Basis der dritten industriellen, der elektronischen Revolution – dies im Rahmen der zusehends an Fahrt gewinnenden Globalisierung. Hatte der Staatssozialismus12 mit der Strategie extensiver Wirtschaftentwicklung noch beacht10 Das Krisenkonzept steht in Konkurrenz zu anderen Begriffs-Angeboten wie „Umbruch“ oder „Epochenschwelle“ (vgl. hierzu auch Winfried Süß, Der keynesianische Traum und sein langes Ende. Sozioökonomischer Wandel und Sozialpolitik in den siebziger Jahren, in: Konrad J. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 120–137, vor allem S. 132–134). Ein Vorteil des Krisenbegriffs liegt darin, dass er, anders als etwa der „Umbruch“, nicht lediglich „erhebliche Unterschiede“ zwischen einem „vorher“ und einem „nachher“ markiert. Vielmehr enthält der Krisenbegriff in nuce eine Theorie der System­evo­lution, die a) systeminterne bzw. -externe Anpassungs- und Steuerungsprobleme als dynamische Impulse von Wandel im Sinne von (Versuchen der) Adaptation versteht; er ist damit nicht nur deskriptiv, sondern auch erklärend; b) impliziert der Begriff eine Mehrzahl möglicher „Ausgänge“ solcher Adaptationsversuche. Die realisierte Variante ist somit als eine unter mehreren im Möglichkeitenraum ausgezeichnet; sie ist Resultat komplexer Prozesse der Selektion aus einer Reihe von Optionen. 11 Vgl. zur Problematik im Westen in striktester Auswahl: Fritz W. Scharpf / Vivien A. Schmidt (Hrsg.), Welfare and Work in the Open Economy, Bd. 1: From Vulnerability to Competitiveness, Oxford / New York 2000; Stefan A. Schirm, Internationale Politische Ökonomie. Eine Einführung, Baden-Baden 2007, S. 65–185; Barry Eichengreen, The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond, Princeton / Oxford 2006, S. 198–413; Ivan T. Berend, Economic History, S. 263–326; Frieden, Global Capitalism, S.  339–472; Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55, 2007, S. 559–581; ders. / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 12 Vgl. in strikter Auswahl: Peter Hübner / Jürgen Danyel, Soziale Argumente im politischen Machtkampf. Prag, Warschau, Berlin 1968–1971, in: ZfG 50, 2002, S. 804–832; Tomka, Wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Ostmitteleuropa und das europäische Sozialmodell, 1945–1990, in: Kaelble / Schmid (Hrsg.), Europäisches Sozialmodell, S. 107–139; Hübner / Hübner, Sozialismus als soziale Frage; Christoph Boyer (Hrsg.), Einleitung, in: Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich, Frankfurt am Main 2006, S. IX-XLI sowie die Aufsätze dieses Bandes; ders. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frankfurt am Main 2007, S. I-XXXIV sowie die Beiträge dieses Bandes; ders., Entstehung und Erbe des staatssozialistischen Wohlfahrtsstaats in Ostmitteleuropa, in: „zeitgeschichte“, Jg. 36, Heft 6. November / Dezember 2009, S. 381–392;

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liche Aufbauerfolge erzielt, so gelingen der Übergang zum intensiven Wachstum des Computerzeitalters und der hiermit verbundene sozialkulturelle Wandel mit dem Instrumentarium zentraladministrativer Wirtschaftssteuerung nicht mehr; alle Anläufe zur ‚ökonomischen Intensivierung‘ verbleiben im planwirtschaftlichen Rahmen. Im gegebenen Zusammenhang ist vor allem wichtig: Die Maxime der Vollbeschäftigung bzw. Arbeitsplatzsicherheit ist tabu; wirtschaftspolitischer Strukturkonservatismus fordert so den Preis gesamtgesellschaftlicher Stagnation. Warum ist das so? Zum einen: Die extensive Wirtschaftsweise auf niedrigem Produktivitätsniveau setzt nicht die Arbeitskräfte frei, welche der Prozess der ökonomischen Intensivierung benötigen würde. Mit anderen Worten: Niedrige Produktivität, die Rigidität des Arbeitskräfteeinsatzes und die hieraus resultierende Blockierung von Produktivitätssteigerungen schließen sich zu einem Regelkreis zusammen. Zum anderen – und wahrscheinlich wichtiger: Planwirtschaft und Parteiherrschaft sind in einer eigenartigen Mischung von Brutalität und Enthusiasmus installiert worden. Motor der großen Transformation war der Staat der Arbeiterklasse; hinter ihm stand und steht die Partei. Dies ist das ‚Projekt Sozialismus‘. Wird das Ziel verfehlt, so steht das Projekt in toto, mitsamt seiner Identität und Legitimität, zur Disposition. Hieraus resultiert ein fatal hoher Grad an Selbstbindung, ja Selbstfesselung, die Überlastung und Überfrachtung der Politik mit Gestaltungs- und mit Haftungsansprüchen. Deswegen unterbleibt auch die ‚Flexibilisierung‘ von Wirtschaft und Arbeit, weil die Vollbeschäftigungsgarantie als raison d’être der Arbeiter- und Bauernstaaten, als Vorkehrung zum Schutz der ‚Werktätigen‘ vor den Fährnissen des Kapitalismus, die Strukturen befestigt, deren Umbau jetzt eigentlich nötig wäre. Natürlich sind mit diesen Strukturen auch die Herrschaftsinteressen der Bürokratenklasse engstens verbunden. Aber wie dem auch sei: Antwort des Westens auf die Herausforderung der dritten industriellen Revolution ist der – raschere und weiterreichende – technisch-ökonomische Wandel. Die Freiheitsgrade sind höher; für die Anpassung ist dann allerdings der Preis der Massenarbeitslosigkeit zu zahlen. Die normativen Grundlagen des Westens sind nicht so erbarmungslos einzementiert. Das zeigt sich etwa bei der Umstellung von Keynesianismus auf Neoliberalismus. Inwieweit das ‚Normalarbeitsverhältnis‘ seit den siebziger Jahren tatsächlich erodiert ist, ist noch kontrovers. Unstreitig aber sind die Spielräume der sozialmoralischen Verarbeitung von Wandel in der Arbeitswelt größer: So kann die neue Prekarität im Rahmen der postmodernen Ausdifferenzierung von Biographie- und Karrieremustern, als ‚Auszeit‘ auf dem Weg zur Selbstfindung im Rahmen einer Patchwork-Biographie gedeutet werden. Wo der Einzelne sich selbst permanent ‚neu erfinden‘ darf, kann und muss,

Bérend, Economic History, S. 172 ff.; ders., Central and Eastern Europe, S. 222 ff.; Kornai, Sozialistisches System, S. 429 ff.

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dort sieht die Politik sich von sozialen und von moralischen Ansprüchen entlastet. Das Individuum ist gefordert, und wer es nicht schafft, der ist eben selbst schuld. Vor der Vergleichsfolie dieses Systems, das, trotz Massenarbeitslosigkeit, den Strukturwandel bisher ohne existenzgefährdende Destabilisierung bewältigt hat, erscheinen die Staatssozialismen als altmodische industrielle Arbeitsgesellschaften, in deren Fundamente die Allzuständigkeit des Staates eingeschrieben bleibt. Und so wird die absolute Leistungsschwäche des Ostens immer mehr auch zur relativen Leistungsunterlegenheit: Dies als – natürlich nicht hinreichendes – Teilelement einer komplexen Erklärung für ‚1989‘.

III. Fazit Zwei lange Linien sind in den Blick genommen worden; diese Taxonomie ist selbstverständlich nicht vollständig, die Lücken sind evident. Nimmt der westliche Weg bereits seinen Ausgang von der Notwendigkeit der Einhegung des industriellen Klassenkonflikts, so mündet der Osten erst nach 1945 auf einen ähnlichen Pfad; vorher stehen die industriegesellschaftlichen Konflikte hinter den nationalen zurück. Für die Nachkriegszeit lässt sich sehr viel eher sagen, dass in beiden Hälften des europäischen Doppelhauses ähnliche Problemlagen bearbeitet werden. Dies findet dann in beiden Fällen in einem Klima relativ großer Staatsnähe, in Aufgeschlossenheit gegenüber Planung und Intervention und vor dem Hintergrund eines technokratisch-optimistischen Zeitgeistes statt. Basis ist jeweils die Ökonomie der zweiten industriellen Revolution; deren Produktionsregime kann man durchaus auch im Blick auf den Staatssozialismus als (quasi) tayloristisch-fordistisch bezeichnen. Die Grundbestrebungen sind in beiden Fällen egalisierend und inkludierend. Dass der Staatssozialismus aber die sozusagen harschere, starrere, weniger leistungsfähige Variante dieser europäischen industriellen Arbeitsgesellschaft gewesen ist, dass der Staat nicht nur ‚Klassengegner‘, sondern auch massives Entwicklungshemmnis sein kann: Dies wird mit der dritten industriellen Revolution unter den Bedingungen wachsender weltweiter Konkurrenz evident. Im Westen kommen nun vergleichsweise flexible institutionelle und mentale Anpassungsvorgänge in Gang; im Staatssozialismus wird der Übergang gebremst. Hier hat dann übrigens der Eiserne Vorhang tatsächlich als ‚antiimperialistischer Schutzwall‘ der ‚Werktätigen‘ gegenüber dem dynamischen globalen Kapitalismus fungiert. Mit der finalen Krise und der Systemtransformation wechselt der Osten dann grosso modo auf den westlichen Pfad. Hat sich das westliche Makromodell als Pro­ blemlöser auch als überlegen erwiesen, so sieht sich der vermeintliche Sieger der Geschichte derzeit mit einer weiteren fundamentalen Transition, diesmal im globalen Maßstab, konfrontiert – mit bislang offenen Aussichten. Wie auch immer: Im

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Blick auf den Osten hat man, wie ich meine mit guten Gründen, argumentiert, dass der Systemwechsel nicht simpel den Beginn einer happy history markiert, sondern dass vieles von den alten intrakontinentalen Ost-West-Asymmetrien wiedergekehrt ist. Ob der Weg „von der Peripherie in die Peripherie“ (Ivan Berend) ein Fatum ist oder ein Zwischen- und Übergangszustand – die Antwort auf diese Frage muss hier dahingestellt bleiben.

Christoph Conrad

Mikro- und Makro-Pfadabhängigkeiten Ein vergleichender Kommentar

Die beiden Beiträge von Christoph Boyer und Paul-André Rosental bieten kleine Ausschnitte aus den umfangreichen Arbeitsgebieten der Autoren. Die Kapitel geben Einblicke in langjährige, komparativ und zunehmend transnational orientierte sowie teilweise kollektiv organisierte Forschungsprogramme über die langfristige Entwicklung der Arbeits- und Sozialverfassung in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas einerseits und die Gesundheitsschädigungen im industriellen Arbeitsprozess des 19. / 20. Jahrhunderts andererseits. Beide Texte stammen von Sozialhistorikern, nicht von Juristen oder Rechtshistorikern. Gleichzeitig fällt auf, dass die beiden Autoren Ansätze vorstellen, die verschiedener nicht sein könnten. Ohne sie künstlich harmonisieren zu wollen, lassen sich die Beiträge von Christoph Boyer und Paul-André Rosental jedoch – jeder auf seine Art – als Ausgangspunkte nutzen, um über grundsätzliche Dimensionen der politischen und systemischen ebenso wie der wissensbasierten und praktischen Rahmung der Interaktionen zwischen Arbeit, Sozialpolitik und Recht nachzudenken. Da die Autoren ihre Fragestellungen anhand unterschiedlicher Gesellschaften entwickeln, auf der einen Seite die Staaten des real existierenden Sozialismus und auf der anderen Seite Frankreich und andere Industriegesellschaften, aber vor allem da sie sich auf den Außenpositionen des Spektrums zwischen Mikro- und Makroperspektive befinden, kann hier zwar nicht einfach ein Dialog stattfinden. Jedoch illustrieren sie in besonderem Maße das Spiel mit den Analyseebenen, „le jeu d’échelles“, das der französischen Sozialgeschichte besonders am Herzen liegt.1 Bei aller Verschiedenheit in den „Sehepunkten“, die die Autoren wählen, reihen sich diese Studien entschieden in eine historiographische und sozialwissenschaftliche Bewegung ein, die den Vergleich zwischen Gesellschaften hin zu einer Geschichte von Zirkulationen, Transfers sowie transnationalen Akteuren und internationalen Organisationen erweitert.2 1 ����������������������������������������������������������������������������� Wobei zunächst der Zoom auf die Mikroebene bevorzugt wurde, während der Weitwinkel bis hin zur globalen Sicht erst neuerdings zu seinem Recht kommt, vgl. Jacques Revel (Hrsg.), Jeu d’échelles. La micro-analyse à l’expérience. Paris 1996. 2 Anstatt zahlreicher Einzelbelege vgl. Christoph Conrad, „Social policy history after the transnational turn“, in: Pauli Kettunen  und  Klaus Petersen (Hrsg.),

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Boyer wählt einen systemischen Zugang, indem er die Arbeits- und Betriebsverfassung der realsozialistischen Länder als idealtypische Struktur beschreibt, die einen ganzheitlichen Kontrast zu anderen sozialpolitischen Regimen darstellt und in deren Innerem nationale Variationen oder Elemente der rechtlichen und bürokratischen Feineinstellung nur nebensächliche Bedeutung besitzen. Aus der Flughöhe dieses Beitrags muten Letztere wie ein „Wust technischer Detailregelungen“ und wie – sogar im Plural auftretende – „Dickichte(n) des Arbeits- und Sozialrechts“ an. Demgegenüber wird scharf der Primat des Politischen profiliert. Wenn bei der historischen und vergleichenden Betrachtung des Rechts auch sonst ein genereller Politikvorbehalt eingeräumt wird, tritt dieser Aspekt bei der Charakterisierung der Volksrepubliken der Nachkriegszeit als quasi deterministisch hervor. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die tendenzielle „Unterregulierung“ des Arbeitsrechts oder auch des Streikrechts. Diese „West-Ost-Taxonomie“, wie Boyer sie nennt, bezieht sich explizit auf zwei wichtige Tendenzen der älteren Forschung über den real existierenden Sozialismus: die Modernisierungs- und die Konvergenztheorien. Die gemeinsamen Herausforderungen von Industriegesellschaften, die zu ähnlichen Lösungen führen können, hat auch die Wohlfahrtsstaatsforschung schon früh inspiriert. In den frühen Arbeiten aus dieser Schule (Harold Wilensky und Gaston V. Rimlinger z. B.) sind Russland, die Sowjetunion und andere sozialistische Länder folglich ohne Berührungsängste mit in eine komparative Gesamtbetrachtung von Sozialpolitik aufgenommen worden.3 Dies setzt sich fort in den – diesen modernisierungstheoretischen Tendenzen durchaus kritisch gegenüberstehenden – Arbeiten von Klaus von Beyme. Nach einem deutlichen Zeitsprung und angesichts der Folgen der postsozialistischen Transition ist das Interesse an langfristigen vergleichenden Perspektiven auf die ‚Familie‘ der sozialistischen Staaten ebenso wie auf ihre Position gegenüber westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten deutlich gewachsen.4 Es ist deshalb durchaus vorstellbar, dass die bekannte Typolologie der drei Wohlfahrtsregime, die der dänische Soziologe Gøsta Esping-Andersen für die westlichen Industrienationen entwickelt hat, auch auf ihre

3

4

Beyond Welfare State Models. Transnational Historical Perspectives on Social Policy, Cheltenham (UK) 2011, S. 218–240. Einen knappen Überblick über diese Studien und Modelle gibt Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988, S. 168–182 – ein Kapitel, das seit dem Fall der Mauer in den Neuauflagen dieses Werks natürlich manche Modifikation erfahren hat. Hier sind die auch von Boyer genannten Monographien von Béla Tomka, Welfare in East and West. Hungarian Social Security in an International Comparison, 1918–1990 (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 5), Berlin 2004, sowie Tomasz Inglot, Welfare States in East Central Europe, 1919–2004, Cambridge / New York 2008, hervorzuheben.

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Erweiterung in Richtung staatssozialistischer Gesellschaften hin geprüft wird. Es sei ja nur daran erinnert, dass die Diskussion um dieses Modell schon zu einer Reihe von Revisionen der Klassifikation in sozialdemokratische, kooperatistische (oder konservative) sowie liberale Regime geführt hat. Aus Gender-Perspektive ist etwa überzeugend gezeigt worden, dass die Gruppen sich anders zusammenfügen, wenn man Familienpolitik und den Status von Frauen ins das Zentrum rückt. Außerdem ist eine vierte ‚Welt‘ des Wohlfahrtskapitalismus vorgeschlagen worden, um die Besonderheit der südeuropäischen Länder deutlicher zu machen. Bedenkt man dazu die zahlreichen in der letzten Zeit entstandenen Forschungen mit punktuellen, aber konzeptuell weiterführenden Studien, die den Vergleich, die gegenseitigen Beobachtung, manchmal sogar Beeinflussung oder auch die supranationale Kooperation (z. B. in der ILO) der östlichen und westlichen Länder während des Kalten Krieges dokumentiert haben, dann scheint mir das reduzierte „Zwei-Wege“-Modell, das Boyer skizziert hat, bereits schon jetzt erweiterbar zu sein. Noch näher auf eine auch einzelstaatliche Betrachtung rechtlicher und sozialpolitischer Praxen würde man sich hinbewegen, wenn man Entwicklungspfade, Politikerbe, gewachsene Partikularitäten und sogar Divergenzen der einzelnen sozialistischen Gesellschaften in den Blick nähme. Boyer bereitet den Grund dafür, indem er auf die Vorgeschichte der ostmitteleuropäischen Volksrepubliken, insbesondere die Zwischenkriegszeit eingeht. Weiterhin betont er den durchaus unterschiedlich verlaufenden Übergang zu einer Phase stärker konsumorientierten Sozialpolitik in den sozialistischen Ländern nach den Aufständen der 1950er Jahre und weist auf nationale Unterschiede in der Realisierung hin. Schließlich müsste man auch die gemeinsamen wie die divergierenden Züge der postsozialistischen Übergangsgesellschaften für eine differenzierte historische Gesamtanalyse ihrer Sozialstaatlichkeit fruchtbar machen. Eine Reihe von Fallstudien weist schon jetzt auf ein wesentlich heterogeneres und spannungsreicheres Bild innerhalb und zwischen den Gesellschaften des ehemaligen ‚Ostens‘ hin. Wie auch schon bei der Kritik von Esping-Andersens Typologie kommt man zu deutlich abweichenden Eindrücken von der Praxis der Sozialpolitik, wenn man die Regelungen für Familien, Frauen und Kinder in den Blick nimmt.5 Weiterhin ließen sich vermutlich auch die sozialpolitischen Vorgeschichten, sogar die aus der Zeit vor 1914, stärker für eine trennschärfere Prüfung der eventuellen Kontinuität von nationalen Besonderheiten und spezifischen institutionellen Pfaden

5

Vgl. Dorottya Szikra und Béla Tomka, „Social Policy in East Central Europe: Major Trends in the Twentieth Century“, in: Alfio Cerami und Pieter Vanhuysse (Hrsg.), Post-Communist Welfare Pathways. Theorizing Social Policy Transformations in Central and Eastern Europe, Basingstoke 2009, S. 17–34.

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und rechtskulturellen Voreinstellungen heranziehen.6 Das kontrastreiche und idealtypisch zugespitzte Modell Boyers lädt so dazu ein, noch viel stärker – sowohl in der Vorgeschichte als auch in der sozialistischen Praxis wie schließlich in den jeweiligen Übergangsszenarien – nach Belegen für eine Pluralität der „Gouvernementalität“ in praktischen Zusammenhängen zu suchen, die den anscheinend monolithischen Charakter des Gesellschaftssystems auch in diesem Sachbereich aufzubrechen und zu dynamisieren vermögen. Rosental dagegen geht in seinem Beitrag von einem konkreten Regelungsproblem aus, dessen Genealogie und konkrete Ausgestaltung zu Vergleichen in Zeit und Raum einlädt. Sowohl die physische Materialität des ‚Problems‘ (hier der Silikose) als auch das Akteursdreieck (aus Unternehmern, Arbeitnehmervertretern und Experten) können wie Teile eines analytischen Baukastens intertemporal, international und mit Anwendung auf unterschiedliche Pathologien der industriellen Arbeit genutzt werden. Die Schwierigkeit und die Unwilligkeit der Akteure, die Pathologie der Silikose als ‚Berufskrankheit‘ präzise zu fassen, gründeten zuallererst im Problem der Zurechnung von Verursachung und Verantwortung. Der Zeithorizont ist lang, die Symptome unspezifisch, die Pathologie oftmals verbunden mit Tuberkulose oder anderen Lungenkrankheiten. Dabei ist das Vorkommen in bestimmten Branchen endemisch, und es erweisen sich die potentiellen Kosten (gesundheitlicher, sozialer und materieller Art) als enorm. Im Konfliktfall, beim Einfordern von Haftung und Entschädigung, kommt die juristische Kompetenz nicht ohne medizinische Expertise aus. Am Kreuzungspunkt der Konstruktion der Pathologie, Definition und Messung von Symptomen, Identifikation der Kausalkette und Fragen der Gefährdung, Haftpflicht und Kompensation entsteht nicht nur eine sehr spezifische Akteurskonstellation, sondern auch eine stark durch den Verwendungszusammenhang determinierte Definition von ‚Berufskrankheit‘ überhaupt. Während die Frage der Zurechenbarkeit auch generell im Zentrum der rechtlichen Rahmung der Unfallrisiken sowie der sonstigen gesundheitlichen Schädigungen im Arbeitsprozess steht,7 ist dieser Prozess im Zusammenhang mit der Silikose mit besonders ausgefeilten Manövern der Vermeidung, Relativierung und Umdeutung kombiniert. Ein anderes Beispiel wäre Asbest, das noch Jahrzehnte nach seinem Verbot in den meisten Ländern immer noch für Schlagzeilen sorgt. Da dies alles nicht nur national, sondern weltweit passiert, und zwar selbstverständlich 6 ���������������������������������������������������������������������������������� Vgl. nur zuletzt mit Bezug auf Ungarn und mit besonderer Beachtung der Arbeitsverhältnisse Susan Zimmermann, Divide, Provide, and Rule. An Integrative History of Poverty Policy, Social Policy, and Social Reform in Hungary under the Habsburg Monarchy, Budapest / New York 2011. 7 Heinz Barta, Kausalität im Sozialrecht. Entstehung und Funktion der sog. Theorie der wesentlichen Bedingung. Analyse der grundlegenden Judikatur des Reichsversicherungsamtes in Unfallversicherungssachen (1884–1914), Berlin 1983.

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besonders dort, wo Bergbauindustrien konzentriert sind, haben wir es mit einem Paradebeispiel transnationaler, ja globaler Geschichte der Arbeit zu tun. Illustrieren wir dies kurz am Beispiel der ‚Staublunge‘. Wie Rosental erläutert, vollzieht sich die Etablierung des Begriffs der Berufskrankheiten als einer sozialrechtlichmedizinischen Kategorie vom Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts „in der gesamten industrialisierten Welt gleichzeitig“. Dabei wird in den meisten Ländern die Zuständigkeit der Unfallversicherung auf spezifische Berufskrankheiten ausgedehnt. Es sei daran erinnert, dass dies in Deutschland trotz seines frühen und vorbildhaften Sozialversicherungssystems relativ spät passiert.8 Die erste Berufskrankheitenverordnung vom Mai 1925 erkannte elf Krankheiten an; die Silikose wurde aber erst in die Liste der zweiten Verordnung von 1929 mit insgesamt 22 Krankheiten aufgenommen. Gleichzeitig hatte die Internationale Arbeitskonferenz der ILO von 1925 (und dann 1934) dieses Vorgehen, d.h. die fallweise Auflistung und Definition von jeweiligen Grenzwerten, das einen defensiven Kompromiss gegenüber der weitergehenden Forderung nach einer allgemeinen Definition des Konzepts ‚Berufskrankheit‘ darstellte, als Standard empfohlen. Die Internationale Arbeitsorganisation veranstaltete zudem die erste internationale Konferenz zum Thema Silikose 1930 in Südafrika, wo insbesondere die hohe Mortalität von weißen Minenarbeitern große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und bereits seit 1911 einschlägige Gesetzgebung zur Anerkennung der Lungenkrankheiten von Bergarbeitern erlassen wurde.9 Das ILO-Übereinkommen über die Unfallversicherung von 1925, das zunächst nur Blei-, Quecksilber- und Anthraxvergiftungen abdeckte, wurde vom Deutschen Reich 1928 ratifiziert; eine ganze Reihe von Ländern – darunter auch 8

9

Vgl. als Überblick Christian Schürmann, Die Regulierung der Silikose im Ruhrbergbau bis 1952. Staat, Unternehmen und die Gesundheit der Arbeiter, Wiesbaden 2011; Julia Moses (University of Sheffield) bereitet eine Monographie zur vergleichenden Geschichte der Arbeitsrisiken und ihrer Regulierung in Deutschland, Großbritannien und Italien zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1920er Jahren vor; in diesem Zusammenhang kann auch die bereits in den 1980er Jahren mit Blick auf das Deutsche Reich entwickelte Argumentationsfigur der „Dethematisierung“ von Berufskrankheiten im Rahmen der Bismarckschen Sozialversicherung in vergleichender Perspektive verortet und eventuell weiter entwickelt werden, vgl. Rainer Müller und Dietrich Milles (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Arbeiterkrankheiten und der Arbeitsmedizin in Deutschland, Dortmund 1984; Dietrich Milles und Rainer Müller (Hrsg.), Berufsarbeit und Krankheit, Frankfurt a. M. 1985; zusammenfassend der Beitrag von Dietrich Milles, „What are Occupational Diseases? Risk and Risk Management in Industrial Medicine in Germany, c. 1880–1920“, in Roger Cooter und Bill Luckin (Hrsg.), Accidents in History. Injuries, Fatalities and Social Relations, Amsterdam / Atlanta 1997, S. 179–195. International Labour Office, Silicosis: Records of the International Conference Held at Johannesburg 13–27 August 1930, Boston 1930.

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die mitteleuropäischen – folgten in den nächsten Jahren, so z. B. Österreich 1928, Polen 1937, die Tschechoslowakei 1932, Ungarn 1928; Südafrika allerdings nie.10 Rosental und seine Mitarbeiter haben an anderer Stelle untersucht, wie sich auf diesen Gebieten der Arbeitsmedizin und Berufskrankheiten „die entscheidenden Kämpfe im 20. Jahrhundert auf transnationaler Ebene abgespielt“ haben. Auf den globalen Foren verschiedener, zum Teil konkurrierender internationaler Organisationen kommen „Diplomatie und Expertenwissen sowie der Druck von Arbeitgebern, Gewerkschaften und gelehrten Kreisen zum Tragen“.11 Rosentals methodologische Anregung, dass auch solche Akteurskonstellationen, ihre Narrative und Rechtfertigungsstrategien Pfadabhängigkeiten ausbilden und zu wiederkehrenden Mustern werden können, wird ohne Zweifel auch Studien zu anderen Themen dieser Art inspirieren. Sowohl auf ILO-Ebene als auch in der Bundesrepublik ist nach dem Zweiten Weltkrieg dieser Verfahrensmodus der Krankheits- und Arbeitsplatzlisten fortgesetzt worden und gilt bis heute. Auch die DDR folgte weiter dem in der Weimarer Republik begründeten Modell, so dass nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten kein grundsätzlich anderes Recht in den Neuen Ländern eingeführt werden brauchte; vielmehr ist die westdeutsche Liste um einige Krankheitsbilder erweitert worden, die die frühere DDR bereits anerkannt hatte. Bestätigt dies bereits gleichfalls Boyers Beobachtung, dass sowohl die kapitalistischen als auch die sozialistischen Länder auf typisch „industriegesellschaftliche“ Herausforderungen in ähnlicher Weise reagierten, so zeigt sich weiterhin, dass diese partielle ‚Konvergenz‘ – bei aller systembedingten Verschiedenheit – auch der Normenbildung und Koordination der internationalen Organisationen geschuldet war. In einer weiteren Fallstudie konnten Rosental und eine Doktorandin mit Blick auf die Anwendung analoger Verordnungen in der realsozialistischen Tschechoslowakei zeigen, dass die praktischen Abwehr- und Verzögerungsstrategien der Betriebe gegenüber den Ansprüchen der geschädigten Arbeitnehmer sowie die komplexe Vermachtung des Expertenwissens auch im Kontext der Planwirtschaft anzutreffen waren.12 Entlang der von Rosental entworfenen konzeptuellen und empirischen Leitlinien lassen sich offensichtlich weitere Vergleiche in Zeit und Raum entwerfen. Eine weitere Anregung kommt aus jüngeren rechtswissenschaftlichen Studien, die am Beispiel 10 Nach der ILO Datenbank NORMLEX: www.ilo.org / dyn / normlex / en /  (CO 18, Convention 1925) [Zugriff 19.5.2012]: 11 Thomas Cayet, Paul-André Rosental, Marie Thébaud-Sorger, „How International Organisations Compete: Occupational Safety and Health at the ILO, a Diplomacy of Expertise“, in: Journal of Modern European History 7, 2 (2009), S. 174–196. 12 Emanuela Mackova  und Paul-André Rosental, „Les démocraties populaires d’Europe de l’Est ont-elles protégé la santé de leurs travailleurs? La Tchécoslovaquie socialiste face à la silicose“, in: Journal of Modern European History 7,2 (2009), S. 237– 260.

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einiger westeuropäischer Länder und der USA die erheblichen Variationen und Konjunkturen in den Ursachen, der Häufigkeit und den Kosten von Kompensationen bei Unfällen und Berufskrankheiten aufzeigen konnten.13 Wenn man davon ausgeht, dass Unterschiede der Branchenstruktur und der Gefährlichkeit der Arbeitsverhältnisse für solche Vergleiche erfolgreich kontrolliert werden können, dann stellt sich die Frage, inwiefern dabei die konkrete Verfasstheit des jeweiligen nationalen Zivil- bzw. Sozialrechts, der Charakter der involvierten Versicherungs­institutionen (z. B. Berufsgenossenschaften, private Versicherungsgesellschaften oder territorial organisierte Entschädigungskassen), die Reichweite der Haftpflicht oder auch das Kräfteverhältnis zwischen den Sozialpartnern usw. hierbei zum Tragen kommen. Vor allem erscheint es aber im Sinne unseres übergeordneten Themas fruchtbar, die Frage zu stellen, ob nicht über eine solche Betrachtung des ‚outcome‘ von Regulationsproblemen und des ‚output‘ der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements die Aufmerksamkeit wieder auf das Recht (in allen seinen Formen) und auf sein Verhältnis zur Arbeitswelt hinführen würde. Die Interaktion von „Arbeit und Recht“ hätte so nicht nur – wenngleich unbestritten als primärer und grundlegender Zugang – eine normative Dimension, sondern würde sich auch als Schlüssel zur Erklärung für erhebliche synchrone und diachrone Unterschiede der regulativen Dispositive und ihrer materiellen Ergebnisse anbieten.

13 Vgl. die Analysen zu Belgien, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden in Saskia Klosse und Ton Hartlief (Hrsg.), Shifts in Compensating Work-Related Injuries and Diseases (= Tort and Insurance Law 20), Wien / New York 2007.

Christoph Rass

Unfreie Arbeit und globale Mobilität vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

1. Unfreie Arbeit als historisches und gegenwärtiges Phänomen Unfreie Arbeit begleitet die Menschheit in ihrer gesamten durch Quellen bezeugten Geschichte. Wahrscheinlich reichen ihre frühesten Wurzeln zurück bis zur neolithischen Revolution.1 Unfreie Arbeit, im weiteren Sinne aufgefasst als Arbeitsverhältnisse, bei deren Zustandekommen und Aufrechterhaltung außerökonomische Zwänge bis hin zur körperlichen Gewalt zum Tragen kommen, während die Entlohnung kaum über dem Subsistenzniveau liegt sowie nur selten monetär erfolgt, lassen sich daher in globaler Langzeitbeobachtung in einer unübersehbaren Vielzahl von Spielarten verfolgen. Obgleich diese in ihren historischen und gegenwärtigen Ausprägungen manche Merkmale teilen, sind sie häufig nur schwer trennscharf zu unterscheiden. Eine Typologie normativ legitimierter unfreier Arbeit, die sich auf die rechtliche Stellung der Betroffenen konzentriert, führt grundsätzlich zu drei Kategorien: der Sklaverei (chattel slavery), der Zwangsarbeit (forced labor) sowie der Knechtschaft (bonded labor).2 Einzig die Sklaverei zeichnet sich durch Eigentum des Sklavenhalters an einem Menschen aus, den er der Sklaverei unterwirft. Die Opfer der Sklaverei figurierten von der Antike bis in die Neuzeit – mit gewissen Einschränkungen – als bewegliche oder unbewegliche Sache.3 Es handelt sich streng genommen also

1 2 3

Vgl. Karl Jacoby, Prehistoric Societies, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 742– 743, S. 742. Selbstverständlich besteht jede dieser grundlegenden Kategorien ihrerseits aus einer Vielzahl von Subtypen. Zum gesetzgeberischen Umgang mit dem dichotomen Charakter als Mensch und Sache, den Sklavengesetze versklavten Menschen in der Neuzeit zuschrieben, vgl. Jenny Bourne Wahl, US South, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 513–523, S. 513; einen Überblick bietet Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa. Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon, München 2010, S. 34, 73, 150, 201, der insbesondere auch die wechselnde Ausprägung dieses Eigentums an Menschen diskutiert.

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Christoph Rass

nicht um ein Arbeits-, sondern um ein Eigentumsverhältnis.4 Bei der Zwangsarbeit indes besteht kein Eigentum an den Arbeitskräften. Vielmehr begründen in der Regel staatliche Strafmaßnahmen auf mehr oder minder rechtstaatlicher Basis, oder Arbeitsverpflichtungen, die auf staatlicher Autorität ruhen, eine temporäre Arbeitsverpflichtung. Diese kann starke Einschränkungen der Freizügigkeit bis hin zur Gefangenschaft bedingen und sich bis zur Unterwerfung unter solchermaßen zumindest schein-legitimierte physische Gewalt zuspitzen.5 Die Knechtschaft kann wiederum als Verhältnis unfreier Arbeit aufgefasst werden, das eine – im weitesten Sinne – privatrechtlich begründete temporäre oder dauerhafte Einschränkung der Freizügigkeit von Arbeitskräften kennzeichnet. Beide Ausprägungen finden sich in der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Grund- bzw. Gutsherrschaft in Europa. Ein Eigentum an der gebundenen Person beinhaltet sie jedoch nicht.6 Wenn ein Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer das unfreie Arbeitsverhältnis herstellt, steht der so Gebundene zumindest formal unter dem Schutz des öffentlichen 4 5

6

Vgl. Ders., Chattel Slavery, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 1, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, New York 1998, S. 175–177, S. 176. Vgl. Perry L. Kyles, Convict Labor in Australia, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 462, S. 462; Perry L. Mancini, Convict Leasing in the United States, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 462–463, S. 463; David Booth, Corvée, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 464–466, S. 465; O’Neil Patrick M., Forced Labor, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S.  466–477, S.  466; Ders., Penal Servitude, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 472–473, S. 472. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO / IAO) verwendet „Zwangsarbeit“ heute als Sammelbegriff synonym für „unfreie Arbeit“. Die wechselnden Ausprägungen gebundener Arbeit im Kontext der europäischen Guts- bzw. Grundherrschaft und ihre über privatrechtliche Verhältnisse hinausgehenden Eigenschaften diskutiert Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 148, 198, 327 (wie Fn. 3); vgl. ferner Melvyn Dubofsky, Contract Labor, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 461–462, S. 461; Gabriel J. Chin, Coolies, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S.  463–464, S.  463; Doug Munro, Indentured Servitude (1834–1960), in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S.  470–472, S.  471; Hillary McD Beckles, Indentured Servitude (Seventeenth Century), in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 468–470, S. 468.

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Rechts. So konnten Kontraktknechte im kolonialen Amerika die Einhaltung der Vertragsbedingungen durch ihre Dienstherren einklagen und sich vor Gericht gegen unzulässige körperliche Strafen zur Wehr setzen.7 Zwei Beobachtungen, die für die Entwicklung unfreier Arbeit – vor allem im europäischen Kontext – kennzeichnend zu sein scheinen, machen diese Institution(en) für eine Analyse ihres Zusammenhangs mit Migration bzw. Mobilität besonders interessant: ihre zunehmende Beschränkung auf Gruppen, die nicht originär einer Mehrheitsgesellschaft zugerechnet werden, sowie die Verrechtlichung unfreier Arbeit bzw. der Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen und Migranten. Erstens prägt also eine sich verstärkende Korrelation zwischen dem Grad der Unfreiheit von Lebens- bzw. Arbeitsverhältnissen und dem Status von Menschen als „Fremde“ die Entwicklung unfreier Arbeit. Keine Form der Sklaverei hat sich je als dauerhaft erwiesen, wenn sie nicht vor allem „Fremde“ betraf und sie ihren Menschenhunger vorwiegend durch die (erzwungene) Zuwanderung neuer Sklaven von außerhalb der eigenen Gesellschaft stillen konnte.8 Und auch für andere Formen unfreier Arbeit scheint folgende Beobachtung zu gelten: Je niedriger das Gefälle der Machtverteilung innerhalb einer Gesellschaft ist, je stärker also beispielsweise Rechtstaatlichkeit und demokratische Strukturen ausgeprägt sind, desto geringer ist die Bedeutung unfreier Arbeit. Umso stärker betreffen Formen unfreier Arbeit jedoch – wenn wir sie antreffen – Personengruppen, die durch ihre rechtliche Stellung und / oder gesellschaftliche Praxis außerhalb des Kreises der durch die oben genannten Faktoren Begünstigten stehen, also vor allem Minderheiten und Migranten. Zweifelsohne befinden sich von der Auflösung der Leibeigenschaft über die Bauern- bis zur Sklavenbefreiung viele Ausprägungen unfreier Arbeit in Europa seit dem ausgehenden Mittelalter auf einem institutionellen Rückzug.9 Hier sind jene Formen unfreier Arbeit, die Angehörige der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft betrafen, geächtet und gesetzlich beseitigt worden.10 Dies betrifft ebenso die Leibeigenschaft Vgl. Joseph C. Miller, Slave Trade, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 827– 830, S. 830; Ira Lee Berlet, Indentured Servitude, in: Encyclopedia of African American History, Band 1, hg. v. Leslie M. Alexander, Walter C. Ruckert, Oxford 2010, S. 53–55, S. 54. 8 Vgl. ebd., S. 827. 9 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 199, 328 (wie Fn. 3). Ungeachtet der noch immer in die Millionen gehenden Zahl der Menschen, die bis heute Formen unfreier Arbeit bis hin zur Sklaverei unterworfen sind, sind nahezu alle Formen rechtlich sanktionierter und damit legaler Formen unfreier Arbeit verschwunden. 10 Vgl. Jürgen Osterhammel, Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem?, in: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, hg. v. Jürgen Osterham7

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und die Schuldknechtschaft wie auch das im 19. Jahrhundert extreme Machtgefälle zwischen Arbeitnehmern und -gebern auf „freien“ Arbeitsmärkten.11 Ähnlich, jedoch bisweilen weit weniger konsequent, sah sich in vielen europäisch beherrschten bzw. geprägten Teilen der Welt zeitlich versetzt die Sklaverei zurückgedrängt.12 Andere Formen faktisch unfreier Arbeit, die sich im Kontext moderner Arbeitswanderungen entwickelten, vor allem die Kontraktarbeit, hielten sich indes wesentlich länger.13 Parallel zum Abbau privatrechtlich begründeter Unfreiheit begann eine Verschiebung des faktische Unfreiheit begründenden Moments vom Privatrecht ins öffentliche Recht. Diesem Wandel liegt eine direkte oder indirekte rechtliche Einschränkung der Freizügigkeit von Arbeitskräften auf der Grundlage von Gesetzen zu Grunde, mel, Bd. 147, Göttingen 2003, S. 342–369, S. 350. Während sich Europäer und ihnen gleich gestellte Gruppen seit dem späten 18.  Jahrhundert zunehmend frei bewegen konnten und auch auf Arbeitsmärkten wachsende Freizügigkeit genossen, blieb ein großer Teil der Nicht-Europäer in diesem ersten globalen und von Europa dominierten Migrationszusammenhang in Formen unfreier Arbeit und regulierter, bisweilen unfreier bzw. unfreiwilliger Wanderung gefangen, vgl. Sarah Collinson, Europe and international Migration, London 1994, S. 29 ff. 11 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 497 (wie Fn. 3). Dies vollzog sich selbstverständlich nicht in einem schnellen und linearen Prozess, wie etwa die globale Persistenz der Schuldknechtschaft exemplarisch unterstreicht, vgl. Harold S. Forsythe, Peonage, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 674–675, S. 674 f., Philip Corrigan, Feudal Relics of capitalist Monuments? Notes on the Sociology of Unfree Labour, in: Sociology, 11 1977, S. 435–463, S. 442. 12 Vgl. Osterhammel, Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei, S. 348 f., 355 (wie Fn. 10). Eine knappe Übersicht bietet auch Seymour Drescher, Brazilian Abolition in comparative Perspecitve, in: The Hispanic American Historical Review, 68 1988, S. 429– 460. Die Ambivalenz dieses Prozesses verdeutlicht exemplarisch der Hinweis, dass im deutschen „Schutzgebiet“ Ostafrika nicht nur ein mörderisches System der Zwangsarbeit die Sklaverei ablöste und bis zum Ersten Weltkrieg bestand, sondern auch, dass die indigene Sklaverei weiterhin geduldet blieb, vgl. Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 55, 58. Immerhin bis 1980 blieb in Mauretanien die Sklaverei legal, vgl. Wahl, Chattel Slavery, S. 177 (wie Fn. 4). Staatlich institutionalisierte Zwangsarbeit hat indes im 20. Jahrhundert, in den europäischen Kolonien, dann im „Dritten Reich“ sowie bis in die jüngere Zeit in der Sowjetunion bzw. in der Volksrepublik China eine bedeutende Rolle gespielt, vgl. Charles W. Carvey, JR., International Labor Organisation, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 1, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, New York 1998, S. 430–431, S. 432, sowie Osterhammel, Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei, S. 364 (wie Fn. 10). 13 Vgl. Suzanne Miers, Contemporary Forms of Slavery, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 817–822, S. 820.

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die den Status von Migrantinnen und Migranten regeln. Dieser Mechanismus, der aus der Paarung des Nationalstaates europäischer Prägung mit der modernen grenzüberschreitenden Arbeitsmigration herrührt, hat sich in modifizierter Form bis in die Gegenwart erhalten.14 Letztlich hat die Ableitung eingeschränkter Freizügigkeit aus dem Fehlen der Staatsbürgerschaft ältere Mechanismen zur Begründung der faktischen Unfreiheit von Arbeitswanderern abgelöst.15 Damit ist bereits auf den zweiten Aspekt verwiesen: die Bedeutung gesetzlicher Normen als kodifizierte soziale Praxis für die Existenz unfreier Arbeit.16 Zum einen reicht die lange Linie von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen, die faktisch unfreie Arbeit institutionalisieren und regulieren, weit zurück.17 Diese Tradition der Verrechtlichung solcher Arbeitsverhältnisse spiegelt sich umgekehrt in den Bemühungen wider, Formen unfreier Arbeit durch gesetzliche Verbote oder die Beseitigung der sie begründenden Normen abzuschaffen und schließlich die Freiheit selbst zu einem allgemeinen Menschenrecht zu erklären. Zum anderen sind Millionen von Menschen auch heute noch – zumeist ohne rechtliche Grundlage – in unfreier Arbeit gefangen oder befinden sich in sklavereiähnlichen Lebensumständen. Berücksichtigt man die am stärksten verbreiteten Formen, also die Schuldknechtschaft, Zwangsehen, Zwangsprostitution, Kontraktarbeit von Migranten, Zwangsarbeit oder Kinderarbeit, so könnten im 21. Jahrhundert sogar mehr Menschen zu den

14 Vgl. Collinson, Europe and international Migration, S. 35 f. (wie Fn. 10). 15 Vgl. O’Neil Patrick M., Overview of US Law, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 504–512, S. 505. 16 Hier ist nicht in erster Linie das Case Law gemeint, vgl. Ders., Slavery Cases in English Common Law, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S.  497–498, S.  497  f., bzw. Ders., English Common Law in England and the American Colonies, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 498–502, S. 499 f. Siehe knapp zur Verankerung der Sklaverei im Römischen Recht David Geggus, Code Noir, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 1, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, New York 1998, S. 204, S. 204 bzw. Alan Watson, Roman Law in the New World, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 502–504, S. 503. 17 Vgl. Paul Finkelman, Law, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S.  476–480, S. 477 f.; Andrew T. Fede, Slave Codes, in: Macmillan Encyclopedia of World Slavery. Band 2, hg. v. Paul Finkelman, Joseph Calder Miller, London 1998, S. 801– 802, S. 801.

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Opfern solcher Institutionen zählen als zu Zeiten der transatlantischen Sklaverei.18 Es herrschen also beträchtliche Spannungen zwischen der Phalanx aus Gesetzen, Konventionen und Erklärungen zur Abschaffung unfreier Arbeitsverhältnisse und deren faktischer Persistenz. Diese Persistenz rührt nicht zuletzt daher, dass Unfreiheit eine Grundlage hochprofitabler Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ist, die immer dann Raum greifen kann, wenn ein extremes Gefälle des Macht- und Wohlstandsniveaus innerhalb von Gesellschaften oder zwischen Gesellschaften herrscht und die zum Schutz potentieller Opfer bestehenden Normen nicht oder nur unzureichend Umsetzung finden. In dieser Hinsicht lässt sich unfreie Arbeit, die sich jenseits der Grenzen des Rechts bewegt, von derjenigen unterscheiden, die sich im Schatten gesetzlicher Regelungen entfaltet.19 Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf den letztgenannten Typus, also auf faktisch unfreie Arbeit, die sich innerhalb der Grenzen eines Rechtssystems entwickelt. Es handelt sich dabei um Ausprägungen, die in gewisser Hinsicht in einer historischen Kontinuität der normativen Verankerung unfreier Arbeit stehen. Für ihre Analyse werden die beiden eingangs skizzierten Beobachtungen leitend sein: erstens der Zusammenhang zwischen der Ausprägung unfreier Arbeit und der sozialen bzw. gesellschaftlichen Position der Betroffenen. Denn unfreie Arbeit scheint umso deutlicher aufzutreten, je höher der Grad an „Fremdheit“ ist, der denjenigen, die in unfreien Verhältnissen leben (müssen) durch diejenigen zugeschrieben wird, die jene in Unfreiheit halten bzw. sie hineinzwingen; zweitens die Bedeutung von Recht für die Existenz unfreier Arbeit und das komplexe Verhältnis zwischen der Wirklichkeit, die gesetzlich verankerte Normen erzeugen möchten, und der durch soziale Praxis geschaffenen Zustände, die unfreie Arbeit weder scharf definieren noch konsequent bekämpfen oder ächten, so dass sich Grauzonen aus normativ gewährter Freiheit in Verbindung mit realer Unfreiheit bilden. Die vor allem in der gegenwartsbezogenen Literatur dominierenden Phänomene wie irreguläre Arbeitswanderung, Menschenhandel oder Zwangsarbeit, für die solche Fragen einigermaßen klar zu beantworten sind,20 werden im Folgenden daher nur am Rande thematisiert. 18 Vgl. Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the second Millennium, Durham 2002, S. 150f.; Miers, Contemporary Forms of Slavery, S. 817 f. (wie Fn. 13). 19 Vgl. ebd., S. 820; eine Differenzierung zwischen Migration und Menschenhandel mit ihren Implikationen auf die damit verbundenen Arbeitsverhältnisse bietet Norbert Cyrrus, Menschenhandel und Arbeitsausbeutung in Deutschland, Genf 2005, S.  11; zur Ausbeutung legaler Migranten in Arbeitsverhältnissen siehe ebd., S. 14 f. 20 Eine kritische Diskussion der Begrifflichkeiten sowie scheinbar klarer Definitionen findet sich bei Michael Bommes, Illegale Migration in der modernen Gesellschaft. Resultat und Problem der Migrationspolitik europäischer Nationalstaaten, in: Illegalität. Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik, hg. v. Jörg Alt, Michael Bommes, Wiesbaden 2006, S. 95–118, S. 95 f.; siehe grundlegend zum Komplex Zwangs-

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In erster Linie zielt diese Analyse auf den Konnex zwischen legaler Migration, ihrer rechtlichen Verfassung und faktisch unfreier Arbeit. Nun ließe sich zwar argumentieren, dass demokratisch verfasste moderne Gemeinwesen mit der rechtlichen Ächtung unfreier Arbeit durch die Abschaffung von Sklaverei, Schuldknechtschaft und Kontraktarbeit sowie der Sicherung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten die Verbindung von regulärer Migration und legaler, aber faktisch unfreier Arbeit spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebrochen haben und derartige Institutionen heute marginal sein müssten. Doch bereits ein kurzer Blick auf die Arbeitsverhältnisse, die sich unter dem Schirm der Zuwanderungs- bzw. Einwanderungsgesetzgebung vieler Staaten ausprägen können, verdeutlicht, dass unfreie Arbeit jenseits der Illegalität in vielen Facetten existiert, die auf den ersten Blick nicht eindeutig erkennbar sind.21 Dies zeigt die Umgestaltung der Migrationsregime vieler Industriestaaten in den vergangenen 30 Jahren, die zu einem besorgniserregenden Wiederaufleben unfreier Arbeitsverhältnisse im Rahmen legaler, migrations- und wirtschafts- bzw. arbeitsmarktpolitisch motivierter Normen beigetragen hat. Dieser Befund unterstreicht nicht nur die Aktualität der Fragestellung, sondern auch die Bedeutung des Forschens nach den Wurzeln und Strukturen, auf denen die gegenwärtigen Verhältnisse ruhen. Unser exemplarischer Blick auf den Zusammenhang von Migrationspolitik und Verhältnissen scheinbar legaler, de facto jedoch unfreier Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschränkt sich auf die Situation in Kanada und Großbritannien. Ähnliche Entwicklungen ließen sich allerdings mit Einschränkungen auch für Frankreich,22

arbeit in moderner Definition Cyrrus, Menschenhandel und Arbeitsausbeutung in Deutschland, S. 9 (wie Fn. 19). 21 Vgl. Bridget Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, in: Work, Employment and Society, 24 2010, S. 300–317, S. 312; Ebd., S. 306; Jens Lerche, A global Alliance against Forced Labour? Unfree Labour, Neo-Liberal Globalization and the International Labour Organization, in: Journal of Agrarian Change, 7 2007, S.  425–452, S.  425  f.; Gillian Wylie, Penelope McRedmond, Human Trafficking and Europe, in: Human Trafficking in Europe. Character, Causes and Consequences, hg. v. Gillian Wylie, Penny McRedmond, New York 2010, S. 1–16, S. 7. 22 Vgl. International Labour Conference, A global Alliance against Forced Labour. Global Report under the follow-up to the ILO Declaration on fundamental Principles and Rights at Work 2005, Geneva 2005, S. 48; Harald Bauder, Labor Movement. How Migration regulates Labor Markets, Oxford 2006, S. 23.

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Deutschland,23 die USA24 oder die Migrationspolitik der Europäischen Union25 aufzeigen. Kanada, das als in der Integration von Einwanderern eher progressives Land gilt,26 beschreitet seit den 1980er Jahren den Weg zu einer Drosselung der permanenten Einwanderung gepaart mit einer Ausweitung von Programmen zur Gewinnung temporärer Arbeitskräfte aus dem Ausland, die rund 1 / 3 der jährlichen Neuzuwanderer ausmachen.27 Zugleich hat sich der Staat weitgehend aus der Überwachung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zurückgezogen, die diesen meist aus Südamerika und Asien stammenden Migranten geboten werden. Dieser Rückzug ist verbunden mit der Verschärfung der Ausweisungspraxis und der Voraussetzungen für eine dauerhafte Bleibeoption.28 So lehnt es die Einwanderungsbehörde ab, die Arbeitsbedingungen etwa von ausländischen Pflegekräften in Familien, Beschäftigten in der Lebensmittelverarbeitung oder Landwirtschaftsarbeitern zu überwachen. Mehr noch, Beschwerden über Arbeitgeber können zur unmittelbaren Ausweisung führen. Gleichzeitig hängt die Verlängerung von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen direkt von einer dauerhaften Beschäftigung – bisweilen bei einem bestimmten Arbeitgeber – und ggf. sogar einer Beurteilung durch den Arbeitgeber am Ende der genehmigten Verweildauer ab. Diese Verknüpfungen haben eine Schicht faktisch unfreier Arbeitswanderer geschaffen. Sie leisten niedrig qualifizierte ortsgebundene Arbeit, die nicht in Niedriglohnländer

23 Vgl. International Labour Conference, A global Alliance against Forced Labour, S. 48 (wie Fn. 22); Douglas B. Klusmeyer, Demetrios G. Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany. Negotiating Membership and remaking the Nation, New York 2009, S. 215. 24 Vgl. Aristide R. Zolberg, The next Waves. Migration Theory for a changing World, in: International Migration Review, 23 1989, S. 403–430, S. 407; Linda Allegro, Latino Migrations to the U.S.  Heartland. “Illegality”, State Controls and Implications for Transborder Labor Rights, in: Latin American Perspectives, 37 2010, S. 172–184, S. 172; Ebd., S. 173; Claudia Sadowski-Smith, Unskilled Labor Migration and the Illegality Spiral. Chinese, European and Mexican Indocumentados in the United States, 1882–2007, in: American Quarterly, 60 2008, S. 779–804, S. 799–801. 25 Vgl. Bernd Parusel, Abschottungs- und Anwerbungsstrategien. EU-Institutionen und Arbeitsmigration, Wiesbaden 2010, S. 30–32; Ebd., S. 219; Klusmeyer, Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany, S. 215 (wie Fn. 23). 26 Vgl. Christiane Harzig, Einwanderung und Politik. Historische Erinnerung und politische Kultur als Gestaltungsressourcen in den Niederlanden, Schweden und Kanada, Göttingen 2004, S. 123 ff. 27 Vgl. Harsha Walia, Transient Servitude. Migrant Labour in Canada and the Apartheid of Citizenship, in: Race & Class, 52 2010, S. 71–84, S. 72 ff. 28 Vgl. ebd., S. 79.

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verlagert werden kann, befinden sich normativ in legalen „freien“ Arbeitsverhältnissen, leben real jedoch unter teils menschenunwürdigen Umständen.29 Vergleichbar gelagert ist die Situation in Großbritannien.30 Dort gilt seit 2006 bzw. 2008 ein Zuwanderungsrecht, das unterschiedliche Kategorien von Arbeitsmigranten vorsieht, darunter auch die vorübergehende Präsenz niedrig qualifizierter Arbeitskräfte.31 Tatsächlich besitzen die Arbeits- und Aufenthaltsverhältnisse einer Mehrheit der Neuzuwanderer in den letzten Jahren temporären Charakter.32 Die daraus resultierenden Arbeitsverhältnisse kennzeichnet ein rechtlich sanktioniertes extremes Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ursächlich sind die normativ gestützte Bindung der Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung an einen bestimmten Arbeitgeber, eine Mindestbeschäftigungsdauer innerhalb des Aufenthaltsintervalls als Voraussetzung für eine Ausweitung der Freizügigkeit und die Abhängigkeit der Verlängerung des Aufenthalts von der Beurteilung des Arbeitgebers.33 Auch in Großbritannien sind die Behörden nicht gehalten, die soziale Benachteiligung von Migranten zu überwachen, die der Wanderungskontrolle unterliegen, also nur temporär zugelassen sind.34 Zugleich erschwert eine Verlängerung der Frist bis zur möglichen Einbürgerung bei temporärem Bleiberecht auf sechs bis zehn Jahre die Verdauerung des Aufenthalts und perpetuiert diese strukturell erzeugte Ungleichheit.35 Von dem Weg in die Illegalität und die irreguläre Arbeitsmarktpräsenz schrecken zugleich drastisch ausgeweitete Spielräume staatlicher Zwangsmaßnahmen ab, insbesondere die Möglichkeit zur mehrmonatigen Inhaftierung sowie der schnellen

29 Vgl. ebd., S. 72–74; Kerry Preibisch, Pick-Your-Own Labor. Migrant Workers and Flexibility in Canadian Agriculture, in: International Migration Review, 44 2010, S. 404–441, S. 404, 414. 30 Einen knappen Überblick bietet Jürgen Bellers, Großbritannien, in: Handbuch Europäischer Migrationspolitiken. Die EU-Länder und die Beitrittskandidaten, hg. v. Wolfgang Gieler, Dietmar Fricke, Münster 2004, S. 87–98, S. 87 ff. 31 Vgl. Toby Shelley, Exploited. Migrant Labour in the new global Economy, London 2007, S. 34; Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers (wie Fn. 21). Diese Arbeitskräfte fallen unter die Bestimmungen des Tier 3 Visums für niedrig qualifizierte Arbeitskräfte mit temporärem Aufenthalt; infolge der jüngsten globalen Wirtschaftskrise sowie bedingt durch den Zustrom entsprechender Arbeitskräfte aus dem Schengen-Raum wurde das Tier 3 Visum ausgesetzt. Dies relativiert jedoch die hier vorgetragene Kritik kaum, da der Grund für die Aussetzung nicht ein politisches Einsehen, sondern die Wirtschaftskrise der Jahre 2009 / 10 war. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Shelley, Exploited, S. 149 f. (wie Fn. 31). 34 Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 313 (wie Fn. 21). 35 Vgl. ebd., S. 309.

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Abschiebung illegalisierter Migranten bzw. Arbeitskräfte.36 Während theoretisch jeder sich legal in Großbritannien aufhaltende Arbeitnehmer Freizügigkeit genießt, schafft die Einwanderungsgesetzgebung Rechtsverhältnisse, die legale und scheinbar freie, lebenswirklich jedoch unfreie Arbeit geradezu herausfordern.37 So verbirgt sich heute hinter nicht wenigen oberflächlich normalen Arbeitsverhältnissen von Migranten in Großbritannien eine geradezu archaisch anmutende Schuldknechtschaft.38 Die hieraus an die Zukunft gerichtete Frage lautet: Wie werden sich andere Industriestaaten entscheiden, wenn der demographische Wandel den Zustrom von Arbeitskräften aus dem Ausland wieder an Bedeutung gewinnen lassen wird? Für Freizügigkeit und Gleichbehandlung nach regulärer Einreise, die Zuwanderer zu einem homogenen Substitut für inländische Arbeitskräfte macht, oder für die Öffnung von Spielräumen für unterprivilegierte, faktisch unfreie bzw. gebundene Arbeit, die der Ausbeutung von Arbeitswanderern Vorschub leistet?39 Deutschland etwa zieht sich zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Niedriglohnbereich des tertiären Sektors zumindest partiell auf die stillschweigende Duldung des Zuzuges von Arbeitskräften aus den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zurück, die in die illegale Beschäftigung übergehen und sich dort ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt finden können. So umgeht man bisher die Formulierung einer zukunftstauglichen und gerechten Politik zur Regulierung der temporären oder dauerhaften Zuwanderung niedrig qualifizierter Arbeitskräfte. Derartige Beispiele machen deutlich, dass in den westlichen Industriestaaten die gegenwärtigen Rechtsordnungen zwar die offene Institutionalisierung unfreier Arbeitsverhältnisse ausschließen. Zugleich öffnen sie jedoch, gewollt oder ungewollt, Spielräume für die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen und Migranten, die unfrei genannt werden können.40 Dies bezieht sich zum einen auf die direkte Einschränkung der Freizügigkeit von Zuwanderern in einer Gesellschaft und auf deren Arbeitsmarkt durch die Zu- bzw. Einwanderungsgesetzgebung. Hieraus können sich – als eine indirekte Einschränkung – zum anderen Lebenswirklichkeiten ergeben, in denen Migranten gegenüber ihren Arbeitgebern von ihrem Recht auf 36 Vgl. Julia O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries. Human Trafficking and the Borders of ‘Freedom’, in: Global Networks, 10 2010, S. 244–261, S. 254. 37 Vgl. ebd., S. 253. 38 Vgl. Shelley, Exploited, S. 55 (wie Fn. 31). 39 Vgl. auch Bommes, Illegale Migration in der modernen Gesellschaft, S. 98 f., 111 (wie Fn. 20) sowie aus anderer Perspektive Martin Ruhs, Philip Martin, Numbers vs. Rights- Trade-Offs and Guest-Worker Programs, in: International Migration Review, 42 2008, S. 249–265. 40 In jüngster Zeit ist für Arbeitsverhältnisse dieser Art auch die Bezeichnung „Vulnerable Employment“ gebräuchlich geworden, vgl. etwa Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 301 (wie Fn. 21).

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Freizügigkeit oder gar Gleichbehandlung (mit inländischen Arbeitnehmern) keinen Gebrauch machen, um ihr Aufenthaltsrecht nicht zu gefährden. Es zeigen sich also vielfach Verhältnisse, die im euro-atlantischen Raum lange Zeit als überwunden galten. Sie unterstreichen die unausgesetzte Relevanz des Zusammenhangs zwischen Recht, seiner Umsetzung und unfreier Arbeit. Das Leitmotiv der folgenden Ausführungen bildet daher die Frage nach der Funktion des Rechts in Verhältnissen, die unfreie Arbeitsverhältnisse im Kontext grenzüberschreitender Migration begünstigen. Die Antwort gliedert sich in zwei Abschnitte. Sie beginnt mit einer Diskussion der Zusammenhänge zwischen Recht, Migration und unfreier Arbeit. Es folgt ein chronologisches Modell, dessen Ziel es ist, Zäsuren und Kontinuitäten bei der Erzeugung bzw. Begünstigung unfreier Arbeit durch Recht aufzuzeigen. Der Blick liegt dabei auf Europa und der europäisch dominierten Welt, also auf dem atlantischen Raum und kolonialen Gebieten, über die letzten 200 Jahre.

2. Worin unterscheiden sich freie und unfreie Arbeit? Zunächst scheint die Unterscheidung von „freier“ und „unfreier“ Arbeit einfach. Sklaverei als bis zu ihrer weltweiten Ächtung rechtlich abgesicherte Form der persönlichen Unfreiheit lässt sich in historischer Perspektive am leichtesten identifizieren,41 auch wenn die inflationäre Verwendung des Begriffs zur Kennzeichnung unfreier Arbeit einer klaren Analyse des Phänomens eher entgegenwirkt.42 Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO / IAO) spricht in ihrem seit den 1980er Jahren wieder stark intensivierten Kampf gegen unfreie Arbeit übergreifend von Zwangsarbeit,43 worunter sie staatlich und privat erzeugte Verhältnisse entsprechenden Charakters subsumiert. Moderne Formen faktischer Sklaverei spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie Zwangsmigration durch Menschenhandel.44 Während die Vereinten Nationen im Jahr 2005 von rund 12 Millionen Opfern von Zwangsarbeit weltweit ausgegangen sind, sprechen ältere Schätzungen von bis zu 27 Millionen Opfern.45 Unfreie Arbeit

Vgl. O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 248 (wie Fn. 36). Vgl. Ebd., S. 257 f. Vgl. Lerche, A global Alliance against Forced Labour?, S. 426 f. (wie Fn. 21). Vgl. International Labour Conference, A global Alliance against Forced Labour, S.  5, 10 (wie Fn. 22); O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 248 (wie Fn. 36). 45 Vgl. Lerche, A global Alliance against Forced Labour?, S.  426 (wie Fn. 21); Ebd., S. 429. 41 42 43 44

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ist also keineswegs ein marginales oder vernachlässigbares Phänomen. Die Mehrzahl der von der ILO erfassten Ausprägungen spielt sich jedoch in der Illegalität ab.46 Im Gegensatz zur unfreien Arbeit verstehen wir hier unter freier Arbeit die Möglichkeit eines Menschen, über den Tausch seiner Arbeitskraft gegen Lohn unter freizügigen Bedingungen, also ohne Zwang, zu entscheiden.47 Welche Merkmale aber konstituieren Zwang? Meist sorgen ökonomische Notwendigkeiten dafür, dass Arbeitskraft zum Tausch angeboten wird, und es hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, welche Grade von Zwang und Unfreiheit es dabei zu akzeptieren gilt.48 Diese Art der Unfreiheit lässt sich geradezu als Wesensmerkmal des Kapitalismus auffassen.49 Den meisten Definitionen genügt daher das Fehlen außerökonomischer Zwänge zur Annahme freier Arbeitsverhältnisse.50 46 Vgl. dazu auch die Typologie illegaler Arbeit bei Dominik H. Enste, Friedrich Schneider, Schattenwirtschaft und irreguläre Beschäftigung. Irrtümer, Zusammenhänge und Lösungen, in: Illegalität. Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik, hg. v. Jörg Alt, Michael Bommes, Wiesbaden 2006, S. 35–59, S. 37, sowie die Diskussion des Zusammenhangs zwischen Migration, Illegalität und Rechten bei Heiner Bielefeldt, Menschenrechte „irregulärer“ Migrantinnen und Migranten, in: Illegalität. Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik, hg. v. Jörg Alt, Michael Bommes, Wiesbaden 2006, S. 81–94, S. 87 f. 47 Vgl. Michael Mann, Die Mär von der freien Lohnarbeit. Menschenhandel und erzwunge Arbeit in der Neuzeit, in: Comparativ, 13 2003, S. 7–22, S. 19; Ronaldo Munck, Slavery. Exception or Rule?, in: Human Trafficking in Europe. Character, Causes and Consequences, hg. v. Gillian Wylie, Penny McRedmond, New York 2010, S. 17–29, S. 20. 48 Vgl. Tom Brass, Some Observations on Unfree Labour, Capitalist Restructuring, and Deproletarization, in: International Review of Social History, 39 1994, S.  255–275, S. 256. 49 Vgl. Wai Kit Choi, Capitalism, Unfree Labour and Colonial Doxa. The Master and Sevant Act from Britain to Hong Kong, 1823–1932, in: Journal of Historical Sociology, 23 2010, S. 284–315, S. 285. 50 Vgl. Lerche, A global Alliance against Forced Labour?, S. 433 (wie Fn. 21). ����������� Die Schuldknechtschaft verdeutlicht heute ebenso wie zur Zeit der Kontraktknechtschaft im 18. und 19. Jahrhundert die Problematik dieser Definition. Beide Formen beruhen zwar in der Regel auf nicht gänzlich freiwillig eingegangenen Verträgen, die wirkenden Zwänge sind jedoch vor allem ökonomischer Natur. Die Abwesenheit außerökonomischer Zwänge greift also nur unter der Bedingung eines nicht zu großen Macht­ ungleichgewichts zwischen den Parteien. Ein aktuelles Beispiel für Grenzfälle, die unfreien Arbeitsverhältnissen zugerechnet werden können bietet auch die Leiharbeit: zum einen, da die Entlohnung meist nur knapp über der Subsistenz liegt, zum anderen, weil der mangelnde Schutz des Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmer zur Hinnahme von Arbeitsbedingungen zwingen kann, die weit unterhalb derjenigen eines „Normalarbeitsverhältnisses“ liegen.

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Diese Auffassung erweist sich allerdings nicht nur im Hinblick auf die grenzüberschreitende Arbeitswanderung als problematisch. Sie ist davon gekennzeichnet, dass ökonomische Zwänge Migranten zur Arbeitswanderung und zur Hinnahme von Arbeitsbedingungen motivieren, die selbst in Abwesenheit physischer Zwänge faktisch unfreien Charakter haben. Ein verbreitetes Beispiel ist etwa die (illegale) Schuldknechtschaft internationaler Arbeitswanderer. Tatsächlich besteht ebenso gegenwärtig wie auch in historischer Perspektive eine enge Verbindung zwischen Migration und unfreier Arbeit.51 Manche Migrationsforscher schreiben daher den Arbeitsverhältnissen von Migrantinnen und Migranten, die nicht durch Bürgerrechte oder einen vergleichbaren Status gleichberechtigt und frei von rassistisch motivierter Diskriminierung auch jenseits ihrer rechtlichen Position sind, per se den Charakter von Unfreiheit zu.52 Radikale Vertreter dieser Schule halten die Vorstellung eines frei entscheidenden und agierenden Migranten, wenn er Inländern rechtlich nicht vollkommen gleichgestellt ist, schon an sich für wirklichkeitsfremd.53 Es gibt also gute Gründe dafür, von einer strengen und statischen Auffassung „freier“ bzw. „unfreier“ Arbeit abzusehen. Rechtsordnungen allein scheinen als Maßstab zur Unterscheidung beider Formen nicht ausreichend, denn sie bilden faktische Unfreiheit gerade nicht ab.54 Es scheint also die Abkehr von einer rein rechtswissenschaftlichen Auffassung von Zwang und Unfreiheit zu einer komplexen Wahrnehmung direkter und struktureller Zwänge auf einer feinen Skala differierender Grade von Kontrolle über die eigene Arbeitskraft geboten.55 Dies gilt insbesondere in historischer Perspektive. So lässt sich etwa für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit argumentieren, dass in Europa über weite Zeiträume dieser Epochen eine Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse rechtlich unfrei war und freie Lohnarbeit eine Ausnahme bildete.56 Auch kam noch 51 Vgl. Yash Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, in: Global History and Migrations, hg. v. Gungwu Wang, Boulder, Colo. 1997, S. 145–182, S. 150. 52 Vgl. Steven Colatrella, Workers of the World. African and Asian Migrants in Italy in the 1990s, Trenton [u.a.] 2001, S. 18; Bauder, Labor Movement, S. 26 (wie Fn. 22); Heike Wagner, Dasein für Andere – Dasein als Andere in Europa. Ecuadorianische Hausarbeiterinnen in Privathaushalten und katholischen Gemeinden Madrids, Wiesbaden 2010, S. 39 f.; Emre Arslan, Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 28. 53 Vgl. Adam McKeown, Melancholy Order. Asian Migration and the Globalization of Borders, New York 2008, S. 66 f.; O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 245 (wie Fn. 36). 54 Vgl. Mann, Die Mär von der freien Lohnarbeit, S. 20 (wie Fn. 47). 55 Vgl. ebd., S. 10, 22. 56 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 198 f., 327 f. (wie Fn. 3); D. Northrup, Free and Unfree Labour Migration 1600–1900. An Introduction, in: Journal of World History, 14 2003, S. 125–130, S. 129.

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bis zum Ende des 18. Jahrhunderts etwa die Hälfte der europäischen Einwanderer als Kontraktknechte nach Nordamerika.57 Nach zeitgenössischer Ansicht zog die Tatsache, dass eine Mehrzahl dieser indentured servants sich ohne direkten Zwang in ihre Dienstverhältnisse begeben hatte, deren Charakter als unfreie Arbeitskräfte in Zweifel. Eine ähnliche Auffassung herrschte in den USA auch noch im 19. Jahrhundert in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse europäischer Redemptioner vor.58 Die drastischen Unterschiede in der Lebenswirklichkeit von ebenfalls im 19. Jahrhundert den internationalen Arbeitsmarkt formalrechtlich als Kontraktknechte betretenden asiatischen Migranten durch das Kuli-System ziehen eine einfache Unterscheidung freier und unfreier Arbeit aus entgegengesetzter Perspektive in Zweifel.59 Ebenso wird die Ausbeutung freier europäischer und mexikanischer Ein- bzw. Arbeitswanderer in die USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch das sog. Padrones-System nicht nur von den zeitgenössischen Opfern und der modernen Forschung als unfrei klassifiziert. Dabei war es in der Praxis zwar nicht unumstritten, jedoch durch die amerikanische Rechtsordnung im Ergebnis gedeckt und in der Wirtschaftsordnung fest verankert.60 Andererseits zeigen Studien zur Lebensgestaltung von Menschen in 57 Vgl. Mann, Die Mär von der freien Lohnarbeit, S.  9 (wie Fn. 47) sowie Aaron S. Fogleman, From Slaves, Convicts, and Servants to Free Passengers. The Transformation of Immigration in the Era of the American Revolution, in: The Journal of American History, 85 1998, S. 43–76, S. 43 ff., Farley Grubb, Immigrant Servant Labor. Their occupational and geographic Distribution in the late Eighteenth-Century Mid-Atlantic Economy, in: Social Science History, 9 1985, S.  249–275 und ausführlich Christopher Tomlins, Reconsidering Indentured Servitude. European Migration and the Early American Labor Force, 1600–1775, in: Labor History, 42 2001, S. 5–43, S. 9. 58 Vgl. McKeown, Melancholy Order, S. 10 (wie Fn. 53). Bei �������������������������� den Redemptionern handelt es sich um Auswanderer, deren Überfahrt (meist in die USA) im späten 18. und 19.  Jahrhundert über einen Kredit fremdfinanziert wurde, der dann am Zielort von Verwandten ausgelöst oder von den Migranten selbst abgearbeitet werden musste, vgl. Walter D. Kamphoefner, Westfalen in der Neuen Welt. Eine Sozialgeschichte der Auswanderung im 19.  Jahrhundert, Univ., Diss. Columbia, 1978, Göttingen 2006, S. 230f. 59 Vgl. McKeown, Melancholy Order, S. 71 (wie Fn. 53), sowie exemplarisch Fallstudien wie Gary Kynoch, Controlling the Coolies. Chinese Mineworkers and the Struggle for Labor in South Africa, 1904–1910, in: The International Journal of African Historical Studies, 36 2003, S. 309–329, bzw. Ders., ‘Your Petitioners are in mortal Terror’. The violent World of Chinese Mineworkers in South Africa, 1904–1910, in: Journal of Southern African Studies, 31 2005, S. 531–546, oder Moon-Ho Jung, Outlawing Coolies. Race, Nation and Empire in the Age of Emancipation, in: American Quarterly, 57 2005, S. 677–701. 60 Vgl. Gunther Peck, Reinventing Free Labor. Immigrant Padrones and Contract Laborers in North America, 1885–1925, in: Journal of American History, 83 1996, S.  848–871, S.  850. �������������������������������������������������������������� Im Padrones-System finanzierten die sog. Patrone in meist eth-

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bestimmten Formen der Sklaverei, von asiatischen Kontraktknechten oder chinesischen Arbeitswanderern im 20. Jahrhundert, dass auch faktisch unfreie Arbeitskräfte auf einem Arbeitsmarkt bisweilen mit einem hohen Grad an Autonomie agieren können.61 Es spricht also manches dafür, die Begriffe „frei“ und „unfrei“ von einer rechtlich engen Definition zu lösen.62 Wenig zielführend ist auch eine dogmatisch bestimmte Betrachtung, die beispielsweise die Existenz faktisch unfreier Arbeit in freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Systemen für unmöglich erachtet.63 Vielmehr müssen neben rechtlichen Institutionen auch soziale, ökonomische und kulturelle Strukturen einbezogen64 und so bzw. darüber hinaus jede Untersuchung der Frage in ihrem spezifischen historischen Kontext verortet werden.65 Es gilt also, die Unfreiheit in der rechtlichen Freiheit und umgekehrt die Freiheit in der rechtlichen Unfreiheit herauszuarbeiten und in eine Rekonstruktion eines weiten Spektrums bedingender und gestaltender Faktoren einzubetten, um dieses differenziertere Verständnis herzustellen.66 Einen hilfreichen Zugang zur Auseinandersetzung mit modernen Formen unfreier Arbeit bietet die Erweiterung der Kommodifizierung von Arbeitskraft durch die Untersuchung analoger Prozesse im Umgang mit Freiheit. Migrantinnen und Migranten setzen in diesem Denkmodell ihre Freiheit oder einen Teilaspekt ihrer Freiheit ein, um ein Migrationsziel zu realisieren, bzw. gatekeeper im Wanderungsprozess verlangen von ihnen die freiwillige Preisgabe von Freiheit als Gegenleistung für den Zugang zu Ressourcen.67 Dieser Zusammenhang kann irreguläre Migranten

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nischen bzw. länderspezifischen Netzwerken Auswanderungswillgen die Überfahrt in die USA und verschafften ihnen dann Arbeitsplätze, gegen Ende des 19. Jahrhunderts meist im Bergbau oder im Eisenbahnbau, und erhielten dann für eine gewisse Zeit, die sich durch die Anhäufung weiterer Schulden verlängern konnte, einen Teil des Lohnes. Zeit- und gebietsweise war es für Einwanderer kaum möglich, in bestimmten Branchen außerhalb dieser Systeme Fuß zu fassen. Vgl. Brass, Some Observations on Unfree Labour, Capitalist Restructuring, and Deproletarization, S. 257 (wie Fn. 48) bzw. exemplarisch Jane Leung Larson, The Chinese Empire Reform Association (Baohuanghui) and the 1905 Anti-American Boycott. The Power of a voluntary Association, in: The Chinese in America. A History from Gold Mountain to the new Millennium, hg. v. Susie Lan Cassel, Walnut Creek, Calif. 2002, S. 195–216. Vgl. Maria Luisa Pesante, Slaves, Servantes and Wage Earners. Free and Unfree Labour, from Grotius to Blackstone, in: History of European Ideas, 35 2009, S. 289– 320, S. 320. Vgl. O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 246 (wie Fn. 36). Vgl. Bauder, Labor Movement, S. 5 (wie Fn. 22). Vgl. Lerche, A Global Alliance against Forced Labour?, S. 447 (wie Fn. 21). Vgl. O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 247 (wie Fn. 36). Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S.  304 (wie Fn. 21); O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries,

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bzw. Arbeitskräfte betreffen, die sich dem Zugriff der Behörden mit Hilfe Dritter entziehen und dafür eine Gegenleistung – in der Regel durch ihre Ausbeutung – erbringen müssen. Er kann aber auch reguläre Arbeitsmigranten mit unsicherem bzw. temporär beschränkten Aufenthalts- bzw. Arbeitsrecht meinen, die dazu gezwungen werden, eine Einschränkung ihrer Freiheit durch Personen hinzunehmen, von denen ihr legaler Verbleib an einem Ort abhängt.68 Das kapitalistische Wirtschaftssystem scheint sich also im Streben nach höherer Effizienz keineswegs automatisch in Richtung freier Arbeitsmärkte zu bewegen. Es bildet vielmehr unterschiedliche Formen real freier und unfreier Arbeit aus, die problemlos und langfristig nebeneinander existieren können und distinkte Funktionen besitzen.69

3. Welche Rolle spielt Migration beim Entstehen unfreier Arbeit? Migration bzw. Mobilität lassen sich als Metapher für eine Weltgesellschaft jenseits nationalstaatlicher Gesellschaftssysteme verstehen,70 und bisweilen gelten Migrantinnen und Migranten – durchaus positiv gemeint – geradezu als Avantgarde eines Globalisierungsprozesses.71 Gleichzeitig wird argumentiert, dass bis in die jüngere Vergangenheit nicht nur freie Arbeitsmigration, sondern gerade auch die erzwungene Arbeitswanderung in unfreie Arbeitsverhältnisse ein Kennzeichen der kapitalistischen Weltwirtschaft europäischer Prägung gewesen sei.72 Tatsächlich deutet diese Interpretation bereits auf einen wichtigen und problematischen Zusammenhang zwischen Globalisierung und Migration hin. Denn nicht nur die europäische Expansion bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat für einen Teil der europäischen Auswanderer, für außereuropäische (Zwangs-) Migranten sowie indigene Bevölkerungen unfreie Verhältnisse mit sich gebracht. Vielmehr haben für eine Mehrheit der weltweiten Arbeitswanderer die Globalisierungsprozesse am Ende jenes Jahrhunderts erneut zu S. 246 (wie Fn. 36). 68 Vgl. Bommes, Illegale Migration in der modernen Gesellschaft, S. 104 f. (wie Fn. 20). 69 Vgl. Brass, Some Observations on Unfree Labour, Capitalist Restructuring, and Deproletarization, S. 262 (wie Fn. 48); Colatrella, Workers of the World, S. 182 (wie Fn. 52); Tom Brass, Capitalist Unfree Labour. A Contradiction?, in: Critical Sociology, 35 2009, S. 743–765, S. 755; Lerche, A global Alliance against Forced Labour?, S. 446–447 (wie Fn. 21). 70 Vgl. Russell King, Towards a New Map of European Migration, in: International Journal of Population Geography, 8 2002, S. 89–106, S. 101. 71 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010, S. 116. 72 Vgl. Corrigan, Feudal Relics of capitalist Monuments?, S. 445 f. (wie Fn. 11).

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einer Verschlechterung ihrer Wanderungsbedingungen beigetragen. An dieser Stelle verdienen vor allem zwei Sachverhalte Beachtung. Erstens ist, wie Stephen Castles bereits 1975 erkannt hat, ein differenziertes Verständnis des Zusammenhangs von Migration und Arbeitsmarkt entscheidend: Arbeitswanderer sind nicht in erster Linie auf einem Arbeitsmarkt präsent, weil es prekäre und gefährliche Arbeiten gibt, die unter den gebotenen Bedingungen kein Inländer übernimmt. Vielmehr existieren solche Arbeitsverhältnisse, weil Arbeitswanderer unter rechtlich sanktionierten Bedingungen auf Arbeitsmärkten verfügbar sind, die diese Arbeitsverhältnisse akzeptieren bzw. akzeptieren müssen, um am Arbeitsmarkt partizipieren zu können.73 Möglich wird dies, zweitens, durch den Wanderungsprozess selbst. Denn es ist ein deutlicher Trend in der Entwicklung der westlichen Industriestaaten bzw. Demokratien, dass zunehmend nur noch die Rechte von „Fremden“ zur Disposition stehen. Die Angehörigen einer Mehrheitsgesellschaft oder ihnen gleichgestellte Gruppen genießen den weitgehenden Schutz eines umfangreichen Kataloges an Rechten. Dagegen ermöglicht der Übergang von einer Rechtssphäre in eine andere durch grenzüberschreitende Wanderung zwischen Nationalstaaten die Eingruppierung von Migranten in Statusklassen minderer und unsicherer Rechte in ihrem Zielgebiet.74 Dies macht aus den Rechten, die inländische Arbeitnehmer natürlich besitzen, disponible Anreize, die Arbeitsmigranten gewährt werden können. Die Ausstattung mit Rechten wird gewissermaßen als Preis für Wohlverhalten ausgesetzt.75 Solche Normsetzungen – und die Gewährung von Spielräumen bei ihrer Ausgestaltung – sind wiederum nur auf der Grundlage von Mechanismen möglich, die „Fremde“ durch nicht selten rassistisch eingefärbte Ressentiments ausgrenzen und so deren rechtliche Diskriminierung gesellschaftlich legitimieren.76 Eine durch Gesetze fundierte Kontrolle über Migration kann also dazu dienen, zunächst normativ eine Statusgruppe auf einem Arbeitsmarkt zu definieren, die im Vergleich zu den Inländern mindere Rechte besitzt. Administrative Prozesse ermöglichen es dann, Arbeitswanderer beim Übergang in die eigene Rechtssphäre 73 Vgl. Bauder, Labor Movement, S.  3  f. (wie Fn. 22); Kitty Calavita, Deflecting the Immigration Debate. Globalization, Immigrant Agency, “Strange Bedfellows,” and Beyond, in: Contemporary Sociology, 37 2008, S. 302–305, S. 302. 74 Vgl. Bauder, Labor Movement, S. 20 (wie Fn. 22); Walia, Transient Servitude, S. 73 (wie Fn. 27); Zolberg, The next Waves, S. 408 (wie Fn. 24). 75 Vgl. Shelley, Exploited, S. 140–142 (wie Fn. 31). 76 Vgl. Munck, Slavery, S. 23 (wie Fn. 47). ����������������������������������������� Es handelt sich im Grunde um eine Abwandlung des „split labor market“ wie sie etwa Boswell entwirft und auf die Arbeitsmarktsituation chinesischer Migranten in den USA während des 19. Jahrhunderts anwendet, vgl. Terry E. Boswell, A Split Labor Market Analysis of Discrimination against Chinese Immigrants, 1850–1882, in: American Sociological Review, 51 1986, S. 352–371, S. 353 f.

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dieser Gruppe zuzuordnen. Die Perpetuierung von deren grundsätzlich temporärem Aufenthaltsstatus durch ein Ineinandergreifen von Gesetzen und sozialer Praxis ist dann der letzte Schritt, um Migranten in Arbeitsverhältnissen zu fesseln, die unfreien Charakter besitzen.77 Insofern lassen sich Migrationspolitik und der Umgang mit Migranten im Inland auch als ein Aspekt von Arbeitsmarktpolitik verstehen mit der Funktion, immer dann „billige und willige“ Arbeitskräfte zu beschaffen, wenn Arbeit nicht in Richtung niedrigerer Löhne zu verlagern ist.78 Integration ist dann nicht das Herstellen gleichberechtigter Partizipation, sondern Arbeitsmarktintegration durch die Übernahme einer bestimmten Funktion – die unterprivilegierter Arbeitskräfte.79 Dieser Befund wirft unmittelbar die Frage auf, wie es zum weltweiten Engagement der westlichen Industriestaaten für Gleichberechtigung und Menschenrechte passt, in der eigenen Gesellschaft Formen unfreier Arbeit nicht nur zu dulden, sondern durch Rechtsnormen implizit abzusichern.80 Zugleich muss hinterfragt werden, warum der Hinweis auf die Existenz solcher Verhältnisse nicht zu deren Beseitigung – etwa durch eine aktiv betriebene Entwicklung hin zu allgemeiner Freizügigkeit und Gleichbehandlung auf Arbeitsmärkten –, sondern in der Regel zu einer Verschärfung der Migrationskontrolle führt.81 Das Ergebnis solcher Prozesse ist jedenfalls ein gewaltiges Anwachsen des Drucks, der auf regulären Arbeitswanderern lastet, unfreie Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren, da die deportability, die seit dem Ende des Zweiten

77 Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 306 (wie Fn. 21); Allegro, Latino Migrations to the U.S. Heratland, S. 177 (wie Fn. 24); Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 165 (wie Fn. 51). Die zeitliche Begrenztheit des Aufenthalts dient dann als Rechtfertigung für die Beschränkung der Freizügigkeit bzw. der Bürger- oder Arbeitnehmerrechte, da temporäre Präsenz geeignet ist, einen Angleichungs- bzw. Integrationsprozess formal auszuschließen. 78 Vgl. Lorena Arocha, Theoretical Perspectives on Understanding Slavery. Past and Present Challenges, in: Human Trafficking in Europe. Character, Causes and Consequences, hg. v. Gillian Wylie, Penny McRedmond, New York 2010, S. 30–40, S. 37. 79 Vgl. Bauder, Labor Movement, S. 24 (wie Fn. 22). 80 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 179 (wie Fn. 51) sowie in historischer Perspektive Domenico Losurdo, Liberalism. A Counter-History, London 2011. 81 Vgl. O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S.  244 (wie Fn. 36); dazu auch pointiert Thomas Straubhaar, Illegale Migration. Eine ökonomische Perspektive. Politische Essays zu Migration und Integration, 2007. http: /  / www.ratfuer-migration.de / politische_essays.html / http: /  / www.bibliothek.uni-regensburg. de / ezeit / ?2383315, S. 4 f.

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Weltkrieges Einschränkungen erfahren hatte,82 sich zunehmend wieder auf regulär anwesende ausländische Arbeitskräfte ausweitet.83

4. Welche Rolle spielt Recht bei der Erzeugung von Unfreiheit durch Migration? Normative Institutionen übernehmen bei der Erzeugung von Unfreiheit in Wanderungsprozessen spezifische Funktionen. Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Persistenz räumlicher Gebundenheit von Recht zu. Zwar konvergieren die rechtlichen Rahmenbedingungen der Kapital- oder Gütermobilität im Globalisierungsprozess. In Bezug auf die Mobilität des Faktors Arbeit jedoch klaffen ein steigender Mobilitätsgrad von Arbeitskraft und eine Bindung der sie regulierenden rechtlichen Normen an den Staat zunehmend auseinander.84 Migration verläuft in globalen Strukturen, das Recht indes bleibt national orientiert.85 Deutlich wie nur in wenigen anderen Bereichen zeigt sich hierin der Kampf zwischen staatlichem Souveränitätsdenken und Globalisierungsprozessen. Das Ergebnis ist, dass die Mobilität von Arbeitskraft zunehmend den Gesetzen eines globalen Marktes entsprechen muss, ihre Fluktuation jedoch einem freien Wettbewerb und einer ungehinderten Fluktuation durch nationale Regelungen entzogen ist.86 In historischer Perspektive beobachten wir im späten 19. Jahrhundert, wie Staaten durch die Verrechtlichung des Wanderungsgeschehens, die Bürokratisierung der Migrationssteuerung und die Verdrängung privater Akteure eine Art von Kontrolle über Wanderungsprozesse gewannen, die den Migranten als Individuum erfassen konnte und als solches der staatlichen Dispositionsmacht unterwarf.87 Die Institution der 82 Vgl. O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 254 (wie Fn. 36). 83 Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S.  311 (wie Fn. 21); vgl. dazu auch die Fallstudie über die Entwicklung in Spanien Kitty Calavita, A Reserve Army of Delinquents. The Criminalization and economic Punishment of Immigrants in Spain, in: Punishment & Society, 5 2003, S. 399–413, S. 400f., 405. 84 Vgl. Allegro, Latino Migrations to the U.S. Heartland, S. 177 (wie Fn. 24). 85 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 146 (wie Fn. 51). Gerade im Bereich der Wanderungsregime unterstreicht das Scheitern aller Versuche, einen internationalen Rahmen zu schaffen, diesen Befund, dazu Hélène Thiollet, Migrations et relations internationales. ������������������������������������������������������������� Les apories de la gestion multilaterale des migrations internationales?, in: Transcontinentales. Sociétés, Idéologie, Système Mondial, 8 / 9 2010 [online]. 86 Vgl. ebd., S. 162; Shelley, Exploited, S. 27 (wie Fn. 31). 87 Vgl. McKeown, Melancholy Order, S. 11 (wie Fn. 53).

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Staatsbürgerschaft, mit den an sie gebundenen Statuszuschreibungen und Rechten, zerlegte zugleich die Weltbevölkerung in handhabbare Segmente und fungierte als ein Instrument der In- bzw. Exklusion, das seither die Existenz von Sphären unterschiedlicher Arbeitsbedingungen nicht nur global, sondern auch innerhalb eines Staates ermöglicht.88 Die Kopplung von staatlicher Migrationskontrolle und rechtlichem Status durch die Festlegung von Kategorien bei der Zulassung von Zuwanderern, der formellen und informellen Beeinflussung ihrer Arbeitsverhältnisse und der Institutionalisierung von Unsicherheit fixierten die Ungleichheit von Migrantinnen und Migranten auf dem Arbeitsmarkt und damit ggf. auch deren Unfreiheit.89 Ein Motiv hierfür war und ist die ‚Wertsteigerung‘, die Migranten durch ihre so erzeugte Verletzlichkeit – also die Verminderung ihrer Rechte und deren mangelhaften Schutz – auf dem Arbeitsmarkt erfahren. Denn je schwächer ihre rechtliche Position ist, desto größer ist der Anteil, den ein potentieller Arbeitgeber von dem Ertrag ihrer Arbeitskraft für sich beanspruchen kann. Die Grundlage hierfür bildet ein Machtungleichgewicht, das die Grenzen zur Unfreiheit überschreiten kann.90 An dieser Stelle lassen sich drei Befunde festhalten: Erstens ermöglicht der grenzüberschreitende Transfer von Arbeitskraft eine auf Staatsbürgerschaft und Migrationsregime gegründete Diskriminierung von Migranten. Zweitens können bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen dazu beitragen, dass reguläre Arbeits- und Aufenthaltsverhältnisse zu real unfreier Arbeit führen. Drittens wird dieser Zusammenhang erst durch ein differenziertes und historisch-spezifisches Verständnis von freier und unfreier Arbeit deutlich.

5. Unfreie Arbeit und Mobilität: Ein chronologisches Modell Im 19. Jahrhundert begegnen uns im europäisch geprägten Teil der Welt drei Hauptformen unfreier Arbeit, die sich mit Wanderungen von globaler Dimension verbinden.91 Die moderne Plantagensklaverei, die im 16. Jahrhundert entstand und erst Ende des 19. Jahrhunderts als rechtlich abgesicherte, staatlich anerkannte persönliche Unfreiheit

88 Vgl. Bauder, Labor Movement, S. 25 (wie Fn. 22). 89 Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 307 (wie Fn. 21); Colatrella, Workers of the World, S. 19 (wie Fn. 52). 90 Vgl. Bauder, Labor Movement, S. 22 (wie Fn. 22). 91 Vgl. Walia, Transient Servitude, S. 73 (wie Fn. 27); Leo Lucassen, Free and Unfree Labour before the Twentieth Century. A brief Overview, in: Free and Unfree Labour. The Debate continues, hg. v. Tom Brass, Marcel van der Linden, New York 1997, S. 45–56, S. 48.

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vor allem afrikanischer Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent ihr Ende fand.92 Zweitens die etwas ältere Form der europäischen Kontraktknechtschaft als temporäre Unfreiheit unter Aufgabe gewisser Freizügigkeiten ohne persönliches Eigentum an der Person des Knechts. Ihre wichtigsten Funktionen bestanden zum einen in der Finanzierung der Überfahrt zwischen Europa und Amerika für mittellose Auswanderer, die auf diese Weise einen Kredit auf ihre künftige Arbeitskraft aufnehmen konnten. Zum anderen ermöglichte es die temporäre Bindung der Arbeitskraft unter den Bedingungen prinzipieller Verfügbarkeit von Kapital und eines Überangebots an Boden überhaupt, abhängige Arbeitskräfte in signifikanter Zahl für die kolonialamerikanische Wirtschaft zu beschaffen.93 Für europäische Kontraktknechte stand in der Regel am Ende ihrer Dienstzeit die gleichberechtigte Integration in die Gesellschaft ihres Zielgebietes.94 Eine weitere Form der Kontraktknechtschaft entstand im 19. Jahrhundert mit dem sog. Kuli-System, das asiatische Arbeitskräfte nach Afrika und Amerika brachte, wo sie nicht zuletzt die emanzipierten Sklaven ersetzten.95 Auch dabei ging es vordergründig um die temporäre Bindung von Arbeitskraft zur Refinanzierung der für den Transfer notwendigen Aufwendungen. Tatsächlich stand dahinter jedoch sehr viel deutlicher als bei der europäischen Spielart das Interesse an der Ausbeutung dieser Arbeitskräfte, ohne dass diesen eine realistische Chance auf gleichberechtigte Partizipation und Einwanderung nach dem Ablauf ihrer Verträge offen stand.96 Die Bedeutung der Asian Exclusion Acts, die seit den 1880er Jahren beispielsweise in den USA, Australien und Kanada in Kraft traten, ist in diesem Kontext nicht zu überschätzen.97 Mit dem Beginn der Anwerbung asiatischer Kontraktknechte gewann jedoch auch die rechtliche Verfassung unfreier Arbeitsmigration eine neue Qualität, denn nun begannen Abkommen zwischen Staaten oder distinkten 92 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 154 (wie Fn. 51); Lucassen, Free and Unfree Labour before the Twentieth Century, S. 50–53 (wie Fn. 91). 93 Vgl. Hoerder, Cultures in Contact, S. 216 f. (wie Fn. 18). 94 Vgl. McKeown, Melancholy Order, S. 68 f. (wie Fn. 53). 95 Vgl. Hoerder, Cultures in Contact (wie Fn. 18), Kapitel 15. 96 Vgl. Nitin Varma, Coolie Acts and acting Coolies. Coolie, Planter and State in the late Nineteenth and early twentieth Century colonial Tea Plantations of Assam, in: Social Scientist, 33 2005, S. 49–72, S. 49 f.; Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 157 (wie Fn. 51); Ebd., S. 158; Lucassen, Free and Unfree Labour before the Twentieth Century, S. 53 f. (wie Fn. 91). 97 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 164 (wie Fn. 51) sowie als Fallstudie Erika Lee, Enforcing the Borders. Chinese Exclusion along the U.S.  Borders with Canada and Mexico, 1882–1924, in: The Journal of American History, 89 2002, S. 54–86 bzw. Adam McKeown, Ritualization of Regulation. The Enforcement of Chinese Exclusion in the United States and China, in: The American Historical Review, 108 2003, S. 377–403.

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Teilen von Kolonialreichen und nationale Gesetze bzw. Verordnungen, diese Art der Arbeitsmigration abzusichern und zu regulieren. Es scheint bezeichnend, dass die erste gesetzliche Grundlage zur Anwerbung indischer Kontraktknechte im Jahr 1837 entstand, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire.98 Insgesamt mobilisierten diese drei Institutionen im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr als 60 Millionen unfreie Arbeitskräfte.99 Parallel begann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Entwicklung moderner Migrationsregime, die freie Arbeitsmigranten in Klassen unterschiedlicher Rechtsqualität teilen.100 Vor diesem Hintergrund entwickelten sich im 19. Jahrhundert die Wanderungsbedingungen für Europäer und Nicht-Europäer zunehmend bzw. weiterhin unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen. Während in der „weißen“ Welt ein Trend hin zu „freieren“ Formen der Arbeitsmigration einsetzte, blieb die von Europäern verfasste asiatische Migration weiterhin von Unfreiheit und Exklusion bestimmt.101 Allerdings verlief auch in Europa der Trend zu freien Arbeitsverhältnissen nicht ungebrochen.102 So folgte im 19. Jahrhundert auf das Ende des feudalen Arbeitsregimes die Bindung von Arbeitskraft durch die einseitige Kriminalisierung der Verletzung von Arbeitsverträgen durch den Arbeitnehmer. In England erlaubte der Master and Servant Act von 1823 bis 1875 die strafrechtliche Verfolgung des Kontraktbruchs und schränkte die Freizügigkeit abhängig Beschäftigter ein.103 In diesem Zeitraum ermöglichte das Gesetz bis zu 10.000 Strafverfahren gegen Arbeiter pro Jahr.104 Wie in anderen Staaten Europas auch, beschnitten zugleich Gesetze gegen Landstreicherei, die vor allem Arbeitslose betrafen, die Mobilität der Arbeitskräfte zwischen lokalen

98 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 158 (wie Fn. 51); Varma, Coolie Acts and acting Coolies, S. 49 f. (wie Fn. 96). 99 Vgl. Munck, Slavery, S. 18 (wie Fn. 47); Mann, Die Mär von der freien Lohnarbeit, S. 11 (wie Fn. 47). 100 Vgl. McKeown, Melancholy Order, S.  90 (wie Fn. 53); Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 300 (wie Fn. 21). 101 Vgl. Prabhat Patnaik, Contemporary Imperialism and the World’s Labour Reserves, in: Social Scientist, 35, 5 / 6 2007, S. 3–18, S. 5. 102 Vgl. Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 497 f. (wie Fn. 3); Corrigan, Feudal Relics of capitalist Monuments?, S. 438 ff. (wie Fn. 11). 103 Vgl. Choi, Capitalism, Unfree Labour and Colonial Doxa, S. 286 (wie Fn. 49). Eine komparative Analyse entsprechender Gesetze in Großbritannien und in britischen Kolonien bieten Paul Craven, Douglas Hay, Unfree Labour in the Atlantic World. The Criminalization of „free“ Labor, in: Unfree Labour in the Development of the Atlantic World, hg. v. Paul E. Lovejoy, Nicholas Rogers, Ilford, Essex 1994, S. 71–101. 104 Vgl. Northrup, Free and Unfree Labour Migration 1600–1900, S. 128 (wie Fn. 56).

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Arbeitsmärkten drastisch und verbesserten so die Machtposition der Arbeitgeber im Hinblick auf die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen.105 Diese Entwicklung gewann für die internationale Wanderung von Arbeitskräften dadurch an Bedeutung, dass in Europa neben die Auswanderung die moderne durch den Industrialisierungsprozess induzierte und geformte Art der temporären grenzüberschreitenden Arbeitswanderung trat.106 Durch die Anwendung des Ausweisungsrechts – etwa in Deutschland – auf arbeitslose bzw. kontraktbrüchige oder aus anderen Gründen missliebige Ausländer, die größtenteils temporäre Arbeitswanderer waren, verband sich die Beschränkung der Freizügigkeit abhängiger Arbeiter mit der Kontrolle über die internationale Arbeitsmigration.107 Das Ineinanderlaufen der Diskurse aus dem kolonialen bzw. extraeuropäischen und dem innereuropäischen Umgang mit freier sowie unfreier Arbeit beleuchtet exemplarisch eine interessante Entwicklung in Deutschland. In Preußen nahm in den 1890er Jahren die Idee einer lückenlosen Kontrolle von Präsenz und Bewegung ausländischer, vor allem also polnischer Arbeitskräfte, Gestalt an. Sie entwickelte sich bis 1907 zu einem flächendeckenden hoch restriktiven Migrationsregime, dem sog. Legitimationszwang . Dieser erzeugte Arbeitsverhältnisse, die eine enge Bindung der Arbeiter an ihren Arbeitgeber, bzw. ihrer legalen Präsenz an dessen Wohlwollen, und eine Kriminalisierung jeden Aufbegehrens gegen ungerechte Behandlung kennzeichneten.108 Zeitlich exakt parallel dazu bewegte sich die Verschärfung der Arbeitsmarktkontrolle in der deutschen Kolonie Namibia. Dort führten Bemühungen zur Beschränkung der Freizügigkeit einheimischer Arbeitskräfte in den 1880er Jahren zum Versuch ihrer lückenlosen Registrierung und Überwachung im Verein mit der Kriminalisierung von Widersetzlichkeit im folgenden Jahrzehnt, u.a. durch die Übernahme der Kriminalisierung von Landstreicherei aus der europäischen Praxis. Nach dem Vernichtungskrieg gegen die Herero mündeten diese Ansätze im Jahr 1907 in den Anspruch totaler Kontrolle und die Idee, den eingeführten Arbeitszwang auf 105 Vgl. O’Connell Davidson, New Slavery, old Binaries, S. 247 (wie Fn. 36); Mann, Die Mär von der freien Lohnarbeit, S. 17 (wie Fn. 47). 106 Vgl. Christoph Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Pader­born 2010, S. 278 ff. 107 Vgl. Frank Caestecker, The Transformation of Nineteenth-Century West European Expulsion Policy, 1880–1914, in: Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, hg. v. Andreas Fahrmeir, Olivier Faron, Patrick Weill, New York 2005, S. 120–137. 108 Vgl. Klaus J. Bade, Land oder Arbeit? Transnationale und interne Migration im deutschen Nordosten vor dem Ersten Weltkrieg, 1979. http: /  / repositorium.uni-osnabrueck. de / handle / urn:nbn:de:gbv:700–201001304775; Ebd., S. 447–449.

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individueller Ebene zu überwachen. Das resultierende System ähnelte auf primitive Weise nicht von ungefähr dem Legitimierungssystem für polnische Arbeitskräfte in Preußen.109 Die Verbindung der kolonialen mit der europäischen Sphäre unterstreicht eine dritte Entwicklungslinie in Preußen, mit der sich in den 1890er Jahren ein Versuch zur Substitution der polnischen Saisonarbeiter in den preußischen Ostprovinzen durch chinesische Kontraktknechte, die sog. Kulis, anzubahnen schien.110 Ähnliche Transmissionsprozesse lassen sich beispielsweise zeitgleich für die Verfassung freier Arbeit in England und unfreier Arbeit in seinen asiatischen Kolonien aufzeigen.111 Damit lassen sich vor dem Ersten Weltkrieg drei Trends ausmachen: erstens das (nahe) Ende der zu diesem Zeitpunkt konventionellen Formen unfreier Arbeit bzw. unfreier Arbeitsmigration – auch wenn sich die Kontraktknechtschaft in vielen Teilen der Welt noch bis in die Zwischenkriegszeit, in der australischen Perlmuttindustrie sogar noch bis in die 1970er Jahre halten konnte, und beispielsweise Saudi-Arabien die Sklaverei erst in den 1960er Jahren abschaffte;112 zweitens die Befreiung der abhängig Beschäftigten in den westlichen Industriestaaten und der Beginn der modernen temporären Arbeitsmigration, die staatliche Akteure durch ein Geflecht rechtlicher Bestimmungen und mehr oder weniger restriktive Migrationsregime zu regulieren suchten; drittens das Oszillieren europäischer und kolonialeuropäischer Ansätze zur Beschränkung der Freiheit von Arbeitskräften, deren Freizügigkeit entweder in kolonialen Wirtschafts- bzw. Herrschaftssystemen oder als Folge transnationaler Migration zwischen europäischen Staaten zur Disposition stand.113 Durch die Gewährung und den Schutz persönlicher Freiheit sowie gewisser Mindeststandards auf dem Arbeitsmarkt für eine wachsende Gruppe potentieller inländischer Arbeitskräfte gewannen rechtliche Regelungen zur Einschränkung der Freizügigkeit Dritter an Bedeutung. Solche Mechanismen leiteten ihre Wirkungsmacht aus ihrer Anwendung auf Migranten ohne die Staatsbürgerschaft ihres Ziellandes ab und wurden zur Voraussetzung für die Erzeugung faktisch unfreier Arbeit auf nati-

109 Vgl. Jürgen Zimmerer, Der Wahn der Planbarkeit. Unfreie Arbeit, Vertreibung und Völkermord als Elemente der Bevölkerungsökonomie in Deutsch-Südwestafrika, in: Comparativ, 13 2003, S. 96–113, S. 103; Ebd., S. 109; Ders., Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, Münster 2004, S. 57. 110 Vgl. Sebastian Conrad, „Kulis“ nach Preußen? Mobilität, chinesische Arbeiter und das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, in: Comparativ, 13 2003, S. 80–95, S. 81. 111 Vgl. Choi, Capitalism, Unfree Labour and Colonial Doxa, S. 286 f., 297 (wie Fn. 49). 112 Vgl. Julia Martínez, The End of Indenture? Asian Workers in the Australian Pearling Industry, 1901–1970, in: International Labor and Working-Class History, 67 2005, S. 125–147. 113 Vgl. Rass, Institutionalisierungsprozesse, S. 348 ff. (wie Fn. 106).

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onalen Arbeitsmärkten, auf denen derartige Verhältnisse für die indigene Mehrheit bereits Ächtung erfahren hatten.

6. Zwischenkriegszeit und neue Weltordnung Aus der komplexen Geschichte der Zwischenkriegszeit greift ein zweiter Schritt nur eine Entwicklungslinie heraus. Schon vor 1914 hatten progressive Kräfte die grundsätzliche Gleichbehandlung von Arbeitswanderern und inländischen Arbeitskräften gefordert. Das Spektrum ihrer Motive reichte dabei von humanitären Erwägungen über die Stärkung von Arbeitnehmerrechten bis zum Interesse der entstehenden Sozialstaaten, einem internationalen Dumpingwettbewerb mit unterprivilegierten Arbeitsmigranten entgegenzuwirken.114 Nach dem Ersten Weltkrieg nahm sich die 1919 gegründete Internationale Arbeitsorganisation als Teil des Völkerbundes nicht zuletzt auch dieser Problematik an und erarbeitete auf zwei Ebenen eine Reihe wegweisender Normen. Zum einen datieren die ersten Entschließungen der IAO gegen Zwangsarbeit aus der Zwischenkriegszeit.115 Das erklärte Ziel der Organisation bestand in einer internationalen Ächtung aller Formen unfreier Arbeit bis zum Ende der 1940er Jahre.116 Zum anderen legte sie eine Reihe grundlegender Dokumente vor, die sowohl die Gleichbehandlung von Arbeitswanderern mit inländischen Arbeitskräften als auch die Regulierung zwischenstaatlicher Arbeitsmigration durch die beteiligten Staaten unter Wahrung weitreichender Schutzbestimmungen vorantreiben sollten.117 Als Instrument, das die Einhaltung dieser Standards bei der Anwerbung und der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der völkerrechtlichen wie auf der nationalstaatlichen Ebene verankern sollte, etablierte die IAO den standardisierten bilateralen Wanderungs- bzw. Anwerbevertrag. Zwar blieben die praktischen Auswirkungen dieser Initiativen zwischen den Weltkriegen eher bescheiden,118 gleichwohl sollten sie sich als wichtige Weichenstellung für die europäische Arbeitsmigration nach 1945 erweisen.119 Arbeitsmigration wurde mit dem Beginn der Hochkonjunktur in den westeuropäischen Industriestaaten während der Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten 114 Vgl. ebd., S. 309 ff. 115 Vgl. International Labour Conference, A global Alliance against Forced Labour, S. 5 (wie Fn. 22). 116 Vgl. Martínez, The End of Indenture?, S. 125 (wie Fn. 112). 117 Vgl. Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt, S. 324 ff. (wie Fn. 106). 118 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 164 (wie Fn. 51). 119 Vgl. Rass, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt, S. 461 f. (wie Fn. 106).

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Weltkrieg und dem Durchbruch fordistischer Produktion zu einer unverzichtbaren Stütze des europäischen Aufschwungs.120 Nun sorgten die von der IAO erarbeiteten Instrumente und die spezifischen ökonomischen Rahmenbedingungen der Zeit für eine bemerkenswerte Entwicklung im Verhältnis nationaler Migrationsregime und internationaler Standards.121 Tatsächlich führten bei der Anwerbung der sog. Gastarbeiter122 die nun aufflammende innereuropäische Konkurrenz um Arbeitskraft und die Verbreitung völkerrechtlich anerkannter Mindeststandards garantierter Migrationsbedingungen zu einer nachweisbaren Verbesserung der Freizügigkeit und Gleichbehandlung internationaler Arbeitswanderer.123 Recht und Rechtswirklichkeit standen für eine Weile in höherem Maß auf Seiten der Migranten als je zuvor, und der Hunger der westlichen Volkswirtschaften nach ihrer Arbeitskraft sorgte – jenseits aller realen Diskriminierungen und der nach wie vor zu konstatierenden rechtlichen Einschränkungen und Bindungen – dafür, dass Rechte ihre Präsenz flankierten, die vergleichsweise schnell ihre Disponibilität verlieren konnten.124 In einer vierten Phase, die mit dem Strukturbruch der 1970er Jahre und den sich parallel beschleunigenden Globalisierungstendenzen einsetzte, veränderten sich die Verhältnisse erneut. Mit dem, was Russel King und andere die „Privatisierung von Migration“ seit den 1980er Jahren nennen, begann der Rückzug des Staates aus einer umfassenden Regulierung von Arbeitsmigration auf die Gestaltung ihres rechtlichen Rahmens und der gleichzeitige Machtzuwachs privater Akteure.125 Damit haben längst tot geglaubte Formen irregulärer unfreier Arbeit – auch in Europa – eine unerwartete Wiederbelebung erfahren.126 Im Bereich der regulären Arbeitsmigration hat sich der Trend zur Konvergenz der europäischen Migrationsregime, der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zu einer Verbesserung der Rahmenbedingungen temporärer Arbeitsmigration geführt hatte, fortgesetzt.127 Die Vorzeichen indes haben sich deutlich verschoben. Denn die steigenden Gestaltungsspielräume, die aus dem Rückzug des Staates auf seine Gesetzgeberfunktion resultierten, haben auch zu einem Anwachsen von Formen legaler und freier, faktisch jedoch unfreier und ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse von Migranten Vgl. Zolberg, The next Waves, S. 407–408 (wie Fn. 24). Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 163, 171 (wie Fn. 51). Vgl. zur Begriffsklärung Rass, Institutionalisierungsprozesse, S. 71 f. (wie Fn. 106). Vgl. ebd., S. 480f. Eine zeitgenössische Kritik an dieser Auffassung bietet Corrigan, Feudal Relics of capitalist Monuments?, S. 447 f. (wie Fn. 11). 125 Vgl. King, Towards a New Map of European Migration, S. 95 (wie Fn. 70); Colatrella, Workers of the World, S. 39 (wie Fn. 52). 126 Vgl. Munck, Slavery, S.  19–21 (wie Fn. 47); Colatrella, Workers of the World, S. 182 (wie Fn. 52). 127 Vgl. Ghai, Migrant Workers, Markets, and the Law, S. 169 (wie Fn. 51). 120 121 122 123 124

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geführt.128 Dahinter steht eine Strategie der Industriestaaten, ihre Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Weltwirtschaft mit Hilfe einer Wanderungspolitik zu stärken, die Zugriff auf billige externe Arbeitskräftepotentiale erlaubt und dabei einen den jeweiligen Bedürfnissen entsprechenden Mix aus qualifizierten und unqualifizierten Arbeitswanderern herstellt.129 Dies deckt sich mit dem Wunsch vieler Arbeitgeber, nicht nur an den Preisvorteilen zu partizipieren, den temporäre Arbeitswanderer mit sich bringen, sondern die hieraus erzielbaren Gewinne über die Ausbeutung von Migranten zu maximieren, die sie in verdeckt unfreie Arbeitsverhältnisse zwingen können. Möglich ist dies durch eine auf rechtlicher Grundlage fixierte Kopplung von temporärem Aufenthaltsstatus und Arbeitsmarktimmobilität mit der Abhängigkeit des Aufenthalts vom Wohlwollen des Arbeitgebers.130 In dieser neuen Weltordnung bietet die selektive Umsetzung von Migrationskon­ trolle bzw. der Überwachung von Migrationsbedingungen Arbeitgebern Gelegenheit, Unfreiheit herzustellen. Der Ausweisungsdruck zwingt Arbeitswanderer zur Akzeptanz dieser Verhältnisse, und verschärfte Migrationskontrolle an den Außengrenzen der industrialisierten Volkswirtschaften macht Saisonarbeiter oder temporäre Migranten zu Quasi-Einwanderern.131 Diese Verhältnisse betreffen zum Teil Arbeitswanderer aus der Peripherie der industrialisierten Wirtschaftsblöcke, vor allem aber Migranten aus Entwicklungsländern in Asien und Afrika.132 Die von der Machtverteilung im Globalisierungsprozess verstärkte ungleiche Ressourcenverteilung treibt Menschen in die Arbeitsmigration.133 Andauernde rechtlich sanktionierte Statusdiskriminierung verwehrt einer Mehrheit unter ihnen eine Einwanderungsoption und hält sie auf der Ebene temporärer Arbeitskräfte gefangen, wo nach wie vor nicht selten rassistisch fundierte Ressentiments ihre dauerhafte rechtliche Diskriminierung legitimieren und Handlungsspielräume für die Erzeugung unfreier Arbeitsverhältnisse eröffnen.134 Immer, wenn der Staat die Gleichbehandlung von Migranten nicht nur gesetzlich verankert, sondern darüber hinaus auch flächendeckend überwacht und durchsetzt, entstehen durch die Beschränkung der Freizügigkeit von Migranten auf dem Ar128 Vgl. Preibisch, Pick-Your-Own Labor, S. 432 (wie Fn. 29); King, Towards a New Map of European Migration, S. 95 (wie Fn. 70). 129 Vgl. Preibisch, Pick-Your-Own Labor, S.  404  f. (wie Fn. 29); Yaw Nyarko, EU Politics and African Human Capital Development, Florenz 2010, S. 11. 130 Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 307, 310 (wie Fn. 21). 131 Vgl. Allegro, Latino Migrations to the U.S. Heartland, S. 175, 178 (wie Fn. 24). 132 Vgl. Ebd., S. 177. 133 Vgl. Wylie, McRedmond, Human Trafficking and Europe, S. 7 (wie Fn. 21); Calavita, Deflecting the Immigration Debate, S. 302 (wie Fn. 73). 134 Vgl. Walia, Transient Servitude, S. 72 f. (wie Fn. 27); Munck, Slavery, S. 23 (wie Fn. 47); Brass, Capitalist Unfree Labour, S. 750 (wie Fn. 69).

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beitsmarkt und die Regulierung ihres Aufenthalts und ihrer Mobilität Spielräume, in denen Formen unfreier Arbeit existieren können.135 Ronaldo Munck hat aus diesem Zusammenhang den Schluss gezogen, dass Globalisierung die Ausbreitung sowohl illegaler als auch scheinlegaler und faktisch unfreier Arbeit fördert.136

7. Erkenntnisse Anstelle einer Zusammenfassung sollen zwei Erkenntnisse hervorgehoben werden: Erstens zeigt der Blick auf reguläre Arbeits- und Migrationsverhältnisse einen engen Zusammenhang zwischen grenzüberschreitenden Wanderungen, rechtlichen Normen und dem Potential für das Entstehen unfreier Arbeit. Eine Langzeitanalyse der Beziehung zwischen diesen Phänomenen identifiziert Recht – als normative Strukturierung der Wirklichkeit ebenso wie als deren lebenswirkliche Ausprägung – als einen entscheidenden Faktor für die Existenz der hier diskutierten modernen Formen unfreier Arbeit. Diese Sichtweise betont die kritische Betrachtung der Intentionen, mit denen bestimmte Migrationsregime normativ verankert werden, und der daraus resultierenden Praktiken und Realitäten. Zweitens offenbart eine historische Analyse eine nicht lineare Entwicklung. Im 19. Jahrhundert verschwanden zwar langsam die älteren Formen unfreier Arbeit. Zugleich deutete sich die rechtliche Verankerung von faktischer Unfreiheit in der immer wichtigeren modernen temporären Arbeitsmigration an. In der Zwischenkriegszeit zeichnete sich als Gegenbewegung zunächst auf einer normativ theoretischen Ebene ein Trend zu staatlicher Regulierung von Arbeitswanderung unter dem Vorzeichen weitreichender Migrationskontrolle ab, aber auch die Garantie bestimmter Migrationsstandards. Dies führte unter den ökonomischen Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg zur Realisierung einer prinzipiell begrenzten, jedoch definierten und garantierten Freizügigkeit und Rechtssicherheit von Arbeitswanderern – zumindest in Europa. Eine Umkehr setzt in den 1970er Jahren mit dem Durchschlagen der Globalisierung auf die Industriestaaten ein. Seitdem öffnet der Wille zur Wettbewerbsfähigkeit eine neue Büchse der Pandora, in der staatliche Normensetzung und -umsetzung sich auf die restriktive Kontrolle der Präsenz von Migranten zurückzieht und Dritten zugleich fatale Spielräume eröffnet, in denen eine durch Rechtsnormen begünstigte faktisch unfreie Arbeit als moderne Knechtschaft eine unerwartete Renaissance erlebt.

135 Vgl. Anderson, Migration, Immigration Controls and the Fashioning of precarious Workers, S. 307 (wie Fn. 21). 136 Vgl. Munck, Slavery, S. 17 (wie Fn. 47).

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Vertragsbeendigung und Arbeitsregime in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR Einleitung Wenn man Übergänge von einem Arbeitsregime zu einem anderen thematisieren will, scheint ein Blick auf die deutsche Geschichte ganz besonders geeignet. In kaum einem anderen Land dürfte es so viele Systemwechsel mit radikalen Brüchen und Übergängen gegeben haben. Ob Nationalsozialismus, der Sozialismus der DDR, die sozialen Rechtsstaaten von Weimar und der Bundesrepublik, alle politischen Formen bekannten sich zu einer bestimmten Art von Arbeitsregime und schufen dafür rechtliche Voraussetzungen, die bei dieser Konferenz im Mittelpunkt stehen sollen. Für den Charakter eines Arbeitsregimes aufschlussreich ist die Frage, in welchem Ausmaß eine Rechtsordnung „freie Arbeitsverträge“ zulässt. Unter einem „freien Arbeitsvertrag“ stellt man sich in der Regel einen Vertrag vor, den die Parteien in größtmöglichem Maße nach eigenem Willen gestalten können. Frei ist, wer sich aussuchen kann, mit wem und mit welchem Inhalt er Verträge abschließt. Doch auch bei der Beendigung des Vertrages wird das Thema „Freiheit“ relevant. Die Frage lautet hier, inwiefern eine Partei darüber entscheiden kann, ab wann ein Vertragsverhältnis nicht mehr fortgesetzt wird, und welche Grenzen die Rechtsordnung dabei ziehen soll. Solche Fragen der Zulässigkeit einer Kündigung sind für die Praxis heute sehr wichtig. Ich möchte versuchen, anhand dieses Regelungsproblems Kriterien für freie und gebundene Arbeitsverträge zu beschreiben. Es soll gezeigt werden, wie sich ein freies von einem gebundenen Arbeitsregime unterscheidet und wie das eine in das andere übergehen kann. Als Vergleichsfelder werden dazu die Arbeitsregime in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR herangezogen. Dabei muss zu Beginn eingeräumt werden, dass die eben schon kurz angesprochenen Kriterien für „freie Arbeitsverträge“ aus einer genuin westdeutschen Perspektive, vom liberalen Rechtsstaat her, gedacht sind. In der DDR definierte man die Freiheit eines Arbeitsvertrags weniger nach seiner rechtlichen Gestaltungsform als nach seinen ökonomischen Rahmenbedingungen. In der Präambel zum Gesetzbuch der Arbeit der DDR von 1961 hieß es etwa, dass „freie Arbeit“ die Arbeit sei, die der Werktätige für sich selbst und die Gesellschaft verrichte und nicht für den kapitalistischen

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Ausbeuter.1 „Freiheit der Arbeitsverträge“ ist aus sozialistischer Sicht „Freiheit vom Kapitalisten“, aus liberaler Sicht „Freiheit vom Staat“. Wenn hier von „frei“ und „gebunden“ die Rede ist, wird letztere Perspektive zugrunde gelegt, wobei aber nicht übersehen werden soll, dass die spezifische Sichtweise der DDR-Rechtswissenschaft eine andere war. Darüber hinaus werden die Attribute der Freiheit und Bindung in Arbeitsregimen hier politisch wertfrei gebraucht. Sie dienen der kategorialen Einteilung von normativen Systemen und sind daher als rechtswissenschaftliche Ordnungsbegriffe zu verstehen, die reale Handlungsspielräume arbeitender Menschen nicht ohne weiteres abbilden müssen. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich nicht um einen politischen Systemvergleich, sondern um Rechtsvergleichung mit Schwerpunkt auf Vorschriften, die dem Regelungsproblem der Beendigung von Arbeitsverhältnissen gewidmet sind.

1. Kündigungsrecht als Schutz gegen Arbeitslosigkeit – das Arbeitsregime der BRD Nach heutigem bundesdeutschen Recht gibt es mehrere Konstellationen für die Beendigung von Dienstverhältnissen.2 So kann ein Vertrag etwa durch Zeitablauf enden. Hier gibt es in der Regel keinen Konfliktstoff. Außerdem können sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer über eine Beendigung von Arbeitsverhältnissen mit dem Arbeitgeber einigen und einen Aufhebungsvertrag schließen. Probleme entstehen jedoch vor allem, wenn die Vertragsauflösung nicht im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt, sondern ein

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Präambel Gesetzbuch der Arbeit der DDR vom 12. April 1961 (GBl. I S. 27), 3. Abs.: „In der Deutschen Demokratischen Republik hat sich die Arbeiterklasse von der kapitalistischen Ausbeutung befreit und zu der Klasse erhoben, die mit ihren Verbündeten den Staat und die Wirtschaft leitet und die Volksmassen auf dem Weg der bewussten Gestaltung ihres Schicksals führt. Mit der Befreiung von der Ausbeutung und Unterdrückung hat die Arbeiterklasse für sich, für die werktätigen Bauern, die Intelligenz und alle anderen Werktätigen die entscheidende Freiheit errungen. Die Arbeiter-undBauern-Macht und das Volkseigentum garantieren erstmals in der Geschichte Deutschlands die Freiheit und die sozialen Rechte der Werktätigen, wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Erholung und das Recht auf Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie auf materielle Versorgung bei Krankheit, Invalidität und Alter. Das sind entscheidende sozialistische Errungenschaften der Werktätigen.“ Die folgenden Ausführungen sind auf einer interdisziplinären Tagung vorgetragen worden und richten sich daher nicht primär an ein juristisches Fachpublikum, dem die Möglichkeiten einer Beendigung von Dienstverträgen bekannt sind.

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Dienstverhältnis durch Kündigung einseitig beendet wird.3 Hier hat oft eine Partei das Nachsehen, sie verliert entweder ihr vielleicht lebenswichtiges Arbeitseinkommen oder ihren Anspruch auf eine vertragliche Leistung, die besonders wichtig für ein Unternehmen sein kann. Daraus ergibt sich die Anforderung an das Rechtssystem, im Falle einer Kündigung genau nach deren Rechtfertigung zu fragen und diese sorgsam zu bewerten. Rechtlich zulässig sind die meisten Kündigungen von Arbeitsverhältnissen heute nur in sog. ordentlicher Form mit einer Frist und einem gesetzlich geregelten Grund. Die fristlose Kündigung ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Wann ein solcher Fall vorliegt, setzt die Rechtsprechung durch richterrechtliche Rechtsfortbildung fest. Die fristlose, außerordentliche Kündigung ist eine Sollbruchstelle, wenn eine soziale Beziehung so gestört ist, dass ihre Fortsetzung für eine der Parteien nicht mehr zumutbar ist, was etwa bei einer Straftat des Arbeitnehmers der Fall sein kann. Diese Konstellation von Kündigungsrecht besteht aber erst seit Inkrafttreten des Kündigungsschutzgesetzes 1951.4 Zu verdanken ist sie einem Zusammenspiel des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit sozialen, die Rechte der Arbeitnehmer schützenden Einzelgesetzen. Lange Zeit waren jedoch die Modalitäten der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses für verschiedene Berufszweige in Gewerbeordnungen, Gesindeordnungen oder Zunftordnungen unterschiedlich geregelt.5 Mit Inkrafttreten der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes und später des BGB im Jahr 1900 wurde diese Rechtsvielfalt schrittweise vereinheitlicht. Etabliert wurde im BGB zunächst ein liberales Kündigungsregime. Vertragsparteien hatten große Freiräume beim Abschluss und bei der Auflösung von Dienstverhältnissen. Die Kritik am BGB als „unsoziales“ Gesetzbuch manifestierte sich nicht zuletzt an diesem Punkt. Es wurde oft als normatives Rückgrat eines Arbeitsregimes beschrieben, das eine Ausbeutung Schwächerer durch die Nutzung tatsächlicher Machtpotentiale ermöglicht habe, am prominentesten von Franz Wieacker, der insofern ein Kernargument sozialistischer Gesellschaftskritik referierte, dem er trotz aller Zuspitzung im Prinzip beipflichtete: Die „‚Freiheit‘ des individuellen Arbeitsvertrags“6 habe den besitzbürgerlichen Usurpatoren dabei als Mittel der Unterwerfung der Lohnarbeiter unter die größere 3 4 5 6

Aktueller Überblick etwa bei Müller-Glöge, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 11. Auflage 2011, § 620, Rn. 46 ff; Hesse, Münchner Kommentar zum BGB, 5. Auflage 2009, § 620, Rn. 1 ff. Ausführlich Alfred Hueck, Das Bundeskündigungsschutzgesetz, RdA 1951, 281–286; Zur Rechtslage seit 1945 mit Ausnahme der SBZ Philipp Gescher, Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung in den Westzonen, Frankfurt / M. 2001, 37–74. Ausführlich nun Andreas Deutsch / Thorsten Keiser, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 3, 2013, §§ 620–630, Rn. 47. Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (1953), in: ders. Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, 9–35 (17).

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wirtschaftliche Macht gedient.7 Die Kündigungsregeln des BGB in der Gestalt von 1900 scheinen diese Einschätzung zu bestätigen, auch wenn sie nur einen Teilaspekt des komplexen Problems der sich infolge von Vertragsfreiheit eröffnenden Machtpotentiale darstellen. Zumindest ist unter einem möglichst freien Kündigungsregime derjenige im Vorteil, der wirtschaftlich die größere Macht hat, da er über die am Markt begehrtere Ressource verfügt. Wer z. B. ein großes Angebot an Arbeitskräften hat, kann durch die Möglichkeit einer reibungslosen Vertragsauflösung seine Macht zum Nachteil des anderen ausnutzen, da sich leicht Ersatz finden lässt. An solchen Punkten greift in der Regel materialer Kündigungsschutz ein, wie er heute geläufig ist. Im BGB wurde hingegen auf materialen Kündigungsschutz verzichtet. Zu beachten ist dabei aber, dass zur Zeit der Entstehung des BGB politische Forderungen nach „Kündigungsschutz“ noch nicht mit demselben Nachdruck erhoben worden sind, wie zu späteren Zeiten. Zwar war im Zusammenhang mit politischen Forderungen nach „Arbeiterschutz“ gelegentlich auch von „Entlassungsschutz“ die Rede, wenn auch nicht im Sinne eines allgemeinen Bestandsschutzes für Arbeitsverhältnisse, sondern eher im Sinne eines Willkürschutzes bei außerordentlichen Kündigungen8 – wie im § 626 BGB, der einen „wichtigen Grund“ fordert. Arbeitslosigkeit wurde selbstverständlich auch im 19. Jahrhundert als politisches Problem wahrgenommen. Thematisiert wurde es nicht zuletzt im gewerblichen Bereich, also bei Fabrikarbeitern und Handwerksgesellen. Deren Arbeitsverhältnisse unterlagen nicht den Normen des BGB, sondern der spezielleren Gewerbeordnung, so dass für einen Schutz von Arbeitnehmerinteressen im gewerblichen Sektor das BGB nicht der richtige Ort gewesen wäre. Einschlägig waren die Dienstvertragsnormen des BGB für freie und verschiedene andere Berufsgruppen. Ein massenhaft vorkommendes Dienstverhältnis, das in den Bereich des BGB fiel, war das der Landarbeiter, die nicht einer Gesindeordnung unterlagen. Im landwirtschaftlichen Bereich wurden Arbeitslosigkeit und Kündigungsschutz seltener thematisiert. Aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reichs wurde sogar unaufhörlich über Arbeitskräftemangel in diesem Sektor geklagt.9 Wahrscheinlich ließ hier die Situation von Angebot und Nachfrage eine Forderung nach umfassendem materialem Kündigungsschutz nicht erforderlich erscheinen. Das änderte sich mit der Weimarer Republik. Infolge der wirtschaftlichen Verwerfungen der Krisenjahre nach 1919 wurde Massenarbeitslosigkeit zu einem konkreteren, alle Berufsgruppen betreffenden Bedrohungsszenario. So wurden in der 7 8 9

Ebenda. So etwa bei Kuno Frankenstein, Der Arbeiterschutz, Leipzig 1896, S. 117 ff. Vgl. etwa Richard Ehrenberg, Der Kontraktbruch der Landarbeiter als Massen-Erscheinung, in: Landarbeit und Kleinbesitz Heft 1, Rostock 1907, S. 11 ff; H. Mankowski, Material über den Kontraktbruch landwirtschaftlicher Arbeiter, in: Soziale Reform 29 (1909), S. 692–700 (694 ff.).

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Weimarer Zeit Kündigungsschutzvorschriften immer wichtiger. In der NS-Zeit setzte sich diese Tendenz prinzipiell fort, wenn auch teilweise unter anderen ideologischen Prämissen. Zu einem flächendeckenden Bestandsschutz für Dienstverhältnisse ist es aber wie gesagt erst 1951 mit dem Kündigungsschutzgesetz gekommen:10 Es schützte Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten, indem es die ‚ordentliche‘ Kündigung von Arbeitsverträgen an bestimmte, abschließende Gründe knüpfte.11 Insgesamt hat sich das Arbeitsregime der Bundesrepublik Deutschland seit 1900 von einem, wenn man vom BGB ausgeht, eher freien zu einem „sozial gebundenen Arbeitsregime“ gewandelt. Die Vorschriften über Kündigungsschutz sind dabei ein zentraler Bestandteil. Die drohende Arbeitslosigkeit und der Konsens, dass staatliche Gesetzgebung wirtschaftliche Risiken einzudämmen hat, sind die prägenden Motive hinter dieser Gesetzgebung.

2. Kündigungsrecht als Verteilungs- und Erziehungsinstrument: Das Arbeitsregime der DDR Wie verhält es sich aber mit Kündigungsvorschriften in einer Wirtschaftsordnung, in der solche Motive bedeutungslos sind, weil sie Arbeitslosigkeit nicht kennt? In der DDR waren die Gefahren des Marktes bekanntlich gebannt; wo im Westen Unberechenbarkeit und vielleicht sogar für den Einzelnen gefährliche Dynamik vorhanden war, existierten im Osten staatliche Steuerung und Planung. Abwärtsspiralen, Krisen und Massenentlassungen, die eine prägende Erfahrung für das Arbeitsregime im Westen waren, kamen in der sozialistischen Planwirtschaft nicht mehr vor. Stattdessen gab es gab es schon mit der Entstehung der DDR ein verfassungsmäßig verbürgtes Recht auf Arbeit12 im Sinne einer Pflicht, jeden Bürger mit einem Arbeitsplatz zu versorgen. Man kann sich fragen, welche Bedeutung Kündigungsregeln in solch einem Arbeitsregime 10 BGBl. I (1951) S.  499; hierzu ausführlich Curt Wolfgang Hergenröder, Münchener Kommentar zum BGB, 5. Auflage 2009, KSchG, Einl. 11 Hierzu neben den Nachweisen in Fn. 4 etwa Wolfgang Kunkel, Kündigungsauswahl in der Praxis, BB 1952, 379; Rolf Knütel, Begründungspflicht bei Kündigungen, NJW 1970, 121, 124. 12 Art. 15 Abs. 2 Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949: „Das Recht auf Arbeit wird verbürgt. Der Staat sichert durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt. Soweit dem Bürger angemessenen Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt.“ Später Art. 24 Abs. 1 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. Er hat das Recht auf Lohn nach Qualität und Quantität der Arbeit.

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überhaupt noch haben. Sicherlich gab es sie. Jedoch ist klar, dass sie unter anderen Vorzeichen stehen mussten. Auch der zugrundeliegende Interessengegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde in der DDR ganz anders beurteilt, denn „der Betrieb“ gehörte ja dem Werktätigen, nicht mehr einem Ausbeuter. Gleichzeitig brauchte man ein soziales Kündigungsrecht, denn dieses war eine Kernforderung des Sozialismus und musste verwirklicht werden, auch wenn der alte Feind nicht mehr vorhanden war. Wie man sehen wird, waren die Kündigungsschutzvorschriften in der DDR sehr weitreichend. In manchen Situationen gab es eine faktische Unkündbarkeit von Arbeitskräften. Diese musste zu erheblichen Anreiz- und Produktivitätsproblemen führen, die auch von ehemals in der DDR aktiven Arbeitsrechtlern rückblickend immer wieder hervorgehoben werden.13

3. Kündigungsformen in der DDR Das Kündigungsrecht war in der DDR unter anderen begrifflichen Vorzeichen neu geregelt worden, wie überhaupt das gesamte Arbeitsregime, das den „Werktätigen“, nicht den „Arbeitnehmer“ zum Anknüpfungspunkt der Normen machte. In der Welt der „Werktätigen“ gab es im Wesentlichen die gleichen Rechtsinstitute wie in der Bundesrepublik. Geregelt war die Beendigung des Arbeitsvertrags ab 1951 durch eine Kombination von Gesetz und Verordnung.14 Bereits diese Gesetzgebung wollte das Kündigungsrecht als „Verwirklichung“ des Rechts auf Arbeit betrachten, das in der Verfassung der DDR von 1949 garantiert war.15 Dementsprechend waren ordentliche Kündigungen generell nur unter besonderen Voraussetzungen möglich, die allerdings sehr Mann und Frau, Erwachsene und Jugendliche haben das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung.“ 13 So z. B. von Axel Dost, „Arbeitsrecht“, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995, S. 95–145 (97) und vor allem von Vera Thiel, Arbeitsrecht der DDR. Ein Überblick über die Rechtsentwicklung und der Versuch einer Wertung, Opladen 1997, S. 102. 14 Thiel, Arbeitsrecht der DDR, S. 50 f. Zuerst wurden die Bestimmungen der Verfassung über Recht auf Arbeit und Soziales umgesetzt im „Gesetz der Arbeit zur Förderung und Pflege der Arbeitskräfte, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten vom 19. April 1950. Darin befasste sich § 38 rudimentär mit Kündigungsrecht; konkretisiert wurde dieses dann durch die Verordnung über Kündigungsrecht vom 7. Juli 1951 (GBl. S. 550), geändert durch VO von 17. Mai 1956. 15 Sofern man von den privatwirtschaftlichen Restbeständen in der DDR absieht, deren Rechtsverhältnisse hier allerdings nicht berücksichtigt werden können.

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allgemein formuliert worden sind. Demnach war eine Kündigung dann unwirksam, wenn sie gegen „die Verfassung“, „gesetzliche oder tarifvertragliche Bestimmungen“ verstieß, oder wenn sie die „sozialen oder demokratischen Grundsätze des Arbeitslebens verletzt“. Was das im Einzelnen bedeutete, hatte die Rechtsprechung zu klären. Ein Ostberliner Arbeitsgericht stellte dazu 1952 fest, eine Kündigung sei nur dann gerechtfertigt, wenn sie „das gesellschaftlich notwendige Mittel zur Gestaltung der betrieblichen Verhältnisse darstelle“.16 Präzisiert waren die „sozialen oder demokratischen Grundsätze des Arbeitslebens“ damit freilich nicht. Jedoch ist die Formulierung aus der Frühphase des DDR-Arbeitsrechts signifikantes Merkmal eines gebundenen Arbeitsregimes. Nach individuellen Interessen wird nicht gefragt, auch nicht die Interessen des Betriebes stehen im Vordergrund, sondern die der „Gesellschaft“. Während das sozial gebundene Kündigungsrecht des Westens zunächst den Arbeitnehmer als Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte und ihn vor den Gefahren der Arbeitslosigkeit zu schützen versuchte, wurde das Kündigungsrecht in der DDR schon früh auf eine komplett überpersönliche Ebene gestellt. Es war zwar Konkretisierung des Individualrechts auf Arbeit, wurde daneben aber schon früh als Instrument politischer Steuerung definiert. Bei der Kodifikation des Arbeitsrechts im Jahr 1961 wurde dieses System gesetzlich konkretisiert.17 Das einheitliche „Gesetzbuch der Arbeit“ normierte drei Gründe für eine ordentliche, also befristete Kündigung. Erstens konnte „eine Änderung der Produktion, die eine Änderung des Arbeitskräfteplans erfordert“, eine Kündigung rechtfertigen.18 Das war neu gegenüber den sehr allgemein gehaltenen Kündigungsregeln der fünfziger Jahre. Plötzlich hatte auch das Recht der DDR die Notwendigkeit einer Betriebsschließung und die dadurch notwendigen Entlassungen ins Auge gefasst. Die Kommentarliteratur redet seit den sechziger Jahren verstärkt von „ökonomischer Effektivität“, „Umgestaltung“ und „rationellem Einsatz“ der

16 LAG Berlin NJ 1953, S. 121. 17 Dazu insgesamt aus ostdeutscher Sicht: Gesetzbuch der Arbeit und andere ausgewählte rechtliche Bestimmungen, Textausgabe mit Anmerkungen, hg. vom Staatlichen Amt für Arbeit und Löhne beim Ministerrat, 7. Auflage, Berlin 1969. Aus westdeutscher Sicht Siegfried Mampel, Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht in Mitteldeutschland, Köln 1966; ders. Das „Gesetzbuch der Arbeit“ in der Sowjetzone und das Arbeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Ein Vergleich (Synopse), 3. Auflage Bonn 1961, mit deutlichen Spuren der Rhetorik des kalten Krieges. Ebenso von Seiten der DDR in dem Beratungshandbuch für Laien von Stefan Otte / Rudi Kranke / Gerhard Reeck, Kennst du das Gesetzbuch der Arbeit? 5. Auflage, Berlin 1965 und in Autorenkollektiv, Unser neues Gesetzbuch der Arbeit, Berlin (Ost), 1961, insbes. S. 9 ff.; rückblickend Thiel, Arbeitsrecht der DDR, S. 105 ff. 18 § 31 Abs. 2 GBA 1961.

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Produktivkräfte.19 Im Westen entsprach das der „betriebsbedingten Kündigung“. Voraussetzung war, dass der Arbeitsplatz wegfällt, etwa wenn Betriebsteile stillgelegt werden. Zwar sollten bei einer ordentlichen Kündigung die „gesellschaftlichen und persönlichen Interessen“ berücksichtigt werden.20 Erfordernisse wie eine Auswahl nach konkreten sozialen Kriterien beim Wegfall eines Arbeitsplatzes waren damit aber nicht gemeint. Freilich gab es in der DDR Kündigungsschutz für bestimmte Personengruppen, wie Schwerbeschädigte oder Kämpfer gegen den „Faschismus“.21 Dennoch waren das keine Entsprechungen der allgemeinen Sozialauswahl, die sich im westdeutschen Recht etabliert hatte. Die Leute wurden in der DDR schließlich nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen, sondern auf andere Arbeitsplätze umverteilt. Darüber hinaus konnte bei „Nichteignung“ eines Werktätigen für die zugewiesene Arbeit befristet gekündigt werden und bei Mängeln des Arbeitsvertrags, d.h., wenn dem Arbeitsvertrag rechtliche Gründe entgegenstanden. Dieses Grundmuster wurde auch bei den folgenden Reformen des DDR-Arbeitsrechts beibehalten. Als im Jahr 1977 das Arbeitsgesetzbuch der DDR in Kraft trat, blieben die wesentlichen Bestandteile des Kündigungsrechts bestehen.22 Insgesamt stellten diese Voraussetzungen hohe Hürden für eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses von betrieblicher Seite dar. Der Werktätige konnte hingegen, wenn man den bloßen Gesetzeswortlaut betrachtet, ohne Probleme fristgemäß kündigen. Explizite Kündigungserschwerungen betrafen nur den Betrieb. In der Praxis dürften Kündigungen von Seiten der Werktätigen jedoch nicht immer gerne gesehen worden sein. Wer aus dem Betrieb ausscheiden wollte, machte sich mangelnder Identifikationsbereitschaft mit dem Kollektiv verdächtig und gefährdete die Planerfüllung. Ein Beratungsbuch für juristische Laien klärte die Arbeitskräfte z. B. über ihr Recht zur Kündigung auf, machte aber keinen Hehl daraus, dass ein solches Verhalten in der hoch politisierten und moralisch beeinflussten Atmosphäre sozialistischer Produktion unerwünscht sei.23 Ein Wechsel der Arbeitsstelle auf der Suche nach besseren Einkommenschancen war nach sozialistischen Prinzipien ohnehin völlig unakzeptabel, auch sonst sollten die Beschäftigten ihrer Unzufriedenheit bei den zuständigen Stellen der betrieblichen Selbstverwaltung Ausdruck verleihen, statt einfach zu kündigen und einem Konflikt Joachim Michas, Arbeitsrecht der DDR, Berlin (Ost), 2. Aufl. 1970, S. 201 ff. § 31 Abs. 4 GBA 1961. Vgl. Otte / Kranke / Reeck, Gesetzbuch der Arbeit, S. 110 ff. Siehe § 54 Abs. 2 AGB 1977. Zum Arbeitsgesetzbuch von 1977 Thiel, Arbeitsrecht der DDR, S. 141 ff; Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR. Analyse und Texte, Berlin (West), 1987; Hans-Joachim Bartels, Das neue Arbeitsrecht der DDR, in: Rabels Zeitung 1978, S. 507–549; Autorenkollektiv unter Leitung von Frithjof Kunz, Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Lehrbuch Arbeitsrecht, Grundriß, Bd. 1, Potsdam-Babelsberg 1978. 23 Otte / Kranke / Reeck, Gesetzbuch der Arbeit, S. 99 f. 19 20 21 22

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auszuweichen. Jede Unstimmigkeit sollte in ein Ritual sozialistischer Selbstbelehrung und Selbsterziehung unter scheinbar gleichberechtigter Beteiligung von Betrieb und Werktätigen münden, aber nicht in eine Vertragsauflösung, die nur für den äußersten Notfall vorgesehen war. Voice statt Exit hieß das Motto für die Werktätigen bei Problemen im Betrieb.24 Deshalb sollte sich auch ein Werktätiger, der gekündigt hatte, auf eine „kameradschaftliche Aussprache“ einstellen, in der mit ihm die Gründe seines Entschlusses nochmals erörtert wurden.25 Zur Kündigung entschlossene Leser des Rechtsratgebers konnten diese Passage ohne weiteres als Drohung auffassen; vielleicht sollten sie es auch. Die „außerordentliche Kündigung“ hieß in der DDR „Entlassung“. Seit den fünfziger Jahren hatte man die Gründe für Entlassungen in einer Verordnung geregelt.26 Man findet darunter auch heute noch relevante Kündigungsgründe wie Gesetzesverstöße einer Vertragspartei, aber auch spezifische Regelungen für die politische Realität der DDR. Zu Letzteren zählt etwa die fristlose Kündigungsmöglichkeit bei Verstößen des Werktätigen gegen die „Grundsätze der antifaschistisch-demokratischen Ordnung“.27 Was wie ein Freibrief für willkürliche Entlassungen aus politischen Gründen klingt, sollte allerdings nach Maßgabe des obersten Gerichts restriktiv ausgelegt werden.28 Zulässig war darüber hinaus „die fristlose Entlassung des Beschäftigen, die von einem zuständigen staatlichen Untersuchungs- und Kontrollorgan verlangt wird“.29 Damit waren die Staatsanwaltschaft und die Staatssicherheit gemeint, die somit befugt wurden, ein Arbeitsverhältnis aufzulösen. Hierzu werden die Kommentare, die sonst mit vielen Fallbeispielen und Konkretisierungen aufwarteten, plötzlich schweigsam. Zumindest war in solchen Fällen der sonst umfangreiche „soziale“ Kündigungsschutz des DDR-Rechts ausgehebelt. Sonst übliche Gewerkschaftszustimmungen waren, wenn die Stasi anklopfte, nach Ansicht eines Lehrbuchs aus den fünfziger Jahren nicht mehr erforderlich, und auch Gründe mussten von den staatlichen Organen nicht angegeben werden.30 Der Betrieb hatte zu gehorchen und den Werktätigen freizustellen, denn es gehe hier stets um eine „Sicherheitsmaßnahme des Staates, die im Interesse der sozialistischen Betriebe, bzw. der gesamten Gesellschaft und nicht selten auch im Interesse der Werktätigen selbst“ erfolge.31 Bezüglich der Motive sol24 Geprägt sind die Begriffe von Albert Otto Hirschman, Exit, voice and loyalty: Responses to decline in firms, organizations and states, Cambrigde Mass. 1970. 25 Otte / Kranke / Reeck, Gesetzbuch der Arbeit, S. 100. 26 VO über Kündigungsrecht vom 7. Juli 1951 (GBl. S. 550). 27 § 9 a) KündigungsVO 1951. 28 Rudi Kranke / Fritz Spangenberg / Walter Böhm, Das Kündigungsrecht, Berlin (Ost) 1955, S. 30 ff. 29 § 9 b) KündigungsVO 1951. 30 Kranke / Spangenberg / Böhm, Das Kündigungsrecht, S. 32. 31 Ebenda.

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cher Sicherheitsmaßnahmen blieben die Ausführungen vage. Zumindest konnten sie auch eingeleitet werden, wenn kein schwerer Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin vorlag.32 Es handelte sich also nach Einschätzung der Literatur um ein weitreichendes Sonderkündigungsrecht, das von den herkömmlichen Wertungszusammenhängen des Arbeitsvertragsrechts völlig gelöst war, dessen Ausübung aber, wie betont wurde, stets im Interesse des Werktätigen erfolge. Was im Interesse des Werktätigen sei, entschied freilich allein die Stasi. Ab 1961 ließ man alle enumerativ aufgezählten Gründe für eine fristlose Kündigung in einer Generalklausel aufgehen.33 Wenn jemand gekündigt werden sollte, wurde also nicht mehr in einem gesetzlich festgelegten Katalog nach einem besonderen Grund gesucht, vielmehr prüfte man, ob die Kündigung mit der Wertung eines unbestimmten Rechtsbegriffs in Einklang zu bringen war, der wiederum von der Rechtsprechung konkretisiert wurde. In der Ära des abschließend kodifizierten Arbeitsrechts sollte nur noch eine „schwerwiegende Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten oder der sozialistischen Arbeitsdisziplin“34 eine fristlose Kündigung rechtfertigen. Ein Sonderkündigungsrecht der Stasi ließ sich darunter nicht mehr ohne weiteres subsumieren. Seit 1961 wurden Kündigungsrechte der Stasi zumindest in den hier überblickten Kommentaren nicht mehr angesprochen. Abgesehen von dem DDR-typischen Hereinragen des Überwachungsstaats in das Arbeitverhältnis gab es in beiden Systemen eine große Schnittmenge von klassischen Fällen einer „Entlassung“ oder „außerordentlichen Kündigung“. Grundlegend verschieden waren aber die ökonomischen Rahmenbedingungen. Wo der Druck des Marktes fehlte, musste er ersetzt werden durch Etablierung einer „sozialistischen Arbeitsmoral“. Vor diesem Hintergrund wurde die „Entlassung“ von einem bloßen, in fast jeder Rechtsordnung notwendigen Mechanismus der Vertragsauflösung zu einem Instrument der Erziehung. Diese Auffassung von Kündigungsrecht steht im Komplementärverhältnis zu der bereits angesprochenen Steuerungsfunktion der Normen über Vertragsbeendigung.

4. „Entlassung“ als Erziehungsinstrument Dass der Betrieb, der Staat, die Gesellschaft, die ja als Einheit gedacht wurden, mit Kündigungsrecht „erzieherische Zwecke“ verfolgen sollten, wurde besonders früh und einhellig von Literatur und Rechtsprechung festgestellt. Was das für die Praxis 32 Ebenda. 33 § 32 GBA 1961. Dazu auch Thiel, Arbeitsrecht der DDR, S. 121. 34 Zur Konkretisierung dieser Formel Autorenkollektiv unter Leitung von Joachim Michas, Arbeitsrecht der DDR, Berlin (Ost) 1970, S. 214 f.

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bedeutete, lässt sich anhand des bereits zitierten Gerichtsurteils von 1952 beschreiben, in dem die Kündigung als „gesellschaftlich notwendiges Mittel“ zur Gestaltung betrieblicher Verhältnisse definiert wird.35 Zugrunde lag ein klassischer Fall außerordentlicher Kündigung: Ein Werktätiger war in einem Handelsbetrieb beschäftigt und war unfreundlich zu den Kunden, außerdem behandelte er seine Kollegen abschätzig und frech. Daraufhin wurde ihm gekündigt. In der Entscheidung zu seiner Kündigungsschutzklage räumte das Arbeitsgericht ein, dass eine disziplinwidrige Handlung seitens des Werktätigen vorgelegen habe. Zunächst rügte es die „Überheblichkeit“ des Klägers und warf ihm Fehlverhalten vor, um dann jedoch zu prüfen, ob dieses Verhalten „eine gesellschaftliche Notwendigkeit zur Lösung des Arbeitsverhältnisses“ begründe. Das Ergebnis ist negativ. Bei aller Missbilligung des Verhaltens des Werktätigen zeigen sich die Urteilsgründe verständnisvoll, sobald es um die Frage der Entlassung geht. Dem Werktätigen wird vom Gericht Lernfähigkeit bescheinigt. Außerdem bekommt er auf unklarer Tatsachengrundlage besondere Fachkenntnisse zugeschrieben. Mit diesen habe er den Neid seiner Kollegen erweckt, was für Konfliktpotential gesorgt habe. Daher bestünde eine gesellschaftliche Notwendigkeit zur „Erziehung im Betrieb“, aber nicht zur Kündigung.36 Zwar wirkt der paternalistisch-belehrende Tonfall dieser Entscheidung heute ungewohnt. Aber im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Kündigung hätte ein bundesdeutsches Arbeitsgericht der Gegenwart den Fall genauso beurteilt. Der Punkt, worauf sich die Unterscheidung von Recht und Unrecht bezieht, ist der gleiche: Darf ein unfreundlicher Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis entlassen werden, oder soll er zuvor die Chance auf Besserung bekommen? Wie damals in der DDR würden heutige Gerichte die Frage eindeutig bejahen. Anders wäre aber die Begründung. Das westdeutsche Arbeitsrecht geht nicht von Kollektivinteressen aus, sondern bemüht sich um Konfliktlösung und Interessenausgleich innerhalb eines privaten Zweipersonenverhältnisses. Heute würde man in diesem Fall vom Arbeitgeber eine „Abmahnung“ verlangen, d.h. eine eindeutige Rüge des Verhaltens mit Kündigungsandrohung. Dieser wird eine „Warnfunktion“37 für den Arbeitnehmer zugeschrieben, manche sehen darin auch eine „Dokumentationsfunktion“,38 denn die Beweisführung im Gerichtsverfahren wird dadurch erleichtert, dass ein die Kündigung begründender Sachverhalt zwischen den Beteiligten festgestellt wird. Hier geht es also um „Rechtssicherheit“, um die Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit von 35 LAG Berlin, NJ 1953, S. 121–123. 36 LAG Berlin, NJ 1953, S. 123. 37 Martin Henssler, Münchener Kommentar zum BGB, 5. Auflage 2009, § 626, Rn. 93–97. 38 Wilfried Berkowsky, Münchener Handbuch Arbeitsrecht, 3. Auflage 2009, § 114 verhaltensbedingte Kündigung, Rn. 123–125.

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Gerichtsentscheidungen. Die Warnfunktion dient schlicht dem Arbeitnehmer. Niemand soll ihn erziehen, weder der Arbeitgeber noch die Gerichte. „Gesellschaftliche“ oder „staatliche“ Interessen sind durch die Kündigung nicht tangiert, jedoch muss der Einzelne vor den Folgen eines unbotmäßigen Verhaltens im Arbeitsverhältnis gewarnt sein. Hier erkennt man, wie sich individualistische und kollektivistische Sichtweisen auf arbeitsrechtliche Begründungen im Kündigungsfall unterschiedlich auswirken können. Das Rechtsinstitut, nach dem die Kündigung beurteilt wird, ist in beiden Systemen strukturell gleich. Es setzt für den gleichen Sachverhalt auch im Ergebnis sehr ähnliche Rechtsfolgen in Gang, nämlich die Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses. Nur waren die dahinterstehenden politischen Motive auf beiden Seiten der Mauer völlig unterschiedlich. Auf der einen Seite ging es um Erziehung und Disziplinierung, auf der anderen um die als „interessengerecht“ und „verhältnismäßig“ empfundene Warnung vor Arbeitslosigkeit.

5. Kündigungsschutzprozess und Konfliktkommissionen Der Erziehungszweck des Kündigungsrechts der DDR war auch von Seiten der politischen Führung betont worden. So wird in der heutigen Literatur der V. Parteitag der SED im Jahr 1958 als ein Meilenstein bei einer immer stärker werdenden Moralisierung des Arbeitsrechts dargestellt.39 Auch im Arbeitsrecht der DDR sei immer stärker dessen Charakter als Teil einer „Erziehungsdiktatur“ hervorgetreten.40 Wenn man die Geschichte des DDR-Arbeitsrechts seit 1951 betrachtet, fällt auf, wie dessen disziplinarischer Charakter immer mehr in den Vordergrund tritt. Die paradoxe Kombination von weitreichenden sozialen Schutzrechten und einer Eliminierung des Marktes scheint immer mehr zum Motivationsproblem geworden zu sein oder wurde zumindest von der Politik als solches empfunden. Freilich wurde auch in der DDR das Ziel einer Produktivitätssteigerung durch ökonomische Anreize verfolgt.41 39 Enrico Iannone, Die Kodifizierung des Arbeitsvertragsrechts – ein Jahrhundertprojekt ohne Erfolgsaussicht? Frankfurt / M. 2009, S.  244. Das Kündigungsrecht wurde freilich schon zu Beginn der fünfziger Jahre eindeutig als Erziehungsrecht angesehen ohne das es dazu einer expliziten parteiamtlichen Vorgabe bedurft hätte. Siehe etwa Kranke / Spangenberg / Böhm, Das Kündigungsrecht, S. 30 m.w.N. 40 Dost, Arbeitsrecht, S. 117. Siehe auch Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR, Köln 1969, S. 94 f. wo eine Betonung der Erziehungsfunktion, gerade der Rechtsprechung, im Zusammenhang mit der Suche nach einem neuen Zivilrecht beschrieben wird, die auch eine Folge der sog. „Babelsberger Konferenz“ von 1958 war. 41 Dazu etwa Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige, Berlin 2000, S. 298 f.

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Die neuen ‚sozialistischen Menschen‘ ließen sich aber nicht so leicht formen, wie man es sich erhofft hatte. So lobte ein Lehrbuch des DDR-Arbeitsrechts von 1970 im Stil parteiamtlicher Verlautbarungen die „ständig wachsende Arbeitsmoral“,42 widmete aber gleichzeitig ein großes Kapitel der „sozialistischen Arbeitsdisziplin“, in dem repressive Vorschriften zur Sanktionierung arbeitsvertraglicher Nichterfüllung großen Raum einnehmen.43 Disziplin sollte u.a. durch „Arbeitsordnungen“ hergestellt werden, also durch Kataloge, in denen der Betriebsleiter individuelle Verhaltenspflichten präzisierte. Solche Regelwerke ähnelten vom Charakter her den „Fabrik- und Arbeitsordnungen“, die seit dem 19. Jahrhundert eine große Rolle spielten.44 Wurden die darin aufgestellten Regeln nicht befolgt, kam die „Entlassung“ als Disziplinierungsmittel zum Tragen. Allerdings nur als Ultima Ratio. Die fristlose Kündigung wurde mit der Zeit vom selbständigen Rechtsinstitut zum Schlusspunkt eines komplexen, materiell und prozedural geregelten Disziplinar- und Erziehungsverfahrens45 zur Aufrechterhaltung von Arbeitskraft und Produktivität. Tatsächlich war der Politik aber bewusst, dass sie eher als Scheitern eines Erziehungsprozesses angesehen werden und als unerledigter Konflikt ein schlechtes Licht auf die Integrationskraft des sozialistischen Betriebskollektivs werfen musste. Deswegen wurde der Aufhebungsvertrag als erwünschte Beendigungsform vom Gesetz nachdrücklich propagiert.46 Eigentlich der Königsweg des liberalen Privatrechts, passte er auch ins Konzept sozialistischen Arbeitsrechts, weil er erfolgreiche Kommunikation und flache Hierarchie unterstreicht und eine Einheit von Betriebsleitung und Werktätigen suggeriert, die als Symbol der Konfliktaufhebung zwischen Arbeit und Kapital so wichtig war. Bei jedem Konflikt im Betrieb kam die „gesellschaftliche Gerichtsbarkeit“ der DDR ins Spiel.47 Erziehungsprozesse wurden von den sog. „Konfliktkommissionen“ 42 Michas, Arbeitsrecht der DDR, S. 505. 43 Michas, Arbeitsrecht der DDR, S. 473–516. Monographisch Frithjof Kunz, Sozialistische Arbeitsdisziplin, Berlin (Ost) 1966. 44 Noch immer lesenswert dazu Carl Koehne, Die Arbeitsordnungen im deutschen Gewerberecht, Berlin 1901. 45 § 110 GBA 1961; § 254 AGB 1977. 46 § 31 GBA 1961; § 51 AGB 1977. Hier wurde eine gesetzgeberische Idealvorstellung vom Auflösungsvertrag als Dreipersonenverhältnis zum Ausdruck gebracht: Der Vertrag sollte als Überleitungsvertrag geschlossen werden, bei dem ein Arbeitsverhältnis gelöst, gleichzeitig aber ein Arbeitsverhältnis mit einem neuen Betrieb begründet werden sollte. Zu Perioden von Arbeitslosigkeit und Stellensuche sollte es also gar nicht erst kommen. Zu solchen Programmen der „planmäßigen Arbeitskräftebewegung“, mit denen Engpässe bei Arbeitskraftressourcen beseitigt werden sollten: Katharina Belwe, „Weniger produzieren mehr“. Probleme der Freisetzung von Arbeitskräften in der DDR, in: Deutschland Archiv 17 (1984), S. 496–509 (502). 47 Allgemein zur gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit Hans-Andreas Schönfeld, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission: Normdurchsetzung durch territoriale gesell-

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durchgeführt.48 Diese entschieden auch letztlich über die Beendigung oder Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses. Bei diesen auch im Westen viel beachteten Gremien49 handelte es sich nicht um „ordentliche“, mit Berufsjuristen besetzte Gerichte, sondern um betriebliche Schlichtungsstellen, die mit anderen Werktätigen aus verschiedenen Hierarchiestufen, regelmäßig aber FDGB-Mitgliedern, besetzt waren.50 Es ging gerade darum, die Kollegen einzubinden. Sie sollten über Personen zu Gericht sitzen, die sie kannten; Befangenheit spielte keine Rolle. Eine Konfliktkommission sollte schließlich keine Arena für die Austragung von Interessenkonflikten sein, bei denen es Sieger und Verlierer geben konnte, mit einem neutralen anonymen Beobachter als Schiedsrichter. Im Vordergrund standen Ausgleich und Beurteilung der Lage durch joviale Genossen. Solche gesellschaftlichen Gerichtsverfahren dienten nicht zuletzt der Erziehung und Belehrung, aber nicht nur vom Betrieb zum Werktätigen, sondern gegenseitig. Wie beim brechtschen Lehrstück war das Verfahren vor der Konfliktkommission ein Ritual, bei dem alle Beteiligten sich selbst durch Reflexion und Kritik belehren sollten. Dem Ineinandergreifen von Fremderziehung und Selbsterziehung entsprach auch die Assoziation des Disziplinarverfahrens vor dem gesellschaftlichen Gericht mit dem Topos der „gegenseitigen Hilfe“.51 Dieses von Pjotr Kropotkin geprägte Schlagwort52 aus der Frühzeit des kommunistischen Anarchismus war ein Schlüsselmotiv des Rechtsdenkens der DDR, denn es brachte den verbreiteten Anspruch auf Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung im Miteinander, nicht im Wettbewerb auf den Punkt. So wurde auch das Arbeitsverhältnis in der DDR als Verhältnis „gegenseitiger Hilfe“ angesehen.53 Überhaupt stellte sich

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schaftliche Gerichte in der DDR, Frankfurt / M. 2002. Speziell zu Arbeitsrecht und betrieblicher Konfliktlösung: Gesellschaftliche Gerichte: Gesetzessammlung für Konfliktkommissionen und Schiedskommissionen, mit Anmerkungen und Sachregister, hg. vom Ministerium der Justiz, Berlin (Ost) 1971, zuletzt Berlin (Ost) 1989. Zuletzt Marion Hage, Betriebliche Konflikthandhabung in der DDR und Bundesrepublik, Hamburg 2001. Empirische Auswertungen auch bei Kristina Schmidt / Wolfhard Kothe, Konfliktkommissionen in der DDR – Historische Erfahrung als Impulse für aktuelle Diskussionen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1996, S. 259–285. Vgl. Wolfgang Däubler, Rechtsexport. Die Einführung des bundesdeutschen Arbeitsrechts im Gebiet der ehemaligen DDR, Frankfurt / M. 1996, S. 38. Autorenkollektiv, Handbuch für die Konfliktkommission, 2. Auflage, Berlin (Ost) 1974, S. 17. Siehe auch S. 16 ff. insgesamt zu Wahl und Zusammensetzung der Kommissionen. Michas, Arbeitsrecht der DDR, S. 493. Pjotr Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, autorisierte deutsche Ausgabe, besorgt von Gustaf Landauer, Leipzig 1904. So auch in der Einführung zum GBA von 1961. GBl. I, S.  27: „Aus der Last der unfreien Arbeit für schmarotzende Ausbeuter wurde die freie Arbeit der Werktätigen für sich selbst und für die Gesellschaft. In einem langwierigen, konfliktreichen Prozess

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das Rechtssystem der DDR oft als Kommunikationsnetzwerk von sich gegenseitig unterstützenden und belehrenden Instanzen dar, die gemeinsam einem Ziel zustrebten. Machtausübung durch zwingende Anordnung von Rechtsfolgen wurde in der sozialistischen Jurisprudenz oft als didaktischer Prozess zum Nutzen aller kaschiert. Dennoch konnte gegen die Entscheidung eines gesellschaftlichen Gerichts bei einer Kündigung, sei es von Seiten des Betriebs oder des Werktätigen, als zweite Instanz ein Arbeitsgericht angerufen werden,54 obwohl dieser Zweig der Gerichtsbarkeit kaum in ein sozialistisches System passt, da er wie kein anderer Austragungsort von Interessengegensätzen zwischen Arbeit und Kapital ist. Doch waren Kündigungsschutzprozesse im Vergleich zum Westen ohnehin eher selten. Schon die Konfliktkommissionen beschäftigten sich mehr mit der Haftung von Werktätigen wegen Schäden am Betriebseigentum als mit Entlassungen.55 Eine weitere Besonderheit des Verfahrens vor den Konfliktkommissionen ist die Einbeziehung von Staatsanwälten.56 Der Staatsanwalt war in der DDR nicht nur für Strafverfolgung zuständig, sondern eine Art universelles Organ zur Kontrolle der Rechtspflege. Gesellschaftliche Gerichte hätten „neben der gesellschaftlichen Anleitung auch eine zielgerichtete staatliche Führung“ nötig, „um eine einheitliche, der sozialistischen Gesetzlichkeit und dem gesellschaftlichen Fortschritt dienende Rechtsanwendung“ zu gewährleisten.57 Übertragen war diese Führungsaufgabe der Staatsanwaltschaft, die darum alle Beschlüsse der Konfliktkommissionen zu überprüfen hatte.58 Plausibel schien dieses Prüfungsrecht vor allem bei Verletzungen des sozialistischen Eigentums, etwa bei Diebstählen im Betrieb. Doch intervenierte der Staatsanwalt aber auch bei eigentlich zivilrechtlichen Sanktionen, etwa wenn eine der Erziehung und Selbsterziehung im Kampf gegen die Überreste der alten Denkweise und gegen rückständige Gewohnheiten wandelt sich die Einstellung der Menschen zur Arbeit und zueinander. Kameradschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe bestimmen in zunehmendem Maße die Arbeit und das gesellschaftliche Leben. Bei der Eroberung der Wissenschaft und Technik entfalten sich die von allen Fesseln befreiten schöpferischen Talente und Fähigkeiten der Werktätigen. In der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit bildet sich der sozialistische Mensch heraus. Die Arbeit beginnt zur Sache des Ruhmes und der Ehre zu werden“. 54 ������������������������������������������������������������������������������� Einen für Beratungszwecke von Laien erstellten Rechtsprechungsüberblick zu Kündigungsfragen vermittelt Walter Schulz, Schlag nach – Arbeitsrecht. Ein Quellenverzeichnis, 4. Auflage, Berlin (Ost) 1975. 55 Daten dazu bei Hage, Betriebliche Konflikthandhabung, S. 21. 56 Dazu auch Ulrich Lohmann, Gerichtsverfassung und Rechtsschutz in der DDR, Opladen 1983, S. 61. 57 Gerhard Kirmse, Die Aufgaben des Staatsanwalts bei der Zusammenarbeit mit den Konfliktkommissionen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, NJ 22 (1968), S. 771–274 (272). 58 Kirmse, Die Aufgaben, S. 272.

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Konfliktkommission Schadensersatzzahlungen wegen entwendeten Betriebseigentums anordnete.59 Das alles sorgte für Zuständigkeitsverwirrungen. So war etwa umstritten, ob und wann der Staatsanwalt als „Partei“ des arbeitsrechtlichen Verfahrens einzustufen sei.60 Eindeutig war hingegen, dass der Staatsanwalt durch Beteiligung an Verhandlungen der Konfliktkommissionen auch Informationen über „Arbeitsbummelanten“ oder „Arbeitsscheue“ erhalten sollte, damit gegen diese weitere Maßnahmen ergriffen werden konnten, die auch strafrechtlicher Natur sein konnten, also zum klassischen Kernbereich staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit gehörten.61 Die Gesellschaftlichen Gerichte waren also insgesamt in ein dichtes Netz staatlicher Kontrolle eingeflochten.62 Das wurde in der DDR-Literatur auch stets eingeräumt und wegen des ständig behaupteten Primats staatlicher und parteilicher Kontrolle nie als Problem angesehen. Insofern waren die Gesellschaftlichen Gerichte typische Merkmale eines gebundenen Arbeitsregimes, einerseits wegen ihrer staatlich-institutionellen Anbindung an die Exekutive, vor allem aber wegen ihres diszipliniarisch erzieherischen Anspruchs.

6. Kriterien freier und gebundener Arbeitsregime Damit endet der kurze Einblick in das Kündigungsrecht von DDR und Bundesrepublik Deutschland. Anhand der Beobachtungen beim Vergleich der unterschiedlichen Problemlösungen in Ost und West sollen nun einige Kriterien für freie und gebundene Arbeitsregime präzisiert werden. a) Frei ist ein Arbeitsregime, wenn die Erfüllung der Arbeitspflicht auf einen vertraglichen Leistungsanspruch reduziert ist, dessen Anforderungen die Rechtsordnung unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen zweier Vertragsparteien konstruiert. Gesamtgesellschaftliche Belange werden dabei überhaupt nicht oder nur subsidiär berücksichtigt. Im freien Arbeitsregime braucht der Mensch nur zu arbeiten, wenn er einen Vertrag abgeschlossen hat. Dessen Bedingungen kann er autonom festlegen, je nachdem, welche Spielräume der Markt ihm gewährt. b) Im gebundenen Arbeitsregime hingegen ist die Arbeit emanzipiert vom bloßen Individualvertrag. Sie bekommt eine überpersönliche Dimension. Die Erfüllung 59 Ebenda. 60 Christoph Kaiser, Staatsanwalt und Parteien im arbeitsgerichtlichen Verfahren, NJ 23 (1969), S. 371. 61 Kirmse, Die Aufgaben, S. 273. 62 Insgesamt zur Unabhängigkeit der DDR-Justiz Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. (Hrsg.), Steuerung der Justiz in der DDR, Köln 1994, S. 9–66.

Vertragsbeendigung in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR

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von Arbeitspflichten ist nicht primär Sache zweier Vertragsparteien, sondern in erster Linie Verpflichtung zur Förderung des Gemeinwohls. Dieses Modell eines gebundenen Arbeitsregimes war z. B. in der frühen Neuzeit weit verbreitet.63 In der Polizeigesetzgebung vor 1800 und nicht selten auch danach wurden Interessen der Allgemeinheit auf das Zweipersonenverhältnis von Dienstberechtigtem und Dienstverpflichtetem projiziert. Man befürchtete, die knappe Ressource Arbeitskraft – z. B. in den Spitzenzeiten von Saat und Ernte – nicht genügend nutzen zu können, und somit Schäden für die gesamte Wirtschaft des Territoriums. Deswegen wurde etwa Dienstboten die Pflicht zur Erfüllung ihrer Arbeitsverträge auch als moralische Pflicht eingeschärft. Darüber hinaus hatten sie nicht nur die laufenden Verträge zu erfüllen, sondern wurden auch ständig zum Abschluss neuer Verträge angehalten. Ansonsten galten sie als „Müßiggänger“. Charakteristisch für ein gebundenes Arbeitsregime ist also die Überwölbung oder gar Marginalisierung des Vertrags durch ein allgemeines, an gemeinschaftlichen Zwecken ausgerichtetes Arbeitsethos. Eine solche Moralisierung der Arbeit, die den Vertrag als Quelle von Leistungspflichten überhaupt in den Hintergrund treten und individuelle Versorgungs- oder Erwerbsinteressen gegenüber dem Anspruch gesamtgesellschaftlicher Nützlichkeit verblassen lässt, hat es in auch in der DDR gegeben. Eine „moralisch-emotionale Stimulierung“ von Arbeitsproduktivität wird ohnehin zum klassischen ökonomischen Maßnahmenkanon des Staatssozialismus gezählt.64 Sie wurde nicht nur implizit in den normativen Konnotationen der Disziplinierungsverfahren zum Ausdruck gebracht, sondern auch explizit auf der Ebene des Verfassungsrechts. In der Verfassung von 1968 / 1974 wurde das Recht auf Arbeit zur Rechtspflicht umgedeutet.65 Fortan galt es nicht mehr nur als Recht auf, sondern gleichzeitig als „ehrenvolle Pflicht“ zur Arbeit. Flankiert war diese auf höchster Stufe der Normenpyramide stattfindende moralische Aufladung der Arbeit von einfachen Strafrechtsnormen. Die mit Aufwertung der Arbeit zur Rechtspflicht einhergehende Stigmatisierung von Nichtarbeit hatte dazu geführt, dass ein „Sich-Entziehen einer geregelten Tätigkeit“ sogar mit Gefängnisstrafe geahndet werden konnte.66

63 Dazu nun ausführlich Thorsten Keiser, Vertragzwang und Vertragsfreiheit im Recht der Arbeit von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne, Frankfurt a. M. 2013, S. 35 ff. 64 Christoph Boyer, Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und staatssozialistische Entwicklungspfade: konzeptionelle Überlegungen und eine Erklärungsskizze, in: Peter Hübner u.a. (Hrsg.), Arbeiter im Staatssozialismus, Köln 2005, S. 71–86 (73). 65 Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR, S. 265 ff. 66 Ausführlich Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR, S. 286–298.

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Zusammenfassend lässt sich also sagen: Je größer die Bedeutung eines Vertrags als bloße Austauschbeziehung im Zweipersonenverhältnis, desto freier ist ein Arbeitsregime – wenn man die Prämissen liberalen Privatrechts zugrunde legt. Wichtig sind aber auch die Verfahren. Im freien Arbeitsregime werden die Pflichten aus dem Vertrag sowie sein Bestehen oder Nichtbestehen von einer von anderen Staatsgewalten unabhängigen, neutralen gerichtlichen Instanz beurteilt.

7. Fazit: Arbeitsregime im Übergang – Kündigung in Ost und West Wenn es möglich ist, Kriterien für freie oder gebundene Arbeitsregime aufzustellen, bleibt aber noch die Frage nach dem Übergang des einen zum anderen. Was muss ein Rechtssystem verändern, welche Hebel muss es in Bewegung setzen, um von frei auf gebunden umzustellen oder umgekehrt? Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dazu sei eine grundlegende Veränderung privatrechtlicher Normen und Institutionen erforderlich. Wenn man den Normbestand zum Thema „Beendigung des Arbeitsvertrags“ in Ost und West betrachtet, sieht man zwar punktuelle Unterschiede, jedoch überwiegen die Gemeinsamkeiten. Die Mittel zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses waren in beiden Regimen Aufhebungsvertrag, ordentliche und außerordentliche Kündigung. Die in der DDR schnell neu produzierten Normen über Arbeits- und Kündigungsrecht waren strukturell oft Reproduktionen längst vorgeprägter Formen.67 Insofern gibt es wenige Indikatoren für einen „Übergang“. Wenn man nur auf den Wortlaut der Gesetze schaut, sieht man einige neue Begriffe und Regelungstechniken, aber immer noch dieselben Rechtsinstitute, wenn auch nicht mehr im BGB, sondern in anderen Gesetzen. Man kann also von einem Übergang von Institutionen und rechtlichen Problemlösungen sprechen. Jedoch hat es auch Brüche und radikale Veränderungen des Arbeitsregimes gegeben, sowohl beim Übergang vom BGB zur Weimarer Zeit als auch von da zur NS-Zeit und zur DDR. Solche Veränderungen werden aber nur deutlich, wenn man den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und prozeduralen Kontext der schlichten „Privatrechtsvorschriften“ betrachtet. Wenn man die Besonderheiten des Nationalsozialismus einmal außer Acht lässt und idealtypisch vereinfachend versucht, einen Übergang vom einem prinzipiell freien Arbeitsregime zum gebundenen Arbeitsregime 67 Außer Acht gelassen wird hier freilich, dass das BGB und Arbeitsregime auch in der Zeit von Weimarer Republik erhebliche Umformungen erlebt hatte, so dass der Normbestand bei Entstehung der DDR höchst heterogen war und nicht ohne weiteres als „freies Arbeitregime“ bezeichnet werden kann, weshalb die folgenden Ausführungen eher als idealtypische Betrachtung anzusehen sind.

Vertragsbeendigung in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR

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der DDR zu beschreiben, muss man dabei mehrere Ebenen in den Blick nehmen. Relevant ist erstens das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichem Kontext und dem Rechtsinstitut, wie man am Zusammenhang zwischen Kündigungsrecht und der realen Bedrohung von Arbeitsplatzverlust sehen kann. Relevant sind außerdem die Konnotationen, die ein Rechtsinstitut im Zusammenspiel mit höherrangigem Recht erhalten kann. Unterschiedliche Konkretisierungen von ‚Zivilrechtsnormen‘ können sich durch eine Verfassung ergeben, wie man am Beispiel des Rechts auf Arbeit in der DDR-Verfassung sieht. Wichtig für den Übergang von Rechtsinstituten sind schließlich die Institutionen, die die Rechtsnormen anwenden. Hauptbeispiel ist hier die Konfliktkommission, die Arbeitsrecht nach völlig anderen prozeduralen Grundsätzen mitgestaltet hat, als es bei einer Rechtsprechung ordentlicher Gerichte der Fall gewesen wäre. Insgesamt kann man beim Übergang von einem prinzipiell freien zum gebundenen Kündigungsrecht der DDR eine Änderung der sozialen Funktion eines Rechtsinstituts bei gleichbleibender Struktur beobachten. Die theoretischen Grundlagen zu dieser Unterscheidung stammen von Karl Renner, der in einer fundamentalen Untersuchung von 1914 die Bedingungen solcher Funktionswandel anhand des Eigentums dargelegt hat.68 Die von Renner für das Eigentum beschriebenen Charakteristika eines Funktionswandels lassen sich auf die Kündigung teilweise übertragen. Renner unterstreicht, dass eine Analyse des Funktionswandels, die „gesellschaftliche Verknüpfung“, d.h. die „tätige Ausübung eines Rechts“, seine tatsächliche Anwendungsweise zu erfassen habe.69 Auch konnte Renner zeigen, dass sich die Funktion eines Rechtsinstituts in Wechselwirkung mit seinen „Konnexinstituten“ erschließt.70 Wie wichtig sie sind, hat man mit Blick auf das Recht auf Arbeit und später die Pflicht zur Arbeit in den Verfassungen der DDR gesehen.71 Beide haben Institute des Privatrechts überformt und funktional in eine andere Richtung gedrängt. Weniger akzentuiert wird bei Renner die Rolle von Gerichtsorganisation und Rechtsprechung für den Funktionswandel der Rechtsinstitute. Für die DDR zeigt sich hingegen, dass bestimmte Wechsel in den Prämissen privatrechtlicher Institute, wie Verstaatlichung und Bindung an gesellschaftliche Zwecke, auch auf justizieller Ebene, durch die konkrete Umgestaltung von Verfahrensabläufen erfolgen können.

68 Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts, Stuttgart 1965 (Nachdruck der Ausgabe von 1914). 69 Renner, Die Rechtsinstitute, S. 181 f. 70 Renner, Die Rechtsinstitute, S. 184 f. 71 Zu den öffentlich-rechtlichen Komplementärinstituten: Renner, Die Rechtsinstitute, S. 202 ff.

Sabine Rudischhauser

Eine andere Nation1 Überlegungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich, 1890–1918 / 19

„Trotz seiner grundlegend wichtigen Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts und trotz seiner langen Dauer ist das System der Tarifverträge historisch nur höchst unzureichend erforscht“, schreibt Karl Christian Führer 2004.2 Noch größer sind die Forschungsdesiderata hinsichtlich der Entwicklung des Tarifvertrags in Frankreich, nicht zuletzt wegen der schwierigen Quellenlage. Unter diesen Umständen könnte es als gewagt oder verfrüht erscheinen, vergleichende Überlegungen anzustellen. Forschungen zum französischen Tarifrecht könnten aber auch helfen, den Blick gerade eines deutschen Historikers auf das deutsche Tarifrecht zu verändern, als selbstverständlich angenommene Zusammenhänge in Frage zu stellen und Akteure und Handlungsebenen in den Vordergrund zu rücken, die bisher nicht im Blickfeld lagen. Die hier vorgestellten Überlegungen wollen deshalb nicht einen Beitrag zum systematischen Vergleich zweier ausgebildeter Tarifsysteme leisten, sondern zu einer Histoire croisée der historischen Prozesse, die zur Herausbildung des Tarifrechtes in Deutschland und Frankreich führten.3

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Der folgende Beitrag präsentiert einige Ergebnisse des Forschungsprojektes „Eine andere Nation. Die Entwicklung des Tarifvertrags im Spannungsfeld von lebendem Recht und positivem Recht in Deutschland und Frankreich, 1890–1918 / 19“, das von der Gerda-Henkel-Stiftung finanziert wird. Das aus diesem Projekt hervorgegangene Buch „Geregelte Verhältnisse. Eine Geschichte des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich 1890–1918 / 19“ wird demnächst erscheinen. Karl-Christian Führer, Tarifbeziehungen und Tarifpolitik als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: Ders., (Hrsg.), Tarifbeziehungen und Tarifpolitik in Deutschland im historischen Wandel, Bonn, Dietz, 2004, S. 7–25, hier S. 9. Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: Dies. (Hrsg.), De la Comparaison à l’Histoire croisée, Paris, Seuil, 2004, S. 15–49.

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Sabine Rudischhauser

1. Forschungsstand, Fragestellung und Methodik Vergleichende Darstellungen der Geschichte des Arbeitsrechtes und der Gewerkschaften in Deutschland und Frankreich gehen davon aus, dass sich Tarifverträge in Frankreich weit schwächer als in Deutschland entwickelten und sich deutlich später, nämlich erst mit den Accords de Matignon 1936, etablierten.4 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Praxis der Tarifverträge in Frankreich nie die gleiche Bedeutung für die Sozialverfassung und das Arbeitsrecht erlangt wie in der Bundesrepublik. Was die Beziehungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Organisationen angehe, so leide Frankreich unter einem historisch begründeten Defizit. Über die Ursachen dieser defizitären Entwicklung herrscht weitgehend Konsens, auch wenn die Gewichte unterschiedlich verteilt werden. Die als Jakobinismus bezeichnete Kombination von Etatismus und Individualismus, die jedes „Corps intérmédiaire“ als Bedrohung der individuellen Freiheit und zugleich der nationalen Einheit verbot, habe die Entwicklung starker Gewerkschaften und Arbeitgeber-Verbände behindert und verzögert. Revolutionäre, in viele Richtungen zersplitterte Gewerkschaften und autokratische Arbeitgeber hätten sich geweigert, Tarifverträge abzuschließen. Ausgangspunkt meines Forschungsprojektes war die Feststellung, dass für den Zeitraum zwischen 1890 und 1914 viele hundert französische Tarifverträge gedruckt vorliegen, die von der Forschung bisher weitgehend ignoriert wurden. Schon aus diesen, im Anhang der amtlichen Statistique des grèves5 veröffentlichten Tarifverträgen ergab sich, dass um 1905 ein ebenso hoher Prozentsatz französischer wie deutscher Arbeitnehmer in einem tarifvertraglich geregelten Arbeitsverhältnis stand. In den Archiven fanden sich zudem schnell weitere Tarifverträge, die die Statistique des grèves nicht abgedruckt hatte.6 Dieser Fund wirft natürlich die Frage auf, warum diese 4

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Leo Kißler / René Lasserre, Tarifpolitik. Ein deutsch-französischer Vergleich, Frankfurt a. M. , Campus,1987, S. 23; Patrick Fridenson, Le conflit social, dans: André Burguière, Jacques Revel (Hrsg.), Histoire de la France. Bd. Les conflits, hrsg. von Jacques Julliard, Paris, Seuil, 2000, S. 479. Office du travail, Statistique des grèves et des recours à la conciliation et l’arbitrage, Paris, Imprim. Nationale, 1893–1914. Eine ausführliche Kritik der deutschen und französischen Tarifstatistik im Kapitel „Sammeln und zählen“ in Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse (wie Fn. 1). Festzuhalten ist insbesondere, dass die Angaben der offiziellen französischen Tarifvertragsstatistik über die Zahl der abgeschlossenen Tarifverträge einen falschen Eindruck vermitteln. Gezählt wurden nämlich nur diejenigen Tarifverträge, die dem Arbeitsministerium im Text vorlagen, nicht aber alle diejenigen, von deren Abschluss das Ministerium erfahren hatte. Eigene Erhebungen zur Zahl der bestehenden Tarifverträge, wie sie das deutsche Kaiserliche Statistische Amt ab 1903 durchführte, unternahmen die französischen Behörden zu keinem Zeitpunkt.

Das Tarifvertragsrecht in Deutschland und Frankreich, 1890–1918 / 19

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Tarifverträge so lange unbemerkt bleiben konnten und wie sich die Legende vom französischen Defizit überhaupt bilden konnte. Er lässt Zweifel am hergebrachten Bild der französischen Gewerkschaften und Arbeitgeber aufkommen. Schließlich ergeben sich Fragen zum Verhältnis zwischen bestehendem Recht und einer sich entwickelnden tariflichen Praxis und Fragen zum Verhältnis dieser Tarifpraxis zum im gleichen Zeitraum geschaffenen nationalen Tarifrecht. Um diese letztgenannten Fragen geht es im Folgenden. a. Le Chapelier und der Tarifvertrag

Die Tatsache, dass Tarifverträge in Frankreich vor 1914 viel weiter verbreitet waren als bisher angenommen, stimmt mit den Ergebnissen der neueren politik- und sozialhistorischen Forschung überein. Diese nimmt kräftige Abstriche am tocquevilleanischen Bild der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vor und misst den Abstand aus, der zwischen dem jakobinischen Diskurs vom „Intérêt général“ und der sozialen Praxis bestand.7 Dabei ist unbestritten, dass das Gesetz Le Chapelier von 1791 die Entwicklung des kollektiven Arbeitsrechts in Frankreich und insbesondere die juristische Doktrin geprägt hat.8 Dass der Anti-Korporatismus des französischen Rechts keine Legende ist, lässt sich sehr gut am Urteil des Tribunal civil von Saint-Etienne vom 29.6.1876 zeigen.9 Geklagt hatte die Union de la fabrique de rubans, eine Vereinigung der Verleger und Heimweber der Bandweberei von Saint-Etienne, gegen ein Mitglied, einen Verleger, der den von der Union aufgestellten Stücklohntarif missachtet hatte und sich weigerte, die nach der Satzung fälligen Strafgelder zu zahlen. Das Gericht wies die Klage ab mit der Begründung: «Attendu que de cet ensemble de stipulations il résulte que l’ouvrier n’est plus libre de discuter ses salaires et le patron ses prix; qu’entre eux se place un syndicat qui ne connaît 7

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Vgl. den Literaturbericht von Claire Lemercier, La France contemporaine: une impossible société civile?, in. Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine, 52, 2005, S. 166–179, zu den Arbeiten von Jean-Pierre Hirsch, Steven L. Kaplan, Pierre Rosanvallon, Philipp Minard. Alain Plessis (Hrsg.), Naissance des libertés économiques: liberté du travail et liberté d’entreprendre: le décret d’Allarde et la loi Le Chapelier, leurs conséquences, 1791 – fin XIXe siècle, Paris, Institut d’histoire de l’industrie, 1993; vgl. Spiros Simitis, Die Loi le Chapelier: Bemerkungen zur Geschichte und möglichen Wiederentdeckung des Individuums, in: Kritische Justiz 22, 1989, S. 157–175. Abgedruckt in: Office du travail, Les Associations professionnelles ouvrières, Bd. II, Paris, Impr. Nationale, 1902, S. 352.

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que la volonté de la majorité des membres de l’association, qui en publie les résolutions et qui les fait exécuter, que les ouvriers et les patrons de l’union stéphanoise ne sont pas seulement liés les uns vis-à-vis les autres, mais encore vis-à-vis des tiers; qu’ils ne peuvent traiter qu’en se conformant aux tarifs votés par le plus grand nombre …; qu’ainsi leur liberté individuelle est aliénée au profit de la majorité s’ils n’en font partie, et qu’une telle convention, qu’elle soit à terme ou indéfinie, est absolument nulle parce qu’elle est contraire aux règles de l’ordre public.»

Diese Urteilsbegründung bezieht sich sprachlich und inhaltlich direkt auf den Text und die Motive des Gesetzes Le Chapelier. Stein des Anstoßes ist die Unterordnung der individuellen Vertragsfreiheit unter die Beschlüsse einer Mehrheit. Dabei bleibt unbeachtet, dass sich der Beklagte ja aus freien Stücken der Vereinigung angeschlossen und den Beschlüssen der Mehrheit unterworfen hat; dass seine Verpflichtung, Bußgelder zu zahlen, wenn er gegen den Tarif verstößt, also auf seiner freien Willensentscheidung beruht. Dieses Urteil, das gerne als erste Entscheidung eines französischen Gerichtes zur Rechtswirkung von Tarifverträgen zitiert wird, gilt als Beleg für den Anti-Korporatismus, genauer: die feindliche Haltung großer Teile der Justiz gegenüber Vereinigungen, ob Gewerkschaften, Arbeitgeber-Verbänden oder, wie in diesem Fall, Vereinigungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die die individuelle Vertragsfreiheit einschränkten, indem sie eine kollektive Willensbildung organisierten, Mitglieder Regeln unterwarfen und Regelverstöße sanktionierten. Wenn man annimmt, dass die französische Justiz bis 1884 und, wie wir sehen werden, zum Teil auch noch nach dem Berufsvereinsgesetz von 1884 diese Position vertrat, ist es aber umso bemerkenswerter, dass sich in Saint-Etienne eine solche Vereinigung gebildet hatte, dass ihr fast alle Verleger und Heimweber beigetreten waren, sich über einen Stücklohntarif und Sanktionen verständigt hatten und die verhängten Bußgelder vor Gericht einklagten. Offensichtlich waren die Beteiligten von der Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens überzeugt.10 Der Vorgang verweist darauf, dass im Frankreich der III. Republik unterschiedliche Rechtsordnungen existierten, die sich gegenseitig teilweise ignorierten: Verlegern und Heimarbeitern war nicht bewusst, dass ihr Vorgehen gegen die Grundsätze des öffentlichen Rechts (Ordre public) verstieß; Richter am Zivilgericht sprachen der 10 ������������������������������������������������������������������������������������� Dieser Aspekt scheint uns interessanter als die bloße Tatsache, dass es den französischen Behörden nie gelungen war, Arbeitnehmer und Arbeitgeber dauerhaft daran zu hindern, sich zu organisieren, die entsprechenden Strafgesetze also nicht vollständig umgesetzt wurden. Vgl. Jürgen Brand, Vollzugsdefizit oder Grenze der eigenen Rechtsordnung? Zur Herausbildung der Gewerbe- und Arbeitsgerichtsbarkeit im 18. und 19. Jahrhundert, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1992, S. 293–316.

Das Tarifvertragsrecht in Deutschland und Frankreich, 1890–1918 / 19

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Vereinbarung, die die Beteiligten als rechtlich bindend betrachteten, jeden Rechtscharakter ab. Sie verurteilten empört eine Form von Vertrag als rechtswidrig,11 die, wie wir sehen werden, in zahlreichen Gewerben üblich war. Der Titel „Eine andere Nation“ bezieht sich auf diese Kluft zwischen den beiden Rechtsordnungen, dem Recht der am Tarifvertrag Beteiligten und dem in Doktrin und Gesetzgebung verankerten Recht, das die Richter am Zivilgericht anwendeten. Er zitiert Philipp Lotmar, der in seinem 1902 erschienenen großen Werk „Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches“ bemerkte, die Juristen gehörten, was den Arbeitsvertrag angehe, gewissermaßen einer anderen Nation an.12 Lotmar konstatiert also für Deutschland das gleiche Phänomen, das wir am Beispiel von Saint-Etienne für Frankreich hervorgehoben haben. Für die hier verfolgte Fragestellung zentral ist die Beobachtung, dass jede der beiden „Nationen“ ihr eigenes Recht hat, dass die Kluft zwischen Juristen und Laien, die hier zutage tritt, also nicht eine Kluft zwischen Praxis und Recht, Realität und Norm ist. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Vereinbarungen als rechtlich bindende verstehen, rechtlich wirksame Regeln und Normen festlegen wollen und deren Durchsetzung auf dem Rechtsweg anstreben. Die Entscheidung, vor Gericht zu ziehen, ist bezeichnend für das Rechtsbewusstsein und den Grad der Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dennoch gilt es zu beachten, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auch dann innerhalb ihrer eigenen Rechtsordnung bewegen, wenn eine Tarifverletzung nicht vor Gericht gebracht wird, sondern mit Sperre oder Streik beantwortet wird. Auch in diesem Fall kommen verbindliche Regeln zur Anwendung, die die Beteiligten selbst z. B. in ihrer Gewerkschaftssatzung festgelegt oder auch vertraglich 11 ��������������������������������������������������������������������������������������� Es ließe sich einwenden, dass hier kein Vertrag vorlag, der zwischen den getrennt organisierten Parteien der Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossen worden wäre, sondern formal die Satzung einer Vereinigung, der beide Seiten angehörten. Diese Satzung wurde jedoch nicht zufällig vom Gericht als „convention“ bezeichnet, da sie zwischen beiden Seiten ausgehandelt worden war. Der Tarifvertrag der Bandweber von SaintEtienne wäre so vergleichbar mit den in Deutschland relativ häufigen Tarifverträgen zwischen Innungsmeistern und dem Gesellenausschuss der Innung. In Frankreich lässt das Gesetz von 1884 ausdrücklich gemischte Berufsvereine zu, weil die Syndicats professionnels nicht als Koalitionen verstanden werden, die mit Hilfe von Arbeitskampfmaßnahmen günstigere Arbeitsbedingungen anstreben. Sabine Rudischhauser, Liberté du travail, liberté syndicale et liberté de grève: le rôle des parlementaires libéraux dans le développement du droit du travail en France et en Allemagne (1890–1914), in: JeanPierre Le Crom (Hrsg.), Les acteurs de l’histoire du droit du travail, Rennes, PUR, 2004, S. 123–137. 12 Philipp Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, Bd.1, Leipzig 1902, S. 26.

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mit der Gegenseite vereinbart haben. Die Tarifpraxis entwickelt sich also nicht als bloße Sitte, der dann irgendwann ein von Justiz und Gesetzgebung geschaffenes Tarifrecht Gestalt gibt. Sie entwickelt sich auch nicht „auf dem Boden“ oder „im Rahmen“ staatlich gesetzter Regeln: Beide Metaphern sind irreführend, wenn man das Verhältnis zwischen den beiden Rechtsordnungen beschreiben will. Koalitionsrecht, Strafrecht, Vereinsrecht, Gerichtsverfassungsrecht und Schlichtungsrecht, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen, wirken nicht nur als Zwang von außen, der den Handlungsspielraum der Akteure einengt.13 Sie stellten gerade im hier betrachteten Zeitraum auch Ressourcen dar, die die Akteure mobilisieren und nutzen konnten, um ihr Recht, ihre Regeln durchzusetzen und abzusichern, und sie waren selbst das Ergebnis des Handelns dieser Akteure.14 Unter dem Eindruck von Streiks, die trotz aller Repressionsmaßnahmen immer wieder organisiert wurden, und von Vereinigungen, die sich trotz aller Verbote immer wieder neu konstituierten, wurde die Anwendung von Koalitionsverboten ausgesetzt und Chambres syndicales toleriert. Gesetze wie das französische Berufsvereinsgesetz oder das deutsche Gewerbegerichtsgesetz waren auch Reaktionen auf politische Forderungen der Arbeiterbewegung. Für die Entwicklung des Tarifrechts ebenso wichtig war, wie sich Rechtsprechung und Doktrin durch die Auseinandersetzung mit der Rechtsordnung der Beteiligten, nämlich mit Tarifverträgen, wandelten, und so die Grundlage für die spätere Gesetzgebung legten. Man könnte von einer Dialektik von Entdeckungen sprechen, da die Juristen den Tarifvertrag in dem Augenblick entdeckten, in dem die Tarifparteien das Arbeitsrecht entdeckten.15 Tatsächlich wurde in Frankreich die dogmatische Auseinandersetzung mit dem Tarifvertrag ganz wesentlich durch Gerichtsentscheidungen vorangetrieben, die Gewerkschaften gegen tarifbrüchige Arbeitgeber erstritten.16 Bei genauerem Hinschauen entdeckten jedoch nur die Juristen Neuland, weil organisierte Arbeitgeber und Arbeitnehmer schon früher Konflikte vor Gericht ausgetragen 13 ���������������������������������������������������������������������������������� Die Bedeutung des staatlich gesetzten Rechtes für die Entwicklung der Gewerkschaften unter der Überschrift «Les contraintes de la loi» abzuhandeln, greift deshalb m.E. zu kurz. Norbert Olszak, Chris Wrigley, Les contraintes de la loi, in: Jean-Louis Robert / Friedhelm Boll / Antoine Prost (Hrsg.), L’invention des syndicalismes. Le syndicalisme en Europe occidentale à la fin du XIXe siècle, Paris, Publications de la Sorbonne, 1997. 14 Für einen solchen Versuch, Strukturen, Handeln und Repräsentationen zusammen zu denken, exemplarisch Bénédicte Zimmermann, Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie, Frankfurt a. M. , Campus, 2006, S. 12–17, dort auch Literatur zu den theoretischen Grundlagen. 15 Thomas Blanke, Die Entdeckung des Arbeitsrechtes durch die Gewerkschaften, in: Arbeit und Recht. Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis, Heft 4, 1994, S. 113–122. 16 Claude Didry, Naissance de la Convention collective. Débats juridiques et luttes sociales en France au début du 20e siècle, Paris, Ed. de l’EHESS, 2002.

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hatten, zumindest dort, wo für ihre Zwecke geeignete Gerichte bestanden, nämlich mit Laien besetzte Conseils de prud’hommes und Gewerbegerichte. Tarifrecht entstand auch, indem sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer an diese Gerichte wandten und durch gewählte Richter selbst die Rechtsprechung der Conseils de prud’hommes und Gewerbegerichte formten. Deshalb interessiert uns die Interaktion der beiden Rechtsordnungen, die Frage: Wie wirkt staatlich gesetztes Recht auf die Rechtsordnung der am Tarifvertrag beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer? Wie wirken ihre Normen auf das sich herausbildende kollektive Arbeitsrecht? Quellen für die Rechtsordnung der Beteiligten sind die Texte der im Zuge des Forschungsprojektes gesammelten französischen Tarifverträge, die mit den Texten der bekannten und veröffentlichten deutschen Tarifverträge verglichen werden können. Zu den Voraussetzungen eines solchen Vergleichs gehört, wie im Folgenden dargelegt wird, die Erstellung einer Typologie, die sich von den Kategorien der nationalen Tarifstatistik löst. Welche Bedeutung die einzelnen Typen von Tarifverträgen für die Entwicklung der Rechtsprechung und Doktrin erlangten, wird im dritten Teil an einigen Beispielen dargestellt. b. Voraussetzungen für einen deutsch-französischen Vergleich der Entwicklung des Tarifrechtes

Unser Fallbeispiel macht deutlich, dass Recht nur ein Faktor ist,17 der die Entstehung und Entwicklung von Tarifverträgen beeinflusste. Bei den Bandwebern von SaintEtienne bestand ja offensichtlich ein wirtschaftliches Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern am Abschluss eines Tarifvertrages und an der Durchsetzung von Regeln zur Begrenzung der Konkurrenz. Wenn wirtschaftliche Motive auf beiden Seiten eine zentrale Rolle spielten, so folgt daraus auch, dass der Tarifvertrag nicht allein eine Errungenschaft der Gewerkschaften war und sich seine Entstehung und Verbreitung nicht allein aus Stärke und Strategie der Gewerkschaften ableiten lässt. Für die Geschichte des deutschen Tarifrechts war allerdings die Zunahme der Zahl der Tarifverträge gleichbedeutend mit der zunehmenden Anerkennung der Gewerkschaften, so dass das Stinnes-Legien-Abkommen von 1918 den entscheidenden Durchbruch brachte. In der deutschen Forschungsliteratur findet man deshalb häufig die Annahme, dass Tarifverträge überhaupt nur von starken Gewerkschaften erkämpft werden könnten. Das vorgebliche französische Defizit im Bereich der Ta17 Zum Faktor Recht s. Joachim Rückert, Stadt-Land-Recht-Agglomeration, in: Stadt – Gemeinde – Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, hrsg. von A. Cordes, J. Rückert und R. Schulze, Erich Schmidt-Verlag 2003, S. 253– 289.

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rifbeziehungen wird dann ganz einfach damit erklärt, dass der Anti-Korporatismus die Herausbildung starker Gewerkschaften erschwert und verzögert habe, und damit den Abschluss von Tarifverträgen wenn nicht verhindert, so doch behindert habe. Die Tatsache, dass in Frankreich vor 1914 doch in erheblichem Umfang Tarifverträge abgeschlossen wurden, wirft also eine Reihe von Fragen zu den Parteien des Tarifvertrages auf und zugleich zu den Voraussetzungen eines deutsch-französischen Vergleichs der Entwicklung des Tarifrechts. Das französische Gesetz über die Tarifverträge von 1919 definiert als Tarifvertrag auch solche Vereinbarungen, die auf Arbeitnehmer-Seite nicht von Gewerkschaften, sondern einem „Groupement“, einer unorganisierten Mehrheit von Arbeitnehmern abgeschlossen wurden, z. B. von der Belegschaft eines Betriebes oder von einem spontanen, vorübergehenden Zusammenschluss von Streikenden, vertreten durch ein Streikkomitee. Die Forschung erklärt diese Entscheidung des Gesetzgebers, die der herrschenden Meinung entsprach, mit den sozialen Gegebenheiten: Solche „unbegrenzten“ Tarifverträge seien in Frankreich vor 1914 viel häufiger, von Verbänden abgeschlossene Tarifverträge viel seltener als in Deutschland gewesen, so dass der Gesetzgeber, wollte er nicht an der Realität vorbeigehen, zu einer Definition gelangen musste, die unbegrenzte Tarifverträge einschloss.18 Diese Erklärung ist schon deshalb problematisch, weil der statistische Nachweis nicht erbracht werden kann. In Deutschland wurden ab 1906 unbegrenzte Tarifverträge gar nicht erfasst, da sich die offizielle Statistik auf Gewerkschaftsangaben stützte.19 Die einhellige Überzeugung der Sozialreformer, dass nur solche Tarifverträge, die auf Anerkennung der Gewerkschaften beruhten, wirkliche Tarifverträge seien, dass nur von Gewerkschaften geschlossene Tarifverträge die erhofften wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen nach sich zögen, trug schon sehr früh zur Verengung der Definition bei. Bereits 1908 schloss der Deutsche Juristentag unbegrenzte Tarifverträge als unerheblich aus seinen Erörterungen aus.20 Juristisch ließ sich die Ansicht, von Gewerkschaften abgeschlossene Tarifverträge seien, wenn nicht die einzig wirklichen, so doch die einzig funktionierenden, auf alle Fälle bessere Tarifverträge, gut begründen. Aus dieser Perspektive erschienen unbegrenzte Tarifverträge als eine primitive, 18 Didry, Naissance (wie Fn. 16), S. 195 und 225. 19 Friedhelm Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich. Ihre Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert, Bonn, J.H.W. Dietz, 1992, S. 293; Die Weiterbildung des Tarifvertrags im Deutschen Reich, Beiträge zur Arbeiterstatistik, Bd. 8, Berlin, C. Heymans, 1908, ab 1909 jährlich: Die Tarifverträge im Jahre 19…, Sonderbeilage zum Reichsarbeitsblatt. 20 Sabine Rudischhauser, Tarifvertrag und bürgerliche Öffentlichkeit. Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte der Anfänge des Tarifrechts in Deutschland und Frankreich 1890–1918 / 19, http: /  / www.forhistiur.de / zitat / 0511rudischhauser.htm.

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archaische Form, so wie der nicht von einer Gewerkschaft organisierte Streik als Erscheinung aus den Anfangsjahren der Arbeiterbewegung galt. Tarifverträge wurden von zeitgenössischen Statistikern und Sozialreformern in eine Hierarchie eingeordnet, an deren Spitze in Deutschland der Buchdruckertarif stand, ein zwischen starken Parteien abgeschlossener, reichsweit gültiger, von ständigen paritätischen Schiedskommissionen überwachter, auf begrenzte Zeit abgeschlossener Tarifvertrag. Der Buchdruckertarif entsprach dem Ideal der Sozialreformer von der Organisation eines ganzen Gewerbes und dem Verzicht auf Streik während der Dauer des Tarifvertrags zugunsten friedlich-schiedlicher Konfliktlösung durch Schlichtungskommissionen, hier Tarifämter genannt. Aus diesem Ideal leiteten sich die Kategorien ab, nach denen Tarifverträge in Deutschland und Frankreich statistisch erfasst, eingestuft und verglichen wurden: von Gewerkschaften abgeschlossen oder nicht, befristet oder nicht, mit Schlichtungskommission oder ohne.21 Ein Tarifvertrag war danach umso besser, je mehr er formal einem privatrechtlichen Vertrag entsprach. Eine unbegrenzte, unbefristete Vereinbarung lässt sich nur schwer als schuldrechtlicher Vertrag konstruieren; sie ähnelt mehr einer öffentlich-rechtlichen Satzung. Die Entwicklung vertraglicher Klauseln und klarer Verpflichtungen der Parteien gegeneinander wurde in Deutschland als Fortschritt verstanden und erscheint rückblickend als Entwicklung hin zu dem Tarifrecht, das wir heute kennen. Diese Entwicklung war aber zum Teil, wie das Beispiel des Ausschlusses der unbegrenzten Tarifverträge aus der Tarif-Statistik zeigt, das Ergebnis einer self-fulfilling prophecy, zum Teil das Ergebnis massiver Interventionen Dritter, nämlich der Vorsitzenden der Gewerbegerichte, die von sozialreformatorischen Idealen geleitet die Parteien zur Einrichtung von Schiedskommissionen, Friedensklauseln und dergleichen drängten. Eine derart teleologische Perspektive mit dem heutigen deutschen Tarifrecht als Fluchtpunkt scheint deshalb für die historische und insbesondere die vergleichende Forschung ungeeignet. Eine vergleichende Geschichte des Tarifvertragsrechts darf nicht ohne weiteres die Ideale und die daraus abgeleiteten Normen der Sozialreformer übernehmen, um die französische und deutsche Tarifpraxis vor 1914 daran zu messen.22 Ähnliches gilt für den Inhalt von Tarifverträgen. Gemessen an dem Katalog, den das französische Gesetz vom 24.6.1936 für den Inhalt eines Tarifvertrages aufstellte, 21 Bulletin de l’Office du travail, 1912, S. 462 f. 22 ����������������������������������������������������������������������������������� Sie kann insbesondere nicht die 1918 kodifizierte deutsche Definition des Tarifvertrags übernehmen, die ja das Ergebnis der Entwicklung ist, die hier analysiert werden soll. Als Ausgangspunkt der Untersuchung kann Lotmars Definition dienen, die den Vorteil aufweist, dass sie von den französisch Juristen übernommen wurde: „Verträge…, welche für unter den Kontrahenten künftig abzuschließender Arbeitsverträge die Lohn- und Arbeitsbedingungen … festsetzen.“ Philipp Lotmar, Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik XV, 1900, S. 1–122, hier S. 29.

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waren die Tarifverträge vor 1914 zu großen Teilen fragmentarisch und regelten nur wenige Aspekte des Arbeitsverhältnisses.23 Mindestanforderungen an den Inhalt eines Tarifvertrages zu stellen, ist aber problematisch, weil ihr Text nur regelte, was strittig war und was den Beteiligten zu regeln wichtig schien. Der Inhalt eines Tarifvertrages hing also, solange kein von Juristen erstellter Katalog von Normativbestimmungen existierte, von dem sozio-ökonomischen Kontext ab, in dem der Tarifvertrag entstand. Um die Entwicklung des Tarifrechts in Deutschland und Frankreich vergleichen zu können, müssen Tarifverträge wie derjenige der Bandweber von Saint-Etienne in ihrem spezifischen Kontext verortet und Form und Inhalt aus den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen erklärt werden, ohne ein Bewertungsschema zugrunde zu legen. Dabei erweist es sich als ungenügend, Tarifverträge nach Branchen zu gruppieren. Die Branche ist eine von der zeitgenössischen Wirtschaftsstatistik recht willkürlich konstruierte Kategorie, wonach die Schreiner zur Holzindustrie, die Schlosser zur Metallindustrie zu rechnen sind, auch wenn beide Gruppen mehrheitlich als Bauschreiner und Bauschlosser im Baugewerbe arbeiten. Auch die Gruppierung von Tarifverträgen nach Berufen ist nicht befriedigend, da sie nicht erlaubt, zwischen Tarifverträgen von Schuhmachern im Handwerk und Tarifverträgen von Schuhmachern zu unterscheiden, die in der industriellen Produktion Konfektionsware fertigen. Das gleiche Problem stellt sich, wie Ehmer gezeigt hat, bei allen Massenberufen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.24 Hilfreich kann es hier sein, den Ansatz von Didry und Salais aufzugreifen, die auf der Grundlage des von Salais und Storper entwickelten Modells der Produktionswelten25 Tarifverträge nach der Art des Produktes unterscheiden, dessen Produktion der Tarifvertrag regelte. In diesen Ansatz kann auch die Unterscheidung zwischen Zeitlohn und Stücklohn integriert werden. Allerdings soll nicht, wie es die deutsche Statistik tat, nach Zeitlohn- und Akkordlohngewerbe unterschieden werden, als ob die Art der Lohnzahlung ein unabänderliches Kennzeichen eines Gewerbes

23 Vgl. Vincent Viet, L’organisation par défaut des relations sociales: éléments de réflexion sur le rôle et la place de l’Etat dans le système français des relations sociales (1880– 1939), in: Le Crom, Les acteurs (wie Fn. 11), S. 189–211, hier S. 196. 24 Josef Ehmer, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. , Campus, 1994, S. 301. 25 Robert Salais / Michael Storper, Les Mondes de production. Enquête sur l’identité économique de la France, Paris, Ed. de l’EHESS, 1993; Claude Didry / Robert Salais, L’écriture des conventions du travail entre le métier et l’industrie, un moment critique: Les conventions collectives de 1936–1937, in: Annette Jobert et al. (Hrsg.), Les conventions collectives de branche. Déclin ou renouveau?, Centre d’études et de recherches sur les qualifications, Etude No 65, Paris, La Documentation Française, 1992, S. 77–94.

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wäre, sondern zwischen Zeitlohn- und Stücklohntarifen, die inhaltliche und formale Besonderheiten aufweisen.26

2. Versuch einer historischen Typologie des Tarifvertrags Angesichts der extremen Vielfalt französischer und deutscher Tarifverträge vor 1914 ist mit der Konstruktion einer Typologie die Gefahr verbunden, eine unüberschaubare Menge von Typen und Untertypen zu schaffen. Um dem zu entgehen, wurden lediglich drei große, klar voneinander abgegrenzte Typen definiert, die es erlauben, die Mehrzahl der vorgefun­denen Tarifverträge, wenn auch bei weitem nicht alle, durch ihre mehr oder minder große Nähe zu diesen Typen zu charakterisieren.27 Alle Angaben beziehen sich auf vor 1906 abgeschlossene Tarifverträge. Diese zeitliche Begrenzung ermöglicht es, für Deutschland die Tarifverträge heranzuziehen, die das Kaiserliche Statistische Amt für das 1906 erschienene dreibändige Werk „Der Tarifvertrag im Deutschen Reich“ gesammelt und ausgewertet hatte.28 Nur in diese Sammlung, nicht jedoch in die späteren amtlichen Veröffentlichungen, wurden auch unbegrenzte Tarifverträge aufgenommen. a. Die Tarifverträge des Bauhandwerks – erster Typ

Dieser Typ von Tarifvertrag ist in beiden Ländern mit Abstand der häufigste, und der in absoluten Zahlen von tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bedeutendste. Maurer, Zimmerer, Schreiner, Dachdecker, Schlosser, Maler, Gipser, Spengler, Klempner, Installateure, Ofensetzer, Tapezierer usw. arbeiteten für einen lokalen Markt, auf dem eine Vielzahl mittlerer, kleiner und kleinster Betriebe in scharfer Konkurrenz zueinander stand, jedoch nicht in Konkurrenz zu auswärtigen 26 Auch dann, wenn es sich um Zeitlohn- und Stücklohntarife der gleichen Branche handelt, wie man leicht am Beispiel der Tarifverträge der Böttcher feststellen kann. So ähnelte der Tarifvertrag der Freiburger Küfer von 1905, der Zeitlohn festlegte, in keiner Weise dem Tarifvertrag einer Kasseler Fassfabrik von 1904, wo Stücklohn bezahlt wurde, und dieser wiederum nicht dem Tarifvertrag der Böttcher von Saint-Macaire von 1898, die einen einheitlichen Stücklohn für die ganze Region festlegten, der die Konkurrenz der kleinen Betriebe untereinander regeln sollte. Reicharbeitsblatt III, 1904, S. 897; Der Tarifvertrag im Deutschen Reich, Beiträge zur Arbeiterstatistik, Bd. III, Berlin, C. Heymans, 1906, S. 184–186; Statistique des grèves 1898, S. 214 f. 27 Zur Konstruktion der Typologie und der Zuordnung der verschiedenen Tarifverträge ausführlich Rudischhauser, Geregelte Verhältnisse (wie Fn. 1). 28 Tarifvertrag im Deutschen Reich (wie Fn. 26).

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oder gar ausländischen Betrieben.29 Der Tiefbau bzw. die Travaux publics zählen nicht zum Bauhandwerk; dort dominierten große Betriebe, herrschten andere Konkurrenzbedingungen und wurden völlig andere Tarifverträge abgeschlossen. Tarifverträge im Baugewerbe setzten immer und überall Zeitlohn fest und regelten die Arbeitszeit. Typisch für diese Tarifverträge sind in Deutschland wie in Frankreich Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit und Überlandarbeit, also Arbeit außerhalb der Stadtgrenzen. In einzelnen Baunebengewerben finden sich auch Akkordtarife; diese beziehen sich aber immer auf einen vereinbarten Zeitlohn als Mindestlohn. Die Versuche vieler deutschen Arbeitgeber-Verbände im Baugewerbe, feste Leistungen pro Stunde zu definieren, änderten nichts daran, dass Zeitlohn gezahlt wurde, weil die Tarifverträge eine Herabsetzung des Lohnes bei Minderleistung nicht zuließen. Die Lohndifferenzierung orientierte sich an der Person des Arbeitnehmers, d.h., der Tarifvertrag unterschied zwischen Lehrlingen und gelernten Arbeitern, fähigen und minderleistungsfähigen, alten oder invaliden Arbeitern. Je mehr Erfahrung die Verhandlungsparteien besaßen, umso genauer wurde im Tarifvertrag definiert, wer als fähiger, tüchtiger, ausgelernter Arbeiter anzusehen war, und umso mehr objektive Kriterien wie Alter und Dauer der Beschäftigung wurden eingeführt. Diese Tarifverträge des Bauhandwerks waren weit verbreitet. Sie wurden in Frankreich wie in Deutschland keineswegs nur in Großstädten abgeschlossen, sondern finden sich noch in den kleinsten Dörfern. Tarifverträge zwischen vier Meistern und zwölf Gesellen waren daher keine Seltenheit. Die Häufigkeit solcher Tarifverträge und die oft schnellen, unkomplizierten Tarifverhandlungen verweisen darauf, dass Tarifverträge im Bauhandwerk vielerorts zur gesellschaftlichen Normalität gehörten. Einheitliche, für alle gleiche Arbeitsbedingungen erschienen den kleinen Meistern und ihren wenigen Gesellen als selbstverständlich. Die geringe Anzahl der am Tarifvertrag Beteiligten erklärt, weshalb solche Tarifverträge häufig nicht von einer Gewerkschaft abgeschlossen wurden. Kritisch anzumerken, es fehle die Einrichtung einer ständigen Schiedskommission, wie es das Bulletin de l’Office du travail tat, geht an der sozialen und wirtschaftlichen Realität dieser Tarifverträge völlig vorbei. Auch, wenn sie nicht gewerkschaftlich organisiert waren, verfügten Arbeitnehmer im Bauhandwerk in der Regel über eine hohe Streikfähigkeit. Ihr bestes Druckmittel war ihre hohe Mobilität, die Fähigkeit, jederzeit den Arbeitgeber zu wechseln und gegebenenfalls auch den Ort zu verlassen. Zugleich besaßen aber in beiden Ländern Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Organisationen im Baugewerbe eine alte Tradi29 Der lokale Markt machte natürlich nicht an den Stadtgrenzen halt, sondern umfasste die benachbarten Orte und war umso größer, je besser die Verkehrsverbindungen und je dichter die Besiedelung war. Nicht zufällig galt der Tarifvertrag der Maurer von 1899 für „Berlin und Umgebung“, der 1905 in Essen abgeschlossene Tarifvertrag für das Baugewerbe des rheinisch-westfälischen Industriegebietes.

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tion; wenn in einer französischen Stadt Arbeitgeber-Verbände bestanden, so war der Arbeitgeber-Verband der Bauunternehmer in der Regel der älteste.30 Weil für die Jahre vor 1910 keine französische Tarifstatistik existiert, liegen auch keine Angaben zu den Tarifparteien vor. Aber laut Streikstatistik bestand in 38 % der Arbeitskämpfe im Baugewerbe, die zu einem Tarifvertrag führten, ein Arbeitgeber-Verband, in 77 % der Fälle eine Gewerkschaft.31 Von den 1906 bestehenden Tarifverträgen im deutschen Baugewerbe wurden 56 % von Gewerkschaften abgeschlossen, 27 % von Arbeitgeber-Verbänden, weitere 27,5 % von einer Innung. Daraus folgt, dass unbegrenzte Tarifverträge zwischen „den Meistern“ und „den Gesellen“ in Deutschland mindesten so häufig waren wie in Frankreich. Auffallend ist die starke Präsenz der Innungen, die in manchen Gewerben, z. B. den Malern und den Glasern, über 60 % aller Tarifverträge abschlossen. Dieser Rolle der Innungen entsprach die rechtliche Form des Tarifvertrages, der immer als für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer am Ort gültiger Ortstarif abgefasst war, als „Platzordnung“. Tarifverträge im Bauhandwerk unterschieden weder in Deutschland noch in Frankreich zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sondern galten, wie z. B. der große Tarifvertrag im Berliner Baugewerbe von 1899, „für alle Baustellen in Berlin und den Vororten“. Zwar wurde häufig die Unterschrift der einzelnen Arbeitgeber eingeholt, was insbesondere in kleinen Orten nahe lag, aber auch in Großstädten üblich war, um während des Arbeitskampfes Druck auf diejenigen Arbeitgeber auszuüben, die sich noch weigerten, den Forderungen der Arbeitnehmer nachzugeben. Diese Arbeitskampftaktik hatte nur eingeschränkte rechtliche Konsequenzen. Ein Tarifvertrag im Bauhandwerk galt vor Gericht, ob der beklagte Arbeitgeber ihn unterschrieben hatte oder nicht, als Verkehrssitte (Usage), die Arbeitgeber und Arbeitnehmer verpflichtete, wenn nichts anderes ausdrücklich vereinbart war. In welchem Ausmaß und auf welche Weise die Arbeitgeber-Verbände und Innungen sicherstellten, dass kein Arbeitgeber vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen traf, ist von Ort zu Ort unterschiedlich und nur schwer nachzuweisen. Bei den Innungen war es üblich, Innungsmitglieder, die gegen den Tarifvertrag verstießen, mit Strafen zu belegen. Versuche, den § 152 der Gewerbeordnung auf sie anzuwenden und sie wie andere Arbeitgeber-Vereinigungen als Koalitionen zu behandeln, stießen sich am Rechtsbewusstsein der Innungen, d.h.

30 So schon Wilhelm Lexis, Gewerkvereine und Unternehmerverbände in Frankreich, Leipzig, Duncker & Humblot, 1879; vgl. François Robert, La régulation de la concurrence: pratiques syndicales dans les industries du bâtiment du Rhône (1862–1900), in: Pierre Vernus (Hrsg.), Les organisations patronales. Une approche locale (XIXe–XXe siècles), Cahier No 1 du Centre Pierre Léon, 2002, S. 51–69. 31 Eigene Zahlen auf der Grundlage der Statistique des grèves, 1893 bis 1906.

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an der Existenz einer anderen Rechtsordnung.32 Die deutschen Arbeitgeber-Verbände im Baugewerbe bedauerten zwar, dass der § 152 sie hindere, Strafen einzuklagen,33 doch verfügten sie über vielfältige Möglichkeiten, tarifbrüchige Arbeitgeber die Missbilligung der Kollegen fühlen zu lassen. Die Arbeitnehmer und ihre Organisationen übten überall eine strenge Kontrolle aus und beantworteten Verstöße gegen den Tarifvertrag mit der Sperre bzw. Verrufserklärung (frz.: Mise en interdit oder Mise à l’index) des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers. Verrufserklärungen gegen Arbeitnehmer konnten soweit gehen, dass der Betroffene de facto vom örtlichen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurde. Die Vorgänge beim Abschluss von Tarifverträgen im Baugewerbe lassen erkennen, dass jeder Arbeitgeber ein vorrangiges Interesse an einer Vereinbarung hatte, die sicherstellte, dass der Konkurrent nicht weniger zahlte als er selbst. Fast ebenso wichtig war für den Arbeitgeber die Kalkulationssicherheit, die ein Tarifvertrag bot. Sie erlaubte es ihm, zu Beginn der Bausaison im Frühjahr ein Angebot zu kalkulieren in dem Wissen, dass keine plötzlichen Lohnerhöhungen und Ausstände während der Saison die Kalkulation über den Haufen werfen würden. Befristete Tarifverträge und regelmäßige Lohnverhandlungen waren mit diesem Interesse kompatibel; ob sie vereinbart wurden, hing u.a. auch von der Konjunktur ab. Im hier betrachteten Zeitraum waren französische Arbeitgeber im Baugewerbe lange Laufzeiten gewohnt; große Lohnbewegungen mit Forderungen nach Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung gab es selbst in einer Hochburg der Arbeiterbewegung wie Lyon alle zehn Jahre einmal. Die Bautarife der 1890er Jahre stellten gerade das Lohnniveau zu Beginn der 1880er Jahre wieder her. Von regelmäßigen oder jährlichen Lohnbewegungen konnte gar keine Rede sein, auch nicht von dauernden Forderungen einzelner Gruppen von Arbeitern und von Teilstreiks. Ein Interesse französischer Bau-Arbeitgeber an befristeten Tarifverträgen, die Lohnforderungen für die Laufzeit des Tarifvertrages ausschließen, erwachte dementsprechend erst nach 1906. Aber in Frankreich wie in Deutschland zeigten die Arbeitgeber im Bauhandwerk beständig Interesse an einem Wettbewerb nach festen Regeln und verurteilten die gegenseitige Unterbietung als unmoralisch, auch wenn sich der Begriff vom ehrlichen Handwerk, wie ihn die Innungen vertraten, nicht mit der Idee der Concurrence loyale, die französische Unternehmer propagierten, deckte. Bezeichnenderweise bemühten sich die Arbeitgeber im Baugewerbe in allen größeren Städten Frankreichs, nach dem Vorbild von Paris Séries des prix aufzustellen, Verzeichnisse aller Leistungen im Baugewerbe, und diese zur Grundlage öffentlicher

32 Schellwien, Die Tarifverträge der Innungen, in: Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht, 1906, S. 116. 33 ��������������������������������������������������������������������������������� Protokoll über die Verhandlungen der 8. ordentlichen Generalversammlung des deutschen Arbeitgeberbundes für das Baugewerbe in Köln 1907, S. 29.

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Ausschreibungen wie privater Auftragsvergabe und -abrechnung zu machen.34 Im Detail je nach Ort unterschiedlich geregelt, machte die Institution der Séries des prix das Bedürfnis der Arbeitgeber nach Wettbewerbsregulierung und die Legitimität solcher Regelungen deutlich. b. Tarifverträge im Verlagswesen – zweiter Typ

Bei diesem Typ von Tarifvertrag handelt es sich um Ortstarife wie den der Bandweber von Saint-Etienne, abgeschlossen zwischen Verlegern und selbständigen Heimarbeitern, die mit eigenen oder gemieteten Produktionsmitteln die vom Verleger gestellten Rohstoffe verarbeiten, ohne seiner Weisung oder Aufsicht zu unterliegen. Die Vermarktung der Produkte ist Sache des Verlegers. Solche Tarifverträge finden sich nur dort, wo hochwertige Konsumgüter für einen nationalen oder internationalen Markt innerhalb eines räumlich begrenzten Gebiets, einem Ort oder einer Region, hergestellt werden. Wie die Tarifverträge der Messer- und Scherenschleifer von Solingen regeln diese Vereinbarungen die hochspezialisierte Produktion einer Vielzahl verschiedener Artikel in sehr kleinen Serien, die flexibel den speziellen Wünschen der Kunden angepasst werden.35 Völlig andere Bedingungen, nämlich Formen des Sweating-Systems, herrschen im Bereich der Fertigung von Konfektionsware, standardisierten Produkten wie Wäsche und Schuhe, die beliebig verlagert und überall ausgeführt werden kann. Tarifverträge finden wir im Verlagswesen nur dort, wo der Ortsname zugleich Markenname ist. Diese Tarifverträge nehmen immer die Form von Preisverzeichnissen an, langen Listen bzw. kleinen Büchern, in denen zu jedem Artikel der Stücklohn aufgeführt wird. Diese Preisverzeichnisse sind extrem ausdifferenziert, jeder einzelne Artikel genau beschrieben. Der Tarifvertrag der Bandweber des Bergischen Landes z. B.

34 Sabine Rudischhauser, Fairer Lohn und freier Wettbewerb: Nachfrage der öffentlichen Hand und Entstehung eines nationalen Arbeitsmarktes 1890–1914, in: Peter Wagner et al. (Hrsg.), Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive, Frankfurt / New York, Campus 2000, p. 224–249; vgl. François Robert, Régulation, (wie Fn. 29); Fédération générale des chambres syndicales patronales françaises de l’industrie, du bâtiment et des travaux publics, Rapport présenté au Congrès, Paris, Impr. J. Watelot & P. Vigot, 1902. 35 Rudolf Boch, The rise and decline of flexible production: the cutlery industry of Solingen since the eighteenth century, in: Charles Sabel / Jonathan Zeitlin (Hrsg.), World of possibilities: Flexibility and Mass Production in Western Industrialization, Cambridge, Cambridge University Press, 1997, S. 153–187.

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umfasst 2.026 verschiedene Positionen nur für Herren-Hutbänder.36 Außer diesem Stücklohntarif findet sich keine Regelung der Arbeitsbedingungen; Arbeitszeit, Pausen, Sonntagsarbeit usw. sind in der Heimarbeit ungeregelt. Die Lohndifferenzierung orientiert sich allein am Produkt und nicht, wie im Bau, an der Person des Arbeiters, die hier ganz hinter dem Produkt verschwindet. Preisverzeichnisse erlauben nicht, den Tages- oder Stundenlohn eines Arbeiters zu berechnen, da sie keine Angaben dazu machen, wie lange der Arbeitnehmer für die Anfertigung des Artikels braucht, ob er alleine oder mit Hilfskräften arbeitet usw.37 Solche Tarifverträge im Verlagswesen werden auf Arbeitnehmer-Seite immer von einer Gewerkschaft abgeschlossen, denn ohne eine starke Organisation können tausende Heimarbeiter weder streiken noch die Einhaltung des Tarifvertrags kontrollieren. Eine scharfe Kontrolle ist im Interesse der tariftreuen Fabrikanten, denn wer unter Tarif zahlt, verschafft sich nicht nur einen illegitimen Vorteil, er gefährdet die Qualität und damit die Reputation der Marke. Der Tarifvertrag ist, wie das Beispiel Solingen sehr deutlich zeigt, Teil einer Strategie, die Markenprodukt, Handarbeit und Heimarbeit verbindet.38 Die Institutionen, die den Tarifvertrag tragen, wie die Union de la fabrique de rubans in Saint-Etienne und die Vergleichskammern in Solingen, entspringen einer regelrechten Allianz von Gewerkschaften und tariftreuen Verlegern. Paritätische Schiedskommissionen sind typisch für diesen Typ von Tarifvertrag. Weil immer wieder Konflikte über die Zuordnung und damit Bezahlung bestimmter Artikel auftreten und jeder neu eingeführte Artikel tarifiert werden muss, werden ständige Schiedskommissionen eingerichtet.39 Die Tarifverträge im Verlagswesen sind in der Regel unbefristet, da die Preisverzeichnisse in kurzen Abständen modifiziert und aktualisiert werden müssen und nicht auf längere Dauer festgesetzt werden können. Damit bleiben Arbeitgeber und Gewerkschaft in ständigem Kontakt und verhandeln nicht, wie im Baugewerbe, periodisch, sondern nahezu permanent miteinander. Verleger und Gewerkschaft gehen gemeinsam gegen Tarifverletzungen vor; tariflich festgesetzte Strafzahlungen wie in Saint-Etienne sind typisch. Diese finanziellen 36 Fanny Imle, Gewerbliche Friedensdokumente. Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Tarifgemeinschaften in Deutschland, Jena, Gustav Fischer, 1905, S. 469. 37 William M. Reddy, Entschlüsseln von Lohnforderungen: Der Tarif und der Lebenszyklus in den Leinenfabriken von Armentières (1889–1904), in: Robert M. Berdahl, Alf Lüdtke, Hans Medick (Hrsg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. , Syndikat Verlag, 1982, S. 77–107. 38 Rudolf Boch, Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870–1914, Göttingen 1985. 39 ����������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Statuten der ständigen Schiedskommission der Leinenweber von Cholet, abgedruckt in Arthur Fontaine, Les grèves et la conciliation, Paris, A.Colin, 1897, S. 88–91, und der Batistweber des Cambrésis, Statistique des grèves, 1905, S. 558 f.

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Sanktionen bemessen sich nach der Differenz zwischen dem Tariflohn und dem tatsächlich gezahlten Lohn, also nach dem finanziellen Vorteil des Arbeitgebers. Auch der Arbeitnehmer, der die Fertigung des Artikels unter Tarif akzeptiert hat, muss Strafe zahlen. Die Kontrolle und Sanktionierung von Tarifbrüchen ist also in den Tarifverträgen im Verlagswesen stärker rationalisiert und verrechtlicht, während im Bau Arbeitskampfmaßnahmen wie Sperre und Streik die häufigsten Sanktionen sind. Allerdings gehen die Messerschleifer gegen tarifbrüchige Kollegen genauso rabiat vor wie anderswo Maurer und halten gegen Tarifaußenseiter Sperren jahrelang aufrecht. Obwohl im Verlagswesen enge vertragliche Beziehungen mit gegenseitiger Verpflichtung zwischen dem Arbeitgeber-Verband und der Gewerkschaft bestehen können, wird immer die Unterschrift jedes einzelnen Verlegers unter den TV eingeholt, um so die vertragliche Verpflichtung jedes einzelnen Verlegers festzustellen. Unabhängig davon, ob er Gewerkschaftsmitglied ist oder nicht, hat jeder Heimarbeiter Anspruch auf Tariflohn bzw. ist verpflichtet, nicht unter Tarif zu arbeiten. Ein tarifwidriger Arbeitsvertrag wird, wie die gegen beide Seiten verhängten Sanktionen belegen, als Verstoß beider Seiten bewertet. Die Zukunft der Tarifverträge im Verlagswesen war, anders als die der Tarifverträge im Baugewerbe, von dem Augenblick an gefährdet, in dem Verleger die Möglichkeit besaßen, eine andere wirtschaftliche Strategie zu wählen, Fabriken zu errichten und eine zentralisierte, mechanisierte Produktion von standardisierten Produkten zu niedrigeren Löhnen aufzunehmen.40 Angesichts dieser Alternativen galt dann der Tarifvertrag im Verlagswesen vielen Zeitgenossen, Deutschen wie Franzosen, als archaisch und als Hindernis für den Fortschritt, das zugleich mit der Heimarbeit zu verschwinden bestimmt war. c. Haustarife in der Industrie – dritter Typ

Die französische Streikstatistik publizierte relativ häufig Tarifverträge zwischen einem Arbeitgeber und seiner Belegschaft. Dieser Typ von Tarifvertrag ist charakteristisch für monoindustrielle Städte, Zentren der Textil-, der Schuh- oder der Möbelindustrie, wo in Fabriken unterschiedlicher Größe Standardprodukte für den nationalen Markt industriell gefertigt werden. Für diese Produkte ist im Wettbewerb der niedrigste Preis das entscheidende Argument. Die Unternehmer verfolgen eine Niedriglohnpolitik; Arbeitskämpfe werden weit häufiger durch Lohnkürzungen ausgelöst als durch 40 Vgl. neben Boch zu Solingen vor allem Lius Darstellung vom Zusammenbruch des Tarifvertrags in der Leinenweberei von Cholet, Tessie P. Liu, The Weaver’s Knot. The Contradiction of Class Struggle and Family Solidarity in Western France, 1750–1914, Ithaca, New York, Cornell University Press, 1994.

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Forderungen nach Lohnerhöhung. Gezahlt werden ausschließlich Stücklöhne, die von einem Unternehmen zum anderen und selbst innerhalb eines Unternehmens variieren. Die Arbeitgeber zeigen keinerlei Interesse an einem Einheitstarif für den ganzen Ort, den sie mit einer Gewerkschaft abschließen müssten; sie schließen, wenn überhaupt, nur unter dem Druck harter Arbeitskämpfe Haustarife mit den Delegierten ihrer Belegschaft. Weil die Arbeitgeber sich die Möglichkeit frei halten wollen, die Stücklöhne kurzfristig, zu Beginn der Saison oder sobald ein neuer Auftrag übernommen wurde, zu senken, lehnen sie es ab, sich auf mehr als sechs Monate oder maximal ein Jahr zu binden. Meist sind die Haustarife unbefristet und gelten nur so lange, „bis sie den Fabrikanten zu hoch werden oder bis neue Muster zur Einführung kommen“.41 Aus den französischen Streikberichten geht sehr deutlich hervor, wie die Arbeitnehmer um verbindliche Verträge kämpfen und in monatelangen Streiks Aushang und Niederlegung des Tarifs beim Conseil de prud’hommes durchsetzen. Arbeiter und Arbeiterinnen der Textil- und Schuhindustrie zögerten nicht, den Tariflohn vor dem Conseil de prud’hommes einzuklagen. Die Forschung zu den Conseils de prud’hommes belegt die hohe Konfliktfähigkeit auch nichtorganisierter Arbeitnehmer.42 Solche Verträge zwischen einem Arbeitgeber und seiner Belegschaft existieren auch in Deutschland, gerade in der Textil- und Schuhindustrie, werden aber zumeist nicht als Tarifvertrag bewertet, weder von den Gewerkschaften, was auf der Hand liegt, noch von Sozialreformern und Statistikern. Wie eingangs dargestellt, tauchen solche Vereinbarungen in der deutschen Tarifstatistik nach 1906 nicht auf und werden aus der juristischen Definition des Tarifvertrags früh ausgeschlossen. Die drei hier vorgestellten Typen unterscheiden sich vor allem nach Lohnform, räumlichem Geltungsbereich und dem Grad der Anerkennung der Gewerkschaften. Anhand dieser drei Kriterien lassen sich auch die meisten anderen Gruppen von Tarifverträgen analysieren und zuordnen. So weist der deutsche Buchdruckertarif wegen seiner komplexen Akkordlohnregelungen und dem ausgeprägten Schiedswesen Ähnlichkeiten mit den Tarifverträgen im Verlagswesen auf. Auch die Anwendung des Buchdruckertarifs basierte auf der Unterschrift des einzelnen Arbeitgebers, die ihn an den Tarifvertrag band, und die durch die Veröffentlichung von Listen tariftreuer Druckereien dokumentiert wurde. In dem Maße, wie die Buchdrucker Zeitlohn durchsetzten, näherten sich auch ihre Tarifverträge, in Deutschland wie in Frankreich, dem aus dem Bauhandwerk bekannten Typ an. Arbeitgeber-Verband und Gewerkschaften 41 Imle, Friedensdokumente (wie Fn. 36), S. 467. 42 Alain Cottereau, The Distinctiveness of working-Class Cultures in France, 1848–1900, in: Ira Katznelson / Aristide R. Zolberg, (Hrsg.), Working-Class Formation: Nineteenth-Century Patterns in Western Europe and the United States, Princeton University Press, 1986, S. 111–154.

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im deutschen Schneidergewerbe hingegen hielten am Stücklohn fest und schlossen weiterhin nur unbefristete Verträge ab, wie es sonst im Verlagswesen üblich war. Die französischen Tarifverträge im Bergbau des Nord und Pas-de-Calais, obwohl mit einer Gewerkschaft für eine ganze Region abgeschlossen, ähneln am ehesten den Haustarifen des dritten Typs, da der Gedingelohn weiterhin individuell festgesetzt wurde und die Arbeitsbedingungen nicht einheitlich geregelt wurden. Die Convention d’Arras schrieb lediglich vor, dass der Steiger das Gedinge so festlegen sollte, dass die im Tarifvertrag vereinbarte Prämie auf die bisher gezahlten Löhne auch bei jedem einzelnen Bergmann ankam. Ein Recht des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber war daraus in der Praxis nicht abzuleiten.43 Das Gegenteil gilt für die Haustarife mit einer Gewerkschaft, die in Frankreich vor allem von Verkehrs- und Versorgungsunternehmen abgeschlossen wurden, und die sich am ehesten mit den Tarifverträgen deutscher Brauereien vergleichen lassen. War hier der Bierboykott der Kunden entscheidend für die Bereitschaft der Arbeitgeber, Tarifverträge abzuschließen, so war es dort der politische Druck linker Stadtverwaltungen, die Zugeständnisse an die Arbeiter zur Bedingung für eine Konzessionsverlängerung machten. Weil sie Zeitlöhne festlegten, Arbeitszeit und Pausen, Nacht- und Sonntagsarbeit detailliert regelten, ähneln diese Tarifverträge inhaltlich den Tarifverträgen des ersten Typs, enthielten aber darüber hinaus typische Regeln für betriebsinterne Vereinbarungen, z. B. zur Verwaltung betrieblicher Kassen oder zur Beförderung von Arbeitnehmern.

3. Von der Vielfalt der Tarifverträge zum nationalen Tarifrecht Die Entstehung der Gesetzgebung, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich den Tarifvertrag regelte, erklärt sich zu weiten Teilen aus der politischen Geschichte. Ohne die Novemberrevolution wäre die Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 in dieser Form nicht zustande gekommen. Ebenso gilt für das französische Gesetz vom 25.3.1919, dass es ein Ergebnis der politischen Mehrheiten im Senat war, wo einflussreiche Vertreter der Rechten für eine möglichst geringe Verbindlichkeit von Tarifverträgen eintraten. So räumte das Gesetz jedem Mitglied eines vertragsschließenden Verbandes die Möglichkeit ein, innerhalb einer Frist nach Vertragsabschluss seine Ablehnung des von der Mehrheit angenommenen Tarifvertrages zu erklären und sich so von der Tarifbindung zu befreien. Darüber 43 ����������������������������������������������������������������������������� Die berühmte Convention d’Arras war deshalb nach Trempé überhaupt kein Tarifvertrag. Rolande Trempé, Les origines des conventions d’Arras, in: Olivier Kourchid / Rolande Trempé (Hrsg.), Cent ans de Conventions collectives d’Arras, 1891– 1991, Revue du Nord, Sonderheft Nr. 8, 1994, S. 25–37, hier S. 26.

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hinaus konnte sich jedes Mitglied auch nach Ablauf der Frist durch Austritt aus dem Verband von der Tarifbindung befreien. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, die von den französischen Gewerkschaften und tariffreundlichen Arbeitgeber-Verbänden befürwortet wurde, scheiterte im Senat. Aber auch wenn politische Gründe die konkreten Entscheidungen des Gesetzgebers erklären, beruhten die Vorlagen, über die er zu entscheiden hatte, doch auf der juristischen Arbeit der vorangegangen beiden Jahrzehnte. Deshalb kodifizierte die Gesetzgebung in beiden Ländern weitgehend den Stand des Tarifrechts, wie Rechtsprechung und Doktrin es bis dahin entwickelt hatten. Für das Tarifrecht charakteristisch ist der enge Zusammenhang zwischen Rechtsprechung und Doktrin, der in Deutschland u.a. daher rührt, dass wichtige dogmatische Beiträge von den Vorsitzenden der Gewerbegerichte geliefert wurden. In Frankreich fand ein erheblicher Teil der dogmatischen Auseinandersetzung in den großen Sammlungen der Jurisprudenz, dem Recueil Dalloz, dem Recueil Sirey u.a. statt, in denen Rechtswissenschaftler die Urteile insbesondere der obersten Gerichtshöfe kommentierten. An einigen ausgewählten Urteilen soll im Folgenden das Verhältnis zwischen den vielfältigen Rechtsordnungen der Beteiligten, die oben unter 2. vorgestellt wurden, und der Entwicklung des Tarifrechts diskutiert werden. a. Die Rolle der Arbeitsgerichtsbarkeit

Dass die erheblichen Unterschiede hinsichtlich der Strukturen juristischer Meinungsbildung und hinsichtlich der Methodik rechtswissenschaftlichen Arbeitens die Entwicklung der juristischen Doktrin in Deutschland und Frankreich beeinflussten, wurde bereits in früheren Beiträgen dargestellt.44 Für den deutsch-französischen Vergleich von Bedeutung sind außerdem die großen Unterschiede hinsichtlich der Arbeitsgerichtsbarkeit in den beiden Ländern.45 Für die Entwicklung des deutschen Tarifrechts spielten die Gewerbegerichte eine zentrale Rolle, weil sie sowohl als Gerichte über die Anwendung von Tarifverträgen auf einzelne Arbeitsverträge entschieden als auch als Einigungsämter Tarifverhandlungen anbahnten, die Verhandlungen leiteten, den 44 Rudischhauser, Tarifvertrag und bürgerliche Öffentlichkeit, (wie Fn. 20); dies., Action publique et sciences sociales. Les débuts du droit des CC en France et en Allemagne, 1900–1918 / 19, in: Alain Chatriot et al. (dir.), Les politiques du travail (1906–2006). Acteurs, institutions, réseaux, Rennes, Presses universitaires de Rennes, 2006, S. 313– 327. 45 Ralf Rogowski / Adam Tooze, Individuelle Arbeitskonfliktlösung und liberaler Korporatismus. Gewerbe- und Arbeitsgerichte in Frankreich, Großbritannien und Deutschland im historischen Vergleich, in: Mohnhaupt / Simon, Vorträge zur Justizforschung, (wie Fn. 10), S. 317–386.

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Abschluss protokollierten und juristisch überarbeiteten und, falls sich die Parteien nicht einigen konnten, Schiedssprüche abgaben. Als von den Gemeindebehörden eingerichtete Gerichte waren die Gewerbegerichte Teil der städtischen Sozialpolitik; ihre Vorsitzenden, häufig selbst Kommunalbeamte, waren auch auf nationaler Ebene in das von den Städten getragene Netzwerk aus Verbänden, Tagungen und Konferenzen integriert. Zugleich standen die Vorsitzenden der Gewerbegerichte in enger Verbindung mit den Institutionen und Vereinen der Sozialreform; nicht zufällig erschien die Zeitschrift des Verbandes deutscher Gewerbegerichte zunächst als Beilage zur „Sozialen Praxis“.46 Diese Verbindungen, aber auch die eigene rege Publikationstätigkeit der Gewerbegerichte, verhalfen ihrer Rechtsprechung und einigungsamtlichen Tätigkeit zu Bekanntheit und Anerkennung. Sehr bald galten insbesondere die Vorsitzenden der großen Gewerbegerichte als Experten auf dem Gebiet des Tarifvertrages. Weil es dem Verband deutscher Gewerbegerichte in den 1890er Jahren gelungen war, die anfangs heftigen Angriffe auf die Rechtsprechung der Gewerbegerichte erfolgreich abzuwehren, wurden gewerbegerichtliche Urteile nach 1900 nur noch selten angefochten und von der Rechtswissenschaft zunehmend rezipiert. Die von den Gewerberichtern selbst ausführlich publizierten und kommentierten Urteile boten Material für dogmatische Auseinandersetzungen, an denen die Gewerberichter aktiv teilnahmen.47 Die im Vergleich zu den deutschen Gewerbegerichten deutlich schwächere Stellung der französischen Conseils de prud’hommes wird häufig damit begründet, dass hier, anders als an den Gewerbegerichten, kein Jurist als neutraler Dritter den Vorsitz führte und in seiner Person eine Verbindung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit und zur Rechtswissenschaft herstellte. Diese Erklärung ist aber schon deshalb nicht vollständig befriedigend, weil, wie bereits gezeigt, die Vorsitzenden an den Gewerbegerichten zwar in der Regel eine juristische Ausbildung besaßen, sich aber in erster Linie nicht als Juristen, sondern als städtische Beamte sahen, was sie im Hauptberuf

46 Mitteilungen des Verbandes deutscher Gewerbegerichte, zunächst als Teil der Blätter für soziale Praxis, ab 1895 der Sozialen Praxis, ab 1896 dann Das Gewerbegericht, Beiheft zur Sozialen Praxis, ab 1899 selbständig. Ab 1905 dann Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht. 47 Gustav Dietel, Gewerbestreitigkeiten. Eine Auswahl von Entscheidungen des Gewerbegerichts der Stadt Leipzig, Leipzig 1882. Emil Unger, Entscheidungen des Gewerbegerichts Berlin unter Berücksichtigung der Praxis anderer Gerichte, Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1898; Max von Schulz / Reinhold Schalhorn (Hrsg.), Das Gewerbegericht Berlin. Aufsätze, Rechtsprechung, Einigungsamtsverhandlungen, Gutachten und Anträge. Berlin, Franz Siemenroth, 1903; Georg Baum, Handbuch für Gewerbegerichte, unter Benutzung des Archivs des Verbandes deutscher Gewerbegerichte, Berlin, Georg Reimer, 1904; Fortsetzung 1912.

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häufig waren.48 Nicht nur ihre Konstitution als Laiengericht schwächte die Position der Conseils de prud’hommes in der Debatte um das Tarifrecht, sondern vor allem die Trennung zwischen der Rechtsprechung der Conseils de prud’hommes und der einigungsamtlichen Tätigkeit, die das Gesetz vom 27.12.1892 den Juges de paix übertragen hatte. Den Conseils de prud’hommes verwehrte das französische Recht die Bildung eines Verbandes, lange Zeit war es ihnen sogar verboten, zu Kongressen zusammenzukommen. Ohne institutionalisierte Verbindung untereinander, zu den Stadtverwaltungen oder zu den Juges de paix fehlten ihnen die Möglichkeiten, sich auszutauschen und Positionen zum Tarifvertrag zu diskutieren und durchzusetzen. Seit der Mitte des Jahrhunderts, als sich die französische Rechtswissenschaft und mit ihr die obersten Gerichtshöfe einer individualistischen, allein auf die Autonomie der Vertragsparteien begründeten Auffassung des Arbeitsvertrages zuwandten, wurde die Autorität der Conseils de prud’hommes durch ständige Konflikte mit den Berufungsgerichten in Frage gestellt.49 In der juristischen Debatte um den Tarifvertrag, die ähnlich wie in Deutschland auch in Frankreich 1900 einsetzte, spielte die Rechtsprechung der Conseils de prud’hommes fast keine Rolle, ebenso wenig wie die Conseillers prud’hommes selbst. Weil weder die Conseils de prud’hommes ihre Urteile selbst sammelten und publizierten noch juristische Fachzeitschriften diese Aufgabe übernahmen, wurde die Rechtsprechung der Prud’hommes von der juristischen Fachwelt nicht wahrgenommen. Diese im Vergleich zu Deutschland geringe Rezeption lässt sich nicht mit der hohen Anzahl der Vergleiche erklären, die unbegründet und damit für die rechtswissenschaftliche Bearbeitung unergiebig waren. Zwar wurden im hier betrachteten Zeitraum nur in 14 bis 16 % der Fälle Urteile gesprochen, doch fällten auch 48 Von 245 Gewerbegerichtsvorsitzenden, zu denen Berufsangaben vorlagen, waren 1910 76 Bürgermeister, weitere 69 gewählte Kommunalbeamte, z. B. Stadträte. Protokoll der Konferenz der Gewerbe- und Kaufmannsgerichtsbeisitzer (Arbeitnehmer) Deutschlands, Berlin, Verlag der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 1910, S. 46 f. Nur an 16 Gewerbegerichten waren die Vorsitzenden im Hauptamt Gewerberichter. Die für die Entwicklung des deutschen Tarifrechts wichtigsten Gewerberichter, Max von Schulz, Hans Prenner und Otto Wiedfeldt, kamen alle drei aus der Kommunalverwaltung. 49 Alain Cottereau, Justice et injustice ordinaire sur les lieux de travail d’après les audiences prud’homales (1806–1866), in: Le mouvement social, Nr. 141 (1987), S. 25–58; ders., Droit et bon droit. Un droit des ouvriers instauré, puis évincé par le droit du travail (France, XIXe siècle), in: Annales HSS, Nr. 6, 2002, S. 1521–1557; Alfons Bürge, Vom polizeilichen Ordnungsdenken zum Liberalismus. Entwicklungslinien des französischen Arbeitsrechts in der ersten Hälfte des 19. Jhdts., in: Archiv für Sozialgeschichte 31, 1991, S. 1–25; ders., Le Code civil et son évolution vers un droit imprégné d’individualisme libéral, in: RTD civil, jan-mars 2000, S. 1–24.

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die deutschen Gewerbegerichte nur in 16 % der anhängigen Sachen Endurteile.50 Allerdings versahen diese ihre Urteile vermutlich häufiger mit einer ausführlichen und, weil von einem Juristen formulierten, für Juristen verständlichen Begründung. Die Gewerberichter konnten sich nämlich auf die Gewerbeordnung stützen und ab 1900 auch auf das BGB, während die Conseils de prud’hommes sich nur auf wenige Artikel des Code civil und im Übrigen auf die örtlichen Usages berufen konnten. Die geringere Regelungsdichte des französischen Arbeitsrechtes wirkte sich nicht nur im Umweg über die Rechtsprechung, sondern auch direkt auf die rechtswissenschaftliche Produktion aus: Während in Deutschland Kommentare zur Gewerbeordnung, vor allem aber die jahrelange Auseinandersetzung mit der Regelung des Dienstvertrags im BGB die juristische Meinungsbildung beförderten, beschränkte sich die französische Literatur zum Arbeitsvertragsrecht in Frankreich lange Zeit auf einige kurze Abschnitte in den einschlägigen Handbüchern. Trotzdem lässt sich, zum Teil aus dem Wortlaut der Tarifverträge selbst, die Rechtsprechung der Prud’hommes zum Tarifvertrag bruchstückhaft rekonstruieren. Ortstarife wurden überall als Verkehrssitte anerkannt, wobei einige Conseils de prud’hommes in bestimmten Fällen sogar dazu neigten, Tarifverträge als unabdingbar und abweichende Arbeitsverträge als nichtig anzusehen. Abgeschlossene Tarifverträge wurden beim Conseil des prud’hommes hinterlegt, um sicherzustellen, dass die Rechtsprechung der Prud’hommes sich auf sie bezog.51 In Deutschland finden sich in der Masse der publizierten Urteile zahlreiche Entscheidungen zur Rechtswirkung von Tarifverträgen des Bauhandwerks. Den Gewerberichtern waren diese Tarifverträge bestens bekannt, da sie häufig vor dem Einigungsamt geschlossen worden waren. Durch alle Urteile zieht sich der Grundgedanke, dass Tarifverträge im Baugewerbe als Platzordnung für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten sollen. Das Gewerbegericht München vertrat sogar den Standpunkt, Tarifverträge seien bereits nach geltendem Recht unabdingbar, und hob unter Berufung auf § 138 BGB abweichende Arbeitsverträge als nichtig auf.52 Die große Mehrheit der Gewerbegerichte betonte 50 Berechnet nach Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht 1907, Sp. 45; Alain Cottereau, Cent quatre-vingts années d’activité prud’homale, in: Le mouvement social, Nr.141 (1987), S. 3–8. 51 ��������������������������������������������������������������������������������� Die Hinterlegung des Tarifvertrag beim Conseil des prud’hommes wird manchmal ausdrücklich erwähnt, z. B. im Tarifvertrag der Dachdecker von Nantes 1894 / 95, Archives nationales F12 4674, im Tarifvertrag der Leinenweber von Armentières 1903, Statistique des grèves 1903, S. 523, im Tarifvertrag der Pariser Wagenbauer, ibid. 1905, S. 639. Häufig findet man nur die Bestimmung, der Vertrag solle in drei Exemplaren ausgefertigt werden; in diesem Fall geht je ein Exemplar an die Vertragsparteien, das dritte an den Conseil des prud’hommes. 52 ������������������������������������������������������������������������������ So der Münchner Gewerberichter Gessler auf dem Juristentag 1908: „Das Gewerbegericht München steht schon de lege lata auf dem Standpunkte der Unabdingbarkeit,

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aber, dass für die Unabdingbarkeit der Tarifverträge eine gesetzliche Grundlage erst geschaffen werden müsse. Ähnlich wie in Frankreich kamen relativ selten explizit abweichende Arbeitsverträge zur Verhandlung. Weit häufiger waren Fälle, in denen sich der Arbeitgeber auf stillschweigend vereinbarte Arbeitsbedingungen berief. Ein typisches Beispiel für die ständige Rechtsprechung der Gewerbegerichte in solchen Fällen ist das Urteil des Gewerbegerichts Kiel vom 24.9.1902: „Die Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung des tarifmäßigen Stundenlohns von 45 Pfg., der, wie unstreitig und auch gerichtsnotorisch ist, von der Zwangsinnung der Tischler mit den Gesellen vereinbart ist, ergibt sich aus § 612 BGB. Bei dem Mangel einer Beredung über die Höhe des Lohnes hat … die übliche Vergütung als vereinbart zu gelten. Als solche muß aber, sofern in einem Gewerbe ein kollektiver Tarifvertrag geschlossen ist, der tarifmäßige Lohn angesehen werden; gerade darin, daß sie die normalerweise zu zahlenden Löhne festsetzen, ist zu einem wesentlichen Teile die Bedeutung der Tarifverträge zu erblicken. Wenn diese übliche Vergütung als ‚vereinbart anzusehen‘ ist, so ist damit gesagt, daß ein abweichender Parteiwille, um beachtlich zu sein, im Wege einer besonderen Vereinbarung Ausdruck finden müßte, worüber in dem zur Entscheidung stehenden Falle nichts vorliegt.“53

Im gleichen Sinne urteilte das Gewerbegericht Frankfurt am 2.5.1901: „Wird … in einem Orte mit Kollektivarbeitsvertrag ein Arbeitsvertrag ohne besondere Fixierung der Arbeitsbedingungen geschlossen, so muß nach den Grundsätzen von Treu und Glauben angenommen werden, daß sich die Parteien stillschweigend jenen ortsüblichen Arbeitsbedingungen unterwerfen wollten. Diese juristische Konsequenz, die sich aus § 157 BGB mit Notwendigkeit ergibt, … erscheint auch völlig unbedenklich, da heutzutage jedenfalls in den Städten … sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer ganz genau über diese Vereinbarungen orientiert sind, somit der Schluß aus ihrem Stillschweigen keinerlei Fiktion ist, sondern eine durchaus begründete Vermutung für sich hat. Ja, diese Konstruktion kann auch allein den Bedürfnissen der Zeit genügen, da ja alle Tätigkeit der und zwar stützt sich unsere Konstruktion auf §138 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Wir erklären, dass tarifwidrige Einzelverträge gegen die guten Sitten verstoßen und dass sie infolgedessen nichtig sind; in Konsequenz davon wurden dann an Stelle z. B. der nichtigen Lohnabrede die im Tarifvertrage vereinbarten Sätze als die ortsüblichen auf Grund des § 612 des Bürgerlichen Gesetzbuches substituiert.“ Verhandlungen des 29. Deutschen Juristentages, Berlin, J. Guttentag, 1909, Bd. 5, S. 80f. München war damit eines der wenigen Gewerbegerichte, das der Argumentation Lotmars folgte. 53 Baum, Handbuch (wie Fn. 47), S. 163. Der Rechtsanwalt Baum war der Archivar des Verbandes deutscher Gewerbegerichte.

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Einigungsämter und alle sonstigen Streikvereinbarungen ziemlich wertlos wären, wenn die Gewerbegerichte nicht … ihnen die Bedeutung eines Ortsgebrauchs (Usance) beimessen wollten.“54

In der Urteilsbegründung argumentiert der Vorsitzende des Gewerbegerichts als Sozialreformer und Vorsitzender des Einigungsamtes, der seine eigene Schlichtungs­ tätigkeit nicht sabotieren wollte. Diese Rechtsauffassung der Gewerbegerichte war also auch eine Konsequenz der vom Gesetzgeber geschaffenen Doppelfunktion. Beide Urteile stützten sich zwar auf das BGB, argumentierten aber zugleich mit der Funktion und dem sozialen Zweck des Tarifvertrages, von dem die Richter eine klare Vorstellung hatten. Im arbeitsrechtlichen Alltag genügten die Generalklauseln des BGB in Verbindung mit den Artikeln zum Dienstvertrag den Gewerbegerichten, um sicherzustellen, dass die Tarifverträge ihre Funktion erfüllen konnten. Den schwierigen rechtsdogmatischen Fragen konnten sie so ohne große Mühe ausweichen. So bemerkte das Gewerbegericht Hamburg zwar in seinem Urteil vom 16.12.1907: „Durch die Tarifverträge werden an sich nur die Mitglieder der vertragsschließenden Korporationen verpflichtet und berechtigt“, fügte aber sogleich an: „Wenn … über die Höhe des Lohne nichts oder nichts Detailliertes vereinbart ist …, so ist dem Arbeitnehmer der am Ort übliche Lohn zuzusprechen (§ 612 BGB), und als üblich wird sehr oft derjenige Lohn anzusehen sein, welcher in einem am Orte geltenden Tarif festgesetzt ist.“55 Strittig war hier nur noch, wie weit Außenseiter, die den vertragsschließenden Verbänden nicht angehörten und den Tarif nicht anerkannt hatten, durch den Tarifvertrag verpflichtet werden konnten. Dass die Mitglieder der Verbände an den Tarifvertrag gebunden seien, war für die Gewerbegerichte gar nicht zweifelhaft. Die Rechtsprechung der Gewerbegerichte und die zahlreichen Publikationen der Sozialreformer beförderten eine intensive rechtswissenschaftliche Debatte um den Tarifvertrag, die innerhalb weniger Jahre den Kenntnisstand des juristisch gebildeten Publikums auf ein hohes Niveau hob und eine im Vergleich zu Frankreich frühe und ausgeprägte Spezialisierung erlaubte. Eine Reihe von strittigen Rechtsfragen war, nicht zuletzt dank der Arbeiten Lotmars, bereits geklärt, als sich ab etwa 1906 die Rechtswissenschaft zunehmend mit der Frage beschäftigte, wie man die Bindung der Verbandsmitglieder an den Tarifvertrag am besten begründen könne. 54 Ibid., S. 160f. 55 Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht, 1908, Sp. 165 f. So auch das Gewerbegericht Hannover, das am 29.9.1906 urteilte, ein nach Abschluss des Tarifvertrags zugezogener Schmiedegeselle sei dem Tarifvertrag weder ausdrücklich noch stillschweigend beigetreten und könne deshalb nicht Anspruch auf Tariflohn erheben, obwohl der beklagte Arbeitgeber Mitglied der Zwangsinnung war, die den Tarifvertrag abgeschlossen hatte. Ibid., 1906, Sp. 61 f.

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Diese Debatte wurde de lege ferenda geführt: Da die Unabdingbarkeit gesetzlich verankert werden sollte, musste die Tarifbindung der am Tarifvertrag Beteiligten sorgfältiger begründet werden als bisher. Für die Rechtswissenschaft stellte sich deshalb die Aufgabe, die Grundlagen zu schaffen, die es den vertragsschließenden Verbänden ermöglichten, „den Einzelnen [zu] binden durch Beschlüsse, die er nicht persönlich gefasst hat“.56 Die ganz überwiegende Mehrheit der Beiträge zur Debatte über den Tarifvertrag war bestimmt von dem Willen, eine Tarifbindung zu begründen, ob dafür nun die Vertretungstheorie (eventuell in Verbindung mit der Sittenwidrigkeitsschranke nach § 138 BGB), die Verbandstheorie oder eine Kombination aus beiden bemüht wurde. Für viele Juristen war es unvorstellbar, dass ein Verbandsmitglied durch einen Tarifvertrag verpflichtet werden konnte, ohne dem Tarifvertrag persönlich zugestimmt zu haben. Praktikabel erschien die Lösung, die später in Frankreich Gesetz werden sollte und die 1908 auch auf dem Juristentag in Karlsruhe diskutiert wurde: den Mitgliedern der vertragsschließenden Verbände zu erlauben, innerhalb von 14 Tagen nach Vertragsschluss zu erklären, dass sie den Tarifvertrag ablehnten. Wer seinen Widerspruch zum Tarifvertrag nicht ausdrücklich kundtat, stimmte ihm demnach stillschweigend zu. So hätte sich zivilrechtlich einwandfrei feststellen lassen, wer durch einen Tarifvertrag berechtigt und verpflichtet war. Bezeichnenderweise war sich der Juristentag einig, dass alle, die innerhalb der Frist ihren Widerspruch nicht erklärt hatten, sich später auch durch Austritt aus der vertragsschließenden Organisation nicht von den Verpflichtungen des Tarifvertrages befreien konnten.57 Diese Rücktrittsklausel wurde in der Schlussdebatte des Juristentages schließlich von den Antragstellern zurückgezogen aufgrund des heftigen Einspruchs der anwesenden Gewerberichter, die deutlich machten, dass eine solche Klausel den erfolgreichen Abschluss von Tarifverhandlungen praktisch unmöglich machen würde.58 Selbst diejenigen, die in dieser Klausel einen unverzichtbaren Schutz der Freiheit des Einzelnen vor der „Vergewaltigung“ durch die Mehrheit sahen,59 konnten in dieser Frage auf ein Votum des Juristentages leicht verzichten. Sie wussten, dass diese Klausel erst für eine gesetzliche Regelung des Tarifvertrages relevant war, nicht aber für die Rechtsprechung nach geltendem Recht, die die Unabdingbarkeit nicht anerkannte und der in den meisten Fällen die Anwendung von § 157 und § 612 BGB zum Einzelvertrag genügte.

56 Landgerichtsrat Wilhelm Kulemann, Bremen, Verhandlungen des Juristentages (wie Fn. 52), Bd. 5, S. 93. 57 So Gierke unter Zustimmung der Versammlung, ibid. S. 88 f. 58 Ibid, S. 831–833. 59 So der Koreferent Hans Köppe, ibid. S. 107

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b. Eine andere Nation

So ging der Vorschlag, der Minderheit der Verbandsmitglieder ein Rücktrittsrecht vom Tarifvertrag einzuräumen, zwar an der Rechtsordnung der Beteiligten und an der Tarifpraxis völlig vorbei, beschädigte diese aber nicht, da sie die Domäne der Gewerberichter blieb. Diese, obwohl selbst häufig Juristen, hatten sich durch den ständigen Kontakt mit den Beisitzern und den Tarifparteien die Rechtsauffassung der Beteiligten weitgehend zu eigen gemacht. Um Ortstarife als Verkehrssitte anzuwenden, konnten sie, streng zivilrechtlich argumentierend, sich auf den Willen der Vertragsparteien stützen und sogar den Begriff der stillschweigenden Unterwerfung nutzen, dessen Anwendung auf die Arbeitsordnung viel kritisiert wurde. So ergab sich vielerorts auf lokaler Ebene ein subtiles Zusammenspiel der beiden Rechtsordnungen. Auch in Frankreich lässt sich beobachten, dass Juristen, die mit den örtlichen Verhältnissen im Gewerbe vertraut waren, die Rechtsordnung der am Tarifvertrag Beteiligten respektierten.60 Aber den meisten Juristen blieb die Funktion von Tarifverträgen fremd; das wirtschaftliche Interesse der Beteiligten und der soziale Zweck des Tarifvertrags wurden, von Ausnahmen abgesehen, weder in der Rechtsprechung noch in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung als Argument angeführt. Im Unterschied zu Deutschland spielten volkswirtschaftliche und sozialpolitische Fragen in der juristischen Ausbildung kaum eine Rolle und waren erst spät und in geringem Umfang in das Lehrangebot der Fakultäten aufgenommen worden. Welche Bedeutung der Abschluss eines Tarifvertrags für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer des betroffenen Gewerbes hatte, ignorierten französische Juristen deshalb häufig, selbst dann, wenn sie als Juge de paix gelegentlich den Vorsitz in einer Verhandlung des Conseil de prud’hommes übernahmen, wie es das Gesetz vom 15.7.1905 vorsah.61 Bis 1905 waren die Conseils de prud’hommes der III. Republik strikt paritätisch besetzt, der Vorsitzende war selbst einer der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmer-Vertreter. Weil bei Stimmengleichheit die Stimme des Präsidenten den Ausschlag gab, kam es mitunter zu heftigen Konflikten um die Wahl des Präsidenten. Um diese als Krise der Prud’hommes wahrgenommenen Konflikte zu beenden, ordnete das Gesetz vom 60 Vgl. Urteil des Tribunal civil de Cholet vom 12.2.1897, abgedruckt in Statistique des grèves, 1897, S. 163–167 und D.1903.2.25. 61 ����������������������������������������������������������������������������������� Juges de paix mussten nicht Juristen sein, genauso wenig wie Vorsitzende von Gewerbegerichten, besaßen aber Anfang des 20. Jhdts. zunehmend häufig eine juristische Ausbildung. Antoine Pelicand, «Le droit, immuable, ne nous trompera jamais.» De la conversion des juges de paix à la science juridique. Etude d’une revue professionnelle (1880–1918), Text Seminar CENS, Nantes, 2005; ders., Das Recht — ein Territorium staatlicher Hoheit? Eine Studie der juristischen Transformation in Frankreich, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 27, S. 263–275.

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15.7.1905 bei Stimmengleichheit eine neue Verhandlung unter dem Vorsitz des Juge de paix an, dessen Stimme dann den Ausschlag gab. Dieses Verfahren kam auch im folgenden Fall zur Anwendung, dem Urteil des Conseil des prud’hommes de Reims vom 30.12.1905. Einem Bauarbeiter war gekündigt worden, weil er eine Bezahlung unter Tarif abgelehnt und Tariflohn verlangt hatte, und er klagte nun auf Entschädigung wegen fristloser Kündigung. Der Tarifvertrag war am 19.6.1905 unter Vermittlung des Bürgermeisters zwischen den Delegierten des Arbeitgeber-Verbandes und der Gewerkschaft abgeschlossen worden.62 Der Juge de paix, ein ehrgeiziger Jurist, nutzte die Urteilsbegründung, um Grundsätzliches zum Tarifvertrag darzulegen, und führte u.a. aus, der Arbeitnehmer habe keinen Anspruch auf Tariflohn, weil er zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht beim Beklagten beschäftigt gewesen sei. Der Tarifvertrag binde nur diejenigen Arbeitgeber, die an dem Schlichtungsverfahren persönlich oder durch Vertreter teilgenommen hätten, und diejenigen Arbeiter, die diese Arbeitgeber am Tag des Vertragsabschlusses beschäftigt hatten. Dabei sei unerheblich, dass der Kläger am Streik teilgenommen und die Arbeit zusammen mit den anderen Streikenden nach Abschluss des Tarifvertrages wieder aufgenommen habe. Nach Ansicht des Juge de paix legte also der Tarifvertrag nicht die Bedingungen für zukünftig abzuschließende, sondern nur für gegenwärtig bestehende Arbeitsverträge fest, bei der hohen Mobilität im Baugewerbe eine besonders absurde Vorstellung. Obwohl kein abweichender Arbeitsvertrag vorlag – über den Lohn war nichts vereinbart worden –, prüfte der Juge de paix nicht einmal die Frage, ob der Tarifvertrag als Verkehrssitte eine Verpflichtung des Beklagten begründen könnte. Die ausführliche Urteilsbegründung diente vor allem dazu, darzulegen, wieso der Kläger auf keinen Fall einen Anspruch geltend machen könne. Das Urteil und seine Begründung stehen im Widerspruch zur gesamten Rechtsprechung der Conseils de prud’hommes, für die die Anwendung der ortsüblichen Usages zentral war, und ließen sich auch mit den verschiedenen Lehren vom Tarifvertrag, die die französische Rechtswissenschaft bis dahin entwickelt hatte, kaum vereinbaren.63 Man könnte dieses Urteil als einen Einzelfall betrachten, der nur belegte, dass zu diesem Zeitpunkt die Idee des Tarifvertrags außerhalb eines kleinen Kreises von Juristen noch kaum diskutiert wurde, und im Übrigen zeigte, wie tief die Kluft zwischen den beiden Nationen war. Tatsächlich ist dieses Urteil symptomatisch für die Entwicklung des französischen Tarifrechtes, weil es durch den Abdruck im Recueil Dalloz in den Rang einer Grundsatzentscheidung gehoben und durch einen zustim62 D.1906.2.111. Statistique des grèves 1905, S. 647–650. 63 Einen Überblick über die in Frankreich entwickelten Lehrmeinungen bietet Simon Rundstein, Die Tarifverträge im französischen Privatrecht, Leipzig, C.L. Hirschfeld, 1905, S. 47–73. Einflussreich war vor allem die Auffassung vom Tarifvertrag als einer „stipulation pour autrui“, einem Vertrag zugunsten Dritter.

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menden Kommentar zusätzlich aufgewertet wurde. In den Kommentaren des Dalloz kamen in der Regel einflussreiche Zivilrechtler zu Wort, die Tarifverträge als Ausdruck der wachsenden Macht der Gewerkschaften ablehnten und die Rechtswirkung von Tarifverträgen so weit wie möglich begrenzen wollten.64 Mit dem Abdruck des Urteils von Reims wandten sich der Dalloz und die ihm verbundenen Richter und Rechtswissenschaftler gegen die Vorschläge zur gesetzlichen Regelung und rechtlichen Sicherung des Tarifvertrages, die sozialpolitisch engagierte Juristen ein Jahr zuvor formuliert hatten.65 Die Opposition in der Haltung zum Tarifvertrag war Ausdruck eines tieferen Gegensatzes zwischen den Anhängern der Ecole de l’Èxégèse, wie man die Bewahrer der Orthodoxie nannte, und den „Néoclassiques“, die für eine methodische Erneuerung der Rechtswissenschaft eintraten,66 für die Revision des Code civil, die Schaffung eines modernen Arbeitsrechtes und die Stärkung der Gewerkschaften, insbesondere ihres Klagerechts.67 Wichtige Vertreter dieser Gruppe waren Raymond Saleilles, Francois Gény, Albert Wahl und andere, insbesondere in Lyon und Lille lehrende Professoren, deren Organ die 1902 gegründete Revue trimestrielle de droit civil war. Die Revue berichtete fortlaufend über die Rechtsprechung; die Chronique de la Jurisprudence auf dem Gebiet des Schuldrechts betreute René Demogue. Sein 64 ������������������������������������������������������������������������������ Vgl. insbesondere die Kommentare von Marcel Planiol und Marcel Nast. Nach Planiol wäre der Tarifvertrag nichts anderes «qu’une déclaration faite par les patrons, dans laquelle ils fixent les conditions auxquelles ils leur sera possible d’embaucher des ouvriers; elle remplace le règlement d’atelier que le patron, en d’autres temps, aurait pu élaborer à lui seul; mais il n’en saurait sortir aucune obligation civile de nature contractuelle. Ce n’est pas un contrat de droit commun, c’est une sorte de traité de paix, qui n’a d’autre sanction que la grève, quand le patron refuse de s’y conformer, ou le renvoi des ouvriers qui n’accepteraient pas les condition établies.» Marcel Planiol, Traité élémentaire de droit civil, Bd. 2, Nr. 1838, Paris, F. Pichon, 1900. 65 Abgedruckt im Bulletin de la Société d’études législatives 4, 1905, S. 465 f. Der Text stammt von Raymond Saleilles, Raoul Jay, Barthélémy Raynaud und Auguste Souchon, und stieß innerhalb der Société auf heftigen Widerspruch aus den Kreisen der Richter und Staatsanwälte. 66 Pierre-Yves Verkindt / Laetitia Bonnard-Plancke, La réception de la «question sociale» par la doctrine juridique civiliste au tournant du siècle, in: Le Crom, Les acteurs, (wie Fn. 9), S. 19–27; David Deroussin (Hrsg.), Le renouvellement des sciences sociales et juridiques sous la III. République – La faculté de droit de Lyon. Actes du colloque de 2004, Centre Lyonnais d’Histoire du Droit et de la Pensée politique, Paris, Ed. La Mémoire du Droit, 2007; Les méthodes juridiques. Leçons faites au Collège libre des Sciences sociales en 1910, Paris, Giard & Brière, 1911. 67 Zur Debatte um das Recht der Gewerkschaften, auf Einhaltung des Tarifvertrags zu klagen und bei Tarifbruch Schadensersatz zu fordern, s. Norbert Olszak, La question de la personnalité juridique des syndicats (1884–1920), in: Carlos Miguel Herrera, (Hrsg.), Les Juristes face au politique: le droit, la gauche, la doctrine sous la III. Répu����� blique, Paris, Ed. Kimé, 2003, S. 21–43.

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15 Zeilen umfassender Kommentar des Urteils von Reims war die einzige Erwiderung aus dem Lager derer, die Tarifverträge prinzipiell befürworteten. Anders als der Juge de paix von Reims fragte der Professor in Lille als Erstes nach dem Willen der Vertragsparteien: «Cette solution est-elle conforme à l’intention des parties? Je ne le pense pas, car le but des ouvriers en s’assurant par un contrat collectif un certain salaire est de maintenir le prix du travail à un certain niveau et ce résultat est manqué si le patron peut éliminer ses anciens ouvriers pour les remplacer par d’autre moins payés. Selon moi il ne peut le faire qu’au bout d’un certain temps, lorsque, le conditions de l’industrie ayant pu changer, il est alors concevable qu’il s’assure du travail à meilleur compte.»68

Demogue sah zwar das Interesse der Arbeitnehmer an einer Stabilisierung der Löhne, nicht aber das Interesse der Arbeitgeber an einer Beschränkung der Konkurrenz. Dass Gewerkschaft und Arbeitgeber-Verband einen Ortstarif für das ganze Gewerbe vereinbaren wollten, der vom Gericht mindestens als Verkehrssitte hätte herangezogen werden müssen, fiel ihm nicht auf. Er diskutierte das Urteil so, als handele es sich um einen Haustarif zwischen einem einzelnen Arbeitgeber und dessen Arbeitnehmern, als gäbe es gar keinen Tarifvertrag zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber-Verband. Das Verhalten des Arbeitgebers beurteilte Demogue vor dem Hintergrund der in der Textilindustrie verbreiteten Praxis der Arbeitgeber, unbefristete Haustarife nach einiger Zeit einseitig außer Kraft zu setzen und die Löhne den veränderten Absatzbedingungen anzupassen. Bezeichnenderweise erschien ihm diese Praxis als völlig legitim. Eine rechtlich bindende Verpflichtung des Arbeitgebers vermochte er nicht zu erkennen, u.a. weil er nur unbefristete Tarifverträge kannte. Wäre er aber mit der alltäglichen Rechtsprechung der Conseils de prud’hommes vertraut gewesen, hätte er gewusst, dass die Gerichten prüften, ob ein Tarifvertrag noch als Verkehrsitte respektiert wurde oder ob er nicht mehr beachtet wurde (tombé en désuétude). Die Kluft zwischen dem lebenden Recht des Tarifvertrags und der juristischen Doktrin, die in diesem Kommentar aufscheint, ist insofern bemerkenswert, als sich die Revue trimestrielle de droit civil gerade die Beachtung der gesellschaftlichen Realität auf die Fahnen geschrieben hatte, insbesondere die Aufwertung der Rechtsprechung zu einer Grundlage der rechtsdogmatischen Arbeit. Dass Demogue, und nicht nur er, dennoch Schwierigkeiten hatten, die Funktion und Rechtswirkung eines Tarifvertrags im Bauhandwerk zu beschreiben, lag auch daran, dass empirische Arbeiten zu bestehenden französischen Tarifverträgen fehlten.69 Während deutsche Juristen auf die Veröffentlichungen des Vereins für Socialpolitik und der statistischen Ämter, auf die 68 RTD civil 1906, S. 680. 69 Rudischhauser, Action publique et sciences sociales (wie Fn. 44).

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fortlaufende Berichterstattung der Sozialen Praxis und der Zeitschrift des Verbandes der Gewerberichter und nicht zuletzt auf die Publikationen der Gewerkschaften zu Tariffragen zurückgreifen konnten, kannten französische Juristen in der Regel außer der Convention d’Arras nur wenige Tarifverträge.70 Keine französische Zeitschrift kommentierte, wie es die „Soziale Praxis“ tat, fortlaufend den Abschluss und den Inhalt von Tarifverträgen, kein sozialpolitischer Verein hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt intensiv mit dem Phänomen des Tarifvertrags beschäftigt oder ihn gar als Mittel zur Lösung der sozialen Frage empfohlen. Über die wenigen Arbeiten zum Tarifvertrag in Frankreich war Demogue offensichtlich nicht informiert,71 ebenso wenig wie über die Vorschläge zur gesetzlichen Sicherung des Tarifvertrags, die Raymond Saleilles in der Société d’études législatives entwickelt hatte. Selbst innerhalb der Revue fand also vor 1906 kein Austausch über den Tarifvertrag als Problem der Rechtswissenschaft statt. Dass dennoch in den folgenden Jahren Juristen in Deutschland und Frankreich ähnliche Fragen zum Tarifvertrag diskutierten und, wie wir am Beispiel des Juristentages in Karlsruhe gesehen haben, ähnliche Lösungen vorschlugen, zeigt, dass Zivilrechtler in beiden Ländern sich nach wie vor auf gemeinsame dogmatische Grundlagen bezogen. Allerdings waren die Voraussetzungen, unter denen die rechtswissenschaftliche Diskussion in Frankreich stattfand, und die Wirkungen, die sie entfaltete, andere als in Deutschland. Ähnlich wie in Deutschland konzentrierte sich die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung auf die Frage, warum und wie weit ein Verband seine Mitglieder binden durfte. Dabei wurden sehr schnell ähnliche Theorien entwickelt und ähnliche Abgrenzungen vorgenommen wie in der deutschen Rechtswissenschaft. Anders als in Deutschland gingen diese Positionen jedoch unmittelbar in die Rechtsprechung ein und wirkten sich direkt auf die Anwendung bestehender Tarifverträge aus. Ursächlich dafür war die hohe Zahl von Berufungen, die dazu führte, dass Klagen einzelner Arbeitnehmer auf Tariflohn nicht, wie in Deutschland, fast ausschließlich vor den erstinstanzlichen Arbeitsgerichten verhandelt wurden, sondern vor die Zivilgerichte bis hin zum Kassationsgerichtshof gingen. Hinzu kam ein zweiter wichtiger Grund. Anders als die deutschen Gewerkschaften besaßen die französischen ein Klagerecht, das sie eifrig nutzten, um Schadensersatzklagen gegen tarifbrüchige Unternehmer anzustrengen, die dann vor den Zivilgerichten verhandelt wurden. 70 So bildeten die genannten Zeitschriften und die Publikationen der Gewerkschaften die Quellenbasis für Lotmars bahnbrechenden Aufsatz von 1900 (wie Fn. 22). Die ein Jahr später erschienene Dissertation von Barthélemy Raynaud, Le contrat collectif de travail, Paris, A.Rousseau, 1901 handelt am Beispiel der Tarifverträge im Bergbau und im Buchdruck die bestehenden französischen Tarifverträge auf knapp 20 Seiten ab. 71 Er kannte weder Rundsteins Arbeit (wie Fn. 63), noch die Raynauds (wie Fn. 70), noch Felix Moissenet, Les contrats collectifs en matière de conditions de travail, Paris 1903.

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Die Zivilgerichte bezogen aber, ganz im Gegensatz zu den Conseils de prud’hommes, die mögliche Existenz einer durch den Tarifvertrag begründeten Verkehrssitte in ihre Urteilsfindung nicht immer ein. Sie versuchten häufig auch dann, aus dem bestehenden Vertragsrecht die Rechtswirkung von Tarifverträgen abzuleiten, wenn sie sich mit einem Verweis auf die ortsüblichen Löhne leicht aus der Affaire hätten ziehen können. So urteilte die Cour de Cassation am 7.7.1910 im Fall zweier Maurer, Vater und Sohn, die auf Tariflohn geklagt hatten. Für die Vorinstanz hatte kein Zweifel bestanden, dass der Tarifvertrag der Pariser Maurer vom 11.9.1909 anzuwenden sei, da zwischen Klägern und Beklagtem nichts anderes vereinbart worden war. Die Cour de Cassation aber gründete ihre Entscheidung auf die Tatsache, dass der Beklagte Mitglied des Arbeitgeberverbandes war, dem Tarifabschluss jedoch nicht ausdrücklich zugestimmt hatte. Im vorliegenden Fall war das zwar unerheblich, denn den Klägern stand der Tariflohn als ortsüblicher Lohn zu. Aber das Gericht wollte die Grundsatzfrage entscheiden, die wie 1876 in Saint-Etienne noch immer lautete, ob sich nach dem Abschluss eines Tarifvertrags die Minderheit der Mehrheit fügen müsse. Das Gericht entschied, der Arbeitgeber hätte seine Ablehnung des Tarifvertrags durch Austritt aus dem Arbeitgeber-Verband klar zum Ausdruck bringen müssen; der Tarifvertrag «oblige même ceux qui, faisant partie de la minorité … ont cependant continué à adhérer au syndicat et n’ont pas manifesté par une démission la volonté de reprendre leur liberté d’action».72 Die Cour de Cassation griff also die Rücktrittsklausel auf, die Raymond Saleilles 1904 in die französische Debatte eingebracht hatte, ließ aber, anders als der deutsche Juristentag, die Frage offen, ob der Widerspruch nur dann von der Bindung an den Tarifvertrag befreite, wenn er innerhalb einer bestimmten Frist nach Abschluss des Tarifvertrags erklärt wurde. Damit wurde das, was die Société d’études législatives im Hinblick auf eine gesetzliche Regelung des Tarifvertrags diskutiert hatte, zum Argument, um eine Tarifbindung nach geltendem Recht zu begründen. Das Urteil konnte als Erfolg für den Präsidenten des Verbandes der Pariser Bauunternehmer gelten, der in seinem Verband lange für einen Tarifvertrag gekämpft hatte. Aber nur wenig später stellte ein Urteil der Cour d’Appel de Paris vom 16.2.1911 diesen kleinen Schritt zur Stärkung der Vertretungsmacht der Verbände wieder in Frage. Diesmal ging es um eine Klage der Gewerkschaft der Klempner gegen mehrere Arbeitgeber wegen Verstoßes gegen den Tarifvertrag vom 27.12.1906. Das Gericht wies die Klage der Gewerkschaft auf Schadensersatz und Zwangsgeld ab, «considérant qu’il ne ressort aucunement des statuts du syndicat des entrepreneurs que ses adhérents lui aient donné mandat de les engager individuellement …; que, d’autre part, Berthier et autres n’ont, à aucun moment, ratifié les engagements pris par le Syndicat

72 D.1911.1.201.

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des entrepreneurs…».73 Der Arbeitgeber wäre also nur dann an den Tarifvertrag gebunden gewesen, wenn die Satzung des Arbeitgeber-Verbandes ausdrücklich bestimmt hätte, dass vom Vorstand abgeschlossene Tarifverträge jedes einzelne Mitglied des Verbandes im Hinblick auf die von ihm geschlossenen Arbeitsverträge binden. Das war nun freilich der Grundgedanke eines jeden Tarifvertrags. Hätten ArbeitgeberVerband und Gewerkschaft nicht die Absicht gehabt, ihre Mitglieder zu verpflichten, Arbeitsverträge in Zukunft gemäß den Bestimmungen des Tarifvertrags zu schließen, so hätten sie überhaupt keinen Tarifvertrag zu schließen brauchen. Das Gericht beachtete aber weder den Willen der Tarifparteien noch die Funktion des Tarifvertrags für das Klempnergewerbe. Darüber hinaus drehte das Gericht die Argumentation der Cour de Cassation um: Nur die ausdrückliche, nicht aber die stillschweigende Zustimmung begründete jetzt die Tarifbindung des Arbeitgebers. Beide Lösungen – die Mitglieder erteilen dem Vorstand des Verbandes eine ausdrückliche Vollmacht, in ihrem Namen einen Tarifvertrag abzuschließen, oder sie stimmen dem Tarifabschluss ausdrücklich zu – waren in der Fachwelt diskutiert, aber als unpraktikabel zugunsten der Rücktrittsklausel verworfen worden. Immerhin erkannte das Gericht an, dass die Gewerkschaft, wenn nicht gegen die einzelnen tarifbrüchigen Arbeitgeber, so doch gegen den Arbeitgeber-Verband klagen könnte. Der Kommentator, Marcel Nast, lehnte selbst diese Möglichkeit, dem Tarifvertrag Rechtsgeltung zu verschaffen, ab, weil der Arbeitgeber-Verband keine Garantie für die Ausführung des Tarifvertrags durch seine Mitglieder übernommen habe. Die Rechtswirkung des Tarifvertrags wurde so weit wie möglich eingeengt, ohne auch nur zu diskutieren, welche ökonomische und soziale Wirkung ein solcherart beschnittener Tarifvertrag denn noch haben könnte. Die Argumentation der Richter wie des Kommentators war bestimmt von dem Willen, die Freiheit vom Tarif zu begründen, nicht aber die Bindung an den Tarifvertrag. Diese Argumentation schwächte die Position der Arbeitgeber-Verbände, denn welchen Wert hatte die Unterschrift eines Verbandes, wenn er weder in Vertretung seiner Mitglieder abschloss noch verpflichtet war, mit geeigneten Maßnahmen die Durchführung des Tarifvertrags zu sichern? 73 D.1912.2.289. Die Gewerkschaft hatte in erster Instanz verloren, obwohl das Tribunal civil de la Seine am 23.4.1909, der Cour de Cassation folgend, geurteilt hatte, der Verbleib in Arbeitgeber-Verband sei als stillschweigende Anerkennung des Tarifvertrags zu bewerten. Das Tribunal hatte aber die Klage der Gewerkschaft nicht zugelassen, weil die betroffenen Arbeitnehmer nicht Gewerkschaftsmitglieder waren, und das Gericht ein eigenes Interesse der Gewerkschaft an der Erfüllung des Tarifvertrags nicht anerkannte. Auf diese Frage des Droit d’ester en justice konzentrierte sich die gesamte rechtsdogmatische Auseinandersetzung um den Tarifvertrag seit 1893. Demogue kritisierte die Entscheidung des Tribunal civil de la Seine scharf, weil die Tatsache, dass die Arbeitnehmer nicht Gewerkschaftsmitglieder seien, an der Verpflichtung der Arbeitgeber gegenüber der Gewerkschaft nichts ändere. RTD civil 1909, S. 913.

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Die Rechtsprechung der französischen Zivilgerichte erkannte die gängigste Form des Tarifvertrags, die Tarifverträge des Bauhandwerks, nicht als das an, was sie nach dem Willen der Tarifparteien waren, nämlich Regelungen für das gesamte Gewerbe vor Ort. Aber sie entwickelte auch die Auffassung des Tarifvertrags als eines schuldrechtlichen Vertrages nicht weiter, weil sie die Rolle der Verbände als Vertragsparteien minimierte. Dass die Verpflichtungen der Tarifparteien gegeneinander vielen französischen Juristen unklar blieben, rührt auch daher, dass ihnen die Tarifverträge im Verlagswesen in der Regel unbekannt waren. Wie oben dargestellt,74 traten in den Texten dieses Typs von Tarifvertrag die Verpflichtungen der Verbände, gegen tarifbrüchige Mitglieder vorzugehen, besonders deutlich hervor. Insbesondere die Institution der Schlichtungskommission machte sichtbar, dass jeder Tarifbruch eines einzelnen Mitglieds beide Verbände zum Handeln verpflichtete. Weil Sanktionen auch gegen Arbeitnehmer, die unter Tarif arbeiteten, verhängt wurden, wurde augenfällig, dass es sich beim Tarifvertrag um einen synallagmatischen Vertrag handelte und nicht um ein einseitiges Zugeständnis der Arbeitgeber, bessere Arbeitsbedingungen zu gewähren, eine Charte, die die Rechte der Arbeitnehmer und die Pflichten der Arbeitgeber festschrieb.75 In Frankreich wurde dieser Typ von Tarifvertrag in der Debatte nur selten herangezogen. Obwohl einige bekannte Entscheidungen wie die im Fall der Bandweber von Saint-Etienne, aber auch die zum Tarifvertrag der Leinenweber von Cholet 1897 überall zitiert wurden, wurden sie nur als Beitrag zur Frage des Klagerechts der Gewerkschaft diskutiert. Anders als im Bau kamen Individualklagen von Arbeitnehmern gegen tarifbrüchige Arbeitgeber im Verlagswesen gar nicht vor, da der Arbeitnehmer nach dieser Rechtsordnung ja Komplize des Tarifbruchs war. c. Schlichtungskommissionen und Friedenspflicht

Andererseits war das Funktionsprinzip von Schlichtungskommissionen in Frankreich wie Deutschland allen bekannt, die sich mit Tarifverträgen beschäftigten und das englische Vorbild der Boards of conciliation studiert hatten. Bekannt waren außerdem 74 Im Text bei Fn. 35. 75 Raymond Saleilles, Note sur le contrat collectif de travail, in: Bulletin de la SEL, 1908, S.  79–88, hier S.  85: «Il s’agit d’une petite charte industrielle, ou si l’on veut de la constitution du travail pour une industrie déterminée, constitution garantie par certains patrons, un peu à la façon dont au début du XIXe siècle les rois octroyaient et juraient une constitution au profit de leurs peuples. Il y avait bien là comme base de la constitution ainsi octroyée une sorte de contrat initial, mais un contrat qui ne présentait guère d’engagement, ou plutôt de sanction véritable que d’un seul côté, du côté de celui qui accordait la constitution et qui promettait de l’observer.»

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die in beiden Ländern funktionierenden Schlichtungskommissionen der Buchdrucker, die allerdings in Deutschland durch den Reichstarif der Buchdrucker besser ausgebaut waren und aufmerksamer analysiert wurden. Obwohl diese Institution der Buchdrucker als vorbildlich anerkannt wurde, wurde in Frankreich nur selten versucht, sie in die Tarifverträge anderer Gewerbe zu importieren. Der Schlichter im Arbeitskampf der Pariser Wagenbauer und der Friedensrichter von Sète, der die Tarifverträge der dortigen Hafenarbeiter vermittelte, gehören zu den wenigen Akteuren, die vorschlugen, eine ständige Schlichtungskommission einzurichten.76 In Deutschland hingegen folgten viele Gewerbegerichte dem Beispiel des Berliner Gewerbegerichts, das seit dem großen Tarifabschluss im Baugewerbe 1899 systematisch bei jedem Tarifabschluss die Einrichtung einer Schlichtungskommission vorschlug. Wenn es auch formal die Tarifparteien waren, die die Schlichtungskommission bildeten, so war es de facto doch das Gewerbegericht, das sie „einsetzte“.77 Anders als im Verlagswesen und bei den Buchdruckern ging es hier weniger darum, komplexe Fragen der Anwendung des Tarifvertrags zu klären, die dort, wo Zeitlohn vereinbart wurde, ohnehin kaum vorkamen.78 Vielmehr ging es den Gewerbegerichten darum, „einen erneuten Ausbruch der durch Vergleich beigelegten Streiks zu verhindern.“79 Die entsprechende Klausel in dem „Arbeitsbedingungen für das Maurer- und Zimmerergewerbe“ überschriebenen Berliner Tarifvertrag von 1905 lautete: „Der Kommission liegt die Schlichtung von Streitigkeiten aus diesen Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ob. … Bis zur endgültigen Entscheidung durch die Kommission … dürfen Bausperren oder Aussperrungen unter keiner Bedingung 76 Statistique des grèves, 1902, S. 320–336; 1905, S. 633–641. 77 Richard Bahr, Gewerbegerichte, Kaufmannsgerichte, Einigungsamt. Ein Beitrag zur Rechts- und Sozialgeschichte Deutschlands im XIX. Jahrhundert, Leipzig, Duncker & Humblot, 1905, S. 96 f. Schulz / Schalhorn, Das Gewerbegericht, (wie Fn. 47), S. 325; vgl. Max von Schulz, Die Berliner Schlichtungskommissionen (Sicherung und Erneuerung von Tarifverträgen), in: Verbandtags-Beilage zu Nr. 11 des Gewerbegerichts, 1905, Sp. 337–344. Dort auch ein „Chronologisches Verzeichnis der von dem Gewerbegericht Berlin eingesetzten Schlichtungskommissionen“. 78 Wohl aber dort, wo Stücklohn gezahlt wurde; ganz typisch die Verhandlungen einer Münchner Schiedskommission, über die der Vorsitzende des Gewerbegerichtes berichtet: „Im Münchner Hafnergewerbe schweben seit Jahren Differenzen über die Auslegung der nach dem Tarifvertrag vom 17. Juli 1897 über die Bezahlung der sog. Frontons (Ofenaufsätze) geltenden Bestimmungen. Da sich die Beteiligten über den Begriff „Frontons“, insbesondere über dessen Verhältnis zu „Fries am Sims“ nicht klar werden konnten, war die Entstehung einer Reihe von Prozessen die notwendige Folge. … Um diesen Zuständen ein Ende zu machen, wurden die beiden Teile veranlasst, … die diesbezügliche Tarifbestimmung klar zu stellen.“ Reicharbeitsblatt I, 1903, S. 938. 79 Schulz / Schalhorn, Das Gewerbegericht, (wie Fn. 47), S. 325.

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verhängt werden. Nach der endgültigen Entscheidung sind Bausperren oder Aussperrungen nur zulässig, wenn der Entscheidung nicht Folge geleistet wird. … Bei Verfehlungen der Arbeitnehmer gegen diese Arbeitsbedingungen verpflichtet sich die Organisation derselben, den betreffenden Arbeitnehmern keinerlei materielle oder moralische Unterstützung zu Teil werden zu lassen, es sei denn, daß die in diesen Arbeitsbedingungen vorgesehenen Instanzen ein Unrecht der Arbeitnehmer nicht anerkannt haben. Ebenso verpflichtet sich der Verband der Baugeschäfte von Berlin und den Vororten … vertragsbrüchig bleibenden Arbeitgebern keinerlei Unterstützung angedeihen zu lassen. … Die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmer-Vertreter verpflichten sich, ihren ganzen Einfluß zur Aufrechterhaltung dieser Bedingungen einzusetzen und im Widerspruch zu denselben ausbrechende Sperren oder Aussperrungen nicht zu unterstützen.“80

Im Vordergrund der Klausel stehen die Arbeitskampfmittel, die im deutschen Baugewerbe Ende des 19. Jahrhunderts Druckmittel und Sanktion zugleich waren. Jeder Konflikt über die Arbeitsbedingungen, jede Anordnung des Arbeitgebers oder seiner Beauftragten, jede Entlassung eines organisierten oder Einstellung eines nichtorganisierten Arbeitnehmers konnte dazu führen, dass eine Baustelle gesperrt, also von den organisierten Arbeitnehmern verlassen wurde; jede Reklamation oder Forderung der Arbeitnehmer konnte dazu führen, dass Arbeitnehmer ausgesperrt wurden. Der Abschluss eines Tarifvertrags änderte an diesem Zustand zunächst gar nichts, weil es ja gerade auch Verstöße gegen den Tarifvertrag, z. B. die Überschreitung der täglichen Arbeitszeit oder eine verspätete Lohnauszahlung waren, die die Arbeitnehmer mit sofortigen Kampfmaßnahmen beantworteten. Die Schlichtungskommission ersetzte diese Kampfmittel nicht, sie regelte ihren Einsatz, der nunmehr gemeinsam von Vertretern beider Parteien beschlossen wurde: Nur diejenigen Arbeitgeber, die sich der Entscheidung der Schlichtungskommission nicht beugten, durften gesperrt werden; nur diejenigen Arbeitnehmer, die trotz der Entscheidung der Kommission die Arbeit nicht wieder aufnahmen oder auf ihrer Forderung beharrten, durfte der Arbeitgeber aussperren. Die hier angelegte Friedenspflicht war also lediglich die Pflicht, ein bestimmtes Verfahren zu beachten, dessen Vorzug darin bestand, universell auf jede Art von Konflikt angewandt werden zu können. Neben die Verpflichtung der einzelnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, den Tarifvertrag einzuhalten, traten jetzt klare Vertragspflichten der Verbände, nämlich die Entscheidung der Schlichtungskommission abzuwarten und sich ihr zu beugen. Der Friede im Gewerbe, den Sozialreformer jeder Richtung mit der Idee des Tarifvertrags verknüpften, erhielt damit eine Form, die den Verhältnissen gerade im Baugewerbe entsprach. Die Gewerkschaften konnten nämlich in den meisten Gewerben nicht verhindern, dass kleinere oder größere Gruppen von 80 Tarifvertrag im Dt. Reich (wie Fn. 26), Bd. 3, S. 7 f.

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Arbeitnehmern die Arbeit niederlegten, sie konnten sich aber verpflichten, diese Arbeitnehmer nicht zu unterstützen. Welche Bedeutung diese pragmatische Sicht der Friedenspflicht für die Entwicklung des deutschen Tarifrechtes hatte, kann man an den vergeblichen Bemühungen französischer Juristen ablesen, Sanktionen für eine Verpflichtung zu finden, die weder deutsche noch französische Gewerkschaften je eingegangen waren und eingehen konnten, nämlich nicht zu streiken.81 Die immer zahlreicheren Schlichtungskommissionen etablierten nicht nur durch die ständigen Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Vertretern feste Beziehungen, in denen Vertrauen entstehen konnte, sie schufen auch neue Grundlagen für die juristische Interpretation des Verhältnisses der Verbände untereinander und zwischen den Verbänden und ihren Mitgliedern. Unabhängig von der auch in Deutschland fortlaufenden Debatte um die Haftung und Zahlungsfähigkeit der Gewerkschaften entstand ein wachsender Korpus konkreter Entscheidungen von Schlichtungskommissionen, an denen deutsche Juristen beobachten konnten, welche Garantien eine Gewerkschaft geben konnte, welche Sanktionen sie gegen Streikende aussprach. Dass aus den Verhandlungen der Schlichtungskommissionen eine Rechtsprechung zum Tarif- und Arbeitskampfrecht entstehen konnte, war aber nur möglich, weil die Gewerberichter nicht nur Schlichtungskommissionen anregten, sondern auch das Gewerbegericht als Einigungsamt zur Berufungsinstanz erklärten in den Fällen, in denen die paritätisch besetzten Schlichtungskommissionen zu keiner Entscheidung kamen. Die Besonderheit der erstmals im Tarifvertrag des Berliner Baugewerbes 1899 getroffenen Regelung war, dass der Spruch des Einigungsamtes in diesem Fall, anders als bei der Schlichtung von Arbeitskämpfen, kein Schiedsspruch sein sollte, der nur gültig wurde, wenn die Parteien ihn annahmen, sondern eine rechtskräftige Entscheidung.82 Auf diesem Wege wurde de facto die Kompetenz der Gewerbegerichte, 81 Vgl. Saleilles, Note, (wie Fn. 75), S. 87, wo er bezeichnenderweise sehr vage von einem „engagement collectif “ spricht, «de ne pas susciter la grève, … de ne pas se mettre en grève». Ersteres wäre eine Verpflichtung, die die Gewerkschaft eingehen konnte und die französisch Gewerkschaften dort, wo befristete Tarifvertrag abgeschlossen wurden, auch tatsächlich übernahmen. Zu letzterem hätten sich nur die Arbeitnehmer selbst verpflichten können. Saleilles schlägt als Lösung strafrechtliche Sanktionen vor gegen jeden, der zum Streik auffordert, obwohl ein Tarifvertrag besteht und von den Arbeitgebern respektiert wird. 82 �������������������������������������������������������������������������������� „Als … zum erstenmal auf Grund dieses Vergleiches eine Sache von der Achtzehnerkommission an das Einigungsamt gebracht wurde, und dieses in Ermangelung einer Einigung … einen Schiedsspruch abgeben musste, wurde derselbe nicht, wie das Gesetz es sonst vorschreibt, den Parteien zur Erklärung über Annahme oder Verwerfung vorgelegt, sondern die Annahme galt aufgrund des Vergleiches bereits erklärt. Dieses Verfahren ist von dem Gewerbegericht Berlin festgehalten und von den Parteien… hingenommen …worden.“ Ignaz Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Berlin,

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die sich nur auf Streitigkeiten aus dem Arbeitsvertrag erstreckte, auf Streitigkeiten aus dem Tarifvertrag erweitert. Die Tätigkeit des Gewerbegerichts München zeigt, wie aus den immer häufigeren Entscheidungen „in Tarifsachen“ ein kollektives Arbeitsrecht wuchs, das die Pflichten und Rechte der Verbände immer genauer definierte. Berühmt wurde das Urteil des Vorsitzenden des Münchner Gewerbegerichts Hans Prenner vom 24.10.1906. Bauhilfsarbeiter hatten die Arbeit niedergelegt, „weil der Bauleiter in Übereinstimmung mit … der ausdrücklichen Festlegung im Tarifvertrage den Genuß von Bier außerhalb der festgelegten Brotzeiten verweigert hatte“. Die Arbeiter streikten auch weiter, als die Gewerkschaft sie aufforderte, die Arbeit wieder aufzunehmen. Weil der Tarifvertrag die Verbände nicht nur verpflichtete, tarifbrüchige Mitglieder nicht zu unterstützen, sondern sie darüber hinaus verpflichtete, ihnen strengstens entgegenzutreten, urteilte das Gewerbegericht als 2. Instanz, die Gewerkschaft sei verpflichtet, die tarifbrüchigen Mitglieder aus der Organisation auszuschließen.83 Da das Verfahren vor der Schlichtungskommission auf jede Kampfmaßnahme, ohne Rücksicht auf den materiellen Anlass, angewendet werden konnte, nahm das Gewerbegericht zu immer weiteren Fragen des Arbeitskampfrechtes Stellung. So urteilte das Gewerbegericht München als Einigungsamt am 12.7.1911 über die schwarzen Listen, die der Verband der Arbeitgeber des Baugewerbes an seine Mitglieder verschickt hatte „mit dem Hinweis, dass die dort angegebenen Arbeiter nicht eingestellt werden dürfen und, falls sie bereits eingestellt sind, entlassen werden müssen“. Ohne auf die heiß umstrittene Frage, ob Schwarze Listen überhaupt zulässig seien,84 einzugehen, entschied das Gericht, dass nach der „formelle[n] Seite“ ein Verstoß gegen den Tarifvertrag vorliege, weil die Arbeitgeber zunächst die Schlichtungskommission hätten anrufen müssen, statt Selbstjustiz zu üben.85 Die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen ist hier mit Händen zu greifen. Die umständliche Bezeichnung „Gewerbegericht als Einigungsamt“ gab man bald auf und nannte die Berufungsinstanz, wie im Buchdruck, Tarifamt. Zu den bei den Gewerbegerichten angesiedelten Tarifämtern traten mit der Zentralisierung der Tarifverhandlungen im Baugewerbe Tarifämter auf Reichsebene als oberste Berufungsinstanz. Als Unparteiische finden wir in diesen Tarifämtern jedoch wieder dieselben Gewerberichter, insbesondere von Schulz und Prenner, die die Grundlagen dieser Rechtsprechung gelegt hatten. G. Reimer, 1902, S. 503. Die juristische Begründung für dieses Verfahren lieferte Hans Prenner, der den Beschluss des Einigungsamts als Schiedsspruch im Sinne des § 1038 ZPO betrachtete. Das Gewerbe- und Kaufmannsgericht, XII, 1906, Sp. 49–54. 83 Reichsarbeitsblatt, V, 1906, S. 1055. 84 Vgl. Paul Oertmann, Noch einmal die Schwarzen Listen des Zechenverbandes, in: Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 34, 1909, S. 261–281. 85 Jakob Heller, Einigungsamt und Bautarife in München. Das Gewerbegericht München als Einigungsamt und die Münchener baugewerblichen Tarifverträge in den Jahren 1904–1912, München, Ernst Reinhardt, 1913, S. 126 f.

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Kurz vor dem Krieg hatte die Rechtsprechung der Tarifämter einen solchen Umfang angenommen, dass zu ihrer Sammlung und wissenschaftlichen Bearbeitung eine eigene Zeitschrift gegründet wurde.86 Gegenüber dieser Masse von Urteilen erscheint der französische Korpus von 37 Fällen, auf die sich die Rechtswissenschaft und der Gesetzgeber 1913 stützen konnten, sehr klein. Zwar gelang es 1913 endlich, das Recht der Gewerkschaften, auf Erfüllung eines Tarifvertrags zu klagen, höchstrichterlich festzustellen, doch blieben viele andere Aspekte des Tarifrechts ungeklärt. Besonders schwer fiel es den französischen Rechtswissenschaftlern, die Pflichten von Gewerkschaften und Arbeitnehmern zu definieren, und zwar insbesondere dann, wenn es um Haustarife ging. Die These, ein Tarifvertrag sei gar kein Vertrag, sondern nur ein einseitiges Zugeständnis des Arbeitgebers, schien mit Hinblick auf diese Verträge plausibel; eine Verpflichtung des Arbeitnehmers, nicht unter Tarif zu arbeiten, überflüssig. Ähnliches galt für die Convention d’Arras: Da der Bergmann, wenn er das Gedinge vereinbarte, gar nicht wissen konnte, welchen Lohn er am Ende beziehen würde, konnte er auch den Tarif nicht absichtlich unterschreiten. Der bekannteste Tarifvertrag Frankreichs regelte weder Löhne noch Arbeitszeit verbindlich und gab für die juristische Arbeit am Tarifvertrag wenig her. Weil die Verpflichtungen der Arbeitgeber aus der Convention d’Arras zu großen Teilen nicht einklagbar waren, provozierte dieser Tarifvertrag auch keine Gerichtsentscheidungen, an die eine rechtswissenschaftliche Erörterung hätte anknüpfen können. Die Tarifverträge der Verkehrs- und Versorgungsbetriebe hingegen gaben Anlass zu mehreren bedeutenden Entscheidungen, so der Tarifvertrag der Omnibusgesellschaft von Paris und der Tarifvertrag der Schmalspur-Eisenbahn von Saint-Etienne. Das Urteil im letztgenannten Fall87 markiert eine wichtige Etappe in der Entwicklung des französischen Tarifrechts, weil das Gericht ebenso wie der bedeutende Kommentar von Henri Capitant klar darlegten, weshalb der Tarifvertrag als schuldrechtlicher Vertrag anzusehen sei. Im vorliegenden Fall sah sich der Arbeitgeber, die Compagnie des chemins de fer à voie étroite de Saint-Etienne, durch das Gesetz vom 13.7.1906 über den wöchentlichen Ruhetag gezwungen, den Angestellten einen freien Tag pro Woche zu gewähren, und wollte diese zusätzliche Belastung durch eine Lohnsenkung kompensieren. Die Löhne waren aber durch einen 1905 geschlossenen Tarifvertrag als Monatslöhne festgelegt worden. Als die Verhandlungen mit der Gewerkschaft über eine Änderung des Tarifvertrags scheiterten, kündigte der Arbeitgeber einseitig den 86 Entscheidungen des Haupttarifamts für das deutsche Baugewerbe, Entscheidungen des Tarifamts des Gewerbegerichts München, Entscheidungen des Tarifamts für die Lederwaren- und Reiseartikelindustrie zu Offenbach a. M. , in: Das Einigungsamt. Monatsschrift zur Pflege des gewerblichen Einigungswesens und der Tarifverträge, 2. Jg. 1914. 87 D.1909.2.33.

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Tarifvertrag und setzte die Löhne herab. Die Gewerkschaft klagte auf Erfüllung des Vertrages und war in erster Instanz erfolgreich, weil das Gericht erklärte, die Gewerkschaft sei aus dem Tarifvertrag berechtigt und verpflichtet. Und zwar habe sie sich verpflichtet «à user de son influence auprès de ses adhérents en vue de l’acceptation des condition de travail et de salaire consenties par la compagnie …». Die Cour d’appel de Lyon schloss sich in zweiter Instanz mit Urteil vom 10.3.1908 dieser Begründung an. In seinem Kommentar verwies Capitant auf den Willen der Vertragsparteien, die durchaus die Absicht hätten, sich zu binden, und verwarf explizit – im Recueil Dalloz! – die Thesen Planiols. Allerdings ergab sich aus der Art und Weise, wie das Gericht die Pflichten der Gewerkschaft definiert hatte, ein Problem: Wenn die Gewerkschaft nur versuchen musste, ihre Mitglieder zur Annahme der vereinbarten Arbeitsbedingungen zu bewegen, war sie nach Wiederaufnahme der Arbeit zu nichts mehr verpflichtet. Deshalb formulierte Capitant wohl bewusst, der Arbeitgeber erwarte, «que le syndicat fera accepter et respecter par ses adhérents les conditions de travail stipulées». War die Gewerkschaft verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass zu den vereinbarten Konditionen weitergearbeitet wurde,88 so ergab sich daraus eine Friedenspflicht. Die Konstruktion war freilich wenig überzeugend, da der Tarifvertrag auf unbestimmte Zeit abgeschlossen worden war. In erster Instanz nahm das Tribunal civil de Saint-Etienne zwar an, der Tarifvertrag sei nach dem Willen der Vertragsparteien stillschweigend auf bestimmte Zeit geschlossen worden, nämlich für die Dauer der städtischen Konzession, über deren Erneuerung parallel verhandelt wurde. Da diese aber 50 Jahre betrug, merkte Capitant an, es sei kaum glaubhaft, dass die Gewerkschaft eingewilligt habe, für die nächsten 50 Jahre auf Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu verzichten. Er plädierte deshalb dafür, diesen Tarifvertrag als unbefristeten Vertrag zu behandeln, was die Verpflichtung der Gewerkschaft, keine Lohnforderungen zu stellen, aber erst recht problematisch machte. Interessant ist, dass die Einwände Capitants und die Problematik langfristiger bzw. unbefristeter Verträge in den folgenden Jahren von niemandem aufgegriffen und diskutiert wurden. Eine Pflicht der Gewerkschaften, für die Dauer eines Tarifvertrags nicht zu streiken, wurde zwar von vielen Autoren proklamiert, die praktischen Konsequenzen aber kaum bedacht. Ungerührt hielt Paul Pic, auch er ein regelmäßiger Mitarbeiter der Revue trimestrielle de droit civil, in der dritten Auflage seines viel benutzten Lehrbuches daran fest, Tarifverträge könnten ohne Probleme auf unbestimmte Zeit abgeschlossen werden.89 Im Vergleich zu Deutschland auffallend ist nicht, dass die Meinungen der Fachleute stark auseinandergingen, sondern die

88 So in nuce schon Raynaud, Le contrat collectif (wie Fn. 70), S. 283. 89 Paul Pic, Traité élémentaire de législation industrielle. Les lois ouvrières, Paris, Arthur Rousseau, 3. Auflage 1909, S. 938, Nr. 1185.

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fehlende Kommunikation zwischen Fachleuten. Eine „scientific community“ des Arbeitsrechtes hatte sich offenbar noch nicht gebildet.90

4. Zusammenfassung Der Versuch, anhand einiger bekannter Urteile die Entwicklung des Tarifrechts in beiden Ländern nachzuzeichnen, kann nicht zu einer systematischen Darstellung führen, solange die Quellenbasis vom Zufall bestimmt ist, nämlich davon, ob ein erstinstanzliches Urteil in Berufung ging und deshalb publiziert und überliefert wurde. Trotzdem lassen sich mit dieser Methode einige Erkenntnisse im Hinblick auf die Interaktion der beiden Rechtsordnungen gewinnen. Unübersehbar ist die zentrale Rolle der Vorsitzenden der deutschen Gewerbegerichte als Mittler zwischen der Rechtsordnung der Tarifparteien und der Welt der Juristen. Ihre Mittlerfunktion entspringt nicht nur aus der juristischen Vorbildung, die sie besitzen, sondern auch aus ihrer Doppelrolle als Richter und Schlichter. Weil die Regeln, die sich die Tarifparteien gesetzt haben, unter ihrem Vorsitz und ihrer tätigen Mithilfe ausgehandelt wurden, machten sich die Gewerberichter diese in hohem Maße zu eigen und bemühten sich, die Rechtswirkung der Tarifverträge zu stärken. Dabei verfügten sie im Vergleich zu den französischen Conseillers prud’hommes und Juges de paix über erhebliche Handlungsspielräume und ein dichtes Kommunikationsnetz. Die Schlichtungskommissionen und das aus ihnen hervorgegangene Tarif- und Arbeitskampfrecht stellen eine autonome Weiterentwicklung der eigenen Rechtsordnung der Tarifparteien dar, die aber in mancher Hinsicht auch ein Ergebnis der Autonomie der Gewerberichter war, die ihre Kompetenzen – mit Zustimmung der Tarifparteien – auf erstaunliche Weise erweiterten. Die parallel zu dieser Entwicklung verlaufenden rechtsdogmatischen Debatten sind in beiden Ländern von der Frage der Normsetzungsmacht der Verbände dominiert. Dabei argumentierten jedoch Rechtswissenschaftler in Deutschland weit stärker als in Frankreich mit der ökonomischen und sozialen Funktion von Ortstarifen. Eine solche funktionalistische Argumentation, die die Rechtsfolgen des Tarifvertrages aus dem Zweck ableitete, den die Tarifparteien selbst oder der Gesetzgeber, der Berufsvereine legalisiert hatte, verfolgten, trifft man in Frankreich nur ganz vereinzelt an. Ein weiteres verbindendes Glied zwischen den beiden Rechtsordnungen in Deutschland stellt der Bezug auf die Verkehrssitte dar, der durch die Auslegungsnormen des BGB im Zivilrecht zu neuen Ehren gelangte. In Frankreich dagegen stand gerade die Bedeutung der Usages im Mittelpunkt des Konfliktes zwischen Conseils de prud’hommes und 90 Roland Dubischar, Zur Entstehung der Arbeitsrechtswissenschaft als Scientific Community. Eine Erinnerung, in: Recht der Arbeit (1990), Heft 2, S. 83–97.

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Zivilgerichtsbarkeit und markierte die Trennlinie zwischen der Rechtsordnung des Ortstarifs und der herrschenden Auslegung des Code civil. Diese Unterschiede haben ihre Ursachen in der unterschiedlichen Entwicklung der Rechtswissenschaft selbst, können jedoch zum Teil auch auf eine unterschiedliche Rezeption der verschiedenen Typen von Tarifverträgen zurückgeführt werden. Angesichts der großen Vielfalt von Tarifverträgen nahmen Rechtswissenschaftler, die an einer allgemeingültigen Theorie des Tarifvertrags oder an einem nationalen Tarifrecht arbeiteten, häufig bewusst oder unbewusst eine Selektion vor, indem sie sich auf diejenigen Typen von Tarifverträgen bezogen, die ihnen vertraut waren. Der Publikation von Tarifverträgen und der sozialwissenschaftlichen, empirischen Forschung auf diesem Gebiet kommt deshalb eine große Bedeutung für die Entfaltung der Doktrin zu. Dass in Deutschland Haustarifen wenig Beachtung geschenkt wurde und in Frankreich Tarifverträge im Verlagswesen als Überbleibsel der vorindustriellen Vergangenheit galten, wirkte sich auf die rechtswissenschaftliche Arbeit aus. Weil Ortstarife im Handwerk durch die Tätigkeit der Gewerbegerichte, aber auch der Handwerks- und Handelskammern, einen hohen Bekanntheitsgrad erlangten, war auch das Interesse der Arbeitgeber an der Bekämpfung der Schmutzkonkurrenz allgemein bekannt. Die Präsenz der Innungen tat ein Übriges, um den Beobachter auf die ökonomische Funktion des Tarifvertrags hinzuweisen. Das Interesse des einzelnen tarifbrüchigen Arbeitgebers blieb in diesem Zusammenhang eher im Hintergrund, während es in Frankreich, im Zusammenhang mit unbefristeten Haustarifen, in den Vordergrund treten konnte. Entsprechend große Mühe hatten die französischen Gewerkschaften, nachzuweisen, dass der Tarifbruch eines Arbeitgebers nicht nur einzelne Arbeitnehmer, sondern das ganze Gewerbe schädigen konnte, und mit diesem allgemeinen Interesse ihr Klagerecht zu begründen. Im Rahmen dieses Aufsatzes nicht behandelt werden konnte die Frage, welche Rückwirkung auf die Rechtsordnung und das Rechtsbewusstsein der Tarifparteien die hier besprochenen Urteile entfalteten. Gerade angesichts des langen Kampfes der französischen Gewerkschaften um die Anerkennung ihres Klagerechtes kann man jedoch vermuten, was es für sie bedeutete, wenn Richter und Wissenschaftler immer wieder erklärten, der Tarifvertrag sei nur sehr eingeschränkt bindend und gegen den Willen eines Einzelnen im Grunde wertlos.

Friedrich Lenger

Arbeitsregime im Übergang – ein vergleichender Kommentar

„Es ist vielmehr möglich, daß die maßgebenden Rechtsgrundsätze ursprünglich auf wirtschaftlich weit abliegenden Gebieten entstanden sind und daß die thatsächlichen Verhältnisse, welche durch sie reguliert wurden, sich völlig verändert haben.“1 – Diese von Max Weber in seinem ersten Buch in ganz anderem Zusammenhang getroffene Feststellung umschreibt mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen rechtlichen Traditionen, Normen und Institutionen einerseits und den von ihnen geregelten Verhältnissen andererseits sowohl das Kernanliegen des gesamten Bandes, das insbesondere in Joachim Rückerts wiederholtem und pointiertem Insistieren auf dem Faktor Recht zum Ausdruck kommt, ebenso wie die besondere Problemstellung der hier zu kommentierenden und im Einzelnen ganz unterschiedliche Thematiken, Zeiten und Räume behandelnden Beiträge.2 So konstatiert Thorsten Keisers Vergleich der Arbeitsregime in der Bundesrepublik und der DDR strukturell recht ähnliche Rechtsinstitute mit gänzlich unterschiedlichen sozialen Funktionen. An diesem Grundbefund ist wenig zu deuteln, doch wirft der Vergleich selbst eine Reihe von Fragen auf. Das beginnt mit dem methodischen Ausgangspunkt, die Kriterien für freie und gebundene Arbeitsverträge, für die sich Keiser interessiert, „vom liberalen Rechtsstaat her“ zu denken und so die Grundperspektive der in den 1960er und 1970er Jahren populären Systemvergleiche

1

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Max Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Schriften 1889– 1894, hg. von Gerhard Dilcher / Susanne Lepsius, (= Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I, Bd. 1) Tübingen 2008, 156. Vgl. zum Kontext der Weberschen Schrift knapp: Friedrich Lenger, Zum Fortgang der Max-Weber-Edition (III), Archiv für Sozialgeschichte LI (2011), 645–660, bes. 646 ff. Vgl. Joachim Rückert, Stadt – Recht – Agglomeration, in: Albrecht Cordes / Joachim Rückert / Reiner Schulze (Hg.), Stadt – Gemeinde – Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, 253–289, bes. 257–263; ähnlich Joachim Rückert, Stadt – Land – Recht – Agglomeration – Europa, in: Friedrich Lenger / Klaus Tenfelde (Hg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln 2006, 171–231.

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Friedrich Lenger

einfach umzukehren.3 Einerseits ist diese „Einseitigkeit“, die indirekt auch darin zum Ausdruck kommt, dass das Arbeitsrecht der Bundesrepublik eine Vorgeschichte hat, scheinbar aber nicht das der DDR, in vorbildlicher Weise gleich eingangs offengelegt. Andererseits bleibt doch die Frage, ob so ein tragfähiger Vergleich zustande kommen kann. Grundsätzliche Zweifel begründet schon – gleichfalls in diesem Band – Sabine Rudischhausers mustergültiger Vergleich der Entwicklung des Tarifvertragsrechts in Deutschland und Frankreich um 1900, der ja sehr deutlich macht, wie wichtig es ist, die Art und Weise, wie die Vergleichsobjekte zeitgenössisch konstruiert wurden, in den Vergleich einzubeziehen.4 Wenn aber schon die Lektüre französischer Quellen mit einer an deutschen Verhältnissen geschulten Begrifflichkeit zu elementaren Missverständnissen führt (und vice versa), dann steht zu befürchten, dass dies bei zwei Gesellschaften, deren Verfasstheit sich noch sehr viel grundlegender unterscheidet, in sehr viel höherem Maße der Fall ist. Aber auch unterhalb dieser grundsätzlichen methodischen Ebene werden Probleme sichtbar. So scheint die für beide Untersuchungsfälle wichtige Differenz zwischen rechtlicher Normierung und praktischer Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse im Falle der DDR noch sehr viel stärker zu Buche zu schlagen. (Dafür ist schon die Seltenheit von Kündigungsschutzprozessen in der DDR ein Indiz.) Zu Recht konstatiert Keiser den Versuch der „Etablierung einer ‚sozialistischen Arbeitsmoral‘“ als systemtypisch für die DDR. Wohlbekannten „Helden der Arbeit“ zum Trotz war derlei Parolen aber wenig Erfolg beschieden. Absentismus, Materialdiebstahl oder auch der Wechsel in Betriebe, denen innerhalb des Gesamtsystems besonders große Chancen zugewachsen waren, auf rare Güter, etwa Neubauwohnungen, zugreifen zu können, waren Phänomene, die die Arbeitswelt des realen Sozialismus in viel höherem Maße prägten als die der Bundesrepublik, in der die Allokation von Arbeit stärker marktgesteuert war. Anders formuliert: Der Vergleich fällt asymmetrisch aus, weil die von Joachim Rückert behauptete Härte der durch den Faktor Recht begründeten Strukturen in der DDR nicht im selben Maße gegeben war wie in der Bundesrepublik. Der tieferliegende Grund hierfür war sicher die weitgehende Aufhebung der Ausdifferenzierung von Wirtschaft, Politik und Recht als selbstregulativer Subsysteme der Gesellschaft, wie er auch in den Interventionsmöglichkeiten der Staatssicherheit zum Ausdruck kommt. Auch von daher wäre es sinnvoll gewesen, zumindest perspektivisch das sowjetische Vorbild vergleichend einzubeziehen und das sowohl hinsichtlich der in der UdSSR

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Vgl. beispielhaft BRD-DDR. Vergleich der Gesellschaftssysteme. Wolfgang Abendroth zum 65. Geburtstag, Köln 1971. Zu diesem methodischen Grundanliegen für das semantische Feld der Arbeit vor allem Peter Wagner / Claude Didry / Bénédicte Zimmerman (Hg.), Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive, Frankfurt a. M. 2000.

Arbeitsregime im Übergang – ein vergleichender Kommentar

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äußerst rigorosen und repressiven Mobilisierung von Arbeitskräften als auch mit Blick auf etwaige rechtliche und rechtswissenschaftliche Vorbilder. Schließlich wäre für die Bundesrepublik die Rede vom Wandel „von einem, wenn man vom BGB ausgeht, eher freien zu einem ‚sozial gebundenen Arbeitsregime‘“ zu hinterfragen. Was inhaltlich damit gemeint ist, ist klar genug. Angemessener wäre es aber wohl, von einem sozial abgefederten oder sozialpolitisch eingehegten Arbeitsregime zu sprechen. Denn das hätte den Vorteil, dass man den Begriff „gebundene Arbeit“ für solche Arbeitsregime reservieren könnte, in denen die persönliche Freiheit des Arbeitenden in irgendeiner Weise, und sei es durch die kaum durchgesetzte Arbeitspflicht der DDR, eingeschränkt ist. Das würde auch die mehrdeutige Verwendung des Begriffes der „gebundenen Arbeit“ überflüssig machen, deren Sinn im Abschnitt zur Bundesrepublik doch ein ganz anderer ist als bei der abschließenden Begriffsdiskussion. Die zurückhaltende Verwendung des Begriffes der „gebundenen Arbeit“ gewänne an Überzeugungskraft, wenn man die Perspektive räumlich und zeitlich erweiterte. Eine solche räumliche Ausweitung bot Wolfgang Höpkens, in der Druckfassung leider zu entbehrende, faszinierende Analyse jugoslawischer Selbstverwaltungssysteme, in der die Ebene rechtlicher Normierung gegenüber der praktischen Ausgestaltung und letztlich gegenüber der systemimmanenten Paralyse stärker zurücktritt. Unterschiede wie Ähnlichkeiten im Vergleich zum staatssozialistischen System der DDR sind dabei zu offensichtlich, um hier noch einmal aufgelistet zu werden. Für die übergreifende Frage des Bandes nach der (relativen) Autonomie des Rechts und seiner Prägekraft für die gelebte Arbeitswelt scheinen zwei Fragen weiterführend: zum einen die nach der Dynamik, aus der sich die sehr plausibel vorgeführte ideologiegetriebene Fortsetzung von Selbstverwaltungsexperimenten verstehen lässt. Der Bruch mit Stalin scheint als Erklärung nicht auszureichen, da Tito ja nicht nur auf Brioni durchaus andere Demonstrationsfelder für Unabhängigkeit und Eigenständigkeit etwa im Rahmen der Bewegung der Blockfreien zur Verfügung standen; zum andern, und womöglich ist dies nur die Kehrseite der ersten Frage, wäre es interessant zu erfahren, weshalb keinerlei Lernprozesse in Gang gekommen sind, die aus den Systemblockaden Konsequenzen gezogen hätten, zumal sich die Aporien ungenügend reintegrierter Selbstverwaltung ja auf der Ebene der Einzelrepubliken gleichfalls überdeutlich zeigten. Der Beitrag von Christoph Rass lässt die so unterschiedlichen sozialistischen Gesellschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren ganz spezifischen Steuerungsproblemen, deren Implikationen für die Frage nach dem Faktor Recht insgesamt wohl noch deutlicher herausgearbeitet werden müssten, beiseite und öffnet dafür den Untersuchungsrahmen sowohl zeitlich als auch räumlich. Zugespitzt auf die Frage nach der Mittäterschaft des Rechts beim Entstehen unfreier Arbeit zeigt er sehr überzeugend, dass der Blick auf die vertragliche Regelung von Arbeitsverhältnissen nicht nur wegen der wohlbekannten asymmetrischen Machtverteilung zwischen den

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Friedrich Lenger

Vertragsschließenden zu kurz greift. Vielmehr muss zusätzlich – und das Beispiel der Migration macht das sehr augenfällig – stets der persönliche Rechtsstatus der Betroffenen einbezogen werden. Die damit begründete Doppelperspektive wird indessen nicht enggeführt, sondern mit zum Teil weit ausholenden allgemeineren Überlegungen verbunden, die oft sehr anregend, zum Teil aber in ihrer Pauschalität nur schwer abschließend zu beurteilen sind. Ob „für eine Mehrheit der weltweiten Arbeitswanderer die Globalisierungsprozesse am Ende dieses Jahrhunderts [gemeint ist das 20., F.L.] erneut zu einer Verschlechterung ihrer Wanderungsbedingungen beigetragen“ haben, scheint deshalb kaum diskutierbar, weil diese Migranten in Rass` Beitrag kein Gesicht, d.h. konkret z. B. weder Geschlecht noch eine eigene Sicht der Welt und allenfalls eine kontinentale oder nationale Herkunft haben. Dass Kriterien, anhand derer eine „Verschlechterung“ zu diagnostizieren wären, nicht explizit erörtert werden, deutet auf ein zweites Problem des Beitrags hin: Der Schlüsselbegriff der „faktisch unfreien Arbeit“ schillert und dient – wie andere auch – der Beschreibung und Analyse ebenso wie der Empörung. Klar ist allein die begriffliche Abgrenzung gegenüber rechtlich fixierten Formen unfreier Arbeit wie Sklaverei, Zwangsarbeit oder (Schuld-)Knechtschaft. Im Verlauf der Untersuchung aber werden so unterschiedliche Kriterien wie menschenwürdige Lebensbedingungen oder Handlungsautonomie als Freiheitskriterien eingeführt. Ob und wie weit der Begriff der „faktisch unfreien Arbeit“ trägt, bleibt so offen. Im Zentrum der Untersuchung steht der „Konnex zwischen legaler Migration, ihrer rechtlichen Verfassung und faktisch unfreier Arbeit“. Konkret gemeint sind damit Situationen, in denen die Verhandlungsmacht von zugewanderten Arbeitnehmern gegenüber ihren Arbeitgebern dadurch massiv eingeschränkt wird, dass ihr Aufenthaltsrecht an ein konkretes Arbeitsverhältnis und womöglich an die Beurteilung durch den Arbeitgeber geknüpft ist. Der in den Anmerkungen referierte Begriff des „vulnerable employment“ ist hierfür angesichts der moralischen Aufladung des Freiheitsbegriffs dem der „faktisch unfreien Arbeit“ wohl vorzuziehen. Das umso mehr, als der Grund der Verletzbarkeit von Migranten eben typischerweise darin besteht, dass sie nicht über die vollen Staatsbürgerrechte des Landes verfügen, in dem sie sich aufhalten. Die dadurch begründete Verschränkung von Arbeits- und Migrationsregime fasst Rass im Schlussteil seines Beitrags in ein Verlaufsmodell. Auf ein Migrationsregime, das noch in hohem Maße von den bereits erwähnten und lange legalen Formen unfreier Arbeit geprägt geblieben ist, folgten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als modern bezeichnete Migrationsregime, „die freie Arbeitsmigranten in Klassen unterschiedlicher Rechtsqualität teilen“. Diese modernen Migrationsregime bleiben zunächst ein Privileg Europas, und Rass hält die restriktive preußische Politik gegenüber polnischen Zuwanderern für den Ausdruck eines „Ineinanderlaufen(s) der Diskurse aus dem kolonialen bzw. extraeuropäischen und dem innereuropäischen Umgang mit freier sowie unfreier Arbeit“. Das versucht er mit dem Verweis auf zeitnahe parallele Regelungen

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in Namibia zu plausibilisieren, wogegen zunächst einmal einzuwenden ist, dass Gleichzeitigkeit noch keine kausale Verbindung belegt. Vor allem aber übersieht Rass, dass gerade das Beispiel der preußischen Polenpolitik seinen implizit funktionalistischen Denkansatz in Frage stellt, demzufolge sich der Kapitalismus die Diskriminierung von Fremden dadurch zur Gewinnung billiger Arbeitskräfte zunutze zu machen versteht, dass er Migrationsregime entsprechend ausgestaltet. Im kaiserzeitlichen Preußen aber verweigerte gerade die rassistisch aufgeladene Diskriminierung von Polen (und Juden) den (agrar-)kapitalistischen Arbeitgebern die Zufuhr von Arbeitskräften.5 Eine Unterschätzung des Eigengewichts des Nationalstaats scheint mir auch für die Behandlung der Zwischenkriegszeit kennzeichnend. Die Sympathie des Autors gilt ganz den Bemühungen der Internationalen Arbeitsorganisation, den Rechtsstatus von Arbeitsmigranten zu verbessern, Bemühungen, die in den zwischenstaatlichen Vereinbarungen seit den späten 1940er Jahren mit ihren Schutzklauseln für angeworbene Arbeitskräfte ihr funktionales Äquivalent hatten. Die Sympathie ist verständlich, vernachlässigt aber allzu sehr, dass die Zwischenkriegszeit eine solche äußerst limitierter Arbeitsmigrationen ist. Insofern greift das insbesondere von Lutz Raphael zugespitzte Modell von Inklusion und Exklusion als kommunizierenden Röhren, deren Funktionieren im Nationalstaat des ausgehenden 19. und (frühen) 20. Jahrhunderts von einem Zuwachs an wohlfahrtsstaatlicher Inklusion für die Staatsangehörigen bei gleichzeitiger verschärfter Exklusion von Fremden gekennzeichnet gewesen sei, grundsätzlich auch hier.6 (Es müsste indessen zusätzlich noch die Beispiele gleichzeitig gesteigerten Drucks auf die vermeintlich Arbeitsunwilligen einbeziehen.7) Weiterführend, aber angesichts der Spannweite der behandelten Räume und Zeiten nicht von Rass zu erwarten, wäre insgesamt eine eingehendere Analyse des französischen Sonderfalles ganz erheblicher Rekrutierung „fremder“ Arbeitskräfte in der Zwischenkriegszeit. Vor allem würde man sich einen eingehenden Vergleich der Behandlung polnischer, tschechischer oder spanischer Zuwanderer mit jenen aus Algerien und Marokko wünschen, um das etwa von Christophe Charle vor ei-

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Vgl. knapp Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, bes. 263–277. Vgl. knapp Lutz Raphael, Königsschutz, Armenordnung und Ausweisung – Typen der Herrschaft und Modi der Inklusion und Exklusion von Armen und Fremden im mediterran-europäischen Raum seit der Antike, in: Andreas Gestrich / Lutz Raphael (Hg.), Inklusion / Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2.2008, 15–34, bes. 32 f. Vgl. dazu zuletzt Sigrid Wadauer, Establishing Distinctions: Unemployment versus Vagrancy in Austria from the Late Nineteenth Century to 1938, International Review of Social History LVI (2011), 31–70, bes. 55–59.

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Friedrich Lenger

niger Zeit sehr pauschal behauptete Gewicht der postkolonialen Situation genauer einschätzen zu können. Nicht zufällig greifen die von Rass so gelobten Instrumente der Internationalen Arbeitsorganisation mit ihren bilateralen Zuwanderungsabkommen und extensiven Schutzbestimmungen für Zuwanderer erst unter den grundlegend veränderten Verhältnissen der zweiten Nachkriegszeit so richtig. Dieser als fordistisch gekennzeichneten Idylle lässt Rass den Strukturbruch der 1970er Jahre folgen, für die er mit Russel King von einer „Privatisierung“ der Migration“ spricht. Ganz glücklich scheint die Begriffsbildung für das primär in den Blick genommene Phänomen nicht, da die aus dem Illegalenstatus der sans papiers resultierende Schwäche, ja Wehrlosigkeit dieser Migrantengruppen auf den gleichfalls illegalen Arbeitsmärkten Europas eben eine doppelte Wurzel hat. Die weitgehende Duldung illegaler Arbeitsmärkte mag man als „Privatisierung“ (oder Rückzug des Staates) fassen, doch würde sie ohne die staatliche Regulierung der Zuwanderung nicht die beklagten Folgen haben. Interessant wäre es überdies, etwas über die Zusammenhänge zwischen dem enormen Zuwachs an innereuropäischer Freizügigkeit im Rahmen des Europäischen Einigungsprozesses und den Abwehrtendenzen gegenüber afrikanischen Flüchtlingen zu erfahren. Haben wir es – nun auf europäischer Ebene – womöglich mit einer ähnlichen Dialektik von Inklusion und Exklusion zu tun, wie sie Lutz Raphael für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatiert hat? Ein so weit gespannter Beitrag wie der von Christoph Rass muss notgedrungen die eine oder andere Frage unbeantwortet lassen. Zugleich wirft aber mit Blick auf die in diesem Band diskutierte Gesamtproblematik der Beitrag von Sabine Rudischhauser die Frage auf, ob der Bogen überhaupt schon weit genug gespannt ist, ob die hier wichtigen Phänomene sich allesamt der Weberschen Opposition zwischen Rechtsgrundsätzen auf der einen und den durch sie regulierten Verhältnissen auf der anderen Seite subsumieren lassen. Denn sie zeigt doch in ihrer Analyse der Entwicklung des Tarifvertragsrechts in Frankreich und Deutschland um 1900 sehr eindrücklich, dass der Begriff der Rechtsordnung im Plural zu verwenden ist. Das wird im Zusammentreffen der inkompatiblen Rechtsvorstellung von Verlegern und Heimarbeitern einerseits und der Ziviljustiz in Saint-Étienne ebenso deutlich wie am Unsichtbarmachen bestimmter tarifvertraglicher Praktiken durch die im sozialreformerisch imprägnierten Diskurs der deutschen Rechtswissenschaft vorherrschende Grundperspektive. Von daher fasst die Autorin ihr Anliegen auch völlig zu Recht mit den Worten: „Wie wirkt staatlich gesetztes Recht auf die Rechtsordnung der am Tarifvertrag beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer?“ Da ist es nur konsequent, dass sie ihre Typologie tarifvertraglicher Regelungen von den zu lösenden Problemen her entwickelt. Die aber ähneln sich im Baugewerbe, in der verlegten Qualitätsarbeit und in der von Haustarifen geprägten lokalen Monoindustrie beider Länder in hohem Maße, wenngleich sich in einem weiteren Vergleichsschritt sicherlich ein jeweils unterschiedliches Gewicht dieser

Arbeitsregime im Übergang – ein vergleichender Kommentar

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„Produktionswelten“ herausarbeiten ließe. Methodisch weit wichtiger ist aber die überzeugende Art und Weise, wie die Verfasserin die bereits durch Rechtsgrundsätze regulierten Verhältnisse mit unterschiedlichen rechtlichen Weichenstellungen und Rechtstraditionen konfrontiert. Die politischen Unterschiede in der Nachkriegssituation von 1918 ff. sind wichtig, und doch sind die unterschiedlichen Entwicklungen hochgradig „pfadabhängig“. Diese Pfade arbeitet sie mustergültig heraus und kontrastiert den deutschen Weg einer kommunal eingebundenen Gewerbegerichtsbarkeit, der eine allseits anerkannte Mittlerfunktion zwischen den Tarifparteien zuwächst und die so zugleich zum Mittler zwischen der Rechtsordnung der Tarifparteien und der Juristen werden kann, mit den französischen Conseils de prud`hommes, die eine Institution der Tarifparteien bleibt, denen gegenüber die staatlichen Friedensrichter als Einigungsinstanz auftreten, deren peer group aber keine arbeitsrechtliche scientific community ist, sondern das in großer Distanz zur Tarifvertragspraxis verharrende fachwissenschaftliche Feld der Juristen. Die hier teils kritisch kommentierten, teils lediglich zugespitzt referierten Beiträge dieses Abschnitts enthalten aber nicht nur wichtige empirische Ergebnisse und methodische Implikationen für den schwierigen Versuch, den Faktor Recht auf dem Gebiet der Arbeit näher zu bestimmen. Sie sprechen auch zu Joachim Rückerts an den Anfang des Bandes gestellter Problemskizze, die auf Europa bezogen noch einmal ausdrücklich den epochalen Bruch um 1800 betont. Für den dort gleichfalls zentral thematisierten Übergang von gebundener zu freier Arbeit begründen einige der hier versammelten Beiträge ebenso wie die neuere Forschung Zweifel an dieser Datierung. Vor allem Willibald Steinmetz´ wichtiges Buch hat doch sehr deutlich gemacht, dass im englischen Fall bis zum Employers and Workmen Act von 1875 die entscheidenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen im Master and Servant Act enthalten waren, der eben die Dienstpflichten des Dieners gegenüber seinem Herrn und nicht die Rechte und Pflichten zweier arbeitsvertraglicher Parteien regelte. Das beinhaltete die schon von Marx skandalisierte Bestimmung, dass im Falle des Kontraktbruchs der Beschäftigte strafrechtlich, sein Arbeitgeber aber lediglich zivilrechtlich verfolgt werden konnte.8 Das war mehr als eine weitere Asymmetrie und schreiende Ungerechtigkeit, nämlich Ausdruck der Auffassung, dass Lohnarbeit ein Element persönlicher Unfreiheit beinhalte. Alessandro Stanziani hat kürzlich zu zeigen versucht, dass ein vergleichbares Verständnis von Dienstpflicht auch in Frankreich bis ins späte 19. Jahrhundert hinein dominant gewesen sei, und sich überdies bemüht, in einem von Russland ausgehenden europäischen Vergleich auch weitere innereuropäische Differenzen einzuebnen.9 Das 8 9

Vgl. Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002. Vgl. Alessandro Stanziani, Labor institutions in a global perspective from the seventeenth century to the twentieth century, International Review of Social History LIV

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Friedrich Lenger

bliebe im Einzelnen sicher zu diskutieren, und das deutsche Gesinderecht soll hier gar nicht erst erörtert werden. Vieles deutet darauf hin, dass sich zumindest in Europa die eigentliche Durchsetzung freier Lohnarbeitsverhältnisse zeitgleich mit sozialpolitischen Interventionen staatlicherseits vollzog.

(2009), 351–358.

Therese Garstenauer

Der Staat als Arbeitgeber Österreich und Sowjetrussland / die Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit

In meinem Beitrag werde ich die Frage nach Arbeitsverhältnissen außerhalb des Privatrechts anhand zweier nationaler Kontexte diskutieren. Zunächst wird kurz umrissen, wer oder was hier Staat und Staatsdiener seien und vor welchen ideologischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen die Protagonisten jeweils standen. Der Staat erweist sich als Arbeitgeber besonderen Typs, der spezifische Aufgaben zu lösen hat und dabei einer spezifischen Logik folgt. Die Besonderheiten des europäischen Berufsbeamtentums sind historisch – u.a. – aus dem Versuch entstanden, eine dauerhafte Loyalität gegenüber dem Staat, eine zumindest relativ hohe Resistenz gegenüber den Versuchungen der Korruption und auch eine möglichst hohe Kontinuität des Erfahrungswissens der Beschäftigten in Bezug auf Staatsverwaltung zu gewährleisten.1 Mit dem Anwachsen der Staatsapparate vom 19. Jahrhundert an und angesichts der Rationalisierung der Arbeit in der Privatwirtschaft speziell vom frühen 20. Jahrhundert an geriet der Staat aber auch unter Druck, seine Arbeitsorganisation effizient und möglichst kostengünstig zu gestalten – lange bevor von New Public Management u.Ä. die Rede war.2 Das aber widerspricht dem Prinzip der lebenslangen Anstellung, dem Laufbahnprinzip in der Entlohnung und anderen „hergebrachten Grundsätzen“. So entstand eine für den Staatsdienst spezifische strukturelle Problemkonstellation, die bestimmte Ähnlichkeiten zu jenen aufweist, vor denen auch andere große und komplexe Organisationen (z. B. Großkonzerne) stehen. Die Einführung von teils hoch dotierten Beamtenpensionen hatte ja u.a. die Funktion, ältere und damit teure und manchmal nicht (mehr) effiziente Staatsdiener auch gegen ihren Willen loswerden zu können, ohne ihre Loyalität zu gefährden. 1 2

Die Frage nach der personellen Kontinuität wird insbesondere im Fall von Revolutionen oder anderen politischen Systemwechseln relevant. Sehr interessant sind hier gegenwartsnahe Untersuchungen wie die zweier britischer Juristinnen, die zeigen, dass staatliche Institutionen (wie etwa Schulen oder Krankenanstalten), gerade wenn sie bestrebt sind, „privatwirtschaftliche“ Spielregeln zu übernehmen dadurch häufig noch mehr Starrheit, Zentralismus und mangelnde Flexibilität hervorrufen, siehe Sandra Fredman / Gillian Morris (1990), The State as Employer: Is it Unique?, in: Industrial Law Journal 19 / 2, 142–153.

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Therese Garstenauer

Die zweite Funktion bestand darin, den Jüngeren eine realistische Perspektive auf ein planbares Nachrücken auf die durch Pensionierungen frei gewordenen Stellen zu bieten, ohne andauernd neue Stellen schaffen zu müssen, und trotz lebenslanger Anstellung einen kontinuierlichen Generationenwechsel zu ermöglichen, von dem man auch Innovation und höhere Effizienz erwartete. Die verbreiteten Klagen über die Aufblähung, Überdimensionierung und Ineffizienz etc. des Staates bzw. Staatsapparates drückten deutlich aus, dass dieses strukturelle Problem nicht trivial war, und dass es stets es am bequemsten und konfliktfreiesten zu sein schien, es durch Wachstum, d.h. Zunahme der Stellen zu lösen. In Zeiten aktueller Krisen oder Staatsverschuldungen wurde dies unmöglich oder zumindest erschwert. Die dem Beamtendienstverhältnis inhärenten Widersprüche spitzten sich in Krisenzeiten der Staatsfinanzen zu.

1. Österreich und Sowjetrussland / die Sowjetunion zwischen den Kriegen 1.1. Österreich 1918–1938

Wenn von einer österreichischen Revolution im Jahr 1918 die Rede ist, so handelt es sich dabei um eine vergleichsweise kleine. Die Verwaltungsinstitutionen änderten sich zunächst nicht, wiewohl einige Fälle von Beamten belegt sind, die um Pensionierung ansuchten, weil sie der neuen Republik nicht mehr dienen wollten.3 Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Dienstpragmatik von 1914 wurden in die Rechtsordnung der Republik übernommen. Der Beamtenapparat war überdimensioniert – ein Erbe der Dismembration des Habsburgerreiches – und die Staatsbediensteten litten aufgrund ihrer fixierten Bezüge unter der hohen Inflation.4 Für eine Berufsgruppe, in der eine

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So schreibt etwa der hohe Beamte im Ruhestand Robert Ehrhart in seiner Autobiographie: „Es kam der letzte österreichische Ministerrat, in dem der Text des kaiserlichen Abschiedsmanifestes redigiert werden sollte. Vorher, in der Früh reichten die Sektionschefs des Ministerratspräsidiums, darunter auch ich, ihre Pensionsgesuche ein. Von der jüngeren deutschsprachigen Beamtenschaft hatte sich ein Teil der deutschösterreichischen Regierung zur Verfügung gestellt, dies aber vorher gemeldet, und es war zur Kenntnis genommen worden. Ein anderer Teil verhielt sich passiv und ging automatisch in die neue Dienstform über.“ Robert Erhart (1958), Im Dienste des alten Österreich, Wien, 401. Arnold Madlé (1925), Die Bezüge der öffentlichen Angestellten, in: Julius Bunzel (Hg.), Geldentwertung und Stabilisierung in ihren Einflüssen auf die soziale Entwicklung in Österreich, München / Leipzig (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 169. Band), 131–136. Siehe auch Wilhelm Kosian (1950), Das Realeinkommen verschiede-

Österreich und Sowjetrussland / die Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit

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standesgemäße Lebensführung von großer Wichtigkeit war, brachte ein niedrigeres Realeinkommen materielle ebenso wie soziale Einbußen mit sich. Eine Bedingung für die Gewährung der Völkerbundanleihe im Jahr 1922 in der Höhe von 650 Millionen Goldkronen war eine Verwaltungsreform, die eine Reduktion der Zahl der Staatsbediensteten, zu dieser Zeit etwa 250.000 (das sind in etwa gut 6 % der damaligen Erwerbsbevölkerung),5 um 100.000 vorsah. Bis zum Jahr 1933 wurde die Zahl der Staatsbediensteten auf 169.000 gesenkt.6 Nach dem Regimewechsel 1934 kam es zu politischen Maßregelungen von Staatsbediensteten, von denen etwa 2 % von ihnen betroffen waren.7 Es wird in der Literatur argumentiert, dass die Abwertung und Frustration der österreichischen Staatsbediensteten nach 1918 mit dazu beigetragen hat, dass viele von ihnen mit dem Nationalsozialismus sympathisierten.8 In jedem Fall hatten die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit offenbar massive Auswirkungen auf die Lebenssituation von öffentlich Bediensteten. Als Endzäsur meiner Untersuchungsperiode setze ich den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938. Die öffentlich Bediensteten waren eine der ersten Berufsgruppen, die – auf der rechtlichen Basis der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938 – systematisch nach politischen und rassischen Kriterien der nationalsozialistischen Ideologie gesäubert wurde. Zwischen 1918 und 1938 erlebte das österreichische Beamtentum dementsprechend drei Regimewechsel.

ner Berufsgruppen des Arbeiterstandes und das der öffentlichen Beamten in Österreich in der Epoche von 1910–1949, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien. 5 ���������������������������������������������������������������������������������� Die Volkszählung vom 31. 1. 1920 ergab eine Erwerbsbevölkerung (Personen vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 59. Lebensjahr) von 4.086.060 Personen, siehe Statistische Zentralkommission (1921), Ergebnisse der außerordentlichen Volkszählung vom 31. Jänner 1920 (=Beiträge zur Statistik der Republik Österreich, 7. Heft), 8. Die Validität dieser Zählung ist allerdings sehr umstritten, ebenso schwanken die Angaben zur Zahl der Staatsbediensteten. Es geht hier um sehr ungefähre Werte. Zum Vergleich: Die Zählung von 1934 ergab einen Anteil der Staatsbediensteten an der Gesamtbevölkerung von ca. 4 %, siehe Emanuel Januschka (1938), Die soziale Schichtung der Bevölkerung Österreichs. Auf Grund amtlicher Veröffentlichungen mit 15 graphischen Darstellungen, Wien, 10. 6 Waltraud Heindl (1995), Bürokratie und Beamte, in: Emmerich Tàlos / Herbert Dachs /  Ernst Hanisch / Anton Staudinger (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien, 90–104, hier 101. 7 Eva-Maria Sedlak (2004), Politische Sanktionen gegen öffentliche Bedienstete im österreichischen „Ständestaat“, Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien. 8 Gerhard Botz (1980), The Changing Patterns of Social Support for Austrian National Socialism (1918–1945), in: Stein Ugelvik Larsen / Bernt Hagtvet / Jan Petter Myklebust (Hg.), Who were the Fascists, Bergen, 202–225.

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Therese Garstenauer

1.2. Sowjetrussland / Sowjetunion 1917–1936

Die Oktoberrevolution als deutliche historische Zäsur bildet den Beginn meines Untersuchungszeitraumes. Wiewohl eine schrittweise Umgestaltung und letztlich Abschaffung der zaristischen Verwaltung geplant war, wurden dennoch die Ministerien übernommen und zunächst lediglich in Volkskommissariate umbenannt. Die ursprüngliche Ressortgliederung wurde beibehalten und damit auch ein großer Teil des Personals.9 Einer sowjetischen Studie aus den späten 1920er Jahren zufolge waren im Jahr 1929 4,2 % des Personals des Staatsapparates Personen, die bereits 1913 in der zaristischen Verwaltung Beamte gewesen waren.10 Die ursprünglich vorgesehene marxistische Vorstellung der Bildung eines neuartigen (unbürokratischen) Staatsapparats bzw. seiner Auflösung erwies sich bald als illusorisch – nicht nur wuchs der Verwaltungsapparat in Institutionen des Staates und der Kommunistischen Partei, er erwies sich auch als schwerfällig und ineffizient: “The original Marxist concept of building an absolutely new state apparatus in line with the slogan that every kitchen maid could manage the state shortly proved its absolute fruitlessness. The Bolsheviks soon realized that they had to make use of ‘old’ specialists and train ‘new’. […] The state apparatus increased quickly in size and adopted the worst traditions of tsarist bureaucracy.”11

Im Jahr 1919 wurde als Kontrollorgan für alle Verwaltungseinrichtungen das Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion (narodnyj kommissariat raboče-

Siehe dazu Michail Pavlovič Irošnikov (1967), Sozdanie sovetskogo central’nogo apparata. Sovet narodnych kommissarov i narodnye kommissariaty (oktjabr’ 1917–janvar’ 1918 gg) [Die Schaffung des sowjetischen Zentralapparats. Der Rat der Volkskommissare und die Volkskommissariate (Oktober 1917–Jänner 1918)], Leningrad sowie Thomas Henry Rigby (1979), Lenin’s Government: Sovnarkom 1917–1922, London / New York / Melbourne. 10 Diese Studie Sostav sovetskich i torgovych služaščich [Der Bestand der sowjetischen Angestellten und Handelsangestellten] von M. Gol’cman and N. Gumilevskij (Moskau 1929), wird von Semen Chejnman dafür kritisiert, dass sie jene Beamten nicht mit einbezieht, die zwischen 1914 und 1917 in den Staatsdienst eingetreten waren. Somit kann man annehmen, dass der Anteil an früheren zaristischen Staatsbediensteten im sowjetischen Staatsdienst der späteren 1920er Jahre noch höher ist, trotz Säuberungen und Rationalisierungsmaßnahmen, siehe o. V (1929), Gosudarstvennyj apparat SSSR 1924–1928 gg [Der Staatsapparat der UdSSR 1924–1928], 59 f. 11 Alexander Kotchegura (2008), Civil Service Reforms in Post-Communist Countries. The Case of Russia and the Czech Republic, Leiden, 48. 9

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krest’janskoj inspekcii, kurz Rabkrin), gegründet, das bis 1934 bestehen blieb.12 Die Verteilung der Macht zwischen Staat und Partei in den 1920er Jahren war unklar und Gegenstand von Kämpfen.13 Der Rat der Volkskommissariate, der Sowjetkongress sowie das Exekutivkomitee des Sowjetkongresses, das Sekretariat des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, sowie das Politbüro und das Organisationsbüro der Partei konkurrierten um Macht und Einfluss auf die Gestaltung der Staatsgeschäfte. In die Untersuchungsperiode von 1917 bis 1936 fallen zahlreiche politische und strukturelle Veränderungen, welche die Bedingungen für den Staatsdienst beeinflussten: der Bürgerkrieg (1917–1920), die Gründung der Sowjetunion (1922), die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (1921–1927), die Einsetzung des ersten Fünfjahresplanes (1928), Industrialisierung, und Kollektivierung. Als Endzäsur der Untersuchungsperiode setze ich das Jahr 1936, in dem eine neue Verfassung verabschiedet wurde und in dem die Säuberungen unter der Leitung des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten Nikolaj Ivanovič Ežov (Ežovščina) begannen.

2. Wer oder was ist der Staat? Ein Blick in ein politisches Lexikon lehrt, der Staat sei „die politische Ordnung einer Gesellschaft. Der Staat besitzt das Monopol der legalen und legitimen Anwendung der physischen Gewalt, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung“.14 Die in dieser Definition enthaltene Gewaltentrennung gilt, was die hier untersuchten nationalen Kontexte betrifft, nur für Österreich – in der Sowjetunion herrschte Gewalteneinheit, und das Monopol auf die Staatsgewalt hatte (mit abnehmender Bedeutung der Sowjets) die Kommunistische Partei. „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“,15 heißt es etwas konkreter bei Max Weber: Die politische Ordnung besteht in Form von Anstalten bzw. Institutionen. Bei Tat’jana Koržichina, einer russischen Historikerin, die sich der Geschichte des sowjetischen Staatsapparates widmete, wird die „Staatlichkeit“ (gosudarstvennost’) in vier Komponenten aufgeschlüsselt: erstens das politische Regime, zweitens der Staatsapparat, also 12 Siehe dazu Edward Arfon Rees (1987), State Control in Soviet Russia. The Rise and Fall of the Workers’ and Peasants’ Inspectorate, 1920–34, New York. 13 Walter Pietsch (1969), Revolution und Staat. Institutionen als Träger der Macht in Sowjetrussland 1917–22, Köln, Rigby, Lenin’s Government (wie Fn. 9) sowie Gerard Pieter van den Berg (1984), Organisation und Arbeitsweise der sowjetischen Regierung, Baden-Baden. 14 Hanno Drechsler (1995), Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, 779. 15 Max Weber [1921] (1980), Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, 29.

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die staatlichen Institutionen, drittens das Personal, also die Staatsbediensteteten und schließlich die staatliche Ideologie.16 Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind in solch einer Systematik miteinander verschränkt. Die Frage danach, wer oder was der Staat gegenüber seinen Bediensteten sei, wird besonders bedeutsam im Fall eines (oder mehrerer) Regimewechsel.17 Im Falle Österreichs mussten die Beamten jedes Mal einen neuen Treueeid unterzeichnen, je nachdem, ob sie nun kaisertreu, republiktreu, dem Ständestaat treu oder hitlertreu sein mussten. Im Falle der Sowjetunion ist die Rolle des Staates als nahezu universellen Arbeitgebers zu berücksichtigen, ebenso wie das im Laufe der 1920er und 1930er Jahre stattfindende „Zusammenwachsen“ von staatlichen Strukturen und solchen der Partei.18

3. „Beamte“, „Staatsdiener“, „Bürokraten“? Wer sind die Staatsdiener? Beamte im Sinne eines „kontinentaleuropäischen Begriffssubstrats“ sind „Staatsbedienstete in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, das eine fachkundige, unparteiliche und gesetzestreue Verwaltung mit besonderen Stabilitätsgarantien sichert“, so die Juristin Kucsko-Stadelmann.19 Doch bereits in einer nur auf den österreichischen Kontext beschränkten Untersuchung muss man die beforschte Gruppe differenzierter fassen. Die Abgrenzung des Gegenstandes der Forschung kann strukturell auf zumindest drei Arten erfolgen: – Nach dem Arbeitgeber, wobei zu beachten ist: Nicht jede / r, der / die für den Staat arbeitet, ist Beamter / Beamtin. In der Sowjetunion war der Staat ja ein nahezu universaler Arbeitgeber, zugleich war das Beamtentum als rechtlich distinkte Gruppe abgeschafft.

16 Tat’jana Petrovna Koržichina (1994), Sovetskoe gosudarstvo i ego učreždenija. Nojabr' 1917–dekabr' 1991 [Der sowjetische Staat und seine Institutionen. November 1917 – Dezember 1991], Moskau, 3. 17 Jörg Grotkopp, der die Auswirkungen der Staatsformwechsel von 1918, 1933 und 1945 auf die deutsche Beamtenschaft untersucht hat, attestiert den Verwaltungsangehörigen ein „bemerkenswert hohes Beharrungsvermögen“, Jörg Grotkopp (1992), Beamtentum und Staatsformwechsel. Die Auswirkungen der Staatsformwechsel von 1918, 1933 und 1945 auf das Beamtenrecht und die personelle Zusammensetzung der deutschen Beamtenschaft, Frankfurt am Main / Berlin u.a., 273. 18 Koržichina, Sovetskoe gosudarstvo (wie Fn. 16), 22 f. 19 Gabriele Kucsko-Stadelmann (2009), Die Zukunft des Beamtentums: Zwischen Recht und Politik, Staats- und Verwaltungslehre, in: Die Verwaltung 42, 27–53, 29.

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– Nach der Form des Arbeitsverhältnisses, wobei wiederum zu beachten ist: Nicht jede / r, der / die dem Staat dient, ist auch Beamter / Beamtin. Es gab etwa in der österreichischen Ersten Republik auch Diener (bis 1919), Arbeiter und Angestellte im Staatsdienst. – Nach der Tätigkeit Verwaltung, wobei zu beachten ist: Nicht jeder, der Verwaltungsarbeiten durchführt, ist Staatsdiener. So weist etwa Max Weber auf bürokratische Verwaltungsstrukturen innerhalb von Privatunternehmen hin.20 Und natürlich ist nicht jeder, der für den Staat arbeitet, mit Verwaltung beschäftigt. Der komparativ angelegte Untersuchungsgegenstand erweist sich also als recht inhomogen und tendenziell an den Rändern ausfransend. In Österreich war in der Zwischenkriegszeit im Wesentlichen auf Basis der Dienstpragmatik von 1914 geregelt, wer Beamter oder Beamtin (respektive Diener) war.21 Für Sowjetrussland / die Sowjetunion gestaltet sich die Abgrenzung der beforschten Gruppe etwas komplexer als für Österreich. Die intendierte Abschaffung der Beamtenschaft verursachte zunächst eine begriffliche Vielfalt. Die Beamten der zaristischen Verwaltung wurden činovnikí genannt, ausgehend vom Wort čin, welches den Beamtenrang bezeichnet. Gerade solche činovnikí sollte die sowjetische Verwaltung nicht mehr kennen (wiewohl in den Volkskommissariaten – Narodnye kommissariaty, kurz narkomaty – 1917 zunächst eine starke personelle Kontinuität belegt ist,22 wiewohl der Begriff in Dokumenten der 1920er Jahre noch gebräuchlich ist und nicht unbedingt in abwertender Weise). Neben den Arbeitenden (rabočie) und Bauern (krestjane) existierte noch die Kategorie der Angestellten (služaščie, wörtlich: Dienende). Für Amtspersonen gab es noch einen eigenen Begriff dolžnostnie ličnosti, der zwar aus vorrevolutionärer Zeit stammte, dennoch aber in Verwendung blieb.23 An Bedeutung gewinnt ab den 1920er Jahren der Begriff der nomenklatura. Einerseits wird darunter eine Liste der zu besetzenden Positionen verstanden, andererseits auch Listen der für diese Positionen in Frage kommenden konkreten Personen. Es handelt sich um ein System der von der Partei kontrollierten Postenvergabe. In der späteren Sowjetunion entwickelte sich der Begriff nomenklatura zur Bezeichnung einer regelrechten Klasse mit sehr viel Macht und Einfluss.24 Schließlich ist noch der Begriff der Kader (kadry) zu erwähnen, der für leitende Positionen vor allem in der Kommunistischen Partei Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Fn. 15), 551 f. Reichsgesetzblatt Nr. 15 vom 25. 1. 1914. Siehe Irošnikov, Sozdanie sovetskogo central’nogo apparata (wie Fn. 9). Annemarie Fritzsche (2006), Der zivile Staatsdienst in der Russischen Föderation, Hamburg, 87 f. 24 Milovan Ðjilas (1958), Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München; Michael S.  Voslenksy (1987), Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion in Geschichte und Gegenwart, München. 20 21 22 23

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steht. In einer allgemeineren Bedeutung kann Kader für Personal stehen. Versteht man unter Staatsbediensteten (gosudarstvennye služaščie) Angestellte, die für den Staat arbeiten, so sind Daniel Orlovskys Arbeiten eine wichtige Referenz. Er setzt sich seit Mitte der 1990er Jahre mit dieser „hidden class“ auseinander – versteckt, weil sie in offiziellen Klassifikationen der 1920er Jahre oft nicht extra erwähnt, sondern den Arbeitenden zugeschlagen werden. Nichtsdestotrotz berichtet Orlovsky über eine Rede von Michail Kalinin aus dem Jahr 1929, die sich speziell an die Angestellten richtete. Es existierte auch eine gewerkschaftliche Vertretung der sowjetischen Angestellten und Handelsangestellten (Sojuz sovetskich i torgovych služaščich).25

4. Was ist Staatsdienst? Der Dienst am Staat als Lebensunterhalt stellt eine spezielle Form von Arbeit dar. Es geht dabei gerade nicht um den Tausch von Arbeitsleistung gegen Lohn,26 sondern um ein eigentümliches Arrangement, dessen Ursprünge nach Otto Hintze einerseits in der Tradition feudaler Fürstendiener, andererseits in der von „gemieteten Doktoren“, also

25 Daniel Orlovsky (1995), The antibureaucratic campaigns of the 1920s, in: Theodore Taranovsky (Hg.), Reform in Modern Russian history: Progress or cycle, Cambridge / New York, 290–310; Ders. (2009), White collar workers in the Second Revolution and Postwar Reconstruction, in: Don K. Rowney / Eugene Huskey (Hg.), Russian Bureaucracy and the State: Officialdom from Alexander III to Vladimir Putin, Houndmills, 135–151. 26 So lässt Friedrich Kleinwächter – seinerseits ein ehemaliger k. u. k. Beamter – einen Protagonisten seines Romans „Die Bürokraten“ erklären: „Darum ist uns ein Leopoldsorden lieber als ein Haufen Geld. Darum bin ich lieber ein Ministerialrat im Finanzministerium mit einem bescheidenen Gehalt als ein glänzend bezahlter Direktor einer Bank oder Wurstfabrik. Das finden die Geschäftsleute natürlich blöd. In ihren Augen, die alle Dinge nur darauf ansehen, wie viel Geld sie wert sind, sind wir Narren. Aber wenn’s keine solchen Narren gäbe, gäbe es keinen Staat, am wenigsten unser Österreich. Wir arbeiten eben nicht ums Geld. Wir arbeiten für was anderes, was wir den anderen nie begreiflich machen werden.“ Friedrich Kleinwächter (1948), Die Bürokraten, Wien, 50. Hier ist die Frage aufzuwerfen, inwiefern ein solches Ideal jeweils gelebt wurde – ein biographisches Handbuch der österreichischen Sektionschefs 1918–1945 (Gertrude Enderle-Burcell / Michaela Follner (1997), Diener vieler Herren. Biographisches Handbuch der Sektionschefs der Ersten Republik und des Jahres 1945, Wien) zeigt, dass viele von ihnen etwa im Ruhestand Funktionen in Wirtschaftsunternehmen innehatten. Zu Bürokratie und Beamtentum in der österreichischen Literatur siehe Sabine Zelger (2009), Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef. Bürokratie – Literarische Reflexionen aus Österreich, Wien.

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Rechtsgelehrten, liegen.27 Der Beamte stellt sich dem Dienstherrn mit seiner Person zur Verfügung. Er wird ernannt und leistet einen Treueeid. Die Ernennung ist eine einseitige Erklärung seitens des Dienstherrn, kein Vertrag zwischen zwei Parteien. Der Beamte ist dabei nicht nur in seiner Dienstzeit, sondern in seiner gesamten Lebensführung dazu verpflichtet, der Ehre seines Amtes (Dekorum) zu entsprechen.28 Das betrifft das Privatleben – Karl Megner berichtet etwa von einem k.u.k.-Beamten, der ein Disziplinarverfahren wegen öffentlichen Nacktbadens bekam29 –, besonders aber auch politische Aktivitäten.30 Der Dienstgeber hat dafür eine Fürsorgepflicht gegenüber dem Beamten. Somit hat er im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl des Beamten und mithin der vom Beamten zu erhaltenden Familie zu sorgen. Der Beruf des Beamten oder der Beamtin impliziert eine Karriere, eine Weiterentwicklung zum Besseren (Ranghöheren, besser Entlohnten). Das Laufbahnprinzip impliziert, dass das Einkommen automatisch mit der Zeit höher wird, unabhängig von der konkreten Leistung des Beamten. Das Recht auf Führen eines Amtstitels besteht auf Lebenszeit. Die sog. „Hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“,31 auf die noch in der aktuellen Verfassung Deutschlands Bezug genommen wird (Art. 33 V, Grundgesetz 1949), haben auch für das österreichische Berufsbeamtentum größtenteils Relevanz, wenn auch nicht Verfassungsrang. Die genannten Prinzipien galten und gelten teilweise noch für die meisten westeuropäische Staaten, nicht aber für Sowjetrussland und die Sowjetunion. Anders als Max 27 Otto Hintze ([1911] 1981), Beamtentum und Bürokratie, Göttingen. 28 Hier soll noch einmal Kleinwächters Ministerialrat Roeger zu Wort kommen: „Diese überempfindlichen Ehrbegriffe, die wir haben, die machen es erst möglich, dass wir uns für den Kaiser, für den Staat opfern können, mit einer Selbstverständlichkeit, die so ein Bankdirektor oder Bandelkrämer, auch wenn er noch so viel Geld hat, nie verstehen wird. Wir dienen keinem Herrn Maier oder Pollak und keiner Versammlung von Aktionären, sondern wir dienen nur einem Kaiser und einem Staat.“, Kleinwächter, Bürokraten, 50. 29 Karl Megner (1985), Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k.k. Beamtentums, Wien, 326 f. 30 ������������������������������������������������������������������������������������ Für die österreichischen Beamten galt in der Ersten Republik allerdings kein Streikverbot, vielmehr besagte der Artikel 7 Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes von 1920 (Gesetz vom 1. Oktober 1920 mit welchem die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird): „Den öffentlichen Angestellten einschließlich der Angehörigen des Bundesheeres ist die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte gewährleistet.“ In den 1920er Jahren wird von Streiks und Demonstrationen der Staatsbediensteten berichtet, siehe etwa Christine Klusacek / Kurt Stimmer (Hg.) (1984), Dokumentation zur Österreichischen Zeitgeschichte 1918–1920, Wien München, 372 f. 31 Siehe dazu Ferdinand Krause (2008), Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. Eine rechtshistorische Analyse, Frankfurt am Main / Berlin u.a.

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Weber, der Bürokratie eine positive Konnotation als rationale, wertfreie und effiziente Form der Verwaltung verleiht,32 fasst Karl Marx Bürokratie eindeutig als negative Erscheinung auf. In der kommunistischen Gesellschaft sei keine Bürokratie / Verwaltung mehr erforderlich, allerdings wird bei Marx nicht ausgeführt, was genau an ihre Stelle treten oder ihre Funktion übernehmen solle.33 Diese Sicht der Dinge beeinflusste die Gestaltung der staatlichen Verwaltung im jungen Sowjetrussland. Vladimir I. Lenins 1917 entstandenem Text „Staat und Revolution“ folgend sollte es eine Beamtenschaft mit speziellen Privilegien nicht mehr geben. Dabei stellte Lenin klar, dass das Beamtentum nicht mit einem Schlag vernichtet werden könnte, dass aber eine Zerschlagung der alten und ein sofortiger Aufbau einer Beamtenmaschinerie neuen Typs „direkte, nächstliegende Aufgabe des revolutionären Proletariats“ sei.34 Es zeigte sich aber, dass entgegen dieser Programmatik das Verwaltungspersonal in Institutionen von Staat und Partei zahlenmäßig zunahm und keineswegs überflüssig wurde, so dass Lenin 1921 resignierend feststellen musste, die Sowjetunion sei ein „Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen“.35 Beschwerden über solche Auswüchse kamen regelmäßig vor.36 Nicht zuletzt gab es ab 1919 ein eigenes Volkskommissariat, zu dessen Aufgaben u.a. die Eindämmung des Bürokratismus und die Rationalisierung der Verwaltung gehört.37 Besonders ausgeprägte Kritik an Bürokratie und Bürokratismus formulierte Leo Trotzki in seiner Abrechnung mit dem Stalinismus.38 Der Ökonom Semen A. Chejnman betont in der Einleitung zu statistischen Analysen des sowjetischen Staatsapparats, dass dieser sich von jenem in kapitalistischen Staaten deutlich unterscheidet. „In kapitalistischen Ländern wird unter dem Begriff ‚Staatsapparat‘, fast ausschließlich der Apparat der Staatsgewalt verstanden, d.h. in erster Linie der administrative Apparat. Das ist ganz offensichtlich, da dort ein großer Teil oder beinahe alle Sektoren der Volkswirtschaft in den Händen einzelner Kapitalisten oder Gruppen von ihnen sind. In der UdSSR ist der Apparat der staatlichen Verwaltung (unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats) auch Teil des ganzen Staatsapparats. Aber nachdem die Autorität 32 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Fn. 15), 124 ff., 650ff. 33 Karl Marx (1976), Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechtes, in: Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 1, Berlin, 203–333. 34 Vladimir I. Lenin [1917] (1972), Staat und Revolution, in: Ders., Werke Band 25, Berlin, 393–507, 438. 35 Vladimir I. Lenin [1921] (1979), Gesammelte Werke, Berlin, 48. 36 Lewis H. Siegelbaum, (1992), Soviet State and Society between Revolutions 1918– 1929, Cambridge, 80. 37 Rees, State Control (wie Fn. 12). 38 Leo Trotzki (1937), Verratene Revolution, Anvers / Zürich / Prag.

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über alle Sektoren der Volkswirtschaft in den Händen des Staates liegt (Zensusindustrie39 96 %, Transport 97 %, Bauwirtschaft 88 %, wobei kooperative Unternehmen nicht mitgezählt sind), der ganze sozial-kulturelle Sektor im Staatsbesitz ist, der ganze Verwaltungsapparat der Wirtschaft und der Dienstleistungssektor in den Händen des Staates konzentriert sind, ist der Begriff des Staatsapparats in der UdSSR viel weiter gefasst und hat einen anderen Inhalt.“40

Zu analytischen Zwecken unterscheidet Chejnman im Folgenden drei mögliche Definitionen des sowjetischen Staatsapparates: 1) den gesamten Staatsapparat, d.h. die Institutionen der staatlichen Verwaltung ebenso wie jene Teile der nationalen Ökonomie, die verstaatlicht sind; 2) den Staatsapparat inklusive aller Verwaltungsinstitutionen, aber ohne die verstaatlichten Industrien; 3) den Staatsapparat im engsten Sinne, der nur die Institutionen der Staatsgewalt, d.h. Verwaltung und Gerichte, inkludiert.41 An diesen Abgrenzungen ist bemerkenswert, dass der kapitalistische Staatsapparat letztlich als Maß für die Beschreibung des sozialistischen bzw. sowjetischen impliziert ist. Und das, obwohl sich die Veröffentlichung meines Wissens an ein sowjetisches Publikum richtet, nicht an ein kapitalistisches, dem man diese Unterschiede erst erklären müsste.

5. Was ist der (arbeits-)rechtliche Hintergrund? Die österreichische Dienstpragmatik von 1914 regelte Anstellung, Dienst, Rechte, Pflichten, Disziplinarverfahren, Urlaub, Beginn und Ende des Dienstverhältnisses sowie den Anspruch auf Ruhe- und Versorgungsgenuss.42 In elf Rangklassen waren die Staatsdiener vom Sektionschef bis zur Kanzlistin (Schreibkraft) eingeteilt, die mit bis zu 700 Amtstiteln tituliert werden konnten.43 Eine weitere Unterscheidung bildeten die Verwendungsgruppen (A bis E), die von der Ausbildung der Staatsbediensteten abhängig war. Die wichtigste Unterscheidung innerhalb der Verwendungsgruppen 39 Mit diesem Begriff (cenzovaja promyšlennost’) sind Unternehmen mit 16 oder mehr Mitarbeitern bzw. mit weniger Mitarbeitern, aber mit mechanischen Einrichtungen, gemeint. 40 O.V., Gosudarstvennyj apparat, 9; Übersetzung TG. 41 Ebd. 42 Reichsgesetzblatt Nr. 15 vom 25. 1. 1914 (wie Fn. 21). 43 Herta Hafner, (1990), Der sozio-ökonomische Wandel der österreichischen Staatsangestellten 1914–1924, unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien, 7.

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war die zwischen dem anspruchs- und verantwortungsvolleren Konzeptsdienst und dem subalternen Kanzleidienst. 1924 wurden mittels eines neuen Besoldungssystems die alten Rangklassen abgeschafft und nunmehr zehn Dienstklassen eingeführt.44 Weitere gesetzliche Regelungen, die in den 1920er und 30er Jahren für den österreichischen Staatsdienst relevant waren, sind das Zertifikatistengesetz, das Unteroffizieren mit mindestens zwölf Jahren Dienstzeit Anspruch auf Anstellung im Kanzleidienst gewährte, und die Doppelverdienerregelung von 1933, der zufolge verheiratete Frauen im Staatsdienst nur dann ihre Stelle behalten durften, wenn ihr Ehemann eine bestimmte Einkommenshöhe nicht überstieg.45 An solchen Regelungen wird deutlich, wie stark Geschlechterordnungen und -verhältnisse im Staatsdienst in die Praxis umgesetzt werden. Mit dem russischen Dekret „Über die Abschaffung aller Stände und zivilen Ränge“ vom 10. November 1917 wurden auch die Normen und Gesetze, die das zaristische Beamtentum betrafen, außer Kraft gesetzt.46 Eine Verordnung „Über die Höhe der Entlohnung der Volkskommissare und leitenden Bediensteten und Beamten“ legte zunächst die Bezüge der Bediensteten fest.47 1922 wurde ein Dekret über die vorläufigen Dienstvorschriften für die staatlichen Einrichtungen und Unternehmen verabschiedet.48 Es regelte den Eintritt in den Dienst, verbot die gleichzeitige Tätigkeit in zwei staatlichen Behörden und untersagte das Zusammenarbeiten von verwandten Personen. Ungeachtet des Zusatzes „vorläufig“ behielt es während der folgenden 70 Jahre seine Gültigkeit. Dazu kamen im Jahr 1933 einige Vorschriften über die disziplinarische Haftung von Staatsbediensteten.49 Es gab in der Zwischenkriegszeit keine eigene gesetzliche Regelung für den sowjetischen Staatsdienst, und das blieb so während des Bestehens der Sowjetunion. Nachdem Staatsbedienstete Arbeiter wie alle anderen auch sein sollten, galt grundsätzlich der Kodex der Gesetze über die Arbeit (Kodeks zakonov o trude, KZOT) von 1918 bzw. 1922.50 Dieses Gesetzeswerk regelte Ein- und Austritt in Arbeitsverhältnisse, Arbeitszeiten (Achtstundentag), Entlohnung, Urlaubs- und Versicherungsansprüche, den Mutterschutz und die Arbeit Minderjähriger. Besonders bemerkenswert ist, dass bis 44 Bundesgesetzblatt 245 vom 18. Juli 1924. 45 Siehe dazu Erna Appelt (1985), Von Ladenmädchen, Schreibfräulein und Gouvernanten. Die weiblichen Angestellten Wiens zwischen 1900 und 1934, Wien, 109 ff. 46 Dekret SNK RSFSR ot 10 Nojabrja 1917 g. „Ob uničtoženii soslovij i graždanskich činov“. 47 ����������������������������������������������������������������������������� Postanovlenie SNK RSFSR ot 23 Nojabrja 1917 g. „O razmerach narodnych kommissarov i vysšich služaščich i činovnikov“. 48 �������������������������������������������������������������������������������� Dekret SNK RSFSR ot 21 Dekabrja 1922 g. „Vremennye pravila o službe v gosudarstvennych učreždenijach i predprijatijach“. 49 Fritzsche, Staatsdienst, 90 (wie Fn. 23). 50 Kodeks zakonov o trude (1918) und (1922).

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in die späten 1920er Jahre noch kein Anspruch auf Alterspensionen bestand, sondern lediglich für Invalidität.51 Alterspensionen wurden ab 1927 zuerst für Textilarbeiter eingerichtet, und dies nicht unbedingt aus primär sozialen Motiven: “[…] the explicit rationale of these new measures was not to secure a comfortable old age for the industrial workers, but rather to ensure a healthy and timely turnover of labour: to force the old guard in the factory to make way for the next generation. The textile industry was an early target for the new policy because its workforce was unusually old.”52

Eine Besonderheit ist auch die Arbeitspflicht, die – unter bestimmten Umständen – über alle gesunden (sowie nicht schwangeren und nicht stillenden) Erwachsenen zwischen 16 und 40 (Frauen) bzw. 45 Jahren (Männer) verhängt werden konnte. Zur Umsetzung dieses prinzipiell fortschrittlichen Kodex schreibt Ol’ga Edel’man: „Die französischen Jakobiner formulierten im Jahr 1793 eine Verfassung – einen vollkommenen, makellos demokratischen Text, einen idealen Verfassungstext, dessen Inkrafttreten für den Fall der ‚Erreichung des allgemeinen Friedens‘ vorgesehen war. Bis dahin aber gab es revolutionären Krieg und Terror. Die Bol’ševiki gingen umgekehrt vor. Sie setzten ihre idealen Gesetze rasch in Kraft, auf dass diese sogleich ein ideales Feld schaffen mögen, und für den Umgang mit der nicht so idealen Realität wurden außergewöhnliche Akte gesetzt.“53

6. Schluss An diesem Punkt meines Forschungsvorhabens ist es mir noch nicht möglich, große Schlüsse zu ziehen. Dennoch ist es beeindruckend, neben offensichtlichen großen Unterschieden zwischen den beiden Kontexten Parallelen bzw. ähnliche Problemstellungen zu finden. Der Vergleich zwischen Österreich und Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion soll eine schärfere Konturierung des Phänomens Staatsdienst ermöglichen. Die Herausforderung liegt hier u.a. darin, eine Berufsgruppe im Forschungsprozess zu konstruieren, die es – im Fall der Sowjetunion – offiziell nicht oder kaum 51 Das schloss nicht aus, dass man eine im Alter eine Pension erhalten konnte – wenn man seine Invalidität ins Treffen führen konnte, Stephen Lovell (2003), Soviet Socialism and the Construction of Old Age, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 51 / 4, 564–585, hier 572. 52 Ebd., 575. 53 Ol’ga Edel’man (2003), KZOT. Verzii dlj pečati [KZOT. Druckversionen] in: Otečestvennye zapiski 3 / 11, o.S. http: /  / www.strana-oz.ru / ?article=539&numid=12, Zugriff am 11. 10. 2010, Übersetzung TG.

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gab. Dabei soll nicht um des Vergleichs willen ein historisches Artefakt erzeugt werden. Vielmehr sollen historische Berufsklassifikationen ernst genommen und dennoch hinterfragt, analytisch aufgefächert und so für einen sinnvollen Vergleich aufbereitet werden. Darüber hinaus können Fragen nach inter- und transnationalen Verflechtungen fruchtbare Perspektiven öffnen.54 Für den Staatdienst wären etwa die Diskussionen über die Rationalisierung von Verwaltungsabläufen ein interessanter Gegenstand für weitere Forschungen.55

54 Mit kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen aller Art zwischen Österreich und der Sowjetunion beschäftigt sich gegenwärtig das vom österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung unterstützte Projekt „Österreichisch-sowjetische Beziehungen 1918–1938“, auf das mich Julia Köstenberger dankenswerter Weise hingewiesen hat. In solche grenzüberschreitende Aktivitäten waren von österreichischer Seite so namhafte Wissenschafter wie Otto Neurath und Moritz Schlick involviert. Siehe dazu Julia Köstenberger (2010), Otto Neurath und die Sowjetunion, Vortrag beim Österreichischen Zeitgeschichtetag 2010, unveröffentlichtes Manuskript. 55 ��������������������������������������������������������������������������������������� Nicht zuletzt regte Lenin persönlich an, für die bessere Organisation der jungen sowjetischen Staatsverwaltung auf aktuelle „westliche“ Rationalisierungs- und Verwaltungstechniken zurückzugreifen, siehe dazu Paul Cocks 1978), Administrative rationality, political change and the role of the party, in: Karl Ryavec (Hg.), Soviet Society and the Communist Party, Amherst, 41–59, 45. Für die Untersuchung solcher Transfers können zeitgenössische sowjetische Arbeiten aus der Verwaltungswissenschaft als Quellen herangezogen werden, beispielhaft Elena Rozmirovič (1926), Metodologija i praktika techniki upravlenija [Methodologie und Praxis der Verwaltungstechnik] Moskau sowie Dies. (1930), Osnovnye direktivy po ratsionalizacii učreždenij [Grundlegende Direktiven zur Rationalisierung von Institutionen], Moskau.

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Die deutsche Stadt als Arbeitgeber im 19. und 20. Jahrhundert und das öffentliche Dienstrecht in Europa

Im Rahmen des Schwerpunkts „Staat als Arbeitgeber“ soll der Blick auf einen besonderen Arbeitgeber gerichtet werden: die Stadt. Städte sind zwar öffentliche Arbeitgeber, jedoch können sie nicht immer autonom über ihre Dienstverhältnisse verfügen. Die Untersuchung ‚der Stadt‘ als Arbeitgeber erfordert daher eine doppelte Perspektive. Einerseits muss das Verhältnis zwischen Stadt und Staat, andererseits das Verhältnis zwischen Stadt und Bediensteten erörtert werden. Im ersten Teil ist daher die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung bzw. der Gemeindefreiheit für die öffentlichen Dienstverhältnisse zu untersuchen. Die maßgeblichen Probleme und Alternativen können am deutschen Beispiel exemplarisch analysiert werden (B.). Die alternativen Strukturprinzipien sind anschließend zu vergleichen (C.). Sie beeinflussen die Durchführung der dienstrechtlichen Lösungen, deren wichtigste und vom privaten Dienstverhältnis abweichende Aspekte ebenfalls europäisch vergleichend analysiert werden sollen (D.). Aus diesen Untersuchungsabschnitten resultieren dann drei wesentliche Typen europäischer kommunaler Dienstverhältnisse (E.). Ein Fazit wird die Einzelerkenntnisse schließlich ordnen und weitere Perspektiven aufzeigen (F.).

I. Gemeindefreiheit in Europa Die Gemeindefreiheit wurde nach 1945 zu einer „Rettung Europas“ stilisiert.1 Sie wurde 1985 in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, einem Dokument, das auf eine Europäische Charta der Gemeindefreiheiten (Versailles 1953) zurückgeht, rechtlich durchgesetzt und mittlerweile von 44 Staaten des Europarats ratifiziert. Sie enthält in Artikel 6 § 2 auch eine Bestimmung zu den Beschäftigungsverhältnissen der Kommunal­be­diens­te­ten.2 Dieser Artikel soll sowohl die PersonalAdolf Gasser, Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung, Basel 1947. 2 ������������������������������������������������������������������������������ „Die Beschäftigungsbedingungen für die Bediensteten der kommunalen Gebietskörperschaften müssen die Gewinnung von qualifiziertem Personal auf der Grundlage von 1

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hoheit garantieren als auch rechtliche Vorgaben zur Sicherstellung der Rekrutierung geeigneten Personals liefern.3 Er weist jedoch die Regelungskompetenz für die Inhalte der Dienstverhältnisse weder den Gemeinden noch anderen staatlichen Ebenen zu. Eine Lösung zur Frage des materiellen Dienstrechts der Städte ist auf europäischer Ebene nicht zu finden. Die nationalstaatlichen Einzelregelungen sind nach wie vor in hohem Maße von den jeweiligen historischen Traditionen des Rechts des öffentlichen Dienstes abhängig. Die Frage von Freiheit und Bindung der Städte und Gemeinden betrifft natürlich beide Parteien. Sie entscheidet über den rechtlichen Handlungsspielraum der Städte bei der Ausgestaltung des Dienstverhältnisses. Für die Beschäftigten stellt sich die Frage, ob sie in den Städten überhaupt einen Partner für die Aushandlung der Dienstverhältnisse finden. Während die moderne Verwaltung und die Verwaltungswissenschaft der europäischen, aber auch außereuropäischen Städte recht gut erforscht sind und unter Stichworten wie Transfer oder Professionalisierung abgehandelt werden,4 gibt es zum Dienstrecht in den Städten oder zu den Arbeitsverhältnissen der städtischen Beschäftigten kaum etwas, vor allem nichts Rechtshistorisches oder Rechtsvergleichendes.5 Die entscheidenden Fragen und rechtlichen Alternativen lassen sich aber der deutschen Entwicklung entnehmen. Der erste entscheidende Umbruch ist nicht nur in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert zu verorten.6

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Leistung und Befähigung ermöglichen; zu diesem Zweck sind angemessene Ausbildungsmöglichkeiten, Bezahlungs- und Laufbahnbedingungen vorzusehen.“ Siehe Bert Schaffarzik, Handbuch der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (=Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht 14), Stuttgart u.a. 2002, 104 ff., 496. Z.B. Nico Randeraad (Hg.), Formation und Transfer städtischen Verwaltungswissens ( Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15), Baden-Baden 2003 mit Beiträgen zu Städten von Helsinki bis Sao Pãulo. Allgemein zu fehlenden Lokalstudien über den Civil Service Jos C. N. Raadschelders / Mark R. Rutgers, The Evolution of Civil Service, in Hans A.G.M. Bekke u.a. (Hg.), Civil Service Systems in Comparative Perspective, Indiana 1996, 67–99. Für das Dienstrecht gilt das erst recht. Für Deutschland immerhin die großangelegte Studie von Hans Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums, 2. Aufl. Köln 1993, nicht mit dem Schwerpunkt Dienstrecht. Raadschelders / Rutgers (wie Fn. 5), 78 verorten die „Geburt“ des modernen Civil Service vergleichend auf den etwas längeren Zeitraum 1780–1880 mit natürlich nationalen Unterschieden.

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II. Städtisches Dienstrecht in Deutschland seit 1800 In Deutschland werden nach herkömmlicher Lesart „zwei Linien des kommunalen Beamtenrechts“ beobachtet, eine preußische und eine bayerische oder besser süddeutsch-österreichische.7 Der entscheidende Unterschied bestünde in der preußischen Figur der Kommunalbeamten als mittelbaren Staatsbeamten. Hinzuzufügen ist jedoch noch eine dritte Linie, die der Reichsstädte, da hier die Städte nicht, wie sonst angenommen,8 zuvor als „Staatsanstalten“ lediglich staatliche Funktionen wahrgenommen hatten. Nachdem noch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten in einem eigenen Abschnitt „Von den Rechten und Pflichten des Staatsdieners“ die Rechtsverhältnisse aller unmittelbaren und mittelbaren Staatsbeamten auch in den Städten und Gemeinden normiert hatte (Teil II 10, §§ 1–145, Zu den „Civil-Beamten“ §§ 68 ff.), bestimmte die preußische Städteordnung von 1808 die Städte zum Dienstherren ihrer Beschäftigten. Die Städte konnten ihre Dienstverhältnisse nun weitgehend selbständig regeln. Die Städteordnungen der preußischen Provinzen enthielten dann allerdings sehr unterschiedliche Vorgaben für die Dienstverhältnisse der städtischen Beamten.9 Für die Gemeinden hingegen blieben die Bestimmungen des ALR maßgeblich.10 Das Preußische Gesetz betreffend die Anstellung und Versorgung der Kommunalbeamten griff 1899 erstmals wieder in die städtische Personalhoheit ein, indem es, Franziska Pompey, Die Kommune als Dienstherr der Kommunalbeamten und als Arbeitgeber der kommunalen Angestellten und Arbeiter. Eine vergleichende Darstellung des kommunalen Beamten- und Arbeitsrechts am Beispiel des bayerischen Gemeinderechts unter Berücksichtigung der Auswirkungen des Dienstrechtsreformgesetzes von 1997 sowie weiterer Reformgesetze zur Umsetzung des Programms „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“ (=Würzburger rechtswissenschaftliche Schriften 45), Würzburg 2004, 25. 8 Pompey (wie Fn. 7), 26. Dazu auch Ernst Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesrecht (=Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart 3), Tübingen 1931, 18 ff. 9 Hans Friedrich, Die Stellung der Kommunalbediensteten im Spannungsfeld von Staat und kommunaler Selbstverwaltung im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland, Diss. phil. Konstanz 1993, 20 bildet am Problem der Lebenszeitstellung drei Gruppen: Die Städteordnungen für Frankfurt am Main 1867, für Westfalen und die für die sechs östlichen Provinzen sahen den Grundsatz der Lebenszeitstellung mit Ausnahme vorübergehender oder mechanischer Dienstleistung vor. Die Städteordnungen der Rheinprovinz und Hannovers beinhalteten eine Kann-Bestimmung bei nicht vorübergehender Dienstleistung und überließen die Regelung im Übrigen dem kommunalen Ermessen. Andere Städteordnungen delegierten die Regelung an ein Ortsstatut und machten dafür teilweise beschränkte Vorgaben, so in Schleswig-Holstein. 10 Pompey (wie Fn. 7), 27. 7

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ausgehend von einem beobachteten Missverhältnis zwischen der Besoldung und den qualifizierten Aufgaben der Beschäftigten, Anstellungsmodalitäten festsetzte. Es erklärte die Einstellung auf Lebenszeit zum Regelfall, die abweichende Regelung durch Ortsstatut oder Genehmigung der Aufsichtsbehörde zur Ausnahme. 1920 wurde die staatliche Bindung der Besoldung verstärkt. Ein Gleichstellungsgesetz verlangte die Erhöhung der Kommunalbeamten- und Dauerangestelltenbesoldung auf das Landesbeamtenniveau, um es einige Monate später durch ein Besoldungssperrgesetz auch nach oben auf die Besoldung der Staatsebene zu begrenzen, nachdem die Staatsbeamten wiederum gegen hohe kommunale Besoldungen protestiert hatten.11 Die Besoldung der städtischen Beschäftigten war nun also in beiden Richtungen begrenzt. In Bayern hingegen war eine starke städtische Selbstverwaltung noch im 18. Jahrhundert erhalten geblieben, ehe sie unter Montgelas durch das Gemeindeedikt von 1808 beseitigt werden sollte.12 Die Stadt- und Landgemeinden wurden zwar als „öffentliche Korporationen“ angesehen, jedoch ging die gesamte innere Verwaltung einschließlich der Personalhoheit auf den Staat über.13 Die Umsetzung scheiterte am Widerstand der Gemeinden. 1818 wurde ein neues Gemeindeedikt erlassen, das die korporative Selbständigkeit der Städte wiederherstellte.14 Wie die Gemeindeordnung von 1869 behielt es die Unterscheidung zwischen Stadt- und Landgemeinden bei. Die gemeindliche Rechtssetzungshoheit erlaubte den Erlass von Ortsstatuten (Satzungen) und Polizeivorschriften bezüglich der Dienstverhältnisse. Unkündbarkeit, Pension oder Versorgung waren im gesetzlichen Regelfall nicht vorgesehen.15 Das bayerische Gemeindebeamtengesetz von 1916 gab erstmals Vorgaben für das Dienstverhältnis mit einem Schutz gegen willkürliche Entlassung, der Sicherung angemessener Besoldung, Ruhestands- und Hinterbliebenenversorgung und einem 11 Friedrich (wie Fn. 9), 120 ff., 126 ff. – dort auch zum Streit um die Verfassungskonformität des Sperrgesetzes. 12 Ulrich Probst, Die Entwicklung der gemeindlichen Selbstverwaltung in Bayern. Eine rechtshistorische Untersuchung, ausgehend vom heutigen Begriff der gemeindlichen Selbstverwaltung, Diss. jur. Würzburg 1975, 34–39 beschreibt den Vorgang als „Abwärtsbewegung der Gemeindeautonomie von umfassender Freiheit bis zu vollkommener Unterdrückung“. 13 Probst (wie Fn. 12), 55–59. 14 Probst (wie Fn. 12), 70  ff., 92 f. als „Befreiung der Gemeinden aus der bisherigen Knechtschaft“, aber auch zur Benachteiligung der Gemeinden gegenüber den Städten (gutsherrliche Gerichtsbarkeit etc.). Die innere Verwaltung blieb allerdings Staatsaufgabe. 15 ���������������������������������������������������������������������������������� Einen Überblick zur Geschichte der Pensionssysteme gibt Bernd Wunder (Hg.), Pensionssysteme im öffentlichen Dienst in Westeuropa (19. / 20. Jh.) (=Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 12), Baden Baden 2000.

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verbesserten Rechtsschutz im Disziplinarverfahren.16 Den Gemeinden blieb die Möglichkeit, Dienstverhältnisse und Gehalt durch Satzung zu regeln. In der Weimarer Zeit konnte man auf städtischer Ebene Beamte, sog. Dauerangestellte, sog. Kündigungsbeamte und Tarifangestellte – hier geordnet in absteigender Hierarchie des Kündigungsschutzes – unterscheiden. Es war ein differenziertes Dienstrecht entstanden, dessen vielfältige Möglichkeiten die Städte als Arbeitgeber nutzten und das entsprechend vom Deutschen Städtetag unterstützt, von Staat und Gewerkschaften dagegen bekämpft wurde.17 Bei Kündigungsbeamten etwa war die Kündigung auch nach langjährigem Dienst jederzeit unter Verlust des Ruhegehaltsanspruchs, nach reichsgerichtlicher Rechtsprechung auch als Gruppenkündigung zum bloßen Zweck der Erzielung von Ersparnissen möglich.18 Auf Reichsebene folgten die wesentlichen Veränderungen der städtischen Dienstverhältnisse im Nationalsozialismus durch die Deutsche Gemeindeordnung von 1935. Zielsetzung war es, die Beschäftigten nicht mehr nur an die Gemeinde als Dienstherrn zu binden, sondern auch an Führer, Partei und Reich. Die Treue zum Führer bis in den Tod schrieben sogar populäre juristische Handbücher den Kommunalbeamten vor.19 Gleichzeitig wurde das Dienstrecht der nun bereits gleichgeschalteten Gemeinden vereinheitlicht. Während § 37 DGO 1935 noch die Beamtenhoheit der Gemeinde und damit das Recht auf Anstellung und Entlassung sicherte, erklärten die §§ 2, 151 des Deutschen Beamtengesetzes von 1937 die Kommunalbeamten in preußischer Tradition zu mittelbaren Staatsbeamten. Wesentliche Entscheidungen wurden von der Genehmigung der Aufsichtsbehörden abhängig gemacht bzw. dieser vorbehalten. Man kann dieses Gesetz als das Ende eines „eigenständigen Kommunalbeamtenrechts“ in Deutschland ansehen. 1938 wurde im sog. Generalpardon nach dem Kündigungsbeamtentum auch das Dauerangestelltenverhältnis verboten, bestehende Dienstverhältnisse sollten in planmäßige Beamtenstellen überführt werden. Paradoxe Folge war ein starker Anstieg der verhältnismäßig ungesicherten Angestelltenverhältnisse als verbliebener Handlungsalternative zum Lebenszeitbeamtenstatus.20

Pompey (wie Fn. 7), 30. Friedrich (wie Fn. 9), 112 f. RG v. 27.5.1927, PrVBl. 49, 633. Kurt Nischk, Der Gemeindebeamte im Dritten Reich. Ein Handbuch und Nachschlagewerk für die Beamten der Gemeinden und Gemeindeverbände, 7. Aufl. Leipzig 1943, 344 f. Dort wird das Verhältnis von politischer Führung und (Gemeinde-)Beamtentum wie folgt beschrieben: „Der politische Leiter der Bewegung und der Amtswalter des Staates marschieren zusammen als zwei selbständige Heeressäulen an die Front, um an dieser vereint den Kampf für das Vaterland und seine Stellung und Unabhängigkeit in der Welt aufzunehmen“. 20 Friedrich (wie Fn. 9), 243 ff., 248 f. 16 17 18 19

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Nach 1945 wurde die Unterscheidung zwischen mittelbaren und unmittelbaren Beamten fallengelassen. Die Anstellungskörperschaft ist Dienstherr, Kommunalbeamtengesetze wie im 19. Jahrhundert oder eine Rechtssetzungskompetenz der Städte und Gemeinden gibt es nicht mehr.21 Das Kommunalbeamtenverhältnis der Bundesrepublik ist bestimmt von Art. 33 GG und den Bundes- und Landesbeamtengesetzen, das Recht der städtischen Bediensteten vom Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst mit eher geringem Einfluss des Akteurs Stadt.22 Etwas anders stellte sich die Situation in der ehemaligen DDR dar. Die DDR kannte nur den Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, obwohl es kein „einheitliches sozialistisches Arbeitsrecht“ gab.23 Im Staatsdienst existierten gruppenspezifische Sonderregelungen und für die technische und andere sog. Intelligenz etwa die Möglichkeit des ergänzenden Individualvertrags;24 wegen des Fachkräftemangels sollte für diesen Personenkreis die weltanschauliche Zuverlässigkeit zweitrangig sein. Gegenüber den allgemeinen Arbeitsverhältnissen erachtete man Unterschiede in der Arbeitsdisziplin und im Rechtsschutz als notwendig. Letzterer sollte seine immanente Grenze in der Verantwortung gegenüber den gesellschaftlichen Belangen finden. Das Gesetz der Arbeit und seine begleitenden Verordnungen von 1950 sollten auch für den Staatsdienst gelten. Daneben wurden eine Disziplinarordnung und ein Gesetz über die „örtlichen Organe der Staatsmacht“ geschaffen. Die im Widerspruch zum demokratischen Zentralismus stehende kommunale Selbstverwaltung war 1952 abgeschafft worden. Wie schon im Gesetzestitel gab es jetzt bloß „örtliche Organe 21 Deutlich Manfred Wichmann, Abschnitte „Allgemeines Beamtenrecht“ und „Besoldungs-, Versorgungs- und Disziplinarrecht“, in: Ders / Karl-Ulrich Langer, Öffentliches Dienstrecht. Das Beamten- und Arbeitsrecht für den öffentlichen Dienst, 6. Aufl. Stuttgart 2007, 9–637 (=Rn. 1–318) und 639–697 (=Rn. 319–419), Rn. 43: „Es gibt keine eigenständige Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinden und Gemeindeverbände im materiellen Beamtenrecht“. Dies sei „sachlich notwendig“, da eine einheitliche Rechtsgrundlage die reibungslose Personalrekrutierung und den Personalaustauch zwischen den Hoheitsträgern garantiere. 22 Sehr skeptisch zum Freiheitsaspekt im Recht der kommunalen Angestellten und Arbeiter Henning Meißner, Die politische Entwicklung der kommunalen Personalhoheit. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der nordrhein-westfälischen Gemeinden und Gemeindeverbände, Diss. phil. Münster 1997, 154 f. Der korporative Föderalismus der bundesrepublikanischen Tarifpraxis habe den Kommunen kaum Handlungsspielraum gelassen. 23 Zur DDR insbesondere Helmut Jacobs, Das Recht des Staatsdienstes in der DDR, Diss. jur. Würzburg 1975, hier 9. Ohne grundsätzliche Veränderungen für die Zeit nach 1975 auch Wolfgang Bernet, Zur normativen Regelung des Staatsdienstes in der DDR und zum Rechtsverständnis der Staatsfunktionäre, ZBR 1991, 40–47. 24 Verordnung über den Abschluss von Einzelverträgen mit Angehörigen der Intelligenz, 1951.

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der Staatsmacht“. Wesentliche Bedeutung erlangte mit bezeichnendem Titel eine „Verordnung über die Pflichten, die Rechte und die Verantwortlichkeit der Mitarbeiter in den Staatsorganen“ vom 19. Februar 1969, die das Sonderrecht mit Blick auf das Gesetzbuch der Arbeit von 1961 novellierte. Trotzdem war sie sowohl kollektiv durch Arbeitsordnungen als auch für die Intelligenz durch Individualvertrag abdingbar.25 Man kann also Phasen bilden.26 Während das 19. Jahrhundert von der neu entstandenen Autonomie im Gemeindedienst- und Anstellungsrecht geprägt war, lässt sich in Weimar im Anschluss an die ersten Teilnormierungen in Preußen und Bayern 1899 / 1916 ein Zentralisierungsschub mit den Reichsbesoldungsgesetzen und Notverordnungen feststellen. Die zeitgenössische Diskussion wurde bereits unter Schlagworten wie „Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung“ und „Abbau des Gemeindebeamtentums“ geführt. Der mit dem Deutschen Beamtengesetz 1937 geschaffene Zustand dauert im Prinzip bis heute an.27 Lediglich die DDR kehrte für bestimmte Gruppen zur individuellen Aushandlung zurück, allerdings ohne die Stadt als selbständigem Akteur und in einem sehr spezifischen Sinne. Diese Phasen stehen sicherlich in einem Zusammenhang mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, der Kommunalisierung und Entkommunalisierung sozialer Aufgaben und dem Bedeutungsgewinn und -verlust der Städte als Akteure. Zwar ist die Frage nach der Rechtssetzungskompetenz für die Aushandlungsmöglichkeiten der Städte und ihrer Bediensteten bzgl. der Dienstverhältnisse entscheidend, dies sagt aber noch nichts über die Inhalte der Beschäftigungsverhältnisse aus. Nichtsdestoweniger lassen sich Hinweise auf einige zentrale Problemstellungen in den Durchführungsperspektiven erkennen. Es ist dies zunächst die Frage nach Dienstverhältnis oder Beamtenverhältnis, Letzteres als wesentliches Moment eines anderen Arbeitsregimes im Sektor „Staat als Arbeitgeber“. Die Ausprägungen des Beamtentums müssen also auf europäischer Ebene vergleichend untersucht werden. In der Sache geht es dabei um das Lebenszeitprinzip, das Disziplinarrecht und das Treue- und Fürsorgeverhältnis mit seinen spezifischen Pflichtbindungen, drei Besonderheiten dieser Dienstrechte und Dienstverhältnisse.

25 Zu allem Jacobs (wie Fn. 23), bes. 44 f., 66, 70, 195. 26 Vgl. in größerem vergleichenden Maßstab auch die ganz andere 5-Phasenbildung von Raadschelders / Rutgers (wie Fn. 5), 71–89 für die Zeit ab dem Hochmittelalter in ‚zentralstaatlicher‘ Perspektive: civil servants as personal servants, civil servants as state servants, civil servants as public servants, civil service as protected service und civil service as professional service, die dies als Emanzipationsgeschichte schreiben, 86. 27 Friedrich (wie Fn. 9), 7.

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III. Grundlegende Disparitäten kommunaler Beschäftigungsverhältnisse Zunächst interessiert, ob und inwiefern überhaupt ein allgemeines, einheitliches Dienstrecht existierte. Das ist zu klären, um die eventuellen Besonderheiten sichtbar zu machen. 1. Einheitliches Dienstrecht oder dienstrechtlicher Föderalismus

Ein tatsächlich einheitliches Dienstrecht wurde nirgends verwirklicht. Fast immer wurde getrennt,28 horizontal nach verschiedenen Ebenen – Staat, Territorien, Kommunen oder vertikal in das Recht der Beamten, der Bediensteten und verschiedener Zwischenformen. Oft existieren beide Trennungen zugleich. Die Gegenüberstellung ist dennoch von Bedeutung, da sie mehrere Bindungsprobleme aufzeigt. Die deutschen Lösungen wurden bereits vorgestellt. Die Regelungen der Landesbeamtengesetze sind vielfach mit entsprechenden des Bundesrechts wortlautidentisch. Die französische Lösung ist dagegen ein dreigeteiltes System mit staatlichem, territorialem sowie dem Krankenhaus-Dienst-Recht.29 Das Recht der drei Systeme ist in unterschiedlichen Gesetzen im Rahmen eines Generalstatuts getrennt, wiewohl es sich in vielen Punkten ähnelt.30 In Irland folgt die Ausgestaltung der kommunalen Dienstverhältnisse in der Regel dem Staatsdienst.31 In Portugal wiederum haben die 28 Eine Ausnahme bildet vielleicht Estland heute. Der Beamtenstatus wurde 1995 auf alle öffentlichen Beschäftigten ausgeweitet und die Gesetzgebung gilt auf staatlicher und örtlicher Ebene. Siehe Martin Weber, Öffentliches Dienstrecht in Polen, der Slowakei und Estland: Reformkonzepte und Implementation im Vergleich (=Forschungspapiere Probleme der öffentlichen Verwaltung in Mittel- und Osteuropa 8), Potsdam 2006, 45  f. Siehe auch mit einem historischen Überblick die Darstellung zum estnischen öffentlichen Dienst Georg Sootla / Harry Roots, The Civil Service in the Republic of Estonia, in: Tony Verheijen (Hg.), Civil Service Systems in Central and Eastern Europe, Cheltenham 1999, 235–266. 29 Thilo Doleschal, Das Prinzip der Fürsorge und Alimentation im Dienstrecht der Europäischen Gemeinschaften, Diss. jur. Hagen 1999, 28. 30 Für die Kommunalbeamten besonders von Interesse die Gesetze Nr. 83–634 von 1983 über die Rechte und Pflichten der Beamten (Generalstatut I) und Nr. 84–53 von 1984 über die beamtenrechtlichen Vorschriften hinsichtlich des kommunalen öffentlichen Dienstes (Generalstatut III). 31 ����������������������������������������������������������������������������� Die Kommunalverwaltung liegt bei den zwischen 1210 und 1606 gegründeten Kreisen, John Gallagher / Sean Dooney, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Irland, in: S.  Magiera / H. Siedentopf (Hg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedsstatten der Europäischen Gemeinschaften (=Schriften zum Europäischen Recht

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Gemeinden wie in Deutschland zwar ein Verordnungsrecht, die Rechtsstellung der Kommunalbeamten ist aber ebenfalls mit der der staatlichen Beamten identisch.32 In Großbritannien stehen der kommunalen Selbstverwaltung auf Basis des Local Government Act von 1972 / 73 landesweit kollektiv vereinbarte Beschäftigungsbedingungen gegenüber.33 Aber selbst wenn die kommunale Selbstverwaltung zu formal getrennten Gesetzen führt, sind die inhaltlichen Unterschiede sehr gering, siehe exemplarisch Griechenland.34 In der Schweiz dagegen existiert nicht einmal ein gemeinsames Rahmenrecht, sondern es bestehen zwei bis drei horizontale Ebenen: Staat und Kantone, die wiederum zumeist den Gemeinden und ihrem Satzungsrecht das Dienstrecht freistellen. Zürich hat sich etwa erstmals 1998 ein Personalgesetz als Rahmengesetz gegeben.35 In Dänemark sind die meisten gesetzlichen Regelungen des öffentlichen Dienstes ohnehin dispositiv. Die zwingenden Normen des Beamtengesetzes gelten wiederum nicht für die Kommunalbeamten.36 In Großbritannien sind die Beschäftigten des staatlichen civil service rechtlich ebenfalls streng von anderen öffentlichen Beschäftigten zu trennen. Die Beschäftigten der Kommunen werden von diesen angestellt37 – Vereinheitlichung erfolgt, wie gesagt, nur im Wege der Tarifpraxis.

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17), Berlin 1994, 435–491, 458, 460 f. Gesamtzuständig ist das Umweltministerium; knapper historischer Überblick zum irischen öffentlichen Dienst bei Michelle Millar / David McKevitt, The Irish Civil Service System, in: Hans A.G.M. Bekke / Frits M. van der Meer (Hg.), Civil Service Systems in Western Europe, Cheltenham 2000, 36–60, 37–40. Nuno de Sousa, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Portugal, in: S.  Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 683–729, 696. Nevil Johnson, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Großbritannien, in: S.  Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 343–434, 354 f.; im Übrigen werden Kommunalbedienstete zu freien Bedingungen im Rahmen des allgemeinen Arbeitsrechts eingestellt, 393. Wassilios Skouris, Das Recht des öffentlichen Dienste in Griechenland, in: S.  Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 318–342, 324. Zur Schweiz hilfreich der knappe Überblick von Daniel Kettiger, Neuere Entwicklungen im öffentlichen Dienstrecht der Schweiz, ZBR 2001, 24–29. Umfassend jetzt in Form einer Fallsammlung Peter Hänni, Das öffentliche Dienstrecht der Schweiz. Dargestellt anhand der Gerichts- und Verwaltungspraxis in Bund und Kantonen, 2. Aufl. Zürich 2008. Zum dänischen öffentlichen Dienst Hjalte Rasmussen, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Dänemark, in: S. Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 141–179. Doleschal (wie Fn. 29), 97 begründet das Fehlen von Vereinheitlichung mit der historischen Tradition und dem Fehlen eines zentralisierend wirkenden Innenministeriums bis 1782. Knapper historischer Überblick zum britischen civil service bei Geoffrey K. Fry, The British Civil Service System, in: Hans A.G.M. Bekke / Frits M. van der Meer (Hg.) (wie Fn. 31), 12–35, 15–20.

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In den sozialistischen Ländern fehlte zwar die horizontale Trennung, die vertikale Trennlage war dagegen sehr kompliziert, da zwar formal kein Beamtenwesen existierte und allgemeines Arbeitsrecht galt, dieses jedoch von diversen Gesetzen und Verordnungen für den Staatsdienst oder einzelne Berufs- oder Qualifikationsgruppen überlagert war. In der Tschechoslowakei wurden die Arbeitsbeziehungen der öffentlichen Bediensteten 1950 gesetzlich dem privaten Sektor angeglichen und verbleibende Abweichungen mit dem Arbeitsgesetz von 1965 beseitigt. Partei der Arbeitsbeziehung war die einzelne Behörde, was Immobilität und fehlende Auswahlverfahren zur Folge hatte.38 Das Beispiel der DDR weist auf die Probleme gruppenspezifischen Sonderrechts hin, das sich im konkreten Fall in berufsständischer Gliederung und gruppenspezifischer Privilegierung oder Diskriminierung äußert. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft wurde in Polen, das ohnehin im Sozialismus mit seiner Gesetzgebung für den öffentlichen Dienst mit starken österreichischen Verbindungen eine Sonderrolle gespielt hatte, ein Gesetz über die in der kommunalen Selbstverwaltung Beschäftigten geschaffen, das einen gewissen Rahmen für das als „zersplittert“ empfundene kommunale Dienstrecht geben sollte.39 Es herrschte und herrscht also eine große Vielfalt, die von staatlicher Dominanz über einen kommunalen Autonomiebereich bis zur Inkorporation der öffentlichen Beschäftigungsverhältnisse in das allgemeine Arbeitsrecht reicht. Die Wahl eines staatlich vorgegebenen Dienstrechts für Städte und Kommunen, ob nun für alle Beschäftigten oder nach Status getrennt, folgt einer politischen Logik. Staatlich vorgegebenes Dienstrecht sollte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Schutzgesetzgebung für die Beschäftigten der Städte sein, um diese gegenüber dem Magistrat unabhängiger zu machen. Man befürchtete, nicht ganz zu Unrecht, politische Abhängigkeiten und dadurch parteiliches Verwaltungshandeln bei ungesichertem Status. Dies eröffnet den Blick auf das Hauptregelungsproblem jedes öffentlichen Dienstes. Im Gegensatz zu privaten Arbeitsverhältnissen sind hier nicht nur die direkt beteiligten Parteien involviert, sondern auch das Gemeinwesen, das erstens durch Steueraufkommen die Bezahlung der öffentlichen Beschäftigten trägt, zweitens und vor allem aber Adressat von Handlungen und gegebenenfalls sensiblen Eingriffen seitens der öffentlichen Beschäftigten ist. Ein gesicherter Status der Beschäftigten 38 Karen Frauenberger, Probleme des öffentlichen Dienstes in der Tschechischen Republik (=Forschungspapiere Probleme der Öffentlichen Verwaltung in Mittel- und Osteuropa 7), Potsdam 2006, 18. 39 Zum polnischen Beamtenrecht umfassend historisch und mit Übersetzungen der wichtigsten Beamtengesetze seit 1922 Niels von Redecker, Das polnische Beamtenrecht (=Schriften des Instituts für Ostrecht 45), Frankfurt 2003. Die Gesetze von 1918 und 1922 (mit Geltung bis 1975) waren im Wesentlichen Übernahmen der österreichischen Dienstpragmatik von 1914, wie der Artikelvergleich zeige, 53–60, 61–77.

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sollte daher politisch neutrales, unabhängiges und gesetzeskonformes Handeln der Beschäftigten sichern. Umgekehrt sollten diese bei tatsächlichem Fehlverhalten aber auch stärker diszipliniert werden. Insofern liegt das Spannungsverhältnis von Bindung und Unabhängigkeit der öffentlichen Beschäftigten im öffentlichen Interesse. Man kann daher auch von unterschiedlichen Ordnungsprinzipien sprechen: Das legale Gewaltmonopol der Verwaltung erfordere eine „Zwangs- und Monopolethik“ im Gegensatz zur sonst vorherrschenden „Freimarktethik“.40 Diese ältere und aus der städtischen Perspektive lange bekannte Konfliktlage kehrte u.a. in den politisierten öffentlichen Diensten der kommunistischen Staaten wieder, in denen eine parteiliche Dienstwahrnehmung gerade zu den dienstlichen Aufgaben gehörte, und ist beispielsweise heute noch in Tschechien problematisch. Die starke kommunale Selbstverwaltung nach 1989 in Polen sollte in der Tradition der Solidarność-Bewegung umgekehrt die Staatsmacht begrenzen und wirkt sich heute im ‚zersplitterten‘ kommunalen Dienstrecht aus.41 Die partikularen und privatrechtlichen Lösungen wurden also jeweils dann gewählt, wenn es darum ging, sich von dem umfassenden Machtanspruch eines Fürsten oder einer Ideologie zu lösen, wie es auch die eingangs erwähnte Charta von 1953 / 85 belegt. Das ist die Gemeinsamkeit nach 1808 in Deutschland, nach 1945 und nach 198942 im Recht des öffentlichen Dienstes in Europa. 2. Kommunalbeamte oder vertragliche Dienstverhältnisse

Die Frage des hoheitlichen Handelns bildet traditionell ein wesentliches Kriterium bei der Abgrenzung zwischen Beamten bzw. Angestellten und Arbeitern, sofern man sich für die Lösung Beamtentum entschied. Das war und ist nicht überall so. Ausnahmen mit stark privatrechtlich geprägten Dienstverhältnissen bildeten nicht nur die deutschen Städte im 19. Jahrhundert, die englischen Städte noch heute, die Inkorporation des öffentlichen Dienstes in das allgemeine Arbeitsrecht im Sozialismus, sofern man dort von Privatrecht sprechen mag, oder in neuester Zeit der öffentliche Dienst in Italien. In den französischen Territorien ist das Beamtenverhältnis die Regel, für die Ausnahme der Angestellten mit öffentlich-rechtlichem oder privatrechtlichem Vertrag 40 Hubertus Helsen, Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Niederlanden, in: S. Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 601–681, 654. 41 von Redecker (wie Fn. 39), 211. 42 Grundlegend für die öffentlichen Beschäftigungsregime im Umbruch nach 1989 Barbara Nunberg u.a., The State after Communism. Administrative Transitions in Central and Eastern Europe, Washington 1999.

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bedarf es einer gesetzlichen Ermächtigung.43 Trotzdem liegt der Anteil der Nichtverbeamteten in den Kommunen bei etwa einem Drittel der Beschäftigten. Auch in den Niederlanden erfolgte die Einstellung hauptsächlich nach dem Beamtengesetz von 1929, Einzelverträge nach bürgerlichem Recht machen nur einen „Bruchteil“ der Dienstverhältnisse aus.44 Das soll im Einzelnen nicht weiter interessieren. Von Bedeutung ist hier nur die Alternative Beamten- oder Dienstverhältnis als Strukturelement der Arbeitsbeziehung. Die Auswirkungen sind offensichtlich in den Begründungs- und Beendigungsmodi, im Streikrecht, im Disziplinarrecht, und in der sozialen Absicherung. Daneben existiert noch ein zweiter Faktor mit wesentlichem Einfluss auf die Durchführungsperspektiven. 3. Laufbahnsystem oder Positionssystem im Beamtenrecht

Innerhalb des Beamtenrechts der europäischen Staaten finden sich massive Unterschiede in der Perspektive der Einzelregelungen. Diese lassen sich strukturieren, indem man sie zwei Idealtypen zuordnet, dem Laufbahn- und dem Positionssystem. Die Zuordnung ist mit Vorsicht zu behandeln, da die einzelnen Landessysteme nicht nur immer auch Merkmale des anderen Typs aufweisen, sondern auch Bereichsausnahmen zum anderen System schaffen.45 Während das Positionssystem grundsätzlich eine Einstellung auf eine bestimmte und jede mögliche Dienststelle vorsieht, ist das Laufbahnsystem an einer Karriere im öffentlichen Dienst orientiert. Dies hat Konsequenzen im Zugang (Direktbewerbung), in der Beendigung und in der sozialen Sicherung. Die Schweiz etwa folgte traditionell einer Form des Positionssystems, dem Amtsdauerprinzip. Hier wurden die Beamten in regelmäßigen Abständen neu gewählt, um das Entstehen einer „Beamtenkaste“ zu vermeiden. Dazu drängt sich ein übereuropäischer Vergleich mit den Vereinigten Staaten auf. Einen Anspruch auf Wiederwahl gab es ursprünglich nicht. Endete die Wahlperiode, endete auch das Dienstverhältnis. Heute erfolgt die „Wahl“ mit Ausnahme des Gerichtspersonals allerdings meist durch die 43 Christian Autexier, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: S. Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 238–315, 287, 295, 306. 44 Helsen (wie Fn. 40), 609 f. Historischer Überblick bei Frits M. van der Meer / Gerrit S.A. Dijkstra, The Development and Current Features of the Dutch Service System, in: Hans A.G.M. Bekke / Frits M. van der Meer (Hg.) (wie Fn. 31), 148–187, 149–154. 45 Im deutschen Laufbahnsystem beispielsweise unterfallen ca. 70% der Stellen wegen der Unterscheidung zwischen Beamten und Nichtbeamten tatsächlich dem Positionssystem, Danielle Bossaert / Christoph Demmke, Der öffentliche Dienst in den Beitrittsstaaten. Neue Trends und die Auswirkungen des Integrationsprozesses, Maastricht 2002, 15–24. Dort eine tabellarische idealtypische Gegenüberstellung, 16 f.

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Verwaltung und die Entwicklung verlief in Richtung eines bedingten Anspruchs auf Wiederwahl in einem unbefristeten Dienstverhältnis mit Auflösung durch Nichtwiederwahlverfügung. Bis zur Schaffung des ersten Beamtengesetzes 1927 galt weitgehend das allgemeine Obligationenrecht von 1911 / 12, an welches das Beamtenrecht heute auch wieder stärker angenähert werden soll. Öffentliche Bedienstete und Beamte sind in die allgemeine Sozialversicherung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen eingebunden. Das Positionssystem steht dem allgemeinen Zivil- und Arbeitsrecht also näher, und das aus einer doppelten Notwendigkeit heraus. Die Personalfluktuation zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft ist höher, entsprechend sind die Barrieren durch das Sozialsystem geringer. Gleichzeitig ist die Absicherung des Status weniger dringlich, da die Beschäftigten nicht so stark als Staatsdiener spezialisiert sind, dass ihre Handlungsalternativen beschränkt werden. Da ohnehin größere Mobilität vorherrscht, ist auch eine Vereinheitlichung des Dienstrechts kein primäres Ziel. Länder, die dem Laufbahnsystem folgen, neigen daher stärker zu Vereinheitlichung. In Frankreich kann man dies anhand der Angleichung des Dienstrechts im Zuge des Generalstatuts bei der Umstellung des Kommunalbeamtenwesens vom Positions- auf das Laufbahnsystem der Staatsbeamten in den 1980ern beobachten.46 Besonders stark ist das Positionssystem in Europa heute noch in Schweden vertreten. In globaler Perspektive ist das Positionssystem (Le système de l’emploi) übrigens nicht nur in den sozialistischen Ländern verbreitet gewesen, sondern auch noch in den USA, Kanada und Mexiko, während das Laufbahnsystem (Le système de la carrière) in Westeuropa einschließlich Großbritannien und in Afrika dominierte.47 Asien fehlt bei diesen vergleichenden Betrachtungen zumeist ganz.

IV. Die neuralgischen Punkte des öffentlichen Dienstrechts im europäischen Vergleich Nach dem Hauptregelungsproblem und den strukturellen Alternativen im öffentlichen Dienst sollen in einem zweiten Schritt vier markante Punkte herausgearbeitet werden, welche das Recht des öffentlichen Dienstes charakterisieren und die von den vorgestellten Dichotomien nachhaltig beeinflusst sind: Lebenszeitprinzip und Dienstbeendigung, Disziplinarrecht, Treue und Fürsorge sowie weitere besondere Pflichtbindungen.

46 Jean-Mary Auby / Jean Bernard Auby, Droit de la fonction publique. Fonction publique de l’État – Fonction publique territoriale – Fonction publique hospitalière, Paris 1991, Rn. 8. 47 Auby / Auby (wie Fn. 46), Rn. 7 f.

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1. Das Lebenszeitprinzip und die Dienstbeendigung

Das Laufbahnsystem ist prinzipiell verbunden mit dem Lebenszeitprinzip. Wenn der Beamte, wie es die ältere Lehre plastisch beschrieb, nicht nur seine Arbeitskraft einbrachte, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit in den Dienst trat, dann hatte das sowohl Konsequenzen im Umfang – Nebentätigkeitsverbote48 – als auch in der zeitlichen Dauer. Den Beginn der Lebenszeitstellung brachte europäisch erstmals übrigens Bayern 1805 mit seiner neuen sog. Dienstpragmatik. Individuelle Lebenszeitverträge sind allerdings auch aus früherer Zeit überliefert. Die Beendigung wird also zur Ausnahme, entweder auf Wunsch des Beamten, als Konsequenz grober Pflichtverstöße oder im Regelfall durch Tod des Beamten. Andere besondere Situationen müssen als Folgeprobleme rechtlich bewältigt werden. Neben der Dienstunfähigkeit und der Einführung von Altersgrenzen, kann auch aus der Sphäre des Dienstherrn eine Veränderung des Beschäftigungsverhältnisses notwendig werden. Der politische Zuverlässigkeitsaspekt ist heute durch Neutralitätsvorschriften im öffentlichen Dienst weitgehend entschärft. Totalitäre Herrschaften haben dagegen meist mit umfassendem Personalaustausch agiert, deren Nachfolger mussten dann mit viel politisiertem und / oder unqualifiziertem Personal umgehen. Mögliche Lösungen waren jeweils Einzelfallprüfungen ggf. mit Entlassungen und Versetzungen in den Ruhestand. Daneben kommen aber auch verwaltungsorganisatorische Gründe in Betracht. Technische Entwicklungen, Aufgabenverlagerungen, Einsparungen u.Ä. können Ämter überflüssig machen. In einem Laufbahnsystem sind die Beamten nicht an eine Position gebunden. Umsetzungen, Versetzungen u.Ä. sind für gewöhnlich unter gewissen Voraussetzungen vorgesehen. In einem Positionssystem ist das nicht ohne weiteres möglich. Dort sollte also das Lebenszeitprinzip für Beamte daher seltener vorkommen und die Dienstbeendigung leichter möglich sein. Noch weitergehend oder wenigstens dem allgemeinen Arbeitsrecht angepasst sind die Beendigungsmöglichkeiten evtl. bei Nichtbeamten. Diese Thesen sollen mit einigen Beispielen belegt werden. Nach der Einführung des Laufbahnsystems für die französischen Kommunalbeamten ist, neben der Entfernung aus dem Dienst und der Entlassung auf Antrag, die Dienstbeendigung nach Streichung einer Planstelle möglich, wenn der Beamte drei geeignete Angebote zur Wiedereingliederung an anderer Stelle abgelehnt hat.49 Eine Entlassung ist also nur möglich, wenn der Beamte die Versetzung mehrfach unbegrün48 Man argumentiert hier auch mit Interessenkollisionen und behauptet die Bürger dürften nicht von einem Beamten mit gesichertem Status in der Konkurrenz um das „knappe Gut Arbeit“ bedrängt werden, Wichmann (wie Fn. 21), Rn. 218. 49 Auby / Auby (wie Fn. 46), Rn. 241. Wenn eine Versetzung auf eine andere kommunale Planstelle unmöglich ist, übernimmt das Centre de gestion den Beamten und anteilig

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det verweigert. Daneben gibt es Entlassungen bei mangelnder Bewährung als außerordentliche Maßnahme in einem disziplinarischen Verfahren und bei Dienstunfähigkeit, wenn noch kein Versorgungsanspruch erworben wurde. Für Nichtbeamtete endet das Dienstverhältnis mit Erreichen der Altersgrenze, dem Auslaufen befristeter Verträge bei fristgerechter Ankündigung der Nichterneuerung, dem Rücktritt des Bediensteten und schließlich mit der Entlassung aus einem befristeten oder unbefristeten Vertrag. Die Entlassung kann mit Pflichtverletzung, körperlicher Untauglichkeit, wirtschaftlich bedingtem Personalabbau oder einer Verwaltungsneuorganisation begründet werden. Das Wahlbeamtentum auf Amtsdauer im Positionssystem der Schweiz war ursprünglich sicherlich eine scharfe Form des regelmäßigen Zeitablaufs im Beamtenverhältnis. Heute zielt die Tendenz dort auf die Abschaffung des Beamtenwesens und Ersatz durch unbefristete Dienstverhältnisse mit qualifizierter Begründungspflicht bei Entlassungen. Das tschechische Mischsystem mit spezieller Altersversorgung, aber Einstellung auf allen denkbaren Positionen, kennt ebenfalls keine Lebenszeitstellung,50 ebenso wenig Polen. In Tschechien sind die Beendigungsmodi gegenseitige Übereinkunft, Kündigung und Widerruf. Der Beamte kann Widerspruch einlegen. Bei betriebsbedingter Kündigung steht dem Beschäftigten ein doppeltes Monatsgehalt als Abfindung zu. In Polen genügen bereits zwei aufeinanderfolgende negative Beurteilungen durch den Vorgesetzen zur Entlassung des Beamten aus dem unbefristeten Dienstverhältnis.51 Auch die Auflösung der Behörde kann Entlassungsgrund sein, wenn eine Versetzung nicht in Betracht kommt. Dagegen enthielt die dem österreichischen Laufbahnsystem entsprechende Regelung von 1918 neben der Entlassung auf Antrag des Beamten vor allem die Befreiung vom Dienst unter Beibehaltung der Pension aus unterschiedlichsten Gründen wie Arbeitsunfähigkeit, Nachlässigkeit oder vollständigem Erwerb der Ruhestandsansprüche. Bei „unkündbaren“ Beamten nach Art. 24 musste die Befreiung nur begründet werden (Beispiel „nachlässige Pflichterfüllung“). Der Rechtsweg war ausgeschlossen. Bei Verbleiben der Ruhegehaltsansprüche war die Dienstbefreiung oder Beendigung also eher möglich. Das bestätigt sich in Dänemark heute. Versetzung und Entlassung stehen im Ermessen des Dienstherrn, während das Pensionsrecht gegen gesetzliche Eingriffe geschützt ist und auch greift, wenn der Beamte etwa eine Versetzung ablehnt. Die wesentlichen Beendigungstatbestände sind für Beamte und öffentliche Angestellte gleich. Die Beschäftigten haben einen Anspruch auf Entlassung mit vierteljährlicher Frist. Entlassungsgründe des Dienstherrn können Spar- und Rationalisierungsauch dessen Bezahlung. Es unternimmt die Organisation passender Stellenangebote zur Wiedereingliederung, vgl. Autexier (wie Fn. 43), 286. 50 Frauenberger (wie Fn. 38), 26. 51 Weber (wie Fn. 28), 22.

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maßnahmen, Dienstunfähigkeit52 des Beschäftigten oder sonstige „Probleme in der Zusammenarbeit“ sein.53 In einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis verlangt dann die Frage der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Entlassung Beachtung, heute meist gegeben, in Großbritannien aber etwa bei disziplinarischer Entfernung aus dem Dienst erst seit 1987.54 In der DDR richtete sich die Beendigung des öffentlichen Dienstverhältnisses grundsätzlich nach dem normalen Arbeitsrecht. Regelfall für das Ausscheiden aus dem Dienst war das Erreichen der Altersgrenze. Neben der disziplinarischen fristlosen Entlassung aus dem Arbeitsvertrag gab es noch die Möglichkeiten des Aufhebungsvertrags und der fristgemäßen Kündigung, die seitens des Dienstgebers begründet werden musste und der gewerkschaftlichen Zustimmung bedurfte. Forciertes Mittel war dabei der Aufhebungs- und (nach Möglichkeit) Überleitungsvertrag in ein anderes Beschäftigungsverhältnis. Wahl- und Berufungsverhältnisse endeten durch Zeitablauf oder Abberufung bzw. Abwahl. Wie erwähnt, gehören nicht nur Unabhängigkeit und gesicherte Stellung, sondern auch die besondere Bindung zu den besonderen Kernanliegen des öffentlichen Beschäftigungsverhältnisses. 2. Das Disziplinarrecht

Der relativ sichere Beamtenstatus korrespondiert mit einem gewissen Bedürfnis, in einem formalisierten Rahmen Fehlverhalten korrigieren zu können. Das formalisierte Verfahren ist auch ein Schutzinstrument des Beschäftigten, das der Problematik entgegentritt, dass der Dienstherr ein mögliches Fehlverhalten vorträgt, darüber urteilt und sich gleichzeitig als ‚Geschädigter‘ sieht. Für die französischen Kommunalbeamten und auch sonst in Europa wesentlich ist daher ein Typenzwang der Sanktionsformen, so sehr sich die Sanktionen national und historisch unterscheiden können. In Deutschland sind es heute Verweis, Geldbuße, Kürzung der Dienstbezüge, Zurückstufung und Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bzw. die Aberkennung oder Kürzung des Ruhegehalts bei Pflichtverletzungen der Ruhestandsbeamten. Andere Länder kennen bis zu einem Dutzend unterschiedlicher Sanktionsformen. Über den disziplinarischen und zivilrechtlichen Rahmen hinaus greifen zusätzlich noch die sog. Amtsdelikte des allgemeinen Strafrechts.

52 Altersunfähigkeit kann Entlassungsgrund für Angestellte sein, für Beamte gilt schon länger eine Altersgrenze von 70 Jahren. 53 Rasmussen (wie Fn. 36), 165, 176 f. 54 Johnson (wie Fn. 33), 380.

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Die schärfste Waffe ist mit Sicherheit die Entfernung aus dem Dienst. Die Möglichkeit zur disziplinarischen Entlassung scheint überall verbreitet zu sein. Wenn die disziplinarische Entlassung ein allgemeines Charakteristikum des öffentlichen Dienstes ist, dann besitzt sie zwar einen hohen Distinktionswert für die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Arbeit oder zumindest zum Beamtentum. Sie reicht dann aber nicht aus, um das Maß der Bindung in den verschiedenen öffentlichen Diensten vergleichend zu bestimmen. Es bietet sich ein genauerer Blick auf die Rechtsfolgen an. Hier lässt sich ein zentrales Unterscheidungskriterium ausmachen. In Spanien beispielsweise ist die disziplinarische Dienstenthebung mit dem Verlust der Pensions- oder Ruhegehaltsansprüche verbunden.55 In Deutschland können auch dem Pensionär bei Pflichtverletzungen noch die Ruhestandsbezüge aberkannt werden. Andere Länder schließen den Verlust erworbener Pensionsansprüche aus, beispielsweise Portugal.56 Hier wird deutlich, wie zentral der Entgeltcharakter der Besoldung ist. Gibt es einen solchen nicht, erlischt mit dem Dienstverhältnis auch der Fürsorgeanspruch. Entgelt und evtl. sogar eingezahlte Rentenbeiträge sind die stärkeren subjektiven Rechte und erfordern bei Entzug jedenfalls einen höheren juristischen Begründungsaufwand. Trotzdem lässt Luxemburg, das Überstunden- und Nachtzuschläge für Beamte, also eine echte Entlohnung kennt, nicht nur die disziplinarische Entlassung mit Verlust des Pensionsanspruchs, sondern auch eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand wegen „schlechten Benehmens“ (disqualification morale) mit der Möglichkeit der Halbierung der Ruhestandsbezüge zu.57 Dass der Verlust der Pensionsansprüche die wirtschaftliche Bindung und Abhängigkeit massiv verstärkt, ist unmittelbar einsichtig. Damit wird die Frage nach dem Verlust der Pensions- und Ruhegehaltsansprüche bei Dienstenthebung zum zentralen Merkmal in rechtsvergleichender Perspektive.

55 Ricardo García Macho, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Spanien, in: S. Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 731–780, 763, 770 f. Es existiert hier ein dreistufiges System mit leichten, schweren und sehr schweren Verfehlungen – zu letzteren mit der Möglichkeit der schärfsten Sanktion gehören etwa die Veröffentlichung von Amtsgeheimnissen, das Verlassen des Dienstes oder Diskriminierung. Zur Entwicklungsgeschichte des spanischen öffentlichen Dienstes seit dem 11. Jahrhundert knapp Salvador Parrado Díez, The Development and Current Features of the Spanish Civil Service System, in: Hans A.G.M. Bekke / Frits M. van der Meer (Hg.) (wie Fn. 31), 247–274, 250–256. 56 De Sousa (wie Fn. 32), 711. 57 Jean-Paul Conzemius, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Luxemburg, in: S. Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 531–599, 568 f.

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Die disziplinarische Entlassung korrespondiert mit der Sicherheit des Beamtenstatus. Abschaffungsbemühungen des Beamtenstatus sollten daher auch die Abschaffung des Disziplinarrechts beinhalten, so etwa in Zürich 1998 oder in Polen bei der Anpassung der öffentlichen Beschäftigungsverhältnisse, einschließlich derer der Territorialorgane an das Arbeitsgesetzbuch 1974. In Polen wurde dieser Versuch 1982 wieder aufgegeben, ausdrücklich „um die Staatsmacht zu stärken“ und die Verfügbarkeit der Beschäftigten zu erhöhen.58 Im Grundsatz sollte das besondere Disziplinarrecht also nur für Beamte gelten. Das wird nicht immer durchgehalten. Im Gegenteil wird das Disziplinarrecht zunehmend auf Angestellte ausgedehnt, etwa in Griechenland seit 1988 durch eine Präsidialverordnung.59 Auch in Dänemark sind neben einem weitreichenden Dienststrafrecht beamtenrechtliche Disziplinarmaßnahmen einschließlich der Entlassung möglich. Verschiedene Pflichtverletzungen von Beamten und öffentlichen Bediensteten unterliegen hier dem allgemeinen Strafgesetz, so der Verstoß gegen die Amtsverschwiegenheit oder die Dienstbefehlsverweigerung. § 157 des Strafgesetzes verlangt sogar ganz allgemein die Beachtung der Amtspflichten.60 Für die Vertragsbediensteten wird die Durchführung von Disziplinarmaßnahmen vertraglich vereinbart61 – Gleiches gilt tarifvertraglich auch in Spanien.62 Portugal lässt im Zuge von Angleichungstendenzen ebenfalls Disziplinarverfahren gegen privatrechtliche Angestellte und nicht nur die Kündigungssanktion zu, sondern erzwingt sogar die disziplinarische Wiedereingliederung in den Dienst bei unrechtmäßiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses.63 In Luxemburg bedeutet die disziplinarische Entlassung eine Ausnahme der Unkündbarkeit von Angestelltenverhältnissen nach zehn Jahren.64 Man könnte überlegen, ob das Disziplinarrecht für Angestellte mit einer besonders sicheren Stellung in diesen Ländern korrespondiert. Das wird sich jedoch schwer belegen lassen, da weitere Faktoren dies beeinflussen: das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Beamten und Angestellten, nationale Tradition, Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem öffentlichen Dienst. Das dänische Beispiel spricht jedenfalls mit weiter Kündigung und weitem Disziplinarrecht gegen die Vermutung.

58 von Redecker (wie Fn. 39), 174. Die unveröffentlichten Motive sprechen davon „das Ausmaß der Unterordnung und Verwendbarkeit stärker zu erweitern“. In der Sache wurde wiederum am österreichischen Vorbild festgehalten. 59 Skouris (wie Fn. 34), 338. 60 Rasmussen (wie Fn. 36), 161, 172. 61 Rasmussen (wie Fn. 36), 164, 175. 62 García Macho (wie Fn. 55), 776 mit der möglichen Rechtsfolge der Kündigung bei einer sehr schweren Verfehlung 63 De Sousa (wie Fn. 32), 722 ff. 64 Conzemius (wie Fn. 57), 549, zu Disziplinarverfahren gegen Arbeiter 594.

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Besondere Disziplinierung außerhalb des Beamtenverhältnisses wurde auch dann gewählt, wenn es ein echtes Beamtentum nicht gab. Das scheint sachlogisch, weil das Disziplinierungsbedürfnis eines bestimmten Dienstes nicht mit dem Beamtenstatus erlischt. Im Staatsdienst der DDR konnte eine schuldhafte Verletzung der Arbeitspflichten disziplinarisch gemaßregelt werden. Maßnahmen waren Verweis, strenger Verweis und fristlose Entlassung. Letztere durfte normalerweise erst nach erfolglosen anderen Erziehungs- und Disziplinarmaßnahmen erfolgen. Alternativ zum Disziplinarverfahren konnte die Sache an die Konfliktkommissionen zum Zweck des Ausspruchs erzieherischer Maßnahmen übergeben werden. Sonderordnungen sahen besondere Disziplinarmaßnahmen etwa für die Post und die Eisenbahner (Herabsetzung in Rang und Besoldung) oder Richter (keine fristlose Entlassung, sondern Abberufung bei „gröblicher Pflichtverletzung“) vor.65 Mit dem Disziplinarrecht wurde das besondere Mittel der Durchsetzung der Dienstpflichten untersucht. Aber auch der Inhalt der Pflichten ist in mancherlei Hinsicht ein besonderer und entspringt der engen Verbindung der Parteien im öffentlichen Dienstverhältnis. 3. Das Treue- und Fürsorgeverhältnis

Der Beamte steht bekanntlich nach deutschem Verständnis in einem Treue- und Fürsorgeverhältnis zum Dienstherrn.66 Die Treuepflicht besteht gegenüber dem ganzen Volk und der Verfassung. Der Beamte soll seinen Dienst mit „voller Hingabe“ leisten, ihn treffen aber auch über den Dienst und die Dienstzeit hinaus Verhaltenspflichten. Diese Pflicht zur vollen Hingabe ermächtigt zu Eingriffen in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, dies heute nur noch im Dienst.67 Er muss sich durch sein gesamtes inner- und außerdienstliches Verhalten zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung bekennen und für deren Erhalt jederzeit eintreten. Weimar war bezüglich des privaten Verhaltens deutlich toleranter als die Bundesrepublik. Besonders gesteigert waren die Pflichten auch des städtischen Beamten dagegen in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Nationalsozialismus gehörte die „Treue bis

65 Jacobs (wie Fn. 23), 157–172. 66 Zu den „Ursprüngen des Fürsorgeprinzips im romanischen Rechtskreis am Beispiel des Beamtenrechts der Republik Frankreich“ Doleschal (wie Fn. 29), 60–83, zum Fehlen im angelsächsischen Rechtskreis am Beispiel Großbritanniens 83–102. 67 Wichmann (wie Fn. 21), Rn. 204.

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zum Tode“ gegenüber dem Führer zu den Beamtenpflichten und ganz allgemein eine totale Vereinnahmung der Persönlichkeit, des „ganzen ‚Ichs‘“.68 Versuche, sich vom Treuebegriff zu lösen, scheinen schwer und werden angegriffen. Dänemark hat den früher zentralen Treuebegriff durch einen Loyalitätsbegriff ersetzt, der als unbestimmt und schwer vom Privatsektor unterscheidbar kritisiert wird.69 Andererseits wird in anderen Ländern die Treue zur Verfassung noch ergänzt, in Griechenland durch eine Pflicht zur „Ergebenheit“ gegenüber dem Vaterland.70 Die Treuepflicht ist juristisch durch die maßgebenden Instanzen der Verwaltung und der Gerichte durchsetzbar. Ihre Konkretisierungsmöglichkeiten bieten so starke Eingriffs- und Disziplinierungsmittel, welche das öffentliche vom privaten Dienstrecht unterscheiden. Die Fürsorgepflicht wird als Korrelat der umfassenden Indienstnahme des Beamten,71 der sich mit der „ganzen Persönlichkeit“ zur Verfügung stellen soll,72 gesehen und erfasst auch die Familie des Beamten. Der Dienstherr soll ihn nicht schädigen, vor Nachteilen bewahren und, wenn geboten „vorteilhafte Maßnahmen“ ergreifen. Im Außenverhältnis muss der Dienstherr den Beamten „in Schutz“ nehmen. Allerdings wird die „Gewährung der Dienstbezüge“ nicht als „Entgelt für geleistete Arbeit“ verstanden, sondern als „Sicherung des amtsangemessenen Unterhalts für den Beamten und seine Familie“ und nicht als „Bezahlung des Faktors Arbeit“ (Alimentationsprinzip). Die Beurteilung des angemessenen Lebensunterhalts steht damit im politischen Ermessen des Gesetzgebers und wird nach unten nur durch das Sozialstaatsprinzip begrenzt.73 Auch die Ausnahme aus dem gesetzlichen Sozialversicherungssystem liegt in der umfassenden Fürsorge des Dienstherrn begründet, die dieser nach deutschem Verständnis nicht ohne Verfassungsbruch auf Dritte wie die gesetzliche Rentenversicherung abwälzen könne. Zu diesem Zweck ist die Besoldung häufig auch ganz ausdrücklich niedriger angesetzt und wurde verschiedentlich gekürzt, in Deutschland durch diverse Gehaltskürzungsverordnungen zwischen 1930 und 1950, dem gesetzlichen 7 %-Abschlag zur Pensionssicherung von 1957 und gegenwärtig dem Einbehalten von Teilen

68 Nischk (wie Fn. 19), 361 mit der für ein fachjuristisches Handbuch erstaunlichen Begründung „Der Staat kann nur ganze Kerle gebrauchen und keine Waschlappen“. 69 Rasmussen (wie Fn. 36), 161. 70 Skouris (wie Fn. 34), 331. 71 Autexier (wie Fn. 43), 280 f. 72 Wichmann (wie Fn. 21), Rn. 28. 73 Philip Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: E. Schmidt Aßmann / F. Schoch (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. Berlin 2008, 775–874, Rn. 152–160. „Ergiebigerer“ Maßstab für die Dienstbezüge sei aber der Schutz von Ehe und Familie.

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der Gehaltssteigerung.74 Die Altersversorgung wird damit gleichzeitig zum bloßen Peculium wie zum Neidfaktor, da ja scheinbar nicht durch Leistung gerechtfertigt. Das ist ein sehr paternalistisches Modell. Der europäische Vergleich ist wiederum aufschlussreich. Im englischen civil service haben die Beamten nach dem Prinzip „at pleasure of the crown“ keinen juristischen Anspruch auf eine Bezahlung, was allerdings nichts mit dem dort unbekannten Fürsorgegedanken zu tun hat.75 Ein ähnlich umfassender Fürsorgeanspruch wie in Deutschland existiert in Frankreich; ursprünglich gedacht zur Sicherung der Loyalität mit der regierenden Macht, dient er heute dem Schutz vor Einflussnahme seitens der Vorgesetzten, zur Wahrung des Allgemeininteresses und als Schutzpflicht gegenüber Angriffen aus der Bevölkerung.76 Länder, die dem Positionssystem folgen, kennen den Grundsatz in dieser Form meist nicht, da es auch an der umfassenden Indienstnahme fehlt. Ebenso ist die Ausnahme von den Sozialversicherungen ein eher deutsches Phänomen. Anders als Beamte werden Angestellte und Arbeiter nicht versorgt, sondern sind durch Beitragszahlung in das allgemeine Sozialversicherungssystem eingebunden. Die materiellen Unterschiede werden allerdings durch tarifvertragliche Zusatzleistungen in Angleichung an das beamtenrechtliche Ruhegehalt überwunden.77 Die Gleichstellung der Angestellten war schon als Ziel in der Urfassung des Bundesangestelltentarifvertrags von 1961 angestrebt worden.78 Das Entgelt ist hier echte Bezahlung und steht nicht im Ermessen des Dienstherrn. Andere Länder unterscheiden zum Teil nicht und ermöglichen auch gegenüber Nichtbeamten die einseitige Gehaltsreduktion; etwa Frankreich gegenüber den kommunalen Bediensteten im Rahmen des einseitigen Änderungsrechts der Rechte und Pflichten.79 In den deutschen Städten des 19. Jahrhunderts regelten Besoldungspläne und Individualverträge diese Fragen ganz unterschiedlich, Pension erfolgte nach Aushand-

74 Wichmann (wie Fn. 21), Rn. 236, 363. Zum Problemfeld Kürzungen auch Volker Franke, Zur Geschichte der Gehaltskürzungsverordnungen, ZBR 1994, 263–272 75 ������������������������������������������������������������������������������������� Und auch formal die jederzeitige Entlassung ermöglicht, die insofern niemals unrechtmäßig sein könne, Doleschal (wie Fn. 29), 100 f. Das fortbestehende Recht zur Kündigung nach Belieben ist allerdings längst „gegenstandslos“ geworden, weil sie an den Maßstäben des allgemeinen Arbeitsrechts und damit dem Verbot unfairer Behandlung gemessen wird, Johnson (wie Fn. 33), 381. 76 Doleschal (wie Fn. 29), 78 ff. 77 Kunig (wie Fn. 73), Rn. 188. 78 Karl-Ulrich Langer, Abschnitt „Arbeitsrecht“ (wie Fn. 21), 799–997 (= Rn. 420– 655), Rn. 421. In der jüngsten Vergangenheit sei die Zielsetzung im TVöD von 2005 dagegen eher auf die „Beseitigung von ‚Beamtenzöpfen‘“ gerichtet. 79 Doleschal (wie Fn. 29), 77 mit Verweis auf die Rechtsprechung.

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lung. In der Regel gab es aber keine Hinterbliebenenversorgung.80 Die europäische Perspektive zeigt wiederum, dass in einzelnen Ländern wie Spanien öffentliche Angestellte in Ruhestandsregelungen gegenüber den Beamten privilegiert sein können.81 Treuepflichten und zum Teil auch die Fürsorge charakterisieren also die speziellen Bindungen im Dienstverhältnis mit Staat und Stadt als Arbeitgeber. Das Maß der Bindung zeigt sich wiederum im Blick auf die Konkretisierung der Einzelpflichten. Damit lassen sich vielleicht vier Kategorien unterschiedlicher Bindungen bilden: scharfe Bindungen bei einer Ausrichtung auf ein Berufsbeamtentum in einem starken oder gar totalitären Staat; eine in Einzelfragen sehr disparate mittlere Bindung in kommunistischen Systemen, die den öffentlichen Dienst mehr dem Arbeitsrecht zuweisen, und in Ländern mit Positionssystem oder starker Privatisierung unter Beibehaltung der Disziplinierung (Dänemark); ebenfalls mittlere Bindungen, aber im Gegenzug eine stark gesicherte Stellung der Beschäftigten in Ländern mit besonders dominantem Laufbahnsystem (Griechenland, auch Deutschland); eher schwache Bindung mit weiter kommunaler Personalhoheit und einer Annäherung der öffentlichen Beschäftigungsverhältnisse an das Privatrecht (Schweiz, Großbritannien). 4. Besondere Pflichtbindungen

Vielen zum Teil vor allem noch historischen Nebenpflichten wie der Residenzpflicht82 kann hier nicht nachgegangen werden. Nebentätigkeiten wie die uns heute selbstverständliche Pflicht zu Unparteilichkeit und Neutralität, die Frage der Amtsverschwiegenheit und der Gehorsamspflicht auch gegenüber rechtswidrigen Anordnungen seien daher nur genannt. Die systematischen Konsequenzen können aber weitreichend sein, wenn man etwa aus dem Neutralitätsgebot die Notwendigkeit der Ämterstabilität und den Ausschluss eines Wahlbeamtentums folgert.83 80 Friedrich (wie Fn. 9), 21. In der preußischen Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen findet sich hingegen in § 65 eine Regelbestimmung, die eine Pension, soweit nicht anders vereinbart, vorsieht. Bayern führte Pension und Hinterbliebenenversorgung für Kommunalbeamte 1916 ein, Friedrich (wie Fn. 9), 84. 81 García Macho (wie Fn. 55), 745 macht hier ein Ungleichgewicht aus, da gleichzeitig die Zugangsregeln für die Beamten schärfer waren. 82 Auch in Deutschland sind allerdings konkrete Weisungen zur tolerablen räumlichen Entfernung gegenüber Beamten juristisch durchsetzbar, Kunig (wie Fn. 73), Rn. 132. Bis 1937 war jeder Wohnsitz außerhalb des Behördensitzes genehmigungspflichtig. Zur spanischen Residenzpflicht im Gemeindegebiet der Behörde nach Art. 77 Staatsbeamtengesetz García Macho (wie Fn. 55), 768. 83 So Auby / Auby (wie Fn. 46), Rn. 11 für Frankreich im Kontrast zu den Vereinigten Staaten.

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Von herausragender Bedeutung in der neuen Zeit war das Streikrecht. Ein Streikverbot der Beamten wird vielfach direkt aus dem Treuegebot abgeleitet. Es war allerdings so umkämpft, dass die Lösungen national sehr unterschiedlich sind. In Frankreich sprach man nach 1900 vom „Krieg der Beamten“ um das Koalitionsrecht. Das Droit syndical gilt heute auch für die Territorialverwaltungen und wurde für Kommunalund Staatsbeamte in der Verfassung von 1946 verankert.84 Ebenso unterschiedlich, wenn auch in der Tendenz freier sind die Regelungen bezüglich des Streikrechts der Nichtverbeamteten. Hier geht die Argumentation mehr von der notwendigen Aufrechterhaltung der Versorgung der Bevölkerung aus85 und nimmt vor allem bestimmte Berufsgruppen aus. Koalitions- und Streikrecht gehören nach wie vor zu den Großproblemen des öffentlichen Dienstes. Wie andere Grundrechtseinschränkungen (Meinungsäußerung, Berufsfreiheit, körperliche Unversehrtheit) ist es ein wichtiger Indikator für besondere Bindungen. Der paternalistische Einschlag zeigt sich in der scheinbaren Lösung des Streikproblems durch das Fürsorgeprinzip, das den Dienstherren dazu anhalte, „auf diejenigen Anliegen besonders zu achten, die private Arbeitnehmer mit Streikmaßnahmen geltend machen können“.86 Fehlende Selbstbestimmung und Grundrechtswahrnehmungen sollen durch Schutzpflichten zugunsten der Betroffenen ausgeglichen werden. Suspendiert werden dabei Eigeninitiative und klare Anspruchsrechte. Neben dienstlicher Pflichtbindung und Grundrechtsbeschränkung stehen oftmals außerdienstliche Verhaltenspflichten. Die öffentlichen Bediensteten Italiens müssen sich außerhalb des Dienstes nicht nur dem „Recht“, sondern auch den „guten Sitten“ und der „Moral“ entsprechend verhalten.87 Auch in Frankreich kann ein „offenkundig schlechter Lebenswandel“ disziplinarisch geahndet werden.88 In Polen wurde 1982 mit einem neuen Gesetz über die Beschäftigten der staatlichen Ämter ausdrücklich die Staatsmacht gestärkt. Um einen besseren staatlichen Zugriff auf die Beschäftigten zu erreichen, wurden fast alle Dienstverhältnisse in Beamtenverhältnisse umgewandelt. Entsprechend wurde der Pflichtenkatalog erweitert, u.a. um die bis heute fortgeltende Offenlegung der Vermögensverhältnisse, aber auch um die verbreitete Pflicht zu einem würdigen Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes. Der Grundsatz der Disponibilität verpflichtete zu zeitweisen Orts- und Auby / Auby (wie Fn. 46), Rn. 219, 221. Ablehnend Kunig (wie Fn. 73), Rn. 189. Kunig (wie Fn. 73), Rn. 172 f. Daria de Pretis, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Italien, in S. Magiera / H. Siedentopf (Hg.) (wie Fn. 31), 494–529, 510. Sehr knapper geschichtlicher Überblick bei Rudolf Lewansky, The Development and Current Features of the Italian Civil Service System, in: Hans A.G.M. Bekke / Frits M. van der Meer (Hg.) (wie Fn. 31), 212–246, 214 ff. 88 Autexier (wie Fn. 43), 272. 84 85 86 87

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Amtswechseln. Streiks waren verboten. Zusätzlich wurden im Amtsblatt 1984 zwei Dokumente veröffentlicht, die allerdings keine Rechtsgrundlage besaßen, „Die Rechte des Bürgers und die Pflichten der Beamten in den staatlichen Ämtern der Polnischen Volksrepublik“ sowie ein „Pflichtenkodex der Staatsbeamten“. Darin enthalten waren unbestimmte Moralpflichten, wie eine Pflicht zur „Bescheidenheit“ oder „ein Beispiel persönlicher Kultur“ zu geben. Auch heute dürfen in Polen die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sich nicht an Streiks beteiligen und in der Öffentlichkeit keine politischen Ansichten äußern. Beamte dürfen keine Gewerkschafts- oder Parteimitgliedschaft besitzen oder ein kommunales Mandat innehaben. Trotz umfassender Pflichtenbindung mit zahlreichen Grundrechtseinschränkungen gibt es im polnischen Dienstrecht kaum Statusrechte, auch keinen Anspruch auf Fürsorge und Schutz, was immer auch im Zusammenhang mit dem fehlenden Lebenszeitprinzip trotz unbefristeter Einstellung steht.89 In diesem Mischsystem treffen also relativ starke Bindungen auf schwache Sicherungen. In der DDR stand die Wahrnehmung der Arbeitsdisziplin, die sich in diversen Einzelpflichten konkretisieren lässt, im Vordergrund. Dazu gehörten die Gehorsamspflicht mit der Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen, besonders wichtig die Pflicht zu Mehrung und Schutz des sozialistischen Eigentums, die Wahrung der Staatsdisziplin, die Wachsamkeit im Amte, und das Bekenntnis zur sozialistischen Gesellschaftsordnung und den Beschlüssen der SED.90 Der paternalistische Einschlag der Grundrechtseinschränkungen und außerdienstlichen Verhaltenspflichten charakterisiert so die Treuepflicht und zeigt Bindungen im sog. „öffentlich rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis“,91 die man eigentlich in wesentlich älterer Zeit vermuten würde. Die Kontinuität zum Treudienstverhältnis ist ja auch nicht nur eine etymologische. Die Rechtsstellung der Beamten und in einigen Ländern auch der Angestellten als öffentlich-rechtlich anzusehen, ist allerdings ein europäisches Erbe der französischen Revolution.92

89 Weber (wie Fn. 28), 22. Anders in der Frage der Lebenszeitstelle von den ehemals kommunistischen Staaten z. B. die Slowakei, 36. 90 Jacobs (wie Fn. 23), 152–156. 91 Wichmann (wie Fn. 21), Rn. 58. Dort auch zu Typenzwang statt Vertragsfreiheit. 92 Ausnahmen: Tschechien, Großbritannien und Schweden, Christoph Demmke / Timo Moilanen, Civil Services in the EU of 27, Frankfurt 2010, 51  ff. Insofern lohnt der Blick auf die Entwicklung des französischen Verständnisses der Rechtsnatur des Beamtentums, dazu Doleschal (wie Fn. 29), 72 ff. Ging man zunächst von einer Dienstmiete oder einem Auftrag aus, setzte sich im 18. Jahrhundert schließlich die Auffassung von einer Konzession im Rahmen eines do ut des-Verhältnisses durch, um ab dem 19. Jahrhundert als öffentlich-rechtlicher Dienstvertrag verstanden zu werden. Heute sieht man das Beamtenverhältnis mehrheitlich in Gesetz oder Verordnung begründet.

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V. Gebundene Freiheit, arbeitsrechtliche Emanzipation und pseudoprivatrechtliche Subordination Die Gesamtbetrachtung der Lösung der verschiedenen europäischen Beschäftigungsformen im Verhältnis Stadt-Bediensteter lässt wenigstens drei besondere Typen von Beschäftigungsverhältnissen erkennen. Ich nenne sie gebundene Freiheit, arbeitsrechtliche Emanzipation und pseudoprivatrechtliche Subordination. Gebundene Freiheit meint das traditionelle Beamtenverhältnis, idealtypisch verkörpert im Laufbahnsystem, das eine starke materielle und statusrechtliche Absicherung bedeutet, aber auch mit Bindungen, Verhaltensvorschriften und Grundrechtseinschränkungen einhergeht. Wichtig ist hier die prozessrechtliche Absicherung im formalisierten Verfahren vor Gericht. Unter arbeitsrechtlicher Emanzipation soll die privatwirtschaftsähnliche Lösung gemeint sein. Das bedeutet Koalitions- und Streikrecht sowie kollektive Aushandlungsmechanismen mit Tarifvertrag usw.; sie ist bedeutsam vor allem für die nichtverbeamteten Bediensteten, die auch nicht den speziellen Bindungen des Treueverhältnisses unterliegen. Sie ist also nur konsistent, wenn auf die besondere Disziplinierung verzichtet wird. Das Modell, das ich hier mit dem provokativen Begriff einer pseudoprivatrechtlichen Subordination belegen möchte, resultiert aus der Beobachtung der neueren Zeit. In den ehemals kommunistischen Staaten wurde der öffentliche Dienst meist in das allgemeine Arbeitsrecht inkorporiert, teilweise sogar mit ‚Individualvertrag‘. Jedoch wurden die Beschäftigten nicht gleichzeitig mit den Statusrechten auch aus den Statusbindungen entlassen und der Rechtsschutz war gesondert beschränkt. In der DDR sollten die gegenseitigen Rechte und Pflichten durch eine Trias aus Rechten, Pflichten und Verantwortlichkeit ersetzt werden.93 Diese Begriffe bilden erkennbar kein gleichschenkliges Dreieck, vielmehr stand die Verantwortlichkeit auf der Pflichtenseite und verstärkte diese massiv. In den EU-Beitrittsländern hat sich diese Entwicklung zum Teil erhalten, vor allem aus ökonomischen Zwängen wird die beamtentypische Absicherung nicht gewährt,94 aber das Pflichtenprogramm jetzt unter demokratischem Vorzeichen verlangt. Mischsysteme wie in Polen verbinden fehlende Statusrechte mit umfassender Disziplinierung. Die deutsche Tendenz zielt auf eine Angleichung des öffentlichen Dienstrechts an das allgemeine Arbeitsrecht unter Überwindung der bisherigen Zweiteilung. Das ist im europäischen Vergleich zeitgemäß und – wie die Wege in die ‚pseudoprivat93 Dazu Jacobs (wie Fn. 23),148. 94 Ausnahmen sind Bulgarien und der anders gelagerte Fall Zypern. Knapper Überblick bei Bossaert / Demmke (wie Fn. 45), 41 f.

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rechtliche Subordination‘ zeigen – gefährlich. Heute ist die europäische Tendenz auf einen Abbau der Statusrechte unter teilweiser und unterschiedlicher Beibehaltung der Statuspflichten gerichtet. Als historisches Modell bedeutet es eine Entwicklung from contract to status, die nun aus fiskalischen Gründen mit einer gewissen einseitigen Willkür zurückgeführt wird.

VI. Städtische Dienstverhältnisse als Experimentierfeld öffentlicher Beschäftigungsverhältnisse Um zum Schluss auf die städtischen Dienstverhältnisse zurückzukommen, so erweisen sich diese bei näherer Betrachtung als ein reichhaltiges Feld für rechtliche Lösungen des Arbeitsverhältnisses an der Schnittstelle zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht. Gerade auf kommunaler Ebene und im Verhältnis zum Staat wurde viel experimentiert. Historische wie zwischenstaatliche Vergleiche bringen hier zwar reiche Ergebnisse, lassen sich aber ob der vielen verschiedenen Gesichter des öffentlichen Dienstes kaum systematisieren. Eine mögliche Typologie, der noch die individuelle Lösung hinzugefügt werden müsste, sollte aber deutlich geworden sein. Wenn man in die Untersuchung von Arbeit und Recht das gesamte Spektrum arbeitsteiligen Verhaltens einbeziehen will, schärft dies die dichotome Typologie von abhängiger und freier Arbeit als Grenzbegriffe der Moderne um die öffentlichrechtliche Subordination im öffentlichen Beschäftigungsverhältnis.95 In der anderen Richtung wäre der gleichgeordnete, genossenschaftliche Zusammenschluss einzubeziehen.96 Der problemgeschichtliche Zugang könnte hier seine volle historische und vergleichende Wirksamkeit entfalten, da Probleme wie etwa das Bedürfnis, das Arbeitsverhältnis zu verlassen, allen Organisationsformen gemein sind. Die städtischen Dienstverhältnisse sind deshalb so interessant, weil sie in einem weiteren historischen Rückgriff nahezu alle diese Organisationsformen inkludieren. Für einen umfassenden Vergleich fehlen freilich (noch) die grundlegenden Einzelstudien.97 Nichtsdestoweniger lassen es die bisherigen Ergebnisse zu, erste grundsätzliche Thesen zu bilden. Entscheidende Gesichtspunkte für die vom privaten Arbeitsrecht 95 Stärkere persönliche Bindungen, Formen der Leibeigenschaft etc., endeten zu Beginn des hier untersuchten Zeit- und Rechtsraums. 96 Diese Erweiterungsmöglichkeit wurde mir erst bewusst, nachdem ich die Aufnahme einer Sektion „Staat als Arbeitgeber“ vorgeschlagen hatte. Sie verdient aber wohl eine intensive vergleichende Untersuchung. 97 Für die ältere Zeit ist demnächst meine Fallstudie „Frankfurter Dienstbriefe. Regelungsprobleme und Lösungen des städtischen Dienstvertrags im Alten Reich“ ein Baustein.

Die deutsche Stadt als Arbeitgeber

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abweichenden Dienstverhältnisse scheinen die Stellung der Gebietskörperschaften im Territorialverband und die Rolle des öffentlichen Dienstes im Verhältnis zwischen Staat und Bürger zu bilden. Damit reichen die Entwicklungslinien weit in die Vergangenheit zurück – die Konstituierung beispielsweise der irischen Gebietskörperschaften bis ins Mittelalter. Auch das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Stadtbevölkerung prägt den öffentlichen Dienst seit dem Spätmittelalter.98 Für den modernen Entwicklungspfad ist dann entscheidend, inwieweit alte städtische Freiheiten fortbestanden oder die grundlegende kommunale Selbstverwaltung in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt wurde. Der stärkere staatliche Zugriff im entstehenden Wohlfahrtsstaat begrenzte diese. Der staatliche Einfluss konnte dominant werden, vor allem in Diktaturen. Nach deren Zusammenbruch gehörte die Neuordnung des öffentlichen Dienstes zum Bewältigungsprogramm. Dies bedeutete einen echten Bruch, wenn auch manche Weichenstellung, etwa im deutschen Kommunalbeamtenrecht, fortgeführt wurde. Dass eine kommunale Rechtssetzungskompetenz allein keinen Schutz etwa gegen politisch motivierte Zugriffe bot, zeigte schon die Auseinandersetzung der deutschen Städte mit Gewerkschaften und Staat. Die grundlegenden Entwicklungen konnten in den verschiedenen Staaten in unterschiedlichem Maß vollzogen werden. Und nicht immer war die gewählte Lösung dann gleich. Daraus folgen sehr unterschiedliche länderspezifische Dienstrechtstraditionen, die wiederum Interdependenzen zur allgemeinen Rechtstradition aufweisen, etwa im Verhältnis von öffentlichem und privatem Recht. An dieser Stelle können diese Entwicklungspfade nicht für die einzelnen Staaten nachvollzogen werden. Möglich ist aber der Versuch einer Sortierung im Ergebnis. Dabei fällt zunächst auf, dass an der Oberfläche keine strukturellen Unterschiede zwischen demokratischen und diktatorischen Systemen zu bestehen scheinen. Demokratien kannten privatrechtliche und beamtenrechtliche Lösungen, Diktaturen ebenfalls: Der Nationalsozialismus gestaltete das deutsche Beamtenrecht, die meisten kommunistischen Staaten inkorporierten es ins Arbeitsrecht. Jedoch ist die Disziplinierung in starken Staaten besonders scharf, besonders in Diktaturen.99 Will man geographisch gliedern, so fällt heute ein Südwest-Nordost-Gefälle auf, vor allem wenn Statusrechte (Laufbahn- oder Positionssystem) und die Schärfe des disziplinarischen Zugriffs Kriterien bilden. Zu den Staaten mit einer öffentlichrechtlichen Lösung bei einem schwachem Status und einem scharfen Zugriff gehören Polen und andere ehemals kommunistische Staaten; zu den Staaten mit einer privatrechtsnahen Lösung und einem scharfen Zugriff gehören etwa Dänemark und Tschechien. Andere mittel- und westeuropäische Staaten wählen bei einer privat98 Das lässt sich beispielsweise in Frankfurt a. M. sehr gut zeigen. 99 Allerdings kann die Disziplinierung auch bei starker Öffentlichkeit besonders scharf sein.

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rechtsnahen Lösung den entsprechenden schwachen Zugriff, so die Schweiz und (außerhalb des civil service) Großbritannien, während die west- und südeuropäischen Staaten mit Frankreich und Deutschland, aber ohne Italien die öffentlich-rechtliche Lösung mit dem aufeinander bezogenen Verhältnis von starkem Statusrecht und Disziplinierung aufrechterhalten.

Lutz Raphael

Vergleichender Kommentar

Beide Beiträge schlagen Schneisen in das noch weitgehend unerschlossene Forschungsgelände einer vergleichenden Geschichte des öffentlichen Dienstes und seines Rechts im modernen Europa. Besonders hervorzuheben ist, dass Pierson und Garstenauer den Entwicklungen besondere Aufmerksamkeit schenken, die sich seit 1917 aus dem sowjetischen Experiment ergeben haben und die, wie Pierson mit Blick vor allem auf Tschechien und Polen zeigen kann, ganz unterschiedliche Nachwirkungen etwa in der aktuellen Ausgestaltung des kommunalen Dienstrechtes in diesen Ländern haben. Der zeitliche Horizont der Beiträge erstreckt sich auf die Entwicklungen seit 1800, Schwerpunkt ist dabei eindeutig das 20. Jahrhundert. Garstenauers Beitrag konzentriert sich auf die Zwischenkriegszeit, Pierson untersucht vor allem die unterschiedlichen Tendenzen in der Ausgestaltung des kommunalen Arbeitsrechts in den letzten drei Jahrzehnten, greift dabei aber immer wieder auf dem Weg der Typenbildung auf die historische Genese nationaler Ausgestaltungen im Verlauf des 19. und des 20. Jahrhundert zurück. Damit eröffnen beide Beiträge wichtige Einblicke in die Veränderung öffentlicher Dienstverhältnisse durch den Wechsel der politischen Regime, der für alle Länder zumindest des europäischen Kontinents (mit Ausnahme der Schweiz) typisch gewesen ist: aus dem 19. Jahrhundert erbt das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes neben seinen liberalen Elementen starke monarchisch-obrigkeitsstaatliche Prägungen, die im Fall Russlands und Österreich zugleich auch mit einem markant ständischen Element in der gesellschaftlichen Stellung der Staatsdiener verknüpft waren. Beides wurde von den neuen Regimen – der demokratischen Republik, dem kommunistischen Sowjetstaat – in ganz unterschiedlicher Art verändert, in beiden Ländern prägten dann zwei radikale Diktaturen diesen Dienstverhältnissen ihren Stempel auf und beiden gelang es in erheblichem Maße, aus den öffentlichen Verwaltungen willige Vollstrecker ihrer politischen Ziele zu machen – bis hin zur Beteiligung an staatlichem Massenmord, Raub und Terror. Beide Beiträge schenken – von unterschiedlichen Perspektiven der Rechtsgeschichte und der Geschichtswissenschaft aus – den verfassungsgeschichtlichen und begriffs­ge­schicht­lich­en Aspekten ihrer Themenstellung besondere Aufmerksamkeit. In der Tat zeigen beide Beiträge eindrücklich, dass die Ausgestaltung des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst ganz erheblich davon geprägt worden ist, welcher Staatsbegriff der Ausgestaltung dieser Arbeitsverhältnisse zugrunde lag. Das öffentlich-rechtliche

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Dienstrecht kann, so zeigt Piersons Beitrag, zugleich auch als eine Ebene verstanden werden, in der sich – quasi seismographisch – Verschiebungen im Verfassungsverständnis niederschlagen. Er macht dies deutlich, wenn er mit überzeugenden Gründen darlegt, dass die aktuelle europäische Rechtsentwicklung im Bereich des kommunalen Dienstes in Richtung einer Annäherung an privatrechtliche Regelungen verläuft, dies aber zugleich mit der Weiterführung starker Kontroll- bzw. Disziplinarrechte zugunsten der politischen Leitungen verbunden sein kann. Piersons Beitrag zeigt zugleich auch, dass das kommunale Arbeits- bzw. Dienstrecht ein besonders interessantes Untersuchungsgelände darstellt, auf dem zentrale Spannungsfelder moderner Verwaltungs- und Staatsentwicklung in Europa zusammenkommen. Zum einen bleibt die Grenzziehung zwischen Staat und Gemeinde die Grundspannung, in welche die konkreten nationalen Rahmenregelungen für die Beschäftigten der Kommunen eingespannt sind, und hier zeigt sich in besonderem Maße die langfristige Prägekraft unterschiedlicher Pfade der Staatsentwicklung. Man denke nur an den britischen und Schweizer Fall auf der einen, den französischen oder deutschen Fall auf der anderen Seite. Gleichzeitig berühren sich im kommunalen Geschäftsbereich die sozial- und arbeitsrechtlich so unterschiedlichen Welten von Arbeitern, Angestellten und Beamten – um hier die Kategorien der deutschen Rechtsentwicklung zu nennen. Drittens schließlich lässt sich die kommunale Ebene auch als Zusammentreffen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Regelungsmöglichkeiten und -varianten beschreiben. Angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen nationalen bzw. kommunalen Gestaltungsvarianten, die sich aus diesen Spannungsverhältnissen ergeben, ist es nicht verwunderlich, dass Pierson dafür plädiert, die gängige „dichotome Typologie von abhängiger und freier Arbeit“ zu erweitern und den Typus der „öffentlich-rechtlichen Subordination im öffentlichen Beschäftigungsverhältnis“ einzuführen. Das von ihm ausgebreitete Vergleichsmaterial der unterschiedlichen europäischen Ausgestaltungen eines solchen dritten Beschäftigungstypus spricht entschieden dafür, diesen Vorschlag aufzunehmen. Er verspricht auch interessante Einsichten über die geographischen Grenzen Europas hinaus, weil z. B. die Ausgestaltung spezifischer Formen kolonialer Dienstpflichten nach rechtlicher Abschaffung bzw. kolonialpolitischer Ächtung der Sklaverei genutzt wurde, um die Bedürfnisse der kolonialen Verwalter nach einheimischen Arbeitskräften zu befriedigen bzw. die unterworfene Bevölkerung an der Verwaltung zu beteiligen. Garstenauers Vergleich des öffentlichen Dienstes in Österreich und der Sowjetunion eröffnet wiederum Perspektiven, die über den binationalen Vergleich hinausgehen. Zwar wählt Garstenauer als Gegenstand ihres Vergleichs die Ausgestaltung der Verwaltungsarbeit für den „Staat“. Dabei erschließt sie aber zugleich auch noch weitere Themen bzw. Gegenstände für den historischen Vergleich. Zum einen nimmt sie mit den „Staatsdienern“ in beiden Ländern eine Gruppe in den Blick, welche durch die Tradition der Rangklassen geprägt worden war und insofern ständische

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Formen der Vergesellschaftung in die neuen politischen und staatlichen Ordnungen der Zwischenkriegszeit weitertrug und dabei zugleich auch auf eine wirtschaftliche und soziale Situation stieß, welche durch erhebliche Versorgungsmängel und Notlagen geprägt war, in der wiederum Privilegierung zu einem wesentlichen Element des sozialen Überlebens wurde. Ein weiteres Vergleichselement ist die Eigenlogik bzw. das Beharrungsvermögen einer solchen Berufsklasse von Staatsdienern. Sowohl in Österreich als auch in der Sowjetunion überlebten ältere Techniken des Verwaltens, der Kommunikation die Regimewechsel. Die Beharrungskraft bürokratischer Organisationen gehört zwar zu den immer wieder alltagspraktisch beklagten Grundtatsachen des sozialen Lebens, die sozialen Voraussetzungen bedürfen aber nach wie vor der historischen Aufklärung. Drittens scheint mir auch das Thema der Funktionsfähigkeit dieser „älteren“ Staatsdienste für die neuen Staatsaufgaben der Republik Österreich und der Sowjetunion ein ertragreiches Untersuchungsfeld, das auch für andere Konstellationen von Regimewechseln zu erforschen sich lohnte. Abschließend seien einige Bemerkungen angefügt, welche das Thema dieses Schwerpunkts „Arbeiten für den Staat“ in den weiteren sozial- und rechtsgeschichtlichen Kontext der Entwicklung des Arbeitsrechts seit etwa 1800 stellen: Die Beiträge von Pierson und Garstenauer konzentrieren sich im Wesentlichen auf öffentliche Verwaltungstätigkeiten als den Kern staatlicher Aufgaben. Darüber hinaus war aber der Staat sowohl als Zentralstaat als auch mit seinen territorialen Untergliederungen bzw. Gemeinden wirtschaftlich tätig. Der Staat hat nicht zuletzt im Verlauf des liberal geprägten 19. Jahrhunderts seine Tätigkeit als Unternehmer weitergeführt und ausgeweitet. Ausgehend vom staatlichen Domänenbesitz haben Staaten vor allem die Forstwirtschaft und den Bergbau als eigene Unternehmungen geführt, die staatliche Regie von Arsenalen bzw. Waffenfabriken, von Eisenbahnen und Post bzw. Telegraphie, kommunal betriebene Wasserwerke und Gasbetriebe gehören zu den in ganz Europa zu beobachtenden neuen Entwicklungen im 19. Jahrhundert; diese Tendenzen haben sich schließlich im 20. Jahrhundert massiv verstärkt: Wo private Eisenbahnen existierten, wurden sie verstaatlicht oder aber an den Rand gedrängt, gleichzeitig übernahm der Staat „systemwichtige“ Unternehmungen bzw. Sektoren der Volkswirtschaft, von Energiekonzernen über Banken bis hin zu Stahlwerken und Bergwerken. Für das Thema, das hier verhandelt wird, sind mehrere Aspekte von Bedeutung: Der Staat nutzte als Unternehmer unterschiedliche arbeitsrechtliche Optionen von privatrechtlichen Arbeitsverträgen bis hin zur Einführung von Beamtenrecht. Dabei bestanden vielfach beide arbeitsrechtlichen Systeme gleichzeitig in einem öffentlichen Unternehmen nebeneinander (z. B. bei Post und Bahn). Für die Geschichte der Ausgestaltung des Lohnarbeitsverhältnisses zumindest in Europa sind aber diese öffentlichen Unternehmen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wichtiger geworden: Sie wurden zum einen Erprobungsfelder sozialpolitischer Neuerungen

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und schließlich im Zuge der Demokratisierungsprozesse zum anderen auch zu Vorreitern arbeitsrechtlicher bzw. arbeitsschutzrechtlicher Regelungen zugunsten der Beschäftigten. Besonders umstritten und dramatisch waren z. B. Streiks in diesen öffentlichen Unternehmen. Für die Zeit nach 1945 ist jedenfalls für Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Italien die Ausgestaltung des sozialen Kompromisses zwischen Kapital und Arbeit, die Grundlage der demokratischen Sozialstaatsentwicklung bis in die achtziger Jahre wurde, von diesen Unternehmungen weitgehend geprägt worden. In ihnen vollzog sich der Wechsel von contract zu status in besonders klarer Weise und prägte die nationalen Standards, welche nach und nach im Wege von tariflichen Regelungen oder Gesetzgebung auch auf die meisten anderen Bereiche des privaten Sektors und des privaten Arbeitsrechts übertragen worden sind: Kündigungsschutz, großzügige Pensionsregelungen, betriebliche Sozialleistungen und betriebliche Mitbestimmung bzw. Personalvertretung bei Anerkennung der Gewerkschaften gehörten zu typischen Erscheinungsformen dieser sozialpolitischen Pionierrolle öffentlicher Unternehmungen. In dramatischer Weise markieren erst die 1980er Jahre einen Wendepunkt in dieser langen Geschichte öffentlicher Unternehmungen: Sie galten nun als unwirtschaftlich und angesichts steigender Staatsschulden als attraktive Verkaufsobjekte für privates Kapital, das auf der Suche nach geeigneten Investitionsobjekten war. Der Zyklus der Privatisierungen, der in ganz Europa seit den frühen 1980er Jahren zu beobachten ist und mit den osteuropäischen Revolutionen noch einmal einen erheblichen Schub erhalten hat, ist erst mit der Krise 2008 / 9 zum Ende gekommen, als wiederum wie in der Weltwirtschaftskrise 1929–33 der Staat sich gezwungen sah, „systemwichtige“ Banken und Finanzinstitute zu retten, indem er sie übernahm. Mit den Privatisierungen verbunden war vor allem ein Ende der sozial- und arbeitsrechtlichen Privilegien für die Beschäftigten, und auch in dieser Hinsicht ist wiederum die Pionierrolle dieser Privatisierungen für die Veränderungen im Arbeitsrecht zu betonen, deren wesentliche Stoßrichtung die Lockerung von Schutzbestimmungen und die Flexibilisierung / Individualisierung seiner Regelungen darstellte. Eine zweite Bemerkung betrifft die Attraktivität des öffentlichen Dienstes. Bereits die besondere Rolle staatlicher bzw. nationalisierter Unternehmen hat etwas mit diesem Thema zu tun. Offensichtlich entwickelte sich der Staat seit den Reformen seines Dienstrechts Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Arbeitgeber bzw. Dienstherrn. Die Ausschaltung von Marktrisiken und die Stabilität eines öffentlichen Beschäftigungsverhältnisses war für einen erheblichen Teil der Bevölkerung attraktiv genug, um einen immer ausreichenden Strom von Bewerbern für Stellen des öffentlichen Dienstes bzw. in öffentlichen Unternehmungen anzulocken. Gleichzeitig ist der öffentliche Dienst auch der Ort, an dem sich neue (Amts-)Professionen entwickelt haben, die für die Ausprägung bürgerlicher Arbeitswelten eine wichtige Rolle gespielt haben: In den meisten kontinentaleuropäischen Ländern entwickelte sich so der Be-

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ruf des Gymnasial- und Hochschullehrers (vielfach in enger Verknüpfung) zu einer verbeamteten Profession, welche die Verwissenschaftlichungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts maßgeblich vorangetrieben hat. Für die juristischen Berufskarrieren blieb der Weg in das Richteramt oder die hohe Staatsverwaltung bzw. Ministerialbürokratie ein attraktives Berufsziel. Schließlich etablierte sich der Lehrerberuf seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zu dem in seiner Breitenwirkung kaum zu übertreffenden Anziehungspunkt einer Profession, die aufs engste mit der Expansion des öffentlichen Dienstes verbunden ist. „Für den Staat und beim Staat zu arbeiten“, entfaltete also im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts eine Anziehungskraft, die weitreichende Folgen für die Ausgestaltung und das Verständnis von Berufsrollen und für die Art hatte, wie bestimmte gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten konkret ausgestaltet, in Arbeitsroutinen und Berufsbildern umgesetzt worden sind. Eine letzte Bemerkung gilt der Effizienz des öffentlichen Dienstes. Dieses Thema hat im Verlauf der letzten 200 Jahre immer wieder besondere öffentliche Aufmerksamkeit erregt, zu leidenschaftlichen politischen Kontroversen Anlass gegeben, bevor seit 1980 sich so etwas wie ein neoliberaler Konsens ausbreitete, der den Zustand dieser Dienste als defizitär brandmarkte und eine Neuausrichtung am Modell privater Unternehmungen forderte. Eine kritische Historisierung dieses Meinungsumschwungs kann hier nicht erfolgen. Vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Geschichte öffentlicher Dienste und der Staatstätigkeit eine auch wirtschaftsgeschichtlich bzw. unternehmensgeschichtlich differenziertere Sichtweise nahelegt. Im 19. Jahrhundert und auch im 20. Jahrhundert gelang es den Staaten und Kommunen über lange Perioden, ihre wirtschaftlichen Unternehmungen effektiv zu führen und zum Teil erhebliche Gewinne zu erzielen. Gleichzeitig ist die Geschichte öffentlichen Verwaltens in Europa eine heterogene und vielfältige Geschichte, bei der neben ausgesprochen ineffizienten Behörden auch schlanke und sehr wirksame Agenturen zu finden sind. Kurz: Auch das Thema der Effizienz der „Arbeit für den Staat“ verweist auf die ganz unterschiedliche Geschichte der sozialen Verankerung und kulturellen Bedeutung des öffentlichen Dienstes in den verschiedenen Berufsgruppen und nationalen Gesellschaften Europas.

Bernd Waas

Besonderheiten des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst und vergleichender Kommentar

I. Besonderheiten des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst Grundsätzlich gilt auch für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, also Personen, die als Beschäftigte im öffentlichen Dienst in einem privatrechtlichen Vertragsverhältnis stehen, in vollem Umfang das Arbeitsrecht. Die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes sind Arbeitnehmer im klassischen Sinne. Allerdings sind gewisse Besonderheiten zu beachten. Diese erklären sich daraus, dass Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst mit einem öffentlichen Dienstherrn vertraglich verbunden sind, der seinerseits das Haushaltsrecht zu beachten hat. Sie erklären sich aber auch daraus, dass die von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst verrichtete Arbeit im öffentlichen Interesse liegt und die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst mit Beamten zusammenarbeiten. Eine „fundamentale“ Besonderheit des Arbeitsrechts betrifft die Rechtsquellen, aus denen Arbeitsrecht fließt. Zu diesen zählt die sog. betriebliche Übung. Danach mag sich die regelmäßige (gleichförmige) Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu einer rechtlichen Bindung verfestigen, wenn der Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers einen konkreten Verpflichtungswillen ableiten kann, eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer zu gewähren. Die rechtsdogmatische Begründung hierfür ist zweifelhaft: Nach der Vertragstheorie hat die regelmäßige Wiederholung einer Verhaltensweise u.U. die Qualität eines (konkludenten) Angebots (das der Arbeitnehmer dann stillschweigend annimmt). Die Vertrauenstheorie rückt das Phänomen in die Nähe zur sog. Erwirkung (als dem Gegenstück zur Verwirkung) und hebt auf ihre „vertrauensbildende“ Kraft auf Seiten des Arbeitnehmers ab (und seine Schutzwürdigkeit, die sich insbesondere in einem ausgeprägten „Angewiesensein“ auf die Leistung äußert). Der „Klassiker“ der betrieblichen Übung ist die dreimalige vorbehaltlose Sonderzahlung (Weihnachtsgratifikation), bei der das Bundesarbeitsgericht typisierend eine Bindung des Arbeitgebers annimmt. Für den öffentlichen Arbeitgeber bestehen indes wiederum Besonderheiten. Dieser kann nach Auffassung der Rechtsprechung bei Fehlen einer förmlichen Rechtsgrundlage freiwillig gewährte Freistellungen stets wieder einstellen. Für Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes, so das Bundesarbeitsgericht, gelten die Grundsätze zur

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betrieblichen Übung nicht uneingeschränkt. Die durch Anweisungen vorgesetzter Dienststellen, Verwaltungsrichtlinien, Verordnungen und gesetzliche Regelungen, vor allem aber durch die Festlegungen des Haushaltsplans gebundenen öffentlichen Arbeitgeber seien anders als private Arbeitgeber gehalten, die Mindestbedingungen des Tarifrechts und die Haushaltsvorgaben bei der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen zu beachten. Im Zweifel gelte Normvollzug. Ein Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes müsse grundsätzlich davon ausgehen, dass ihm sein Arbeitgeber nur die Leistungen gewähren wolle, zu denen er rechtlich verpflichtet sei. Ohne besondere Anhaltspunkte dürfe der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst deshalb auch bei langjähriger Gewährung von Vergünstigungen, die den Rahmen rechtlicher Verpflichtungen überschreiten, nicht darauf vertrauen, die Übung sei Vertragsinhalt geworden und werde unbefristet weitergewährt. Der Arbeitnehmer müsse damit rechnen, dass eine fehlerhafte Rechtsanwendung korrigiert werde. Die arbeitsrechtlichen Besonderheiten setzen sich im Arbeitsverhältnis fort. Nebenpflichten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst werden inhaltlich z.T. anders „aufgeladen“ als im Bereich der Privatwirtschaft. Dies ist vor allem mit Blick auf die sog. Treuepflicht des Arbeitnehmers zu beachten. So gilt für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst eine Pflicht zur Achtung würdigen Verhaltens, die aus dem Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet wird. Darunter versteht man, dass sich der Arbeitnehmer im Dienst, aber auch außerhalb des Dienstes, entsprechend einer gegenüber Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst bestehenden Erwartungshaltung verhält. Aus dieser Grundverpflichtung werden bestimmte konkrete Pflichten abgeleitet, etwa die Verpflichtung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, die ihnen übertragenen Aufgaben möglichst sparsam unter Beachtung des Gemeinwohls auszuüben, aber auch die Verpflichtung, das Ansehen des Staates durch ihre Handlungsweise zu erhalten. Auch außerdienstlich sind an das Verhalten der Arbeitnehmer verhältnismäßig strenge Anforderungen zu stellen. So sollen Äußerungen des Arbeitnehmers grundsätzlich „maßvoll und zurückhaltend“ sein. Zwar gilt auch für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit. Doch wird von den Angehörigen des öffentlichen Dienstes z. B. erwartet, dass sie sich in ihrer politischen Betätigung am Arbeitsplatz zurücknehmen, weil sie dem ganzen Volke, nicht einer Partei oder sonstigen politischen Gruppierungen dienen. Mit Blick auf die Verschwiegenheitspflicht von Arbeitnehmern gelten im Bereich des öffentlichen Dienstes strengere Anforderungen. Grund hierfür ist das gegenüber dem Staat besonders gestaltete Bedürfnis nach Datenschutz. Schließlich gilt auch für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes eine Pflicht zur Verfassungstreue. Dass den Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst andere Pflichten treffen als den Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft, kann auch kündigungsrechtliche Konsequenzen haben. So mag die Begehung von Straftaten Zweifel an der Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit eines Arbeitnehmers begründen. Straftaten eines im öffentli-

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chen Dienst mit hoheitlichen Aufgaben betrauten Arbeitnehmers können nach der Rechtsprechung grundsätzlich auch dann zu einem Eignungsmangel führen und eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn sie außerdienstlich begangen wurden und es an einem unmittelbaren Bezug zum Arbeitsverhältnis fehlt. Maßgeblich sind indes stets die Umstände des Einzelfalls. Auch die mangelnde Verfassungstreue eines Arbeitnehmers des öffentlichen Dienstes kann unter bestimmten Umständen einen Grund zur personenbedingten Kündigung darstellen. Umgekehrt ist der Bestandsschutz, der Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst gewährt wird, zuweilen wesentlich stärker, als dies bei Arbeitsverhältnissen in der Privatwirtschaft der Fall ist. Besonders illustrativ ist insoweit die in § 35 Abs. 2 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) enthaltene Regelung, wonach Beschäftigte im „Tarifgebiet West“, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur aus einem wichtigen Grund gekündigt werden können. Dies bedeutet bezogen auf die Möglichkeit einer verhaltensbedingten Kündigung, dass eine einseitige Beendigung von Verträgen dieser Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber nur bei ganz besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen in Betracht kommt. Was die Pflichten des Arbeitgebers anbelangt, so ist seit Inkrafttreten des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) zu beachten, dass dort das Leistungsprinzip Einzug gehalten hat. Tarifliche Bewertungskriterien wie Senioritätsprinzip, Familienstand und Anzahl der Kinder sowie Bewährungs-, Zeit- und Tätigkeitsaufstiege sind entfallen. Allerdings: Durch die Instrumente der leistungsorientierten Bezahlung und des leistungsorientierten Stufenaufstiegs ist jedem Beschäftigten, der seine Tätigkeit wenigstens durchschnittlich erfüllt, der vorgesehene stufenweise Aufstieg bis in die höchste Stufe der Entgeltgruppe gesichert. Trotz der Leistungselemente bemisst sich die Höhe des Entgelts weiterhin grundsätzlich nach der Zugehörigkeit des Beschäftigten zu einer bestimmten Entgeltgruppe bzw. -stufe. Besonderheiten des Arbeitsrechts im öffentlichen Dienst bestehen auch im kollektiven Arbeitsrecht. So findet eine Vertretung der Arbeitnehmerinteressen nicht im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes, sondern in dem des Personalvertretungsrechts statt. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist dabei weniger weit gehend als im Bereich der Privatwirtschaft. Die Friedenspflicht im Bereich des Personalvertretungsrechts geht demgegenüber tendenziell weiter, als dies im Rahmen der Betriebsverfassung der Fall ist. Im Unterschied zu der entsprechenden Regelung im Betriebsverfassungsgesetz enthält der Gesetzestext im Bundespersonalvertretungsgesetz keine Beschränkung darauf, dass parteipolitische Betätigungen zu unterlassen sind; es heißt vielmehr, dass alles zu unterlassen ist, was geeignet ist, die Arbeit und den Frieden der Dienststelle zu beeinträchtigen. Anders als im Bereich der Betriebsverfassung kann bei einer Verletzung von Verpflichtungen des Arbeitgebers, die sich aus dem Personalvertretungsrecht ergeben, kein Zwangsgeld verhängt werden. Für den Fall etwa, dass ein

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Beschäftigter ohne Beteiligung des Personalrats oder entgegen dessen verweigerter Zustimmung eingestellt wird, enthält etwa das Bundespersonalvertretungsgesetz, anders als das Betriebsverfassungsgesetz, keine Vorschrift, nach der der Personalrat dem Arbeitgeber durch das Gericht aufgeben lassen kann, die personelle Maßnahme aufzuheben und bei Zuwiderhandlungen ein Zwangsgeld zu zahlen. Der Personalrat hat daher weder einen materiell-rechtlichen Anspruch gegen den Dienststellenleiter darauf, die Einstellung zu unterlassen, noch darauf, die mitbestimmungswidrige Einstellung rückgängig zu machen.

II. Vergleichender Kommentar In seinem Beitrag, der allerdings nicht allein das Arbeitsrecht, sondern auch das Beamtenrecht zum Gegenstand hat, arbeitet Pierson heraus, was er als „Hauptregelungsproblem jedes öffentlichen Dienstes“ bezeichnet. Dieses liegt nach seiner Einschätzung darin, dass dabei „im Gegensatz zu privaten Arbeitsverhältnissen (…) nicht nur die direkt beteiligten Parteien involviert“ sind, sondern auch „das Gemeinwesen“ beteiligt ist. Dies hat nach Pierson eine doppelte Konsequenz: Zum einen soll ein „gesicherter Status der Beschäftigten (…) politisch neutrales, unabhängiges und gesetzeskonformes Handeln der Beschäftigten sichern“. Zum anderen sollen die Beschäftigten „bei tatsächlichem Fehlverhalten (…) stärker diszipliniert werden“ können. Im Weiteren arbeitet Pierson „vier markante Punkte“ heraus, die das Recht des öffentlichen Dienstes charakterisieren: „Lebenszeitprinzip, das Disziplinarrecht und das Treue- und Fürsorgeverhältnis mit seinen spezifischen Pflichtbindungen“. Diese sind für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes weiterhin charakteristisch: Auch heute noch gelten in diesem Bereich gesteigerte Pflichtbindungen, das Disziplinarrecht des Arbeitgebers ist stärker ausgebaut, der Arbeitnehmer genießt, aufs Ganze gesehen, gegenüber einer Kündigung des Arbeitgebers größeren Schutz als in der Privatwirtschaft. Mit Recht konstatiert Pierson mit Blick auf die Rechtslage in Deutschland „eine Angleichung des öffentlichen Dienstrechts an das allgemeine Arbeitsrecht unter Überwindung der bisherigen Zweiteilung“. Diese Tendenz ist in der Tat erkennbar und gerade bei der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Bereich der Personalvertretung besonders augenscheinlich. Keiser stellt in seinem Beitrag das „freie Arbeitsregime“ der Bundesrepublik dem „gebundenen Arbeitsregime“ der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber und verdeutlicht die Unterschiede anhand der Regeln aus dem „Herzstück“ des Arbeitsrechts, dem Kündigungsschutzrecht. Dabei stellt Keiser fest, dass „das Kündigungsrecht in der DDR schon früh auf eine komplett überpersönliche Ebene gestellt“ wurde. Es habe zwar als „Konkretisierung des Individualrechts auf Arbeit“ gedient; zugleich sei es aber „als Instrument politischer Steuerung“ verstanden worden. Aus

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dem Bereich der außerordentlichen Kündigung („Entlassung“ in der Terminologie des DDR-Rechts) berichtet er, diese sei insbesondere bei einem Verstoß des Werktätigen gegen die „Grundsätze der antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ gerechtfertigt gewesen. Zulässig war aber auch „die fristlose Entlassung des Beschäftigen, die von einem zuständigen staatlichen Untersuchungs- und Kontrollorgan verlangt wird“. Der bestehende Kündigungsschutz wurde weitgehend zurückgenommen, wenn sich Staatsanwaltschaft und / oder Staatssicherheit in das Verfahren einschalteten. Keiser spricht plastisch von einem „Hereinragen des Überwachungsstaats in das Arbeitsverhältnis“. Verdienstvollerweise bezieht er auch das formelle Recht in seine vergleichende Betrachtung mit ein: Im Fall der Kündigung, die nicht zuletzt auch ein „Erziehungsinstrument“ gewesen sei, wurden die „Erziehungsprozesse“ vor den sog. „Konfliktkommission“ durchgeführt, betrieblichen Schlichtungsstellen, die mit anderen Werktätigen aus verschiedenen Hierarchiestufen, regelmäßig aber FDGBMitgliedern, besetzt waren, wobei die Staatsanwaltschaften in das Verfahren einbezogen waren. Auch in formeller Hinsicht also die Eröffnung einer „überpersönlichen Ebene“ und ein „Hereinragen des Überwachungsstaats“. Das Arbeitsrecht im wiedervereinigten Deutschland ist Teil eines „freien Arbeitsregimes“ im Sinne Keisers: Die Frage, ob eine Kündigung sozial gerechtfertigt ist, entscheidet sich an den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsprinzips und aufgrund einer Abwägung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Frage, die man dabei beantworten muss, ist die, ob im konkreten Fall das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers oder das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers überwiegt. Für die Beachtung von (wie auch immer zu definierenden) staatlichen Interessen ist dabei kein Raum. Und noch viel weniger ist der Kündigungsschutzprozess ein „Erziehungsprozess“. Für das deutsche Kündigungsrecht gilt auch im Bereich des öffentlichen Dienstes das sog. Prognoseprinzip. Das bedeutet: Über das Vorliegen eines Kündigungsgrunds ist zukunftsbezogen zu urteilen. Die Kündigung ist keine Sanktion für Vergangenes, sondern zielt auf mögliche Wirkungen in der Zukunft. Dementsprechend kommt z. B. eine verhaltensbedingte Kündigung nur dann in Betracht, wenn das Risiko weiterer Vertragsverletzungen droht. Um das „Abstrafen“ eines möglichen Fehlverhaltens in der Vergangenheit geht es dabei nicht.

Die Autorinnen und Autoren

Boyer, Prof. Dr. Christoph Universität Salzburg Fachbereich Geschichte Rudolfskai 42 A-5020 Salzburg. Österreich [email protected] Brand, Prof. Dr. Jürgen Bergische Universität – Wuppertal Fachbereich B/Wirtschafts- und Sozialwissenschaften  Gaußstraße 20 42097 Wuppertal  [email protected] Conrad, Prof. Dr. Christoph Professeur d’histoire contemporaine Université de Genève Département d’histoire générale 5, rue Saint-Ours 1211 Genève 4 / Suisse [email protected] Eckert, Prof. Dr. Andreas Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät III, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected]

Garstenauer, Therese Universität Wien Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Dr. Karl Lueger-Ring 1 A-1010 Wien [email protected] Keiser, PD Dr. Thorsten, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Hansaallee 41 60323 Frankfurt am Main Am Honigbirnbaum 13 65812 Bad Soden [email protected] Knegt, Dr. Robert Universiteit van Amsterdam, Faculteit der Rechtsgeleerdheid – Privaatrecht B Hugo Sinzheimer Instituut Kamer B 308 Oudemanhuispoort 4-6 1012 CN  Amsterdam [email protected] Lenger, Prof. Dr. Friedrich Justus-Liebig-Universität Gießen Historisches Institut, Neuere Geschichte Otto-Behaghel-Str. 10 D-35394 Gießen [email protected]

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Die Autorinnen und Autoren

Matsumoto Prof.Dr. Naoko Sophia University, Faculty of Law Kioi-cho 7-1 Chiyoda-ku, 102-8554 Tokyo/Japan [email protected] Pierson, Dr. Thomas Wiss. Mitarbeiter Institut für Rechtsgeschichte Goethe-Universität Frankfurt am Main Breiter Weg 21 a 35440 Linden [email protected] Raphael, Prof. Dr. Lutz Universität Trier FB III – Neuere und Neueste Geschichte Universitätsring 15 54296 Trier [email protected] Rass, Dr. Christoph Professur für Neueste Geschichte Historisches Seminar Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) FB 2: Kultur und Geowissenschaften Universität Osnabrück Neuer Graben 19/21 49069 Osnabrück [email protected]  Rosental, Prof. Dr. Paul-André Sciences Po 27 rue Saint-Guillaume 75337 Paris Cedex 07 [email protected]

Rückert, Prof. Dr. Joachim Goethe-Universität Frankfurt am Main FB Rechtswissenschaft, Institut für Rechtsgeschichte Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main [email protected] Rudischhauser, Dr. Sabine 37 Avenue de l’Aviation B-1150 Brüssel [email protected] Schneider, Prof. Dr. Ute Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Historisches Institut 45117 Essen [email protected] Steinmetz, Prof. Dr. Willibald [Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft] Lübrasser Weg 34 33719 Bielefeld [email protected] Waas, Prof. Dr. Bernd Goethe-Universität Frankfurt am Main FB Rechtswissenschaft, Institut für Arbeits-, Wirtschafts- und Zivilrecht Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main [email protected]

Personenregister Atiyah, P. S. 165 Behagg, Clive 145 Berend, Ivan 208, 218 Beyme, Klaus von 220 Blackstone, William 135 Bluntschli, Johann Caspar 46 Boissonade, Émile 125 Boyer, Christoph 219, 224 Brand, Jürgen 88, 119, 120, 179, 181, 184 Brentano, Lujo 148 Buch, Johann von 37 Capitant, Henri 315, 316 Castel, Robert 8, 18 Castles, Stephen 245 Chejnman, Semen A. 338 Clapham, Sir John 145 Conze, Werner 23, 61 Cruet, Jean 136 Demogue, René 305 Dersch, Hermann 41 Eckert, Andreas 178, 183, 186 Edel’man, Ol’ga 341 Ehrlich, Eugen 137, 156 Endemann, Wilhelm 33, 34 Engels, Friedrich 149 Esping-Andersen 221 Forsthoff, Ernst 135 Führer, Karl Christian 277 Gaius 24 Garstenauer, Therese 371, 372 Geertz, Clifford 82 Gény, Francois 305 Gierke, Otto von 52, 61 Granville St. J. Orde Browne 95 Gröber, Adolf 65 Groh, Dieter 170 Hardenberg, Karl August von 151 Hausen, Karin 60 Henning, Friedrich W. 140, 145 Hintze, Otto 336

Hobsbawm, Eric J. 169, 171 Höpken, Wolfgang 321 Justinian 24 Kahn-Freund, Otto 135, 179 Kalinin, Michail 336 Kant, Immanuel 38, 49, 85 Kaskel, Walter 139, 142 Keiser, Thorsten 18, 319, 380 Kirkwood, W. M. H. 125 Kober, Karl 137 Koch, Christian Fr. 37 Kreittmayr, Wiguläus X. A. von 46, 50 Kropotkin, Pjotr 270 Langerhans 151 Lenin, Vladimir I. 338 Lord Hailey 108 Lord Milner 101 Lotmar, Philipp 33, 53, 137, 138, 157, 165, 179, 281 Maine, Henry S. 160 Mansfeld, W. 41 Markowitz, Gerald 202 Marx, Karl 140, 149, 338 Matsumoto, Naoko 178, 185 Mayer-Maly, Theo 7, 18 Megner, Karl 337 Mendels, Franklin 143 Miyoshi, Taizō 123 Montgelas, Maximilian Josef von 346 Napoleon I. 155 North, Douglass C. 140 Orlovsky, Daniel 336 Pierson 371, 372, 380 Polanyi, Karl 85 Potthoff, Heinrich 34, 40, 53 Prenner, Hans 314 Ramazzini, Bernardino 189, 193 Ramm, Thilo 18 Rass, Christoph 321 Renzsch, Wolfgang 174

385

Personenregister

Richardi, Reinhard 140, 160 Rimlinger, Gaston V. 220 Rogowski, Ralf 146 Rosental, Paul-André 219, 223 Rosner, David 202 Rückert, Joachim 18, 61, 79, 90, 135, 160, 320, 325 Rudischhauser, Sabine 324 Rudorff, Otto 122, 125, 126 Saleilles, Raymond 305, 307, 308 Savigny, Friedrich Carl von 35, 47, 53, 165 Schmoller, Gustav 165 Schneider, Ute 79, 84 Schöttler, Peter 119 Schröder, Rainer 168 Schulz, Knut 83 Shaw, Bernhard 169 Sinzheimer, Hugo 34, 86, 90, 137 Stadthagen, Arthur 64 Staudinger, Julius 137

Steinmetz, Willibald 119, 325 Sumiya, Mikio 130 Supiot, Alain 86 Thomann, Bernard 198 Thompson, Edward P. 8, 17, 169 Tooze, Adam 146 Turgot, Anne-Robert-J. 28, 30 van der Ven, Frans 8, 17 Wahl, Albert 305 Walther, Rudolf 23 Webb, Beatrice 169 Webb, Sidney 169 Weber, Max 85, 87, 137, 140, 166, 184, 319, 338 Wieacker, Franz 151, 259 Wilensky, Harold 220 Wolff, Christian 45 Wollschläger, Christian 115 Zeiller, Franz von 48

Sachregister Afrika 95 ff. „Arbeit“/Arbeit – 19. Jahrhundert 30 ff. – 20. Jahrhundert 39 ff., 86, 90 – after Labour 56 – als allgemein und gleich 27 ff., 34, 50, 66 – im Allsingular 32 – im BGB 1900, 36ff., 59 ff. – christlich mittelalterlich 26, 83 – und „Dienste“ 34, 36 ff., 57, 62 ff. – Frauen und Arbeit im BGB 67 ff. – freie und gebundene 11, 30, 80 ff., 90, 160 f., 272 ff., 321, 367 ff. (Beamte) – frühneuzeitliche 26 f. – gesellschaftliche 75 – als Leitbegriff, historisch-sozialer 23 ff., 78 – als Pflicht 73 – Regelungsprobleme 10 ff., 162, 222, 257 f., 317, 352, 380 – römischrechtlich 24 f., 32 f., 47, 64 – als Themenbereich 8 f. – universal/im Allsingular 27 ff., 34, 37, 50, 66, 83 f. – als Ware 85 – Wende um 1800? 27, 30, 56, 79 f., 175 f., 325 – Wende um 1860? 155 – Wende um 1900? 53 f., 122 ( Japan), 145, 177, 179 f. Arbeiterschutz 16, 35, 52, 107, 111, 127 ( Japan), 131, 181, 184 Arbeitskonflikte 108 ff., 268 ff. (DDR), 301, 311 ff. (Schlichtung), 317 (Akteure) Arbeitsmarkt 9, 84 f., 106, 166, 245 Arbeitsrecht, -verhältnis – Abschluss/Abschlussfreiheit 12, 40, 166, 240 – Angestellte 39, 43, 353, 363 – Beendigung 10, 12, 257 ff., 378 f., 380 f.

– und Familienrecht 59 f., 67 ff., 71 ff. – der DDR 61 ff., 261 ff., 320 – Forschungsstand 7 f. – Haftungen 12, 216, 222, 271, 313, 340 – Handlungsfreiheit 85 f. – und Industrialisierung 133 f., 140 f., 149, 189 – kollektives/Tarifverträge 40, 42, 52 f., 81, 119, 136, 149, 158 ff., 177, 186, 277, 279 f., 314, 349, 351, 367, 379 f., s. auch Tarifverträge – Lohnzahlung 12 – Lohnschutz 13 – und öffentliches Recht 35 f. – paternales und emanzipierendes 13, 27, 35, 51, 81, 90, 120, 267, 366, 367 f. – als Personenrecht 41, 46 f. – und Privatrecht 33 ff., 51, 54, 85, 89, 139, 285, vgl. Arbeitsrecht-Sonderordnung – Rechtsquellen des Arbeitsrechts 87 f., 377 f. – Regelungsprobleme 12 f. – römische Tradition 24 f., 32 f., 47, 64, 134 f. – Schutzrecht s.Arbeiterschutz – Selbstverwaltung 17, 321 – Sonderordnung/-recht/Spezialrecht 39 f., 45, 88, 90 f., 139, 150 ff., 158, 175, 180, 377 – soziales 9, 52, 57, 66, 107 f., 206 – Störungen 12 – Unfälle 12, 111, 183 f., 190 ff. – und „Verkehrssitte“ 282, 302, 306 ff. – vor 1800 51, 80, 154 ff., 273 – Treudienst 41, 139, 337 ff. (Beamte) – Vertragstypen römisch 25 f. Beamte 329 ff., 343 ff. – Disziplinarrecht 349, 358 ff., 380 – Laufbahnsystem 355, 380

Sachregister

– Treueverhältnis 349, 361 ff., 380 – Lebenszeitprinzip 349, 356 ff., 380 – Leistungsprinzip 379 – Positionssystem 355 – Residenzpflicht 364 – städtische 368 ff. – Streikrecht 337, 354, 365 Berufe um 1900 34 Berufskrankheiten 189 ff. Beschäftigtenstruktur 19. Jh. 142 ff. Dienstboten 46 f. 130 f. ( Japan), siehe auch Gesinde Dienste 36 ff. – höhere 24, 41, 42 ff., 63 – städtische 368 ff. Existenzminimum 13 Fabrikwesen 141 ff., 176 „Faule“ Eingeborene 99 Freie Berufe 41, 43 f., 51 Freiheit und Gebundenheit, s. bei „Arbeit“ Gemeindefreiheit und Arbeitsrecht 343 ff., 369 Gerichte 9, 13, 16, 113 ff., 126, 131, 146 f., 176, 181, 184 f., 296 ff. – gesellschaftliche 269 ff. Gesinde 9, 12, 13, 45, 47 f., 62, 64, 67, 180, 326 Gleichberechtigung 71 ff., 246 Großbetriebe 10 f., 148 f., 176, 185, 293 ff., 329 Handwerker 9, 12, 24, 28, 34, 43 f., 47, 50, 82, 107, 121 f., 130 f., 144, 149 f., 157, 161, 168, 171 ff., 185 Industriearbeit 10, 101, 149 Knechtschaft/Leibeigenschaft 10, 12 f., 27, 81, 229 ff., 249 Konfliktkommissionen DDR 269 ff. Kündigungsrecht 9, 12 f., 53, 131, 139, 156 f., 258 ff. (BRD, DDR) Leibeigenschaft, siehe Knechtschaft Lohnarbeit 100 ff., 139, 173 ff., 141, 250, 325, 373 (und öffentliche Unternehmen) Lohnschutz 13 Lohntaxen 166

387

Mitbestimmung 13, 53, 166, 374 „Normalarbeitsverhältnis“ 51, 45, 167 öffentliches Recht 35 operae liberales, siehe Dienste, höhere Policeyrecht 9, 11, 147, 180 Privatrecht 33 f., 42, 54, 179 Problemgeschichte 10, 12, 14 ff., 222, 257 ff., 352, 380, vgl. Arbeitsrecht-Regelungsprobleme Prozessquoten 115, 119, 128 Prozessrecht 9, 14, 25 f., 203, 268 f., 367 Recht – auf Arbeit 29, vgl. 71, 73 – als Faktor 7 ff., 79, 98, 147 f., 179 ff., 182 ff., 233 ff., 241, 245, 248, 266 ff., 283, 317, 324, 373, 380 – staatliches 87 f., 178 f. – als Themenbereich 9 Rechtsquellen – amerik. Virginia Bill 1776 28 – Asian Exclusion Acts 1880 ff. 250 – bay. BGB-Entwurf 1861 37 – bay. Gemeindebeamtengesetz 1916 346 – bay. Gemeindeedikt 1808 346 – bay. Gemeindeordnung 1869 346 – bay. Landrecht 1756 46, 50 – Corpus iuris civilis 26, s. auch Arbeitsrecht-römische Tradition – DDR Familiengesetzbuch 1966 59 ff., 67 ff., 71 ff. – DDR Gesetzbuch der Arbeit 1961 59 ff., 67 ff., 71 ff., 257, 348 – dt. Beamtengesetz 1937 347, 349 – dt. BGB 1900 36 ff., 44, 59 ff., 260 – dt. Betriebsrätegesetz 1920 53 – dt. Entwurf eines Obligationenrechts, Dresden 1866 37 – dt. Gemeindeordnung 1935 347 – dt. Gewerbegerichtsgesetz 1890 116 ff. – dt. Gewerbeordnungen 17, 31 f., 154 ff., 159, 176, 180 f. – dt., Kündigungsschutzgesetz 1951 259 ff.

388

– dt. Tarifvertragsverordnung 1918 54, 283, 295 – dt. Verfassungen und „Arbeit“ 30 f. – dt. Verfassung 1848/49 30 – dt. Verfassung 1871 31 – dt. Zuchthausvorlage 1899 42 – engl. Agreement of the People 1647 27 – engl. Local Government Act 1972/73 351 – engl. Master and Servants Acts 1823 ff. 104, 107 (Kenia), 180, 250, 325 – franz. Accords de Matignon 1936 278 ff. – franz. Charte 1814 u. 1848 29 – franz. Charte du Travail 1941 42 – franz. Code civil 1804 48, 155 – franz. Declaration 1789 28 f.,1793 29 f. – franz. Edikt Turgots 1776 28 – franz. Gesetz über die Juges de Paix 1892 u. 1905 298, 303 – franz. Gesetz über die Tarifverträge 1919 284, 295 – franz. Loi Le Chapelier 1791 155, 279 f. – franz. Verfassung 1946 29 – Gewohnheitsrecht 164 f., 172, 176, vgl. Verkehrssitte – hessischer BGB-Entwurf 1853 37 – ILO 97, 104, 180, 239, 253 – ital. Carta di Lavoro 1927 42 – niederl. Beamtengesetz 1929 354 – nat.soz. Gesetz zur Ordnung der Arbeit 1934 40 f. – nat.soz. Volksgesetzbuch-Entwurf 1942 70 – österr. ABGB 1811 48f. – österr. ABGB-Teilnovelle 1916 50 – österr. Dienstpragmatik 1914 330, 335, 339 f. – österr. VO zum Berufsbeamtentum 1938 331 – poln. Gesetz über die Staatsämter 1982 365 f. – poln. Kommunalverwaltungsgesetz 1918 ff. 352 – preuß. Edikte 1810: 150 und 1811: 28, 31, 151

Sachregister

– preuß.Gewerbeordnung 1845 31 – preuß. Gesetz über Kommunalbeamte 1899 345 – preuß. Allgemeines Landrecht 1794 45, 345 – preuß. Städteordnung 1808 345 – röm. Corpus iuris 533 24 f., 32 f., s. auch Arbeitsrecht-röm. Tradition – russ. Dekret über die Abschaffung aller Stände 1917 340 ff. – russ. Gesetzbuch der Arbeit 1922 39 f., 340 – sächs. BGB 1863 36, 44 – sächs. Gewerbegesetz usw. 1861 45 – Sachsenspiegel um 1230 37 f. – schweiz. Beamtengesetz 1927 355 – schweiz. Obligationenrecht 1881/1911 42, 47, 49 f. – weimarisch-eisenacher Gesetz über Innungen und Zünfte 1821 161 f. – württembergische Verfassung 1819 30 – württembergische Gewerbeordnung 1828 153 – züricher Gesetzbuch 1855 46 f., 50 – züricher Personalgesetz 1998 351 Rechtswege 16, 44, 118, 129, 132, 184 f., 281, 357 Sattelzeit/Wende um 1800 27, 48, 51, 56, 79 f., 85, 141, 154 ff., 273 Sklaverei 9, 11, 13, 26, 57, 85, 89, 105, 229 ff., 242, 252, 372 Sonderrecht/-ordnung , s. bei Arbeitsrecht Staatsdienst 349 ff. Staatssozialismus 210 ff. Städtisches Dienstrecht 345 ff. Ständische Bindung 9, 11, 13, 24, 27, 41, 43, 51, 84, 168 Strafsanktionen 109, 123 f., 148, 180, 183, 186, 250, 360 Streik/-recht 9, 11, 13, 16, 53, 95 f. (Afrika), 110 f., 130 ( Japan), 158, 177, 185, 220, 281 ff., 288 f., 293 ff., 311, 313 f., 337, 354, 365 ff., 374

Sachregister

Tagelöhner 9, 12 f., 38, 45, 50, 62, 64, 81, 101, 103, 120 f., 131, 147, 149, 167 Tarifverträge 9, 17, 52 ff., 139, 158 f., 186, 277 ff., 287 (Typologie), 323 Urlaubsrecht 13 Verkehrssitte im Arbeitsrecht 282, s. auch Gewohnheitsrecht Verlagssystem 175, 291 ff.

389

Verrechtlichung 56, 177 f., 186, 247 Vertragsbruch 9, 13, 96 f., 118, 250, 312, 325 Wohlfahrtseinrichtungen, betriebliche 11 Wohlfahrtskapitalismus 55, 57, 120, 202, 206 f., 215, 220 f., 349, 363, 369 Zünfte 81, 83, 88, 175, 181 Zwangsarbeit 92, 96, 102, 215, 240

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