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German Pages 514 [524] Year 1961
WORTE UND WERTE BRUNO MARKWARDT ZUM 60. GEBURTSTAG
WORTE U N D
WERTE
BRUNO MARKWARDT zum 60. Geburtstag
herausgegeben von
Gustav Erdmann und Alfons Eichstaedt
WALTER DE G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschensche Verlagshandlung J . Guttencag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer Karl J. Trübner Veit & Comp.
B E R L I N 1961
©
Archiv-Nummer 45 66 61 Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanisdien Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten Herstellung: Berliner Buchdruckerei Union G m b H . , Berlin S W 61
INHALT Seite
Curt Kersting
• Kassel
Der Hochschullehrer Bruno M a r k w a r d t
IX
Gustav Erdmann • Greifswald Der Wissenschaftler Bruno M a r k w a r d t Umriß einer Bibliographie 1920—1959
Maurice Boucher
• Paris
Le coeur de épis (Widmungsgedicht)
Ernst Alker • Fribourg Probleme der verdeckten Literaturen und des Sprachtausches Paul Böckmann
XIX
1
• Köln
Die Symbolik in der „Natürlichen Tochter" Goethes Hans-Heinrich
XI
Borcherdt
•
11
München
Das Problem des „verlorenen Sohnes" bei Rilke
24
Maurice Boucher • Paris Resonanzboden
34
August Closs • Bristol Wortanalyse und Dichtungsdeutung
37
Herbert
Cysarz
•
München
Wilhelm Scherers Programmatik und Poetik Torsten
Dahlberg
•
42
Göteborg
Mittelniederdeutsche Suffixabstrakta Einige Bemerkungen zur Wortbildung und Lexikographie
Albert Hendrik Deblaere S. J. • Brüssel Impressionistischer Stil bei der flämischen Mystikerin Maria Petyt (1623—1677) Wilhelm
Dobbek
•
51
60
Weimar
Die Kategorie der Mitte in der Kuristphilosophie J. G. Herders
70
Inhalt Alfons Eichstaedt • Münster i. W. Gedichtete Poetik Versuch über das Kunstgesprädi der Geniezeit
Gustav Erdmann • Greifswald Zum Herder-Erlebnis Gerhart Hauptmanns Herbert Ewe • Stralsund Zu Flurnamenbildungen auf Rügen seit der Romantik Willi Flemming
• Mainz
Fiktion — Illusion Über das Verhältnis von Film und Theater
Karl S. Guthke
• Berkely
(Calif.)
Klingers Fragment „Der verbannte Göttersohn", Lenzens „Tantalus" und der humoristische Fatalismus und Nihilismus der Geniezeit Ein Beitrag zum Thema „Sturm und Drang und Romantik" J oh's.-Erich Hey de • Berlin Aiö jtoir|aig xai cpiXoaocpcüTEQOv xai Aristoteles, Poetik c. 9 (1451 b 6)
ajtouöcuÖTeoov
iatogiag eativ
Ein Beitrag zur Geschichte des Wortes qnXoöocpia
Günther Jacoby
•
Greifswald
Beitrag zu der Frage nach dem Übergange von dem tiefsten Bewußtsein zu dem menschlichen, von der Tiersprache zu der Mensdiensprache Herbert
Jhering
Die dramaturgische Funktion des Bühnenbildes Ansprache zur Eröffnung der Bühnenbildausstellung der Deutschen Akademie der Künste
Marlies Kegel-Vogel
• Düsseldorf
Johann Elias Schlegel und der Erziehungsoptimismus in der deutschen Aufklärung Johann Knobloch
• Innsbruck
Rotwelsche Kleinigkeiten Toyotaka
Komiya
• Tokio
Uber die No-Spiel-Theorie von Seami Joachim Krueger
• Berlin
Zur Frühgeschichte der Theorie des bürgerlichen Trauerspiels
Inhalt Gerhard
Lenssen
• Dresden
„Zuschaukunst" — ? Waltraut
193
Leuschner-Meschke
• Berlin
Aus Otto Ludwigs Kunstauffassung Jix'i Levy
Lutz Mackensen
Ein Vortrag aus der Arbeit der „Deutschen Presseforschung" zu Bremen
Günther Mann • Wismar
253
Muschg • Basel
Zu Hans Henny Jahnns „Medea" Armand
Nivelle
Will-Erich
Peuckert
•
281 Göttingen
Die Zitation im Walde Hermann
Pongs
•
289
Gerlingen/Stuttgart
Das ewige Herz in Hölderlins Dichtung Praschek
Ein Vergleich zweier Fassungen des „Meister Oelze" von Johannes Schlaf
• Freiburg
322
• München
Der junge Lessing als Übersetzer aus dem Spanischen Risse
315
i. Br.
Winckelmanniana Hans Rheinfelder
292
• Berlin
Zum Zerfall des naturalistischen Stils
Rehm
276
• Lüttich
Sulzer als Neuerer
Wilhelm
248
• Stuttgart
Wilhelm Teil, der ästhetische Staat und der ästhetische Mensch
Walther
232
(Meckl.)
Ernst Barlach auf der Bühne Fritz Martini
214
• Bremen
Über die sprachliche Funktion der Zeitung
Helmut
200
• Brno
On the Relations of Language and Stanza Pattern in the English Sonnet
Walter
VII
326
• Berlin
Georg Philipp Harsdörffer und die humanistische Tradition
334
VIII
Inhalt
Hans-Friedrich Rosenfeld
• Mündjen
Der Wortgebrauch Friedrich August Wolfs Ein Beitrag zur Sprache des Neuhumanismus
338
Joachim Rosteutscher • Kapstadt Archetypik in den drei Fassungen des Gedichtes „Diotima"
349
Emil Staiger • Zürich Das Problem der wissenschaftlichen Interpretation von Dichtwerken Ein Radiovortrag
355
Wolfgang Stammler • Hösbach-Bahnhof
(Spessart)
„Edle Einfalt" Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos
Hans Steffen
359
• Paris
Sprachkritik und Spradihaltung bei Molière und Lessing
Lotte Sternbach-Gärtner
383
• Paris
Karl Kraus und das expressionistische Theater
398
Joachim Storost • Würzburg Die Vorgeschidite des Reinhart Fuchs
410
Max Wehrli • Zürich Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter
René Wellek
• New Häven
(Conn.)
Emerson's Literary Theory and Criticism
Ernst G. Wolff
444
• Weiningen/Zürich
Erkenntniskritik und Ontologie
Hans M. Wolff
428
• Berkeley
457
(Calif.)
Germanische „Edle Wilde"
477
Ernst Zunker • Stuttgart Thorild und Herder
483
Nachwort der Herausgeber
497
DER H O C H S C H U L L E H R E R BRUNO MARKWARDT
Um 1930 hatte die Universität Greifswald in Kreisen der Studierenden den Ruf einer behaglichen, alles andere als strapaziösen alma mater. Der erste Eindruck, den die Stadt auf den Studenten machte, schien diese Auffassung zu bestätigen. Er war auf einem schläfrigen kleinstädtischen Bahnhof ausgestiegen, die gesichtslos-langweilige Bahnhofstraße entlang gegangen und hatte sich einem gotisch-gemütlichen Stadtbild gegenüber gesehen. Die Zeit schien hier stillgestanden zu sein. Es gab noch die alten Kontore der Hanse und die Lagerhäuser mit den lange nutzlosen Kränen. Die Häuser waren zumeist niedrig und zeugten von einer in Jahrhunderten gewachsenen Baugesinnung. Wohl hob sich die schlanke Silhouette der Nikolauskirche in filigranhafter Zartheit über die Dächer. Wohl wuchteten die derben Konturen von Sankt Marien schwer und gewaltig gegen den Himmel. Auf den Ankommenden aber wirkten die Bauten wie Theaterdekorationen für eine Freilichtaufführung der „Kleinstädter". Und Akteure des altmodischen Stückes schienen die Bauern zu sein, die auf ihren Kuhwagen über das holprige Kopf Steinpflaster fuhren, und die Fischer und Bürger, welche gemächlich ihres Weges trotteten. Gewiß, der Rubenowplatz mit dem zur Universität gewordenen Schloß atmete eine andere, eine höfische Luft, die des 18. Jahrhunderts. Es war aber wohl nur ein Szenenwechsel, es waren nur andere Dekorationen. Die Gelassenheit, welche diese merkwürdige Stadt ausströmte, blieb die gleiche. Sie wirkte unwirklich auf den Besucher, der aus dem von Krisen geschüttelten Westen kam. Sie wirkte beruhigend auf den Studierenden, dem der ameisenhafte Fleiß der „Arbeitsuniversität" Göttingen ebenso vertraut war wie die hektische Betriebsamkeit der Berliner Universität. Aber der erste Eindruck täuschte, wie der erste Eindruck überhaupt oft so irreführend ist. Zwar hatte sich der erste Abend angenehm angelassen. Der Student war in einer der gemütlichen Kneipen am Markt mit zwei scheinbar saturierten Bürgern ins Gespräch gekommen und zum Glas Bier eingeladen worden. Es waren, wie sich herausstellte, Professoren der medizinischen Fakultät. Es ließ sich offenbar angenehm leben in der kleinen Universität. Doch schon am nächsten Morgen hatte sich das Bild gründlich geändert. Es wehte ein scharfer Wind an der ältesten preußischen Universität. Der Dekan der philosophischen Fakultät, Wolfgang Stammler, hatte sich beim Antrittsbesuch des Neuimmatrikulierten unmißverständlich ausgedrückt. An Herren, die nur einen Sommer segeln und schwimmen wollten, sei die Fakultät desinteressiert. Wer Examen machen wolle, sei zwar willkommen. Er empfehle ihm aber, sich die Statistiken mit den Prüfungsergebnissen anzusehen, vor allem die Rubrik „Nicht bestanden". Es werde einiges verlangt in Greifswald.
Der Hochschullehrer Bruno Markwardt
X
Nein, es war kein glänzender Empfang gewesen, der dem Studenten bereitet war. Gemütlich ging es gewiß nicht zu an dieser Universität. Am Nachmittag besuchte der stud. phil. sein erstes Greifswalder Kolleg. Professor Bruno Markwardt las über die Dramen von Heinrich von Kleist. Das T h e m a war interessant. W i e der Vortragende es anpackte, blieb a b z u w a r t e n . . . Seit dieser Vorlesung sind fast dreißig J a h r e vergangen. Dem Verfasser blieb das Kolleg bis heute unvergeßlich. Auf dem Katheder stand ein überraschend junger, schmalschultriger Dozent.
Er
sprach zumeist frei, warf nur selten einen Blick auf die Notizen, die als Gedächtnisstütze vor ihm lagen. Die klugen, dunklen Augen hinter der randlosen goldenen Brille schienen jeden H ö r e r zu betrachten. Die gleichmütige, gelassene Stimme wirkte anfangs seltsam unpersönlich, bis man begriff, daß es dem Sprecher nicht darauf ankam, sein Publikum rhetorisch zu überzeugen, sondern darauf, es zum Mitdenken anzuregen. Es w a r nicht leicht, den geistvollen Ausführungen zu folgen. Denn in dieser Antrittsvorlesung des neuen Semesters war in nuce bereits das ganze T h e m a dargeboten. Ein neues, überraschend konstruktives Bild Kleists wurde angedeutet,
das Wesen
eines
Genies in neuer Sicht begriffen, Abrechnung, funkelnd ironische, aggressive Abrechnung gehalten mit der schulmäßigen Darstellung des größten deutschen Dramatikers. V o r den Hörern, alles älteren Semestern, wurde schon in dieser ersten Vorlesung eine ganze Epoche skizziert, wurde das Bild ihres tragischen Repräsentanten ihnen unverlierbar in das Gedächtnis hineingemeißelt. In
dieser Stunde wurde der Keim gelegt zu einer Verehrung,
die die
Zeiten
überdauerte. Aus dem Vorlesungsbesucher wurde ein Schüler, ein Assistent, ein Freund des damals jüngsten Universitätslehrers. E r erlebte ihn in der mönchischen Abgeschlossenheit seines Studierzimmers, wo er an seinem Lebenswerk arbeitete, der Geschichte
der
deutschen
Poetik. E r hatte das Glück, M a r k w a r d t aus seiner fast scheuen Zurückhaltung herausgehen zu sehen und in nächtelangen Diskussionen Einblick zu erhalten in Gedankengänge von unbestechlicher Klarheit, die später ihren Niederschlag fanden in Arbeiten, die zu den klügsten und scharfsinnigsten der deutschen Literaturgeschichtsforschung gehören. Am 19. April feiert Bruno M a r k w a r d t den 60. Geburtstag. E r wird ihn in der Stille begehen, wie er sein ganzes Leben in der Stille wirkte. Die wissenschaftliche W e l t aber wird sdiner gedenken!
Curt
Kersting
DER WISSENSCHAFTLER B R U N O
MARKWARDT
Umriß einer Bibliographie 1920—1959
Es können hier nur die wissenschaftlichen Veröffentlichungen Bruno Markwardts — einschließlich einiger beachtenswerter Vorklänge aus früher Zeit — verzeichnet werden. Die zahlreichen Zeitungsaufsätze zu aktuellen Anlässen (Gedenktagen usw.), die Theaterkritiken des Leipziger und Berliner Studenten und später des Greifswalder Dozenten und Professors, die hier und da veröffentlichten hoch- und niederdeutschen Dichtungen — ein erstes Bändchen plattdeutscher Gedichte erschien 1944 in Greifswald unter dem Titel Dei Brandung schwiggt — vollständig zu erfassen, war unmöglich und muß einer späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben. Um das Bild des Forschers abzurunden, erschien es wünschenswert, von den bei Bruno Markwardt angefertigten Dissertationen diejenigen zu nennen, die sich einerseits mit seinen eigenen Veröffentlichungen thematisch mehr oder weniger eng berühren und die zum anderen das aktive Interesse Markwardts an Forschungsgebieten ausweisen, auf denen er selber bisher noch nicht mit Publikationen hervorgetreten ist (z. B. Theaterwissenschaft, die Markwardt jahrzehntelang in Vorlesungen und Übungen mit vertreten hat, und niederdeutsche Sprache und Literatur). — Neuauflagen werden erwähnt, wenn sie zugleich Neubearbeitungen darstellen. Gustav Erdmann
1. SELBSTÄNDIG ERSCHIENENE SCHRIFTEN, AUFSÄTZE U N D GRÖSSERE REZENSIONEN 1920 Schieberware im Sprachgut. Eine Stilblüte Banaler Ausdrücke. In: Nachrichten aus dem „Akademisch-Literarischen Bund". 48 (30. 4. 1920), 1—3. Dichter
und Deuter.
[Aphorismen] Ebenda 49 (30. 6. 1920), 3.
Was ist Expressionismusf [Anläßlich der Aufführung des Films „Das Kabinett des Dr. Caligari".] In: Stralsundische Zeitung Nr. 217 vom 19. 9. 1920. 1922 Herders „Kritische Wälder". Ein Beitrag zur Kunst- und Weltanschauung des jungen Herder. Auszug: o. O. 1922. 2B1. Greifswald, Phil. Fak., Diss. vom 25.11.1922. 1925 Herders „Kritische Wälder", Leipzig: Quelle & Mayer. X I I , 326 S. = Forschungen zur deutschen Geistesgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. 1. Dichter. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Paul Merker und Wolf gang Stammler. Berlin: Walter de Gruyter & Co. Bd. 1, 190 a — 193 b. Dichterschule. Drama
(Theorie).
1926 Humoreske. Literarischer Lyrik 1928 Poetik.
Ebenda Bd. 1, 195 b — 200 a Ebenda Bd. 1, 210 b — 2 1 8 b.
Ebenda Bd. 1, 576 b — 588 b. Geschmack.
(Theorie).
Ebenda Bd. 2, 241 b — 255 b.
Ebenda Bd. 2, 310 a — 323 a.
Ebenda Bd. 2, 683 b — 7 1 0 a.
XII
Der
Wissenschaftler
Neuere Hebbel-Forschungen. 447—453.
Bruno
Markwardt
In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 53 (1928),
[Sammelberidit über: Elise Dosenheimer, Das zentrale Problem in der Tragödie Fried' rieh Hebbels. Halle: Max Niemeyer 1925 = Buchreihe der Dt. Vjschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch. 4. — Karl Schultze-]ahde, Motivanalyse von Hebbels „Agnes Bernauer". Leipzig: Mayer & Müller 1925 = Palaestra 150. — Walther Michalitschke, Fr. Hebbels Tragödie „Gyges und sein Ring". Reichenberg: F. Kraus 1925 = Prager Deutsche Studien 33.]
1929 Sturm und Drang, Geniezeit. In: Reallexikon . . . Bd. 3, 321 b — 336 a. 1937 Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1: Barock und Frühaufklärung. Berlin: Walter de Gruyter & Co. X I , 457 S. = Grundriß der germanischen Philologie. 13/1. Poetik, Wortkunsttheorie, Literaturphilosophie. In: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt. 4, Nr. 3 (vom 5. Februar 1937), 5. 1942 Das dichterische Schaffen Max Dreyers. Zum 80. Geburtstage des Dichters. In: Das Bollwerk. Monatsschrift für Kultur und Heimat in Pommern. 13 (1942), 50—53. 1948 Ernst Georg Wolff, Ästhetik der Dichtkunst. Systematik auf erkenntniskritischer Grundlage. Zürich: Schultheß & Co. 1944. Rezension in: Deutsche LiteraturZeitung. 69 (1948), 257—265. 1953 Kunstwollen und Kunstdeutung. Miszellen zur Kunsttheorie Gerhart Hauptmanns. In: Gerhart Hauptmann, Elektra. Studio-Aufführung Greifswald 1953 [Programmheft]. (Greifswald: Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Hochschulgruppe der Universität), 20—25. 1954 Lessing und Herder. Entwurf einer vergleichenden Gegenüberstellung. In: Junge Universität. Monatsschrift der Universität Greifswald. Studienjahr 1953/54. H. 4, 59—63. 1954/56 Studien über den Stil G. E. Lessings im Verhältnis zur Auf klär fngsprosa. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. Bisher erschienen: Vorbemerkung
und
Inhaltsübersicht
zu
den
Gesamtstudien
fl—IX].
3
(1953/54),
151—158. VI. Studie: Die Kampfprosa. 3 (1953/54), 1 5 9 — 1 8 0 [Das Werden der Kampfprosa. Frühformen]; 4 (1954/55), 1 — 3 4 [Das Werden der Kampfprosa. Zwischen- und Reifeformen]; 4 (1954/55), 177—207 [Das Wesen der Kampfprosa]. V I I I . Studie: Einzelzüge zeitgebundener Sprachgestaltung. Lessingsche „Sonderformen". 5 (1955/56), 2 9 7 — 3 3 8 .
1955 Schillers Kunstanschauung (1954/55), 259—283.
im Verhältnis
zu seinem
Abwehr der Zuordnung als
Kunstschaffen.
Ebenda 4
Umriß einer Bibliographie
1920—1959
XIII
1956 Dichter. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Neubearbeitet . . . hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin: Walter de Gruyter & Co. Bd. 1, 255a—261a. Dichterschule. Ebenda Bd. 1, 262a—266b. Drama (Theorie). Ebenda Bd. 1, 279a—288b. Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 2: Aufklärung, Berlin: Walter de Gruyter 8c Co. VI, 692 S. = Philologie. 13/2.
Rokoko, Sturm und Drang. Grundriß der germanischen
Greifswalder Dozenten als Dichter. Zur Würdigung E. M. Arndts und G. L. Kosegartens. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald. 17. 10. 1956. Bd. 1, 227—260. [Auszug u. d. T.: Deutsche Dozenten als Dichter. Versuch einer geistesgeschichtlichen Analyse. Von Prof. Dr. Bruno Werkwardt (!). In: Kasseler Zeitung Nr. 96 vom 25.4. 1959.] 1957 Walter Hof, Hölderlins Stil als Ausdruck seiner geistigen Welt. Meisenheim/ Glan: H a i n 1954. Rezension in: Deutsche Literatur-Zeitung. 78 (1957), 214—216. Geschmack (literarischer). In: Reallexikon . . . (Neubearb.) Bd. 1, 556a—569b. 1958 Humoreske.
Ebenda Bd. 1, S. 733b—735b.
Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 3: Klassik und Romantik. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 730 S. = Grundriß der germanischen Philologie. 13/3. Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1: Barock und Frühaufklärung. 2., um einen Nachtrag [435—489] erweiterte Auflage. Berlin: Walter de Gruyter & Co., XI, 512 S. = Grundriß der germanischen Philologie. 13/1. 1959 Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 4: Das neunzehnte Jahrhundert. Berlin: Walter de Gruyter & Co. VI, 750 S. = Grundriß der germanischen Philologie. 13/4. Lyrik (Theorie). In: Reallexikon . . . (Neubearb.) Bd. 2, 240 a—252 b. 2. V O N BRUNO MARKWARDT HERAUSGEGEBENE S C H R I F T E N UND 1920 Nachrichten
aus
dem
SCHRIFTENREIHEN
„Akademisch-Literarischen
Bund".
Anklam:
Richard
Poettcke N a d i f . 46 (31. 1. 1920) — 50 (30. 9. 1920). 1925 Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas (Aus einer alten Chronik). Mit einem Nachwort [ 1 4 3 — 1 5 2 ] von Dr. Marquardt (!). Leipzig: Philipp Reclam jun. 152 S. kl. 8° = Reclams Universal-Bibliothek. 218. 219. [Spätere Nachdrucke haben richtig: Mit einem Nachwort von Bruno Markwardt.] 1927 Kleists (Heinrich von) Werke in drei Bänden. Hrsg. und mit einer Einleitung [Kleists Leben und Schaffen, 1—176] versehen von Bruno Markwardt. Leipzig: Philipp Reclam jun. 454 (1 Titelbild), 367, 391 1 ) S. = Helios-Klassiker. *) Nach 1933 erschienene Auflagen des dritten Bandes haben 378 S.; es fehlt: Bibliographischer Anhang. Schriftennachweise zu Heinrich von Kleist [379—391], da hier vom Herausgeber auch eine Reihe von Arbeiten jüdischer Forscher genannt worden war.
XIV
Der
1 9 2 7 / 3 9 Form
und
Geist.
Wissenschaftler
blatt. 1 ( 1 9 2 7 ) — 4 1 Lessing
2 Abb. = 1938
Heinrich wort
(1939).
Bruno
Prosaschriften
Markwardt.
in Auswahl.
Breslau:
Ausgewählt und
Ferdinand
Hirt.
112
mit
S.
mit
H i r t s deutsche Sammlung. Literarische Abteilung, G r u p p e 9, 7. von
Kleist,
Amphitryon.
E i n Lustspiel nach Molière. M i t einem
Nach-
[ 7 3 — 7 8 ] v o n U n i v . - P r o f . D r . B r u n o M a r k w a r d t . L e i p z i g : Philipp R e c l a m
jun. 78 1939
von
Mitwirkung
[u. a . ] hrsg. v o n L u t z Mackensen. L e i p z i g : H . Eich-
(Gotthold Ephraim),
Anmerkungen
Markwardt
Arbeiten zur germanischen Philologie. U n t e r
von Bruno Markwardt . . . 1932
Bruno
S. kl. 8 °
=
R e c l a m s Universal-Bibliothek.
7416.
Lessing (Gotthold Ephraim), Prosaschriften in Auswahl. Ausgewählt, mit Angaben aus dem Leben des Dichters sowie mit Anmerkungen von Bruno Markwardt. Mit 2 Abb. Breslau: Ferdinand Hirt. 120 S. = Hirts deutsche Sammlung. Literarische Abteilung, Gruppe 9, 7.
1 9 5 4 Kleists (Heinrich von) Werke in drei Bänden. Hrsg. von Bruno Markwardt. Mit einer Einführung von Siegfried Streller 2 ). Leipzig: Philipp Reclam jun. 454, 367, 391 S. 3. V O N B R U N O M A R K W A R D T GREIFSWALDER Heinz
BETREUTE
DISSERTATIONEN3)
Beisker:
Wandlungen
der
bühnenmäßigen
Wirkungsmittel,
entwicklungsmäßig
dargestellt
an
der Epoche des geistlichen Theaters. Greifswald 1 9 3 1 : H a r t m a n n . 1 4 4 S. 6 T a b . 1 0 . 3 . 1 9 3 0 — 1 8 . 6 . 1931 Fritz Die
B u r w i c k :
Kunsttheorie
des
Münchener
Dichterkreises.
Greifswald o. J . : A d l e r . 1 9 8 S. 27.2.1932 — 6.10.1932
Georg
Brates:
Hauptprobleme
der
deutschen
Barockdramaturgie
Greifswald 1 9 3 5 : Adler. 1 4 9 S.
in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 16. 2. 1 9 3 5 — 2 1 . 6. 1 9 3 5
E r i c h H e r b e r t B l e i c h : Der
Bote
deutschen
aus
der
Fremde
Naturalismus.
als formbedingender
Kompositionsfaktor
im
Drama
E i n B e i t r a g zur D r a m a t u r g i e des Naturalismus. Berlin
Triltsch & H u t h e r . 1 4 1 S.
des 1936:
14. 12. 1 9 3 4 — 15. 4. 1 9 3 6
2 ) Der neuen Einführung [5—65] ist folgende, „Leipzig, im Juli 1954" datierte Note des Verlages „An die Leser" angefügt: „Die vorliegende Ausgabe ist Restbestand einer früheren. D a die Hauptwerke vollständig sind, besteht kein Grund, diese Ausgabe länger der Leserschaft vorzuenthalten. Freilich mußte die Einführung, die nicht unseren heutigen Erkenntnissen über Werk und Persönlichkeit Heinrich von Kleists entsprach, durch eine andere ersetzt werden. Den hierdurch entstandenen Sprung in der Folge der Seitenzahl dieses Bandes [auf (66) folgt (177)] bitten wir deshalb nachsichtig entschuldigen zu wollen." Offenbar war der Verlag jedoch der Meinung, daß der Bibliographische Anhang von 1927 auch 1954 nodi „unseren heutigen Erkenntnissen über Werk und Persönlichkeit Heinrich von Kleists entsprach": er ist, nachdem er in den Nachdrucken zwischen 1933 und 1945 fortgelassen worden war, jetzt unverändert (!) wieder abgedruckt worden. — Der Herausgeber erfuhr von diesen Veranstaltungen des Verlages erst durch das Erscheinen der Neuausgabe im Buchhandel. 3 ) Das erste Datum gibt den Tag der mündlichen Prüfung, das zweite den der Promotion (Ausstellung des Diploms) an.
Umriß
einer Bibliographie
Curt Kersting : Wirkende Kräfte in der Theaterkritik Michel. 142 S.
1920—1959
XV
des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Berlin 1936: 19.12.1933 — 12. 5.1936
[Audi als Bd. 6 der Reihe „Theater und Drama", Berlin: Otto Eisner 1937.]
Gero Franke: Mittel zur Darstellung des Übersinnlichen auf der Bühne, nachgewiesen an Aufführungen des Goetheschen Faust I. Würzburg 1936: Triltsch. 78 S. 18. 5. 1936 — 24. 12. 193o Erich Liermann: Johann Segebarth. Ein Beitrag zur pommersdien Literaturgeschichte. Dresden 1938: Dittert. 114 S. 6.1. 1938 — 18. 3.1938 Hans Rolof f : Heinrich Bandlow. Ein Beitrag zur Erforschung der pommerschen Heimatdichtung. Dresden 1938: Dittert. 119 S. 26. 6.1937 — 16. 6.1938 Kurt Witte: Kunstwollen und Kunstforderung Friedrich Kayßlers mit besonderer Berücksichtigung seiner Theorie der Schauspielkunst und deren historischer Vorstufen. Greifswald 1940: Panzig. 128 S. 28. 10.1939 — 1.11.1939 Rudi Bock: Das Verhältnis von Dichtung und Datentreue Kolberg 1940: Post. 114 S.
in den historischen Dramen Grabbes. 26.7.1939 — 22.6.1940
Joachim Krueger: Wandlungen des Tragischen, nachgewiesen am Orestes-Problem. (Ausschnitt aus der literarhistorischen Entwicklung.) 299 gez. Bl. [Masch.] 22. 12. 1953 — 8. 1. 1954 Walter Feustel: Nationaltheater und Musterbühne von Lessing bis Laube. Zur Entwicklung und Wertung der deutschen Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. III, 164 gez. Bl. [Masch.] 6.11.1954 — 27.11.1954 [Autoreferat in: Wiss. Zschr. d. E. M. Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachw. R. 4 (1954/55), 415—416.]
Gustav Erdmann: Gerhart Hauptmann. Erlebte Welt und gestaltetes Werk. 200 gez. Bl. [Masch.] 24.7.1957 — 24.7.1957 [Autoreferat mit Ergänzungen und Nachträgen in: Wiss. Zschr. d. E. M. Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachw. R. 7 (1957/58), 238—241.]
Marlies Kegel-Vogel: Der Erziehungsoptimismus in der deutschen Aufklärung. Nachgewiesen an Johann Christoph Gottsched und Johann Elias Schlegel. V, 232 gez. Bl. [Masch.] 24. 7. 1957 — 24. 7.1957
XVI
Der Wissenschaftler
Bruno
Markwardt
Helmut Praschek: Das Verhältnis von Kunsttheorie und Kunstschaffen naturalistischen Dramatik. 176 gez. Bl. [Masch.]
im
Bereich der deutschen 27. 7.1957 — 27. 7.1957
[Autoreferat in: Wiss. Zschr. d. E. M. Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachw. R. 7 (1957/58, 235—236.]
Hans-Joachim Bunge: Antigonemodell 1948 von Bertolt Brecht und Caspar Neher. Zur Praxis und Theorie des epischen (dialektischen) Theaters Bertolt Brechts. 175 gez. Bl. und IV, 60 gez. Bl. [Masch.] 15.11.1957 — 15.11.1957 [Autoreferat in: Wiss. Zschr. d. E. M. Arndt-Universität Greifswald, Ges.- u. sprachw. R. 7 (1957/58), 236—238.]
Alfons Eichstaedt: Formulierte Poetik in geniezeitgemäßen 178 gez. Bl. [Masch.]
epischen
und dramatischen Dichtungswerken. 15.11.1957 — 22.11.1957
H e r b e r t Ewe : Die Flurnamen von Rügen und ihre geographische Bedeutung für die Insel. 217, 198 gez. Bl. [Masch.] und Kartenband (20 Karten) 4 ). 24. 11. 1959 — 2. 12. 1959 4 ) Angenommen von der Mathematisch-Naturwissensdiaftlichen Fakultät der Universität Greifswald; Referent: Prof. Dr. Th. Hurtig (Geographie), Korreferent: Prof. Dr. B. Markwardt (Deutsche Philologie).
WORTE U N D WERTE
A BRUNO
MARKWARDT
et à tous ceux qui, dans les remous de l'histoire et de la politique, veulent sauver les valeurs humaines
Le coeur des épis Et l'or des semences Gardent la présence Des dieux assoupis. Le feu dans la chambre Et le bruit du vent Sous le ciel mouvant Des soirs de septembre. Givre dans les prés Glaçons des marais Ambre des feuillages Qu'importe? — messages Des hivers mauvais... Patient, têtu Le germe demeure. La force qui tue S'ignore, — et la terre Au creux de ses plaines Au coeur de ses nuits Réchauffe la graine Espère le fruit; L'animal lui-même n'a faim que de vivre L'homme seul s'enivre A ce qui détruit. Maurice Boucher
PROBLEME DER VERDECKTEN LITERATUREN UND DES SPRACHTAUSCHES * Ernst Alker
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Fribourg
Die Einteilung der Literaturen nach sprachlichen Gesichtspunkten ist zweckmäßig; ein leicht überschaubares, evidentes und klares Kriterium für die Gliederung gewaltiger Konglomerate bietet sich dar, wobei die schicksalhafte Bindung wenigstens der Dichtung (der höchsten Form der Literatur) an die Sprache Ausdruck findet. Dennoch ist unleugbar, daß diese an sich den Verhältnissen adäquate Aufteilung nicht wenige Fälle umschließt, wo die schematische Handhabung des entscheidenden Prinzips Sachverhalte verdunkelt, Probleme verunklart und zu wirklichkeitsfremden Konstruktionen führt. Dies bedingt eine Reihe von Ubelständen, welche der literaturwissenschaftlichen Forschung — nicht zuletzt der Komparatistik — abträglich sind: Teile der literarischen Leistungen fast aller (insonderheit kleiner) Völker bleiben verborgen und finden deshalb keine Beachtung in dem ihnen angemessenen Zusammenhang. Es sind dies verdeckte Teile eines Schrifttums, d. h. jene Werke, die nicht in dei Muttersprache abgefaßt sind, die ein fremdes — lebendes — Idiom in Anspruch nehmen. D a ß gerechte Berücksichtigung solchen verdeckten Schrifttums wünschenswert und voraussichtlich erreichbar ist, wollen die folgenden Seiten dartun, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der friesischen Literatur (die allerdings erst am Ende der Abhandlung in die Zusammenhänge expressis verbis eingegliedert werden kann). Einige dem K o m p l e x der deutschen Literatur entnommene Hinweise mögen zuvörderst das soeben Gesagte verdeutlichen. I n der älteren deutschen Literatur liegt der gewaltige Block der neulateinischen Literatur des Mittelalters, der Renaissance, des Barock und der Folgezeit eingebettet. Ihn auf Grund des nur-sprachlichen Kriteriums aus dem Verband des deutschen Schrifttums herauszuheben, wäre unzweckmäßig: die einschlägige Produktion stammt von Angehörigen des deutschen Volkes und hat für die Entstehung gewisser Gipfelleistungen der deutschen Dichtung Bedeutung gehabt; namentlich hätte sich ohne das neulateinische Humanistendrama des 16. Jahrhunderts die D r a m a t i k der Hochklassik nicht entwickeln können. Auch in Einzelfällen kann sich das Phänomen manifestieren, daß Muttersprache und Literatursprache in Werken nicht identisch sind, deren nationale Herkunft durch*•) Eine erste, kürzere Fassung dieses Aufsatzes ist unter dem Titel Die Bedeutung der friesischen Literatur für die Literaturwissenschaft in Frysk Jierhoek, Jierboek 19 i 8 fan de Fryske Akademy (Drachten 1958) erschienen. 1 Markwardt-Festschrift
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aus a u g e n f ä l l i g ist. Es gibt Dichter u n d Schriftsteller, die sich f r e i w i l l i g einer a n d e r e n als der Muttersprache b e d i e n t haben. A l l g e m e i n b e k a n n t ist, d a ß R a i n e r M a r i a R i l k e in seiner S p ä t l y r i k sich b e m ü h t hat, m i t H i l f e des Französischen neue A u s s a g e m i t t e l für das z u g e w i n n e n , w a s ihn b e w e g t e . D e r I m p u l s d a z u ging v o n einer besonderen seelischen S i t u a t i o n aus, welche neue F o r d e r u n g e n a n das reifende
Sprachkunstwerk
stellte. Einer der besten K e n n e r Rilkes, W e r n e r Günther, hat in seinem Buch innenraum.
Die
Dichtung
Rainer
Maria
Rilkes
(2. A u f l a g e ,
1952)
sehr
Welt-
Erhellendes
über das P h ä n o m e n gesagt: Das aus ,traumgekrönter' Versunkenheit ebenfalls wieder erwachende Sinngelockerte, Spielerische, ,Weibliche' seiner Natur vertraut er in diesen Jahren — auch von den Schwierigkeiten der Fremdsprache dazu verleitet — seinen französischen Gedichten an. In ihnen spiegelt sich gewissermaßen der (dem Gehalt nach) ¡späte' im (der Form nach) ,ersten' und ,frühen' Rilke. Sie sind rankes Laubgewind um ein gigantisches, wenn auch fragmentarisches Säulenwerk, ein Liebkosen der dichterischen H a u p t s c h ö p f u n g durch den fremden Sprachzauber. Nachdem das .Gedicht' (Elegien, Sonette) gelungen, gibt sich der Dichter in .Nebenstunden' einer wohltuenden, die hohen Geister des Orpheus-Sturmes gleichsam beschwichtigenden Entspannung hin: genau so hatte er nach der ersten H e i m suchung durch den ,Gott' des Stundenbuches (1899) in den Geschichten vom lieben Gott die Spannung in heitere Gelöstheit g e w a n d e l t . . . Die französischen Gedichte enthalten zugleich den bewegten D a n k an die Landschaft des Wallis, die ihm so viel gewährt — nur die spanische w a r ihm, dem eigentlich N a t u r f r e m d e n , näher getreten. Vornehmlich um die Motive ,verger' («o privilege d'une lyre / de pouvoir te nommer simplement»), Rose, Fenster, Walliser Landschaft kreisend, wagen sie sprachlich sehr viel, fast zu viel; denn wenn Rilke einerseits, trotz gelegentlichen .Fehlern', erstaunlich tief in den französischen Sprachgeist eingedrungen ist, so mutet er diesem anderseits nicht selten deutsch gefühlte Kühnheiten zu. Seine französischen Verse haben denn auch wohl inhaltlich, nicht aber f o r m a l gewirkt, w ä h r e n d d e m seine deutsche Form einen ungeheuren Einfluß ausgeübt hat und noch ausübt. M a n sollte also diese Gedichte nicht, wie es jetzt — besonders von Seiten deutscher Kritiker — geschieht, «Verschätzen . . . U n d dennoch sind diese Gedichte köstliches Rilkegut, das man nicht missen möchte: nicht nur als D a n k ans gastliche Wallis, als D a n k an die Sprache, in der er jahrelang gelebt, an die Dichter, die er verehrt, an die Künstler, die er um ihr Geheimnis befragt, an die Kultur, die er bewundert, sondern auch als Ausdruck einer Seite seines Wesens, die sich längst nicht mehr hervorgewagt hatte, überwältigt, wie er jahrelang war, von ,immer Größerem'. U n d in den besten dieser Gedichte ist der Ton unverwechselbar, nur ihm gehörig: dort w o er in schlichter Innigkeit, seine besondere Problematik hintansetzend und sich neuen spontanen Bildern überlassend, das .geliehene' W o r t zum eigenen w a n d e l t . . . V o m französischen M e r i d i a n her h a t J.-F. A n g e l l o z , m i t der deutschen D i c h t u n g ebenso vertraut w i e m i t der seiner H e i m a t , in Hinsicht des Sprachtausches Beachtenswertes i n der M o n o g r a p h i e Rainer
Maria
Rilke.
Leben
und
Werk
(deutsche A u s g a b e
1953) ausgesagt: Bis 1922 war Rilke Seher; dank einer Intuition, die er nicht immer meisterte, erfaßte er, was dem Auge entgeht; er faßte es im wörtlichen Sinne und stellte es vor die Menschen hin. Einst hatte er auf ähnliche Weise Gott fassen wollen; jetzt schrieb er darüber am 22. Februar 1923: ,Das Faßliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug'... Er verzichtete auf das Besitzen-Wollen; er verzichtete darauf, der Seher-Dichter zu sein, der sich seines Gegenstandes bemächtigt; er trat ein in das, was ,die Welt der Bezüge' genannt worden ist; er wurde ein sehr viel rationalerer Geist, der über sich, sein Werk, seine Kunst nachdachte, der einer logischen Reflexion
Probleme
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unterwarf, was bisher unbewußtes Schaffen gewesen war; man könnte sagen, Apoll habe in ihm Dionysos abgelöst. — Bei diesem Bemühen um klares Denken wandte sich Rilke Frankreich zu ... I n den meisten Fällen erweist sich Sprachwechsel als Konsequenz äußerer G e gebenheiten politischer oder soziologischer Art, die zur Emigration veranlassen. A b gesehen v o n dem besonders gelagerten Problem Charles Sealsfield w ä r e n hier A u t o r e n z u nennen, welche der Ausbruch des D r i t t e n Reiches z u m Verlassen des heimatlichen Sprachraums g e z w u n g e n hat. I w a n und Ciaire Göll, A n n e t t e K o l b u n d R e n é Schickele v o l l z o g e n damals eine Morphose z u m Französischen (das für diese A u t o r e n bereits früher z w e i t e Muttersprache — dodi keineswegs primäres A u s s a g e - I d i o m — gewesen war). E t w a s anders beschaffen ist die Sachlage bei Erzählern, deren Übergang z u m Englischen nicht durch an sich v o r h a n d e n e Voraussetzungen erleichtert w u r d e : Stefan H e y m , Ernst Erich N o t h , H a n s N a t o n e k , Klaus M a n n und Robert N e u m a n n haben ihre Zugehörigkeit z u m deutschen Sprachverband aufgegeben. U b e r die stilistischen — und nicht nur stilistischen — Schwierigkeiten, welche sich daraus ergeben, orientieren dokumentarische Äußerungen, welche F. C. Weiskopf in seinem Buch Unter fremden Himmeln (1948) gesammelt hat. Aus H a n s N a t o n e k s Autobiographie In Search of Myself w i r d — übersetzt — f o l g e n d e Stelle angeführt: Ich liehe meine Muttersprache, allein ich erkenne mit Trauer, daß sie — getrennt von dem Mutterboden, worin ihre Wurzeln haften — verdorren muß. Sie kann nicht künstlich erhalten werden. Die Muttersprache wächst nicht und blüht nicht unter einem fremden Himmel. Sie ist bestenfalls nur mehr eine Erinnerung, die man bei Gelegenheit heraufbeschwört, um eine Freundschaft oder ein vergangenes Leben zurückzurufen. Robert N e u m a n n sagt — das Zitat w i r d verdeutscht mitgeteilt — in seinem R o m a n Scene in Passing über die sich aus d e m Sprachwechsel ergebenden P h ä n o m e n e : Durch die Aufgabe seiner Muttersprache wollte der Autor gegen die Taten anderer protestieren, die sich seiner Muttersprache bedienten. Auch hatten jene andere seine Bächer gebannt und verbrannt. Es sei — so dachte er damals — eine Sache der Würde, diese Sprache aufzugeben und die Sprache des Landes anzunehmen, das ihm Freiheit und Gastfreundschaft geboten hatte. Zudem hoffte der Exilierte, auf solche Weise dem Fluch des Anders-Seins zu entgehen, Brücken über den Abgrund der Einsamkeit schlagen zu können. — Er scheiterte und er irrte in mancher Hinsicht. Und es scheint ihm von einiger Bedeutung zu sein, daß die erste Fassung dieses dünnen Romans — zu dessen Niederschrift dreißig Monate vonnöten waren — zum Teil in britischen Internierungslagern geschrieben und vernichtet und verloren wurde. Auch gelang es ihm nicht, das Anders-Sein zu bannen. Und jene Brücken über den Abgrund wurden nie gebaut. — Es gab dafür Entschädigungen. In seiner eigenen Sprache hatte der Autor einen Zustand müheloser Perfektion erreicht. Er hatte die Keuschheit der Sprache überwunden; es gab keinen Widerstand mehr... — Er ging ins Exil. Sein Lohn war harte Arbeit: er mußte sich zu jedem Wort hintasten, er hatte um jeden Rhythmus zu kämpfen, er verzweifelte bei jedem Gleichnis, jedem Bild. Er wurde, ein Mann in den Vierzigern, noch einmal zum hilflosen Anfänger. Sein Lohn waren Stunden der Hoffnungslosigkeit und Sekunden des Frohlockens. Alles in allem genommen war sein Lohn groß . . . Der
Sehr pessimistisch klingt das Geständnis, welches Klaus M a n n in der Betrachtung Dichter und die Sprache ablegt: Seit 1939 schreibe ich kaum mehr deutsch; dieser Artikel ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Wer mir vor zwölf Jahren gesagt hätte, daß ich einmal der Muttersprache untreu werden würde, dem wäre ich wohl auf gut deutsch über den Mund
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gefahren. Aber vor zwölf oder fünfzehn Jahren hätte man ja manches nicht für möglich gehalten, was sich inzwischen doch ereignet hat. Unsereinem war es auch nicht an der Wiege gesungen worden, daß man einmal als amerikanischer Soldat in Reih und Glied marschieren würde, und doch fand man sich darein, nach anfänglichem Erstaunen. Man gewöhnt sich an beinahe alles. Die sprachliche Umgewöhnung ist allerdings die schwierigste. Je tiefer man ins Englische eindringt, desto klarer wird man sich der eigenen Unzulänglichkeit . . . Eben jetzt bin ich dabei, ein Buch, das ich zuerst englisch geschrieben habe, ins Deutsche zu übertragen — ein höchst irritierendes und heikles Unternehmen . . . Wird es darauf hinauslaufen, daß man das Deutsche verlernt, ohne das Englische jemals wirklich zu beherrschen? Solchen Befürchtungen gibt man sieb manchmal hin. Vielleicht war es ein schwerer Fehler, sich mit einer fremden Zunge einzulassen? Die deutsche Sprache konnte ihrerseits gelegentlich Trägerin von Literaturbemühungen nicht-deutscher Herkunft sein. Unberücksichtigt dabei bleiben alle Fälle, wo das Deutsche nur als ein allgemein bekanntes Verständigungsmittel verwendet worden ist (so in wissenschaftlichen Werken, die aus irgendwelchen peripheren Gründen nicht in der Nationalsprache des jeweiligen Autors veröffentlicht wurden). Für unsere Betrachtung kommen lediglich Schriftsteller in Frage, bei denen das Deutsche in dem Maß stellvertretend für die Muttersprache geworden ist, daß sich im fremden Idiom das Wortkunstwerk entfaltet oder entfalten möchte. Als bekanntester Vergegenwärtiger dieses Phänomens kann Adelbert von Charnisso gelten (der übrigens die Erinnerungen an seine französische Sprachheimat keineswegs stets überwunden hat). Die allgemeine kulturelle Situation der Habsburger Monarchie vor und während der Zeit des Vormärz bewirkte, daß manche Vertreter der geistigen Oberschicht der in dieser Symbiose lebenden Nationen (man nannte sie etwas tendenziös: subgermanische Völker) einen Sprachwechsel vollzogen haben, der sich bis in ästhetisch wertbare Anstrengungen erstreckte. Diese Sachlage wird — um einige Beispiele zu nennen — belegt durch die im Jahre 1851 erschienenen Gedichte des als Feldherr bekannten Grafen Joseph Jellacic de Buzim (eines Kroaten), die 1812 publizierte Lyrik des Ungarn Georg von Gaal und die 1824 veröffentlichten Gedichte seines Landsmanns Graf Johann Majläth. Auch in späteren Zeiten kam im österreichischen Raum Sprachtausch vor. Die Sprache der Kindheit mußte nicht identisch sein mit der linguistischen Diktion der gereiften Persönlichkeit. Im Gegensatz zu dem in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sowie im zwanzigsten Säkulum sehr intensivierten nationalen Empfinden haben wenigstens zwei Autoren, die herkunftsmäßig dem tschechischen Sprachbereich angehören, unter dem Einfluß der fortdauernd übernationalen Atmosphäre der Donaumonarchie noch in den letzten Jahrzehnten ihrer Existenz, ohne erkennbare innere Hemmungen einer totalen sprachlichen Metamorphose sich unterzogen. Es sind dies die Baronin Marie von Ebner-Eschenbach (eine geborene Gräfin Dubsky) sowie der vor kurzem verstorbene Robert Michel, eine der ansehnlichsten Gestalten der nun verschwindenden spezifisch groß-österreichischen Dichtung. (Sprachwechsel im altösterreidiischen Raum hat übrigens nicht nur das Quantum der deutschösterreichischen Literatur vermehrt, sondern kam gelegentlich auch anderen Schrifttümern zugute, vor allem der ungarischen Literatur, die wenigstens im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs eine ausschließlich magyarische Leistung gewesen sein dürfte.) Das gruppenmäßig und bei Einzelpersönlichkeiten sich geltend machende Phänomen fehlender Übereinstimmung von Muttersprache und Sprache der literarischen Pro-
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duktion manifestierte sich nicht nur im deutschen und österreichischen Raum. Abgesehen von der allgemein bekannten Tatsache der nicht selten flämischen Herkunft der französischsprachigen Literatur Belgiens, ist u. a. festzustellen, daß beträchtliche Quantitäten irischer, gälischer und kymrischer Dichtung in englisches Sprachkleid gehüllt, bretonische Literaturdenkmäler nur in französischem Gewand überliefert sind, der Beitrag der Basken zum Gesamt der spanischsprachigen Literatur ansehnlich war und ist; ferner, die Stimme der Rätoromanen hat sich oft des nicht-romontschen Wortes bedient. Ausgesprochene Individualfälle bieten dar z. B. Joseph Conrad (der Prosaepiker der englischen Seefahrt, dessen Kindheitssprache das Polnische war), Gunnar Gunnarsson (der erst nach einer gut dreißig Jahre umfassenden Tätigkeit als dänischer Erzähler zur isländischen Sprachheimat seiner Anfänge zurückkehrte) sowie der von den Faröern kommende Jörgen-Frantz Jacobsen (dessen Roman „Barbara" über den Weg der dänisch geschriebenen Originalfassung weltweite Wirkung erzielte). Nicht nur ein Problem, einen Problemkomplex stellt das dar, was man als jüdische Literatur bezeichnen muß. In ihrer Totalität (d. h. als Gesamt der von Autoren jüdischer Herkunft stammenden Werke) verteilt sie sich auf nicht weniger als drei sprachliche Bereiche: das Hebräische, das Jiddische und den Sektor der Idiome der Gastvölker (innerhalb dessen der deutschsprachige Anteil der bedeutendste sein dürfte). Die an sich großen Schwierigkeiten der Literaturwissenschaft in Hinsicht einer zweckmäßigen Stellungnahme zur weiten Streuung des jüdischen Schrifttums werden vermehrt durch die Affekte, mit denen dieser Problemkomplex belastet ist. Schon der Hinweis auf ihn kann ein Anfassen glühender Eisen sein, verbunden mit dem Risiko, bei Philosemiten, Antisemiten und sogar bei jenen, die weder das eine oder andere sind, Ärgernis zu erregen. Wie kompliziert die Sachlage ist, erhellt eine Betrachtung der Konsequenzen, die sich aus den üblichen Meinungen über die Zugehörigkeitsverhältnisse der jüdischen Literatur ergeben. Gemäß dieser Tradition, Ausdruck des betont humanistischen Weltbildes, bejaht von den sogenannten Assimilanten, also einem großen Teil des liberalen Judentums, gliedert sich die ganze einschlägige Produktion ohne alle Vorbehalte in die Nationalsprachen ein, in der sie verfaßt wurde. Eine solche Sicht bewirkt unvermeidlicherweise inkonsequente Entscheidungen. Vom betont linguistischen Standpunkt aus müßte das in Jiddisch abgefaßte Schrifttum dem deutschen Bereich zugehören, da das Jiddische eine teilweise sehr archaische Elemente bewahrende Nebensprache des Deutschen ist. Gegen eine derartige Auffassung kann eingewendet werden, daß f ü r die Majorität der mit dem Deutschen vertrauten Menschen das Jiddische unverständlich ist; nicht einmal der sprachhistorisch geschulte Germanist kann sich ohne besondere Spezialstudien an die Deutung eines jiddischen Textes heranwagen. Daher wird die in jiddischer Sprache verfaßte Literatur — deren Bedeutung f ü r das neuere deutsche Schrifttum nicht gering war — meistens als eine Spielform der hebräischen Literatur angesehen. Offenkundig ergibt sich hier ein Widerspruch zwischen dem entscheidenden Einteilungsprinzip und seiner praktischen H a n d habung.
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Die Vergegenwärtiger des betont nationalistischen Judentums, die Zionisten, deren letzthinniges Ziel die Rückgewinnung der jüdischen Volkheit und die Heimkehr zur nationalen Einheitssprache (dem Hebräischen) ist, stehen begreiflicherweise einer derartigen Aufteilung der gesamtjüdischen literarischen Produktion ablehnend gegenüber. Entsprechend der zionistischen Ideologie ist die geistige Leistung des Judentums nur dann überschaubar, wenn über den hebräischen und — gegebenenfalls — den jiddischen Sektor hinaus die Totalität der gesamtjüdischen Literatur anerkannt wird. Wenigstens in dieser Hinsicht ist die zionistische Ideologie des Beifalls der radikalsten Antisemiten aller Nationen sicher, die in den jüdischen Beiträgen zu den einzelnen Nationalliteraturen negativ zu bewertende Fremdkörper erblicken. In den ersten Jahren nach der Machtergreifung hat bezeichnenderweise der Nationalsozialismus — zu einer Zeit, da Judenvernichtung noch nicht zu seinem offiziellen Programm gehörte und mit Rücksicht auf die Weltmeinung Exzesse des Fanatismus verborgen blieben — den Versuch gemacht, die deutschsprachige Produktion politisch nicht anstößiger jüdischer Autoren in ad hoc gegründeten oder wenigstens in diesem Sinn ausgestalteten Verlagen zu sammeln. Die feststellbare Reaktion der jüdischen Autoren deutscher Sprachzugehörigkeit gegenüber den Postulaten des Zionismus und den Verfolgungen nationalsozialistischer Art war nicht einheitlich. Neben dem trotz allem betonten Bekenntnis zur deutschen Sprache (die nicht wenige Emigranten mehr geliebt und besser gehandhabt haben als die Vergegenwärtiger antisemitischen Teutonentums) stehen Absagen, die radikalen Übergang zu einer anderen Sprachgemeinschaft — doch kaum je ins Hebräische oder Jiddische — fordern. Berthold Viertel hat in berühmt gewordenen Versen dieses besondere Problem der Emigration zum Wortkunstwerk verdichtet: Deutsch zu sprechen hast du dir verboten, Wie du sagst: aus Zorn und tiefer Scham. Doch wie sprichst du nun zu deinen Toten, Deren keiner mit herüber kam? Zu Genossen, die für dich gelitten, Denn statt deiner wurden sie gefaßt. Wie willst du sie um Verzeihung bitten, Wenn du ihren Wortschatz nicht mehr hast? Jene Ruchlosen wird es nicht schrecken, Wenn du mit der Muttersprache brichst, Ihre Pläne weiter auszuhecken, Ob du auch das reinste Englisch sprichst. Wie das Kind, das mit der Mutter greinte, Und, indem es nicht zu Abend aß, Sich zu rächen, sie zu strafen meinte: Solch ein kindisch armer Trotz ist das.
Anderseits kann sich die Aufgabe der früher vertretenen Wünschbarkeit der Assimilation verbinden mit entschiedenem Festhalten an der deutschen Sprache. Else LaskerSchüler und Karl Wolfskehl (zwei bedeutende Persönlichkeiten der modernen deutschen Literatur) haben f ü r ihren Teil doppelte Loyalität zu wahren gesucht, f ü r sidi eine Lösung gefunden, die nicht nur zeitbedingt war, sondern auch die merkwürdige Bipolarität des sich manifestierenden literaturwissenschaftlichen Sonderproblems erkennen läßt,
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Obwohl die gelegentlich sich bemerkbar machende Inkonsequenz in der Aufteilung der Literaturen am Beispiel des jüdischen Schrifttums besonders evident wird, wäre es nicht ratsam, mit einem Revisionsversuch an der interessantesten, aber heikelsten und schwierigsten Stelle des Problems zu beginnen. Auch wenn die Bemühung an einem weniger allergischen Punkt ansetzt, können verletzte nationale Eitelkeiten sachlich unberechtigte Widerstände aktivieren: nicht immer werden die in Betracht kommenden Literaturen bereitwillig etwas von ihrem als gesichert angesehenen Bestand an eine andere abtreten wollen — die Entgegennahme von Zuwächsen allerdings dürfte sich ohne Hemmungen vollziehen. Das Ethos einer über nationalistische Sympathien und Antipathien sich erhebenden wissenschaftlichen Anstrengung, für welche der Gewinn besserer Einsicht und klarerer Systematik primäre Intention bedeutet, wird indes sehr bedroht durch die T a t sache, daß es vorläufig zwar eine vielleicht zu billigende Zielsetzung, aber keine sichere Methode für die notwendigen Klärungen gibt. Ferner ist nicht in Abrede zu stellen, daß bei derartigen Bemühungen die Gefahr eines von nationalistischen Sentiments und Ressentiments getragenen Enthusiasmus in Erscheinung tritt, dessen Dynamik über die Möglichkeiten des Erreichbaren hinausgreift. Wenn der Boden der evidenten Tatsache (die Sprache, in welcher sich eine Gruppe oder Einzelpersönlichkeit vernehmlich macht) verlassen wird, bietet die Biographik sowie die Familiengeschichte zunächst gewisse Sicherungen. Diese reichen nur selten aus zur vollen Rechtfertigung des Versuches, ob eine anderweitige Einordnung eines Literaturteiles als die bisher übliche in Betracht kommen kann. Letztlich maßgebend ist dabei die zu schaffende Voraussetzung für das Erlauschen jenes besonderen Tonfalls, in dem sich ein bestimmtes nationales Lebensgefühl kundgibt. Nur ein Buch gibt es, welches den Mut hatte, ein verwandtes, doch etwas anders gelagertes Problem aufzugreifen: Tosef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912—1928), das sich leider nachmals durch die im Dritten Reich erschienene Fassung politisch und dadurch auch sachlich diffamiert hat. Deshalb sollte aber nicht die in dem genannten Werk vertretene Ideologie und Theorie radikal verworfen werden, die manchmal (obschon nicht stets in voller Übereinstimmung mit der angewendeten Methode) erhellende Einsichten bewirkt und die Bewunderung einer Persönlichkeit wie der Huoo von Hofmannsthals gefunden hat. Nadlers prinzipieller Fehler ist die übergroße Weiträumigkeit seines Unternehmens. (Das Gesamt der deutschen Literatur erweist sich, besonders bei intensiver Beachtung der Obskuren, als so umfangreich, daß weder die Arbeitskraft noch die Lebenszeit eines Individuums für eine echte Durchdringung des Materials ausreicht.) Der zweite — noch bedenklichere — Mangel der Nadlerschen Ideologie liegt in der zu komplizierten Fragestellung. Beträchtlich beschwerlicher als die Auffindung der Kriterien der Nationalcharaktere — ob solche existieren, ist umstritten — gestaltet sich ein Versuch der Fixierung von Stammescharakteren, die sich begreiflicherweise oft als diffuse Phänomene manifestieren. Die Konsequenz solcher Überforderung bei exakt nicht immer zu bewältigenden Arbeitsaufgaben resultierte in der bekannten Gewaltsamkeit des Nadlerschen Verfahrens: die Fülle der zu beobachtenden Geräusche bewirkte eine Abschwächung der Feinhörigkeit für die Äußerungen des stammhaften Lebensrhythmus. Es soll an dieser Stelle
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keine Auseinandersetzung mit den Verdiensten und Fehlleistungen des Nadlerschen Unternehmens versucht werden, nur das sei gesagt: das Buch gibt auf jeden Fall beachtliche Hinweise, nicht zuletzt durch seine evidenten Willkürlichkeiten und Mißgriffe; insonderheit bedeutet die Tendenz zu einer unkontrollierbaren Stammesmystik und nebulosen Stammesmythologie ein Warnungszeichen für die Forschung. Daß diese Tendenz zu einer Gutheißung des imperialistischen Surrogat-Mythos des Dritten Reiches und seines zentralistisch gerichteten — also stammesfeindlidien — „Führers" absackte, ist ein Symptom für die Fragwürdigkeit einer Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Doch sie hat aufrüttelnd gewirkt, neue Perspektiven eröffnet und derart vorher unbekannte Forschungsmöglichkeiten erschlossen. Einiger Mut ist notwendig für die Erforschung der verdeckten Regionen der europäischen Literaturen und für die Erörterung der Frage, wie es sich mit der Zugehörigkeit des Latenten verhält. Nur eine von ständiger Selbstkritik kontrollierte Untersuchung ist berechtigt und bietet Aussichten auf Ergebnisse. Daher wären in methodischer Beziehung zwei Gesichtspunkte zu beachten: erstens soll der unmittelbare Gegenstand der Bemühung in quantitativer und räumlicher Hinsicht nicht zu weit gestredet sein; zweitens darf das Thema nicht von einer zu engen Begrenzung bedroht sein, welche die Erarbeitung prinzipieller Einsichten erschwert oder verunmöglicht. Diese Einsichten zu gewinnen, ist ein Desideratum der Literaturwissenschaft, der dann — abgesehen von der Modifizierung der üblichen, nur sprachlich orientierten Einteilung der Schrifttümer — eine neue Aussicht auf Durchdringung der abendländischen Kulturverflechtung geboten wird. Bedeutsam könnte — neben der sich etwa anbahnenden besseren Einsicht in das Wesen der Nationalcharaktere — ferner die Klärung mancher Spezialprobleme werden: ergeben sich Synthesen oder Symmixen der latenten Literatur und des Schrifttums, von deren Sprache das Verdeckte umschlossen wird? Hat die Dialektliteratur namentlich dort, wo an die Stelle zweier Sprachen das mundartliche Gemengsei zweier Idiome tritt, irgendwelche vereinigende oder ausgleichende Effekte? Es will scheinen, daß im europäischen Umkreis die friesische Literatur mehr als iede andere relativ günstige Voraussetzungen für einen Versuch bietet. Infolge eines besonderen historischen Schicksals war es der eine deutlich erkennbare Volkheit bildenden, die Nordseeküste von der Yselmündung bis ins dänische Gebiet geschlossen besiedelnden friesischen Nation verwehrt, eine Literatur zu entwickeln, deren Volumen im wesentlichen identisch ist mit den Aufzeichnungen in der Muttersprache. Nicht wenige friesische Schrifttumsdenkmäler sind in der niederländischen, deutschen und dänischen Literatur verkapselt. Dies ist Konsequenz einerseits der Tatsache, daß eine kleine Sprache, deren Raumerstreckung und Anwendungsfrequenz durch schwere Einbußen reduziert worden ist, nur geringe Möglichkeiten für Äußerungen bot, die einer größeren Öffentlichkeit (sei es in den Niederlanden, in Deutschland oder Dänemark) zugänglich werden sollten, Folge anderseits des Faktums, daß keineswegs alle Friesen — ausgesetzt dem Kultursog größerer Sprachgemeinschaften — Sprachfriesen sind. Den eoochalen friesischen Leistungen für die Entwicklung der materiellen Kultur auf den Gebieten der Schiffahrt, des Handels und des Deichbaus (Dens mare, Friso litora fecit) könnten Hervorbringungen kultureller Art entsprechen, von denen nur der kleinere Teil sichtbar und bewußt geworden ist.
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Es will ferner scheinen, daß bei der Untersuchung der verdeckten Literatur jenseits der auf positivistische Weise erreichbaren Klärungen biographischer und familiengeschichtlicher Art das wichtige, doch vorläufig noch metawissenschaftliche Mittel der Erlauschung von Tonfällen friesischer Herkunft, die eine fremde Sprache in Anspruch nehmen, unter einigermaßen zureichenden Kontrollvoraussetzungen anwendbar ist. Wenigstens in einem Fall dürfte das Phänomen offenkundig friesischer Dichtung in nicht-friesischer Sprache einigermaßen evident sein. Das Gesamtwerk von Theodor Storm, insonderheit aber seine Lyrik, bietet den Beleg. Y p e Poortinga hat in seinem aufschlußreichen Aufsatz Die westfriesische ,schöne' Literatur nach dem Kriege (Friesisches Jahrbuch 1955) eine dezidierte Äußerung Borchlings angeführt: Alle tausend Jahre einmal nur ersteht der friesische Mann, der das friesische Herz auch zum Sprechen bringen kann, dann aber ist diese friesische Poesie kostbar wie der edelste Trank, es ist das Herzblut des Dichters. Solch eine Poesie steckt in den drei Nöten, so und nicht geringer ist Theodor Storms Lyrik zu werten. Ich selbst habe, ohne daß sich Widerspruch geltend gemacht hätte, in meiner Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart ( 1 9 4 9 / 5 0 ) folgende Auffassung zum Ausdruck gebracht: Storms Lyrik durchzieht eine vom sonstigen Tonfall abweichende Melodie, die ihr intensive Eigenart und einen starken Reiz verleiht. Um sie bemühten sich ergebnislos unzählige Nachahmerinnen. Abgesehen von dem einmalig Individuellen der Begabung Storms erklärt sich dieser Sonderzug durch seine Herkunft vom friesischen Volksstamm ... Die Dichtung der Friesen ist auf Grund der schon sehr früh erfolgten politischen Aufteilung des Stammesgebietes — Folge des fast hemmungslosen Individualismus dieses Volks (das doch kollektiv seine Deiche baute und unterhielt) — in viel höherem Maß in niederländischer, hoch- und plattdeutscher sowie dänischer Sprache zum Ausdruck gekommen als im heimischen (absterbenden) Idiom, was gewiß auch von innen her eine Hemmung für eine an sich nicht große Äußerungsfreudigkeit bedeutete. Storm ist seinem ganzen Wesen nach Friese — allein im Gesichtsausdruck macht sich die Stammeszugehörigkeit unverkennbar geltend. Und seine Lyrik wird von allen Kriterien friesisch-nordischer Seelenlage bestimmt: starre Gebundenheit bei niedergehaltener innerer Glut, fast prüde Keuschheit bei leidenschaftlich sinnlichem Verlangen, nie ermattende Liebe zur Heimat und Jugend und der sie umgebenden Landschaft, Verschmelzung von verstandesmäßiger Klarheit, )a Kühle mit der Neigung zum Grübeln über die dunklen, der Vernunft entzogenen Hintergründe der Welt und des Lebens. Diese bezeichnenden Eigenschaften eines sehr persönlichkeitsbewußten, die Unabhängigkeit liebenden Bauern- und Seefahrertums werden modifiziert durch ein Patriziertum, das bereits einen leicht dänischen (jütischen) Akzent hat und das den Lebensstil des Dichters formte. Von dort stammen die betörende Musikalität seiner Sprache, der Sinn für den Rhythmus und die genießerische Erotik. Die Grundmelodie seiner Kunst wird durch das friesische Blut, ihre Obertöne durch die patrizische Seelenlage des dänischen (im Grenzgebiet oft deutschsprachigen und nicht immer dänenfreundlichen) Bürgertums bestimmt. — Wäre es vollkommen undenkbar, daß ähnlich gelagerte Fälle wie der Theodor Storms mit einiger Sicherheit aus der Yerkapselung herausgeholt werden könnten? Es handelt sich um einen ersten Versuch, der das Risiko des Mißlingens oder einer negativ gearteten Feststellung unvermeidlicherweise in sich trägt. Zwecks Vermeidung unbeweisbarer Konstruktionen bedarf es nachdrücklicher Hinweise auf die Schwierigkeiten innerer Art, die sich im Verlauf der Arbeit einstellen werden. Die Notwendigkeit, die Produktion der vielberufenen „Obskuren" intensiv zu beachten, kann zu einer verwirrenden Reduktion der Wertmaßstäbe führen. Und die Lust an einer Grund-
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forsdiung verleitet leicht zu einem wirklichkeitsfernen Superlauschertum, welches bereitwillig das heraushört, was gefunden werden soll. Die individuelle Tauglichkeit des Forschers, in dem sich echtes Kennertum in Hinsicht der Phänomene der friesischen Literatur mit großem Wissen um eines der in Frage kommenden nicht-friesischen Schrifttümer treffen muß, Präzision der Tatsachenfeststellung mit intensiver A u f nahmevalenz des geistigen Ohrs sich vereint, ist nur selten in dem Ausmaß vorhanden, daß sie Berufung f ü r die zu leistende Aufgabe sichert. Diese Aufgabe aber wird überdies erschwert durch das Faktum der Vielfalt von Durchdringungen und Überschneidungen des Friesischen und des Niedersächsischen, sowie, in den nördlichsten Regionen, mit dem Dänischen. N u r ausnahmsweise sind die sprachgeographischen Verhältnisse wirklich geklärt, wie es z. B. der Fall ist in den Gebieten, welche Ernst Löfstedt in vorbildlicher Weise untersucht hat. (Die nordfriesische Mundart des Dorfes Ockholm und der Halligen I. Dissertation Lund 1928. Nord friesische Dialektstudien [= Die nordfriesische Mundart des Dorfes Ockholm und der Halligen. I I ] in: Lunds Universitets Arsskrift, N . F. Avd. 1, Bd. 26, N r . 4. Lund 1931; Beiträge zur nordfriesischen Mundartenforschung in: Lunds Universitets Arsskrift N . F. Avd. 1, Bd. 29, N r . 2. Lund 1933.) Wohin die mundartliche Produktion der Randzonen mit ihrem das Friesische verdrängenden Sprachgemisch friesisch-plattdeutscher Art gerechnet werden muß, bleibt vorläufig ungewiß. Bezeichnenderweise gibt es auch außerhalb der Dialektpoesie von Dunkelheit umwitterte Phänomene. Eines von ihnen sei genannt. N u r wenige der vielen Beiträge zur Erkenntnis Friedrich Hebbels und seines Werkes wagten klare Aussagen in Hinsicht seiner denkbaren Zugehörigkeit zur friesischen Dichtung in deutscher Sprache. Meistens wird er dem literarhistorischen Standesamt als Schleswig-Holsteiner oder Dithmarscher gemeldet, der dänischer Staatsbürger w a r — etwas, das f ü r die Verwaltung und eine etatistisch gerichtete Betrachtungsweise aufschlußreicher sein dürfte als f ü r die Erkenntnis der Schaffensquellen in dieser Ausnahmegestalt der deutschen Dramatik. Immerhin, der Franzose Louis Brun hat in seinem monumentalen Hebbel-Buch (1922) die friesische oder vorwiegend friesische H e r k u n f t des Dichters angenommen; Wilhelm von Scholz vertritt in einem f ü r das biographische Sammelwerk Die großen Deutschen bestimmten Essay über Friedrich Hebbel dieselbe Ansicht (er spricht vom friesischen Maurerssohn). Irrtum und Fehler werden unausbleiblich einen Vorstoß in die Region einer der verdeckten Literaturen bedrohen. Doch ein solcher Vorstoß kann erste Wegbereitung sein f ü r ein besseres Verstehen dessen, was man europäische Literatur nennen darf. Sollte auf ein Abenteuer der Wissenschaft verzichtet werden, das in vielleicht nicht unbedenklicher Weise die nationalistische Vorstellung von der Existenz nur-nationaler Werte bestätigt, aber letzthin übernationale Zielsetzungen sich vindizieren kann? Eine solche Zielsetzung fordert, daß die geistigen Bereicherungen nicht unterwertet werden, die den verdeckten Literaturen durch das Medium der fremdsprachigen Deckschichten zugeführt worden sind. Der f ü r die abendländische Kulturgemeinschaft charakteristische Prozeß des wechselseitigen Nehmens und Gebens und Durchdringens hat sich auch in der Form von Übergängen und Symbiosen sprachlicher Art vollzogen, deren Konsequenzen nicht ausschließlich vom Standpunkt (an sich berechtigter) nationaler Belange und (menschlich begreiflicher) völkischer Ressentiments beurteilt und bewertet werden sollten.
DIE SYMBOLIK I N DER „ N A T Ü R L I C H E N TOCHTER" Paul Böckmann
GOETHES
• Köln
Das vertiefte Verständnis von Goethes Altersdichtungen, wie es sich in den letzten Jahrzehnten anbahnte, erwuchs aus der Bereitschaft, der Symbolik dieser Werke eine eigene stilbildende Kraft zuzuerkennen. In welcher Weise freilich die Bilder und Motive als symbolische Zeichen der gehaltlichen Thematik entsprechen und warum sie eine strukturbestimmende Bedeutung gewinnen, bedarf weiterer Klärung; das um so mehr, als ja Goethe die Erlebnisunmittelbarkeit der ,charakteristischen' Kunst seiner Anfänge ebenso hinter sich läßt, wie die klassische Symbolform der Iphigenie oder des Tasso. Seine gelegentliche Unterscheidung zwisdien Symbol und Allegorie kann kaum zur Erläuterung seiner Entwicklung helfen und wirkt in der Anwendung auf sein eigenes Dichten eher verwirrend als klärend. Denn die Symbolik der Alterswerke will nicht Begriffe illustrieren, sondern auf Urphänomene hindeuten und steht damit in einem geheimen Bezug zu seinem naturwissenschaftlichen Verfahren. Sofern die Dichtung dabei ihrer eigenen Aufgabe folgt und allem naturhaften Geschehen gegenüber nach dem Menschlichen des Menschen fragt, kann die Symbolik sidi nur dadurch rechtfertigen, daß sie als zeichenhaftes Verweisungsgefüge das Verhältnis von Natur und Geist darstellbar macht und Wort und Bild neu in Beziehung setzt. Da die Verselbständigung der Symbolsprache zuerst in der Natürlichen Tochter begegnet, mag die Frage nach ihrer Funktion in diesem Werk zugleich das Problem des Goetheschen Altersstils näher eingrenzen. In einer Äußerung von 1823, in der Goethe den Begriff des gegenständlichen Denkens aufgreift, um damit zugleich sein Umgehen mit Motiven und Bildern zu erläutern, spricht er davon, daß ihm die französische Revolution als ein unübersehlicher Gegenstand erschien, der sein poetisches Vermögen aufzuzehren drohte; die Natürliche Tochter zeuge von der Bemühung, dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen1). Er erwähnt auch, daß er die Fortsetzung dieses Werkes in Gedanken weiter ausgebildet habe, ohne zur Ausführung Mut zu fassen. Schon früher hatte er in einem Gespräch mit Riemer die Natürliche Tochter als Beispiel für das dichterische Verhalten des Alters erwähnt, daß nur die Jugend die Varietät und Spezifikation, das Alter aber die Genera, ja die Familias habe. Er sei in der Natürlichen Tochter ins Generische gegangen, während der Wilhelm Meister noch die Varietät zeige. Wir nehmen diese Äußerungen als Zeugnisse dafür, daß Goethe die französische Revolution als ein Ereignis empfand, das ihn an Goethe, Bedeutende Bd. I I , S. 61)
Fordernis
durch ein einziges
geistreiches Wort.
(W. A. II. Abtig.,
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Paul Böckmann
die Grenzen seiner bisherigen dichterischen Möglichkeiten brachte, aber auch dafür, daß er dann in der Natürlichen Tochter eine den ihn bedrängenden Erfahrungen entsprechende Darstellungsweise gefunden zu haben glaubte. Daß er hier anders verfährt, als wir es sonst von seinen Dramen gewohnt sind, zeigt sich rasch. Es fehlt das Bemühen, den Figuren eine individuelle Plastik zu geben, die doch als Voraussetzung jeder seelisch erfüllten Dramatik zu gelten schien. Dies Werk begnügt sich mit typischen Figuren, die ihren Stand, ihr Genus, vertreten, ohne individualisierende Namen zu besitzen; es sind Repräsentanten, aber keine Charaktere. Selbst der Name Eugenie scheint nur eine ausdeutende Ubersetzung des Begriffs der Natürlichen Tochter zu sein. Inwiefern kommt damit ein neues Verfahren zur Geltung, das in seinen eigenen Voraussetzungen aufgesucht werden muß? Goethe hatte schon bald nach dem Ausbruch der französischen Revolution versucht, sich mit dem Geschehen auf dichterische Weise auseinanderzusetzen, ohne freilich zunächst mehr als ironische oder satirische Glossen geben zu können. So ist der Weg, der vom Großkophta über den Bürgergeneral, die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und Hermann und Dorothea zur Natürlichen Tochter führt, erst aufschlußreich, wenn man ihn im Zusammenhang mit dem tiefreichenden Stilwandel sieht, der sich bis zur Natürlichen Tochter vollzieht. In den frühen Revolutionsstücken bedient sich Goethe noch der ihm von früh auf vertrauten Formen der Gesellschaftssatire, während er in der Natürlichen Tochter die Symbolik der Maskenzüge zu einer eigenständigen Dramatik ausgestaltet. Im Großkophta knüpft er an ein historisches Ereignis, den Halsbandprozeß, an, der vor der Revolution die Gemüter bewegte, und die Verkommenheit des ancien régime schlaglichtartig zu erhellen schien. Der charakteristische Einzelfall soll zur satirischen Entlarvung einer ganzen Gesellschaftsschicht führen und indirekt auf die Voraussetzungen hindeuten, die die Revolution ermöglichten. Der Dialog macht deshalb individuelle Situationen sinnenfällig und begnügt sich mit der erörternden oder charakterisierenden Prosa. Im Bürgergeneral ist an die Stelle der Gesellschaftssatire die Dorfposse getreten, die in niederländischer Manier menschliche Unzulänglichkeiten entlarvt, nun auf der Seite harmloser Revolutionshelden, die sich rasch durch den rechtlich verständigen Edelmann zurechtweisen lassen. Das Spiel endet mit moralischen Ermahnungen, die im Rahmen dieser Genre-Szenen ihr Recht haben, aber gegenüber dem Revolutionsgeschehen doch zu harmlos und gewichtlos wirken, als daß man sie für Goethes eigene Antwort auf die Vorgänge halten könnte. Die gewählten Formen bleiben dem beunruhigenden Thema gegenüber unangemessen. In der Natürlichen Tochter hat Goethe eine ganz andere Gestaltungsweise entwickelt. Er verzichtet auf die sinnlich farbenreiche Charakteristik und bedient sich statt dessen einer dramatischen Symbolik, die dem Werk Intensität und Bedeutungsfülle gibt. Der lebendige Sinn der Dichtung stellt sich auf überraschende Weise wieder her, sofern die Worte, Bilder und Symbole sich verschränken und einen neuen Beziehungsreichtum entwickeln. Zwar hat Goethe noch wieder einen Fall aufgegriffen, der die Macht der Intrige in der höfischen Gesellschaft zu erkennen gibt und zu einer satirischen Sittenschilderung locken könnte. Aus den Mémoires Historiques de Stéphanie de Bourbon-Conti, écrits par elle-même, 1798 erschienen, lernte er das Schicksal einer Angehörigen des Königshauses, der natürlichen Tochter des Grafen Bourbon-Conti
Die Symbolik in der „Natürlichen Tochter" Goethes
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und einer Herzogin von Mazarin kennen. Diese Prinzessin war auf Betreiben ihrer Mutter und ihres Bruders entführt und in ein Kloster gebracht worden. Ein Pfarrer stellte ihren Totenschein aus; sie selber wurde nach Paris verschleppt, und einem Freunde ihrer Hofmeisterin angetraut. Aber bei der Behandlung dieses Stoffes kommt es Goethe nur noch darauf an, die in ihm wirksamen Kräfte darstellbar zu machen. Wie in den Naturwissenschaften setzt sich auch den gesellschaftlichen Erfahrungen gegenüber die Maxime durch, daß es ein Unterschied sei, zwischen Sehen und Sehen, daß die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbei zu sehen2). Da? Schicksal eines bestimmten Menschen muß in einen morphologisch-genetischen Zusammenhang gebracht werden, wenn sich von ihm aus revolutionäre Vorgänge in ihrem Verhältnis zu den Urphänomenen des gesellschaftlichen Lebens zu erkennen geben sollen. Die faktischen Ereignisse treten eigentümlich zurück und lassen sich rasch kennzeichnen, ohne daß damit schon die dichterische Leistung greifbar würde. Das Drama setzt in dem Augenblick ein, als der Herzog dem König von der bisher verborgen gehaltenen Tochter erzählt; wenn der König sie als Verwandte anerkennt, so hofft er dadurch auch den Fürsten als Vasallen näher an sich binden zu können. Es kommen nur wenige Hauptsituationen zur Geltung, die eine allgemeinste Lebensbewegung zu erkennen geben. Am Anfang regt sich eine hochgemute Erwartung, die Hoffnung auf eine glückliche Erfüllung; dann folgt der Sturz in einen Abgrund der Verzweiflung und Ohnmacht, aus dem nur Verzicht und Resignation herauszuführen scheinen. Diese persönlichen Lebensschicksale stehen in einer schwer durchschaubaren Beziehung zu politisch gesellschaftlichen Kräften. Der König erscheint als Repräsentant der gesetzlichen Ordnung und des staatlich gesicherten Rechtes; Eugenie könnte als Vorkämpferin des Königsgedankens gegenüber den eigennützigen Intrigen einer Hofpartei wirksam werden, die die Willkür an die Stelle des Rechts zu setzen und die überlieferte Ordnung zu zerstören droht 3 ). Aber jede nähere Bestimmung der Ereignisse wird ebenso vermieden wie jede konkrete Orts- und Zeitangabe, jede Beziehungnahme zu bestimmten geschichtlichen Vorgängen. Der eigentliche Urheber der Intrige bleibt unsichtbar; die erregenden Vorfälle, Gefangennahme und Entführung des Mädchens, kommen nicht zur Darstellung. So scheint die dramatische Kunst hier nur noch durch das dichterisch deutende Wort wirksam werden zu können. Aber auch die Behandlung der Sprache bietet eigene Probleme. Wohl begegnen wir einer gesteigerten Redeform, die dem Vers Bedeutung gibt und die geistig prägende Kraft des Wortes erneuert. Aber es ist darum doch nicht so wie in den großen Werken der europäischen Dramentradition, daß im dialogischen Sprechen schon die Dramatik des menschlichen Geschicks angelegt wäre. Die tragische Gewalt des Wortes steht hier nicht in Frage, obgleich doch dem Wort ein hoher Rang zuerkannt 2 ) Goethe, Zur Morphologie; Bildung und Umbildung organischer Naturen: Wenige Bemerkungen; 1870. (W. A. II. Abtig., Bd. 6, S. 156.) — Vgl. P. Böckmann, Goethes naturwissenschaftliches Denken als Bedingung der Symbolik seiner Altersdichtung. In ,Literature and Science', Oxford 1955, S. 2 2 8 — 2 3 6 . 3 ) Vgl. Kurt May, Goethes Natürliche Tochter, Zs. „Goethe", Bd. 4, 1939; jetzt wieder gedruckt in Kurt May, Form und Bedeutung, Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts, 1957, S. 89 f.
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Böckmann
wird; die dramatische Bewegung erwächst nicht aus der Sprache selbst, sondern das im Vers gebundene Wort unternimmt es, die mit den Situationen und Figuren eingegrenzte Lebensbewegung auszudeuten. Das Wort greift kaum ordnend und bewirkend in die Vorgänge ein, sondern ermöglicht nur den Abstand zu ihnen. So wird ausdrücklich vorausgesetzt, daß der Mensch einem Geschehen überantwortet ist, über das er nicht selbst verfügt, das sich deshalb auch nicht aus der Sprache entfalten läßt, sondern nur durch das hindeutende Wort überschaubarer wird. Es heißt in I, 3: Gar vieles kann, gar vieles muß geschehen, was man mit Worten nicht bekennen darf. Weil derart die Übermacht des Geschehens vorausgesetzt wird, müssen Sprache und Bild in ein neues Verhältnis zum bestimmenden Gehalt des menschlichen Daseins treten. Es genügt nicht, die in den dramatischen Vorgängen wirksamen Kräfte zu bereden; statt dessen müssen symbolische Zeichen und Motive helfen, die dem Menschen zugehörigen Situationen zu erhellen. Das Verlangen nach einer königlichen Ordnung steht in Gegensatz zum Eigennutz, der nach dem Besitz aller weltlichen Güter verlangt. Die besonderen Ereignisse, die Schicksale der natürlichen Tochter, erscheinen nur als Auswirkungen dieser Grundpolarität; sie enthüllen ihre Bedeutung in dem Maße, wie sie ein immer wirksames Kräftespiel erläutern. Die Dichtung beschäftigt unser Nachsinnen, weil wir uns durch den Beispielfall auf die Widersprüchlichkeit der menschlichen Erwartungen geführt sehen. Die Sprache schafft eine Distanz zur Macht des Schicksals und hilft dazu, das Urbild wahrzunehmen. Freilich genügt es Goethe nicht, auf das unauflösliche Widerspiel von Ordnung und Eigennutz zu verweisen; ihn bewegt die Frage, wie sich ein eigentlich Menschliches behaupten kann oder verloren geht. Nirgends scheint sich ein sicherer Halt anzubieten. Auch die Vertreter der öffentlichen Ordnung stehen in einem seltsamen Zwielicht. Sie können nicht helfen, weil sie dem Gebot der Mächtigen folgen müssen, ohne nach Recht und Unrecht fragen zu dürfen. Der Anspruch der Legitimität, eine religiös begründete Ordnung zu vertreten, droht das Menschliche ebenso aufzuheben, wie der Eigennutz. Die einzige Gestalt, die das offenbare Unrecht mit Namen nennt, ist der Gerichtsrat, der Vertreter des Bürgerstandes. Aber ist es darum Goethes Meinung, daß das Bürgertum mit den ihm eigenen Tugenden der Arbeit und Rechtlichkeit eine echte Hilfe bieten und das überkommene Regime erneuern kann? Man hat diese Folgerung gezogen und darin zugleich eine zeitbedingte Grenze des Werkes sehen wollen. Goethe indentifiziere sich mit der Abwehrhaltung des bürgerlichen, frühbiedermeierlichen Menschen, der sich einfügt in die gewachsenen Ordnungen, über dem die heiligen und natürlichen Gesetze der Ehe, der Familie und des Berufs, des Dienstes an der überkommenen staatlich gesellschaftlichen Ordnung von jeder Willkür unantastbar aufgerichtet bleiben*). Aber hat Goethe sich in eine biedermeierliche Harmonisierung flüchten wollen, oder ist der Vertreter des Bürgertums auch nur eine wirkende Kraft unter anderen, die in die Dramatik der gesellschaftlichen Vorgänge hineinwirkt? Gewiß, gegenüber der Polarität von königlicher Ordnung und gewalttätigem Eigennutz scheint der Gerichtsrat eine dritte Kraft zur Geltung zu bringen. Das häusliche Leben wird als eine bedeutsame Macht anerkannt und als ein Gegengewicht gegenüber den herrschenden Schichten verstanden. Aber es ist darum doch nicht so, daß 4
) Vgl. Kurt May, Form und Bedeutung, S. 104.
Die Symbolik
in der „Natürlichen
Tochter"
Goethes
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Eugenie auf das Anerbieten des Gerichtsrats, sie zu heiraten, vorbehaltlos einginge; sie flüchtet sich nicht in den ,Port' der Ehe, sondern kommt zu einer ganz anderen, ihr eigenen Lösung. Sie folgt dem Gatten nur unter der Bedingung, daß ihm ihre Freundschafi genügen kann und legt ihm schwere Prüfung auf. Darüber hinaus läßt das Schema zur Fortsetzung erkennen, daß in dem Augenblick einer engeren Verbindung zwischen beiden das politisch revolutionäre Geschehen sie wieder von einander trennen und die Beziehung mit einer schmerzlichen Entfernung enden sollte. Was hat das zu bedeuten? Goethes Antwort greift weiter aus und läßt sich erst von Eugenie und der ihr wesentlichen Haltung der Entsagung aus fassen. Der Sinn ihres Verhaltens verschließt sich in einem eigentümlichen Rätselwort, das die Bedingung enthält, unter der sie in den Bund mit dem Gerichtsrat einwilligt. Sie fragt ihn: Entsagung
der
Vermagst du hohen Muts Entsagenden zu weihen?
(Vers
2887)
Und er antwortet: Indem ich dich gewinne, soll ich allem Entsagen, deinem Blick sogar! Ich will's.
(Vers 2936)
Damit weist das Motiv der Entsagung auf den eigentlichen Gehalt des Dramas hin. Wie sollen wir es aber verstehen? Es wäre so viel einfacher, wenn wir die Entsagung als Verzicht Eugeniens auf ihre Stellung und als Beschränkung auf den bürgerlichen Kreis auffassen könnten; aber dann wäre es unnötig, daß sie als Entsagende noch Entsagung fordert von dem, dem sie angehören soll. Mit der Entsagung muß noch anderes gemeint sei, als die Bereitschaft zum Verzicht, zur Resignation. Es bleibt deshalb auch fraglich, ob man sagen darf, daß statt eines Revolutionsdramas ein Entsagungsdrama entstanden sei. Vor allem aber, ob man aus dem Entsagungsmotiv schließen darf, daß das Drama nicht nach einer Fortsetzung verlange, wie Goethe selber meinte 5 ). Wir müssen genauer beachten, wie Goethe das Entsagungsmotiv verrätselt hat und dadurch in ein Widerspiel zu den politischen Mächten bringt. Vielleicht wird dann verständlicher, in welchem Sinn das Drama auf eine Fortsetzung angewiesen bleibt und die Symbolik der Motive das Revolutionsgeschehen erläutert. Das Wort Entsagung hat bis in das 18. Jahrhundert hinein eine allgemeinere Bedeutung gehabt und bedeutet so viel wie absagen, abschwören; es näherte sich erst im 18. Jahrhundert dem Begriff der Resignation, so daß Goethe es noch mit eigenem Gehalt erfüllen konnte. Offenbar weist es bei ihm auf eine dem Verzichten zugehörige positive Kraft. Nur deshalb kann es in seinen Werken bis zu den Wanderjahren hin eine immer entsdieidendere Bedeutung gewinnen 6 ). Für die Hofmeisterin zwar mag die Entsagung gleichbedeutend mit der Resignation sein: Wer Mögliches bedenkt, läßt sich begnügen (Vers 2254). Aber Eugenie kann nur antworten: Unmöglich ist, was Edle nicht vermögen (Vers 2278). Für sie gibt es keine Wahl, wenn Unvermeidliches Unmöglichem sich gegen5 ) Vgl. Hans Egon Hass, Goethe Die Natürliche Tochter, Das deutsche Drama, hg. von B. von Wiese, 1958, Bd. 1, S. 224. e ) Vgl. die auf die Wanderjahre sich beschränkenden Interpretationen von Arthur Henkel, Entsagung — Eine Studie zu Goethes Altersroman, Hermea, N . F . , Bd. 3, 1954, bes. S. 28 f. und 155 f.
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Paul
Böckmann
überstellt (Vers 2275); sie kann weder Herkunft noch Aufgabe verleugnen, ohne sich selbst zu verlieren; sie wird zur Entsagung erst bereit, als sie deren Doppelsinn erkennt. Im Augenblick der höchsten Gefahr wird ihr die Entsagung möglich, weil sie sie in sich selbst zurückführt und ihr die Entschiedenheit zurückgibt, die die Voraussetzung für künftiges Wirken bildet. Als sie in V. 7 den Mönch fragt, welchen Weg sie wählen soll, antwortet er: Wahle, was dir noch den meisten Raum Zu heil'gem Tun und Wirken übrig läßt
(Vers 2731).
Er will ihr damit von der Ehe abraten und den Weg in die Verbannung nahelegen. Aber indem er von dem drohenden Unheil spricht, sieht sie ihr eigenes Geschick mit anderen Augen an. Jetzt sagt sie: Diesem Reiche droht ein jäher Umsturz , .. Und solche Sorge nahm ich mit hinüber? Entzöge mich gemeinsamer Gefahr? Entflöhe der Gelegenheit, mich kühn Der hoben Ahnen würdig zu beweisen? . . . Nun bist du, Boden meines Vaterlands, Mir erst ein Heiligtum, nun fühl' ich erst Den dringenden Beruf, mich anzuklammern. Ich lasse dich nicht los, und welches Band Mich dir erhalten kann, es ist nun heilig. . . . . . Im Verborgenen Verwahr er mich, als reinen Talisman (Vers 2825 ff.).
Erst damit sind die Voraussetzungen erkennbar, die ihr die Entsagung möglich machen und zugleich die merkwürdige Bedingung rechtfertigen, unter der die Ehe stehen soll. Sie tritt aus den gewohnten Bindungen des Lebens heraus, um sich den Raum zu heil'gem Tun und Wirken zu erhalten und sich den Kräften zu bewahren, die in ihr wirken: sie wird dadurch zum reinen Talisman und verschließt sich in einem Rätselspruch. Was wie eine Einkehr in ein biedermeierliches Bürgerleben mißverstanden werden könnte, will als ein heroisches Zeichen begriffen sein. Die Entsagung führt in den politischen Wirren den Menschen zu sich selbst zurück; sie will aber nicht als Flucht in das Idyll aufgefaßt sein, sondern als der Weg, der die menschlich verpflichtenden Gehalte vor der Zerstörung bewahrt. Erst damit wird deutlich, in welch tiefsinniger Weise Goethe in der Natürlichen Tochter eine Antwort auf das Revolutionsgeschehen gegeben hat, wie er jenseits der Parteiungen seiner Tage die Frage nach der Selbstbehauptung des Menschlichen als entscheidend heraushebt. Er sieht keine Möglichkeit, die überkommene Ordnung als solche zu verteidigen, da er sie aus sich bedroht weiß und weder ihre kirchliche noch ihre feudale Begründung anerkennt. Er sieht die notvolle Gefährdung des Menschen, der sich nur durch Entsagung der hemmungslosen Gewalt entziehen kann. So geht es ihm darum, in der Bewegung der Lebensgewalten den Anspruch eines eigentlichen Menschseins aufrechtzuerhalten. Am Ende des ersten Aktes sagt der Herzog: Das Leben ist des Lebens Pfand: es ruht Nur auf sich selbst und muß sich selbst verbürgen
(Vers 644).
Die Symbolik
in der „Natürlichen
Tochter"
Goethes
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Aber er fragt auch am Ende des dritten Aktes: Getrenntes Leben, wer vereinigt's wiederf Vernichtetes, wer stellt es her? ( V e r s 1698)
Und er erhält die Antwort: Der Geist! Des Menseben Geist, dem nichts verloren geht, Was er von Wert mit Sicherheit besessen.
So bleibt die Entsagung der Weg, auf dem der Geist in der Bewegung des Lebens bei sich selber einkehrt. In der geistigen Entschiedenheit findet Eugenie Zuflucht und Sicherheit; das häusliche Bürgerleben ist nur so weit gerechtfertigt, als es diese Einkehr ermöglicht. Goethe kann von seiner Heldin sagen, daß er versucht habe, das weibliche,
in die Welt aufblickende Wesen von kindlicher, ja kindischer Naivetät an bis zum Heroismus durch hunderterlei Motive hin und wider zu führen (Brief vom 4. April 1803). Die Entsagung will als heroisches Motiv verstanden sein; nur deshalb weist das Drama über sich hinaus auf eine Fortsetzung, die die heroische Bewährung vorführen sollte. Freilich bleibt zu klären, in welchem Sinn die Entsagung diesen Raum zu heil'gem Tun und Wirken öffnen kann. Es genügt nicht, sie als Versöhnung von Schein und Wirklichkeit zu erläutern, als Verzicht auf die gemäße Erscheinung des eigenen Wesens"1). Das Drama beruhigt sich nicht bei dem Gegensatz von Schein und Wesen, als sei der Verzicht nötig, damit das Wesen wenigstens in der durch die Wirklichkeit bedingten Erscheinung sich behaupten kann. Für Goethe hat das Verhältnis von Wesen und Erscheinung nur Bedeutung, sofern es auf das allgemeinere Verhältnis des Verborgenen zum Offenbaren zurückführt. In der Entsagung vollzieht der Mensch die Absage an ein Offenbares — sei es des eigenen Standes, sei es der bestehenden Ordnung —, um dadurch -die Macht des Verborgenen anzuerkennen und sich ihr gegenüber zu behaupten. Entsagend nimmt er Abstand vom Faktischen, öffnet er den Raum der Freiheit und des Geistes, steht er jenseits des Wechselspiels von Legitimität und Eigennutz. So wird die Entsagung zum Einweihungsvorgang in das Verborgene; sie zeugt vom Geheimnis des Geistes, das sich nicht mehr direkt mitteilen läßt, sondern auf symbolische Verweisungen angewiesen bleibt. Die Entsagung als Zentralmotiv der Goetheschen Altersdichtung erweist sich damit zugleich als der eigentliche Grund ihrer Symbolik. Diese Symbolsprache will nichts anderes leisten, als den Wechselbezug zwischen dem Offenbaren und Verborgenen des Lebens faßlich machen. Sie knüpft auf ihre Weise an Grunderfahrungen des christlichen Lebensverständnisses an und macht die Parallele zwischen Entsagung und Askese sinnenfällig. Die Selbstvergewisserung Eugeniens in der Entsagung eröffnet erst den Horizont, in dem die symbolischen Motive sprechend werden. So wird verständlich, in der Darstellung einwirken. borgenen geht, können die Sprache auf den eigentlichen 0
welcher Weise die symbolischen Motive auf die Struktur Weil es um das Verhältnis des Offenbaren zum VerCharaktere und Handlungsvorgänge wie auch noch die Sinn nur hinweisen, ohne ihn von sich aus zu entfalten.
V g l . H a s s , a . a . O . , S 2 2 3 und 2 4 5 .
2 Markwardt-Festschrift
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Dem Wort muß das bildhafte Vorstellen zur Hilfe kommen, wenn es seinen dichterischen Reichtum bewähren soll. Aber die konkreten Vorgänge reichen nicht aus, um das Generische zur Geltung zu bringen. Hier liegt offenbar die eigentliche Schwierigkeit, der Goethes Dichten seit 1800 immer mehr gerecht zu werden sucht. Er findet den Ausweg, durch zeichenhafte Sinnbilder auf den tieferen Zusammenhang zu verweisen. Erst von ihnen aus enthüllt sich das Ausmaß des Geleisteten. Für die Natürliche Tochter ist nicht nur die Typisierung der Figuren und die Stilisierung der Sprache kennzeichnend, sondern ein Symbolgeflecht, das den Imaginationskräften ihr Recht zurückgibt. Man darf sich nicht darauf beschränken, einzelne Symbole herauszuheben, da es darauf ankommt, den Beziehungsreichtum der Bildmotive zu verfolgen. Es begegnen bildhafte Verweisungszeichen, die den inneren Sinn um so mehr beschäftigen können, als sie nicht entschlüsselt werden wollen, sondern suppliert werden müssen, wie Goethe sagt 8 ). Wie früher in den Maskenzügen — etwa in dem von den vier Weltaltern — die Figuren durch Kostüme, Farben und Zeichen ihren Sinn zu erkennen geben, so spricht nun die Dichtung selbst durch besondere Zeichen, freilich auf eine freiere und vielgestaltigere Weise. Es genügt nicht mehr ein Abzeichen als allegorischer Behelf: Sonne oder Mond, Füllhorn oder Krone, Pfauenfedern, Schlangen oder Ketten, sondern die Darstellung konzentriert sich auf dramatische Motive, die aus sich einen Vorgang hervorgehen lassen und doch erst durch ihre symbolische Bedeutung eine Funktion gewinnen. In solchem Sinne wird man in der Natürlichen Tochter vor allem die Symbolik des Sturzes, des verschlossenen Kastens wie des beschriebenen Blattes beachten müssen, Symbole, die sich erst im Drama supplieren und von uns supplierend mitvollzogen werden wollen. Schon die Schauplätze der einzelnen Akte sind offenbar symbolisch gemeint. Die Szenenangaben: dichter Wald; Zimmer in gotischem Stil; Vorzimmer, prächtig, modern oder schließlich Platz am Hafen scheinen den üblichen Szenenanweisungen zu entsprechen und einen bestimmten Ort zu bezeichnen. Aber diese Angaben supplieren sich im Verlauf des dramatischen Vorgangs, bis sie ihren symbolischen Gehalt zu erkennen geben. Der dichte Wald erscheint als Bollwerk der Natur, ja als Paradies und scheidet den Herrscher von der ungestümen Welt; wir sehen uns aufgefordert, unter diesem Bild das Verhältnis der gesellschaftlichen Ansprüche zu einem arkadischen Zustand zu bedenken (Vers 22; 624). Alte und neue Zeit geraten miteinander in Widerstreit und lassen nach dem Hafen verlangen, der Zuflucht bietet. Dodi wollen diese Ortsbezeichnungen nicht allegorisch ausgelegt werden, sondern als Bildvorstellungen einen eigenen Beziehungsreichtum zur Geltung bringen. Einzelne herausgehobene Motive treten darüber hinaus an die Stelle der sonst üblichen Handlungsverwicklungen und bestimmen den dramatischen Vorgang. Vor allem die Symbolik des Sturzes kommt zu breiter Entfaltung. Kaum hat der Herzog dem König das Geheimnis der Existenz seiner Tochter anvertraut, da scheint auch schon das Verderben hereinzubrechen; wir hören die Nachricht: Die kühne Reiterin ist eben Von jener hohen Felsenwand herabgestürzt
jetzt (Vers 151).
8 ) Vgl. Goethe, Farbenlehre, Hist. Teil II, Betrachtungen über Farben: Jedes gute Buch und besonders die der Alten, versteht und genießt niemand, als wer sie supplieren kann. (W. A. II. Abtig., Bd. 1, S. 118.)
Die Symbolik
in der „Natürlichen
Tochter"
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Sie wird für tot hereingetragen, erholt sich aber rasch, so daß der Sturz sinnbildlich ausgedeutet werden k a n n : Wie der jähe Sturz Dir vorbedeutet, bist du in den Kreis Der Sorgen, der Gefahr herabgestürzt (Vers 465). Aber dann wird das Motiv des Sturzes von neuem aufgenommen und der Herzog mit der Nachricht getäuscht, daß seine Tochter durch einen Sturz ums Leben gekommen sei, vom Pferd, gestürzt
(Vers 1161). Dieser zweite, vorgebliche Sturz ist für Eugenie
ein wirklicher Sturz von der H ö h e ihrer fürstlichen Stellung herab in die Situation der Gefangenen und Verbannten. Sie sagt: Ich wußte nicht wie mir geschehn! wie hart Ein jäher Sturz mich lähmend hingestreckt. Da raffl ich mich empor, erkannte wieder Die schöne Welt . . . Nun Zum zweitenmal, von einem jähem Sturz Erwach ich; Fremd und schattengleich erscheint Mir die Umgebung, mir der Menschen Wandeln (Vers 1878). Vorgänge und Gespräche ermöglichen es, den scheinbar sachlichen Vorgang des Sturzes mannigfach zu supplieren und ihn in einem symbolischen Licht zu sehen. Trotzdem bleibt offen, wie weit sich sein Sinn festlegen läßt, da er in vielen Motivbeziehungen steht. Weist er auf die jugendliche Unbekümmertheit, die die Gefahr nicht kennt? Oder auf die Bedenkenlosigkeit der herrschenden Schichten, die das Reine und H o h e zu stürzen wissen? Oder auf das Heraustreten aus der Einfalt des unbewußten Lebens in eine widerstreitende Wirklichkeit? Wenn der erste Sturz in dem Augenblick geschieht, als der Herzog sein Geheimnis dem König offenbart, so scheint damit sinnenfällig zu werden, wie wahre Sicherheit nur im Verschwiegenen und Verborgenen zu finden ist. Es geht um den Sturz des Menschen aus der Geborgenheit des goldenen Zeitalter der Natur, des Paradieses, in ein widerstreitendes, von vielen Gefahren bedrohtes Dasein. In entsprechender Weise will auch das Symbol des Kastens wie das des Schlüssels aufgefaßt sein. Sie legen in mancher Hinsicht die Symbole des Waldes wie des Sturzes weiter aus, sofern sie nur nachdrücklicher auf die Bedeutung des Verschwiegenen und Verborgenen verweisen. Eugenie fragt den Herzog, wie sie jenen Schmuck erhalten werde, der sie zieren soll, wenn sie als Fürstentochter öffentlich anerkannt wird. Ihr wird ein Schrein mit manchen Gaben versprochen; aber zugleich soll sie sich einer bestimmten Bedingung unterwerfen: Doch leichte Prüfung leg' ich dir dabei Zum Vorbild mancher künftig schweren auf. Hier ist der Schlüssel! den verwahre wohl; Bezähme deine Neugier! Öffne nicht, Eh ich dich wiedersehe, jenen Schatz. Vertraue niemand, sei es wer es sei (Vers 539). Durch ihr Hervortreten aus dem Verborgenen wird Eugenie wie ein Schatz allen sichtbar, erregt sie Neid und Mißgunst. So weist das Bild des Schlüssels auf eine Bedingung, unter der ihr Leben fortan steht; sie muß einsehen lernen, wie das Sichtbare auf das
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Verborgene bezogen bleibt. Die Prüfung weist auf Künftiges voraus und scheint den Sinn der Entsagung schon anzudeuten, da nur der Entsagende bereit wird, den Kasten seiner Schätze verschlossen zu halten. — Durch die im Kasten verborgenen Gaben ergeben sich weitere sinnbildliche Beziehungen, die das Verhältnis von Wesen und Schein umspielen. Dem Herzen könnte der innere Wert genügen; aber Eugenie will ihre Würde äußerlich zu erkennen geben: Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? Das Wesen, war es, wenn es nicht erschiene? (Vers 1066).
Im Verhältnis von Wesen und Schein gibt sich das Verhältnis des Verborgenen zum Offenbaren zu erkennen. Glück und Schicksal verketten sich im Zeichen des aus dem Verborgenen hervortretenden Glanzes. Der Vorgang vergleicht sich alten Sagenmotiven, wenn die Hofmeisterin sagt: Kreusas tödliches Gewand entfaltet, So scheint es mir, sich unter meiner Hand
(Vers 1042).
Und Eugenie kann rückblickend ihre Situation sogar mit derjenigen Evas vergleichen: O so ist's wahr, was uns der Völker Sagen Unglaublich überliefern! Jenes Apfels Leichtsinnig augenblicklicher Genuß Hat aller Welt unendlich Weh verschuldet. So ward auch mir ein Schlüssel anvertraut! Verbotne Schätze wagt' ich aufzuschließen, Und aufgeschlossen hab' ich mir das Grab (Vers 1920).
Man sieht, wie sehr die Darstellung von symbolischen Motiven lebt, die in vieldeutigen Bezügen auf die Grundsituation des Menschen zurückweisen. Wenn der Wald mit dem Paradies verglichen wird, der Schlüssel mit dem Paradiesesapfel in Parallele tritt, so könnte man den Sturz mit der Vertreibung aus dem Paradiese gleichsetzen, aber auch das beschriebene Blatt mit dem Schwert des Engels. Denn wo auch Eugenie Zuflucht sucht, stellt sich ein Schriftstück, das das Verbannungswort des Königs enthält, vor die Hilfsbereitschaft der Menschen. Sie ist auf Tod und Leben der Willkür der Hofmeisterin anheimgegeben. Die Vertreter der herrschenden Ordnung, des Gerichts, der Verwaltung, der Kirche weichen vor der Gewalt zurück. Des Lebens Glück entriß mir dieses Blatt (Vers 2591), sagt Eugenie. Es ist das Verbannungsurteil, das ihren menschlichen Wert aufhebt und jede Hand lähmt. Aber nun steht diesem Blatt ein anderes gegenüber, das Blatt, auf dem Eugenie ihre eigenste Uberzeugung niedergeschrieben hat und mit dem sie sich dem König widmet. Im zweiten Akt, als sie noch nichts von dem ihr drohenden Geschick weiß, findet sich eine bedeutsame Szene, die auf den geheimen Sinn des Gesdiehens verweist und zugleich auf den unausgeführten zweiten Teil des Dramas vorausdeutet. Eugenie greift hier nach dem Griffel und schreibt langsam rezitierend ein Sonett auf: sie muß allein ins eigene Gefühl sich finden lernen und spricht das bewegte Herz in gemess'nen Worten aus (Vers 923; 961); sie ergreift das Dauernde, indem sie es im kunstvoll gebundenen Vers festhält. Das Sonett wird zum Sinnbild ihres Verhaltens und erläutert schon durch seine Form, wie im Wechsel der Schicksale sich der Geist auf seine eigene Entschiedenheit zurückgewiesen sieht. Eugenie spricht ihre Zugehörigkeit zur
Die Symbolik in der „Natürlichen
Tochter"
Goethes
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Welt des Königs in geistbestimmten Worten aus: ihre Verbundenheit mit dem Thron versteht sie nicht als Besitz, sondern als Bereitschaft, die Treue zu bewähren. So heißt es in der letzten Terzine: Mir ist, als müßt ich unaufhaltsam eilen, Das Lehen, das du gabst, für dich zu lassen (Vers 959).
Das Sonett wird als Glaubensbekenntnis zum Testament und begrenzt den Horizont der Vorgänge. Eugeniens reine Natur widmet sich jener königlichen Ordnung, die in ihr selbst lebendig ist. Als die Hofmeisterin Einlaß begehrt, und verhaßte Störung bringt, ist Eugenie nur bedacht, das Geschriebene zu verstecken. Doch wo Verberg ich dieses Blatt? Das Geheimnis, Das größte, das ich je gehegt, wohin, Wohin Verberg' ich's? (Vers 985).
Sie öffnet einen geheimen Wandschrank, um ihm ihres Lebens Glück zu vertrauen: Du, jedem ein Geheimnis, öffne dich (Vers 993). Sie verbirgt das Gedicht und gibt damit zu erkennen, wie sehr das verschwiegene Geheimnis ihres Innern im Verborgenen bleibt. So bildet das Blatt mit dem Sonett ein Gegenstück zu dem Blatt mit dem Verbannungsurteil. Im ersten Teil des Dramas spielt es weiterhin keine Rolle mehr, aber es läßt am deutlichsten erkennen, daß die Dichtung nicht abgeschlossen ist und ein zweiter oder dritter Teil erst die Auflösung bringen sollte. Goethe sagt darüber in den Tag- und Jahresheften zum Jahr 1803, daß mitten in der größten Verwirrung das wiedergefundene Sonett freilich kein Heil, aber doch einen schönen Augenblick würde hervorgebracht haben. Im Zusammenhang der Symbolik des Werkes steht es offenbar an einer entscheidenden Stelle; es bildet nicht nur ein Gegenstück zu dem Urteilsblatt, sondern auch zu dem Symbol des Kastens. Bevor Eugenie die vom Vater gestellte Bedingung verletzt und den Schlüssel benutzt, das Geheimnis unzeitig entdeckt, hat sie selbst ein Geheimnis verschlossen. Das verborgene und das offenbare Geheimnis stehen sich gegenüber; erst damit wird deutlich, wie vielschichtig hier das Verhältnis von Wesen und Schein verstanden sein will, wie es auf das von Verbergen und Offenbaren zurückführt. Wohl tritt Eugenie in die Welt hinaus, legt prächtige Gewänder und Schmuck an und wird damit nicht nur ein Gegenstand der Bewunderung, sondern auch des Neides und Hasses. Aber trotzdem bleibt ein verborgenes Geheimnis zurück, ein tiefstes Wesen, das noch in einem anderen Sinn auf ihres Lebens Glück hindeutet, als das von Gefahr umdrohte Glück ihrer öffentlichen Stellung. Die Macht des Verborgenen liegt allem Offenbaren voran und greift über jedes Einzelschicksal hinweg; der Einzelne teilt das Geschick seiner Gattung, wenn er über das Verborgene nicht verfügen kann und es sich nur durch die Entsagung zuordnet. So lebt die Symbolik aus mannigfachen Sinnbezügen, die nicht einfach allegorisch ausgedeutet oder entschlüsselt werden können, sondern die sich in der Darstellung supplieren und von uns supplierend mitvollzogen werden wollen. Die Symbolik des Kastens steigert und vervielfältigt sich durch die Art, wie ihr die Symbolik des Wandschranks mit dem dort verschlossenen Sonett zugeordnet wird. Das Wesen, das in die Erscheinung tritt, behält trotzdem sein Geheimnis zurück, so daß die Entsagung nicht nur als Verzicht und Resignation,
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Paul
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sondern als Selbstbewahrung um des Verborgenen willen erscheint. Eugenie wird erst zur Entsagung bereit, als sie dadurch nicht nur ihr eigenes Leben rettet, sondern sich für das verborgen Waltende bewahrt. Als bloßes Sidi-Genügen und -Begnügen bliebe die Entsagung unwürdig, biedermeierlich philisterhaft; sofern sie aber ein tiefer Verborgenes schützt, gewinnt sie einen heroisdien Sinn. Sie läßt den meisten Raum zu heil'gem Tun und Wirken, wie der Mönch sagt. So hätte die Fortsetzung der Dichtung zeigen müssen, wie Eugenie die Schlußverse des Sonetts wahrmacht und für das tiefer Verborgene sich opfert. Das wiedergefundene Sonett hätte den Sinn ihres Untergangs erhellen müssen. Es erhält schon als Gedichtform eine sinnbildliche Funktion; es verschließt den lebendigen Gefühlsgehalt in einer strenggebundenen Gestalt, so daß es gewissermaßen von dem Vorgang des Verbergens und Offenbarens lebt; das Natürliche verbirgt sich in der Kunst, um sich dadurch zugleich zu bewahren. Die Kunst verschließt das Lebendige in beziehungsreichen Bildern, weil die einzelne, bestimmte Erscheinung der Zerstörung ausgesetzt bleibt. So führen die vielfältigen Symbole doch auf den Gesamtzusammenhang des Dramas zurück und ordnen die Figuren, Situationen und Worte einem umfassenden Sinngefüge zu. Es geht nicht nur um das Verhältnis von königlicher Ordnung, bedenkenlosem Eigennutz und bürgerlicher Sicherheit, sondern um die Art, wie alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf ein Geheimes und Verschwiegenes des Lebens bezogen bleiben. Ein offenbar Geheimnis wird laut, ruft Gegenwirkung hervor und verschließt sich wieder im Geheimen. Das Geschehen greift über die menschlichen Absichten hinweg und vollzieht sich schweigend; die Entsagung ist nichts anderes als der Rückgang ins Verschwiegene. Eugenie sagt zum Gerichtsrat: Von dir allein gekannt, muß ich fortan Die Weh vermeidend im Verborgnen leben . . . (Vers 2899) Ich sage dir das tiefste Schweigen zu. Woher ich komme, niemand soll's erfahren (Vers 2925)
So sieht sich das menschliche Dasein von einem tiefen Schweigen umgeben, das gewiß immer wieder aufgegeben werden muß, den Menschen aber in allen Gefahren auf sich selbst zurückführt. Es fragt sich, ob diese Verschwiegenheit nur einen politisch praktischen Sinn hat, um im Verborgenen Taten vorbereiten zu können, oder ob sie zur Grundsituation des Menschen hinzugehört. Dies Schweigen verweist auf das Mächtige und Ungeheure, das über dem Menschen waltet und ihn bedroht, das als Gewalttat der Mißgünstigen begegnet, aber auch als ein Höheres, das dem Menschen verborgen bleibt und alles Handeln bedingt. Es greift über die Absichten der Menschen hinweg und wird doch von ihnen selbst noch mit in Gang gesetzt. So spricht Goethe vom Mächtigen und Ungeheuren, vom Waltenden und Höchsten: Wenn das Mächtige, das uns regiert, Ein großes Opfer heischt, wir bringen's doch Mit blutendem Gefühl der Not zuletzt. . . (Vers 706) Wenn das Waltende Verbrechen zu begiinst'gen scheinen mag, So nennen wir es Zufall; doch der Mensch,
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Der ganz besonnen solche Tat erwählt, Er ist ein Rätsel (Vers 715). Von nun an fordr' ich mit im Rat zu sitzen, Wo Schreckliches beschlossen wird, wo jeder Auf seinen Sinn, auf seine Kräfte stolz Zum unvermeidlich Ungeheuren stimmt (Vers 1239). Dies Mächtige und Ungeheure weist auf jene Gewalt, die Goethe später als das Dämonische bezeichnet hat und die in der Natürlichen Tochter alles Bemühen des Einzelnen in Frage stellt, den gesellschaftlichen Umsturz zu bewirken scheint, ohne auf die Bosheit Einzelner zuriickgerechnet werden zu können, die aber auch den Einzelnen in sich selbst zurückzuführen vermag. Sicherheit gibt es nur in abgeschlossenen Kreisen; denn Was droben sich in ungemeinen Räumen, Gewaltig seltsam, hin und her bewegt, Belebt und tötet, ohne Rat und Urteil, Das wird nach anderm Maß, nach andrer Zahl Vielleicht berechnet, bleibt uns rätselhaft (Vers 2012). Dies Ungeheure und Rätselhafte steht zu dem Geheimen und Verschwiegenen in einem kaum durchschaubaren Bezug; nur deshalb kann die Entsagung auf das Verborgene und Offenbare verweisen, als auf die Urphänomene, auf die Goethe nun die gesellschaftlichen Vorgänge zurückbezieht und von denen aus er das Revolutionsgeschehen deutet. Die Gestalt Eugeniens, die Natürliche Tochter, wird damit selber zu einer Gestalt, die w i r symbolisch supplieren müssen. Sie tritt aus dem Verschwiegenen des Waldes, aus dem Bollwerk der N a t u r hervor in reiner Unschuld, im Glanz der ersten Jugend, voll Selbstgefühl und ungebrochnem Stolz. Als von ihrem vermeintlichen T o d beriditet wird, möchte der Herzog sie sich wie ein Bild bewahren, vollkommen,
ewig jung und ewig gleich! .. . Schwebe vor, wohin ich wandle, zeige mir den Weg (Vers 1716). U n d doch, die reine jugendliche Natur, die nicht Gegenwart bleiben kann, die nur als Bild weiter zu wirken vermag, wird erst wahrhaft beispielhaft durch ihren Weg zur Entsagung, durch die Rückkehr in das geheimnisvoll Verborgene und Ursprüngliche, das sich dem Ungeheuren, dem Waltenden gegenüber in sich selbst verschließt. So wird die Gestalt der Eugenie zu einem beziehungsreichen Zeichen, das das Nachsinnen in Bewegung setzt und die Aufgabe der Dichtung auf sehr eigene Weise erfüllt. Die supplierende Symbolik gibt diesem D r a m a seinen schwer auszumessenden Tiefsinn. Es ist bis heute eine der am wenigsten begriffenen Dichtungen Goethes geblieben; es setzt die Bereitschaft voraus, sich durdi symbolische Zeichen vor Urphänomene des politisch gesellschaftlichen Lebens bringen zu lassen.
DAS P R O B L E M DES „ V E R L O R E N E N S O H N E S " BEI R I L K E
Hans Heinrich Borcherdt
• München
"Wenn auch über Rilke bereits eine Sekundärliteratur von mehreren tausend Bänden in den verschiedensten Sprachen entstanden ist, so liegen doch merkwürdigerweise über sein großes Prosawerk, den „Malte Laurids Brigge" erstaunlich wenig Spezialuntersuchungen vor. Das hängt damit zusammen, daß sich die Entstehung dieser Dichtung so lange hinzieht und sich daher seine Deutung mit der gesamten Entwicklung Rilkes verknüpft, sich also schwer gesondert behandeln läßt. Durch eine solche Betrachtungsweise unter dem Aspekt der Gesamtpersönlichkeit Rilkes sind aber die speziellen Eigentümlichkeiten der künstlerischen Form zu kurz gekommen. U n d so besteht auch heute noch keine Einigung über eine Reihe von grundlegenden Fragen. Hier sei nur eine herausgegriffen, die für die Deutung des Abschlusses sehr wichtig ist, nämlich die nach der Funktion der Parabel vom Verlorenen Sohn, die den Abschluß der „Aufzeichnungen" bildet. Von ihrer Auslegung hängt es ab, ob Rilke recht hatte, wenn er am 12. 12. 19C8 1 ) schreibt, daß Malte „endgültig, ohne Pardon noch Auferstehung zugrundegeht", oder daß der arme Malte so tief im Elend anfängt und „wenn mans genau nimmt, bis an die ewige Seligkeit" reicht 2 ); oder daß alle großen Erkenntnisse innerhalb dieses Buches die „Bestandteile eines Untergangs geworden" sind 3 ) oder daß dem Dichter „die längste Zeit der Malte Laurids nicht so sehr als ein Untergang, vielmehr als eine eigentümlich dunkle Himmelfahrt in eine vernachlässigte abgelegene Stelle des Himmels" erschien 4 ). Diese scheinbar grotesken Widersprüche in den Aussagen des Dichters rühren daher, daß die reine schuldlose Macht „hier zufällig in den Verlauf eines Untergangs eingeschaltet" ist 5 ). J e nachdem, ob Rilke die dahinterstehende positive Position oder das Nicht-Leisten-Können Makes im Auge hat, können des Dichters Äußerungen über sein Werk sehr verschieden ausfallen. Diese Spannung muß notwendigerweise auch das Problem des „Verlorenen Sohnes" beherrschen. Es ist die Frage, ob es die „letzte und weheste Vokabel" Makes ist 6 ) oder ob es einen Ausblick in eine „vernachlässigte abgelegene Stelle des Himmels" gibt. Die Beantwortung dieser Frage setzt eine genaue Analyse des Abschlusses des „Malte", aber auch der anderen Versionen der Legende bei Rilke voraus. ! ) Brief an Karl von der Heydt, Rainer Maria Rilke, Briefe, 2 Bände. (1950) (im Folgenden mit Br. bezeichnet) I. 254. 2) Brief an A. Kippenberg 25. 3. 1910. Br. I. 282. 3) Brief an Artur Hospelt 1 1 . 2 . 1912. Br. I. 362. 4 ) Brief an Lou Salome 28. 12. 1911. Br. I. 325. 5) Brief an N . N. 24. II. 1912. Br. I. 369. 6 ) Dieter Bassermann, Der späte Rilke (1947) S. 210.
Das Problem des „Verlorenen
Sohnes" bei Rilke
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In Christi Gleichnis bei Lukas 15 wird die Erzählung zunächst nur von der sozialethischen Seite gefaßt, indem der Sohn sein Erbteil verpraßt und dann in einer Zeit der Teuerung nur als Schweinehirte Verwendung finden kann, bis er sich zu der Erkenntnis durchringt: Ich will zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündiget in den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. Aber der Vater hebt den Heimgekehrten auf, läßt ihn köstlich kleiden und gibt ihm ein großes Fest, was der ältere Sohn, der jahrelang für den Vater gearbeitet hat, nicht begreifen kann. Aber der Vater sagt zu ihm: Du solltest fröhlich und guten Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig worden; er war verloren und ist wieder gefunden. Das Gleichnis bestätigt damit den Satz: Ich sage euch: Also wird auch Freude im Himmel sein über e i n e n Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Nun wäre es gewiß nicht schwer, dieses Gleichnis und das Bibelwort auf Malte anzuwenden und damit das Werk in eine Apotheose ausklingen zu lassen. Ein Barockdichter hätte sich diese Möglichkeit eines Abschlusses nicht entgehen lassen. Denn Malte ist ein Ringender, dem sich wie Cezanne ein neues Sehen erschlossen hat, der aber unter der Last der neuen Eindrücke zusammenbricht, wobei sich zeigt, daß die Prüfung, die ihm auferlegt war, ihn „überstieg", „daß er sie im Wirklichen nicht bestand, obwohl er in der Idee von ihrer Notwendigkeit überzeugt war 7 )". Trotzdem reicht er eben, „wenn mans genau nimmt, bis an die ewige Seligkeit". Und darum greift Rilke zu einer völligen Neudeutung der Parabel, die sich dem Malte-Problem anpaßt, bei der wir aber erst nach Abschluß der Analyse feststellen können, ob sie es auch wirklich umfaßt. Unzweifelhaft ist die Beschäftigung mit der biblischen Parabel angeregt worden durch eine Plastik Rodins, die den Verlorenen Sohn in kniender Haltung mit Beulen und Lumpen bedeckt darstellt, wobei sich Knie und Arme gewissermaßen in den Boden pressen. Bei Rilke wird zunächst die Frage nach dem „Auszug des Verlorenen Sohnes" in den „Neuen Gedichten" 8 ) gesondert behandelt. Schon hier sind Motive da, die in die spätere Gesamtfassung hineinspielen: Weggang von dem Verworrenen, das unser ist und uns doch nicht gehört; Weggang' von den Menschen des Alltäglichen; Weggang von dem Leide, das die Kindheit bis zum Rand erfüllte. Dabei ein Fortgehen ins Ungewisse, das auch wieder gleichgültig ist. Und warum ein Fortgehen? „Aus Drang, aus Artung, aus Ungeduld, aus dunkeler Erwartung, aus Unverständlichkeit und Unverstand." Und dafür wird vergeblich vielleicht Wertvolles fallen gelassen. Und es droht ein einsamer Tod, ohne zu wissen warum — . Bei solcher Argumentation ergibt sich am Schlüsse die bange Frage: „Ist das der Eingang eines neuen Lebens?" Noch fehlt hier das Ringen um die Liebesidee, noch das vergebliche Suchen nach Gott. Schon aber ist das sozialethische Leitmotiv der biblischen Parabel ins Individualpsychologische umgebogen. Sie ist bereits auf dem Wege zu der neuen Sinnngebung im „Malte". Hier am Schlüsse der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" ist die Geschichte des Verlorenen Sohnes, wie es schon im ersten Satze heißt, die Legende dessen, „der 7) Vgl. die Analyse bei Else Buddeberg, R.iiner Maria Rilke (1955) S. 147 ff. Rainer Maria Rilke, Gesammelte Werke (1930) (Im Folgenden mit G. W . bezeichnet) III. 24. 8)
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Hans Heinrich
Borchcrdt
nicht geliebt werden wollte 9 )". Der Sinn dieses Leitmotivs ist nur zu verstehen, wenn man sich bewußt ist, daß Rilke den Begriff der „Liebe" ganz anders faßt als im gewöhnlichen Sprachgebrauch, ja daß seine Liebesidee die übliche Vorstellung geradezu paradox umdeutet. Denn Liebe führt über das geliebte Wesen hinaus zur vertieften Einsamkeit, aus der der Weg zu den Dingen und zu Gott hinleitet. U m dieses Problem drehen sich bereits die innerseelischen Kämpfe des Kindes und des Knaben Malte. Als Kind liebten ihn alle im Hause; er wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre „Herzweiche". Die gewöhnliche Liebe wird also schon im Kinde von den Sozialbeziehungen zu Heim und Familie bestimmt. In seiner Kindheit ließ er dies über sich ergehen, daß alle ihn in dieser Weise liebten. Aber als Knabe „wollte er seine Gewohnheiten ablegen". Er setzte sich gegen die sog. Liebe zur Wehr. Was ihn daran störte, war das Besitzen-Wollen der Liebe, die schon das Kind zu beherrschen sucht, indem sie Gegenliebe als ethische Voraussetzung fordert und damit in das „Geheimnis des noch nie gewesenen Lebens" eingreift. Oder wie es vorher im „Malte" heißt: „Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen 10 )". Nicht nur die Menschen, sondern auch die ihn liebenden Hunde zeigten in ihren Blicken Beobachtung und Teilnahme, Erwartung und Besorgnis. Nichts konnte unternommen werden, ohne zu freuen oder zu kränken. Dem widersetzte sich die „innige Indifferenz seines Herzens", also eine Gleichgültigkeit, die zur freien Selbstentwicklung hinstrebt. Dieser Trieb führt ihn hinaus in die Freiheit der Felder; da eröffnete sich ihm das Geheimnis seines persönlichen Lebens. Hier in der Einsamkeit konnte er sich seinen Spielen und Phantasien hingeben. Er war ein Seeräuber auf der Insel Tortuga bei Haiti, der Eroberer von Mexico, der Drachentöter auf der Insel Malta oder ein bloßer Vogel in der Luft. Wie quälend war aber dann die Heimkehr: Die Fenster des Hauses faßten ihn ins Auge, die Hunde jubelten ihm entgegen, das gemeinsame Wesen des Hauses, die Suggestion der Liebe mit ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, mit ihrem Tadel oder Beifall. Wie qualvoll, an den Tisch gezerrt zu werden und im Lichte der Lampe ein Gesicht zu haben. Er fühlte es als eine Schande. Wird er ihnen allen mit dem ganzen Gesichte ähnlich werden? Hatten die andern nicht sein ganzes Leben aus Liebe vorausbestimmt? Wird er bleiben und ihnen das „ungefähre" Leben, das also nicht ins Zentrum vorstieß, nachlügen können? Die innige Indifferenz seines Herzens stand dagegen. So ging er fort, mit dem festen Vorsatz, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein, was die schmerzlichste Erfahrung seiner Jugendzeit war. Aber auch dieser Vorsatz erwies sich als undurchführbar. Denn er hat doch geliebt in seiner Einsamkeit, „jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die Freiheit des andern". Uber dieses Problem hat Rilke im Zusammenhang mit seinen eigenen Lebenserfahrungen immer wieder nachgegrübelt, und insbesondere hat er einem jungen Dichter Franz Xaver Kappus brieflich geradezu eine Liebes-Lehre zugehen lassen, worin es heißt: Die Liebe besteht darin, „daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen 11 )". Und vorher heißt es im gleichen ») G. W . V . 291 ff. to) G . W . V . 276. Ii) Brief v o m 1 4 . 5 . 1 9 0 4 . Br. I. 80. V g l . auch R e q u i e m f ü r eine Freundin G . W . I I . 332: „ W i r haben, w o wir lieben, ja nur dies: einander lassen."
Das Problem
des „Verlorenen
Sohnes"
bei Rilke
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Briefe: „Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung i s t . . . Lernzeit aber ist eine lange, abgeschlossene Zeit, und so ist Lieben für lange hinaus und weit ins Leben h i n e i n — : Einsamkeit, gesteigertes und vertieftes Alleinsein für den, der liebt." Liebe ist daher vor allem für den Künstler als Repräsentanten der extremen Existenzform der Einsamkeit eine Lebensbedingung 12 ). In dieser Auffassung liegen allerdings — das muß gegen Rilke gesagt werden — zwei Gefahren, nämlich einmal eine Narzißhaftigkeit des Künstlers, der nur sein Spiegelbild zu lieben vermag, oder andererseits eine besitzlose Liebe, die letzten Endes sehr egoistisch sein kann durch Nachlässigkeit oder Eifersucht 13 ). Der Verlorene Sohn sucht diesen Gefahren auszuweichen, indem er den geliebten Gegenstand „mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen versucht, statt ihn darin zu verzehren." Aber das ist letzten Endes schon der schöpferische Phantasieprozeß eines Dichters, der sich in der Realität kaum verwirklichen läßt. Und so heißt es weiter in der Legende: „Und er war verwöhnt von dem Entzücken, durch die immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen auftat." Aber in der Realität war diese Erfüllung nicht zu erreichen. E r konnte nächtelang weinen vor Sehnsucht, „selbst so durchleuchtet zu sein". „Eine Geliebte, die nachgibt, ist noch lange keine L i e b e n d e . . . E r hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn durchbrach", d. h. die tiefstes Verständnis hat für seine Einsamkeit und die zurücktretend den Subjekt-Objekt-Gegensatz aufhebt und mit ihm eingehen will in die höhere Liebe des „Daseins", so daß sie für den Dichter Spiegel der ganzen Welt werden kann. Das ist es, was Malte an der Sappho rühmt, daß sie die neue „Maßeinheit von Liebe und Herzleid" fand 1 4 ). Dieses Ziel hat aber weder der Verlorene Sohn, noch Malte, noch Rilke erreicht 15 ). Selbst noch in den furchtbarsten Zeiten der Not, als sich an seinem Leibe Geschwüre bildeten, war es für den Verlorenen Sohn das größeste Entsetzen, erwidert worden zu sein. E r tauchte daher unter in Namenlosigkeit, Einsamkeit und Fremdheit, und da beruhigte sich seine „viele Vergangenheit". Es folgen nun seine Hirtenjahre mit dem ganzen Überraum seiner „riesigen Nächte". Jahrelang zog er schweigend über die Weiden der Welt. Man sah ihn auf der Akropolis, oder vielleicht war er ein Hirte in Les Baux 1 6 ) oder an das Triumphtor in Orange gelehnt oder im Schatten der Allyscamps, der antiken Gräberstraße von Arles. Damals, als er sich allgemein und anonym fühlte, als er also in seine Einsamkeit hineinwuchs, begann zögernd seine Genesung. Damals entfaltete sich langsam seine lange Liebe zu Gott, die „stille, ziellose Arbeit". Denn jetzt kam über ihn „das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens", so daß er auf Erhörung wartete. Während er aber »2) Friedrich Wilhelm Wodtke, Rilke und Klopstock (1948) S. 22. ) Vgl. dazu Thomas Mann im „Tod in Venedig": „Einsamkeit zeitigt das Originale, das gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und Unerlaubte." G. W . V. 280. i«) Vgl. Sonette an Orpheus I. 19. G. W . III. 331: „Nicht ist die Liebe gelernt." 1 6 ) In Südfrankreich, wo Rilke 1909 lange mit einem Hirten sprach. Vgl. Brief an Lou Salome 23. 10. 1909. Br.Wechsel mit Lou Salomé (1952) 'S. 238 f. 13
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erhoffte, daß Gott ihn „mit durchdringender, strahlender Liebe" zu lieben verstünde, wurde er sich des „äußersten Abstandes Gottes" bewußt. Trotzdem meinte er, sich auf ihn in den Raum zuwerfen zu können oder nach der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens. Was er also erstrebte, ist geradezu die H a l tung eines Mystikers, der in Gott aufgehen möchte. Und da war er wie einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. D a mußte er aber mit Bestürzung erfahren, wie schwer diese Sprache sei. E r stürzte sich hinein wie ein Läufer, aber die Dichte dessen, was zu überwinden war, verlangsamte ihn. Und nun, da er so mühsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm gezeigt, wie nachlässig und gering bisher alle Liebe gewesen war, die er zu leisten vermeinte. Jetzt erst begann er, an ihr Arbeit zu tun und sie zu verwirklichen. Die Liebe beginnt sich also erst in der schöpferischen Arbeit zu erfüllen, die die bedrängende Erlebniswelt in dichterische Leistung umwandelt. Aber nun traten neue große Veränderungen in ihm ein. E r vergaß Gott beinahe über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern. Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich in Geduld „die feste überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit". Und darin war seine Liebe, die ständig zunahm. D a er nichts überstürzen, sondern sein ganzes Binnenleben bewältigen wollte, entschloß er sich, die verlorene und nicht getane Kindheit nachzuholen, weil dort die Keime der Zukunft liegen. Aus diesem Grunde kehrt er heim. Als er dort ankam, da brach bei den Gebliebenen wieder die „Liebe" durch. Ihr antwortete er mit der Gebärde, der „unerhörten Gebärde des Flehens, die man noch nie gesehen hatte", daß sie ihn nicht lieben sollten. Dieses Flehen beantworteten sie erschrocken mit einem „Verzeihen". Aber was hatten sie denn zu verzeihen? Das war trotz seiner verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung ein neues Mißverständnis der „Liebe", und so erkannte er immer mehr, daß ihre Liebe ihn nicht betraf. Wahrscheinlich konnte er darum im Elternhause bleiben. Was wußten sie denn, wer er war. „Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht." Das ist die Legende dessen, der nicht geliebt sein wollte, eine völlig neuartige Deutung der alten Parabel. Äußerlich betrachtet, eine versöhnliche Erzählung, aber doch tragisch :in der Isolierung, in der der Sohn sidi auch weiterhin gefällt: „Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben." Damit verfällt er der völligen Einsamkeit und was bleibt, ist nur noch die Liebe Gottes. Aber der wollte noch nicht, für den Sohn bleibt er der deus absconditus. Auch die letzte Aufzeichnung Makes ist also von tiefem Pessimismus getragen. Man kann aber nicht sagen, daß das Leben des Verlorenen Sohnes mit einem unsühnbaren Schuldproblem belastet ist. Deswegen lehnt ja Rilke den Begriff der Verzeihung ab. In der Bibel handelt es sich bei seinem Weggang bei den soziologischen Vorstellungen und nach der Ethik des Alten Testamentes um einen Verstoß gegen das vierte Gebot und daher um eine Sünde gegen den Himmel und gegen den Vater. Rilkes Verlorener Sohn ist aber kein Mensch des biblischen Zeitalters, sondern ein Mensch der Neuzeit, der in den Baux, in Arles, in Orange Schafe hütet und auf der Akropolis gesehen wird. Man kann daher nur feststellen, daß ihm die Erfüllung des Liebesproblems, um dessentwillen er einst fortgegangen ist, nicht gelang, so daß der Ausklang seines Lebens in tiefer Resignation endet.
Das Problem
des „Verlorenen
Sohnes" bei Rilke
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Es ist nun die Frage, ob man die Geschichte des Verlorenen Sohnes mit der Maltes gleichsetzen kann, wie dies sehr oft behauptet worden ist. Gewiß kreisen die späten Aufzeichnungen Maltes um das Problem der Liebe und um das Schicksal der großen Liebenden, gewiß suchen beide eine nicht geldbte Kindheit nachzuholen; aber das Zentralproblem im Denken und Fühlen Maltes, die Angst, und zwar die Angst vor dem Tode, weiterhin die schonungslose Ausgesetztheit gegenüber der Außenwelt, all das spielt in der Legende vom Verlorenen Sohn keine Rolle. Im Gegenteil! Der Verlorene Sohn hat die Kraft, sich von der Welt zu lösen, und auch seine Heimkehr ist kein „pater peccavi", sondern der Versuch, in der Heimat die verlorene Jugend nachzuholen und damit die Einheit seiner Existenz abzurunden 17 ). Bei aller Düsterkeit des Abschlusses läßt Rilkes Legende den Weg zu Gott offen, was beim Malte nicht möglich ist, weil alle großen Erkenntnisse hier die „Bestandteile eines Unterganges geworden sind" 18 ). Dem entspricht es, wenn Rilke an die Fürstin Thurn und Taxis schreiben kann: „Mir graut ein bischen, wenn ich an all die Gewaltsamkeit denke, die ich im Malte Laurids durchgesetzt habe, wie ich mit ihm in der konsequenten Verzweiflung bis hinter alles geraten bin, bis hinter den Tod gewissermaßen, so daß nichts mehr möglich war, nicht einmal das Sterben 19 )." Der Tod Maltes, der bei seiner Verzweiflung eine „Erlösung" hätte sein müssen, ließ sich bei seiner Haltung nicht darstellen. Die Legende, die durch den Ausblick auf Gott gewissermaßen bis hinter den Tod des Verlorenen Sohnes führt, gibt dafür einen versöhnlichen Ausblick. So gesehen ist auch der Vergleich mit Cézannes Leben verständlich, wenn Rilke an Clara schreibt: „Cézanne ist nichts anderes als das erste positive und dürre Gelingen dessen, was im M. L. Brigge nicht gelang. Der Tod Brigges: das war Cézannes Leben, das Leben seiner dreißig letzten Jahre 2 0 )." Was Malte erstrebte, war also in die Realität umzusetzen. Cézanne hat sich zur Ganzheit der Existenz durchgerungen. Er hat in Armut und Einsamkeit seines Daseins gelebt und „Kunstdinge" gestaltet. Das entspricht auch dem Dasein des Verlorenen Sohnes. Die Legende ist also ein großes Symbol, hinter dem sich der Lebensausgang Maltes verbirgt. Wenn aber diese symbolische Geschichte in einer erstaunlichen Breite mit allen Nuancen des inneren Erlebens vorgetragen wird, so ist dies wohl nur dadurch zu erklären, daß Rilke hier das zusammenfaßt, was über das ganze Werk hin verstreut vorgetragen ist, nämlich das Thema: Liebe und Einsamkeit. Das ist das Problem, das ihn seit seiner Eheschließung immer wieder von neuem bewegt und immer wieder neue Krisen hervorrief. Es ist die Idee, daß die Liebe dem anderen zu sich selbst verhelfen soll und damit dem schöpferischen Menschen Gelegenheit zur Einsamkeit und die Möglichkeit zu seiner eigenen Entfaltung geben soll. Das ist die wahre Liebe, „die unendlich rücksichtsvoll und leise und klar und gut im Lösen und Binden sich vollziehen wird" 2 1 ). 1901, kurz nach der Eheschließung schreibt er an Emanuel von Bodman: „Es handelt sich in der Ehe für mein Gefühl nicht darum, durch Niederreißung und Umstürzung aller Grenzen eine rasche Gemeinschaft zu schaffen, vielmehr ist die gute Ehe die, »H 18) 19) 2») 21)
G. W . V. 299. A n Hospelt 11. 2. 1912 Br. I. 362. Briefwechsel mit der Fürstin I. 26 f. 8. Sept. 1908 Br. I. 252. Vgl. auch Requiem f ü r eine Freundin (Paula Becker-Modersohn) G. W . II 332.
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Borcherdt
in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat 22 )." Diese Vorstellung führte schon 1902 zu Ehekrisen, die sich 1906 und 1907 bei Wiederbegegnungen wiederholten und 1908 zur Fluchtreise nach Südfrankreich führten. Sie ist auch der Grund, warum später, bald nach dem „Malte" die Benvenuta-Episode zu schweren Enttäuschungen führte. Es liegt in der gleichen Linie, wenn Rilke sich 1912 für den dem Bossuet zugeschriebenen Sermon „Madelaine" begeistert und ihn übersetzt, ein Werk, das er wie einen Nachtrag zum „Malte" und beinahe wie eine eigene Dichtung betrachtet 23 ). Audi dieses kreist um das Thema: Liebe und Einsamkeit. Daß Rilke dem Verlorenen Sohn noch andere Erfahrungen und Erlebnisse seines eigenen Daseins geliehen hat, so daß dieser geradezu ein Spiegelbild seiner dichterischen Entwicklungsphasen wurde, sei hier nur andeutungsweise berührt. Aber noch einmal trat der Schatten des Verlorenen Sohnes an Rilke heran. Sein Verleger Kippenberg, der ihn im November 1913 in Paris aufsuchte, legte ihm nahe, er möge doch die „Rückkehr des Verlorenen Sohnes" von André Gide für ein Inselbändchen übersetzen. Rilke mußte wohl oder übel zusagen und trat dadurch in nähere Beziehungen zu dem französischen Dichter, den dieser Plan einer Übersetzung durch Rilke sehr beglückte. Schon im Februar 1914 war die Arbeit abgeschlossen. Es ist, als wäre jede Erinnerung an seine eigene Legende vom Verlorenen Sohn vergessen, so sehr hat sich Rilke in die Welt der französischen Dichtung versenkt. Wie sonst bei anderen Übertragungen ist Rilke auch hier ein sorgfältiger Interpret fremden Gedankenguts, der aber doch zugleich nachschöpferisch vorgeht, indem er z. B. die Frage aufwirft, ob Gide gut daran getan habe, schon frühzeitig die Gestalt des jüngeren Bruders aufleuchten zu lassen. Und da Gide selbst zweifelhaft wird, ändert Rilke dieses Motiv gegenüber dem französischen Original ab 24 ). Im übrigen fügt er sich aber ganz den Intentionen Gides ein. Im Gegensatz zu Rilke kommt es Gide ausschließlich auf die Auslegung der biblischen Legende an. Was er gestaltet, ist ähnlich wie eine alte Altartafel behandelt, auf der er selbst als Stifterfigur angebracht ist, mit lächelndem und zugleich von Tränen triefendem Antlitz. Ihm geht es um die Fragen: Warum ging er? Warum kommt er? Und wenn er bleibt, was behält Recht? Die an die alte angesetzte neue Welt? Der Weg, den Gide zur Beantwortung einschlägt, ist der, daß er den Verlorenen Sohn in Gesprächen, zunächst mit dem Vater, dann mit dem älteren Bruder, dann mit der Mutter und endlich mit dem jüngeren Bruder Rechenschaft ablegen läßt und damit sein Weggang und seine Heimkehr in vierfacher Beleuchtung erscheint. In dieser Art von Gestaltungsweise zeigt sich das typisch französische Bedürfnis nach einer Klarstellung aller offenen Fragen. Damit ergibt sich zugleich eine straffe Gliederung des Aufbaus und eine ständige Wiederholung der oben genannten Fragen. Das Ganze ist also wie eine Fugenkomposition behandelt, die die Leitmotive in immer neuen Abwandlungen moduliert. 22 ) 17. 8. 1901. Br. I. 23. Ähnliche Äußerungen an Clara Rilke 8. 4. 1903 Br. I. 44 f. und an Friedrich Westhoff 29. 4. 1904 Br. I. 70, sowie an Paula Becker-Modersohn 12. 2. 1902 Br. I. 28. 23 ) An Helene v. Nostitz 5. 6. 1912. Br. I. 383: „Fast macht er den Malte überflüssig." 24 ) Briefwechsel Rilke und Katharina Kippenberg 10. II. 1914. 89.
Das Problem des „Verlorenen
Sohnes" bei Rilke
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Die Einleitung bildet nur die Exposition, die die biblisdien Motive der Erzählung in poetisch verklärter Sprache wiedergibt. Feierlichkeit ist notwendig, denn der Vater ist hier der christliche Gott-Vater, der allwissend und überall ist, der die ganze Erde geschaffen und das Haus gebaut hat. In der gütigen Aufnahme, die der reuige Sohn findet, erfüllt sich Christi Wort: „Es wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen." Aber gerade darum wird die allgemeine Freude zur Sorge um den ältesten Sohn, den Hüter des „Hauses", den Vertreter der Ordnung, den Repräsentanten der Kirche. Nur vom Vater gedrängt, fast gezwungen, nimmt er am Festmahl teil. „Er a l l e i n . . . trägt Zorn zur Schau auf seiner Stirn: Warum für den reuigen Sünder mehr Ehre als für ihn, der nie gesündigt hat? Er hält von geregelter Ordnung mehr als von der Liebe. Sein Erscheinen beim Fest will nur sagen, daß er dem Bruder Kredit gibt und ihm Freude borgt für einen Abend; auch haben Vater und Mutter ihm versprochen, dem Ausbund ins Gewissen zu reden, und er selbst ist entschlossen, ihn strenge vorzunehmen." Das klingt wie der Auftakt zu einer dramatischen Gestaltung. Das erinnert an die Moralitäten des französischen Spätmittelalters. Und dann beginnen die Dialoge, zunächst der „Verweis des Vaters". Einleitend schaltet sich der Dichter als Stifter des Bildes ein, der sich selbst als verlorener Sohn fühlt und sich daher in tiefster Demut Gott naht. Aber auch er ängstigt sich vor dem ältesten Sohne, der dem Vater die Worte einflüstert. Dann beginnt der eigentliche Dialog mit den feierlichen Worten: „Mein Sohn, warum hast du mich verlassen?" Der Sohn antwortet: Er habe nie aufgehört, ihn zu lieben. Er sei um des Hauses willen weggegangen, das andere gebaut haben, zwar im Namen des Vaters, aber eben andere. Er habe es vorgezogen, das Gold des Vaters in Ergötzen umzuwechseln, seine Maßregeln ins Spielerische, die Keuschheit in Singen, das strenge Leben in Sehnsucht, um mit um so schönerer Flamme zu brennen, wenn ihn eine neue Inbrunst entzünde. Und nun nähert sich der Dialog Rilkes Liebesidee: Der Vater erinnert an die reine Flamme, die Moses sah; die strahlte, aber verzehrte nicht. Da bekennt der Sohn, er habe Liebe kennen gelernt, die verzehrt. Der Vater spricht dagegen von einer Liebe, die Erquickung sei. Trotzig verweist der Sohn auf die Erinnerung an jene Genüsse, und in der folgenden Leere habe er sich ihm nahe gefühlt. In der Leere füllte sich sein Herz mit Liebe und Inbrunst an. Auf die Frage: „Du warst also glücklich, fern von mir" antwortet er ausweichend: „Ich fühlte mich dir nicht fern." Und nun folgt der zweite Diskussionspunkt: „Was hat dann bewirkt, daß du wiederkamst?" Rilke würde antworten: Um die Kindheit nachzuholen und die Ganzheit meiner Existenz damit abzurunden. Gide läßt den Verlorenen Sohn ziemlich kläglich antworten: Aus Trägheit, aus Feigheit und Krankheit. Als der Vater ironisch auf das Essen anspielt, antwortet der Sohn schluchzend, das Antlitz zur Erde geneigt: „Mein Vater, mein Vater, der wilde Geschmack der süßen Eicheln bleibt trotzdem in meinem Mund; nichts kann ihn auflösen, daß ich ihn nicht schmecke." Darüber ist der Vater so erschüttert, daß er seine harten Worte bedauert. Sie seien ihm nur von dem älteren Bruder nahegelegt worden, der hier die Gesetze mache und der ihm auch sagen lasse, daß außerhalb des Hauses kein Wohlergehen möglich sei. Er selbst, der Vater, habe seine Wege beobachtet und auf seine Rückkehr gewartet. Hätte er ihn aber gerufen —
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Hans Heinrich
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er wäre da gewesen. Erschüttert fragt der Sohn: „So hätte ich dich wiederhaben können, ohne umzukehren?" Der Vater antwortet ausweichend: Wenn er sich schwach gefühlt habe, so habe er gut daran getan, umzukehren. Dem Starken wäre also, so kann man ausdeuten, dieser Weg möglich. Ganz anders dagegen der „Verweis des älteren Bruders". Er ist von vornherein schärfer, weil der Heimgekehrte aufzutrumpfen sucht, in dem Bewußtsein, die Welt außerhalb des Hauses zu kennen. Aber der Ältere weist ihn zurück. Er lebt in der Ordnung und im Gesetz, und alles, was sich davon abhebt, ist ihm nur Frucht und Same des Hochmuts. Was er fordert, ist die Steigerung seines Selbst, wobei das Schlechte auch Nährstoff für das Beste sein kann. In seinem Überlegenheitsgefühl behauptet er: Der Vater drücke sich oft nicht sehr klar aus; man könne ihm in den Mund legen, was einem beliebe. Nur er, der Sohn, könne die Worte allein richtig auslegen, und darum müsse jeder auf ihn hören. Und dann folgt auch hier wieder die Frage: Was hat dich damals herausgetrieben? Die Antwort lautet hier: Er fühlte zu stark, daß das Haus nicht das Weltall sei. Er sah auch andere Kulturen und andere Länder, aber auch andere Wege, die man wandern konnte. Darum brach er aus. Dem weiß der Ältere wieder nur das Gesetz der Ordnung und die Furcht vor Thronräubern gegenüberzustellen. „Füge dich in die Ruhe des Hauses." Das ist die letzte Mahnung des Hüters der Ordnung und des religiösen Gesetzes. Und nun folgt das Gespräch mit der Mutter. Wieder ist es der Dichter und Stifter, der uns die Situation vor Augen führt. Er ist es, der uns hier die Sprache des Herzens erhoffen läßt, aber sie klingt nur in konventionellem Wortklang auf, weil, wie schon Katharina Kippenberg gefühlt hat, die Mutter im Orientalischen stecken bleibt, also die typische Hausfrau des Orients ist, die die Wirtschaft des Hauses beherrscht, dem Sohne die Frau bestimmen möchte und als Herrin den Verkehr mit dem Dienstpersonal verurteilt. So ist dieser Dialog eigentlich nur ein retardierendes Element in der dramatischen Spannung, unentbehrlich aber dadurch, daß die Mutter mehr von Sorge erfüllt ist um den jüngsten Sohn als um den zurückgekehrten. Darum sind ihr auch die Fragen und Antworten, warum er weggegangen ist und warum er wiederkehrte, im Grunde gleichgültig. So leitet dieses Gespräch nur hinüber zu dem letzten breit ausgeführten Gemälde des Zyklus, dem „Zwiegespräch mit dem jüngeren Bruder", den der Heimgekehrte auf Wunsch der Mutter vor einer Flucht warnen soll. Denn dieser ist in der gleichen Lage wie er selbst vor dem Weggang. Auch der Jüngste fühlt sich isoliert, auch er haßt den ältesten Bruder, auch er hat die Sehnsucht nach der Ferne. Darum betrachtete er den Heimkehrer zunächst als ruhmbedeckten Kämpfer für die Freiheit, der mit Recht von dem Vater gefeiert wurde. Dann aber ist ihm zum Bewußtsein gekommen, daß dieser Bruder zurückkehrend ein Gescheiterter ist, daß er darauf verzichtet hat, das zu sein, was er sein wollte, daß er bereit ist, hier im Hause ebenso zu dienen, wie er es draußen getan hat. „Hättest du dir nur den Hochmut bewahrt! Du wärest nicht zurückgekehrt." Dieser Knabe weiß schon das Ziel, dem er zustrebt: ein verlassener Garten jenseits der Wüste, in dem die bitteren Granatäpfel wachsen, die auch den stärksten Durst löschen, Früchte ohne Süße. In diese Ferne sucht der Knabe den Bruder zu locken, indem er ihn zum Mitgehen auffordert. Aber
Das Problem, des „Verlorenen
Sohnes" bei Rilke
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der Zurückgekehrte lehnt ab, er hat nicht mehr K r a f t und T a p f e r k e i t zu neuer Fahrt, aber er sieht die Notwendigkeit ein, daß der junge Bruder wandern muß, um die gleichen Schicksale zu erleben, die ihm beschieden waren. Vielleicht aber wird der Jüngste das bewältigen können, was ihm nicht gelang. Das ist die Hoffnung, die er ihm mitgibt, als er ihm die T ü r e ö f f n e t : „Vergiß uns, vergiß mich. Mögst du nicht wiederkommen." Oder, wie es schon Katharina Kippenberg R i l k e gegenüber formulierte: „Was ich nicht tun konnte, tut mein Bruder und doch nur durch mich" 2 5 ). Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit
führt aus dem biblischen Rahmen hinaus in eine
zeitliche und räumliche Weite. U n d wenn wir uns die unverkennbare
symbolische
Gedanklichkeit der Gideschen Fabel, die Gleichsetzung des Vaters mit dem christlichen Gotte, die Deutung des Hauses mit der christlichen Kirche, die Haltung des ältesten Sohnes mit der der Theologen vergegenwärtigen, so verstehen wir, wie auch hier die Biblische Legende zu einer Selbstdeutung des Dichters führt. Unsere Analyse zeigt aber auch, daß alles hier auf die Gespräche ankommt, auf die dialektischen Gegensätze, in denen sich die Meisterschaft des Franzosen bewährt. Sehr bezeichnend ist aber, daß gerade diese sorgfältige Abgrenzung der einzelnen Teile den Übersetzer R i l k e geradezu störte und daß er daher an K a t h a r i n a
Kippenberg
schreiben konnte: „Mir fehlt der Uberblick, wenn ich es sagen soll, sowohl über die französisdie, wie über die deutsch-versuchte Fassung — , es ist dieses W e r k auf ein so vereinzeltes Nach- oder höchstens Nebeneinander seiner T e i l e angelegt, daß es nirgends, als im Gefühl des sich distanzierenden Lesers zur gleichzeitigen Erscheinung
seiner
koordinierten Flächen zusammentreten k a n n " 2 6 ) . Schärfer und deutlicher läßt sich die Verschiedenheit deutscher und französischer Kompositionsweise gar nicht kennzeichnen. Andrerseits ist es aber auch sehr bezeichnend, daß Rilke mit keinem W o r t auf die völlige Verschiedenheit
der Problemstellung
beider
Werke
eingeht.
Das
durchaus dem, was uns H a n s Carossa über seine Gespräche mit Rilke
entspricht berichtet. 2 7 )
Jedenfalls war R i l k e sich wohl bewußt, daß die dialektische Ausdeutung der Fabel vom Verlorenen Sohn bei Gide seine poetische Weiterbildung am Schlüsse des „Malte Laurids Brigge" in keiner Weise berührte.
) Briefwechsel Rilke und Katharina Kippenberg 10. I. 1914. 85. «) Briefwedisel Rilke und Katharina Kippenberg 10. II. 1914. 89. 2?) Führung und Geleit (1943) S. 94 ff.
2ä 2
3 Markwardt-Festschrift
RESONANZBODEN Maurice Boucher • Paris
Es ist zwar ein Wagnis und eine eigentümliche Anmaßung, in einer Professor Markwardt gewidmeten Festschrift ein Problem der Ästhetik erörtern zu wollen, da wir in den Werken des Jubilars so viele Analysen, tiefschürfende Kommentare der verschiedensten Erscheinungen auf dem Gebiet der Literatur und auch der Kunst finden, die sich notwendigerweise von einem ästhetischen, begriffbedingten Hintergrund abheben. Erörtern wäre zuviel gesagt; denn wir sind hier auf einen zu beschränkten Raum angewiesen, von berufsmäßiger Zuständigkeit ganz zu schweigen. Bloß darauf hinzuweisen sei mir hier gestattet, in der Hoffnung, dieses Problem möge dank der Verbreitung dieser Festschrift nicht nur bei Literarhistorikern, sondern auch bei Psychologen und Soziologen beachtet werden. Während ich diese Zeilen schreibe, schicken sich bei uns, in Frankreich, zahlreiche Preisrichter an, unter den Tausenden von Romanschreibern diejenigen ausfindig zu machen, die preisgekrönt zu werden verdienen... Eine Jagd auf das G e n i e . . . So ist es jedes Jahr in den Wochen zwischen Allerheiligen und Weihnachten. Nun aber gab neulich einer dieser angesehenen Schriftsteller, denen es obliegt, dem Urteil der Welt zuvorzukommen, seinen Bedenken Ausdruck. In seinem Interview erinnerte er daran, daß Marcel Proust von achtzehn Verlegern abgewiesen wurde und daß manche nachher berühmt gewordenen Dichter zuerst im Selbstverlag erscheinen mußten: ohne ihr eigenes oder ihrer Freunde Geld hätten sie also am literarischen Himmel niemals glänzen dürfen. Übrigens: wer weiß, ob im XXI. Jahrhundert, wie heutzutage, ein Proust mit einem Balzac oder einem Dostojewski auf eine Stufe gestellt werden wird? Vielleicht höher, — mag sein! — vielleicht auch viel tiefer neben verschnörkelte Dichter des Barock oder des R o k o k o . . . Quis custodiet custodesf fragte schon Juvenal. Aber wer einmal „entdeckt" wurde, kann auf günstigere Zeiten warten und in veränderten Zeiten Bewunderer und Jünger finden. Wer nie „entdeckt" wurde, sei es von Feinden, die i'hn nur herunterreißen wollten, der, kann man nicht sagen: stirbt sofort auf immer; nein, er ist einfach nie geboren worden. Um die Frage anschaulicher zu machen, ohne den Anschein zu erwecken, man fröne einem philosophischen, restlosen, übrigens leichtfertigen Skeptizismus: denken wir uns einen Mallarmé oder einen Gottfried Benn zur Zeit Ludwigs XIV, oder Friedrichs II.! Wer hätte von ihnen gesprochen? Von Mallarmé, oder von Valérys Gedichten (ich meine hier nicht seine wunderbare und rein klassische Prosa) vielleicht in den Alkoven einiger „Précieuses", aber wo sonst? Was hätte Lessing von den Statischen Gedichten gemeint? Sicher hätte er
Resonanzboden
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nicht weiter gelesen, wenn es ihm je eingefallen wäre, im Bändchen herumzublättern. Und Picasso zur Zeit Poussins? In seinem Falle kann man wetten, daß er auch ein großer, genialer Maler geworden wäre, weil er es bestimmt nicht mit dem Kubismus versucht h ä t t e . . . Damit möchte ich nicht der trostlosen Relativität aller menschlichen Werte das Wort geredet haben. Ich glaube sogar, daß der alte Kant sich mit der „abstrakten Kunst" recht gut abgefunden hätte: seine Zweckmäßigkeit ohne Zweck ließe sich hier auf sehr passende Weise erläutern. Alles hier Gesagte hindert den Ästhetiker nicht daran, nadi bestimmten Normen zu forschen, die, — bei sich immer verwandelnder Einkleidung — doch unerschütterlich bleiben und eine unerläßliche Voraussetzung zum echten Kunstwerk sind. Aber man dürfte nicht vergessen, daß Anerkennung eines Werkes der Kunst als eines Kunstwerkes sowie dessen Einordnung in eine Hierarchie, bis zu einem gewissen Grade, ich möchte sogar sagen zum größten Teil von äußeren Umständen abhängig sind, die man wohl den Zeitgeist nennen soll. Ein anerkannter Schriftsteller kann sich, leider! alles leisten, und jede Zeitschrift wird seine Prosa oder seine Verse ohne Bedenken veröffentlichen, Beiträge, die sie niemals gebracht und viel wahrscheinlicher geringschätzig abgelehnt hätte, wenn der Autor gänzlich unbekannt gewesen wäre! Das Umgekehrte tritt auch manchmal ein, denn jeder Literarhistoriker weiß z. B., daß die erste Auflage des West-östlichen Diwans (500 Stück!) in der Mitte des XIX. Jahrhunderts noch nicht vergriffen war. Aber da es doch ein Werk Goethes war, blieb eine Revanche möglich, die allerdings eine eklatante wurde. Aber wären diese heute so hochgepriesenen Gedichte 1819 von einem Herrn Müller oder Schmidt verfaßt worden, so hätte niemand davon Notiz genommen und sie wären spurlos verschwunden. Warum also? Weil sie zur Zeit ihrer Entstehung keinen Resonanzboden gefunden hätten, nicht einmal denjenigen der Feindseligkeit. Mit diesem Wort „Resonanzboden" ist eben das Wort gefallen, das unser Problem umreißt. Mit jedem Urteilsspruch werden auch die Richter gerichtet. „Sage mir, mit wem du umgehst und ich will dir sagen, wer du bist." So wird die Geschichte der Kunst oder der Literatur zu einem psychologischen Bestandteil der Soziologie: sie zeigt die Verwandlungen des Zeitgeistes, eine Morphologie seiner Erscheinungen, den „Gestaltwandel der Götter", um mit Leopold Ziegler zu sprechen. Aufschlußreich wäre auch zu erforschen, in welchem Verhältnis das Kunstethos zum Lebensethos steht; oft wenigstens zum Teil ein umgekehrtes, ein Prozeß der Uberkompensation, was vielfältig zu belegen wäre. Vom Standpunkt der Ästhetik aus müßte man sich fragen, wie die anscheinend notwendige Entwertung der Kunstwerte (wenn nicht für die „besitzende Seele", sicher aber für die „strebende") eintritt. Dann stellte sich das menschlich schwerwiegende Problem, ob der Künstler, um Gehör zu finden, nicht gezwungen ist, auf einem anderen Register zu spielen um — unter veränderten Umständen — dasselbe zum Ausdruck zu bringen. 3*
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Maurice
Boucher
Mir sei es verziehen, wenn ich die Aufmerksamkeit der Leser dieser Festschrift zu lange in Anspruch genommen habe: ich wollte auf einige Ideen hinweisen, die mir am Herzen liegen und zu deren Erläuterung alles nötige Material in den grundlegenden Schriften von Prof. Markwardt vorhanden ist, dem ich damit unsere Hochachtung und Dankbarkeit zu bezeugen Gelegenheit fand.
WORTANALYSE U N D D I C H T U N G S D E U T U N G August Closs • Bristol
Die Avant-Garde angelsächsischer Literaturkritik sieht sich, abgesehen vom engeren Scrutiny-Kreis um F. R. Leavis, auch mit dem Namen William Empson verbunden. Er stammt aus der Cambridge-Schule wie der nun in Harvard wirkende Ivor Armstrong Richards (geb. 1893), dessen vielzitierten Werken: „Principles of Literary Criticism" (1924) und „Practical Criticism" u. a. sich der Sheffield-Anglist William Empson dankbar verpflichtet fühlt, und zwar besonders in der Erforschung des Grenzgebietes zwischen reiner Wortanalyse und Dichtungsdeutung. In seinem Werke „The Structure of Complex Words" (London 1951) sucht W. Empson, ähnlich wie I. A. Richards in obigen Studien, nach einer Neuwertung der Wortformeln, nach Erschließung der geheimnisvollen Wortassoziationen und somit nach den Ausdrucksmitteln wichtiger, neuer Formkritik, schließlich nach einer präzisen Antwort auf die Frage nach dem Gefühlsbzw. Erkenntnisgehalt eines Wortes oder Bildes. „The Structure of Complex Words" von W. Empson ist hierzulande eines der strittigsten Werke seit den Forschungen von I. A. Richards und seit T. S. Eliots „Sacred Wood" (1920). Bereits auf der ersten Seite des ersten Abschnittes „Feelings in Words" geht es dem Verfasser um die Kernfrage im Buche überhaupt: um das Verhältnis der Gefühlswerte der Sprache zu denen der Erkenntniswerte. Er bekämpft offenkundig allzu unversöhnlich Gustav Sterns Behauptung (in „Meaning and Change of Meaning"), daß alle literarischen Metaphern wesentlich „emotive", also gefühlstragend, seien, z. B. sei nach G. Stern die Bildformung: „Ups like ehernes" im Wesen dazu da, die Empfindung zu stärken, und nicht so sehr auf Anschaulichkeit und Sinnfälligkeit berechnet, da ja die „Ähnlichkeit" der Gegenstände hier im Zusammenhang lächerlich wirken würde. Zweifellos ist bei manchem dichterischem Bild das Gefühl (the feeling) das Wesenselement, und nicht sosehr die schauende Erkenntnis der Ähnlichkeiten (cognitive similarities), aber W. Empson hat wohl auch Recht, wenn er meint, daß das Bild z. B. von „almond" (Mandel) doch erst erfaßt wird, wenn man begreift, daß das Auge mandelgeformt ist; der Vergleich der Lippen mit Kirschen, meint der Verfasser, stört daher eher, als daß er den dichterischen Eindruck erhöht, wenn nicht andere Ideen bzw. Erfahrungen (die Frische, Natürlichkeit, Süße u. a. der Kirsche) mitwirken, die Gefühlswerte in sich tragen und nicht so sehr das Bild an sich. Der einzige Weg, Dichtung richtig zu lesen und zu deuten, liegt nach W. Empson darin, dem Wortsinn (füll sense) das entscheidende Vorrecht gegenüber dem Gefühlswert
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August
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(emotion) einzuräumen. Hier liegt jedoch die anfechtbare Stelle in W. Empsons ausgeklügelter Maschinerie der Zeichenwerte, denn diese artet in eine leider sinnverwirrende, jedenfalls schwerfällige Gedankensymbolik aus. N u r einige Beispiele: A: sense, Wortsinn, z. B. im Ausdruck „honest". A bezeichnet den eigentlichen Sinn des Wortes, besonders nach der Ausdeutung im N . E. D. (New English Dictionary); AU: der erste oder hauptsächlichste Sinn (connotation), der in der Bezeichnung des Wortes eingeschlossen ist, also die Deutung von „honest" als „ehrlich" und „ehrenwert", „tapfer", weil „Ehrlichkeit" oft „Tapferkeit" erfordert. „Tapfer" ist nicht der eigentlichste Sinn des Wortes „honest", aber die Bedeutung „tapfer" ist logisch (nicht in erster Linie gefühlsmäßig) im Worte einbegriffen; (A) und A (B): Nebenbedeutungen, die im Hintergrunde des Wortes sozusagen bereitstehen; — A: die Nebenbedeutung eines Ausdruckes, diß nicht erfordert, aber freiwillig oder unfreiwillig oder scherzhaft gemeint ist: „a bloody battle"; ferner A + : ein gutheißender Klang des Wortes, also gefühlsbetont; A —: absprechend, z. B. „scarcely honest". Im folgenden gibt W. Empson entsprechende Zeichen für sogenannte „Moods". Es sind nicht Symbole für Sinndeutungen, sondern ganze Sätze, in denen der Sprecher sein persönliches Urteil niederlegt: „A Mood is not a Sense, but a sentence, and it tends to give the speaker's personal judgement." Das Zeichen dafür ist £, denn wie der Verfasser ironisch meint, es sei auf seiner Schreibmaschine das einzige, das eine Wertung (valuation) bedeute; auf der amerikanischen Schreibmaschine könne dafür $ stehen! Auch diese Symbole haben Unterabteilungen, ein Gehege intellektueller Klassifikation und Nuancierung, das in seiner komplizierten Verranntheit für den Leser mehr ein Hindernis als ein Nutzen zu sein scheint. Es ist kein Zufall, daß dem Verfasser gerade im Ausland, in Japan u. a., die verschiedenen und schwer zu formulierenden Abschattierungen von Wörtern wie „quite, just, nice, certainly, surely" etc. trotz der Zuhilfenahme des N. E. D. zu schaffen machten. Der lesenswerte Teil der „Structure of Complex Words" liegt wohl in den Kapiteln, in denen ein weiter Bereich von Wortbedeutungen mit Hinsicht auf die zeitliche Formung durch Herkommen und auf den gegebenen Gehalt der dichterischen Aussage in Frage gestellt wird. Ein besonders lehrreiches Beispiel dafür ist das bereits herangezogene Wort „honest"; z. B. „honest" = „chaste"; mit Hinblick auf das weibliche Geschlecht war hier für das konventionelle 18. Jahrhundert durchaus kein Problem. In Shakespeares „Othello" spielt Jago mit den Ausdrücken „chaste" und „honest" gegenüber Cassio und Desdemona, obwohl die Wortbedeutung von „chaste" bereits mehr für das weibliche Geschlecht sich eignete, aber einige der „Augustan Moralists" suchten den Sinn „chaste" auf das männliche Geschlecht auszudehnen, doch ohne Erfolg. Für die europäische Literaturkritik liegt nach unserer Auffassung das positive Ergebnis von W. Empsons Forschungen in der Deutung der sogenannten „Schlüsselwörter", mit denen es ihm gelingt, auf einer anderen Ebene als es Wolfgang Clemen in dem Buch über „Shakespeares Bilder" (1936) gelang, die Tragödien „Othello", „King Lear" u. a. zu ergründen. Wer von den vorhergehenden Ausführungen über linguistische Haarspaltereien wiederholt und nicht mit Unrecht abgestoßen wird, dürfte
Wortanalyse und Dichtungsdeutung
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in den Abschnitten über die Verwendung der analytischen Methode f ü r dichterische Denkmäler auf fesselnde Resultate stoßen, z. B. bei der Erforschung des Gebrauches der Schlüsselwörter bei Shakespeare: „sense" in „Measure for Measure", „honest" in „Othello", „dog" in „Timon of Athens", „folly", „fool" in „King Lear" u. a. Der Verfasser zieht z. B. den reichen Vorrat von Bedeutungswandlungen und -Schattierungen des Wortes „honest" heran: „of good stock, generous, faithful t o friends, good nature" etc. mit Bezug auf „Othello", wo jenes Wort so ungemein viel mit dem innersten Wesen und der Form des Dramas zu tun hat. Die zweiundfünfzig Anwendungen von „honest" und „honesty" drängen zu eingehendsten Untersuchungen. Die vier Spalten lange Liste mit „honest" in der „Shakespeare Concordance" beweisen, daß der Schöpfer des „Othello" jenes Wort niemals im einfachen Herzenssinn: „ehrlich", „ehrsam", gebraucht. Es ist, als ob Shakespeare das Wort „honest" gehaßt hätte: Desdemona nennt Jago „honest" im Sinne von „faithful", d. h. treu in seiner sozial untergeordneten Stellung; auf Jagos Lippen klingt der Ausdruck „honest": ehrenwert ironisch: vgl. „honest knaves", „honest men" dumme, ehrliche Spießgesellen; Jago nennt Cassio „honest" im Sinne der Restaurationsauffassung; Othello selbst ist vom Wort „honest" besessen, besonders in der Szene, da er die H a n d auf sein Schwert legt und sich sozusagen vor Gott in seiner Schreckenstat rechtfertigen will. Beim Komplex der Wortdeutungen, die sich um den Ausdruck „fool" in „King Lear" sammeln, geht der Verfasser von George Orwells Auffassung in „Polemic" (März 1947) aus, daß Entsagung das Kernthema in „King Lear" sei. Lear ist bereit, seine Länder hinweg zu schenken, aber zugleich erwartet er Dankbarkeit und öffentliche Kundgebung der liebenden Verehrung von Seiten seiner Töchter. Darin irrt der greise König, der sidi weigert, sich einzugestehen, daß er nicht nur den Gütern, sondern auch der Liöbe entsagen und die grausame Notwendigkeit des Todes anerkennen muß. Dieses Thema des Verzichts wird im Spiegel des Schlüsselwortes „ N a r r " in nicht weniger als siebenundvierzig Abwandlungen von Shakespeare verdichtet. Hier wie anläßlich der Untersuchung anderer Schlüsselwörter offenbart sich vor unseren Augen der seltsame Wandel einer Anzahl von englischen Ausdrücken vom 16. Jahrhundert herauf zum 17. Jahrhundert: z.B. „dog", „fool", „rogue", „honest" u. a. Der Verfasser leistet hier einen Beitrag zur Neuorientierung auf dem Gebiete der Sprachentwicklung. Leider sind die einzelnen Kapitel unausgeglichen. Das eine über die Metapher scheint uns am unergiebigsten zu sein, was ja schon in der Einstellung Professor Empsons zur Frage der Wortanalyse zu erwarten war. Obwohl er schreibt: „Language is füll of sleeping metaphors", liegt doch eine unüberbrückbare Welt zwischen dieser Auffassung und der von Novalis: „Die Welt ist ein Universaltropus des Geistes". Eine Vorbereitung zur obigen linguistischen Analyse bildet W. Empsons Buch: „Seven Types of Ambiguity" (1930, London). Der Verfasser geht darin von der Erkenntnis aus, daß jede Prosaaussage in gewissem Sinne zweideutig bzw. doppelsinnig („ambiguous") sein kann. Diesem schwankenden Wortgebrauch spürt er in den sieben Typen nach:
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August
Class
Der erste Typus entsteht, wenn ein Wort oder eine grammatische Struktur, also eine Aussage, zugleich in mehrerer Hinsicht deutbar ist, z. B. dark (night) in Synges „Deirdre oft the Sorrows"; hier wird „dark" als Aussage f ü r die dunkle Nacht der Verzweiflung und zugleich die dunkle Nacht des Alters und schließlich für beides verwendet: Deirdre: „Do not raiise a hand to touch me". Conchubor: „There are other hands to touch you. My fighters are set in among the trees". Deirdre: „"Who'll fight the grave, Conchubor, and it opened on a dark night?" Diese Worte Deirdres zu dem König von Ulster klingen durch die Doppelsinnigkeit des Adjektivs „dark" schicksalschwer, vgl. auch das Wort „dust" im Doppelsinn von Staub (auf Helenas Augenlidern) und als Sinnbild ihres seelischen Verfalls: ,Dust hath closed Helen's eye' (Nash). Im zweiten Typus fließen zwei oder mehrere Ausdrücke zu einem Sinn bzw. einer Aussage zusammen; z. B. „Liebe". Im dritten Typus werden zwei Ideen, die eigentlich nicht zusammengehören (doch sich nicht widersprechen), in eine Einheit verschmolzen, z. B. „a beautiful and deceitful woman". Im vierten Typus werden zwei oder mehrere Aussagen, die sich widersprechen (also nicht zusammenfinden), in eine Einheit gezwungen, z. B. „merry, miserable nights". Der fünfte Typus vermengt zwei Aussagen oder Bilder, sozusagen während der Niederschrift durch den Autor, z. B. ,Ariachne' statt ¡Arachne' in Shakespeare's „Troylus and Cressida" (V. 2), und das Gedicht von William Strode (1602—1645): On Cbloris walking in the snow: „I saw fair Chloris walk alone when feathered rain came softly down" . . . w o sich die Mythen von Danae und Leda mischen. Der sechste Typus beruht auf Wortspiel und Gegensatz, so z. B. das Spiel mit „kind of self" und „unkind self", „reside" und „leave" in „Troylus and Cressida" III. und das Lied von den „lips" und „kisses", „take" und „bring" in „Measure for Measure": „Take, o, take those lips away, T h a t so sweetly were forsworn; And those eyes, the break of day, Lights that do mislead the morn: But my kisses bring again" (IV. 1.). Der schwierigste ist wohl der siebente Typus, in welchem offenbar zwei gegensätzliche Inhalte bestehen, die des Autors Meinungskonflikt widerspiegeln, z. B. „Macbeth" (IV., Schluß), wo mit den Wörtern „ripe for s h a k i n g . . . c h e e r . . . night (Tod) is long that never finds the day" eine unaussprechlich wirksame Mischung von Helle und Schatten über uns fällt, die als Gesamteindruck fast aller Schwere enthoben scheint. Für W. Empson wie f ü r I. A. Richards gilt M. Arnolds Wort von der Poesie als einer „Kritik des Lebens". In erster Linie geht es jenen modernen Kritikern auf englischem Sprach- und Literaturgebiet um eine „objektive" Wertung. Noch sind die letzten subjektiven Fehlerquellen nicht hinweggeräumt, aber es ist nun ein eigener Weg gebahnt, einerseits verständig und richtig lesen zu können und anderseits dem Urteil über dichterisches Schrifttum in zweifacher Weise Beweiskraft zu verschaffen, durch eingehend analysierende Werkerforschung und -wertung. Wir brauchen viele Forschungen, die uns ein Kunstwerk wenn möglich in neuer Sicht lesen und sehen lehren. Gelegentlich ist da bereits Vorbildliches geleistet worden,
Wortanalyse
und
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Dichtungsdeutung
und z w a r nicht nur auf ags. Gebiet, sondern audi auf anderen Fachgebieten, so z. B . in der Romanistik durch das W e r k von E . R . Curtius: „Europäische Lateinisches schichte
Mittelalter"
der deutschen
Literatur
( 1 9 4 8 ) und in der Germanistik 'durch B . M a r k w a r d t s Poetik"
(bisher B d . I — I V ,
und „Ge-
1937/56/58/59).
A m Schluß möchte ich auf die Bibliographie in meinen letzten W e r k e n (Büdiern und Artikeln) verweisen: „Die neuere deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart" in W. Stammlers „Aufriß", zweite erweiterte Auflage, Berlin. „The Harrap Anthology of German Poetry", London 1957 (mit T . P. Williams), „New Criticism: Kunstwerk — Dichter — Gesellschaft in der ags. Literaturkritik der Gegenwart" in „Neuere Sprachen" 1955, H. 5, „Forschungsbericht über Germanistik auf englischem Sprachgebiete" in den fünf „Euphorion"Bdn: 45, 46, 47, 48, 50, „Medusa's Mirror", London 1957, besonders der Essay darin über „Substance and Symbol in Poetry" mit der einschlägigen Bibliographie und einer eingehenden Darstellung der Probleme auf Grund eigener, jahrelanger Seminararbeiten über die lyrische Ausdrucksform. Ferner auf die Studien von J . M. M. Aler: Im Spiegel der Form (1947); K . Wais: „Drei Typen stilistischen Verhaltens" (1959), und Forschungsprobleme Literaturgeschichte (1951); E. G. Mason: „Der 2opf des Münchhausen" (1949); H . Friedrich: „Die Struktur der modernen Lyrik" 1958; J . B. Leishman: „Rilke Poems 1902—1926" 1957; R . P e a c o c k A r t of Drama" (1957); J . Klein: „Geschichte der deutschen Lyrik" (1957); H . Oppel: „Peregrina" (1947); V. Lange: „Forms of Contemporary German Poetry", Monatshefte (1954); S. S. Prawer: „German Lyric Poetry" (1952); E. Lunding: „Wege zur Kunstinterpretation" (1953).
der
vgl.
WILHELM SCHERERS PROGRAMMATIK U N D P O E T I K Herbert
Cysarz
• München
In der großartig einheitlichen Lebensbahn und Leistung Wilhelm Scherers (1841—86), in Scherers einheitlicher Neubegründung des Gesamtgebietes der deutschen Philologie kommt vieles zusammen. Sprachforschung und Literaturhistorie entfalten sich aus gemeinsamen Wurzeln. Romantischer Konservativismus verbündet sich mit liberalistischem Fortschrittseifer, mit positivistischer Abkehr von idealistischer Metaphysik und mit der Säkularisierung religiöser Gewißheiten in Aufgaben nationaler Ethik. Enthusiastische Liebe zum Volkstum wird Quellgrund kritischer Sachlichkeit, Unterpfand eines bald nach Feuerbach, bald nach Bismarck ausgerichteten Diesseitsglaubens, Wirklichkeitshungers, Zeitvertrauens. Dieser Realismus freilich bewährt seinen idealistischen Schwung. Er widersagt philosophischen und dogmatischen Normen, erhebt indes die Dichtung und das Dichtertum unserer Klassiker zu einer menschheitlichen Heilsbotschaft. Die Zuversicht auf die Naturgesetzlichkeit in Sprache und Literatur schont ja bestärkt die romantisch-realistische Neigung zu allem Besonderen, Eigentümlichen und Ursprünglichen; zugleich umgibt sie sich mit dem universellen Horizont der Humanität und den zugehörigen Werten des Wahren und Schönen, Edlen und Guten, mit Leitwerten der mikrokosmischen Persönlichkeit und der individuellen Wesensgemeinschaft. So münden Scherers vorwiegend romantische Philologie und seine zudem liberalistische ja positivistische Literarhistorie in eine Poetik, die ohne Preisgabe an klassischem und klassizistischem Vermächtnis, an realidealistischer und idealrealistischer Haltung und mehr, auch schon den Boden des Naturalismus bestellt — dessen Durchbrüche Scherer nicht mehr erleben sollte. Diese Umschwünge hätten ihn unweigerlich in Konflikte stürzen müssen, die durch die folgenden Entwicklungen wohl vertieft worden wären. Sein früher Tod hütet die Einheit seines Werks, seinen wandellosen Erfolg bis ans Ende. Die methodologische Einheitlichkeit und Einfachheit ist vom nächsten Forschergeschlecht allzu arglos festgehalten worden, ebendarum seit dem übernächsten weithin immer krasserem Gegeneinander, Auseinander und Durcheinander der Methoden gewichen. Vollends der spätere, bis zur Stunde noch nirgends klar überwundene MonopolKonflikt der Verfahrensweisen hat zuböserletzt das Streben nach Wahrheit, Verständnis, Objektivität, Sach- und Wesensgerechtigkeit in einem Ausmaß erschüttert, das den wissenschaftlichen Charakter der Germanistik und der zugehörigem Disziplinen bis zuunterst in Frage zu stellen droht. In solcher Lage ist ein sichtender, wägender Rückblick auf die Programmatik Scherers, einschließlich seines Versuchs einer grund- und gesamtwissenschaftlichen Poetik, in mehrfachem Sinn aktuell und voll Zukunft.
Wilhelm
Scherers Programmatik
und
Poetik
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Zunächst setzt Scherer das quellenforscherliche, sprach- und altertumskundliche Gebäude Karl Lachmanns, Jacob Grimms, Karl Müllenhoffs fort. Er erweitert es, ausbauend und hinzubauend, aus den Materialmassen, die seit Koberstein und vornehmlidi Gervinus, in engerem Bezirk Julian Schmidt, aufgeschichtet worden sind. Scherer zuerst gestaltet dieses vaste Ganze durch, er macht es zum arbeitsteiligen Bau eines schlüssigen Fachs — gewissenhaft philologisch und in aller gediegenen Kleinarbeit voll der Jacob Grimm'schen Andacht zum Großen, mit der Herder'schen Blickrichtung nach Nation und Menschheit, dazu der echt Scherer'schen universaltheoretischen Initiative, einer zugleich vielseitig praktischen Initiative. So tritt das Gesamtgefüge der Germanistik an die Seite der älteren historischen Fächer und der klassischen Philologie, neben der seit Friedrich Diez sich konsolidierenden Romanistik und vor der durch Julius Zupitza (Scherers Mitnachfolger in Wien und dann fast gleichzeitig antretenden Berliner Kollegen) verselbständigten Anglistik. Zweierlei schöpferische Vermögen mußten sich zu diesem Beginnen verschwistern: ehrfürchtige Überlieferungstreue, Sachlichkeit, offene Menschlichkeit; und ungestüme Verwegenheit des Entdeckers, des Erschließen neuer Wirklichkeiten, neuer Seh- und Erkenntnisweisen. Beides war Scherers Natur und Bestimmung von je, der unversiegliche Impetus des Initiators und die Feldherrngröße und -kunst, zugleich Fundamente zu legen, konkrete Wege in weite Zukunft zu weisen und die unumstößliche Ebene dieser Wege zu schaffen, durchaus neu und von Anbeginn bestandfähig wie nur Taten des Genies: vorher unausdenkbar, forthin unwegdenkbar. Diese Definition mag an Goethe gemahnen — und Goethes Gestirn steht über dem Lebenswerk Scherers, dessen persönliches Temperament ihn eher an Schiller, an Lessing hätte binden können. Im Bann von Goethes Neptunismus wird dem jungen Philologen die Geschichte der deutschen Sprache zum Werdegang deutschen Wesens. Gutenteils der junge Goethe, der damals erst textlich zu entdecken war, heißt den reifenden Straßburger Germanisten sich mehr und mehr der neueren Literaturgeschichte verschreiben. Mit Goethes Tod endet Scherers klassischer Gesamtaufriß der deutschen Literatur, ein Buch über Goethe war das Hauptvorhaben seiner letzten Jahre. Und etwas wie der Segen Goethes ruht auf Scherers Leistung und Geschick: etwas vom Goethischen Genie der Objektivität; etwas von der hohen Kunst des Möglichen, des Äußerstmöglichen, das ein bestmöglich Erfüllbares ist; und das fruchtbare Gelingen je und je. Damit ist auch an die Schicksalsgunst der Situation gerührt. Ein Goethe heute, da jedes Tausendstel seines forscherlichen Gesichtskreises eine rüstige Lebensarbeit erheischt und ihr auf dem Fuß veraltet? Ein Scherer, der 70, 80 Jahre alt geworden wäre? Nur dadurch, daß Scherer im 46. Lebensjahr starb wie Schiller, konnte diese prometheische Natur eine untragische Natur bleiben (wie Schillers tragische Natur bei viel längerem Wirken nur als untragische, wenn nicht gar tragikomische Natur denkbar wäre, sohin als Schiller-Natur undenkbar ist). Welches Los, in jener Fortschrittszeit aufzusteigen, in der schon die Erfindungen etwa des Augen- oder des Kehlkopfspiegels, des elektrischen Akkumulators oder der Glühlampe zu Kettenreaktionen überwältigender Effizienz führten! Soundsoviele Editionen und Synthesen Scherers hätte damals oder wenig später auch ein andrer unternommen — welcher andre aber hätte so umwälzendem
44
Herbert
Cysarz
Anhieb so gültige Vollendung gepaart? Die Schritte dieses Bahnbrechers sind mit dem Goethe-Genie der Erstmaligkeit zugleich Richtigkeit gesetzt w o r d e n . E r machte sich's philosophisch leicht, um mit der Präzision u n d Vehemenz eines T o r p e d o s in die Ziele seiner Sachforschung zu stoßen. E r beruhigte sich o f t schnell über prinzipielle Skrupel, um so zäher konnte er sich in Zweifel über Tatsachen u n d E r fahrungslücken verbeißen. E r glaubte a n D a r w i n u n d Buckle, an H e l m h o l t z u n d Virchow; er hielt es aber auch mit R a n k e u n d Mommsen, mit Macaulay u n d Michelet. Sein fortschrittsfreudiger Spürsinn u n d Erklärungsdurst sammelte alle K r ä f t e in eine Generaloffensive des Empirismus — v o r a n ist hinan, was bedarf's noch des Jenseits, des staunenden oder betenden H a r r e n s vor Unergründlichem?! In grobem Gleichnis ausgedrückt, einem Gleichnis sowohl des Erfolgs als auch der Mischung u n d des Rätsels: Ein echtbürtiger D o k t o r Faustus, keineswegs ein "Wagner, lenkt den selbsterfundenen, täglich verbesserten Rennwagen mit den ungealterten Flügelrossen durch die Siegesalleen der Streber-und-Gründer-Zeit. Noch h ö r t niemand auf den Zeitgenossen Friedrich Nietzsche, der jahraus jahrein seine Verkündigung der W e l t w e n d e in die Einsamkeit schreit. Es ist das beiweitem stärkste weltliterarische Ereignis der 1870er, 80er J a h r e , doch der Großmeister der deutschen Schrifttumsforschung Wilhelm Scherer — einer der nächsten Altersgenossen Nietzsches (1844 bis zum geistigen T o d 88), übrigens auch H a n s M a k a r t s (1840 bis 84) — scheint z w a r etwas von Zukunftsphilologie, also v o n W i l a m o w i t z ' Streitschrift wider Nietzsche vernommen, dagegen keine Seite Nietzsches gelesen zu haben. Auch seine absprechenden Äußerungen über Richard W a g n e r (die schriftlichen u n d vollends die mündlichen, die von Hanslick in dessen „Lebenserinnerungen" vielleicht übertrieben werden) verraten keine nähere Kenntnis. Scherers Nichtberührung mit Nietzsche aber zeichnet seine geistesgeschichtliche Stellung. Sein Reich ist das vor-problematische Zeitalter der Geisteswissenschaften. Langlebiger ist Wilhelm Dilthey, acht J a h r e älter als Scherer, in die Nach-Nietzsche-Zeit unserer Geisteswissenschaften vorangedrungen, er h a t noch die methodischen Entwicklungen nach dem ersten Weltkrieg mitbestimmt. Scherers Vermächtnis bleibt krisenfest durch G r ö ß e u n d Geschlossenheit. E r hängt mit allen Fasern a n der Schaffensgemeinschaft des Volkstums, nicht minder innig bejaht er die Menschheitsordnung der K u l t u r u n d K u n s t — diese individuelluniverselle P o l a r i t ä t ist ihm keineswegs nur ein nationalliberaler K o m p r o m i ß . Die R o m a n t i k ö f f n e t ihm ein unermeßliches R u n d der lebendigen K r ä f t e ; er bestellt es positiv, ja weitesthin aufklärerisch, ohne romantische T r a n s z e n d e n z , Tiefenpsychologie u n d Wechseldurchdringung der Perspektiven. M i t dem Barock u n d dem Biedermeier hat der nächst W i e n Geborene u n d in W i e n Herangewachsene (katholischen Bekenntnisses) weniger gemein als vielleicht irgendein bedeutender Österreicher. D e n sprachlichen, dichterischen, geschichtlichen Objekten aber begegnet er mit einer D i f f e r e n z i e r t heit der Intuition u n d der Resonanz, die aller theoretischen Schranken spottet. Sein Sinn f ü r schöpferisches Menschentum dringt immer wieder bis a n das göttliche Schöpfungsgeheimnis. Welche Geisteslandschaften, welche monumentalen P o r t r ä t s holt er aus dem Lebensgang eines N i k o d e m u s Frischlin oder aus d e m Schriftengeschwader v o n u n d über J o h a n n Fischart heraus! W i e eindringend u n d unabdinglich wesenswahr legt er — trotz eingestandener Abneigung, die sich alsbald forscherlich-darstellerisch in das
Wilhelm
Scherers
Programmatik
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Gegenteil kehrt — für Grillparzer Zeugnis! Wie singt und schweigt ihm der Frühlingswald um Walther von der Vogelweide, wie gewittert es von Türkonkrieg und Pest um Abraham a Sancta Clara, wie eigenzügig profilieren sich noch die kleineren geistlichen Dichter des 11. und 12. oder-die Dramatiker des Luther-Jahrhunderts! Hier protokolliert kein Beamter, hier saldiert kein Buchhalter. Der Mut zu irren mag fehlgehen, wie im nodi ungelichteten Gewirr des 17. Jahrhunderts. Durch jede Abhandlung aber zucken Blitze der Eingebung. Scherer baut ab imo, in stetem Ausgriff Wort-WerkMensch-Zeit-Volk. Wieder und wieder legt er erste H a n d an Unberührtes — ohne den ruhelosen Seitenblick auf Gebirge sekundärer Literatur, wie sie vieler heutigen Literarhistorie die Optik verzerren und jene gewundenen, gegenstandsfernen Diatriben bescheren, deren eine die andere auslöscht. Im Sinn der Napoleonischen Taktik übt Scherer grundsätzlich die äußerste Ökonomie, um an den Entscheidungspunkten alles in die Waage zu werfen. Diese Punkte liegen für ihn um 1200 und 1800 herum, ein früher Zenit wird um 600 angesetzt, als vermeinte Kristallisationszeit unserer Heldensage. Indes die Periodisierung nach 300und 600jährigen Phasen bleibt wie manch anderes Scherer'sche Theorem nur eine schmale Startbahn seiner empirischen, bild- und ahnungsmächtigen Flüge. Derselbe Geist bewährt seine Sprengkraft und Ordnungskraft in den programmatischen Konzeptionen, deren Leitmotive nunmehr herausgestellt seien. Scherers erstes Forschungsprogramm entsteigt seinen philologischen Lehrjahren und frühesten Lehrerjahren. Den anno 1858 in Wien Immatrikulierten hält seine Heimat-Universität (im besonderen der Unterricht Franz Pfeiffers) nur zwei Jahre lang. Schon 1860 eilt Scherer nach Berlin: in die Stadt Jacob Grimms, mit dem er bald auch persönlichen Umgang pflegen darf; in die Hörsäle Rankes und Mommsens, des indogermanistischen Sprachforschers Bopp, des Sanskritisten Albrecht Weber, des Rechtshistorikers K. G. Homeyer, des Logikers, Ethikers und Ästhetikers Friedrich Trendelenburg; in die Werkstatt der Germanisten Moriz Haupt und vor allen Karl Müllenhoff. Der wird Scherers Waffenmeister, Wachrufer und Wegbereiter, durch zwei Jahrzehnte überdies sein vertrautester Freund. Nach wenigen Jahren schon tritt er Arm in Arm mit seinem „Freund Dr. Scherer aus Wien" — einem bis dato Unbekannten, der durch das Lob der Vorrede aus solchem Mund gleichwie unter Verleihung eines hohen Ordens eingeführt wird — vor die Öffentlichkeit: „Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem V i l i , bis XIII. Jahrhundert", hg. v. K. Müllenhoff und W. Scherer, Berlin 1864. Müllenhoff hat zwei Drittel der poetischen Stücke bearbeitet, die restlichen poetischen und sämtliche prosaische sind von Scherer herausgegeben und, unter Heranziehung mittelalterlicher Theologie und Musik, einläßlich kommentiert. Eine Erstlingsaufgabe ohnegleichen, die keinen würdigeren und reiferen Vollzieher finden konnte. Alsbald auch die Grundlage von Scherers Habilitation in Wien, 1864 (vier Jahre später, nach Pfeiffers Tod und nicht ohne den Ansporn einer Berufung nach Graz, wird er zum Wiener Ordinarius ernannt). Die beiden Hauptwerke der Wiener Zeit sind Scherers Bücher „Jacob Grimm" (1865, Neuauflage 1886) und „Zur Geschichte der deutschen Sprache" (1868, 2. A. 1878).
Herbert
46 Die
weitausholende
Würdigung
Grimms
Cysarz entrollt
zugleich
eine
Geschichte
der
germanischen Philologie, ja der germanischen Renaissance vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, einen umsichtig kritischen und machtvoll synthetischen Durchblick. Sie birgt Geist vom Geist der „einfachen, frommen,
treuen und warmen
Menschen",
die die
Schätze der deutschen Vergangenheit zutage gehoben haben; und sie faßt Erbe und Gegenwart
in ein aufrüttelndes
Zukunftsprogramm.
Die
Geschichte der
deutschen
Sprache nimmt es auf und drängt es in jubelnde Sätze zusammen wie diese: „Niemand wird leugnen, daß im Gegensatze zu den alten Hauptstoffen der Kunst und Forschung, dem Christentum und der Antike, seit etwa hundert Jahren das Deutsche, Einheimische, das irdisch Gegenwärtige und Praktische in stetigem Wachstume zu immer a b schließenderer Geltung hindurchgedrungen ist. Warum sollte es nicht eine Wissenschaft geben, welche den Sinn dieser Bestrebungen, das was den innersten aufquellenden Lebenskern unserer neuesten Geschichte ausmacht, zu ihrem eigentlichen Gegenstande wählte, welche zugleich ganz universell und ganz momentan, ganz umfassend theoretisch und zugleich ganz praktisch, das kühne Unternehmen wagte, ein System der nationalen Ethik aufzustellen, welches alle Ideale der Gegenwart in sich beschlösse und, indem es sie läuterte, indem es ihre Berechtigung und Möglichkeit untersuchte, uns ein herzerhebendes Gemälde der Zukunft mit vielfältigem Tröste für manche Unvollkommenheiten der Gegenwart und manchen lastenden Schaden der Vergangenheit als untrüglichen Wegweiser des edelsten Wollens in die Seele pflanzte. Der Verlauf einer ruhmvollen glänzenden Geschichte stünde uns zu Gebote, um ein Gesamtbild dessen was wir sind und bedeuten zu entwerfen: und auf diesem Inventar aller unserer Kräfte würde sich eine nationale Güter- und Pflichtenlehre aufbauen, woraus den Volksgenossen ihr Vaterland gleichsam in atmender Gestalt ebenso strenge heischend wie liebreich spendend entgegenträte. . . Wir sind es endlich müde, in der bloßen gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materiales den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken. Vergebens daß uns geistreiche Subtilität einbilden will, es gebe eine eigene, geschichtlicher Betrachtung allein zustehende Methode, die ,nicht erklärt, nicht entwickelt, sondern versteht'. Auch die verschiedenen, zum Teile tiefsinnigen Theorien, in denen das Stichwort der Ideen als der Stern über Bethlehem erscheint, haben für uns wenig Anziehungskraft. Was wir wollen, ist nichts absolut Neues, es ist durch die Entwicklung unserer Historiographie seit Moser, Herder, Goethe für jeden der sehen will unzweifelhaft angedeutet. Goethes Selbstbiographie als Kausalerklärung der Genialität einerseits, die politische Ökonomie als Volkswirtschaftslehre nach historisch-physiologischer Methode andererseits zeichnen die Richtung vor, die wir für den ganzen Umfang der Weltgeschichte einzuhalten streben. Denn wir glauben mit Buckle daß der Determinismus, das Dogma vom unfreien Willen, diese Zentrallehre des Protestantismus, der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte sei. Wir glauben mit Buckle daß die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen der Naturwissenschaft insofern wesentlich verwandt seien, als wir die Erkenntnis der Geistesmächte suchen um sie zu beherrschen, wie mit Hilfe der Naturwissenschaften die physischen Kräfte in menschlichen Dienst gezwungen w e r d e n . . . " Diese Gesamtwissenschaft beginnt bei der Sprache, in der sich „die Entstehung unserer Nation" offenbart, weist gleiche Schaffens- und Schicksalskräfte in der Literatur nach und langt mit alledem in die reellsten Anliegen der Zeit. Jeder Zusammenhang belichtet individuelles Material, jede Einzelheit deutet nach durchgehendem Gesetz. Sprachgesetze seien Naturgesetze, „auch zwischen den Wörtern herrscht ein Kampf ums Dasein". Vorschnell freilich wird manch sprachgeschichtliche Entwicklung unterstellt, die bald durch Hermann Paul, Wilhelm Braune, Eduard Sievers und Andere als viel verwickelteres Phänomen erkannt worden ist. Scherers Geschichte der deutschen Sprache
Wilhelm Scherers Programmatik
und
Poetik
47
ist als solche ein nur noch historisches Dokument. Unüberholt bleibt der zündende Anstoß und Gesamtentwurf, der nun immer tiefer in die Literarhistorie hinüberleitet. Die hatte schon den Wiener Gymnasiasten Scherer — aufgewachsen bei Herder und Goethe, bei 'den „Grenzboten" Gustav Freytag und Julian Schmidt, bei Gervinus („dem einzigen Literarhistoriker großen Stils, den wir besaßen") — für deutsche Art und Sprache begeistert. Und noch als Wiener Professor, 1871, feiert Scherer im Verein mit dem Historiker Ottokar Lorenz die Heimkehr des Elsaß durch ein gesamtgeschichtliches Gemälde dieser Landschaft; ein Gesamtbild, zu dem politisch-historische und literarhistorische Darstellung „in zusammenhängender Erzählung" einander durchflechten. Kurz darauf, 1872, folgt er dem Ruf der jüngsten Reidisuniversität. Scherers Straßburger Jahrfünft, wohl das loderndste seines Hervorbringens, vollendet den Ubergang in die Literaturgeschichte. E r gründet das erste germanistische Seminar in deutschen Landen, er hält je einen Übungskurs für altdeutsche Philologie und für neuere deutsche Literatur ab — noch in seinen Berliner Studienjahren hatte die strikt philologische Schulung in den Händen der klassischen Philologen gelegen, gleich Karl Lachmann hatte Moriz Haupt germanistische Textkritik als klassischer Philologe in ditto Seminarien gelehrt. Jetzt also eigenständige deutsche Philologie und methodische Literaturforschung! Bereits im Elsaß-Buch war ein großartiges literarhistorisches Panorama aufgegangen. Die folgenden Schriften zur Dichtung des X I . und X I I . Jahrhunderts, zur geistlichen Literatur der Kaiserzeit (1874/75) strotzen von Samen der Erkenntnis. Die gleichzeitig eröffnete Schriftenreihe „Quellen und Forschungen" zeigt das Vordringen auch der Scherer'schen Schule. Die erste Summe zieht die große Literaturgeschichte, die noch in Straßburg geplant und in Berlin, Scherers Wirkensstätte seit 1877, abgeschlossen wird (Erstauflage 1883), ein ebenso synthetisches wie initiatorisches, so grundlegendes wie gestaltendes, beschwingendes Monumentalwerk, zudem ein Handbuch auf der Vollhöhe der Stoffkenntnis und -Verarbeitung von damals, jedem denkenden Zeitgenossen verständlich. Scherers eigene Ankündigung dieses Hauptwerks sagt: „Das Buch will nicht durdi bloße Inhaltsangaben und Auszüge in dem Leser das täuschende Gefühl erwecken, als ob er die Kenntnis der Literaturdenkmäler selbst entbehren könnte. Es will vielmehr durch historisch-ästhetische Betrachtung zum Genüsse literarischer Kunstwerke anleiten. Es will nicht möglichst viele Schriftstellernamen anhäufen, sondern allgemeine Richtungen durch strenge Auswahl ihrer besten Vertreter charakterisieren... Es will in erster Linie die Geschichte der deutschen Dichtung erzählen, aber darüber hinaus stets den Blick auf das gesamte geistige Leben und seinen Zusammenhang mit der nationalen Kultur gerichtet haben . . . "
Hier bekundet sich jenes zweite, erweiterte Forschungsprogramm, das Scherer am bündigsten bei seinem Eintritt in die Berliner Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1884 verlautbart (und in der Rede auf Jacob Grimm am 4. I. 1885 ergänzt): „Die deutsche Philologie verfolgt die gesamte Entwickelung unserer Nation, indem sie in ihr inneres Leben einzudringen sucht. Von der Mythologie der alten Germanen und ihren arischen Wurzeln bis zu dem modernsten Gedichte fallen die glänzendsten wie die bescheidensten Äußerungen deutscher Geisteskraft in ihr Bereich . . . Sie zählt Herder zu ihren Ahnherren und wendet gerne den vergleichenden Blick über die Grenzen des Vaterlandes hinaus, um nach dem Gesetze der geschichtlichen Erscheinungen zu spähen oder wenigstens die nationale Eigentümlichkeit schärfer zu erfassen. Sie steht in einem traditionellen und niemals ernstlich getrübten Verhältnisse zur vergleichenden Sprachwissenschaft. Sie hat von der klassischen Philologie vieles
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Cysarz
gelernt und wird darin gewiß fortfahren, wo es ihr nützen kann. Sie ist ein Teil der deutschen Literatur selbst, ihre Begründer gehören zu unseren Klassikern, und die Art, wie Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm v. Humboldt literarische Dinge betrachteten, gab ihr das große Vorbild einer auf ästhetische Probleme gerichteten historischen und systematischen Untersuchung. Sie hat das Recht, ja die Pflicht, der Literatur der Gegenwart ihren sympathischen Anteil zu schenken; und es geziemt ihren Vertretern, daß sie die Sprache, die sie forschend ergründen sollen, auch kunstmäßig zu handhaben und sich einen Platz unter den deutschen Schriftstellern zu verdienen wissen . .
Unter solcher Optik umspannt Scherer das Gesamt der deutschen Philologie. Schon seine Nächsten mußten als Forscher entweder Neugermanisten werden wie Erich Schmidt, Richard M. Meyer, die Österreicher Jakob Minor, August Sauer, M a x v. Waldberg — oder Altgermanisten wie Richard Heinzel, Edward Schröder, vorwiegend auch Konrad Burdach. Gustav Roethe vereinte die Hemisphären nicht bloß als unübertrefflicher Lehrer der Forschung, doch bereits mehr und mehr auf Kosten der eigenen wissenschaftlichen Produktion. Anton Schönbach, viele Jahre Professor in Graz (aus Rumburg in Böhmen gebürtig), schlug eine einmalige Luftbrücke zwischen Literatur des deutschen Mittelalters und Literatur der Vereinigten Staaten. Gewiß hält die Germanistik, schon das Lehramt an den höheren Schulen, die immer größer werdende Einheit auch fernerhin fest. Indes die Grenzen der menschlichen Arbeitskraft erzwingen zunehmende Arbeitsteilung. Scherer selbst hat seinen Bogen schließlich titanisch überspannt: Einem ersten Schlaganfall im Sommer 1885 folgt der zweite, tödliche am 6. August 1886. E r hat diesem Schicksalsgang in Berlin noch ein drittes programmatisches Konzept entrissen, ein unvollendetes: seine nachgelassene Poetik, nach Vortragsentwürfen und Zuhörer-Aufzeichnungen eines vierstündigen Kollegs (im Sommerhalbjahr 1885) drei Jahre später herausgegeben. Es ist das letzte Unterfangen seines nunmehr so fach- wie grundwissenschaftlichen, nicht nur auf einem umfassenden Aspekt und Horizont, nicht nur auf einer durchgängigen Methode beruhenden Universalismus — einer universellen Auswertung des Geschichtlich-Einmaligen, des mehr-als-rationalen schöpferischen Seins und Werdens. Grobschlächtige Theorien der Zeit, namentlich Evolutionismen in Anschluß an Darwin, Tylor, Fechner und Andere, Zurechtfindungen im Neuland der Soziologie Spencers und Taines, werden oft weit übergriffen durch scharfe und kühne Beobachtungen, die nach den Urmerkmalen der dichterischen Gattungen, den Elementen des Schaffensvorgangs und der Urteilsbildung konvergieren. Frühgut und Spätgut des Schrifttums, nicht bloß des deutschen, volkstümliche Gebreiten nein Tiefen und dichterische Höchstleistungen treten in Wechselerhellung. Wieder und wieder lassen die Zündschläge intuitiver Durchdringung und Erkenntnis die nicht durchweg ausgetragenen Thesen und Hypothesen hinter sich. Scherer will seine Universaltheorie der Literatur, die ebenso die sprachlichen Quellen einschließt wie die geschichtlichen Uberlieferungen der Formen und die kulturellen Konstellationen, die Leitbilder des Lebens und des Ethos, die Beschaffenheit des Publikums, sogar die jeweiligen technischen Einrichtungen (Theater, Publizistik, Verlagswesen, andere Wirkungs- und Verbreitungsweisen des Wortes), von aller normativen Schönheitslehre befreien. „Ich bin überzeugt, daß die philosophischen Untersuchungen über ,das Schöne' die Poetik wenig gefördert h a b e n . . .
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und
Poetik
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Nur Empiriker wie Lessing fördern." Und seinesteils: „Diese philologische Poetik soll der früheren Betrachtungsweise gegenüberstehen, wie die historische und vergleichende Grammatik seit J . Grimm der gesetzgebenden Grammatik vor J . Grimm gegenübersteht." Alle Wahrheit des Kunstwerks weist nicht so in Dimensionen der Idee als in besondere Wirklichkeit zurück (und voraus). Auch an der Phantasie werden die reproduktiven Momente betont. So ergibt sich eine gewisse Grundlagen- nicht Ergebnisverwandtschaft zum kommenden Naturalismus. Mag sein, daß Scherer bereit gewesen wäre, auch in naturalistischen Menschen- und Wirklichkeitsbildern, vom „Meister ö l z e " bis zum „Fuhrmann Henschel", jeden Gehalt an echtem und vollem Menschentum, an essentiellem Charakter, an allverbindender Natur, an Schicksal, Ethik und innerer Dramatik zu bejahen. Sicherlich würden ihn seine Hochschätzung Freytags und Geibels, dieser seither viel unbilliger unterschätzten Autoren, seine realistisch-klassizistischen Sympathien etwa für Auerbach oder Anzengruber u. v. a. leicht in heftige Widersprüche zur jüngsten Generation gebracht haben. Während anderseits seine Ablehnung der „Bummelpoesie", der „malerisch-romantischen" Idyllik und epigonalen „Goldschnitt"-Schöngeisterei im zeitgenössisdien Schrifttum ein Vakuum feststellt, das nach umwälzenden Aufbrüchen ruft und mancher naturalistischen Polemik zum voraus beipflichtet. Wahrscheinlich hätten Begegnungen mit der Literatur der Jahrhundertwende, denen er keinesfalls mißvergnügt aus den Wegen geblieben wäre, die einhellige Grundhaltung seiner Poetik gelockert, seine Grundanschauung zu neuen Auseinandersetzungen mit psychologischen, kulturkritischen, in strengerem Sinn moralischen und wohl gar metaphysischen Fragen gedrängt. Will sagen: Erfahrungsraum und Gesichtsfeld seines letzten Programms sind schicksalhaft bestimmt durch die Nichtbegegnung (wie mit Nietzsche) mit den Aufgängen des Naturalismus und dessen neuromantischer und neoklassizistischer Widerspiele. Innerhalb seines Bereichs aber ringt Scherer unter Preisgabe aller Normen geschweige Schablonen um unverbrüchlich gültige — freilich nicht apriorisch-absolute — Werte, um universellen Sinn und Zusammenhang jedes schöpferischen Wortgebilds. Sein Hauptanliegen ist die Vereinigung „historischer" und „ästhetischer Gesichtspunkte", die Vermählung philologischer Textkritik, Sprach- und Stofforschung mit Bewältigung der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhalte und mit wesensunmittelbarer Einsicht in die Prozesse des Schaffens und ihre Werkwerdungen. Scherer hat nicht nur den reichsten wissenschaftlichen Nachwuchs geschult, in seinem Hörsaal sitzen nicht nur führende germanistische Lehrer der Folgezeit, sondern auch künftige Kritiker, Zeitungs- und Bühnenmänner von erstem Rang. Mehr und mehr möchte er das Ganze seiner Wissenschaft auf das Forum der Nation führen, ja zum Forum der Nation machen. Schon das Gesamtfach der Germanistik, wie andre geisteswissenschaftliche Fächer, überschreitet die K r a f t und die Zeit des Einzelarbeiters. Volle wissenschaftliche Relevanz, Genauigkeit und Sicherheit, Sicherung einerseits gegen Quisquilien, anderseits gegen Moden und Konjunkturen, ist hier wie in jedem Fachgebiet der Geisteswissenschaften — deren Erträge sich ja niemals durch runde praktische Anwendungen beglaubigen lassen — nicht ohne umfassendere Ausrichtung möglich. Desgleichen müssen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften einander im Auge behalten, so gewiß das Zusammenwirken in wechselseitiger Ergänzung, keinesfalls Nachahmung oder Aus4 Markwardt-Festschrift
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gleichung, z u suchen bleibt. D o c h auch jederlei Q u e r v e r b i n d u n g gebietet u n i v e r s a l t h e o r e tische F u n d i e r u n g .
Beides h a t Scherer eingeleitet u n d a u f seinen sämtlichen
Arbeits-
feldern w a g n i s - und w e r k f r e u d i g g e f ö r d e r t , Alles in a l l e m h a t er sowohl der einhelligen sachwissenschaftlichen B e g r ü n d u n g und E n t f a l t u n g als auch der theoretischen
Geltung
der deutschen Philologie u n d L i t e r a r h i s t o r i e entscheidende Dienste geleistet. Auch seine g r u n d - u n d gesamtwissenschaftliche P r o g r a m m a t i k , bei m a n n i g f a c h e n z e i t g e m ä ß e n zulänglichkeiten (insbesondere der , , P o e t i k " - E n t w ü r f e ) ,
h a t den Aufstieg der
Un-
Germa-
nistik ermöglicht u n d begleitet. N i c h t o h n e f o r t s e t z e n d e K o n z e p t i o n e n w i r d diese ihr B e s t m a ß an Wissenschaftlichkeit wiederfinden u n d b e h a u p t e n * ) .
*) Jede wahre Fundamentalanalyse des Werdens und Seins bedarf der geisteswissenschaftlichen Aufschlüsse nicht weniger als der Aufschlüsse der Naturwissenschaften. Zwar gehen die jeweils empirisch ergibigsten und umwälzendsten Wissenschaften, also heute Physik und Chemie samt Geschwistern, auch philosophisch in Führung. Indes eine konjunkturelle Totalisierung solchen Primats zieht allemal menschlichen, geistigen, kulturellen Verfall nach sich. Mehr als irgendwann tut denn ebenjetzt geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung not. Zur Bestätigung seien aus den einschlägigen Büchern des federführenden Gewährsmanns, aus ihren zahlreichen mit Scherer'schen Themen verwandten Komplexen, nur sieben stichwörtlich herausgehoben, die ebenso für die Unersetzlichkeit der Geisteswissenschaften im philosophischen Weltbild und Erkenntnisgebäude zeugen wie für die Unentbehrlichkeit des philosophischen Horizontes in der geisteswissenschaftlichen Forschung: 1. Kein kritischer Blick in die Wirklichkeit insgesamt ohne Auswertung des Einmaligen; der ausgreifenden, zugleich inbildlich-inbegrifflichen Funktionen der Individualität; der kollektiven ja universellen Zusammenhänge der schöpferischen Individualität, der Zusammengehörigkeit von Individuation und Schaffensgesetz. 2. Dieses Gesetz heischt überall Mehrung und Ordnung, unerschöpflich Neues und Drang zu Gültigem, gültig Fügendem und Gefügtem; solcher Pulsschlag knüpft jegliches Schaffen an eine durchgehende Schaffensordnung der Wesen und Dinge. Deren unmittelbarstes Organ und inswerksetzendes Vermögen ist die menschliche Phantasie. 3. Das sich so kundgebende Weltgesetz läßt sich als „Gesetz der unvorbestimmbaren Bestimmtheit" aussprechen: nie restlos vorausbestimmbar, dennoch immer auch gedanklich (weithin mathematisch) schlüssig. 4. D i e Gesetzlichkeiten des mehrend-ordnenden Schaffens strukturieren die uns gegebene W i r k lichkeit als Zusammenwirkung bzw. Wechseldurchdringung von Natur und Geschichte, genauer von Natürlichkeit und Geschichtlichkeit (es gibt Geschichte in aller N a t u r und N a t n r in aller Geschichte). Die nämliche Struktur des Schaffens erweist sich auch am Gesetz der großen Zahlen, das die N a t u r wie die Geschichte durchzieht. 5. Aus alledem ergibt sich die Stellung des Menschen im Gang und Fug der werdenden W e l t (dieses Seins im Werden), ergibt sich der allemal individuell in K r a f t zu setzende menschliche Schöpfungsauftrag — und damit eine Axiomatik der persönlichen Existenz, des Charakters, des Schicksals usw.. 6. Dieselbe Ineinswirkung von Freiheit und zwingender Bestimmtheit (determinierender N o t wendigkeit) bewährt sich im Bereich der Ethik und allem was mit ihr zusammenhängt. 7. Erst die grund- und gesamtwissenschaftliche Einbeziehung der geisteswissenschaftlichen Befunde stellt die Verteilung des Rationalen und des Irrationalen zur Untersuchung; nicht ohne diese Fragestellung läßt sich das Ganze der „Wahrheit", der „Wirklichkeit" oder des „Seins" (desgleichen metaphysische Globalprobleme wie das der Theodizee) verbindlich aufs Korn nehmen. Diese und verwandte Einsichten wollen nicht zuletzt an der Geschichte und jeder Einzelerscheinung der Literatur, der Weltliteratur, an aller Dichtung der Gegenwart erprobt sein. N u r von hier aus läßt sich der heutige Zwist von geschichtlicher und wesensforscherlicher Kunstbetrachtung überwinden. Und nur von hier aus wird sowohl das ontologische Kräftespiel der Dichtung voll offenbar als auch die Notwendigkeit, das Sein je und je in Dichtung zu befassen.
MITTELNIEDERDEUTSCHE SUFFIXABSTRAKTA Einige Bemerkungen zur Wortbildung und Lexikographie Torsten Dahlberg • Göteborg
Mit Recht betont Emil öhmann, daß man bei den mittelalterlichen Abstrakten stets den Begriff „Schriftsprache" im Auge behalten muß 1 ). Diese Feststellung darf freilich nicht in der Sichtung gedeutet werden, daß jedes mhd. oder mnd. Abstraktum bloß der Schriftsprache angehöre 2 ). Es ist — um einige Beispiele herauszugreifen — eine gewaltige Kluft zwischen Wörtern der mystisch-philosophischen Sphäre wie mnd. gedöchsambeit ,patientia', gestorvenheit ,Aufgabe seiner selbst', getempertheit ,temperantia' und volkstümlichen Bildungen wie kranke-krenkede-süke(de) etc., sunnävent-saterdach, wermde-wermenisse-hittinge, geschweige denn meswekinge ,Düngung des Ackers' (eig. ,Erweichung durch Mist'). Zwischen diesen beiden Gegenpolen 3 ) gruppieren sich dann mehr oder weniger „neutrale" Formen in mannigfachen Schattierungen; hierher gehört gewiß der Hauptteil der juristischen Suffixabstrakta der mnd. Urkundensprache. Die auch in den gesprochenen Mundarten wurzelnden Abstrakta lassen sich wie die Konkreta oft auf Karten einkreisen. Ich denke hier namentlich an die modernen Verhältnisse; die mittelalterlichen Bildungen sind naturgemäß allerlei Störungen ausgesetzt, obgleich das allgemeine Dialektmuster in der Regel durchschimmert. Die sich bloß auf literarischen Wegen „sprunghaft" fortpflanzenden Formen fallen dagegen außerhalb des Rahmens der üblichen dialektgeographischen Methode. Trotzdem lassen sich auch hier unter Umständen gewisse dialektisch bedingte Tendenzen wahrnehmen. Der „Nährboden" oder — mit einem Ausdruck der modernsten Terminologie — „die sprachliche Struktur" ist nicht überall dieselbe. Ein schriftsprachliches Suffixabstraktum oder gegebenenfalls ein bestimmtes Abstraktsuffix, das in einem Gebiet ohne irgendwelche Schwierigkeit festen Fuß gewinnt, stößt in einem anderen auf harten Widerstand. Mit den mnd. Verhältnissen beschäftigt sich eingehend Gottfried Grunewald in der aufschlußreichen, äußerst anregenden Lunder Dissertation Die mnd. Abstraktsuffixe !) Emil öhmann, Zur Geschichte der Adjektivabstrakta etc., Annales seient. fenn. B 15 :4, (1921 f.) S. 32. 2 ) Vgl. auch Emil öhmann, Hochsprache und Mundarten im Mhd., Der Deutschunterricht, H e f t 2156 (1956) S. 32. 3 ) Zur ersterwähnten Gruppe gehören grundsätzlich auch die höfischen Ausdrücke, die im Mnd. bekanntlich äußerst selten sind. 4*
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Torsten
Dahlberg
(1944) 4 ), die an die Stelle der veralteten, sehr skizzenhaften Straßburger Dissertation von J . Höge, Die produktiven Abstraktsuffixe des Mnd. (1912) 5 ) getreten ist. Die Arbeit G.s fußt auf einem gewaltigen, weitschichtigen Material und ist in mancher Hinsicht eine anerkennenswerte Leistung. In die verworrenen Verhältnisse hat G . eine erste Ordnung gebracht und darüber hinaus prinzipiell wichtige Untersuchungen über das Problem Suffix—Dialekt vorgelegt. Bei Dialektbestimmungen mnd. T e x t e ist seine Arbeit sehr oft in Anspruch genommen worden. Aber jedermann, der sich für diese Fragen interessiert, wird erkennen, daß die Exzerpierung — trotz beachtenswerter Bemühungen — bei weitem nicht ausreicht, um uns ein zuverlässiges Bild der Aufschichtung auf die drei mnd. Hauptdialekte (Nordniedersachsen, Westfalen, Ostfalen) zu vermitteln. Diese Feststellung darf keineswegs als K r i t i k aufgefaßt werden. Ein einziger Forscher vermag alle Schwierigkeiten nicht zu bewältigen, er kann nur Wegbereiter sein. G. ist sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe wohl bewußt und rechnet vorsichtigerweise mit mangelnder Überlieferung und unzulänglicher Exzerpierung (S. X I V ) . T r o t z dem meint er aber eine verhältnismäßig solide Grundlage geschaffen zu haben, „auf der dann die Beurteilung der Sprachgewohnheiten der drei großen mnd. Dialektgebiete . . . hinsichtlich der Verwendung von Suffixen bauen k a n n " (S. I X ) . Denkt er hier auch an seine Aufschichtung des Wortschatzes auf die drei Hauptdialekte, so sind das gewiß Überworte. Eine Annahme, daß über die H ä l f t e der mnd. Suffixabstrakta dialektisch gefärbt sein sollte, läßt sich bestimmt nicht aufrechterhalten. D e r V e r f . hat leider darauf verzichtet, die mnd. Verhältnisse in einem größeren räumlichen Zusammenhang zu sehen. Die umliegenden Mundartgebiete hätten ihm in vielen Fällen wertvolle Anhaltspunkte liefern können und ihn zur Vorsicht gemahnt. Eine Untersuchung der Abstraktsuffixe des M f r k . ohne K o n t a k t mit dem Westfäl. und Mndl. (oder des Mndl. ohne Berücksichtigung des Westfäl.) würde kaum möglich sein. Entsprechendes gilt für das Mnd., das doch kein isoliertes Gebiet darstellt. Nicht zum mindesten wenn wir uns auf dem weiten Felde der Abstraktbegriffe bewegen, müssen die angrenzenden, im großen Ausmaß „gebenden" Dialektgebiete (das Mhd. und das Mndl.) mitberücksichtigt werden. Nicht selten läßt sich ein W o r t , das nach G. nur in ostfäl. oder nordniedersächs. Quellen zu belegen war, auch fürs Mndl. (und M f r k . ) nachweisen. W a r u m sollte in diesem Falle gerade Westfalen nicht „empfangsbereit" sein? V o n anderen dubiösen Gruppierungen erwähne ich nur die Konstellation westfäl. + nordniedersächs. + mitteldeutsch — aber nicht ostfäl. Auf diese wichtigen Tatsachen geht G . überhaupt nidit ein. H i e r muß der Leser selbst Umschau halten, um von der Stichhaltigkeit der Angaben einen ersten Begriff zu bekommen. In einem anderen Zusammenhang werde idi ein reichhaltiges Material vorlegen, um das hier Gesagte näher aufzuhellen. Weil begrifflich identische W ö r t e r mit abweichenden Suffixen fast immer isoliert behandelt werden, muß man in der Regel lange nachschlagen, um über die dialektischen Spielarten ins Reine zu kommen. Manchmal fehlen natürlich Varianten. M a n stellt sich 4 ) Dazu G. Korlen, Nd. Mitteilungen 1 (1945) S. 87 fF. mit fördernder Kritik und vielen Ergänzungen. Vgl. außerdem die Besprechungen von E. Alm, Studia neophil. 17 (1944 f.) S. 60 ff. und Käthe Scheel, N d . Jahrb. 6 9 f. ( 1 9 4 3 — 4 7 ) S. 187 f. i ) Vgl. A. Lasch, Mnd. Gramm. (1914) S. 13.
Mittelniederdeutsche
Suffixabstrakta
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dann die Frage: Falls dieses oder jenes W o r t z. B. bloß in Nordniedersachsen zu Hause zu sein scheint, wie heißt es dann in Westfalen und Ostfalen? Auch hier wird man doch normal eine Bezeichnung der Erscheinung gehabt haben. W e n n f ü r die „leeren" Gebiete keine abweichende Variante belegt werden kann, ist es m. E. nicht zulässig, dialektische Färbung anzunehmen oder gar zu erwägen, der Beweis steht noch aus. Allzu o f t ist die Lücke nur scheinbar, insofern als der Ausdruck überall derselbe ist. Nehmen wir als Beispiel kamerie, kemerie, ,Kämmerei, städtische Finanzverwaltung'. Es soll ostfäl. sein (G. S. 120, 2 Belege), was mit dem Material bei Höge (S. 20) im Einklang steht, nur daß dieser auch einen Beleg aus Lüneburg kennt. Weil f ü r Westfalen und Nordniedersachsen keine Synonyme angeführt werden, tasten wir im Dunkeln. Man darf wohl davon ausgehen, daß in allen Städten von einiger Bedeutung ,Kämmereien' vorkamen. Es zeigt sich nun, daß ,Kämmerei' überall dasselbe heißt. Zwei sehr junge nordniedersächs. Belege finde ich Schlesw.-holst. 19/1501, 20/1501 (kemerige), vgl. auch SL s.v. kamerie etc. (Bremen). Das Mnd. Wb.archiv in Hamburg 6 ) hat folgendes nicht-ostfäl. Material: Hamb.Kämmereirechn. V,654 (1537), ferner Hamb.Kämmereirechn. (unveröffentl.) von den J. 1566,1589, Pauli (Lüb.) 2,78 (1461), Hans. Gesch.b'l. 1903, 96(1482),Lüneb.Chron. 197, Beitr. Dortm. 12,88 (1571) (in der auffallenden Form kemellerye). — Weitere ostfäl. Belege (eigenes Material) sind Halb.Urkb. 733/1410, 948/1444, Braunschw.Urkb. S. 179/15. Jh. (camerye) und S. 280/1513 (caemerie). Datierungen und Quellenfragen verlangen größte Aufmerksamkeit. Hier erweist sich G. als sehr zuverlässig. Wenn es sich um den statistischen Aspekt handelt, ist Kritik nicht unbefugt. Ein paar Belege beweisen in normalen Fällen wenig oder gar nichts. Vermutlich sind mindestens ein Dutzend Beispiele erforderlich, um einigermaßen zuverlässige Schlüsse zu sichern 7 ). Gerade aus diesem Grunde müssen die meisten der unter verschiedenen Dialekten aufgeführten Wörter mit einem Fragezeichen versehen werden. D a ß das Material so o f t unzureichend ist, soll nicht G. zur Last gelegt werden; er hat sehr fleißig exzerpiert. Aber die Bildungen gehören kaum auf die Dialektlisten. Wenn G. auf S. X I V behauptet, daß die gewöhnlichsten Bildungen nicht dialektisch seien, kann ich ihm nur mit Vorbehalt beipflichten. Es verhält sich in der Regel vielmehr so, daß ein Suffixabstraktum mit großer Frequenz sich besonders leicht fürs ganze Gebiet nachweisen läßt, während bei unzulänglicher Exzerpierung weniger häufige Ausdrücke vielleicht nur in einem oder höchstens in zwei Gebieten zu belegen sind, ohne daß hier irgendwelche dialektische Färbung vorliegt. Wie die Frequenz auf die A u f schichtung G.s einwirken kann, werde ich an H a n d eines einzigen Beispiels beleuchten. Die Abstrakta vom T y p Grundzahl + ,-fältigkeit, -fachheit' werden in verschiedenen Abschnitten völlig isoliert erörtert, vgl. envoldicheit, „überall verbreitet" (G. S. 142); twevoldicheit, „westfäl." (G. S. 173); drevoldicheit, „überall verbreitet"; vervoldicheit. „nordnds." (G S. 176). Es versteht sich doch von selbst, daß all diese Ausdrücke 6 ) Für großes Entgegenkommen bei meinen wiederholten Besuchen im Mnd. Wb.archiv danke ich Frl. Dr. Annemarie Hübner. Wegen der Kriegsverhältnisse konnte G. das Belegmaterial des Archivs leider nicht zu Rate ziehen. 7 ) In einzelnen Fällen können bloß ein paar Belege beweiskräftig sein; ich denke vor allem an dialektisch durchsichtige Übersetzungen oder Abschriften von Vorlagen, die uns bekannt sind, und wo der Schreiber vor dem einen oder anderen Abstraktum zurückschrickt und ein neues Wort wählt. Vgl. die wertvolle Untersuchung G.s über die Abstraktformen der Bibelfiliationen.
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Torsten
Dahlberg
dialektisch auf derselben Linie stehen. "Wie ist nun das Durcheinander zu erklären? Die Antwort ist einfach: envoldicheit
und drevoldicheit
die beiden anderen Schwesterformen envoldicheit
haben eine größere Frequenz als
(vgl. auch die Belege bei G.).
Was
zunächst
betrifft, läßt sich dieses W o r t besonders leicht belegen, weil es auch E i n -
f a l t ' bedeutet; noch gewöhnlicher ist drevoldicheit,
und zwar als Bestandteil der kirch-
lichen Terminologie (überaus häufig sind Ausdrücke wie in deme
namen
der hilgen
d.,
eyn altar der hilligen d., in der hilgen d. avende, des sondages van der hilligen d.). G. berücksichtigt im wesentlichen nur die Verhältnisse vor dem J . 1400, was an und für sich eine gewaltige Aufgabe darstellt. Es ist zu hoffen, daß auch die folgende Periode einmal gründlich untersucht wird. Bei der Beurteilung des mnd. Zustandes kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß die Suffixabstrakta (oder die Abstrakta überhaupt) in hohem Grade progressiv sind. Zu Ende des 15. J h . (oder etwas früher) nehmen sie fast explosiv an Zahl zu. D a ß das Mnd. imstande war, aus eigener K r a f t Abstrakta zu fabrizieren, um der kulturellen Entwicklung gerecht zu werden, darf nicht angezweifelt werden. Aber der abstrakte Bestand ist dodi im wesentlichen ein Widerklang der mhd. (z. T . auch der mndl.) Verhältnisse. Es verdient hier u. a. daran erinnert zu werden, daß der abstrakte mhd. Wortschatz durch die sprachschöpferische Tätigkeit der Mystiker in einer späteren Periode des Mittelalters vielleicht um ein vierfaches bereichert wurde®). Obgleich die Tätigkeit der Mystiker auf nd. Boden nicht sehr viele direkte Spuren hinterlassen hat 8 ), kann die mhd. Entwicklung das Mnd. nicht unberührt gelassen haben; die Neuschöpfungen der Mystiker (EckehartSchule, Devotio moderna) wurden doch allmählich in großem Ausmaß der allgemeinen Schriftsprache einverleibt. Die Provenienz der mnd. Abstrakta ist noch im großen und ganzen in Dunkel gehüllt. Die meisten haben wohl, wie bereits angedeutet, mhd. (oder mndl.) Vorbilder, die letzten Endes in Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen oder Französischen wurzeln. Eine Spezialuntersuchung über Ursprung und Importwege würde sehr zu begrüßen sein. Die nd. Neubildungen hören nicht mit dem Untergang der mnd. Schriftsprache gänzlich auf. In den modernen Dialekten finden sich auffallend viele Suffixabstrakta, die anscheinend aus der Folgezeit stammen. Besonders häufig sind die Formen auf -ie, die im Mittelalter nicht besonders beliebt waren, aber mit dem gewaltigen Einfluß des Französischen im 17. und 18. J h . wie Pilze aus der Erde schössen. Andere moderne (mnd. jedenfalls unbekannte) Ausdrücke sind z . B . affragels .Rätsel', dorije-doringe ,Torheit', upmckels ,Aufschub' (Brem.W'b.), borstije ,Bruch' (Sdiamb. wolkenborstije). Ich habe hier bloß einige von den Fragen angeschnitten, die in einer geplanten Arbeit eingehend erörtert werden sollen. Bei der Exzerpierung stößt man wiederholt auf Abstrakta, die weder bei G. noch bei L W - S L ( A — Z ) oder L B C ( A — h e g e r ) vorkommen und deshalb ein gewisses lexikalisches Interesse beanspruchen können, gegeben, daß sie in einzelnen Fällen
nur
„Eintagsfliegen"
sind. Es
folgt
nun
zuzum
Schluß ein Verzeichnis solcher Suffixabstrakta. Wegen des spärlichen Materials ist es 8 ) A. Bach, Geschichte der deutschen Sprache (1952) S. 132 ff. Vgl. auch z . B . O. Zirker, Die Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch die spätmittelalterliche Mystik (1923). 9 ) Zur Frage des Einflusses der Mystiker auf das Mnd. s. auch Korlen, Nd. Mitteil. 1 (1945)
Mittelniederdeutsche
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Suffixabstrakta
nicht zulässig, auf die dialektische Verbreitung der Formen irgendwelche Schlüsse zu ziehen. achtervorledinge bei G.
,seductio'. Imitatio 25,1. Audi vorledinge
fehlt in den Wbb. und
afgevinge ,Abgabe' etc. ( = gevinge, nach G. S. 104 nordniedersächs.). Schlesw.-holst. 106/1528 affgevinghe der sententie ,Richterspruch'. Eine andere Erweiterung des Grundwortes ist overgevinge, nach LW-SL nur ,Hingebung', aber auch etwa ,was überreicht wird': Old.Urkb. 853/1457 gave unde overgevynge. afschellinge .Abschuppung' u.dgl. Doneldey S. 32: wan se (de urine) rot is... dat betekent de affschellinghe der blasen. Vgl. LW-SL afschi/eilen ,abschälen, decorticare' (nadi LBC nur ,abspülen'). ansichtinge ,respectus'. Imitatio 51,21. batinge (b. edder vrome), .profectus'. Vgl. upbatinge, etwa .Schadenersatz': Hameln Urkb. 459/1355 gheven to it. achteyn penninge. Mnd. baten .nützen' etc. brotbrekinge .fractio panis' Monotess. 388 :3; nach LBC ist brekinge — das bei LW-SL fehlt — .Niederreißen, Verletzung, Erbrechen, Aufbrechen' u. dgl. daleböginge ,Niederbeugung'. Laienspiegel S. 14 (2 mal daleboeghinghe). Nach G S. 82 ist böginge westfäl.-nordniedersächs., eine Angabe die mit mndl. boginge im Einklang steht. Ob die Dialektbestimnrung ganz korrekt ist, scheint mir aber zweifelhaft, vgl. Hild.Urkb. 587/1412 knyboghinge. Heranzuziehen ist in diesem Zusammenhang auch mod. ostfäl. (Schamb.) bö 0 rl+h/ff » au^ ¿T f 5 -ztivii-ei LtSf ¡ ^ elf
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U^r,, Lr, abab cdcd. It is not difficult to account for the change if t w o facts are kept in mind: a) the difficulty of rhyme-repetition in the English language, b) the habitually negative aesthetic evaluation of this procedure in English poetry. The difference in the rhyming facilities of both literatures is caused by the different linguistic patterns of the Italian and English languages. Italian, being of a more synthetic character, has a great number and variety of inflexional endings and of suffixes (in word-formation), which give it considerable advantage over the analytical English language: 1) The Italian verb "amare" occurs in 40-50 phonetically different forms: amo ami ama amiamo amate amano
amavo amavi amava amavamo amavate amavano
amai amasti amò amammo amaste amarono
amerò amerai amerà ameremo amerete ameranno
amerei ameresti amerebbe ameremmo amereste amerebbero
ami amiamo amiate amino amante amando
amassi amasse amassimo amassero amato amata amati
The English verb "to love" — which, moreover, is identical with the noun (amore) and the adjective (amoroso) — occurs in 4 forms only: love
loves
loved
loving
The number of different lexical units is a quantitative index of the richness of vocabulary in a language and of its semantic possibilities; the number of acoustically different units may be indicative of the richness of the rhyming vocabulary in a language and of the corresponding rhyming facilities. If an Italian verb supplies the rhyming vocabulary with 10 times more units than an English verb, the rhyming vocabulary of the Italian (or French) poet must be richer in number than that of his English colleague. The difference in rhyming opportunities is not so great with the other word-categories (nouns, adjectives); on the other hand, the greater use of suffixes in Italian or French word-formation results in an accumulation of words ending in the same syllable (e. g. the Dictionnaire des rimes françaises by Landai and Barré registers about 400 words in —aine, 700 words in —eur, 1200 words in —ment, several thousand words in —er etc.).
Language
2. O f
and Stanza Pattern in the English
a more fundamental
importance
Sonnet
than the quantitative
217 advantage of
a
synthetic over an analytical language is the different quality of rhyme-combinations in both types of language. "While the English word " t o l o v e " rhymes only with words ending in —ove, an Italian word makes a rhyme not only with words ending in the same syllable (amare, altare, palmare, etc.), but also with words of totally different cardinal forms: t
altare love
— move
loves — moves loved — moved
j
stellare —
amare
— chiamare-»-
animate —
amate
— chiamate-»-
I
fiammate 4-
T h e English rhyming vocabulary is divided into separate groups — about 4 0 0 in all 5 ) — of words ending in the same syllable; Italian rhymes form no groups since most words can rhyme with a variety of both inflected and uninflected forms. T h e rhyming vocabulary of an analytical language is disjunctive, that of a synthetic language is continuous in character. T h e English system of rhymes has several disadvantages for the poet: a) T h e number of words belonging t o the same group is limited extended:
there are only
3 words rhyming
with
"love"
(glove,
and cannot be dove, above
—
besides a limited number of eye-rhymes, such as move, prove etc.). While the Italian poet has several thousand rhymes in — a r e , the English poet will exploit all the possibilities given to him, if he has to find 4 rhymes in —ove. Hence the
difficulty
of rhyme-repetition in English. b) Since the groups of rhyming words are limited and unchangeable in English, they have become strongly conventional and automatic
through long use. I t is far from
agreeable, therefore, if a poet, after using two rhyme-words, goes on to resort to further members of the same group. Hence the dislike
of rhyme-repetition in English.
Besides the synthetic or analytical character of the language, several other factors are responsible for the relative richness of the rhyming vocabulary: a) languages differ in the number of combinations into which phonemes enter to form syllables; b) both the number and variety of rhymes are higher in a language with disyllabic rhymes (Italian) than in a language where disyllabic rhymes are an exception (English). — The whole supply of rhymes is not at every poet's disposal. Especially rhyming in inflectional endings is shunned by some schools of poetry; the rhyming resources of a poet writing in a synthetic language are, therefore, strongly subject to changing literary conventions. — Rhyme-repetition is disagreeable in English not only because of the ennumeration of a frequently used and abused series of rhyming words, but also because the semantic associations of "love" with "dove" and "move," or of "womb" with "tomb," have become cliches. In an analytical language, a poet has the doubtful 5) Cp. R. F. Brewer, The Art of Versification, Edinburgh 1923, p. 151: "By a broad computation of the possible rhyming combinations of our vowels, diphthongs, and consonants, it has been ascertained that there are upwards of six hundred of them at the rhymester's disposal". Some of the theoretical possibilities, however, do not occur at all, or only once, and are not available to the poet; therefree there are only about 400 groups in the rhyming dictionaries compiled by Brewer or by other prosodists.
218
JiU
Levy
advantage of creating rhyme-links between the semantic nuclei (stems) of words, not between secondary grammatical morphemes (endings); this enables, on the other hand, a stronger influence of a fortuitous acoustic congruence of words (e. g. love-dove) on the development of the poet's idea. — All of these agents, and a few others probably, must be taken into account in any investigation into the causes of a change in rhyme-sdieme. A f t e r w h a t has been said on the different rhyming opportunities offered to the poet by his native language, it is not unreasonable to suppose that the suppression of rhyme-repetition was due to linguistic causes mainly. The limited number of members of one rhyme-group was felt by Samuel Johnson, f. ex., to be responsible f o r the change in sonnet pattern, though he overrated the number of groups (i. e. of different endings) in English: "The fabric of the sonnet, however adapted to the Italian language, has never succeeded in ours, which, having greater variety of termination, requires the rhymes to be often changed" 6 ). The earliest stages in the history of the English Renaissance sonnet bear traces of the difficulties which the Italian rhyme-scheme offered to English poets. In the 16th century, soon after the loss of the inflectional endings of Middle English, the old "synthetic" rhymes subsisted as an archaic mode of rhyming and could be resorted to by the Elizabethan sonneteers. The old and the new tedinique may be best confronted by comparing Wyatt's and Surrey's versions of Sonnet 109 by Petrarch: The long love that in my thought I harbour, And in my heart doth keep his residence, Into my face presseth with bold pretence, And there campeth displaying his banner. She that me learns to love and to suffer, And wills that my trust, and lust's negligence Be reined be reason, shame, and reverence, With his hardiness taketh displeasure. Wherewith love to the heart's forest he fleeth, Leaving his enterprise with pain and cry, And there him hideth, and not appeareth. What may I do, when my master feareth, But in the field with him to live and die? For good is the life, ending faithfully. (Wyatt) Love that liveth and reigneth in my thought, That built his seat within my captive breast; Clad in the arms wherein with me he fought, Oft in my face he doth his banner rest. She, that me tought to love, and suffer pain; M y doubtful hope, and eke my hot desire With shamefast cloak to shadow and refrain, He smiling grace converteth straight to ire. And coward Love then to the heart apace 6)
Samuel Johnson: Lives of the Poets, Leipzig 1858, p. 104.
Language and Stanza Pattern in the English Sonnet
219
Taketh his flight; whereas he lurks, and plains His purpose lost, and dare not show his face. For my Lord's guilt thus faultless bide I pains. Yet from my Lord shall not my foot remove: Sweet is his death, that takes his end by love. (Surrey) Wyatt was enabled to adhere to the strict Italian pattern by availing himself of both inflectional endings (-eth: fleeth, appeareth, feareth) and of suffixes (-er: harbour, banner, suffer, displeasure; -ence: residence, preference, negligence, reverence); 11 out of the 14 rhymes are of this type, which is normal in the inflectional Italian language, but has been archaic and primitive in English poetry since the 15th century. Surrey was the first to understand what opportunities were given to the English sonnet-writer: he gave up the repetition of rhymes and rejected inflectional rhymes in favour of the modern way of rhyming. In later years, English poets grew accustomed to using specifically English opportunities of devising a series of repeated rhymes, i. e. the more numerous rhyme-groups. This new attitude is evident as early as 1594, in Diana by Henry Constable: in his Petrarcan sonnets, the percentage of inflectional rhymes is even lower than in his Shakespearean sonnets, (13 : 2 5 %>); this is due to the higher formal standard of his Petrarcan sonnets.
It is not impossible that the dislike of rhyme-repetition may have been one of the agents which prevented the English poets from writing sonnets redoublés and crowns of sonnets, which enjoyed considerable popularity in Romance literatures (together with the forms based on rhyme-repetition, such as the French laisses monorimes or the Spanish arte de maestria mayor). The difficulties offered by the French rhyme-scheme to the English poets may be responsible e. g. for the unrhymed first version of Du Bellay's sonnets, undertaken by Edmund Spenser some time after 1569. Other poets were provoked to isolated feats of virtuosity in forms which indulged in the repetition of rhymes to the utmost, using two different rhyme-sounds only: W y a t t (ababababababab + an unrhymed 15th line), Surrey (abab abab aba baa), Gorgeous Gallery of Gallant Inventions (abba abba abba bb) etc. The exaggeration of obvious difficulties is a very frequent and symptomatic by-path of development which usually does not result in establishing new forms.
III. The two remaining changes of the sonnet-pattern — division of the sestet into 4 + 2 dines instead of 3 + 3 lines, and substitution of enclosing rhymes by alternate ones — are, in our opinion, the effects chiefly of two prosodic principles: a) a tendency of English poetry to group the lines by twos: the Petrarcan pattern abba abba cde cde (4 + 4 + 3 + 3) was dianged into ab/ab cd/od ef/ef gg ([2 + 2] + [2 + 2] f [2 + 2] + 2); b) a tendency to avoid larger distances between rhyming words. It could be demonstrated that the distidiic tendency is not only a well-marked characteristic but also a principle of considerable importance in the development of
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/m
Levy
the English sonnet — especially during the Renaissance period 7 ). I t did not escape the attention of prosodists: "And no English poet would be likely to think of tercets when a quatrain plus couplet could suggest itself. Quatrains and couplets English poetry knows in legions, both by themselves and as parts of various stanzaic forms; but tercets, in comparison at least, are n o n - e x i s t e n t . . . We have, too, positive evidence that W y a t t , as f a r as poetry is concerned, found it very difficult to think in threes. Professor Saintsbury has called attention to his failure with terza rima — at least as terza rima" 8 ). T h e binary construction ist not limited to English sonnets; it is characteristic of the autochtonous stanzas of Germanic nations (e. g. Nibelungenvers, ballad measure, heroic couplet). A ternary construction, on the other hand, was proclaimed b y E . Stengel — f r o m his Germanic point of view — to be the base of Romance strophics: "Die Grundsätze der kunstmäßigen romanischen Strophe älterer Zeit waren bereits Dante (vgl. Boehmer: Über D.'s Schrift De vulgari Eloquio, S. 27 ff.) bekannt. Sie gipfeln in der obligatorischen 3-Teiligkeit. Diese läßt sich im Keime audi bereits deutlich in den ältesten Formen erkennen, wenn sie auch noch in den späteren volkstümlichen Liedern nur selten durchgeführt ist" 9 ). Needless to say, these are generalizations which have a relative value only. T h e distichic trend of English poetry culminated in several anomalies of sonnet-structure with some of the British poets, such as the pattern abab cc dede ff ghgh ii in Thomas Watson, ababbb ccddee f f in S. T. Coleridge, aabccbd deedeaa in Robert Southey, abab cdef deef f f in William Morris, and occasionally in a series of seven couplets aabbccddeeffgg; the occurrence of this pattern in European poetry was summed up by W. Möndi: ".. . sie tritt erst später vornehmend im Englischen Sonett bei Robert Herrick, William Cartwright, John Lyly, dann in der europäischen Romantik bei einzelnen Sonettisten wie W. v. Humboldt und im deutschen Expressionismus auf" 1 0 ). As is evident, this extreme in the distichic form was limited to the poetry of the Germanic nations.
It remains to account for this specific tendency of Germanic versification. This can be done by way of hypothesis. T h e difference in prosodic principles between the Romance and the Germanic literatures is an essential one: syllabic v. accentual verse. T h e fundamental law of syllabic verse — besides the fixed number of syllables per line, which is felt as a neutral and inconspicuous background — is the obligatory bi-partite intonation-contour of longer lines, (such as are used in sonnet). An obligatory caesura divides the line into t w o equivalent half-lines, the first ending in a semicadence n ( / ) , and the second one in a cadence ) . T h e semantic relation of both sections is very often complementary as well: the idea (X) — o r part of a complex idea — is introduced in the first half, and qualified (X') or concluded in the second half of the line: 7 ) This assertion is based on a detailed analysis of the development of the Elizabethan sonnet, which will be published in a separate essay and where this tendency proved to be of central importance. 8) Walter L. Bullock: The Genesis of the English Sonnet Form, PMLA 38—1923, p. 736. 9 ) E. Stengel: Lehre v o n der romanischen Sprachkunst (Grundriß der romanischen Philologie H - I , Strassbourg 1902), p. 81. 10) Walter Mönch: Das Sonett, Heidelberg 1955, p. 17. n ) W e refrain from using the terms "rise", "fall" and the like, since w e are not concerned with details of the actual phonetic realization of the conclusive or continuity cadence in different languages, but with its final or non-final function.
Language
and Stanza
Pattern
in the English
Q u a n d vous serez bien vieille, | au soir à la chandelle, Assise auprès du feu, | dévidant et filant, Direz chantant mes vers, | en vous émerveillant: R o n s a r d me célébrait | du temps que j'étais belle. Lors vous n'aurez servante | oyant telle nouvelle, D é j à sous le labour | à demi sommeillant, Q u i au bruit de m o n nom | ne s'aille réveillant, Bénissant votre nom | de louange immortelle. J e serai sous la terre, | et f a n t ô m e sans os P a r les ombres myrteux | je prendrai m o n repos: Vous serez au foyer | une vieille accroupie, Regrettant m o n amour | et votre fier dédain. Vivez, si m'en croyez, [ n'attendez à demain: Cueillez dès a u j o u r d ' hui | les roses de la vie.
Sonnet
A B C D E F G H I J K L M N
221 / / / / / / / / y / / / / /
A' B' C D' E' F' G' H' I' J' K' L' M' N'
\ \ ^ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \
( R o n s a r d : Sonnet pour Hélène)
By an introduction of the thought (X) or of its attributes (x') in the first half-line an expectation of f u r t h e r development is formed, expressed b y the semicadence: the f u l f i l m e n t of the expectation in the second half is accompanied b y a conclusive cadence. The semantic pattern of a French line may be different, but the intonationpattern is obligatory in syllabic verse. Since W a y t t a n d Surrey, English sonnets have been written in accentual p e n t a meters, which are capable of the same bi-partite intonation as the Italian endecasillabo or the French alexandrine, but where this p a t t e r n is not obligatory a n d is a stylistic possibility r a t h e r than a prosodic principle. Sonnet 66 b y Shakespeare, f. ex., has a strongly antithetical structure: T i r ' d with all these, \ for restful death I cry, As to behold desert | a beggar born, A n d needy nothing | t r i m m ' d in jollity, A n d purest faith | u n h a p p i l y f o r s w o r n , A n d gilded honour | shamefully misplaced, A n d maiden virtue | rudely strumpeted, A n d right perfection | w r o n g f u l l y disgrac'd, A n d strength | by limping sway disabled, And a r t m a d e tongue-tied | by authority, A n d folly — doctor-like — | controlling skill, A n d simple t r u t h | miscall'd simplicity, A n d captive good | attending captain ill: T i r ' d with all these, | f r o m these w o u l d I be gone, Save that, to die, | I leave my love alone.
/ /
etc.
222
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Levy
This sonnet by Samuel Daniel, however, is written on different principles: Unto the boundless Ocean of thy beauty, Runs this poor river, charged with streams of zeal; Returning Thee, the tribute of my duty, Which here my love, my youth, my plains reveal. Here, I unclasp the Book of my charged Soul; Where I have cast the accounts of all my care: Here, have I summed my sighs. Here, I enrol How they were spent for thee! Look! what they are! Look on the dear expenses of my youth-. And see how just I reckon with thine eyes! Examine well, thy beauty with my truth! And cross my cares, ere greater sums arise! Read it, Sweet Maid! though it be done but slightly: Who can shew all his love, doth love but lightly.
/ / ^ etc.
(S. Daniel: T o Delia I.) In this sonnet, binary relations between the two halves of a line are by far not so prominent as chose between whole lines, which, in consequence, are grouped by twos: in line 2, the idea is fully expressed which was introduced in line 1, line 4 extends the idea expressed in line 3 etc. And what is of greater importance, the binary intonationcontour is extended to cover two lines: the odd lines end in a semicadence and the even lines in a cadence. The single couplets are changed into prosodic units (actual or potential) of a nature akin to the ballad measure or the heroic couplet. In a series of lines constructed on this principle, a binary impetus is created, operating in those lines too, which are not complementary (just as a regular sequence of unstressed and stressed syllables is potentially present even in those feet of iambic verse, where the actual rhythm is different): Because God put His adamantine fate Between my sullen heart and its desire, I swore that I would burst the Iron Gate, Rise up and curse Him on His throne of fire. Earth shuddered at my crown of blasphemy, But Love was as a flame about my feet: Proud up the Golden Stair I strode, and beat Thrice on the Gate, and entered with a cry, — etc. (R. Brooke: Failure) The semicadence after line 2 takes on the function of a cadence, though there is no fundamental semantic difference between the pauses after lines 1, 2 and 3. The two types of intonation-pattern may be based on the different function of caesura, in syllabic and in accentual verse. In French (or Italian), the syllables of a line are divided in a fixed and unchanging proportion (6 + 6, 6 + 7) by the caesura, which, moreover, is preceded
Language and Stanza Pattern in the English Sonnet
223
by the principal stress of the half line; caesura is the prosodie pivot of the line, supported both by the primary and the secondary principles of Frendi verse (syllabism and stress). In French, the prosodie prominence of caesura is strong enough to enforce a mid-line pause even in lines of a different syntactic and semantic division: Quand reverrai-je, hélas, de mon petit village Fumer la cheminée? et en quelle saison Reverrai-je le clos / de ma pauvre maison,... (Du Bellay: Regrets)
caesura after the 6th syl. caesura after the 6th syl. caesura after the 6th syl.
In English poetry, caesura is accompanied by no obligatory prosodie features: neither the distribution of stresses nor the syllabic pattern of the line are dependent on it. The prosodie prominence of the mid-line pause is not strong enough to prevail over the syntactic pattern of the line; caesura in English poetry follows the natural division of line according to sense and very often loses its fixed position and prosodie value in consequence: If thou survive / my well-contented day, When that churl Death / my bones with dust shall cover And shalt by fortune / once more re-survey These poor rude lines / of thy deseased lover, Compare them / with the bettering of the time, And though they be outstripp'd / by every pen, etc. (Shakespeare: Sonnet 32)
caesura caesura caesura caesura caesura caesura
after after after after after after
the the the the the the
4th 4th 5th 4th 3rd 6th
syl. syl. syl. syl. syl. syl.
It would not be difficult to keep the caesura after the 4th syllable in lines 5 and 6 (after "with" and "be"); this division of line, which corresponds to the principles of French verse, would be contradictory to those of English versification. In English, the syntactic and semantic value of caesura is more prominent than its prosodie relevance. Owing to this difference in function, the prosodie validity of the English caesura is not strong enough to underly an obligatory bi-partite intonation of the line — not even in the English Renaissance sonnet, which often has a strong tendency to antithetical construction of lines. By some prosodists, a binary intonation-contour is considered to be the basic principle of every verse, the specific difference between free verse and prose 12 ). This opinion is based on the definition of a clause by Serge Karcevski: "La phrase, est une unité de communication actualisée. Elle n'a pas de structure grammaticale propre. Mais elle possède une structure phonique particulière qui est son intonation. C'est précisément l'intonation qui fait la phrase". T h e intonation of any clause is, in Karcevski's opinion, of a bi-partite character: "Toute phrase intellectuelle, pas trop courte, tend a se scinder en deux parties ou membres de phrase . . . La direction est montante dans la première partie et descendante dans la seconde" 13 ). It is very probable that the regular intonation-contour characteristic of the clause and indicative of its linguistic independence will be even more conspicuous in verse and of considerable relevance to its integrity. In syllabic lines of a certain length, the bipartite intonation-contour is accomplished within one line and imparts to it a prosodie independence. In accentual verse, this is not always the case: though some lines 12 "The basis of verse is the bi-partite intonation: every line is divided by intonation into two sections. This intonation-pattern is regularly repeated throughout the poem and it is the principal factor distinguishing verse from prose" (Josef Hrabâk: ûvod do teorie verse, Praha 1956, p. 13). 13 ) Serge Karcevski: Sur la phonologie de la phrase (Travaux du Cercle Linguistique de Prague 4—1931), p. 190.
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224
comply with this pattern (e. g. in sonnet 66 by Shakespeare), in other cases, the binary intonation-contour
is accomplished within a pair of lines (e. g. in the sonnet by
S. Daniel), joining
them into an acoustic unit, and finally there are poems — e. g.
in blank verse — where the binary pattern is not evident at all. T h e possibility of different patterns imparts a potential
independence
the English sonnet and — in some types of verse — an obligatory unity to the distich;
to a line of
independence
and
hence the grouping by twos which is reflected in both syntax and
rhyme-scheme. In the poetry of Romance nations, lines are always independent units and can be grouped by threes. Several secondary theoretical issues are suggested by the different prosodic principles of the Romance and Germanic versifications: a) In French or Italian syllabic verse, the end-line pause, following the cadence, will be of greater momentum than the mid-line pause after the semicadence. This relation of the two pauses is by no means so emphatic and inevitable in English verse, where not every end-line pause has the full concluding validity, and where caesura, not being obligatory and automatic, is more conspicuous. In consequence, English prosodists are not always certain about the relative prominence of the two pauses: "Discussion of this point involves the problem of whether the line-end pause is longer than the mid-line pause. Suffice it to say that whatever the nature of the line, verse in which run-on lines are frequent — which means most English verses except that of the late seventeenth and earlier eighteenth century — plainly treats the line-end pause though it were not conspicuously different in length from other pauses 14 )." b) In accentual English (or German) distichic verse, the validity of verse-limits after the even lines should prevail over that after the odd lines and this should affect the concomitant elements as well, especially the rhyme. While rhymes after any of the lines of the Italian sonnet are equivalent, the even rhymes are more prominent than the odd ones in the binary type of the English sonnet (this tendency may account for the omission of the odd rhymes in some of the song-like binary forms, e. g. in ballad measure: abcb). In the sonnets of the Romance nations, equivalence of end-line pauses makes it possible to rhyme any two lines; in some types of English poetry, the difference in cadence at the end of even lines and of that at the end of odd lines is an obstacle to any other than an alternate rhyme-scheme (abab). (In French poetry, a slight difference in the cadence of the two interpolating pairs of rhymes is achieved by the alternation of masculine and feminine rhymes, e. g. AbbA.) T h e part which intonation
played in the development
of the English
sonnet
can
be traced from the v e r y beginning of Elizabethan sonnet-writing. T h e first sonneteer, Sir Thomas W y a t t , adhered to the Italian rhyme-scheme of the octet (abba abba) without, however, being able to achieve every time the necessary binary
intonation
and prosodic independence of each line: Because I still kept thee f r o lyes, and blame, And to my power alwayes thee honoured, Unkind tongue, t o yll hast thou me rendred, F o r such desert t o do me wreke and shame.
etc.
T h e lines of this quatrain are not independent bi-partite units, and in consequence, are grouped by twos. T h e discrepancy between the intonation-pattern and the rhymepattern (ah/ba ab/ba cd/e c/de) makes the impression of doggerel. This discrepancy was partly relieved b y Surrey, who adopted the binary "Shakespearean" rhyme-scheme 14
) James Routh: The Theory of Verse, 1948, p. 63.
Language
and Stanza Pattern in the English
Sonnet
225
(ab ab cd cd ef ef gg) — though his syntactic pattern is far from binary as yet. T h e majority of the younger Elizabethan
sonneteers (Watson, Lodge, Fletcher,
Daniel,
Linche, Griffin, and others) adopted the Surrey-Shakespearean pattern, which did not impose the necessity o f antithetical lines on the English poet. T h e Italian or French forms could reach any standard of perfection only with those English poets who inclined to an obligatory antithetical construction of lines, especially with
Sidney
and Spenser: W i t h how sad steps, | O moon, thou climb'st the skies! H o w silently, | and with how wan a face! W h a t ! may it be | that even in heavenly place T h a t busy archer | his sharp arrows tries?
etc.
T h e propensity to bi-partite lines was so strong with the two poets, that they tried to introduce alexandrine — the only measure with an obligatory caesura — into the concluding line of their sonnets: I can speak what I feel, and feel as much as they; But think that all the map o f my state I display, W h e n trembling voice brings forth | that I do Stella love. (Sidney: Astrophel and Stella) T h e use of antithetical lines in sonnets of the Italian or French patterns was not so consistent with minor poets of lesser formal proficiency, such as Barnes, Constable or Drayton. On the other hand, some of the minor writers of the
Shakespearean
scheme (e. g. B . Griffin) resorted to the indenture of even lines co make the binary scheme more evident; Richard Linche went so f a r in depriving his even lines of their prosodic autonomy as to start them in minuscule letters: T h e little Archer viewing well my Love, stone-still amazed, admired such a sight; And swore he knew none such to dwell above: though many fair; none, so conspicuous bright! (Richard Linche: Diella) T h e dominant position of intonation in the sonnet may be, in our opinion, one of the reasons of the surprising decline of sonnet-production during the epoch of cism,
Classi-
both in English and other European literatures 1 5 ). An important reason of the
Classicist sonnetophobia
was probably worded by the leading German critic of the
epoch, J o h a n n Christoph Gottsched, who complained that sonnet was changed from a "Sinngedicht" into a
"Singgedicht" 1 6 ). T h e supremacy o f the musical principle was
appreciated by the Romantic
poets. Other reasons may have counted as well: the
difficulty and complexity of the stanza may have been felt as a disadvantage in the period of Classicism (with its predilection for simpler and clearer forms) and as a recommendation in the Renaissance, Baroque, and Romantic eras. ls I6
) Monch op. cit., p. 164. ) Cp. Monch, op. cit. p. 165.
15 Markwardt-Festschrift
226
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For a conclusive verification of our hypothesis, the development of the sonnet in other non-syllabic versifications will be of importance. The first question to be answered is: if accentual verse with its absence of obligatory caesura is responsible for the change of sonnet-pattern in English literature, why did not a similar development take place in German poetry? In our opinion, this change was not necessary in German poetry, because German sonnets were originally — ever since Opitz and Gryphius — written in alexandrines, the only measure which, in German too, has an obligatory caesura; even before the very first German sonnet was written, alexandrine and the sonnet seem to have been associated in theory by some of the lost preOpitzian handbooks of versification 17 ). Of che great Slavonic literatures, Russian sonnets are written in accentual pentameters and might be expected to show some symptoms of the binary tendency. This expectation is not disappointed, since the standard sonnet-form in Russian is ab ab abab ccdede: "In the Russian sonnet, the stanza structure is strictly observed. It consists of two quatrains employing alternate rhymes, followed by a six-line stanza, divided into two tercets and using three rhymes, in which a rhyming couplet is followed by two alternate rhymes. The six-line stanza can also be a tail-rhyme stanza. The metre is the five-foot iambic line" 18 ). — Accentual sonnets of the smaller European nations (Dutch, Scandinavian, Czech etc.) are not of primary relevance for our research, owing to the greater prestige of foreign models and, in some cases, owing to the belated development at a time when the creative era of the sonnet was over. The second linguistic influence which might have furthered the change of enclosed rhymes into alternate ones in English poetry is the evident dislike of rhyme-schemes where the distance between rhyming words exceeds one line (abba). Enclosed rhymes, which are so popular with the French or Italian poets, are almost unknown in autochtonous English stanzas: abababcc (Chaucerianstanza) ababbcbccc(Spenserianstanza) etc. The probable cause of this phenomenon is the slighter relative prominence and prosodie relevance of English rhymes when compared with those of the French and Italian poets. While rhyme is one of the most conspicuous features of the poetry of Romance nations, the acoustic and semantic relevance of rhyme, and line-end in general, is not very great in English poetry (cp. the popularity of blank verse). A n explanation of the change in sonnet-pattern by linguistic agents does not exclude the part played by historical factors in this development. A complex interplay of both personal and collective influences may have resulted from the fact that almost every possible form is represented in the sonnet production of each nation — in different frequencies, however, and in different functions. In Romance literatures, binary sonnet-patterns exist, side by side, with the ternary ones, each of the t w o types having a specific stylistic and social value. The first type is represented by the song-like Sicilian sonnets with alternate rhymes, the second type by the artificial Provençal forms with enclosed rhymes. Some of the Italian poets devised intermediary forms, but in written poetry, the ternary form prevailed. French sonnet-writers " ) Cp. Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik I, Berlin-Leipzig 1937, p. 28—29: "Und da weiterhin audi Ernst Schwabe v o n der H e y d e s Poetik v o n 1616, eine mit theoretischen und sprachlich-metrischen Hinweisen erläuternd bereicherte Gedichtsammlung, die bereits mit der Erörterung von Reimfragen das Eingehen auf den Alexandriner und die Sonettform verbunden haben dürfte, endgültig in Verlust geraten und uns nur mittelbar und unzulänglich durch Opitzens Rückverweise bekannt i s t . . . " 18 ) B. O. Unbegaun: Russian Versification, O x f o r d 1956, p. 83.
Language
and Stanza Pattern
in the English
Sonnet
227
(Marot, Ronsard etc.) resumed one of the features of the song-like pattern by introducing a binary rhyme-sdieme into the sestet, though the traditional division into two tercets was preserved: ccd eed (i. e. cc deed) and ccd ede (i. e. cc dede). By doing so, they introduced a couplet into the introductory lines of the sestet — not into the concluding ones, as in the English type, perhaps owing to the fact that an antithetical conclusion of the stanza could be effected within the space of the last line. In English poetry too, the influence of traditional forms may have furthered the development. G. Saintsbury 1 9 ) called attention to the fact that the English sonnet corresponds in length, and to a certain extent in rhyme-scheme, to two rhyme-royal stanzas (ababbcc dedeeff). Professor Walter F. Schirmer 20 ) hinted at the influence of some of the exceptional sonnets of Petrarch, ending in cdd cdc and cdd dcc and translated into English by W y a t t , J . S. Smart 2 1 ) detected the possibility of an inspiration by the form of Fazio degli Uberti, while W . L. Bullock 22 ) found models for the Surrey-Shakespearean pattern in the Italian collection Raccolta dei Ginuti. Though the impulse of traditional forms may have contributed, at a propitious historical moment, to open new ways, the general trend of development and the possibility of a permanent reception of one of the numerous forms must have been predetermined by less fortuitous moments. As has been shown, the linguistic agents are very likely to have played a decisive part in predetermining the development.
IV. The radical change in sonnet-pattern with -some English poets, though best accessible to outward observation, was not the only outcome of prosodic differences between the Italian and English languages. The total historical position and stylistic value of the stanza in the two literatures was influenced by the specific qualities of the versifications. In British poetic tradition, the sonnet, originally modelled to suit the syllabic verse of Romance nations and subsequently only adapted to English versification, has always been a foreign form with a limited vigour and range. This is how Professor Schirmer summed up the position of this stanza in Elizabethan poetry: ". . . die dichterische Konzeption in der Sonettform und also die Einheit von Gehalt und Form, doch nur in den seltensten Fällen verwirklicht war. In unserem Falle natürlich nur soweit es England betrifft. Bei einem Rückblick auf die elisabethanische Sonettdichcung muß dies der beherrschende Eindruck sein, und es ist bezeichnend, daß die Bedeutung der großen Dichter Shakespeare, Spenser, ja selbst Sidney, nidit auf ihrer Sonettproduktion, sondern auf anderen Dichtungen beruht. Auch haben sie nur einen kleineren Teil ihrer dichterischen Kraft der Sonettdichtung gewidmet — also ganz anders als Italien, anders auch als Frankreich. Die zahlreichen Dichter aber — die Daniel, Constable, Barnes, Lodge (der Oberplagiator), G. Fletcher, Barnfield, Tofte, Griffin (um von Geringeren zu schweigen), — die sich des Sonetts mehr oder weniger als Hauptäußerungsmediums bedienten, erstickten unter der oft rohen und ungefügen Nachahmung einer fremden Haltung die Äußerung jenes Geistes der Zeit, auf deren ungebrochenem Ausdruck in anderen Diditungsformen der Glanz der elisabethanisdien Literaturepoche beruht. Immerhin, das englische Sonett, der Surrey-Shakespearesche ) ) ) 22) 19
20
21
15*
George Saintsbury: A History of English Prosody I, London 1923, p. 3 0 7 — 3 0 8 . Walter F. Schirmer: Das Sonett in der Englischen Literatur, Anglia 4 9 — 1 9 2 6 , p. 5. J. S. Smart: Sonnets of Milton, London 1924, p. 17 f. W . L. Bullock, op. cit., p. 729 f.
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Typ, war geschaffen; daß audi diese Form nicht Form im höchsten Sinne war, bewies die kommende Zeit durch die verhältnismäßig spärliche Nachfolge" 23 ). Another symptom of the exceptional position outside the main current of poetic tradition was the habit of using the term for all kinds of short lyrics, a habit persisting down into the 17th century: "The long continued misuse of the word illustrates the reluctance of the Elizabethans to accept the sonnet's distinctive principles" 24 ). Aj a result of the tension between a Romance stanza-pattern and Germanic versification, the stylistic modifications of the stanza are different in the two groups of literatures. Bi-partite lines are a rule in the Italian and French sonnets; instead of the one obligatory binary intonation-contour, there are two potential ones in English: both the two half-lines and the two lines of a distich can become parts of one complex bi-partite intonational whole. A wider range of variants of the sonnet-form is therefore possible in English literature than in the literatures of the Romance languages. Very roughly speaking, there are 4 cardinal forms of the English sonnet, according to intonation (disregarding the rhyme-scheme): I. a sonnet with a conspicuous binary intonation of both line and distich; II. a sonnet without either; III. a sonnet with a grouping of lines by twos but without a distinctive caesura; IV. a sonnet with binary intonation of single lines but without any obvious grouping of lines by twos. Each of the four types has its own emotional atmosphere, since intonation is of primary importance in creating it: "The emotional effects of a verse-rhythm are, in the first place, dependent on the intonation-pattern of the line" 25 ). Type I is represented by the antithetical Renaissance sonnet, e. g. the sonnet by Sidney. By the regular twofold recurrence of semiicadence followed by cadence / ^ / ^ ) an elegiac tone, common to the strongly cadenced forms (e. g. elegiac distich, ballad measure), is imparted to this type. The emotional value of this rather frequent type is attributed to the English sonnet in general by some critics: "In der Tat bringt das Kunstreiche der Form, deren enge Grenzen den Ausdruck nur einer Stimmung erfordern, das Sonnet in den Bereich der elegischen Dichtung, einer kontemplativ-emotionalen, nicht aber einer rein emotionalen" 26 ). In the irregular type of sonnet (type II), the symmetrical intonation-pattern with its emotional undertones is suppressed, the thought progresses in a quiet way suitable for descriptive or philosophical poetry. The Petrarcan sonnets of Wordsworth, which are of this type, are denoted by Professor Schirmer as "beschreibendes Sonett", the German Romantic sonnet is characterized as "zur Poesie gewordene Philosophie" 27 ). The static, monumental variety of this type was used by Dante Gabriel Rossetti in The House of Life and characterized in the introductory sonnet: 2 3)
W . F. Schirmer, op. cit. p. 16—17. Sidney Lee: Elizabethan Sonnets I, London 1904, p. 249. 2 5 ) B. V. Tomashevski: Stich i jazyk, Moskva 1958, p. 32. 26) W . F. Schirmer, op. cit., p. 8.
24)
'")
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and Stanza
Pattern
in the English
Sonnet
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A Sonnet is a moment's monument, — Memorial from the soul's eternity T o one dead deathless hour. Look that it be, Whether for lustral rite or dire portent, Of its own arduous fullness reverent: Carve it in ivory or in ebony As D a y or Night shall rule; and let Time see Its flowering crest impearled and orient. A sonnet is a coin: its converse to what Power 'tis due: — Whether for tribute to the august appeals Of Life, or dower in Love's high retinue It serve, or, mid the dark wharf's cavernous breath, In Charon's palm it pay the toll to Death.
Rhyme-scheme, though not of primary importance in the typology of intonationpatterns, is not an irrelevant circumstance. The Petrarcan pattern, where every line has its structural independence, is suitable for both type I and type II. The Shakespearean rhyme-scheme, by supporting the final cadence of single lines and binary intonation of the 'distichs, is not very suitable for sonnets with irregularly divided run-on lines, such as f.ex. the sonnets of some Romantic poets: Read me a lesson, Muse, and speak it loud Upon the top of Nevis, blind in mist! I look into the chasm, and a shroud Vaporous doth hide them, — just so much I wist Mankind do know of hell; I look o'erhead, And there is sullen mist, — even so much Mankind can tell of heaven; mist is spread Before the earth, beneath me, — even such, Even so vague is man's sight of himself! Here are the craggy stones beneath my feet, — Thus mudi I know that, a poor witless elf, I tread on them, — that all my eye doth meet Is mist and crag, not only on this height, But in the world of thought and mental might! (John Keats: Written upon Ben Nevis)
It is not improbable, that this conflict between run-on lines and strongly cadenced Shakespearean rhyme-scheme was one of the reasons, why Romantic poets resumed the Petrarcan scheme and why Keats himself was induced to attempt a reform of the sonnet: "I have been endeavouring to discover a better Sonnet Stanza than we have. The legitimate does not suit the language over well from the pouncing rhymes — the other [ababcdcdededggl appears too elegiac — and the couplet at the end of it has seldom a pleasing effect" 28 ). The proposed form abca bdea bee fef avoided both a more than threefold repetition of a rhyme ("pouncing rhymes") and a symmetrical grouping of lines by twos with its "too elegiac" effect. The intermediary forms — type III exemplified by Daniel's sonnet and type IV exemplified by sonnet 66 by Shakespeare are of a less distinctive semantic value and of rarer occurrence. It is needless to say that "pure types" are 28) John Keats: Works V (ed. Buxton-Forman), 1901, p. 58 f.
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comparatively rare, most of the English sonnets being a mixture of several tendencies, usually with an evident prevalence of one pattern. Even the few tentative hints at a typology of the English sonnet are perhaps sufficient to demonstrate the validity for stanzas too of what was stated by B. Tomashevski for single lines: "Almost every measure has several variants according to the emotional effect it produces, though the range of each measure is limited by possibilities which are its own" 29 ). It may be added that the possibilities are largely dependent on the linguistic principles of the national versification, and that the emotional effect is potential only, consisting in a possibility of supporting or contradicting contents of a certain type. The presence or absence of binary intonation-patterns is not the only factor productive of a specific morphology of the sonnet in English literature. Of considerable consequence is also the versatile preeminence of mid-line pause and end-line pause. In poems where mid-line pause is more prominent than end-line pause, the half-line — or any part of line — ends in cadence and the line in semicadence. This run-on principle was used in the Sonnets from the Portuguese by E. BarrettBrowning: And O beloved voices, upon which Ours passionately call, because ere long Ye brake off in the middle of that song W e sang together softly, to enrich The poor world with the sense of love, and witch The heart out of things evil, — I am strong, Knowing ye are not lost for aye among The hills with last year's thrush, God keeps a niche In heaven to hold our idols; and albeit H e brake them to our faces, and denied That our close kisses should impair their white, I know we shall behold them raised, complete, The dust swept from their beauty, — glorified N e w Memnons singing in the great God-light. (E. Barrett-Browning: Futurity)
Another specific result of English prosodic tendencies is the possibility of pushing the main structural principles of the sonnet-form into the background. The division of the stanza is made less conspicuous by the homogenous typography of the poem and less consistent by the frequent running-on of lines from one quatrain (tercet) into another and by the breaking-up of quatrains into couplets in the Shakespearean form. The validity of the rhyme-scheme is impaired by the conventional and inconspicuous English rhymes (eye-rhymes e.g.) and the relative weakness of end-line pause. The formal pattern of such relaxed types of the English sonnet, as e.g. The Windhover by G. M. Hopkins, may become almost non-apparent, at first sight, to foreign readers who were brought up on the clearly outlined sonnets of their native literatures: I caught this morning morning's minion, kingdom of daylight's dauphin, dapple-dawn-drawn Falcon, in his riding Of the rolling level underneath him steady air, and striding 29
) B. V. Tpmashevski, op. cit., p. 33.
Language and Stanza Pattern
in the English
Sonnet
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High there, how he rung upon the rein of a wimpling wing In his ecstasy! Then o f f , off forth on swing, As a skate's heel sweeps smooth on a bow-bend: the hurl and gliding Rebuffed the big wind. My heart in hiding Stirred for a bird, — the achieve of, the mastery of the thing! Brute beauty and valour and act, oh, air, pride, plume, here Buckle! and the fire that breaks from thee then, a billion Times told lovelier, more dangerous, O my chevalier! N o wonder of it: sheer plod makes plough down sillion Shine, and blue-bleak embers, ah my dear, Fall, gall themselves, and gash gold-vermilion. (G. M. Hopkins: The Windhover)
The type of versification, into which a stanza is transferred is responsible not for its morphology only, but also for its relation to other stanzas and to non-strophic poetry, i.e. for the relative function of the stanza among the poetic forms of the respective literature. *
*
*
Conclusion. The results of the present analysis have offered an example of the complex relations into which a prosodic form enters if transferred into a foreign literature: "From the historical point of view, the metre is determined by two agents: by the literary tradition and by the form of the language. Thanks to the impact of literary tradition, under certain historical circumstances, the metrical forms imported from outside may not correspond to the specific tendencies of the language" 30 ). The impact of literary traditions and of both English and foreign traditional stanzas has been subjected to a minute research by previous writers on the genesis of the Shakespearean sonnet. The aim of the present analysis was to afford an insight into the workings of the second agent. The results have proved, in our opinion, that prosodic qualities of the language were of primary importance in the genesis and the! resulting semantic possibilities of the English sonnet. The concrete forms a stanza-pattern takes on in a national literature have proved to be determined by the prosody of the language, much in a similar way as the concrete realizations of a metre. While metre is dependent on the phonemic qualities of the word chiefly (stress, quantity of vowels, word-limit etc.), a stanza is under a stronger influence of the phonemic qualities of the sentence (e.g. intonation). A research into the relations between metre and the rhythmical possibilities of a language is well established; the present paper is an attempt at an investigation of the methods which are applicable in analysing the relations of language and stanza.
30
) B. V. Tomashevski, op. cit., p. 23.
ÜBER D I E S P R A C H L I C H E F U N K T I O N D E R
ZEITUNG
Ein Vortrag aus der Arbeit der „Deutschen Presseforschung" zu Bremen Lutz Mackensen
• Bremen
Tagaus, tagein erscheinen bei uns fast 20 Millionen Zeitungen. Sie berühren alle Bereiche unseres Lebens, also auch unsere Sprache. Aber wenn wir diese gewaltige Zahl aufblättern und etwa erfahren, daß unsere kleinste Zeitung eine Auflage von 700, die größte von 3 1 /2 Millionen am Tage hat, wird deutlich, daß die Zeitung ein Schwamm ist, der unsere Fragestellung nicht ohne weiteres aufsaugt. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir die Zeitung näher ansehen. Was meinen wir eigentlich, wenn wir von einer „Zeitungssprache" reden? In jeder Zeitung treffen sich die verschiedensten Sprachstile, unterscheiden sich Wortwahl und Stilgebaren im politischen, im unterhaltenden und im Sportteil und gehen Handelssparte und Anzeigenteil wiederum eigene Wege. Statt der vermeintlichen Einheit „Zeitungssprache" melden sich viele Sachbereiche zu Wort, die ursächlich mit der Zeitung nichts zu tun haben, die sie nur als Durchgang zum Leser benutzen. Die Zeitung ist von dieser Seite gesehen gar keine Sprachmacht im eigentlichen Wortsinn, sondern eher eine Hilfsmacht, eine Mittlerin, die den Sprachfügungen einzelner Bezirke unseres öffentlichen Lebens (der Politik, der Wirtschaft, dem Sport, der Reklame, mit Abstand auch der Wissenschaft) eine Breitenwirkung ermöglicht, die sie von Hause aus nicht haben. Schon diese Überlegung zeigt den Umfang dessen, was die Zeitung sprachlich leistet. Sie arbeitet (und das muß nicht durch Belege erwiesen werden) daran mit, daß sich jeder ihrer Leser die Begriffe des öffentlichen Lebens aneignet oder sie doch wenigstens kennenlernt. In unserer Bundesrepublik1) bezieht jeder dritte Einwohner seine eigene Zeitung. Nimmt man an, daß jede Zeitungsnummer auch von nur einem Mitbezieher (einem Angehörigen etwa) mitgelesen wird, so bedeutet das: jeder Deutsche, der lesen kann, liest Zeitung. In Westberlin, das rund die doppelte Bezieherdichte hat, liest jeder sogar zwei Zeitungen am Tage (und das müßte mitberücksichtigen, wer die sprachliche Lage Berlins beurteilt). Aber das Bild ist noch zu schwach ausgemalt. Es werden nämlich täglich über 5 Mill. Zeitungen zusätzlich im Straßenhandel vertrieben. Wir stehen also x ) Die Zahlenangaben fußen auf Untersuchungen des Instituts für Publizistik der Freien Universität Berlin. Vgl. Publizistik I, 1956, S. 238 ff. Im anderen Teil Deutschlands sieht das Bild zwar im einzelnen sehr anders aus, z. B. bedingt das Verhältnis der Stamm- und Hauptausgaben zu den Neben- und Bezirksausgaben (etwa 1 : 7; Bundesrepublik etwa 1 : 2) auch andere Sprachleistungen. Aber das betrifft nicht die grundsätzliche Rolle der Zeitung als „Sprachkraft".
Über die sprachliche Funktion
der
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Zeitung
nicht mehr allzu weit hinter der Zeitungsfreudigkeit der Japaner, bei denen auf jedes Haus 2,2 Zeitungen entfallen. Man sollte diese Zahlen nicht höher werten, als die Statistik es erwarten kann. Aber sie deuten doch ungefähr die Lage an, mit der wir zu rechnen haben. Sie erklären jedenfalls zu ihrem Teil den Wortüberhang, der ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Problem ist, das unsere Muttersprache heute bewältigen muß 2 ). Wenn jeder von uns alle Lebensbereiche seiner Umgebung durch die Zeitung überblickt, wächst ihm ein Wortgut zu, das den eigenen Bedarf weit übersteigt: wenigstens ungefähr weiß er
nun, was NATO, Integration,
Junktim,
was Notenbank,
Pfundblock
und Ersparnis-
bildung, aber auch, was Elfmeter, Linksaußen und Ringrichter sind, was man von einer Dringlichkeitsbescheinigung, einer Eheanbahnung, einem Kundenkredit zu halten hat, und er kann bei einiger Vorsicht, ohne sich Blößen zu geben, mitreden, wenn über Virengruppen, Automation oder Atomenergie gesprochen wird. Wer Zeitung liest, eignet sich (beim Lesen der amtlichen Bekanntmachungen, aber auch der Prozeßberichte) manches von der Sprache der Juristen und Behörden an, aber er weiß auch, wie die Literaten reden oder schreiben. Das Wortgut unserer Sprache hat sich in unserem Jahrhundert nahezu verdoppelt; man nimmt an, daß es heute dichter bei 400 000 als bei 300 000 Wörtern liegt. Wenn jeder Sprecher den zwanzigsten Teil dieser Wörter benutzt, ein weiteres Zehntel (aber das ist zu tief gegriffen) nach Klang und Bedeutung ungefähr kennt, ist der Wörterwald, in dem wir uns bewegen, siebenbis achtmal so groß wie der unserer Väter um die Jahrhundertwende. Es muß nicht näher bewiesen werden, wie groß, ja wie gefährlich die Aufgaben sind, die jeder deutsche Sprecher damit leisten muß (die Mediziner wissen darüber besser Bescheid als die Philologen). Diesen Urwald von Wörtern haben die Zeitungen mit angesamt. Sie sind eine Hilfsmadit der Sprache, aber eine sehr starke Hilfsmacht. Ihre Wirkung wird auch dadurch nicht verringert, daß neben ihr andere Hilfskräfte am gleichen Ziel arbeiten. Die Strahlung des Rundfunks auf unser Sprachgefüge ist gewiß ähnlich; vielleicht beeinflußt er in manchen Sendungen (in den Tagesund Sportnachrichten z. B.) den Hörer nachhaltiger und häufiger als die Zeitung ihre Leser. Aber selbst wenn sich für diesen oder jenen Seinsbereich die sprachlichen Gewichte von der Zeitung auf den Rundfunk verlagert haben, es bleibt doch die T a t sache, daß sie weit geschlossener wirkt, als er es je vermag. Auch ein Leser, der die Spalten seiner Zeitung nur überfliegt, nimmt noch Wortfetzen auf; aber ein Hörer, der sein Empfangsgerät als Geräuschkulisse nutzt, dreht auf Musik, wenn ihn das Summen eines Vortrages stört. W i r sagten, die Zeitung sei, sprachlich beurteilt, ein Schwammbegriff. Sie ist es nur, wenn wir auf ihre Entstehung und Zusammensetzung sehen; der Leser erlebt sie als Einheit. Und gerade das ist der Rundfunk, auch er eine Sprachhilfsmacht, dem Hörer nicht. In all ihren Sparten wie als Ganzes ist die Zeitung also ein gefährlicher Durchgang für neue Wörter und Begriffe — gefährlich, weil sie Bedarf weckt. Sie vermehrt auf diese Weise T a g -um T a g unseren Wörterwald. Gestern lernten wir Ehe-
gattenbesteuerung,
Altbürger,
Spätheimkehrer,
2 ) Vgl. hierzu mein, Buch über Die deutsche S. 8 4 — 9 0 .
Luftbrücke,
Sprache
unserer
Sputnik, den
Halbstarken
Zeit (Heidelberg 1956), bes.
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Lutz
Mackensen
und die Koexistenz, heute ist es der Twen, die Atommacht, der Volksaktionär und die Dunstglocke. Aber die Zeitung tut mehr. Sie legt uns Tag um Tag auch nahe, welche Wörter wir bevorzugen sollten, wenn wir nicht rückständig bleiben wollen; d. h. sie ist der eigentliche Acker unserer Schlagworte und Modewörter. Zeitbegriffe wie Betriebsklima, Spitzenklasse, Kundendienst, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Jedermannsreise, Notopfer, Grüne Grenze und Großer Bahnhof wenden wir nicht nur dort, wo sie hingehören, sondern auch übertragen an. Das ist ein Ergebnis unserer Zeitungslektüre. Aber auch die Landläufigkeit von Eintagsbrummern wie rasant, Masche, traumhaft, sich etwas einfallen lassen, global oder abwerben ist ihr zuzuschreiben. Sie setzt die Sprachregelungen durch, in denen wir denken. Aber keines all dieser Wörter und ihrer vielen Artgenossen ist für den Bedarf der Zeitung geprägt; alle wurden sie von ihr nur vermittelt. Nietzsche, der im übrigen der Zeitung leidenschaftlich Unrecht getan hat 3 ), warf ihr einmal unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher Wörter vor; damit hat er wenigstens einen Teil ihrer sprachlichen Leistung richtig beschrieben. Diesem unaufhörlichen Tropfenfall (Jaspers spricht von einer Berührung aller mit allem) verdanken wir unseren Wortzuwachs, unsere Schlagworte und unsere Sprachmoden. Das ist nicht wenig. Ob gut oder schlecht, ist eine andere Frage. Die Zeitung ist in ihrem Wesen Sprachmittlerin. Sie maßt sich dies Amt nicht an; es ist gleichsam ihr Atemholen. Was sie vermittelt, hat sie nicht geleistet. Sie kann von dem, was ihr der Tag anbietet, nur wenig verschweigen, wenn sie nicht ihre Aufgabe (bildgerechter Spiegel des öffentlichen Lebens zu sein) versäumen will. Ob dies oder jenes Neuwort, Schlagwort, Modewort, diese oder jene Sprachregelung gut, schön, richtig, zutreffend oder das Gegenteil von alledem ist, darf (sofern solche Urteile überhaupt möglich sind) weder auf ihrer Haben- noch auf ihrer Sollseite vermerkt werden. Soll man jemand dafür loben oder tadeln, muß man die Zeitung fragen, wo sie das Wort hergenommen hat, und dort bestätigen oder berichtigen. Eine Zeitung, die ihren Lesern die Welt in all ihren Erscheinungsformen, in der Politik, im Sport, im Handel, im Kulturleben anders zeigte, als sie sich dort gibt, würde (mit Recht) keinen Leser befriedigen. Man kann sie nicht für Dinge anklagen, für deren Ursprung sie nicht verantwortlich ist, und deren Verbreitung eine ihrer Funktionen ausmacht. Man kann natürlich wünschen, daß sie Kritik an dem übt, was sie vermittelt. Aber das tut sie auch. Wer das leugnet, bezieht seine Einsicht aus Blättern, die hinter der Zeit zurückbleiben. Wieder wird uns die Einheitlichkeit des Begriffs „Zeitung" fragwürdig. Denn es gibt längst viele nicht nur inhaltlich, auch sprachlich verantwortlich geleitete Zeitungen neben andern, die weder in dem einen noch im andern eigenständig sind. Vielleicht nie vorher war sprachliche Sorgfalt im deutschen Blätterwald so häufig wie heute; man muß freilich dorthin sehen, wo sie zu finden ist, nicht nach der anderen Seite. Die kritische Funktion der Zeitung, ihre Verantwortung, weder zu verschweigen noch willkürlich abändern, aber urteilen zu dürfen, gibt ihr auch sprachliche Prägekraft. Indessen beschränkt sie sich als Sprachmittlerin nicht auf Wortzuwachs, auf Neu-, Schlag-, Modewörter und Sprachregelungen. Unsere Zeitungen werden seit je hoch3 ) Vgl. Rudolf K. Goldschmit, Nietzsche und die Presse. In: Zeitungswissenschaft 1932, S. 340 ff.
VII,
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deutsch geschrieben; das Hochdeutsche war und ist die ihnen gemäße Sprachform. So haben sie zeit ihres Lebens (d. h. spätestens 4 ) seit 1609) unablässig an der Ausbreitung unserer Hochsprache, am Ausgleich zwischen unsern Landschaftssprachen und an der langsamen, aber unablässigen Zurückdrängung unserer Mundarten mitgearbeitet 5 ). Ob Luthers Bibel und die Bücher, die sie sich zum Sprachmuster nahmen, das Werk allein geschafft hätten, mag dahingestellt bleiben; beschleunigt haben die Zeitungen den Vorgang gewiß. Audi hier stößt die Zeitung nicht nach Plan oder Absicht die Sprache an; sie wirkt funktionell. Sie ist dazu da, Nachrichten zu verbreiten; sie sammelt ihre Nachrichten, indem sie sich die Hilfe auswärtiger Beobachter sichert, die ihr, was sie sehen und hören, mitteilen. Der Reiz der Zeitung aber liegt nicht darin, daß sie Nachrichten sammelt, sondern daß sie sie schnell weitergibt: sie muß aktuell sein. Eine eingehende Stilarbeit der Redaktion würde ihr Kernanliegen stören. Grundsätzlich gelangt also, was der Mitarbeiter schrieb, so, wie er es schrieb, zum Druck. Das war immer so, und daher gibt es ja auch keine „Zeitungssprache". Es fließen also viele Bäche ins selbe Bett, und alle strömen zusammen über den Leser. E r muß sich daran gewöhnen, in allen zu schwimmen. Was das sprachlich bedeutet, läßt sich für frühere Zeiten klarer zeigen als heute. Im 17. Jahrhundert, dem ersten und dem entscheidenden, weil typprägenden Zeitabschnitt ihres Bestehens, spinnen die gedruckten, in regelmäßigen, längstens wöchentlichen 6 ) Abschnitten erscheinenden Periodika, die man später „Zeitungen" nannte, verhältnismäßig schnell ihr Verbreitungsgebiet über den deutschen Sprachraum. Es beginnt im Niederalemannischen (1609 Straßburg, 1610 Basel); dann folgt bald der Vorstoß ins Ostfränkische (1614 Nürnberg), Rheinfränkische (1615 Frankfurt a. M.) und Mittelbairische (1615 Wien); nodi vor dem großen Krieg nehmen auch von Hamburg (1616) und Berlin (1617) Zeitungen ihren Ausgang. Der Dreißigjährige Krieg, hier ein Mehrer, kein Vernichter, bringt eine erste Blüte: Freiburg (1619) baut die Brücke nach Zürich (1633); in Schwaben werden Stuttgart (schon 1619 oder erst 1632?) und Ulm (1633) zeitungsmündig; München (1627), öttingen (1627) und Regensburg (1631) wirken ins Bairische, Würzburg ins Ostfränkische, Fulda ins Hessische hinein (1618); am Niederrhein entfaltet sich Köln zur Zeitungsmetropole (1615?; 1619), und Altona versucht mit Hamburg zu konkurrieren (1619). In diese Zeit fällt, besonders wichtig, die Eroberung Ostmitteldeutschlands (Breslau 1619?; 1629, Leipzig 1630, Erfurt vor 1640; Prag 1647); im Nordosten melden sich Danzig (1619), Königsberg (1619), Güstrow (1621), Rostock (spätestens 1625), Stralsund (1628) und Stettin (1630) zu W o r t ; gleichzeitig wird Ostfalen durch Magdeburg (1626), Halberstadt (1619), Hildesheim (1620) und Braunschweig (1647), Westfalen durch Münster (1623) und Herford (1630) dem neuen Kommunikationsmittel erschlossen. In den nächsten Jahrzehnten ebbt 4 ) Den Ruhm der „ältesten Zeitung" verdient eigentlich der sog. Annus Christi von 1597 („Historische erzöhlung der fürnembsten Geschichten vnd handlungen. . . durch Samuelem Dilbaum, Burgern zu Augspurg"; Bern, Schweizer Landesbibliothek; Filmkopie im Mikrofilmardiiv der Bremer Staatsbibliothek). E r erschien allerdings monatlich. 5 ) Einige Bemerkungen hierzu in meinem Aufsatz „Zeitungen als Quelle zur Sprachgeschichte des 17. Jahrhunderts", in: Ostdeutsche Wissenschaft I I I / I V , 1956/1957, S. 146ff. Einen Absatz hieraus wiederhole ich im folgenden, um das Bild zu verdeutlichen. 6 ) Die Frage der monatlich erscheinenden „Zeitungen" muß hier beiseite bleiben.
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die F l u t n a t u r g e m ä ß ab; aber das N e t z dichtet sich doch, zumal im Alemannischen (Schaffhausen 1668; Bern um 1670; L i n d a u 1679) und Niederdeutschen (Bremen 1659); in Kopenhagen entsteht im äußersten N o r d e n eine rührige deutsche Presse (1657); im bairischen Mittelland stärkt Augsburg (1650) seine Rolle als Zeitungsstadt. Kleinere Druckstädte wie Heidelberg (1666), Salzburg (1668), J e n a (1674) fügen sich ein. Noch ehe das J a h r h u n d e r t endet, gesellen sich Lübeck (1692), f r ü h e r noch Riga (1680) zu den hansischen Schwestern; 1691 b e k o m m t auch G o t h a seine Zeitung. Nicht alle Druckstätten halten alle J a h r z e h n t e durch; aber k a u m eine verschwindet, einmal verzeichnet, ganz v o n der K a r t e : unter neuen N a m e n , oft auch v o n neuen Druckern oder Herausgebern w i r d der erste Versuch, wenn er mißlang, erneuert, u n d nicht wenige O r t e lassen bald zwei, drei u n d mehr Zeitungen nebeneinander erscheinen. Die Bedeutung der großen Zeitungsstädte ist meist das Lebenswerk einzelner tüchtiger, oft leidenschaftlicher M ä n n e r ; so haben (um nur diese zu nennen) Frischmann in Berlin, v a n den Birghden in F r a n k f u r t , der Frachtbestätter Meyer u n d der Poeta laureatus v o n Rists G n a d e n Georg Greilinger in H a m b u r g , V i k t o r de L o w in Altona, Mühlbach in Leipzig, Lukas Schuhes in ö t t i n g e n eine T r a d i t i o n begründet, die weit über ihre Lebtage hinausreichte. D a m a l s brachten die Zeitungen fast ausschließlich auswärtige Nachrichten. D i e Städte w a r e n noch nicht so groß, d a ß Lokalmeldungen dem Bezieher Neues m i t geteilt hätten. D e r auswärtige Korrespondent bestimmte also auch das sprachliche Bild der Zeitung. E r schrieb hochdeutsch, aber er ließ doch — u n d je früher, u m so mehr — W ö r t e r u n d Formen seiner Landschaft ziemlich u n b e k ü m m e r t einfließen. Je mehr auswärtige Korrespondenten die Zeitung beschäftigt, um so mehr w i r k t sie als hochdeutsche Brücke zwischen den M u n d a r t r ä u m e n . D i e Straßburger „Relation" von 1609 ( K a r t e 1) arbeitet mit nur 15 Berichterstattern, v o n denen 12 ihr Nachrichten aus dem deutsch-niederländischen Sprachgebiet liefern. D e r große Anteil der bayrischösterreichischen Beiträger f ä r b t ihre sprachlichen Fügungen deutlich 7 ). 22 J a h r e später v e r f ü g e n die Münchener „Wöchentliche O r d i n a r i Zeitungen" ( K a r t e 2) schon über 24 Korrespondenten; ihr w e r d e n Mitteilungen aus Niederdeutschland — H a m burg, Stettin, Braunschweig, Berlin — zugetragen, u n d auch das mitteldeutsche Gebiet meldet sich lebhafter z u m W o r t . In Oberdeutschland sind die Akzente, entsprechend dem Erscheinungsort, anders verteilt als bei der „Relation" 8 ). Aber im gleichen J a h r haben die in W i e n herausgegebenen „Ordentlichen Wöchentlichen Post-Zeitungen" ( K a r t e 3) schon ein Mitarbeiternetz v o n doppelter Dichte: die Beiträge aus dem niederdeutschen R a u m verteilen sich zwischen E m d e n u n d D a n z i g ; Mitteldeutschland ist dichter besetzt; neben dem elsässischen fällt besonders der schwäbische Anteil ins Gewicht 9 ). Schon in der nächsten Generation sieht das Bild noch viel bunter aus. W i r wählen als letztes Beispiel den J a h r g a n g 1666 v o n Greilingers „Nordischem M e r k u r " aus H a m b u r g , der mit seinen 83 Korrespondenten nicht nur die Berichterstattung aus dem Ausland viel reicher gestaltet, sondern auch sein N e t z ungleich dichter über 7 ) Wir besitzen einen vorzüglichen Faksilimedruck der Zeitung (Leipzig 1940; Hg. M. Schöne). 8 ) Die erhaltenen Nummern der Zeitung sind im Mikrofilmarchiv der Bremer Staatsbibliothek zugänglich. 9 ) Ebenso.
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Deutschland und die Niederlande und Flandern spinnt. Auch sprachlich ist die Einbeziehung nordostdeutscher Reporter — aus Riga, Reval, Dorpat, Narwa — von Bedeutung; aus dem östlichen Mitteldeutschland sind die Stimmen aus Breslau bemerkenswert (Karte 4) 1 0 ). Unter solchen Gegebenheiten konnte keine Zeitung sprachlich einheitlich werden. Mundartliche Formen und landschaftlich gebundene Wörter fließen überall ein 1 1 ), so eindeutig hochdeutsch die allgemeine Tendenz auch ist. Der Hamburger Frachtbestätter Meyer läßt 1629 1 2 ) in einem Bericht aus Wien das bayrische W o r t Kandel unerklärt stehen; den oberdeutschen Klöckner verdeutlicht er sich und seinen norddeutschen Lesern durch ein beigefügtes Köster. E r schreibt zwar Gripswaldt und Surland, aber auch Preßlaw, Thurlach und Pamberg. Dürftigere Zeitungen wie Gödes „Europäische Wöchentliche Zeitung" aus Kopenhagen 1 3 ) geben der heimischen Mundart einen breiteren Spielraum: da finden sich Formen wie Schnuptucb, dage (für Tage), Klenodien, Snee, Aske (für Asche), Skip-Leute, heimliek und Skatzung oder niederdeutsche Pluralbildungen auf -s (die Kästgens, Schippers, Reemschneiders und Sattlers); aber daneben stehen dann Feld-Stückel oder die Negation nit. Um die Jahrhundertmitte wurden in Hamburg, Danzig und Stettin (d. h. mitten im Sonnabendgebiet) Sambstägige Zeitungen 14 ) herausgegeben; schon um 1620 konnte der Berliner Zeitungsleser die süddeutsche Negation nit neben der bei ihm üblichen Form nicht finden, und die Berichte über die militärischen Bewegungen des Großen Krieges sorgten dafür, daß Ross, ursprünglich auf den Südwesten unseres Sprachraumes beschränkt, gemeindeutsch wurde. So glitten die Zeitungen, eindringlicher, als es die Bücher konnten, und unbekümmerter, als Prediger und Lehrer es taten, zwischen den Sprachlandschaften hin und her und breiteten die Schriftsprache aus. Mehr noch: ihre Korrespondenzen, die man sprachlich etwa zur Briefliteratur stellen kann, standen der Sprechsprache näher als der Buchsprache. Die Zeitungen neigen seit ihrem Beginn, und auch das gehört zu ihrer Funktion, zu einem ganz unliterarischen Sprachstil. Wie sehr sie damit zu der Entstehung, Festigung und Ausbreitung unserer Umgangssprache beigetragen haben, muß an Hand der Quellen im einzelnen noch festgestellt werden. Aber auch heute schon läßt sich die grundsätzliche Bedeutung dieser ihrer Wirkung nicht übersehen. Es ist nicht schwer abzuschätzen, was es z. B. in Berlin, Danzig, Hamburg oder Königsberg um 1650, als die Verkehrssprache auch der führenden Kreise dort noch plattdeutsch war, bedeutete, wenn ein-, zweimal wöchentlich oder öfter eine hochdeutsche Zeitung ins Haus kam, studiert, vorgelesen, ja im Unterricht behandelt wurde (das ist 1657 in Breslau 15 ) zum erstenmal geschehen, im gleichen Jahr von Comenius 16 ) gefordert und dann vielfach nachgeahmt worden) — eine Zeitung, die nicht im feierlichen Lutherdeutsch abgefaßt war, sondern unbefangen die Sprache der Zeit laut werden t») Ebenso. " ) Beispiele dafür gebe ich in meinem in der 5. Anmerkung genannten Aufsatz. 12
) In seiner Wöchentlichen
Zeitung auß mehrerley
Orten (zugänglich im Bremer Mikro-
filmarchiv). 1 3 ) Ich bringe Beispiele aus dem Jahrgang 1663 (Mikrofilmarchiv Bremen).
14 ) 1648 Europaeische Sambstägige Zeitung, Hamburg; 1657 Sonnabends Particular, wohl Danzig; 1658 Europaeische Samstägliche Zeitung, Stettin; aber 1658 Sonnabends Relation Zum Europaeischen Mercurius gehörig, Königsberg.
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ließ und sich dabei nicht scheute, auch gelegentlich Wörter und Formen einzustreuen, die dem Leser zunächst noch fremd waren, aber denen er sich langsam bequemte. Im 18. Jh. verschwindet dann die Mundart aus den Literatenhäusern auch der norddeutschen Städte. Man macht dafür die Verbesserung der Schulverhältnisse und die wachsende Zahl der deutschen Buchdrucke verantwortlich. Aber nicht weniger, vielleicht gar das Entscheidende haben die Zeitungen dem Vorgang beigesteuert. Jean Paul nannte, zu Ende des Jahrhunderts, die Zeitungen die Sprachwerkzeuge der Stunde. Das Lob ist nicht zu groß; es ist auch richtig formuliert. „Sprachwerkzeuge" sind die Zeitungen, auch und besonders in der Beihilfe, die sie dem Schriftdeutschen, dem Gemeindeutschen und der deutschen Umgangssprache leisten. Sie sind „von Haus aus" ihrem Wesen nach Volkslesestoff, sind es schon in den Jahrzehnten des Beginns, als die Auflagenziffern und die Höhe der Bezugspreise dem noch zu widersprechen scheinen. Solange es Zeitungen gibt, gibt es auch Zeugnisse dafür, daß sie durch öffentlichen Anschlag, durch Weitergabe von H a n d zu H a n d oder durch Vorlesen auf der Straße und in den Kneipen in eine Breite wirkten, die kaum einem andern Druckerzeugnis beschieden war. Daß sich diese Breitenwirkung im Laufe des letzten Jahrhunderts vervielfacht hat, muß nicht erst bewiesen werden. Erhebungen des Instituts f ü r Desmokopie belehren darüber, d a ß heute 65 bis 70 v H aller erwachsenen Deutschen regelmäßig, 25 bis 30 v H gelegentlich ihre Zeitung lesen; die verbleibenden 5 v H , die das nidit wollen, spielen in diesem „repräsentativen Querschnitt", wie man die Sache auch sieht, eine Randrolle. Hält man diese Zahlen neben andere, die der Buchnähe unserer Zeit auf die Spur kommen, erweist es sich, daß f ü r die meisten unserer Zeit- und Sprachgenossen die Zeitung nach ihrer Schulzeit die einzige echte Klammer ist, die sie mit unserer Schriftsprache verbindet 17 ). Das ist eine sehr feste und dauerhafte Klammer. Und auch diese Arbeit leistet sie aus ihrem Wesen heraus, als Zeitung an sich; sie muß sie leisten, ob es uns Zuschauern gefällt oder nicht. Sicher wäre z. B. 'die Stellung der Mundarten heute ungefährdeter, wenn es keine Zeitungen gäbe. Aber die Wirklichkeit fragt nicht nach Wenn und Aber. Wen stört es heute noch, daß Binsenwahrheit von Haus aus ein Dialektwort war, daß die Kanzleibildung diesbezüglich so gut aus Österreich stammt wie das sich wie ein Partizip gebärdende Adjektiv talentiert, daß man sich über das Substantiv Unverfrorenheit, als das Wort vor rund 100 Jahren in Berlin auftauchte, aufgeregt hat? Längst haben die Zeitungen diese und viele andere Wörter aus ihren Heimzellen über unsern ganzen Sprachraum getragen und gemeindeutsch gemacht. Die Zeitung ist in ihrem Kern unmundartlich, ist gesamtdeutsch. 15 ) Von Georg F. Arpat wurde 1657 für das Elisabethgymnasium eine Wochenstunde in den beiden obersten Klassen für die Lektüre der wöchentlichen Zeitungen angesetzt. Christian Gryphius nahm später diese Tradition wieder auf, obwohl der Fachlehrer damals geurteilt hatte: Res effectu caruit. 16 ) In seinen Didactica magna, in denen er eine besondere Stunde für die Benutzung der Zeitungsnachrichten zur schola pansophica vorsieht. 17 ) Vgl. Emil Reuber, Zeitung in Erzieherhand, der auf S. 16 von dem Ergebnis einer Befragung von 25 000 Kindern berichtet. Sie ergab eindeutig, daß außerhalb der Schule die Zeitung den Hauptlesestoff bildet. — Ferner: Hans Ludwig Zankl, Grundfragen der Zeitungswirkung (München 1954).
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Z u der Streuung des neuen Wortgutes durch die Zeitung und ihrer gemeinsprachlichen Leistung kommt ein Drittes. W i e sie im Lauf der Jahrhunderte geworden ist, baut sie sidi aus Sparten auf, die inhaltlich und sprachlich verschieden geartet sind. Die Sprache der Politik, des Sports, der Wirtschaft sind Rohstoff für sie. H a t sie aus diesem Rohstoff Formen entwickelt, die sprachlich bedeutsam sind und für die sie verantwortlich zeichnet? Es gibt in der T a t solche zeitungseigenen Sprachformen. Einiges, ganz verschiedenartige und verschieden wertige Erscheinungen, sei angedeutet; zusammen werden sie, worauf ich abziele, sichtbar machen. Die Zeitung hat die Schlagzeile entwickelt. Sie steht schon in unsern ältesten Zeitungen, immer dort, wo sie den Leser auf eine nach Inhalt oder Ursprung besonders wichtige Nachricht hinweisen soll. Sie ist zunächst nichts anderes als eine Überschrift, die womöglich durch den Druck hervorgehoben wird. Aber da es ihr darauf ankommt, mit möglichst wenig Worten (d. h. in der Spanne von höchstens einer Zeile) möglichst viel zu sagen, stellt sich bald die Notwendigkeit zur Verknappung ein. Später wird die Schlagzeile zum Blickfang für den Käufer (das ist etwa ihre Rolle im ersten Weltkrieg), und schließlich dient sie zur Gliederung des Druckbildes: heute ermöglicht sie dem eiligen Leser einen schnellen Überblick über das Ganze, einen rasdien Zugriff auf das, was er sucht. So hat sich im L a u f der Zeit eine eigene Technik der Schlagzeile entwickelt, die vom Schlagwort das Bemühen um das starke Wortbild gelernt und dem Werbefachmann das Geheimnis der „rollenden T e x t e " abgesehen hat, d. h. der leicht einprägsamen Satzgebilde kurzer und kürzester Form. Das Ergebnis zeigt zwei sprachliche M e r k male: sparsamste Nutzung des Artikels, auch des Zeitworts, und engste Zusammenrückung der Substantive (Lahr heute bei Semjonow — 220 000 Flüchtlinge in diesem Jahr — 63jähriger unter Mordverdacht). Diese Merkmale (Artikelschwund, Satzverknappung, Virtuosität in der Bildung von Hauptwortzusammensetzungen) sind längst allgemeinsprachlich geworden: die Schlagzeile beeinflußt auch den, der keine Schlagzeile formen muß. D i e Zeitung ist, weiterhin, die Heimstätte der Anzeige. Auch sie wächst schon im 17. Jahrhundert (ich finde sie zuerst 1656 in Berlin), aber sie entwickelt sich nicht so gradlinig wie die Schlagzeile: sie ist von Sprach- und Stilmoden abhängiger. Heute füllt sie inhaltlich wie sprachlich den buntesten T e i l der Zeitungen 1 8 ); sie hat, wenn man so will, die meisten und die verschiedenartigsten Mitarbeiter. Sie beherrscht aber auch die selbständigste Sparte: da der Beiträger für die Veröffentlichung zahlt, ist er nicht leicht gewillt, sich einen fremden Geschmack oder eine fremde Sprachfügung aufdrängen zu lassen. D i e wirtschaftliche Selbständigkeit der Anzeigensparte verweist alle andern in ihr Gefolge; da keine Zeitung ohne sie leben kann, steckt K a r l Büchers böses Wort, in der Zeitung werden Abonnenten an Inserenten verkauft, nicht allzu weit ab vom Schwarzen. Das wirkt sich natürlich auch sprachlich aus. D e r alte Wunsch, den Anzeigenteil abzutrennen, läßt sich nun einmal nicht verwirklichen: je mehr diese Sparte wächst, um so mehr Möglichkeiten hat die Zeitung als Ganzes. Sie darf also nicht angetastet werden, wenn man die Entfaltung der andern Sparten nicht gefährden 18) Vgl. A. Peters, Die Einheit „Zeitung" und die relative Selbständigkeit ihrer Teile. In: Zeitungswissenschaft V, 1930, S. 257 ff. — Im Gegensatz zum Inseratenteil ist der Handelsteil von einer fast wissenschaftlichen Objektivität.
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Mackensen
will. So wird sie die große Bresche, die der Reklame den Weg zum Leser frei macht, und was sie an Übertreibungen, Superlativen, Modewörtern und Stileinfällen bringt, dringt schnell und gründlich ins Allgemeine. Auch gründlich: denn der Anzeigenteil ist nicht nur dem Zeitungsinhaber, auch dem Zeitungsleser unentbehrlich. Der Hundertsatz derer, die ihre Zeitung nur um der Anzeigen willen halten, ist groß. Die Vermittlerrolle der Zeitung ist vermutlich in keinem ihrer Teile so dicht wie hier. Aber die Anzeige wirkt ja auch an sidi sprachlich. Sie entwickelt und bewahrt, wo es sich um Familiennachrichten handelt, Floskeln zur Aussage der Freude, des Glücks, des Schmerzes und der Frömmigkeit, die das durchschnittliche Gefühlsleben und sein Wortgut weitgehend mitbestimmen. Sie erzieht, wo es um Kleinanzeigen geht, zur Artistik der Verknappungen und Abkürzungen. Sie verpflichtet schließlich den, der in der Zeitung werben will oder muß, zur Steigerung seiner Aussagen, zu der verdächtigen Kunst der halben Wahrheiten, zur Erfindung neuer Epitheta für das, was er absetzen möchte. So hat, um nur eines zu nennen, das Beiwort, in seinem Bestand eine Zeitlang hart bedrängt, im Inserat und von ihm her ein neues Leben erhalten; man denke an Bildungen wie hautnah, hüpfgesund (Wirkung eines Vogelfutters), aromafreudig (eine Zigarette), atmungsaktiv (ein Regenmantel) oder dokumentenechtem Kugelschreiber). Die einzelne Bildung mag sachlich unüberlegt oder gar sprachlich falsch sein. Aber aufs Ganze gesehen ist die Erneuerung des Adjektivs 19 ) für unser Sprachleben wichtig. Die Zeitung hat sich, letztes Beispiel, das Interview20) geschaffen. Das geschah vor rund 100 Jahren, als nämlich der New York Herald einen Berichterstatter beauftragte, sich an Ort und Stelle nach den Hintergründen und näheren Umständen eines Verbrechens zu erkundigen. Die amerikanische Erfindung ist i n . ihrer Heimat nicht nur zu einer Kunst, sondern geradezu zu einer Wissenschaft ausgebildet worden; es gibt dort eine Lehre des Interviews, die z. B. der besonders wichtigen Einleitung größte Aufmerksamkeit widmet. Die Ergebnisse dieses Bemühens wirken auch auf unsere Zeitungen, und da sie auch ihre eigenen Erfahrungen sammeln, ist das Interview heute ein Gattungsbegriff. Es hat seine Gesetze, die beachtet werden müssen. Die Kunst, behutsam und doch zielstrebig zu fragen, setzt Kenntnisse, Geschmack und Sprachgefühl voraus; aber auch der Antworter wird dazu erzogen, gemeinverständlich, knapp und klar zu sagen, was er sagen will, und das zu verschleiern, was er lieber für sich behält. Das Interview ist eine der Zeitung entstammende Stilform, die an sich und durch sich sprachlich wirkt. Und was für sie gilt, ließe sich mit gewandelter Front auch für die Reportage, die Kurzgeschichte und den Zeitungsroman aufzeigen. Hier wie im ganzen Bereich fehlt es leider noch an Untersuchungen, die der sprachlichen Bedeutung der Erscheinung nachspüren. Die Hinweise lassen sich vermehren. Aber auch diese Andeutungen zeigen, daß die Zeitung Ansatzpunkte hat, an denen sie aus eigener Substanz sprachschöpferisch wird. Ich füge einige Momentbilder bei, um diese Hintergründigkeit zu zeigen. 1. Der Stil, den Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Johannes Schlaf und ihre Gesellen am letzten i») Hierüber mehr in meinem Beitrag zur Weisgerber-Festschrift „Muttersprachliche Leistungen der Tedinik" (Sprache — Schlüssel zur Welt, Düsseldorf 1959), S. 300 fF. 20
) Vgl. W. Zedilin, Das Interview.
In: Zeitungswissenschaft
XIV, 1939, S. 87 ff.
Über die sprachliche Funktion der
Zeitung
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J a h r h u n d e r t e n d e beispielhaft vor die W e l t stellten, stammt wahrscheinlich z u m guten Teil aus der sozialdemokratischen Presse ihrer journalistischen Anfänge. Z u deren Anliegen gehörte es ja, die Schriftsprache so unliterarisch, so mundgerecht wie möglich zu schreiben. I n den v o r - u n d frühsozialistischen Zeitungen entsteht seit der J a h r h u n d e r t mitte aus den politischen Notwendigkeiten ein Sprachstil, der später als „Naturalismus" über die Bezirke der Muttersprache hinausreichte. 2. Ähnliches geschieht in unsern T a g e n , nicht so weit in die H ö h e , aber vermutlich breiter w i r k e n d : f ü r die Beiträge von Reader's Digest ist ein Stil geschaffen, der längst auch auf Zeitungen übergegriffen h a t und nun schon in den Deutschstunden mancher Schulen als beispielhaft exerziert wird. Dieses Reader's-Digest-Rezept, ein beliebiges T h e m a k n a p p u n d ansprechend abzuhandeln, läßt sich ziemlich genau beschreiben und sehr genau nachahmen; w o u n d wie o f t es b e n u t z t wird, verlohnte eingehendere Untersuchung. A u d i diese Stilform greift über Sprachgrenzen: was dort (im Naturalismus) eine literarische Bewegung w u r d e , geschieht hier zunächst in den Spalten der Zeitschriften u n d Zeitungen. 3. Schließlich die Bilder in den Zeitungen u n d ihre sprachliche W i r k u n g ! Bild u n d Zeitung gehören zusammen (auch d a f ü r ließen sich Belege schon aus dem 17. J a h r h u n d e r t bringen): das Bild macht den T e x t nicht n u r griffiger, es gliedert auch das Druckbild u n d erleichtert das Lesen. Die „Illustrierte" ist als G a t t u n g und in ihrer Entstehung ein Zweig am Zeitungsstamm (wie man z. B. aus den Titeln ersieht!). Seit der N ü r n b e r g e r Georg Meisenbach 1881 die Wiedergabe von Fotografien in Zeitungen ermöglicht hatte 2 1 ), w u r d e der Abstand zwischen „Illustrierten" und Zeitungen immer kleiner, bis endlich die „Bildzeitung" den längst angelegten T y p voll ausformte. Er setzt W o r t u n d Bild in eine unaufhörliche Beziehung: es ist, als nötige die Unmittelbarkeit der Abbildung, aus der Sprache das Letzte ihrer Wirkmöglichkeiten herauszuholen, und so entsteht ein Stil, der im Wettlauf mit dem, was dem Auge geboten w i r d , atemlos w i r d u n d sich in seinen Übersteigerungen v e r k r a m p f t . Aber auch, w o diese letzte Verflechtung nicht erreicht oder nicht einmal gewünscht ist, verschiebt sich das Schwergewicht so stark ins Optische, d a ß die Belange der Sprache eingeengt werden. In den Comic strips22), die auch in besseren Tageszeitungen eine H e i m s t a t t gefunden haben, w i r d das besonders deutlich. A n dieser Stelle w i r d es schwer, nicht von einer „Bedrohung" der Sprache zu reden. Indessen steht auch hier neben der G e f a h r das Rettende. Die Zelle der Zeitung ist, wie gesagt, die Nachricht: in ihrem U r s p r u n g und K e r n ist jede Zeitung Nachrichtend. h. Referatzeitung. In den ersten J a h r z e h n t e n ihres Bestehens holt sie dieses Bild auch k l a r aus sich heraus: da steht Meldung neben Meldung, zu allererst sogar im f o r t l a u f e n d e n Text, so d a ß die gleiche Zelle verschiedenen I n h a l t bringt u n d der Leser Mühe hat, das eine v o m andern zu scheiden. Aber im gleichen K e r n sitzt wie der W u r m in der Frucht eine Gegenkraft, die sich selbständig machen, die jene U r f o r m 21 publizistischen ) Ein kleiner Beitrag von Rudolf Descher über ihn im Handbuch der Praxis V, 1959, S. 224. 22) Vgl. mein in Anm. 2 genanntes Buch, S. 90 f., und Ralph O. Nafziger, Die Entwicklung der Comic Strips. In: Publizistik 1, 1956, S. 158 ff. Dort wird, dem Anliegen des Verfassers entsprechend, auf S. 163 auch die Wirkung der comic strips auf die amerikanische Umgangssprache berührt. Entsprechungen lassen sich für die deutsche Umgangssprache schon jetzt zeigen.
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Mackensen
sprengen möchte und zu einer ganz andern Form drängt. N u r Nachrichten zu bringen, das verlangt, wenn das ganze Bemühen nicht nur dem Gewinn dient, Entsagung; wer möchte nicht, wenn er Siege oder Niederlagen, Verbrechen oder Ruhmestaten mitteilt, hinzufügen, wie seiner Oberzeugung nach der Fall beurteilt werden müßte. U n d sehr bald — Gustav Adolph ist das erste große Beispiel dafür — merken auch die Politiker, daß man die Zeitung zur Bildung und Lenkung der öffentlichen Meinung nutzen kann. Ist die Zeitung nur Referatzeitung oder darf, ja muß sie nicht auch Raisonnierzeitung sein? Der Streit um die beiden Grundformen der Zeitung 23 ) geht vom 17. bis tief ins 19. Jahrhundert, von La Bruyere und Kaspar Stieler (1695: Ein Urtheil in den Zeitungen zu. feilen ist ungebührlich) bis zu Brockhaus, der noch 1813 an Mahlmann schrieb: Eine Zeitung .. . referiert bloß, sie nimmt keine Partei, und Raisonnements sind ihr fremd. Aber inzwischen hatten sich die Zeitschriften entwickelt; der „gelehrte Artikel" wurde eine Macht im geistigen Leben, und die politische Diskussion war seit der Französischen Revolution so groß und so heftig, daß die Zeitungen sich selbst hätten aufgeben müssen, wären sie weiter sperrig geblieben. Die Referatzeitung wandelte sich zur Raisonnierzeitung, gewann damit der Wissenschaft und der Literatur gegenüber ihre Eigenständigkeit und eroberte sich nun erst, z. B. durch die Aufnahme des Leitartikels und des Feuilletons, ihr „modernes" Profil. Aber wieder schwelte da eine Zündschnur: wer seine Ansicht sagt, möchte überzeugen, und wer den Gegner nicht achtet, wird ihn leicht überschreien, wird ihn zum Schweigen bringen wollen. So wurde die Raisonnierzeitung zur Gesinnungszeitung, zuerst mit Hilfe von Geld, dann durch den Einsatz der staatlichen Macht. Die Entwicklung überschlug sich; da galt schließlich nicht Referat, nicht Raisonnement mehr; mit ihren Grundkräften hatte die Zeitung ihre Gattungsmerkmale aufgegeben. Es war aber, die böse Krise zu überstehen, eine Rücklage gespeichert worden, die in der Stunde der Armut unvermutet verfügbar wurde. Im Raisonnement schlummert nicht nur die Lockung, Gesinnung zu verbreiten, sondern (meint man es ernst mit dem Raisonnieren) viel mehr noch der Reiz, ins Gespräch zu kommen. In der Generalanzeigerpresse, die August Huck und August Scherl aus den Intelligenzblättern des 18. Jahrhunderts entwickelten, wurde zuerst der Versuch gemacht, den Leser zum Sprechen zu bringen: besondere Sparten (Briefkasten, Sprechsaal, Rechtsberatung) wurden seinen Anliegen bereitgestellt. Das schmeckte anfangs etwas nach Betreuung; aber da es sich einnistete, konnte es sich weiten, und so war immerhin ein Ansatz vorhanden, als es darum ging, die Zeitung (was die Gesinnungszeitung der vergangenen Jahrzehnte verhindert hatte) zur staatsbürgerlichen Mündigung ihrer Leser zu nutzen. Masaryk hat einmal gesagt, Demokratie sei Diskussion, und damit macht unsere Presse nun Ernst: wir erleben die Entwicklung der Raisonnierzeitung zur Gesprächszeitung 24 ). Sie bedingt nicht nur einen Stilwandel; sie beteiligt auch den Leser (und das heißt alle Deutschen) grundsätzlich und unmittelbar an der Gestaltung der Zeitung. Was das f ü r unsere Muttersprache bedeutet, wird sich zeigen. 23) Vgl. auch Emil Löbl, Kultur und Presse (Leipzig 1903), bes. S. 49 f. 24 ) Das ahnte schon Edwin Zellweker in seinem Aufsatz „Von der Presse" (in: Die Tat XI/I, 1919, S. 52). 25 ) Franz Kiener, Die Zeitungssprache. Eine Deutung ihrer psychologischen Grundlagen (Würzburg 1938) geht an den hier behandelten Fragen vorbei.
Über die sprachliche Funktion der Zeitung
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Als Grimmelshausen das grobianische Bonmot prägte, Zeitungsschreiber seien des Teufels Nastiicher, mit denen er seine Hinterseite schneuze, hatte die Zeitung nodi nicht ihre sprachliche Mitte gefunden. Als Knigge reimte: Der Narren gibt es überall — wer sonst nichts kann, schreibt ein Journal, war die Raisonnierzeitung im Begriff eine Macht zu werden. Man mag die Unruhe verstehen, die damals im Lager der Buchliteraten herrschte. Aber die Zeiten haben sich gewandelt und die Zeitungen mit ihnen. Der Journalist ist nidit mehr nur Nachrichtenhändler und nicht mehr nur Zeitkritiker; er will wenigstens weder nur das eine noch nur das andere sein. Er will Gesprächspartner werden, ein Partner, der Neues weiß und dazu sagt, was er meint, aber der auch gerne hörte, was wir dazu sagen. Hier schließt sich der Ring unserer Überlegungen. Wer gegen das „Zeitungsdeutsch" belfert, sollte bedenken, daß es schwer ist, dies „Zeitungsdeutsch" vom Gemeindeutsch der Zeit zu scheiden. Man könnte ihn an Friedrich von Schlegel erinnern, der einmal gesagt hat, die Schriftstellerei sei, je nachdem man sie betreibe, eine Infamie, eine Ausschweifung, eine Tagelöhnerei, ein Handwerk, eine Kunst, eine Tugend. Das wissen unsere Journalisten sehr wohl. Aber auch das trifft noch nicht ins Schwarze. „Zeitungsdeutsch" (wenn denn dies Schopenhauerwort behalten werden muß) ist unser Deutsch; der Journalist schreibt nidits auf, was wir ihm nicht (als Politiker, Sportler, Kaufleute oder Ingenieure) vorsprechen. Natürlich ist die Zeitung eine sprachliche Macht; sie ist es heute auf ganz besondere Art. Aber diese Macht ist unsere Macht, und das entscheidet alles Weitere.
ERNST BARLACH AUF DER Günther
Mann
• Wismar
BÜHNE
(Meckl.)
Es gibt nichts Moderneres als die E w i g k e i t . Jürgen Fehling
Eine Plastik des Bildhauers von Güstrow scheint mir ein Wesenswahrbild zu sein f ü r das dramatische Werk dieses Mannes: die Bronzegestalt seines Geistkämpfers. Das dramatische Werk Barlachs, mählich anhebend im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, gewann, wie wir wissen, Ende der zwanziger Jahre eine beachtete, ganz eigne Stellung im Wirkungsfeld europäischer Dramatik, um heute — hierin ähnlich dem Werk Franz Kafkas — eine stete, immer wieder bestürzende Faszination künstlerischer und moralischer Tiefe auszustrahlen, die als unverlogener Ausdruck einer noch nicht manipulierten abendländischen Geistigkeit und Seelenhaltung das N o r d deutsch-Europäische Barlachs mit dem Geist jener amerikanischen literarischen Moderne verbindet, zu deren schonungslosesten Autoren und Wahrheitssuchern Thomas Wolfe und William Faulkner gehören; Schriftsteller, deren künstlerisches Ethos der unerschrockenen Gewissenserforschung Barlachs in vielem so überraschend wesensverwandt ist. Diese Feststellung sei zu Beginn gemacht, um darzutun, wie sehr Barlachs acht Dramen umfassender Menschheitszyklus zum Strom jener großen Weltliteratur gehört, die auf die Gewissensschärfung der Menschen zielt, auf die geistkämpferische zweite Gerichtsbarkeit der Dichtung und der sie widerspiegelnden Bühne in einer Zeit, in der das Gewissen der Menschen so grausam zertrümmert wurde und, so müssen wir hinzufügen, weiterhin zertrümmert wird. Was nun die erwähnte Skulptur Barlachs betrifft, jenes Gleichnisbild nicht nur seines dramatischen Werkes, sondern auch seines Lebens selbst, so meine ich den Geistkämpfer an der Universitätskirche zu Kiel. Im November 1928 in der Stadt am Meer errichtet, wurde das Bronzemal 1937 als „entartete" Kunst von seinem Platz entfernt und schließlich nach einem vergeblichen Versuch Ernst Sauermanns, des Direktors des Kieler Thaulow-Museums, es in seinen Museumsräumen zu bergen, von den Machthabern der bösen Gewalt auf Lastwagen mit unbekanntem Ziel entführt. Es ist tief bezeichnend, daß Barlach, während er noch am Geistkämpfer arbeitet, sein Drama Der Graf von Ratzeburg entwirft: es wird — im Nachlaß gefunden — zum tragischen Testament seines gesamten dramatischen Schaffens. Es birgt in seinem Titel den N a m e n der Stadt, in der er, ein gehetztes Wild im Reich der Finsternis, im Herbst 1938 begraben wird, in der Erde seiner holsteinischen Heimat. Im gleichen Herbst, in dem Thomas Wolfe, der Amerikaner mit den mütterlichen Vorfahren
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Ernst Barlach auf der Bühne deutscher Herkunft, in N e w Y o r k In
dessen
Nachlaß:
zwei
nach schwerer K r a n k h e i t stirbt. T h o m a s
umfassende
Romane,
deren
letzter
Es
führt
zurück — „Eine Geschichte vom unruhvoll suchenden und wandernden
Wolfe!
kein
Weg
Genius" —
mit dem visionären „ C r e d o " - K a p i t e l endet. Ein sinn- und sprachgewaltiges
Kapitel,
das in geradezu bestürzender Weise von den gleichen Gesichten erfüllt ist wie Barlachs letztes D r a m a , von der Vision des Feindes, des heuchlerischen Feindes in der M a s k e
der Unschuld: Er lügt — wir und ist überhaupt nicht einer Bruder . .. Denn wenn er uns sein wahres Gesicht ist so alt dann
weißt
Du,
was
er
wissen jetzt, daß er lügt! Er ist nicht unser Höchstes von uns. Er ist nicht unser Freund, unser Sohn und auch tausend vertraute und bequeme Gesichter zeigt — wie die Hölle. Du brauchst Dich nur umzusehen —
angerichtet
hat
(Thomas W o l f e ) . U n d
Erkenntnis wie in Barlachs Graf von Ratzeburg: ums
mit einer
gleichen
Es geht nicht ums Gelten, es geht
endet der R o m a n .
Sein,
Doch nodi einmal zurück zu der bildhauerischen Vision Barlachs, dem symbolischen — hochaufgerichtet, auf dem Rücken eines niederen D ä m o n s in T i e r -
Geistkämpfer:
und Tigergestalt stehend, erhebt eine beflügelte männliche Gestalt wie nach schwerem, aber siegreichem Ringen
das schmale Schwert zum G r u ß sacht und bedächtig
Firmament. Es ist jenes Firmament, aus dem ein Frostschauern
von dem Hans Iver, der verarmte hohen
Herrn,
Vetter eines in seinem Glanz
sich
ins
zum
kommt,
Ewigkeit
vorüberfahrenden
in Barlachs zweitem D r a m a , der metaphysischen T r a g ö d i e . Der
spricht — : in einem radikalen welthaltigen M o n o l o g am nächtlichen
Vetter, des
der
Meer
ergießenden
Elbstromes.
Ein
Größe, ein sternwärts gerichtetes Selbstgespräch
Monolog
von
arme Strand
shakespearehafter
des frühen Barlach,
das in
seinem
intensiven T o n f a l l , in seiner expressiven Sprachgebärde, in seiner realen zeitkritischen und
zugleich
metaphysisch
umwitterten
Aussage
schon
ganz
jener
deutschen
und
europäischen revolutionären Kunstbewegung angehört, die man die expressionistische genannt hat. O b w o h l Barlach an den stilistischen Verengungen und Erstarrungen des literarischen Expressionismus in keinem Augenblick teilhat, so wird er doch auf eine ganz
persönliche nur ihm
einzigartigen
eigene A r t
Kunstbewegung
von
getragen.
der elementaren
Jedes
Gesicht
ist
Grundströmung ein
Dahinter.
dieser
Theodor
Däublers, seines Freundes, S a t z über ihn ist zugleich eine grundsätzliche C h i f f r e der um 1 9 1 0 zum Durchbruch kommenden neuen Generation in der Kunst.
Jede
gut getroffne
Farbe ist ein Sieg über das Chaos:
auch dieser Däublersche
Satz — über F r a n z M a r c — gilt für die innerste Formgesinnung Barlachs. Auch er kann sich im Grunde „seinen Stil nicht selber w ä h l e n " , auch er ist notwendig
ein
Sohn der neuen Z e i t ; und er notiert in Güstrow, das nun zum heimatlichen Gefild, zur fest gegründeten und späterhin tragischen Heimstatt seines Schaffens wird:
arbeitet nicht, man wird 1911
entsteht
Man
gearbeitet.
als Sinnbild
seines geistigen Protestes
Verflachung der Gründerjahre die H o l z s k u l p t u r Der
gegen
Schwertzieher,
die
spießbürgerliche
entstehen als Aus-
druck der großen metaphysischen Unruhe im aufkommenden Sturm des neuen W e l t gefühls die bildhauerischen W e r k e Panischer eben Der
arme
Vetter.
Schrecken,
Vision
und sein zweites D r a m a ,
Es ist eine geradezu faustische und exemplarische Abrechnung
mit der „besitztollen" B a n a l i t ä t der alten Epoche. U m die gleiche Zeit ist der nord-
250
Günther
Mann
deutsche Maler Emil Nolde dabei, seine dunkelglühenden Farben, seine ekstatische Bildersprache zu entdecken, seinen berühmt gewordenen Zyklus religiöser Thematik zu schaffen, Das Leben Christi; mit dieser Arbeit zur Meisterschaft expressionistischer Formkraft heranreifend. 1912 schließen sich in München Franz Marc, Kandinsky, Paul Klee in der Künstlergruppe Der blaue Reiter zusammen; Nolde wird persönlich mit Edvard Münch, dem expressiven Metaphysiker des Nordens, bekannt und wird Mitglied der Brücke, die bereits 1905 von Kirchner, Heckel, Pechstein, Schmidt-Rottluff begründet wurde. Die expressionistische Generation Deutschlands, formbesessen, ausdrucksverschworen, reißt die Fassaden der alten Epoche nieder, klagt an, schafft erregende Visionen einer neuen Seelenhaltung, eines neuen Naturempfindens, wird verhöhnt, verlacht; und formuliert unbeirrt weiter ihr neues Lebens- und Zeitgefühl, eine neue Zeitkritik vor dem Horizont des Absoluten. Diese im Erlebnis des Wirklichen wie des Überwirklichen hochgespannte Generation betritt nach dem ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren allgemein die Bühnenplanken, die die Welt noch einmal bedeuten. Die Tore der neuen Szene sind weit geöffnet. Barlachs Dramen, sein Toter Tag, 5ein Armer Vetter, seine Echten Sedemunds, sein Findling; die Sündflut, Der blaue Boll, Die gute Zeit werden im Verlauf dieser einzigartigen Kunst- und Theaterepoche allenthalben auf den deutschen Bühnen aufgeführt. Ein Strom neuer Dichter, neuer Regisseure, neuer Bühnenbildner, neuer Schauspieler: — sie alle Visionäre in dieser schöpferischen welthaltigen Luft universeller Freiheit. Das aufgewühlte Publikum, die Kritik gehen erschüttert mit — oder lehnen ab. Alfred Kerr schreibt in Berlin über Barlachs Dramatik: Das ist rührend und peinlich: wenn ihr im vorgespiegelten Neubeginn . . . euch, wie Barlach, in vag verkrampfter Unmacht krümmt . . . und oft blähsam den armen Mund voll nehmt; Versagerchen der Nachkriegszeit. Ein bemerkenswertes Fehlurteil aus intellektuellem, spöttelndem Snobismus, der vor Barlach wie vor der echten neuen Dramatik überhaupt versagen mußte, und, wie die Theatergeschichte zeigt, schäbig versagt hat. Wie auffallend anders die kritische Stimmer Herbert Jherings in Ansehung der Inszenierung Die echten Sedemunds durch den künstlerischen Leiter des Berliner Staatstheaters, Leopold Jessner, im Jahre 1921; mit dem Schauspieler Fritz Kortner in der dämonischen Rollenvision des alten Sedemund. Es gehört zu den zahlreichen und unvergeßlichen Verdiensten Leopold Jessners, dieses maßstabsetzenden Erneuerers der Bühne, daß er nicht nur ein einzigartiges Ensemble von Schauspielerpersönlichkeiten gründete, sondern sich neue Regisseure an das Staatstheater holte, denen er entscheidende Aufgaben anvertraute. Einer von ihnen ist Jürgen Fehling, dessen Name und Werk zu den ruhmvollsten der deutschen, der europäischen Theatergeschichte zählen wird. 1923 inszeniert Fehling, als gebürtiger Norddeutscher der Barlach-Welt tief wesensverwandt, den Armen Vetter. Hier wird, was der Jessnerschen SedemundInszenierung in manchen Teilen fehlte, endgültig gefunden: der eigentliche BarlachTon, real und phantastisch zugleich, wirklich und transzendent. „Der arme Vetter" ist das adligste und männlichste Drama unserer Tage, schreibt Herbert Jhering angesichts der Aufführung am Staatstheater mit Erwin Kaiser, Heinrich George, Johanna Hofer. Der Dramatiker Barlach ist in Berlin, das zu einer europäischen Theaterhauptstadt wird, durchgesetzt. Zwei Jahre später, 1925, wird Fehling Barlachs Sündflut mit Heinrich George und Albert Steinrück in Szene setzen, während Barlach im
Ernst Barlach
auf der
Bühne
251
mecklenburgischen Güstrow bereits an seinem Blauen Boll arbeitet. U n d dann, 1930, ist es so weit, daß die realistische und metaphysische Tragikomödie vom Blauen Boll am Berliner Staatstheater in Fehlings Inszenierung zu einem einzigartigen Theaterereignis wird; auf der Bühne stehen neben Heinrich George als „Blauem Boll": Helene Fehdmer, Florath, Werner, Weber, Bildt, Margarete Melzer; und Fehling selbst in der Rolle des „ H e r r n " . Auf der Bühne steht die ganze Barlach-Welt aus Güstrow voll praller Diesseitigkeit, real und spökenkiekerisch, und ihre bildkräftige hintergründige Sprache, ihr Tonfall ist niederdeutsch und welthaft zugleich; es ist, als wandelten Shakespeare-Gestalten durch die Straßen der mecklenburgischen Landstadt auf der Bühne, stiegen die Turmtreppe zum tickenden Uhrwerk des Doms hinauf, versammelten sich um den mit Rotsponflaschen beladenen Tisch im Hotel „Zur goldenen Kugel". U n d sind doch leibhafte Menschen der Güstrower Gegenwart. Wer diese Aufführung, die in Berlin durch zwei Jahre gespielt wird, erlebt hat, kann ihre sinnenhafte szenische Wirklichkeit, ihre geistige Auseinandersetzung, ihren waterkantisch-hintergründigen H u m o r , ihren metaphysischen Gedankenzug, ihre unantastbare sittliche K r a f t , ihre sprachliche und räumliche Vision nicht mehr rückgängig machen. Hier wuchs Barlachsdie Dramatik, Barlachsche Sprachschöpfung und Menschengestaltung dank einer sichtbar kongenialen inszenatorischen Leistung in den Rang unvergeßlichen Welttheaters. Der damals im Parkett des Staatstheaters am Gendarmenmarkt saß, bestürzt und im innersten aufgerührt, der späterhin Jürgen Fehling selbst persönlich kennenlernte, ist geneigt, über diesen Abend, über diese Inszenierung nach nunmehr dreißig Jahren, heute und an dieser Stelle ein Satzgebilde Gottfried Benns zu setzen, einen über Thomas Wolfe geschriebenen Satz. Er gilt genauso f ü r Barlachs Dichtung wie f ü r Fehlings geistig-szenische Leistung: — Überall bei Wolfe trennen sich die Welten: die der materiellen Anreicherung, der Geltung, der Macht und die des Geistes. Keine Übergänge anderer Art, als daß sie sich gegenübertreten, sich ins Auge sehen und dann blicken sie fort. Wie tief Barlachs Sprachgefühl, Barlachs Weltvorstellung, seine elementare Bildhaftigkeit und Gebärdensprache, seine schonungslose Wahrheitsbesessenheit und seine Beobachtungskraft des Wirklichen eingeströmt sind in die bühnenpraktischen Visionen und Gestaltungen Fehlingscher Arbeiten in den Jahren danach, wird ablesbar noch im Jahre 1937 — während der Einsame von Güstrow schon längst verfemt am Heidberg haust — an einer alleräußersten Gipfelleistung Fehlings: an seiner grandiosen Inszenierung von Shakespeares Richard dem Dritten am Staatstheater Berlin. Ablesbar an einer Aufführung, die von den Wachen und Wissenden als eine T a t geistiger und sittlicher Resistance gegen die Residenten der doktrinären Finsternis empfunden wurde. Hier hat sich wohl Fehling gerächt, rückhaltlos gerächt, f ü r all die wüste Unbill, die Barlach zur gleichen Zeit von den Schinderknechten der Menschenwürde angetan wurde. Barlachs Plastik Der Rächer, eine seiner vehementesten bildhauerischen Arbeiten, könnte als Grundvision in dieser Zeit hinter Fehlings Theaterarbeit gestanden haben. Unvergeßbar noch heute nur eine winzige Szene in diesem immensen atemlosen Dämonenzug der Inszenierung, in der H ö h e p u n k t auf H ö h e p u n k t sich jagten: unvergeßbar die Sätze des protestierenden Kanzlisten im dritten Akt, hallend durch den leeren, von Noldeschen Sturmwolken überhängten Riesenraum der Bühne: —
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Günther
Mann
Das ist 'ne schnöde Welt! — Wer ist so blöde Und sieht nicht diesen greifbaren Betrug? Und wer so kühn, und sagt, daß er ihn sieht? Schlimm ist die Welt, sie muß zugrunde gehn, Wenn man muß schweigend solche Bosheit sehn. Es war, als ob Fehlings zornige Stimme selbst an dieser Stelle ausgebrochen wäre, wie Steine schreien! Es war, als ob er, der geniale ungebeugte Regisseur, stellvertretend für den kranken, verfolgten, ohnmächtigen Barlach, den Protest der Wahrheit von der Bühne s c h r i e : der einstigen Bühne des von ihm so geliebten Blauen Boll. In solchen hohen Augenblicken wird der Marmorklippen-Sztz. des Widerstands Realität inmitten einer Tyrannei: Dreieinig sind das Wort, die Freiheit und der Geist.
Wir kommen zum Schluß. Vieles deutet darauf hin, daß Barlachs dramatisches Werk in steigendem Maße zum unverrückbaren geistigen Besitz unseres sich neigenden Jahrhunderts wird. Zahlreiche bedeutende Bühnen unserer Tage sind an der Arbeit, die Barlach-Tradition der zwanziger Jahre schöpferisch und mutig fortzusetzen. Im Schiller-Theater in Westberlin sind die Barlach-Inszenierungen Hans Lietzaus, am Nationaltheater Mannheim die Inszenierungen Heinz Joachim Kleins, in Darmstadt die Inszenierungen Sellners ehrenhafte und außerordentliche Dokumente einer künstlerischen Weltgesinnung, die aus Barlachs Werk die vox humana und d'ie ferne Brandung des Metaphysischen hört. Diese Bühnen vorab und zahlreiche andere im gleichen Bereich echter abendländischer Theatertradition zielen mit ihren Inszenierungen Barlachscher Dramatik darauf, das Ur-Bild des Menschen, die von Barlach gestaltete Ursituation des Menschen in seiner Blöße zwischen Himmel und Erde aufzuzeigen, und die Menschen einer zweifelüberfüllten Gegenwart auf die Horizonte des Absoluten zu weisen. Das innerste Heimweh des Menschen in den dunklen Zuschauerräumen der Theater ruft nach den großen Wahrbildern des Lebens. Es sucht sie in den Bereichen des Universellen. Aus diesem Grunde ist der dramatische Menschheitszyklus Barlachs so ungeheuer zeitgemäß. Er ist ein in beispielhafter personaler Verantwortung geschriebenes Werk, das sich mit dem Leben des Autors Seite für Seite deckt: — die Signatur der Vollendung tragend in einer, weiß Gott, unvollendeten Zeit.
Barlach, Bürger eines geistigen Universums und, lebte er noch heute, an allererster Stelle des Nobel-Preises würdig, erweist sich in seiner Kunst als ein Kandidat der Menschheit und ihrer innersten Wahrheit, erweist sich in ihr als — : nonkonformistischer Gegenkandidat der Lüge. Und dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
W I L H E L M TELL, D E R Ä S T H E T I S C H E STAAT U N D DER ÄSTHETISCHE MENSCH* Fritz Martini
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Stuttgart
Es ist bereits von der Forschung ausgesprochen worden, daß sich im Wilhelm Teil in der sinnlichen „Wirklichkeit" der Dichtung, im Sinne des von Schiller intendierten „Poetischen", das politische Ideal des ästhetischen Staates, wie es die Ästhetischen Briefe entwickelt hatten, realisiert. Es muß kaum noch versichert werden, daß dies nicht bedeuten soll, daß eine Deutung des Wilhelm Teil unmittelbar auf die Ideen der Briefe angewiesen sei, von ihnen abhängig gemacht werden müßte oder daß es sich in dem D r a m a nur um die illustrative „Versinnlichung" solcher Ideen, um die Darstellung einer Erziehung zu ihnen handle 1 ). Aber es erscheint gegenüber andersläufigen Tendenzen, auf die wir unten zu sprechen kommen werden, angebracht, daran zu erinnern, in welchem Umfange das Gestalten des Politischen bei Schiller ein Gestalten aus dem Ästhetischen einschließt und dessen Grundfigur, als die Grundfigur des Denkens des Künstlers, durch seine gesamte Thematik und Formensprache hindurchblickt. Auch dort, wo sie sich, wie im Wilhelm Teil, dem ersten Blick der Eigenständigkeit des historisch und aktuell Stofflichen, der direkten politischen Meinungsverkündigung unterzuordnen scheinen. Was sich in der Ideensprache der Briefe zum Ideal abstrahieren mußte, war, um zu einer Wahrheit in der Anschauung zu gelangen, auf das Kunstwerk angewiesen. Die Bildung des vollkommenen Staates aus der harmonischen und damit ästhetischen Totalität des Menschen, der sich frei in der Gesetzlichkeit des Ganzen bewegt und erfüllt, konnte, weil sie eine Vision des Künstlers war, nur durch die Dichtung sinnlich dargestellt werden. Denn es ist offensichtlich, daß dieser Staat selbst ein Kunstwerk ist und daß seine Realisation den gleichen Gesetzen gehorcht, die dem Kunstwerk, dem Tun des Künstlers immanent sind. Angesichts dieser bekannten, wenn auch nicht immer genugsam einbezogenen Einsicht erhebt sich f ü r uns die Frage, ob von hier aus nicht nur auf die Deutung des Gehalts, sondern auch des Formgefüges des Wilhelm Teil ein neues Licht fallen kann. Es geht im Folgenden darum, eine Perspektive hervorzuheben, die zwar nicht das ganze D r a m a erschließt, aber zum Verständnis seiner Struktur eine in das Zentrale führende Erkenntnis verspricht. *) Der Beitrag wurde in leicht abgeänderter Fassung als Vortrag bei der Tagung des Badisch-Württembergischen Germanistenverbandes auf der Comburg 1959 gehalten und erscheint in dieser Fassung auch in der Sammlung der Comburger Vorträge „Der Deutschunterricht" 1960, E. Klett, Stuttgart. So z. B. William F. Mainland, Schiller and the Changing Past, London 1957. „Setting, event and character are so grandly developed that the essential theme of education for freedom is merged in the action and becomes itself dramatic." S. 119.
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Oft genug ist, seit Schiller dies Drama aus der Hand gab, der innere Zwiespalt der Doppelhandlung zwischen der Bauernverschwörung einerseits, die in der Rütliszene gipfelt und in der Zerstörung der Feste Zwing Uri ausläuft, und der Teil-Handlung andrerseits als ein Mangel in Aufbau und Fügung kritisiert worden, der durch die Addition eines dritten Handlungsstranges, der im Bereich des Adels ablaufenden Liebesgeschichte zwischen Rudenz und Berta, noch vergröbert wurde. In der jüngsten Schiller-Forschung ist diese altbekannte, die ganze Schiller-Literatur in vielen Variationen durchziehende Problematik erneut aufgegriffen und zum Anlaß einer entschieden politischen Interpretation gemacht worden. Sie las aus ihr ein bewußt geplantes und durchgeführtes Bekenntnis des politischen Denkers Schiller zu den französischen revolutionären Forderungen von 1789 heraus, eine Bejahung des revolutionären Terrorismus, des Bürgerkrieges, „wenn er für die Sicherung und Verwirklichung der bürgerlichen Menschenrechte notwendig war" 2 ). Es ist, wie fragwürdig auch ein solches Ergebnis erscheint, ein Verdienst dieser mit vorgefaßter Tendenz über den Text hinausinterpretierenden und -folgernden Arbeit, das Problem der dramatischen Einzelstellung des Teil, damit das Problem der dramatischen Notwendigkeit des Monologs vor dem Geßlerschuß und der Parricidaszene erneut in die Diskussion geworfen zu haben, so wenig man sich auch bei solcher Antwort beruhigen kann. Hingegen besteht in den letzten Darstellungen wiederum, nicht ohne eine apologetische Tendenz, die Neigung, diese Formgefährdung, die mehr als eine nur dramaturgische Frage aufwirft, mehr als nur technische Besonderheiten der Komposition berührt, zu überdecken. Gerhard Storz bezeichnet die Zweiheit oder Dreiheit der Handlungsstränge als von geringerer Bedeutung. „Teils Geschick und Tun münden ohne Umweg in die Sache der Eidgenossen, also in die Haupthandlung ein, allein die Einbeziehung des Bereidies Attinghausen—Rudenz verwickelt sich durch die Liebeshandlung" 3 ). Er versteht diese „dramaturgische Bedenklichkeit" aus der von Schiller selbst in einem Brief an Körner (9. 9. 1802) bezeichneten Kollektivität des Handlungsträgers, eines ganzen, local-bedingten Volkes, eines ganzen und entfernten Zeitalters, welche die Bedeutsamkeit einer Hauptfigur als „Rieht- und Fluchtpunkt aller dramatischen Kräfte und Bewegungen" 4 ) zurücktreten, die Masse nicht mehr wie bisher nur als ihre Folie, sondern die hervortretenden Einzelnen, selbst noch in ihrem Widerstreben — so Teil und Rudenz — als die „Glieder einer Vielheit, eines Ganzen", also des „Volkes" erscheinen ließ. Neben Teil tritt das Volk selbst als Träger einer Handlung, die zu einer für den reifen Schiller ungewohnten Auflockerung der dramatischen Strukturform geführt hat. Deutlicher spricht Benno von Wiese von der Gefahr einer Verselbständigung der TeilHandlung, durch die „die bis dahin so mächtig ansteigende Handlung der Eidgenossen" in den Hintergrund gedrängt wird 5 ), sich das Gewicht von der vorwiegend auf die theatralische Wirkung berechneten Rütli-Szene auf die Apfelschußszene und die Tötung 2 ) Hans-Günther Thalheim, Notwendigkeit und Rechtlichkeit der Selbsthilfe in Schillers „Wilhelm Teil", Goethe, N. F. des Jahrbuchs der Goethegesellschaft 18, 1956, S. 216 ff. 3 ) Gerhard Storz, Der Dichter Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 409. Die Frage, ob nidit die Bezeichnung des Kampfes der Eidgenossen als Haupthandlung, was das Tell-Geschehen zur Nebenhandlung stempeln würde, die Strukturganzheit des Dramas verfehlt, braucht hier nicht erörtert zu werden, da die folgende Darlegung sie m. E. eindeutig beantwortet. 4 ) Storz, S. 410. B ) Benno von Wiese, Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 767.
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Geßlers als „Schlüssel zu diesem D r a m a " verlagert 0 ). „Teils mit so viel Nachdruck vom Dichter durchgeführte Absonderung von den Eidgenossen läßt sich nur daraus verstehen, daß die Konzeption der revolutionären Empörung eines an sich friedfertigen Volkes, das ,selbst im Zorn die Menschlichkeit noch ehrt', sich mit der Konzeption eines Familiendramas verband, das der Situation eines Vaters galt, der in die Gefahr gerät, sein eignes Kind töten zu müssen." Zwei von einander unabhängige Konzeptionen hätten demnach zu einer Kombination geführt, die nicht voll zu glücken vermochte. Aus dem Geschick des Familienhauptes und Vaters entwickelt sich nach dieser Darstellung Teils unausweichliche tragische Situation, das Recht zu seiner Selbsthilfe angesichts der Versündigung des Despoten an allen ursprünglichen und ewigen Ordnungen des Lebens, an der heiligen Natur. „Aber so sehr auch Teils Handeln gegen Geßler durchaus privaten und familiärrechtlichen Antrieben entspringt, es wird dennoch zur Rettung für das Land und zum Fanal des Volksaufstandes" 7 ). Denn im Schutz der Familie, „einer Ursituation der Natur, aber zugleich auch der sittlich verstandenen Gemeinschaft in der Geschichte" 8 ) gewinnt „das nur scheinbar rein private Handeln eine überpersönliche und damit auch politische Bedeutung". Derart schlägt Wiese aus dem Gehaltlichen heraus die Brücke zwischen den auseinanderstrebenden Handlungssträngen, um die thematische Einheit des Dramas nachzuweisen. So richtig es auch erscheint, daß er betont, Teil handle nicht aus einem primär politischen Antrieb, nicht primär als der Retter von Freiheit, Volk und Vaterland, sondern als der Gatte und der Vater — es fragt sich, ob damit die innere Situation des Dramas und die Intention dieser Doppelhandlung, ob damit schon der Inhalt der bekannten Sätze Schillers erschöpft ist, mit denen er am 5. Dezember 1803 Iffland über das Drama orientierte. „So z. B. steht der Teil selbst ziemlich für sich in dem Stück, seine Sache ist eine Privatsache, und bleibt es, bis sie am Schluß mit der öffentlichen Sache zusammengreift" 9 ). Dieser Satz schließt die These aus, es handle sich in der Zweiteilung um die Folge der von der „großen Tragödie" zum „Schauspiel" übergewechselten Konzeption Schillers, deren inneren Widerspruch er nicht mehr aus dem Gefüge des Dramas beseitigen konnte 1 0 ). Eher nähert sich W. M. Mainland der folgenden Auslegung, wenn er die Einzelstellung Teils daraus ableitet, daß im Thema der Freiheit der radikale Freie als ihre Verifikation der Volksgemeinsamkeit gegenübergesetzt werden mußte 11 ). Es erhebt sich weiterhin die Frage, ob der Begriff des Privaten hier nur, wie es Wiese will, auf den Bereich des Familienhaften bezogen werden darf oder ob er nicht zugleich enger und weiter gemeint ist: als ein Begriff, der den Bereich des Menschlichen als ein eigenständiges Dasein in Wesen und Geschick bezeichnet. Denn Teil ist nicht nur der herausgehobene Repräsentant des ganzen Volkes, wie G. Storz meint, nicht nur die „Identität der Nation", wie es schon Gottfried Keller formuliert hat, sondern er ist vielmehr die eigene, in sidi in ihrer autonomen Menschlichkeit bedeutungsvolle 6
) Wiese, S. 771.
7
) Wiese, S. 773.
8
) Wiese, S. 775.
9
) Schillers Briefe, hsg. Fritz Jonas, Stuttgart o. J., Bd. 7, S. 98.
1 0 ) E. L. Stahl, Friedrich Schiller's Drama. Theory and Practice, Oxford 1954, S. 142; Schillers Gespräche, hsg. J . Petersen, Leipzig 1909, Bd. 3, S. 183. u
) W. F. Mainland, S. 118.
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Mitte des Dramas, die die Darstellung des lokalen historisch-politischen Kampfgeschehens, dessen Übermacht an stofflichen und ideellen Erregungen erst in den eigentlichen Bereich des Dichterischen, nämlich des Poetisch-Humanen hebt und damit das Drama den ästhetischen Forderungen genügen ließ, die Schiller von ihm zu erwarten gewohnt war. Wir schicken den folgenden Überlegungen als unsere These voraus, daß Teil nicht nur in seinem Geschick konzentriert und steigert, was alle diese Schweizer Bauern, dies ganze Volk zu der politisdien Handlung treibt und was in der Volksrache und in dem Volksrecht gipfelt, sondern daß er sein eigenes Schicksal, seine eigene in sich beschlossene Existenz besitzt, in deren tragisch bedrohter und das T r a gische überwindender Humanität der eigentliche „poetische", d. h. ästhetische Gehalt des Dramas beruht, der noch über das Politische hinausgreift und auch seine ihm eigentümliche Form, soweit sie die Teil-Handlung betrifft, begründet. Unsere Erwägungen beziehen derart zugleich die Deutung der Gestalt des Teil und die Deutung der gehaltlichen und formalen Funktion des Monologs und der noch mehr gescholtenen Parricida-Szene ein, da beides ein dichtes, sich gegenseitig erhellendes Gewebe bildet. „Das poetisch große liegt überall nicht in der Masse, sondern in dem Gehalt der Situation und in der tragischen Dignität der Charaktere. Wenn Teil und seine Familie nicht der interessanteste Gegenstand im Stücke sind und bleiben, wenn man auf etwas anderes begieriger seyn könnte, als auf ihn, so wäre die Absicht des Werkes sehr verfehlt worden" 1 2 ). Liegt in diesen Worten nicht auch verdeckt eine Andeutung, daß die Bedeutsamkeit des Teil noch den so andrängenden und zündenden, für die Zeitgenossen und seicher immer wieder unmittelbar gegenwärtigen politisdien Ideen- und Geschichtsgehalt des Dramas übersteigt? Man muß dieser Äußerung jene anderen bekannten Sätze in dem Brief an Iffland vom 14. April 1804 hinzusetzen. „Wegen des Uebrigen, worin ich nicht nachgeben konnte, Tell's Monolog und die Einführung des Parricida, berufe ich mich auf das, was ich Hrn Pauli mündlich sagte. Der Casus gehört vor das poetische Forum und darüber kann ich keinen höheren Richter als mein Gefühl erkennen" 1 3 ). Im Bereich des Politischen, dies lehren der gleiche Brief und diie Revision des Textes, war Schiller bereit, „bedenklich" gefundene Stellen zu ändern oder zu streichen; nicht jedoch im Bereich des Poetischen, in den die Gestalt des Teil hineingehört. Selbst wenn man einbezieht, daß solche Sätze in der Verteidigung gegen die Kritik eine schärfere Pointierung empfingen — sie legen die Frage nahe, ob Schiller nicht mehr als die genannten Interpretationen, in denen die Anschauungen der älteren Schiller-Literatur fortwirken, einzuräumen geneigt sind, Teil als eine Einzelgestalt, als ein eigenes, in sich selbst sinnmächtiges Dasein in der Komposition des Dramas — selbst auf Kosten seiner Struktur-Einheit — herausgehoben wissen wollte. Damit verbindet sich eine andere Problematik seiner Gestaltung, die, nach mancherlei Vorläufern, Hermann Schneider mit einer geradezu unbarmherzigen Nüchternheit hervorgehoben hat, wenn er an der „Figur des Haupthelden" auf einen unheilvollen Zwiespalt hinwies, „der jedem Hörer aufgehen muß" und „offenbart, wie un1 2 ) Friedrich Schnapp, Schiller über seinen „Wilhelm Teil", Deutsche Rundschau 206, 1926, S. 101 ff. 13
) Briefe, Bd. 7, S. 138.
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organisch das Tell-Drama überhaupt gewachsen ist" 1 4 ). Schneider glaubte einen Bruch der psychologischen Charakterisierung aufzeigen zu können, einen Bruch zwischen dem kühnen, stolzen Freiheitsfreund des ersten Aktes und, in ihm vielleicht unbewußter Nachfolge von Ludwig Börne, zwischen dem furchtsamen, kleinen Bauern am Beginn der Apfelschußszene. E r fiel für ihn mit einem Bruch zwischen idealistischer Typik und einem „Realismus" der Gestaltenzeichnung zusammen, der jeweils dort bei Schiller durchbrechen sollte, wo „ein besonderer Anlaß das unmittelbar Menschliche" entbindet 1 5 ). Die Erzählung von der Begegnung Teils mit Geßler ( I I I , 1) im Hochgebirge wurde von H . Schneider als der Versuch ausgelegt, das allzu Plötzliche und U n organische dieses psychologischen Widerspruches vorausnehmend zu überbrücken. Es bedarf kaum mehr einer Erörterung, daß diese psychologische Interpretation der dramatischen Gestaltenzeichnung Schillers nicht zulänglich ist; daß man ebensowenig berechtigt sein kann, von einer derart gröblich gefaßten, unmäßig vereinfachenden Gegensätzlichkeit zwischen typisierender Idealisierung und „Realismus" in seiner dichterischen Gestaltungsweise zu sprechen. Nach der kritischen Darlegung Schneiders löste sich nicht nur die strukturelle Einheit des Dramas in das Zersplitterte auf, was er schon aus der ungelösten Aufbauproblematik während der Planung des Dramas zu begründen bemüht war, sondern auch die Gestaltzeichnung des Teil zerfiel in innere Widersprüche, die sie aus dem idealistischen Lager ins realistische überlaufen ließen. Diese Thesen Schneiders werden hier zitiert, weil sie zu den Harmonisierungstendenzen, die bei G. Storz und B. von Wiese begegneten, in einen sehr pointierten Widerspruch treten, der darauf deutet, daß durch letztere vielleicht ein hier angelegtes, für das Verständnis und die Wertung des Dramas doch wohl zentrales Problem noch nicht völlig gelöst worden ist. Unsere Überlegungen knüpften an die Einsicht an, in welchem Umfange das Verständnis des Politischen bei Schiller von seinen Grundanschauungen über das Ästhetische durchdrungen ist und er die Welt des Politischen als Künstler aufgenommen und erfahren hat. Dies schließt nicht nur eine Gemeinsamkeit der ideellen Konzeption des Politischen und des Ästhetischen ein; es bedeutet auch, daß das Politische, indem es, wie im Wilhelm Teil, im Kunstwerk gestaltet wird, den Formgesetzen des Ästhetischen zugeordnet, ihnen unterworfen wird. In der Gestaltung des Politischen drückt sich die Bestimmung und Formung der Welt durch das ästhetische Bewußtsein aus. Der Staat wird von Schiller nicht nur in der Analogie zum Kunstwerk aufgefaßt; der vollkommene Staat selbst ist ein Kunstwerk und er läßt sich, als ein unendliches Versprechen, nur im Kunstwerk durchaus realisieren. Dies ist schon zutreffend gesehen worden: „Wilhelm Teil in a sense supplies the missing conclusion and exemplification of the Aesthetic letters, which can indeed, be supplied by a work of art alone 1 6 )." Was in der Abhandlung von H . S. Reiss noch auf den Ideengehalt bezogen bleibt, muß jedoch ebenfalls für die im Kunstwerk formend gestaltete Bildung dieses Staates, für die dramatische Erscheinung des ihm widersprechenden und des ihn verwirklichenden 1 4 ) Hermann Schneider, Vom Wallenstein zum Demetrius, Tübinger Germanistische Arbeiten, Bd. 18, Stuttgart 1933, S. 82. 1 5 ) Schneider, S. 83. x e ) H . S. Reiss, The Concept of the Aesthetic State in the Work of Schiller and Novalis, Publications of the English Goethe Society X X V I , 1956/57, S. 26 ff. 17 Markwardt-Festschrift
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Menschen gelten. In dem Kampf der Schweizer Bauern um ihre Freiheit als Recht des nationalen Volkes wie des einzelnen Bürgers steht die Tyrannei gegen jedes Recht der Natur, der Geschichte, des Menschen und selbst der ewigen, göttlichen Mächte. Diese Tyrannei bedeutet mehr als ein nur politisch-rechtliches, als ein nur psychologisches Phänomen; nicht als der große erbarmungslose Realist, wie H . Schneider es wollte 17 ), auch nicht nur, wie es vor ihm schon Otto Harnack sagte, als ein „Märchentyrann" 18 ) „von großartigster Sachlichkeit" oder als ein „Meisterstück ideologischer Propaganda" 19 ) kann Geßler aufgefaßt werden. Vielmehr ist er der überindividuelle Typus des Staatsmanns, der genau und im ganzen Umfange verfehlt, was Schiller dem wahren Staatsmann als dem Staatskünstler zugesprochen hat. Sein Stoff, das Material des Herrschers, sind die ihm untergebenen und anvertrauten Menschen, die eine volkliche Gemeinsamkeit bilden, die ihre in ihrer Vernunft und in ihren Herzen unzerstörbar verbürgten Ordnungen, ihre nicht nur aus dem geschichtlichen Erbe angestammten, sondern ebenso in ihrer Natur, die sich in der sie umgebenden äußeren Naturwelt gebildet und gefestigt hat, und in der ganzen Weltordnung begründeten Gesetze besitzt. Diese Gesetze sind zugleich ganz wirklich und ganz ideell, sie sind dem Einzelnen so selbstverständlich wie sie im Ewigen, Göttlichen beheimatet sind. Das Wesen der Despotie der österreichischen Landvögte, das in Geßler zur handelnden dramatischen Erscheinung kommt, liegt darin, daß sie die ihrer Herrschaft anheimgegebenen Menschen nicht nur mit einer subjektivistischen Willkür, sondern mit einer Verachtung ihrer eigenen Existenz behandeln, als wären sie nichts als tote Objekte, ohne eigene Vernunft, eigenes Recht und Gefühl. Geßler versündigt sich an der Pflicht des Staatsmannes, dem es aufgegeben ist, dem menschlichen Leben in seinem von ihm zu bildenden Staat jene Form zu verleihen, die den Gesetzen nicht nur analog, sondern sogar noch überlegen ist, die dem Künstler die Ordnungen der Form gegenüber seinem Stoff vorschreiben. „Mit einer ganz anderen Achtung, als diejenige ist, die der schöne Künstler gegen seine Materie vorgibt, muß der Staatskünstler sich der seinigen nahen, und nicht bloß subjektiv und für einen täuschenden Effekt in den Sinnen, sondern objektiv und für das innere Wesen muß er ihrer Eigentümlichkeit und Persönlichkeit schonen"20). Allerdings setzt dieser ideale Staatskünstler ein Volk voraus, das sich, als sein Objekt und als der Inhalt seinies formenden Vermögens, selbst zu der „Idee des Ganzen" hinauf gestimmt hat. „Weil der Staat der reinen und objektiven Menschheit in der Brust seiner Bürger zum Repräsentanten dient, so wird er gegen seine Bürger dasselbe Verhältnis zu beobachten haben, in welchem sie zu sich selber stehen, und ihre subjektive Menschheit auch nur in dem Grade ehren können, als sie zur objektiven veredelt ist. Ist der innere Mensch mit sich einig, so wird er auch bei der höchsten Universalisierung seines Betragens seine Eigentümlichkeit retten, und der Staat wird bloß der Ausleger seines schönen Instinkts, die deutlichste Formel seiner inneren Gesetzgebung sein"21). Es braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, mit welchen Mitteln Schiller die Gestaltung des Schweizer Bauernvolkes vom nur Subjektiv-Individuellen, nur 17
) ) 19 ) 20 ) 21 ) 38
Schneider, S. 81. Otto Harnack, Friedrich Schiller, Berlin 1905, S. 385. Herbert Cysarz, Schiller, Halle 1934, S. 384. Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief. Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief.
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Lokalen und Historischen fort zu dieser objektivierten Universalisierung, zu einer höheren, eine humane Totalität repräsentierenden und damit „poetischen", das nur „Wirkliche" hinter sich lassenden Erscheinung geführt hat. Er fand die Ansätze dazu in dem ihn „poetisch" stimmenden, „treuherzigen herodotischen ja fast homerischen Geist" 2 2 ) seiner bevorzugten Quelle, des Chronicon Helveticum von Tschudi. Schon bei Gelegenheit des Wallenstein hatte Schiller an Goethe geschrieben, es komme ihm vor, „als ob midi ein gewisser epischer Geist angewandelt habe, . . . doch glaube ich nicht, daß er dem dramatischen schadet, weil er vielleicht das einzige Mittel war, diesem prosaischen Stoff eine poetische Natur zu geben" 2 3 ). Ähnliches wiederholt der soeben zitierte Brief an Körner. Das Epische identifizierte sich ihm mit dem Poetischen als der Darstellung des „Rein-Menschlichen" 24 ), das sich in der Darstellung des Schweizer Volks im Wilhelm Teil aus einer Vielfalt von Komponenten bildet, die sich als eine Verschmelzung sehr verschiedener geistesgeschichtlicher Elemente erweist. Dazu, gehören die rousseauistisch gefärbte Mythik archaisch-patriarchalischer Urformen des Lebens 25 ), die Vermischung des Idyllischen mit dem Heroischen, die Begründung dieses volklichen Lebens aus dem innigsten Umgang mit der Naturlandschaft; weiterhin der noch an die Empfindsamkeit streifende Aufruf des Herzens als der Stimme des unverstörten, autonomen Gefühls, das sich mit der großen Sache der Volksfreiheit vereinigt, das politische Wollen durchdringt und sich so zum Ideellen objektiviert, hingegen das nur Subjektive ausschaltet 26 ), ferner das immer wieder betont hervorgehobene Element der religiösen Bindung dieses volklichen Rechts- und Freiheitsbewußtseins, das seinen Kampf an die höchste Weltordnung, nicht nur an die rechtlich-soziale, geschichtliche und naturhafte, sondern an die göttliche Weltordnung anschließt. Es gehört dazu aber auch die auffällige Unterstreichung der bürgerlichen Ideale und Ordnungen, die dem Drama in der Betonung und Gestaltung des Familienhaften, des Rechtsdenkens, von Maß und Bescheidung, von Frieden und Geduld, der ständischen und der moralischen Ordnungsformen des gemeinschaftlichen und individuellen Lebens schon Züge des Biedermeierlichen eingeprägt haben, die für das 19. Jahrhundert besonders attraktiv waren und dies Bauernvolk zum Idealbild einer bürgerlichen Lebenslandschaft wandeln. Wilhelm Teil faßt alle diese Elemente in seiner Gestalt zu einer Persönlichkeit geprägt zusammen. Aber er ist zugleich mehr als sie, denn seine kraftvolle und freie, also dramatisch-heldische Existenz läßt jede Form der Beschränkung hinter sich, obwohl sie sich nach außen gerade zu beschränken scheint. Wie sich in Geßler die Despotie bis zur Verzerrung in das Unmenschliche, Unnatürliche vereinseitigt, so tritt er ihm, seinem Gegenspieler, als die Verkörperung der humanen, „poetischen" Totalität des in selbstverständlicher, „spielender" Gelassenheit in sich selbst und zugleich im Ganzen ruhenden, völlig in sich freien und nur an das aus ihm selbst gegebene und bejahte Gesetz verpflichteten Menschen gegenüber. _22) Briefe, Bd. 6, S. 415. ) Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche (Artemisausgabe), Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, hsg. K . Schmid, S. 458. 2 4 ) Artemisausgabe S. 752. Vgl. dazu Wolfgang Paulsen, Goethes Kritik an Wallenstein, Deutsche Vierteljahrsschrift 28, 1954, S. 61 ff. 2 ä ) W. F. Mainland, S. 115. 2 e ) Elisabeth Blochmann, Schiller und die Empfindsamkeit, Deutsche Vierteljahrsschrift 24, 1950, S. 494 f. 17»
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Geßler vergeht sich gegen dieses Volk, das ihm als das Objekt seiner Herrschaft in die H a n d gegeben ist, da er Unwillens und unfähig ist, es in seinem Zustand der organisch und geschichtlich gewachsenen Ganzheit zu lassen, an der jeder Einzelne in Freiheit, aus sich selbst heraus, aus seinem individuellen Bedürfnis und Recht und in der Harmonie mit allen diesem Ganzen zugehörigen, es bildenden Ordnungen teilnimmt. Dies Volk formt, frei in seinen aus der „Vernunft" bejahten Gesetzen, eine sich erfüllende und damit, bei aller Beschränkung, „ideale" Gemeinschaft. Sie bedeutet einen zugleich natürlichen, politischen und geistig-seelischen Zusammenhang, den ein gemeinsamer und freier Wille beherrscht und zusammenhält. Indem jeder dessen Gesetz erfüllt, das Subjektiv-Individuelle sich mit dem Objektiven in eins fügt, erfüllt er zugleich sein eigenes Gesetz, findet er sich selbst im Objektiven mit Freiheit wieder. Es ist offensichtlich, daß dies Idealbild der politischen Volksgemeinschaft, die eine Gemeinschaft der Neigungen, der Herzen ist, aus Schillers Anschauung des Ästhetischen heraus geschaffen ist und in ihr den tragenden Grund fand. Sie greift über das nur Politische, seine Doktrinen und seine Utopien hinaus, denn diese geordnete Freiheit erscheint zugleich als das umfassende Wesen des Universums, an das auch das Gesetz der höchsten Kunst gebunden ist: als eine Sprache aus den ewigen Gesetzen der N a t u r . Die Idealität des Schweizer Bauernstaates erhält das Fundament aus der Idealität des ästhetischen Staates. Sie besitzt weiterhin ihren zugleich konkreten und idealen Grund in dem „poetischen" Charakter dieses bäuerlichen Volkes. „Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der N o t mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen" 27 ). In ihm scheint der ideale griechische Staat in der „Einfalt der ersten Sitten und Verhältnisse" wiedergekehrt zu sein, „wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte" 2 8 ). Dieser Staat der Freiheit ist der ästhetische Staat. „In dem ästhetischen Staate ist alles, auch das dienende Werkzeug, ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muß sie hier um ihre Beistimmung fragen" 2 9 ). Eine solche Totalität des Charakters, die Schiller f ü r das zu dieser Freiheit in der Ordnung geeignete Volk postulierte, muß in jedem einzelnen der Glieder gegenwärtig werden können, aus deren Gemeinsamkeit sich der ideale Staat bildet. Schiller läßt jeden der Bauern, die er im Wilhelm Teil zeichnet, an ihr teilhaben. Aber er bedurfte um der dramatischen Individualisierung und Funktion der Figuren willen mehrfacher Stufungen. Voll und ganz ist diese Totalität hingegen im Teil selbst verwirklicht. Dies ist der Grund seiner Einzelstellung, der Grund, warum, würde die „Begier" von ihm abgelenkt, dem Dichter die Absicht des ganzen Werkes verfehlt erschien. Sie erschöpft sich nicht in einem politischen Bekenntnis, schon gar nicht, wie Thalheim meinte, in einer gegen Kant gerichteten Demonstration der republikanischen revolutionären Selbsthilfe 30 ), sondern sie gipfelt in der dramatischen Darstellung des in der 27
) Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief. ) Sechster Brief. ) Siebenundzwanzigster Brief. 30 ) Vgl. Wieses Kritik an Thalheim, S. 767 f., auch die Kritik an G. Lukacs' Schiller-Auffassung bei William Witte, L a w and the Social Order in Schiller's Thought, Modern Language R e v i e w 50, 1955, S. 288 ff., wiederholt in: Schiller and Burns, O x f o r d 1959, S. 67 ff. Zu 2S 29
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Wirklichkeit tragisch zum zweckbestimmten Handeln gezwungenen und in dieser Wirklichkeit sich wiederherstellenden ästhetischen, totalen Menschen. In dieser Thematik liegt das „Poetische" kristallisiert, das Schiller dem lange widerstrebenden, „verteufelt" schwierigen, weil zunächst nur „historischen" Stoff einprägte. Was hebt die Gestalt und das Schicksal des Teil von den anderen Bauern ab, obwohl er wie sie unter der gleichen Tyrannei leidet, mit ihnen in einer Schicksalsgemeinschaft lebt? D a ß der Mord des Baumgarten an Wolfenschießen ohne weiteres hingenommen und als sein Recht bejaht wird, während Teils Tat einer so tief dringenden Begründung und Rechtfertigung unterzogen wird, muß, wenn es sich nicht um einen bedenklichen Widerspruch handelt, der bei dem mit sorgsamem Bewußtsein komponierenden Dichter sehr unwahrscheinlich ist, doch wohl einen tieferen Grund besitzen. Baumgarten handelt, gleichsam ohne Vorbedacht, in einem raschen A k t der Notwehr und der Rache, als Wolfenschießen in das innere Gehege seines Hauses, seiner Ehe einbricht und es, den Kern der Familie mißachtend, frevlerisch zerstören will. Baumgarten übt im Augenblick der N o t sein „Hausrecht". Es ist etwas von N a t u r Gegebenes. „Ihr tatet wohl, kein Mensch kann Euch drum schelten", sagt ihm Werni. U n d der alte Walter Fürst wiederholt es später ausdrücklich: „Oh, die Gerichte Gottes sind gerecht." Was Baumgarten geschah und was er tat, es kann sich für jeden wiederholen. „Es kann uns Gleiches ja begegnen." Er handelt und er flüchtet in einer Not, die ihn hilflos macht. In einer raschen T a t handelt auch der junge Melchthal, der sich „gleich einem Mörder" verbergen muß, „meiner selbst nicht H e r r " . U n d wie Baumgarten reißt es ihn, als er die Nachricht vom Elend des geblendeten und beraubten Vaters hört, zur Rache. „Auf nichts Als blutige Vergeltung will ich denken, . . . Nichts liegt mir am Leben, Wenn ich den heißen, ungeheuren Schmerz In seinem Lebensblute kühle." Es ist eine Welt voll N o t , Mord, H a ß , Rache, die sich in dem ersten A k t zunächst abzeichnet. Melchthal spricht aus, was die Bauern aufjagt und zu ihrem Bündnis zusammenführt: „Jedem Wesen ward Ein Notgewehr in der Verzweiflungsangst." Sie läßt sie zu ihrem Bündnis zusammenfinden, weckt sie aus ihrem Beharren in Ordnung, Frieden und Geduld auf, gibt ihnen den M u t ein, „ein schwaches Volk der H i r t e n In Kampf zu gehen mit dem H e r r n der Welt", ihre Hilflosigkeit im Einzelnen zu dem Kraft- und Tatbündnis im Ganzen zu verwandeln. Aber eben dies Bündnis, in dem sich die subjektiv-individuelle Neigung dem Gemeinsamen einordnet und beugt, läßt die Impulse der Rache, die der Emotionalität des getroffenen Einzelnen entspringen, hinter sich; es bildet, festigt und legitimiert sich im Gehorsam gegen die ältesten eigenen Gesetze und Bräuche zu einem Akt des Rechtes. Man weiß, mit welcher auffälligen Betonung Schiller dieses Recht hervorgehoben hat und bis in das umständliche Zeremoniell der Verschwörung seine Ordnungen einschärft. Gleich am Beginn wird vorausnehmend ausgesprochen: „Nicht Geschehnes rächen, Gedrohtem Übel wollen wir begegnen." In diesem Bündnis hat der subjektive Trieb, der Eigenwille zu schweigen, verbietet sich selbst Melchthal die sich ihm nahe anbietende Gelegenheit zur Rache an dem Blender seines Vaters. Es bedarf keiner weiteren Ausfühwelchen Verlegenheiten und konstruktiven Umdeutungen die Interpretation des Wilhelm Teil als revolutionäres Freiheitsdrama im Gefolge der Französischen Revolution gelangen muß, verdeutlicht der Aufsatz von Edith Braemer, Wilhelm Teil, in: Schiller in unserer Zeit, Weimar 1955, S. 173 ff.
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rung, wie Schiller in der Rütli-Szene diesen Gedanken des Rechtes, eines n i d « nur von der N o t , sondern aus dem Erbe, der N a t u r dieses Volkes und von der höchsten Macht, von Gott selbst legitimierten Rechtes zusammen mit der Paradoxie herausgearbeitet hat, daß eben dieses Recht, um sich zu verwirklichen, sich des schwarzen Mantels der Nacht bedienen muß, in den sich die Mörder hüllen, die Verbrecher und sonnenscheuen Verschwörer. „Doch Gott Ist überall, w o man das Recht verwaltet, U n d unter seinem Himmel stehen wir." Dies Recht ist eine Wiederherstellung der gestörten O r d nung, es ruht im geschichtlichen Grunde, es fügt sich ein in die Ordnung des Reiches, es ist begründet in dem alten Urständ der N a t u r , der zur Verteidigung der höchsten Güter gegen die Gewalt ermächtigt und dies in dem „ewigen" Recht begründet, das auf das Unbedingte im Kosmischen und Göttlichen verweist. In ausführlicher Entfaltung von Rede und Gegenrede, in immer neuen Wendungen prägt Schiller in dieser Szene ein, daß diese Bauern nur in dem äußersten Notstand zum Mittel einer Selbsthilfe getrieben werden, nur notgedrungen der „Ehrfurcht fromme Pflichten" abwerfen, noch mit dem Schwert in der Faust auf Mäßigung bedacht sind, denn „Schrecklich immer, Auch in gerechter Sache, ist Gewalt." Nicht auf der konkreten Planung der die Gewalt entfesselnden Befreiungstat, sondern auf ihrer ethischen Begründung in dieser Rechtlichkeit liegt das thematische Gewicht der Szene, einer Rechtlichkeit, die alles Subjektive in die Pflicht zum Ganzen eingliedert. Die Szene schließt mit Sätzen, die mit einer scharf pointierten Kontrastierung unmittelbar zu der Teil-Handlung überleiten. „Denn R a u b begeht am alleemeinen Gut, Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache." Wird durch sie Teil nicht von vornherein in das Unrecht gesetzt, muß er nicht geradezu als der Verräter an der allgemeinen Sache erscheinen? Schon früher, in dem Gesoräch mit Stauffacher, hat Schiller ihn mit offensichtlich künstlicher Szenenbildung ad hoc sehr nachdrücklich von der allgemeinen Bewegung abgesetzt, die so notwendig wie gerecht ist. „Die einzge T a t ist jetzt Geduld und Schweigen." Dieser Quietismus bleibt erheblich hinter dem Heldenmut zurüdk, der die Frau Stauffachers beseelt und den sie ihrem Manne mitteilt. „ D e m Friedlichen gewährt man gern den Frieden." D a s ist ein christlicher Spruch, wie er dem Pfarrer Rösselmann in der Rütli-Szene ansteht: „Ihr könnt es friedlich mit dem Kaiser schlichten." Aber schon Rösselmann bekommt die Antwort: ..Das rät uns ein Verräter, Ein Feind des L a n d e s ! " U n d schließlich, im scharfen Widerspruch zu Brauch des Volkes und Gesetz der Stunde: „Der Starke ist am mächt-wsten allein." T r i t t mit solchen Sätzen nicht Teil in z w a r freier, aber recht bedenklicher Entscheidung aus dem Verband seiner Landsleute und Leidensgefährten heraus, stellt er sich nicht geradezu mit subiektivistischer Egozentrik gegen ihr gerechtes Planen und Wollen? Es erscheint notwendig, zunächst einmal diese Gegensätzlichkeit deutlich zu bezeichnen, die sich allem Anschein nach jener harmonisierenden Ansicht entgegensetzt, die in Teil die Inkarnation der Volkspersönlichkeit in der Einzelpersönlichkeit, die Spiegelung und Steigerung des allgemeinen Konflikts in dem privaten Konflikt, in ihm wie in einem Mikrokosmos das Gesamtschicksal dieses Volkes vom „friedlichen Ausgangszustand an über die Bedrohung der Menschenrechte bis zum Sturz des Tyrannen" 3 1 ) sieht und damit an der dramatischen Spannung vorübergeht, die sich eben in diesem paradox erscheinenden Gegensatz darlegt. Un31
) Thalheim, S. 240.
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zureichend ist es, hier nur mit einer psychologischen Besonderheit des Teil zu rechnen, die ihn aus der Masse herausheben, ihm die individuellen Konturen der eigenen Gestalt geben würde. Denn es ist offenbar, daß vom Psychologischen her der Umschlag von dem friedseligen, im Idyllisch-Inselhaften sich zurückziehenden bäuerlichen Familienvater und Jäger zu dem Mann der T a t nicht geklärt werden kann, zumal die erste Erscheinung des zum kühnsten Wagnis entschlossenen, alle selbstischen Bindungen des Hausvaters an Weib und Kind hinter sich lassenden Helfers in der N o t dieser quietistischen Neigung zu Geduld und Sanftmut des Gehorsams bereits durchaus widerspricht. Hier sind Pole des Verhaltens in eine Gestalt eingeformt, die, aus der Perspektive der Psychologie beurteilt, sie in der T a t aufzulösen scheinen, aber eben anderes, nämlich „Wesenheiten" bedeuten. Eines wird aus dem Gespräch mit Stauffacher sichtbar: dieser Teil will, auch gegenüber den Volksgefährten, auch gegenüber der Not der Lage, seine volle, in sich eigenständige Freiheit bewahren, wie er auch bei der Rettung Baumgartens aus voller Freiheit handelte. Er ordnet sich nicht unter und er ordnet sich auch nicht ein; er entzieht sich der vorbedachten, „vorgewog'nen" Tat, damit sogar dem Rütli-Bündnis. Dies läßt sich nicht aus dem Psychologischen erhellen. Vielmehr erhält Teils Gestalt ihre Gesetzlichkeit und Konstanz, ihre innere Einheit aus dem, was uns bereits im Blick auf das Ganze dieses Freiheitskampfes und des aus ihm resultierenden Freiheitsstaates als das Wesen und die Form des ästhetischen Staates und des ihn ermöglichenden Menschen begegnete. Teil handelt nicht wie Baumgarten, wie Melchthal aus dem zur raschen T a t fortreißenden, zur Rache wendenden und in dem Recht zur Selbsthilfe aufgefangenen Zwang der Not. Er plant und handelt aber auch nicht wie die Bündnisgenossen mit einem festen und damit auch unterordnenden und begrenzenden Ziel, sei es auch in der Freiheit des Landes hoch und umfassend gesteckt. Vielmehr: was Teil ist und was er tun wird, soll und muß seinen Grund allein in ihm selbst finden, in diesem einen eigenständigen Menschen, im Einsatz der totalen und autochthonen Persönlichkeit in der ganzen Spielbreite ihrer Möglichkeiten. Sein Handeln, sein Ziel, seine Rechtfertigung müssen allein in ihm selbst ihre Begründung erhalten. Dieser Teil handelt nicht, wie die Anderen, nur in dem Augenblick der raschen Reaktion auf ihre Not, er handelt auch nicht zielbestimmt auf ein vorgegebenes Objekt hin, das eine Einordnung und eine Begrenzung bedeuten würde, selbst wenn es Freiheit und Vaterland heißt. Sondern sein Handeln erwächst, wie im „Spiel", wobei natürlich an den Sinn gedacht werden muß, den Schiller diesem Begriff gegeben hat, aus der Einheit seiner eigenen, erfüllten, zur Totalität geweiteten Persönlichkeit. Denn eben dies macht das Wesen des „Spiels" aus, daß sich in ihm alle Kräfte des Menschen, der physisch und moralisch in Freiheit gesetzt ist, harmonisch in ihrer Totalität vergegenwärtigen, sich damit gegen jede einschränkende Beziehung abschirmen. Um dies zu verwirklichen, stellt Teil sich abseits, behauptet er die Freiheit seiner selbst, aller seiner Möglichkeiten gegenüber der Verschwörung. Dies bedeutet jedoch nicht eine Willkür seiner Subjektivität in ihren Stimmungen und Neigungen gegenüber der Verpflichtung zum Objektiv-Gemeinsamen, nicht eine kauzige Eigenbrötelei, wie es eine psychologische Betrachtung ausgelegt hat. Schiller meint vielmehr die höhere Stufe des vollen, ganzen Menschseins in der Idealität der ästhetischen Totalität, die jeder — aber auch jeder noch so große bestimmte Zweck einschränken und damit vernichten würde. Dieser Teil
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will und muß allein sein, frei in allen Spielmöglichkeiten seiner Persönlichkeit, weil ein bestimmter Zweck, sei es selbst der Freiheitskampf gegen die widerrechtliche Despotie und f ü r das Vaterland, ihn nur speziell machen, in das Partielle verengen würde 3 2 ). Mit anderen Worten: der bestimmte Zweck würde den „poetischen" Charakter zum historischen Charakter abmindern und ihn damit der Stofflichkeit der Geschichte und des Lokalen anheimgeben. Weil Teil stärker, in sich vielfältiger ist als die Anderen, ihnen überlegen durch die Festigkeit und Wucht seines in sich unverstörbar beruhenden Daseins, bewahrt er sich die spontane, unbeschränkte Aktivität der ganzen Person in der Fülle ihrer Kräfte, die Freiheit zu dem höchsten „Spiel". D a ß in diesem völlig freien, die ganze Person einsetzenden, das Äußerste kühn wagenden Tun sein Wesen liegt, hat, genial in ihrer knappen Entschiedenheit, in ihrer Vordeutung bereits die erste Szene des ersten Aktes verbildlicht. Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß dies Wesen nicht im Bewußtseinsakt Teils erscheint, sondern daß es sein unbewußtes Dasein ausmacht. Mit anderen Worten: dies Wesen ist die Bestimmung und das heißt zuerst auch und gerade die ästhetische Bestimmung, die Schiller seinem Helden im Zusammen- und Gegenspiel des Dramas gegeben hat. Dieser dramatische Held ist in der ersten Szene des ersten Aktes sinnlich mit der Fülle aller seiner Möglichkeiten zu Tat und H i l f e gegenwärtig. Aber gerade weil diese Fülle einer „Totalität" entsprechen muß, hat Schiller in den folgenden Teil-Szenen des ersten Aktes diesen frühen Eindruck von dem primär dramatischen, so rasch wie unbedingt handelnden Tatmenschen aufgelöst und ließ er ihn zu jenem Kontemplativen überwechseln, das wiederholt seinen Interpreten wie eine kleinbürgerliche Untertanenfrömmigkeit, wie ein quietistischer Verzicht auf Wagen und H a n d e l n erschienen ist. „Bin jeder lebe still bei sich daheim, Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden." Diese Worte möchten nach I, 1 fast unglaubhaft erscheinen. Wir erinnern uns: H . Schneider sprach anläßlich des Beginns der Apfelschußszene von dem furchtsamen kleinen Bauern, in ihrem Verlauf von einem Umschlag aus der energisch-stolzen und gedankengeladenen Rede „zum angstvollen, demütigen Gestammel des kleinen Mannes" 3 3 ). Seine These vom Widerspruch des pathetisch Idealistischen und psychologisch Realistischen verdeckt jedoch, anstatt daß sie klärt. Es geht in Schillers Gestaltung des Teil um anderes: im Wesen seiner Zeichnung aus der ästhetischen Totalität der humanen Existenz gehört, dem Ideal des Ästhetischen entsprechend, komplementär zur Tat das Element des Kontemplativen. Geßler nennt in der Apfelschußszene ihn einen „Träumer"; er unterstreicht in den gleichen Sätzen das ungewöhnlich Besondere des Teil. Das Kontemplative, dies ruhig-feste, selbst noch von seiner Familie abgesetzte, stillversonnene In-Sich und Bei-Sich-Selbst-Sein kehrt bei dem Teil, der die Notwendigkeit von Geduld und Schweigen zu verteidigen wagt, immer wieder. Schiller hat solche innere Polarität seiner Figur zwischen Wagnis und Besonnenheit, kühnem Schweifen und träumerischer Versunkenheit, Tatbereitschaft in der Hingabe für die Anderen und
3-) Teils Figur zeigt damit offensichtliche Analogien zu Marquis Posa und Wallenstein. Vgl. dazu den sehr wertvollen Aufsatz v o n Ilse Appelbaum-Graham, Reflection as a Function of Form in Schiller's Tragic Poetry, Publications of the English Goethe Society X X I V , 1955, S. 1 ff., der unsere Überlegungen stützt und bestätigt. 33 ) Schneider, S. 89.
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Abstand im festen Beruhen in sich selbst nicht nur in den szenischen Wechseln des ersten Akts herausgearbeitet; ebenso in der ersten Szene des dritten Akts, während der Apfelschuß-Szene, gipfelnd in dem großen Monolog vor der Tat und noch in der Parricida-Szene. Der gleiche Mann, von dessen Verwegenheit im Spiel mit dem Tode, „das halsgefährlich führt am Abgrund hin", Hedwig spricht, der in diesem leidenschaftlich-mutigen, alle Kräfte frei entfaltenden, sich selbst und Gott vertrauenden Spiel der Jagd oft sein Leben gefährdet, erweist sich zugleich „bescheidentlich", gelassen-hilfreich bei der Begegnung mit dem wehrlosen Landvogt auf dem engen Bergpfad. „Er ganz allein mit mir, der auch allein war, Bloß Mensch zu Mensch." Teil nutzt diesen Augenblick der Überlegenheit nicht, der die sich durch den Zufall anbietende Gewalttat zur Rache- und Befreiungstat verwandelt hätte. Er erscheint als ein gütig Helfender. Es ist diese Situation des „Bloß Mensch zu Mensch", diie sich, unter völlig verwandelten Umständen, in der Hohlen Gasse wiederholen wird und zu ihr kontrastiert ist. Der Unterschied beider paralleler Auftritte verdeutlicht, was sich inzwischen in Teil vollzogen hat. Was ist es denn, das die Gewalt, der Teil in der Apfelschußszene unterworfen wird, von der Gewalt unterscheidet, die Baumgarten und Melchthal zugefügt worden ist? Denn schwerlich kann man in ihr nur eine Steigerung sehen, die jetzt dramatischszenisch versinnlicht, was bisher in der Distanz des Berichts verdeckt und nur in der emotionalen Auswirkung vergegenwärtigt wurde. Ist Teil eine Einzelgestalt mit dem ihr allein zugewiesenen Geschick und Wesen, so muß auch, worin er verstrickt wird und was er erleidet, die eigene Prägung, nämlich „Größe" haben. Schiller hat sich des Mundes Geßlers bedient, um dies zu verdeutlichen. „Du liebst das Seltsame — Drum hab' ich jetzt Ein eigen Wagstück für dich ausgesucht." Nicht eine Gewalttat wird ihm, seiner Familie angetan, die, handgreiflich verbrecherisch, die Rache zum Recht werden läßt, wie es im Falle von Baumgarten und Melchthal geschieht. Bei beiden geht es um einen pragmatischen, „historischen" Fall, dessen grelle Stofflichkeit zwar durch die Distanz des Berichtes gemildert wird, der aber eine individuelle und subjektive Reaktion naturgemäß auslöst. Der Unterschied liegt darin, daß Teil selbst zu einer Gewalttat an seinem Kinde gezwungen, daß er selbst ganz dicht an den Rand der Gefahr gebracht wird, der Mörder seines Kindes zu werden. Daß der Landvogt diese Konsequenz seines Befehls erwartete, scheint sein Erstaunen nach dem gelungenen Schuß anzudeuten. Dies bezeugt das „Ungeheuere" seiner Zumutung. Denn es ist ein Eingriff in seine innerste Menschlichkeit, daß er selbst das Widernatürliche tun muß, das allen Ordnungen der Familie, der Natur, des Ewigen widerspricht und das ihn, den vom tiefsten Wesen und der Totalität seiner Persönlichkeit her Rechtlichen, dem Recht Verschworenen, mit der Last der äußersten Versündigung beladen würde: mit dem Mord des Vaters an seinem Kind. Hier geht es also nicht mehr nur um die allgemeine Knechtung von Freiheit und Vaterland, auch nicht mehr nur um das Unerträgliche einer widerrechtlich zugefügten und bis zur Hilflosigkeit treibenden Gewalttat, sondern um einen Eingriff in den persönlichsten innersten Bezirk des eigenen Tuns, um eine Vergewaltigung der inneren Freiheit. Eine Überwindung der nur zugefügten Gewalt durch den Sprung in die Freiheit zum Tode, der das Ich unverletzbar macht, war immer noch möglich. Dies sprach Gertrud Stauffacher aus: „Die letzte
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Wahl steht auch dem Schwächsten offen, Ein Sprung von dieser Brücke macht midi frei." Jedoch für Teil bleibt keine Wahl, keine Freiheit, weil er selbst diese Gewalttat an seinem eigenen Kinde, an sich selbst vollziehen muß. Diese Tat kann durch nichts, auch in Teil selbst durch nichts gerechtfertigt werden; sie versklavt ihn, den Freiesten, in eine Verschuldung, deren drohende Folgen zwar durch den glücklichen Schuß vermieden werden, die gleichwohl aber allen Gesetzen der Natur widerspricht. Schiller hat dies — wenn auch im Affekt der subjektiven mütterlichen Erregung — als eine objektive Tatsache durch Hedwig aussprechen lassen, die nichts dadurch von ihrem Ernst einbüßt, daß Teil, subjektiv durchaus schuldlos, gezwungen wurde, sie zu vollziehen, um seines Kindes und sein eigenes Leben zu retten. Die furchtbare Paradoxie, die ihm Geßler mit unmenschlichem Spiel auferlegt, liegt nicht nur darin, daß er das Leben seines Kindes in die höchste Gefahr bringen muß, um es zu bewahren, sondern daß er, der auf die volle Freiheit seiner Persönlichkeit in der schwebenden Harmonie ihrer Kräfte und ihres Fühlens eingestellt ist, nun in diese Tat, damit in die engste Situation des ungeheuerlichen Verbrechens gezwungen, im Grunde seines Wesens, nicht nur in seiner Väterlichkeit, sondern in seiner Menschlichkeit schlechthin vergewaltigt wird. Er war bisher in der Tat der „Meister seines Schicksals" gewesen; daß Geßler ihn jetzt so nennt, schließt eine grausame Ironie ein. Er wird gezwungen, seine H a r monie in sich selbst, damit sein Wesen schlechthin zu verletzen; er wird gezwungen, seine Freiheit, die das Totale seines Menschentums in allen seinen Entfaltungen war, durch die eigene T a t preiszugeben. Mit diesem von Geßler ausgesonnenen „eigen Wagstück" für den „von andrer Menschen Weise" entfernten Teil ist wirklich die Klimax der Despotie erreicht — im radikalsten Gegensatz zu jenem Satz Schillers von dem „Staatskünstler" und seinem Verhalten gegenüber der Materie, das objektiv und für das innere Wesen ihrer Eigentümlichkeit und Persönlichkeit schonen muß. Dieser Despot kennt Teil gut genug, um ihn gerade im Kern seiner Persönlichkeit zu treffen. Mit grausamer Ironie nutzt er das, was Teil auszeichnet, dazu, ihn in diese Vergewaltigung zu stoßen. Es geht in diesem Augenblick der dramatischen Konzentration nicht nur um das subjektive und private Geschick des Vaters, sondern es geht um das frevelhafte Spiel mit dem in seiner innerlichsten Persönlichkeit vergewaltigten Menschen, um ein Vergehen gegen alle objektive Menschlichkeit und ihre heiligsten Rechte in sich selbst. Dies ist es, was das, was Teil auferlegt wird, von dem scheidet, was die anderen Bauern bisher erlitten haben und was sein Geschick zum exemplarischen Fall der tiefsten Rechtsverstörung macht. Denn in ihm wird das objektiv Menschliche schlechthin vergewaltigt. Noch im frühen Stadium der Planung schrieb Schiller an Körner: „Uebrigens brauche ich dir nicht zu sagen, daß es eine verteufelte Aufgabe ist: denn wenn ich auch von allen Erwartungen, die das Publicum u. das Zeitalter gerade zu diesem Stoff mitbringt, wie billig abstrahiere, so bleibt mir doch eine sehr hohe poetische Forderung zu erfüllen, weil hier ein ganzes, local-bedingtes Volk, ein ganzes und entferntes Zeitalter, und, was die Hauptsache ist, ein ganz örtliches, ja beinah individuelles und einziges Phänomen, mit dem Charakter der höchsten Notwendigkeit und Wahrheit soll zur Anschauung gebracht werden" 3 4 ). Die Verwandlung des HistoBriefe, Bd. 6, S. 415.
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rischen und Individuellen in das Poetische, was solche höchste Notwendigkeit und Wahrheit meint, dieser steigernde Gang vom Geschichtlichen zum Absoluten, zum Humanen vollzieht sich in der Apfelschußszene. Denn hier offenbarte sich in dem historischen Vorgang durch die tragische Negation das absolute Gesetz der menschlichen Ordnung, war durch seine ungeheuerliche Verletzung das absolute Recht als Gesetz des menschlichen Daseins sichtbar geworden, trat also die Teil-Handlung, mit ihr das Drama „aus dem historischen heraus und ins poetische" ein. Teil ist in der T a t von diesem Augenblick an, um Wiese zu zitieren, „das sittliche Recht zum politischen Mord" gegeben, aber nicht nur, „weil er nur so noch die Familie, die Urzelle alles gemeinschaftlichen Lebens, die ,holde Unschuld' seiner lieben Kinder und das eigene Eheweib schützen kann" 3 5 ), sondern weil in ihm objektiv die Freiheit und die Harmonie des Menschen in sich selbst aufgerissen und geschändet wurde. Geßler selbst ruft ihm das Stichwort dessen zu, was nun zu geschehen hat: „Jetzt, Retter, hilf dir selbst — du rettest alle!" Schiller hat die innere Spannung der Apfelschußszene in einen ungewohnten sprachlichen Lakonismus gedrängt, diese Spannung weitgehend durch das szenische Geschehen und seine rasch wechselnden Phasen ausgedrückt. Er hat in der ersten Szene des folgenden Aktes in der Rede des Fischers wie in einer Art von Chorfigur das Ungeheuerliche, das geschehen war, im Rückblick mit einer um so mehr pathetischen Ausdrücklichkeit gespiegelt. Solche Stellen, bekanntlich auch die Rütliszene, erinnern an seine anfängliche Absicht, den Wilhelm Teil in antiker Form ähnlich der Braut von Messina zu gestalten 36 ). Dies Griechische wird noch an der Gestaltung des Teil spürbar. Schiller schrieb am 4. April 1797 an Goethe: „Es ist mir aufgefallen, daß die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger idealische Masken und keine eigentlichen Individuen sind, wie ich sie in Shakespeare und auch in Ihren Stücken finde. . . . Man kommt mit solchen Charakteren in der Tragödie offenbar viel besser aus, sie exponieren sich geschwinder, und ihre Züge sind permanenter und fester. Die Wahrheit leidet dadurch nichts, weil sie bloßen logischen Wesen ebenso entgegengesetzt sind als bloßen Individuen" 3 7 ). Von hier aus, nicht psychologisch, nicht aus der politischen oder privaten Rechtsfrage, sondern aus dem Prinzip der ästhetischen Form, die das Dramatische in die poetisch-humane, ästhetische Dimension transformiert, muß nun audi der Monolog Teils verstanden werden. Wenn die These von Wieses als voll ausreichend betrachtet wird, drängt sich erneut die schon so oft diskutierte Frage auf, warum, trotz dieser offenbaren Berechtigung Teils zum politischen Mord, Schiller die dritte Szene des vierten Aktes mit jenem weit ausladenden Monolog eingeleitet hat, der seine Kritiker seit Iffland reizte und den er selbst mit großer Entschiedenheit verteidigte. „Gerade in dieser Situation, welche der Monolog ausspricht, liegt das Rührende des Stücks, und es wäre gar nicht gemacht worden, wenn nicht diese Situation und dieser Empfindungszustand, worin Teil sich ) Wiese, S. 772. ) Florian Prader, Schiller und Sophokles, Zürcher Beiträge zur Deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, Zürich, N r . 7, S. 125 ff. 3 7 ) Artemisausgabe, S. 323. Vgl. auch: „Auch die tragischen Personen selbst bedürfen dieses Anhalts, dieser Ruhe, um sich zu sammeln; denn sie sind keine wirkliche Wesen, die bloß der Gewalt des Moments gehorchen und bloß ein Individuum darstellen, sondern ideale Personen und Repräsentanten ihrer Gattung, die das Tiefe der Menschheit aussprechen." („Über den Gebrauch des Chors"). 35
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in diesem Monolog befindet, dazu bewogen hätten" 3 8 ). Der Erregung der vorausgegangenen Szenen folgt, breit angelegt, eine Ruhe der kontemplativen Entspannung. Teil ist mit sich allein; er steht allein vor der Entscheidung zu seiner Tat. Der eben noch übermächtige Tatmensch, der zum zweiten Male die Dämonie der aufgejagten Elemente bezwang und der mit fast übermenschlicher Anstrengung bei dem Apfelschuß H e r r seiner Gefühle wurde, versinkt, ein „Träumer", wie ihn Geßler nannte, in die Kontemplation. Der Fortgang der dramarischen Bewegung wird aufgehalten; der Monolog läßt die Zeit still stehen. Er wendet in das Innerliche und ruft das Versteckte aus der Tiefe der einsamen Seele hervor 3 9 ). Kein rachedurstiger Revolutionär steht auf der Bühne und kein Wort deutet darauf, daß sich Teil als der Vollstrecker des Volkswillens wie etwa Stauffacher fühlt 4 0 ). Auf der H ö h e der dramatischen Spannung ruft Schiller seinen Helden, mit ihm den Zuschauer, in die Stille der Kontemplation zurück. „Hier vollend ichs." Er hat stich zu seiner T a t als heiliger Pflicht entschieden. Es geht nicht mehr um eine Diskussion oder Demonstration ihrer objektiven Berechtigung, sondern es geht um das Verhältnis des Menschen Teil zu seiner zweckbestimmten und unwiderruflichen Tat, dem Mord, der ihn aus seinem stillen und harmlosen Frieden, aus der Idylle seiner Existenz herausreißen muß. Sein Denken schweift zurück, es legt sich innere Rechenschaft ab. Die innere Mischung von Tathaftem und Kontemplation, nicht, wir wiederholen, eine nur psychologisch deutbare Mischung, sondern die Erscheinung der inneren Polarität des totalen und ästhetischen, damit im poetischen Sinne menschlichen Daseins, wird jetzt zur dramatischen Äußerung in der inneren Seelenbewegung geführt. Eben dies hebt Teil von Baumgarten und Melchthal ab, daß er nicht im rasch reagierenden Ungestüm, sondern mit „Besonnenheit" handelt. Er weiß sich vor einer Verwandlung seiner ganzen Existenz durch diese Tat, er weiß, daß er in ihre Gefangenschaft geht. Nicht die Leidenschaft, der H a ß , die Rache treiben ihn. Er f ü h l t , was er tun muß und zu tun entschlossen ist, als Pflicht des Vaters, als „heilige Schuld" aus dem furchtbaren Eidschwur vor Gott, als den Vollzug einer von Gott selbst gesetzten Tat. Er weiß, daß er sich gerecht entscheidet, im eindeutigen Wissen um die Scheidung des Guten und des Bösen aus einer Ordnung heraus, die nicht nur von dieser Welt, schon gar nicht nur von dieser politischen Welt, sondern eine Gottesordnung ist. Aber er muß sich gegen sich selbst zu dem Mord entscheiden, vor dem er zurückscheut. E r muß aus der ästhetischen Sphäre seiner Harmonie mit sich selbst, aus seiner Welt des „Spiels" in eine Sphäre des Entscheidens und Handelns unter dem Zeichen der Gewalt übertreten. Die moralische Entscheidung, daß er den Mord auf sich nehmen muß, ist bereits durch alles, was geschah, gefallen. U m was es hier geht, meint, wieweit er über diesem Mord die Freiheit seines Geistes,
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) Sdinapp, S. 107. ) Rechtens sagt W. F. Mainland: „Tell's now famous soliloquy indicates the intensity of this n e w inner experience. We are made aware of it by a change in the form of his words. This man, w h o has accepted, without heeding its constraint, the common habit of thought and speech, breaks free on this one occasion from proverbial maxims and makes his o w n vigorous and personal response to the challenge of tyranny." S. 120. 40 ) Vgl. dazu im Gegensatz Thalheim: „Der Monolog hat zum Ausdruck zu bringen, daß Teil nicht als egoistische ,rohe' N a t u r . . . reagiert, sondern in Übereinstimmung mit der Vernunft und mit selbstverständlicher revolutionärer Bewußtheit und republikanischer Tugendhaftigkeit für ein nationales Gesamtinteresse." S. 224. 39
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die einen ästhetischen Zustand bedeutet, zu bewahren vermag. E r kann diese Entscheidung nur ganz allein, sich selbst verantwortlich, treffen. Es geht ihm in dem Monolog um die Freiheit und Verantwortung vor sich selbst, also um das Problem seiner eigenen Existenz im Verhältnis zu seiner Tat. Dies ist das dramatisch-ästhetische Thema des Monologs, hingegen nicht die Frage nach dem Moralgesetz, die längst beantwortet wurde. Denn muß nicht dieser Mord ihn aus der Harmonie mit sich selbst in die zweckbestimmte Enge dieser Tat treiben? Was für die Rütli-Genossen eine Gemeinsamkeit der Kampfgenossenschaft um des allgemeinen Rechts, der allgemeinen Freiheit willen war, geborgen und legitimiert in dieser Gemeinsamkeit, in Recht und Brauch, das wird für Teil nicht nur zu der einsamen persönlichen Gewalttat an diesem einzelnen Mann Geßler — „er ganz allein mit mir, der auch allein war, Bloß Mensch zu Mensch" — sondern auch zu emer Gewalttat gegen sich selbst. Muß der Mörder Teil nicht ein anderer werden? Er hatte eine Harmonie und Freiheit in seiner ungetrübt aus sich selbst lebenden Festigkeit besessen. Bisher sicher, leicht und still in sich selbst, wird er jetzt in den Wandel der Zeit gerissen. „Denn hier ist keine Heimat". Kurz darauf, im grellen Gegensatz von Hochzeitsjubel und Todesnähe: „Es steht nichts fest auf Erden." Unter den Bann der Zeit zu geraten, heißt, in den Zwang der Wirklichkeit gestoßen zu werden. Wir erinnern an Schillers Sätze im Vierzehnten der Ästhetischen Briefe. „Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken (es sei mir einstweilen, bis ich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren." In sein eigenes Schicksal versunken, verdämmert für Teil alles gewöhnliche Leben in das Ferne und Fremde. „Sie alle ziehen ihres Weges fort An ihr Geschäft — -und meines ist der Mord!" Der Widerspruch zwischen der Ruhe und Freiheit, wir dürfen sagen, der ästhetischen Freiheit seiner bisherigen Existenz und dem Mord, zwischen „der Freude Spielen" und dem „fürchterlichen Ernst" der nahenden T a t : dies ist das zentrale Thema des Monologs. Der Mord muß ihn aus der Einheit mit sich selbst, mit der Unschuld der Natur, mit der Unschuld seiner Kinder, aus seiner unbegrenzten, in sich selbst gestillten und schwebenden Freiheit, die bisher das Wesen seiner Persönlichkeit ausmachte, herausreißen. Sie hatte sein Glück, seine Kraft, seine Überlegenheit bedeutet. In diesem Monolog, der alles andere als entbehrlich ist, konzentriert sich der entscheidende tragische Augenblick Teils. Denn dies meint doch das Tragische in Schillers Dichtung, daß der Mensch in einer unauflöslich erscheinenden Paradoxie dann, wenn er handelt, um seine Freiheit und Harmonie zu gewinnen, diese verlieren muß. Indem er sich handelnd zweckgenötigt auf diese Wirklichkeit einläßt, gerät er in den Bann des Tragischen. Die Wirklichkeit zwingt ihn aus seiner Freiheit heraus. Jenes vielzitierte Wort, das Teil zu Stüssi spricht, zeigt die Wandlung an, die seit dem Stauffadier-Gespräch vorgegangen ist. „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt." Aber Teil — er allein in Schillers Drama — überwindet diese Tragik. Dies ist das zweite zentrale Thema des Monologs. Die Rechenschaft, die er in ihm sich selbst ablegt, macht ihn innerlich frei; gerade weil
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er sich der Schwere und Verantwortung seiner Tat sich selbst, seiner Menschlichkeit gegenüber vergewissert. Er wird den Mord unverstört in der Einheit seines Wesens hinter sich lassen. Was als stoffliche Erregung vor und unmittelbar nach dem Monolog anspannt, findet in seiner kontemplativen Besonnenheit die Entspannung. Daraus erhält der Monolog seine notwendige ästhetische Funktion in der Komposition des ganzen dramatischen Gefüges. Denn indem Teil zu ihm fähig wurde, sich in seine entrückte Innenschau versenkte, hat er bereits seine kommende Tat überwunden, einen Abstand zu ihr gewonnen, der ihm seine innere Freiheit über der Tat, damit die Einheit seiner humanen Existenz sichert. Diese Entspannung tritt ein, wo sich die Dynamik des Geschehens zur Besinnung auf das „Poetische", das heißt also das Rein-Menschliche löst, wo, mit anderen Worten, im politischen Geschehen der ästhetische Zustand eintritt. Im Monolog des Teil stellt sich über dem Andrang des stofflichen Geschehens und den es begleitenden politisch-moralischen Ideen der ästhetische Zustand her, von dem aus Schiller Teil gestaltet hat und in den er seine Zuschauer versetzen wollte. Deshalb durfte 'der Monolog schlechterdings nicht gestrichen werden. Denn in ihm lag die entscheidende Mitte und Wendung des Dramas und hier rechtfertigt sich, daß Teil sein „poetischer" innerer Mittelpunkt trotz des Befreiungskampfes der Schweizer Bauern war. Nicht als ein Held 'der vaterländischen Tat, nicht als die heroische Repräsentation des Volkes tritt Teil in diesen Mittelpunkt, sondern als die Darstellung des totalen, das heißt, ästhetischen Menschen in dem Kampf des politischen, aber zur Idealität des ästhetischen Staates führenden Geschehens; als eine Darstellung, die sich eben deshalb nicht in der Moral der Tat und ihren Rechtsideen erschöpfen durfte, sondern den Menschen zeigen mußte, der in sich den ästhetischen Zustand im Handeln in dieser Wirklichkeit erhält und der diesen Staat überhaupt ermöglicht. Würde Teils Mord an Geßler nur eine Verteidigung seiner selbst, seiner Familie, nur eine Tat für Volk, Freiheit und Vaterland, also eine Tat für einen bestimmten Zweck sein, wie hoch er auch erscheine, so wäre der Monolog entbehrlich, denn Teils Recht dazu ist genugsam sinnfällig geworden. Aber wir haben gesehen, daß es angesichts dieser ihm allein auferlegten Tat, zu der er sich in voller Freiheit sich selbst gegenüber entscheiden muß, um mehr geht: um die Bewahrung der inneren Freiheit und Harmonie des Menschen im „fürchterlichen Ernst" der Wirklichkeit, dem er als einer heiligen Schuld nicht ausweichen kann und darf. Daß ihm dies auferlegt ist und gelingt, macht Teil zu dem „Helden" des Dramas 403 ). Was im erregten Geschehen als Stoff zugemutet wird, verwandelt sich mittels des Kontemplativen des Monologs zur „poetischen" Form. Teil ist die „poetische" Figur des Dramas, die es aus dem nur Historisch-Politischen, damit Pragmatischen herauslöst. Diese Erwägungen ergänzt ein Zitat aus den Ästhetischen Briefen. Der Trieb zur Form „geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten. Da nun die letztere als absolute und unteilbare Einheit mit sich selbst nie im Widerspruch sein kann, da wir alle in Ewigkeit wir sind, so kann derjenige Trieb, 40a ) Hier ist an Schillers Ausführungen, besonders die Schlußabschnitte, in „Über das Pathetische" zu erinnern.
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der auf Behauptung der Persönlichkeit dringt, nie etwas anders fordern, als was er in alle Ewigkeit fordern m u ß ; er entscheidet also f ü r immer, wie er f ü r jetzt entscheidet, und gebietet f ü r jetzt, was er f ü r immer gebietet. Er u m f a ß t mithin die ganze Folge der Zeit, das ist soviel als: er hebt die Zeit, er hebt die Veränderung auf; er will, daß das Wirkliche notwendig und ewig, und daß das Ewige und Notwendige wirklich sei; mit andern Worten: er dringt auf Wahrheit und auf Recht. . . . Die Neigung k a n n bloß sagen: das ist f ü r dein Individuum und für dein jetziges Bedürfnis gut, aber dein Individuum und dein jetziges Bedürfnis wird die Veränderung mit sich fortreißen und, was du jetzt feurig begehrst, dereinst zum Gegenstand deines Abscheues madien. Wenn aber das moralische Gefühl sagt: das soll sein, so entscheidet es f ü r immer und ewig — wenn du Wahrheit bekennst, weil sie Wahrheit ist und Gerechtigkeit ausübst, weil sie Gerechtigkeit ist, so hast du einen einzelnen Fall zum Gesetz f ü r alle Fälle gemacht, einen Moment in deinem Leben als Ewigkeit behandelt. Wo also der Formtrieb die Herrschaft f ü h r t und das reine Objekt in uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seins, da verschwinden alle Schranken, da hat sich der Mensch aus einer Größen-Einheit, auf welche der dürftige Sinn ihn beschränkte, zu einer Ideen-Einheit erhoben, die das ganze Reich der Erscheinungen unter sich faßt" 4 1 ). Es ist dies, was den Teil zu der zentralen „poetischen" Figur des Dramas geprägt hat und was sich in dem Monolog konzentriert. „Gewisse Charaktere . . . können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lange ertragen, und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden. Dahingegen breitet sich bei anderen, welche ihren Genuß mehr in das Gefühl des ganzen Vermögens als einer einzelnen H a n d l u n g desselben setzen, der ästhetische Zustand in eine weit größere Fläche aus. So sehr die ersten sich vor der Leerheit fürchten, so wenig können die letzten Beschränkung ertragen. Ich brauche kaum zu erinnern, daß die Ersten fürs Detail und f ü r subalterne Geschäfte, die letzten, vorausgesetzt, daß sie mit diesem Vermögen zugleich Realität vereinen, fürs Ganze und zu großen Rollen geboren sind." In diesen Sätzen drückt Schiller aus, was Teil im Unterschiede zu den anderen Schweizer Bauern zu der großen dramatischen Rolle legitimiert hat. Denn was bei ihnen nur im individuell und historisch Stofflichen bleibt, wenn auch durch die dichterische Gestaltung zum „Poetischen" stilisiert, wird in ihm aus dem Fundament der Figur heraus zur ästhetischen Erscheinung. Sie hebt über das stoffliche Interesse hinaus, sie bewirkt die Anschauung des H u m a n e n und damit die ästhetische Distanz f ü r die Zuschauer. Nochmals wird evident, daß Teils Monolog somit eine f ü r die gesamte Intention des Dramas unentbehrliche ästhetische Funktion erhält. Sie sichert die Entfaltung des Poetisch-Humanen als Substanz und Formgesetz des Dramas. Schiller hätte Iffland entgegenhalten können, was er bereits im August 1798 Goethe schrieb, als er auf die rhetorische Breite seiner Personen zu sprechen kam und sich dabei auf das „Beispiel der Alten" berief und in ihm ein „höheres poetisches Gesetz" zu erkennen glaubte. „Sobald man sich erinnert, daß alle poetische Personen symbolische Wesen sind, daß sie, als poetische Gestalten, immer das Allgemeine der Menschheit darzustellen und auszusprechen haben, und sobald man ferner daran denkt, daß der Dichter sowie der Künstler überhaupt auf eine öffentliche 41
) Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Zwölfter Brief.
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und ehrliche A r t von der Wirklichkeit sich entfernen und daran erinnern soll, daß ers tut, so ist gegen diesen Gebrauch nichts zu sagen" 4 2 ). W e n n er im gleichen Brief von der gewissen Ruhe und Gemütlichkeit spricht, die eben diese Breite „auch in den gewaltsamsten Zuständen" hervorbringt, so wird das Element des Epischen, eingestaltet in die kontemplative Haltung des Helden, zum balancierenden Gleichgewicht gegenüber der Gewalt des Dramatischen. Die Gegenwirkung beider Elemente wird zu dem Mittel der Herstellung des ästhetischen Zustandes, der ästhetischen Form im D r a m a selbst. Es ist bekannt, daß sich hier ein rhythmisches Stilprinzip des klassischen F o r m verständnisses dartut. V o n ihm ist die dramatische Formstruktur des Wilhelm Teil geführt worden. Wenn diese Erwägungen zutreffen, legt sich die Frage nahe, ob von ihnen aus nicht auch auf die bisher oft genug als ein Fehlgriff kritisierte Parricidaszene ein bisher unbemerktes Licht fällt. W ä r e der Wilhelm Teil nur als ein politisches Freiheitsdrama aufzufassen, so wäre mit der Zerstörung der Feste Zwing Uri, also mit der ersten Szene des fünften Aktes das Spiel beendet und nur noch die Vereinigung Teils mit diesem Geschehen abzurunden. O f f e n b a r erlag bereits Iffland diesem Mißverständnis. I n seinem an Schiller gerichteten Fragebogen heißt es: „Als im 5. A c t Stauffacher den Mord Kaiser Alberts erzählt, dachte ich, nun werden die Schweizer die T h a t verabscheuen, den Schluß fassen, die Mörder nicht aufzunehmen, und dann wird alles zu T e i l sich wenden und in der größten Einigung das Stück enden" 4 3 ). M i t der ersten H ä l f t e der ersten Szene scheint die Handlung ausgelaufen zu sein. Denn was seit dem Auftritt von Rösselmann und Stauffacher vorgetragen wird, ist primär ein Geschichtsbericht, der das historische Panorama weitet und das Rechtsthema nochmals ausbreitet, aber zur Handlung des Dramas nichts mehr beiträgt. Die ausführliche Erzählung vom Mord Johanns von Schwaben an seinem O h m und Kaiser, der Auftritt des Reichsboten entbehren der dramatischen Funktion und sind nur dadurch gerechtfertigt, daß sie zu der Parricidaszene überleiten. D a ß diese Verbindung etwas künstlich geknüpft ist, erweisen die plötzlich an Teil erinnernden, „den Retter von uns allen", „unserer Freiheit Stifter" aufrufenden Worte am Ende der Szene. Diese Brücke wird sehr äußerlich, wie eine Notbrücke, geschlagen. Hedwig nimmt am Beginn der zweiten Szene, um die K l a m m e r zu verstärken, diese W o r t e wie ein unbewußtes Echo auf. „Und euer V a t e r ist's, ders L a n d gerettet." T e i l bestätigt später diese Konsequenz seiner T a t . „ H a t euch verteidigt und das Land gerettet" 4 4 ). D e r M o r d erscheint als die gerechte T a t für Freiheit und Vaterland. Aber wir erinnern uns, daß in dem Monolog von diesen Gründen nicht die Rede war. Die Befreiung des Volkes ist eine Folge seines Tuns, aber sie war nicht dessen Antrieb, der tiefer in seinem Innermenschlichen, nicht nur als der Vater, sondern als dieser eigene, einzelne Mann lag. Richtig ist der Einwand gegen die Parricidaszene, es bedürfe wahrhaftig nicht mehr der nochmaligen Herausarbeitung von Teils moralischem Recht zu seiner Selbsthilfe. H a t Schiller nicht selbst die Grenzen zu eng gezogen, wenn er, Iffland antwortend, ) Artemisausgabe, S. 614. ) Schnapp, S. 108. 4 4 ) Auf die Typik dieser variierenden Wiederholungen in Schillers Dialoggestaltung hat W. F. Mainland, S. 112, aufmerksam gemacht. Sie sind im Wilhelm Teil als verzahnende Strukturelemente sehr zahlreich. 42
43
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als „Hauptidee des ganzen Stücks" die Schuldlosigkeit Teils bezeichnet? „Das N o t wendige und Rechtliche der Selbsthilfe in einem streng bestimmten Fall" 4 5 ). Dies war eine Antwort auf Ifflands politische Bedenken und Rücksichten. Es geht in der Szene, wie überall in die Figur des Teil, nicht nur um das Moralische 46 ). Das moralische Recht bedurfte der wiederholenden Bestätigung nicht; aber in sie war die „poetische", das heißt humane und ästhetische Auflösung der innerseelischen Tragik eingeschlossen, in die Teil mit der Entscheidung zu dem Mord geraten war. Schiller hat dies selbst bezeichnet. „Parricidas Erscheinung ist der Schlußstein des Ganzen. Teils Mordthat wird diurch ihn moralisch und poetisch aufgelöst" 47 ). Das Moralische, das sich auf das Recht, und das Poetische, das sich auf die humane Existenz bezieht, sind aber nicht identisch. Iffland urteilte richtig und falsch, wenn er sich gegen die Szene wehrte und meinte, „Man wird aus dem Großen gleichsam ins Detail geführt"4®). Auf die politische und theatralische Spannung der großen Massenszene folgt in der T a t die "Wendung in den persönlich-intimen Bereich, rhythmisch also erneut die Entspannung in das Kontemplative und Innerliche. Darin lag eine ästhetische Ordnung der Struktur. Die Parricidaszene verlagert von dem politischen Volks- und Freiheitsthema, das die Zwing-Uri-Auftritte völlig beherrscht und ein Stück Weltgeschichte der Zeit in sich hereinnimmt, zu dem menschlichen und damit poetischen Innenthema des Teil zurück. Die Spannung zwischen der persönlichen und der politischen Welt ist nicht nur die Voraussetzung des Freiheitsthemas des Wilhelm Teil, sie begründet auch die Zweiteilung in Volkshandlung und Tellhandlung, die sich jenseits der Grenzen der ersteren bewegt. Mit dem Monolog und dem Mord ist in ihrem Bereich des PersönlichMenschlichen die Tellhandlung nicht zu Ende. Denn jenes humane Gleichgewicht, das Teil, des fürchterlichen Ernstes seiner Tat bewußt, vor dem Mord in Frage gestellt wußte und das er eben doch in dieser Kontemplation, in dieser Distanz von sich selbst schon rettete, muß sich jetzt nach der Tat, die für einen Augenblick selbst seine Gattin und gerade sie vor ihm zurückschaudern läßt („Diese Hand — O Gott!"), objektiv, nicht nur als ein Gefühl Tell$, sondern als eine dramatische Realität für den Zuschauer beweisen. Diese dramatische Realität entfaltet sich in der pointierten Kontraststellung zwischen ihm und Johann von Schwaben, der sich neben ihn zu stellen wagt und damit gerade einschärft, was ihn von Teil trennt; in schärfstem Gegensatz zu ihrem sozialen Rang unterscheidet zwischen beiden der Wertrang des Menschlichen. Der fürstliche Neffe und Mörder seines Kaisers, jetzt in die Maske des Büßers, des Ärmsten gehüllt, macht dramatisch sinnfällig, was ein Mord aus menschlicher Schuld, der nur ein egoistisch ungeduldiger Rechtsanspruch, nur eine Gewalttat gegen die Pflichten der Natur, nur eine unbesonnene, wilde Wahnsinnstat war, nichts als seinen engsten, selbstischen und entfesselten Zweck kannte, bewirkt: den Sturz des Täters aus jeder Harmonie der Gemeinschaft mit den Menschen, mit der Natur, mit den sittlichen und göttlichen Ordnungen, den Verlust von Heimat und Freiheit in gehetzter Angst, in der Flucht nicht nur vor den Verfolgern, sondern vor sich 45)
Schnapp, S. 108. So faßt R . Buchwald, Parricidaszene auf. 4 7 ) Schnapp, S. 108. 4 8 ) Schnapp, S. 108. 46)
18 Markwardt-Festschrift
Schiller,
Leipzig
1954, Bd. 2,
S. 436,
die
Berechtigung
der
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selbst, eine völlige innere Zerstörung durch die Gefangenschaft in der eigenen T a t . An dem Gegenbild dessen, der der heftigsten Passion erlag, erweist sich, daß Teil jene Unverstörtheit der inneren Harmonie und Freiheit bewahrt hat, die, wie wir sahen, dem ästhetischen Charakter zugehört. E r hatte, vor das tief Zweideutige gestellt, das das Handeln in der Wirklichkeit einschließt, allein und besonnen sich entschieden, zur äußersten Gewalt zu greifen. Denn so sehr auch das Recht der Eidgenossen betont wurde, ihre Selbsthilfe bleibt unblutig, sie wird nicht zu dieser äußersten Gewalt getrieben. „Wohl Euch, daß Ihr den reinen Sieg Mit Blute nicht geschändet", so faßt der alte Walter Fürst das Ergebnis ihres Aufstandes zusammen. Denn vor der äußersten T a t , dem Mord, genügt das gemeinsame Recht nicht, wird selbst seine allgemeine Moralität zweifelhaft. Es ist allein seine eigene, freie und besonnene, ihrer Schwere voll verantwortliche Entscheidung, die Teil das Recht, sein Recht zu seiner T a t gibt. Das Moralische ist ein Gemeinsames; das freie Handeln, das damit hier auch eine Freiheit über seiner T a t bereitet, kann nur von dem Einzelnen allein entschieden werden. Dies unterscheidet ihn — man darf vielleicht sagen, „existentiell" 4 9 ) — von den Eidgenossen und ihrer moralischen Rechtlichkeit in der Volksgemeinschaft. Es unterscheidet ihn von dem Parricida, daß er nicht beschloß, „da er Recht nicht konnte finden, Sich Räch' zu holen mit der eignen H a n d " , sondern daß er zu seinem Mord durch idas Böse Geßlers gezwungen war. „Gerächt hab ich die heilige Natur, die du Geschändet". Was er tat, tat er im Vollzug eines objektiven Amtes und gegen seine persönliche Neigung. D a ß er den Mord verabscheute, der ihm gleichsam von der Weltordnung auferlegt war, daß er für ihn zu einer ethischen Pflicht wurde, der er sein ungetrübtes Dasein, seine innere Freiheit und seinen Frieden preiszugeben wußte, daß er damit frei über seiner T a t blieb, dies gibt ihm jetzt das Recht, von seiner „Unschuld" zu sprechen und läßt ihn in eine unverstörte Harmonie mit sich, den Seinen zurückkehren. I n der Parricidaszene vollendet sich also, was in dem Monolog begann: die Überwindung des Tragischen durch eine Freiheit in der gewaltsamen Pflicht. Sie läßt ihn in sich selbst einig bleiben — in dem Augenblick, der ihn aus seiner ganzen Existenz zu reißen, ihn sich selbst zu entfremden, seine eigene Humanität zu beschädigen drohte. Diese Freiheit meint die Einheit des Menschen mit sich selbst; es ist die Freiheit, in der der Mensch das Menschliche rettet. D a ß dies in Teil aus seinem Wesen heraus geschieht, „er durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht" 5 0 ), macht ihn zur Repräsentation des Menschen, auf dem sich der ästhetische Staat aufzubauen vermag. Das Tragische löst sich in der Parricidaszene in die „ I d y l l e " auf — als „der Begriff eines völlig aufgehörten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen als in der Gesellschaft, einer freien Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten N a t u r , kurz, es ist kein anderer als das Ideal der Schönheit, auf das wirkliche Leben angewendet" 5 1 ). Schiller schrieb im Siebenundzwanzigsten der Ästhetischen Briefe: „Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er 4 9 ) L. W. Kahn, Freedom: An Existentialist and an Idealist View. PMLA LXIV, 1, 1§49, S. 5 ff. Käte Hamburger, Schiller und Sartre. Ein Versuch zum Idealismus-Problem Schillers. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1959. S. 34 ff. 50) Über die Ästhetische Erziehung des Menschen. Siebenundzwanzigster Brief. 51) Über naive und sentimentalische Dichtung.
Wilhelm Tell, der ästhetische
Staat
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die Natur durch die Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Gatzen durch die Natur des Individuums vollzieht" 5 2 ). In der „Natur" des „Individuums"' Teil stellt sich dar, was als die höchste Entscheidung das Ganze begründet. In seiner Autonomie erweist sich, was zum Fundament und Wesen des ästhetischen Staates wird und so in der T a t das Menschlich-Humane und das Geschichtlich-Politische zusammenfallen läßt, das „Poetische" im Historischen bewährt.
52)
18*
Siebenundzwanzigster Brief.
Z U H A N S H E N N Y J A H N N S „MEDEA' Walter
Muschg
• Basel
Ein H a u p t t h e m a aller Poetik ist die Lehre vom Drama, und die Geschichte der Poetik findet in den Veränderungen dieser Lehre einen ihrer farbigsten, aber auch schwierigsten Gegenstände. Seit dem Traditionsbruch, den der Expressionismus auf dem deutschsprachigen Theater herbeiführte, sind die grundsätzlichen Fragen der Dramaturgie auch in Deutschland wieder aktuell geworden. Die theoretische Diskussion dreht sich seit Kriegsende mit Vorliebe um Bertolt Brechts Programm einer nichtaristotelischen Dramatik. Brechts Anti-Aristotelismus betrifft in erster Linie die überlieferte dramatische Form, er bedeutet Ablehnung des im neunzehnten Jahrhundert geschaffenen Illusionstheaters und Auflösung seiner formalen Regeln, die Gustav Freytags Technik des Dramas noch einmal f ü r ein epigonisches Zeitalter verbindlich formuliert hatte. Eine fundamentale Erneuerung des Theaters kann aber nicht von seinem D a r stellungsstil oder von seiner veränderten soziologischen Rolle her begründet werden. Sie muß aus dem geistigen Zentrum der Gattung Drama kommen, aus dem sich im Lauf der Geschichte ihre formalen und ideologischen Gestaltungen kristallisiert haben. Dieses Zentrum ist der Begriff des Dramatischen an sich, in dem auch der Begriff des Tragischen enthalten ist. Die Tragweite jeder Theaterreform hängt davon ab, inwiefern sie aus dem geistigen Ursprung des Dramas hervorgeht. Brecht hat in seiner Jugend noch die Luft des literarischen Umsturzes eingeatmet, in der die expressionistische Dramatik ihre Blüten trieb, und die Stoßkraft seiner Kunst hängt ohne Zweifel damit zusammen. Damals zeigten sich die ersten Ansätze einer Rückkehr zu den elementaren Grundlagen des Dramatischen und zum ursprünglichen Erlebnis des Tragischen. Die expressionistische Kunst hatte den Sinn f ü r das Primitive und echt Monumentale. Die Dichter jener Generation verstanden als erste wieder, daß das Tragische keine Angelegenheit moralischer Verfehlung und vernünftiger Einsicht ist, sondern daß in der Tragödie der Mensch vor sich selbst und vor der Welt auf eine Weise erschrickt, f ü r die es keinen zureichenden Grund und daher auch keinen landläufigen Trost gibt. Der tragisch heimgesuchte Mensch wird in seiner innersten Sicherheit getroffen, nidit nur in seinem bürgerlichen Rechtsempfinden oder seinem aristokratischen Ehrgefühl oder seiner sozialen Geborgenheit. Er erstarrt vor dem Dunkel der Welt, in die er hineingeboren ist, und vor dem Mißverhältnis, in dem er sich gegenüber den Mächten des Lebens befindet. Die Tragödie ist die Kunst des Schrecklichen in diesem umfassenden Sinn. Sie f u ß t auf einer Ästhetik des Furchtbaren und arbeitet mit Ängsten und Greueln, die wir sonst nur noch im Traum kennen
Z« Hans Henny Jahnns „Medea"
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und die etwas in uns ansprechen, was durch keine Erziehung ganz beschwichtigt wird. In den großen Katastrophen des Einzellebens und der Völkergeschichte öffnet sich diese Unterwelt der Seele sichtbar am hellen Tag, und die Kunst solcher Epochen setzt sich mit ihr auseinander. So wurde auch im Schatten des Ersten Weltkriegs vom Expressionismus das Tragische wieder entdeckt. Das stärkste Beispiel dafür sind die Dramen Hans Henny Jahnns, der in den zwanziger Jahren wohl der am heftigsten umstrittene deutsche Bühnenautor war, weil er am rücksichtslosesten mit den Denk- und Spielgewohnheiten des spätbürgerlichen Theaters brach. Sein 1919 veröffentlichter, von Oskar Loerke mit dem Kleistpreis ausgezeichneter Erstling Pastor Ephraim Magnus ist ein ketzerisches Mysteriendrama, das den christlich-sakralen Rahmen mit Ausbrüchen echter religiöser Ekstase sprengt. Jahnns Grundthema, das ewige Recht und Leid des von der Liebe ergriffenen jungen Menschen, wurde schon hier mit außerordentlicher Sprachgewalt angeschlagen, die einen Skandal hervorrief. Drei weiteren, motivisch verwandten Stücken folgte 1926 die Medea, das dramatische Meisterwerk des jungen Jahnn, dessen Aufführung mit Agnes Straub in der Hauptrolle ein großer künstlerischer Erfolg für ihn war. Sie eröffnete die seither in vielen Ländern zu beobachtende Rückkehr zum archaischen Ursprung der Tragödie und bedeutete etwas grundsätzlich anderes als Oscar Wildes Salome oder Hofmannsthals Bearbeitung der Elektra, die den heidnischen Mythus ins Opernhafte, das Tragische ins Hysterische umwandten. Jahnn sah die Gestalt der Medea als das urzeitliche Ungeheuer, als das der junge Schiller sie gesehen hat: Wenn die Gerechtigkeit für Gold verbündet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschen für cht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl . . . Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist1). Jahnns Medea faßt die Motive seiner früheren Dramen zusammen und verkeilt sie zu einem Gebilde, das schon im Griff nach diesem unheimlichsten antiken Stoff den Willen verrät, auf den nackten Granit des Tragischen zurückzugehen. Sowohl die Auffassung der Fabel wie die sprachliche Diktion bezeugen die Abkehr von der klassizistischen Ästhetik. Jede psychologische Verwässerung des Mythus ist vermieden, das Grausige der Handlung wird absichtlich betont, doch so, daß sich in ihrer Fürchterlichkeit eine Urform menschlichen Seins abzeichnet. Sie wird nicht mit schönen Worten und Gebärden verhüllt, sondern in ihrer ganzen Dämonie bloßgelegt, und nimmt sich dadurch neben den klassischen Bearbeitungen des Stoffes aus älterer Zeit allerdings wie ein barbarisches Monstrum aus. Jahnn hat die von Euripides für die ganze Nachwelt vorbildlich geformte, erst von Grillparzer anders begründete Fabel radikal vereinfacht und in das Licht einer urtümlichen Geistigkeit gerückt. Kreusa fehlt bei ihm, Jason und Kreon bleiben im Hintergrund, im Mittelpunkt steht die Mutter Medea, die hier eine Negerin ist, mit ihren beiden Knaben. Alles reduziert sich auf die Tragödie der entzweiten Gatten und die ihrer Kinder. Medea ist nicht mehr durch ) Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (Säkular-Ausgabe 11,91).
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Walter Muschg
Männeraugen als Nachtmahr gesehen, ihre schwarze Haut macht sie vielmehr zur Verkörperung der reinen Natur, des triebhaften Urweiblichen, zur Vertreterin der schwarzen Mutter Erde. Sie ist der Dämon des Geschlechts, und damit hängt ihre Zaubergabe zusammen. Sie schenkt dem von ihr geliebten Jason ewige Jugend, so daß er seine Kraft „an Tier und Weib und Knaben" verschwenden und wie ein Gott in ewiger Gegenwart leben kann, weil ich nicht reife, und jede Schönheit, im Fleische lebend oder tot, mir immer wieder ganz die erste ist. Die Tempeltänzerin Medea dagegen, die vor der Flucht mit Jason als Auserwählte, mit dem Bild ihres Bruders Vermählte lebte, hat sich durch die Liebe zu einem Mann entweiht und dem Fluch des Alterns ausgeliefert. Jason wird ihrer überdrüssig und seufzt in seiner Vergottung nach einem kleineren Glück. Statt sie mit seinem Kuß jung zu erhalten, begeht er den „erbärmlichen Aufstand kleiner Leute gegen ihre eigene Liebe", wie es bei Jahnn anderswo heißt, und reizt sie damit zur Rache. Als unbedingt Liebende, die ohne Zögern ihrem Gefühl alles geopfert hat, verteidigt sie sich auch mit dem Recht der Liebenden: zu freveln und zu sterben. Sie macht ihre Ehe ungeschehen, tötet ihre Kinder und stößt diese Menschenwelt ins Chaos zurück. In ihren Söhnen wiederholt sich die Kindertragödie von Jahnns früheren Dramen, ins märchenhaft Urzeitliche albgewandelt. Sie haben das erste "Wort, und gleich in den ersten Versen tritt ein anderes Hauptmotiv Jahnns märchenhaft zart hervor: Ein weißes Pferd hab ich geschenkt milchweiße Stute von dem Vater.
bekommen,
Das Pferd, für Jahnn das edelste Tier, hat hier noch den Zauber des Einhorns und bildet als Geschöpf der unschuldigen außermenschlichen Natur die Seele der beiden Knaben ab, die „noch glückselig, erhoffend Ungespaltenes wie Fels", auf seinem Rücken „durch Knabenländer" reiten. Sie sind sublim unterschieden, auch dadurch hebt sich diese Gestaltung des Stoffes von allen früheren ab. Der jüngere Bruder lebt noch unberührt in seinen Träumen und eifert gegen den ältern, der ihm untreu werden, zum Mann werden will: „Du darfst mich töten, wenn du mich nur liebst". Der Ältere wird durch die Begattung seines Traumpferdes aufgewühlt, seine Seele schweift schon erregt in erotischen Phantasien, die der Köngstochter Kreusa gelten. Er läßt den Vater für sich werben, wird aber von diesem betrogen, da Jason sich selbst mit Kreusa vermählt. So werden die beiden zum Leben erwachenden Brüder in das Geschehen verstrickt und als Liebende in den Tod getrieben. Medea findet sie in verzweifelter Umarmung und ersticht sie in diesem Augenblick. Jauchzend und weinend erlebt sie das höchste Mutterglück, die Vergottung ihrer Kinder, und schafft ihre Leichen zu unzerstörbaren Bildern um, indem sie sie an einen unbekannten Ort tief im harten Fels entführt, während die von ihr Verfluchten im Bodenlosen versinken. Der grausamen Wucht dieses Geschehens entspricht die schroffe Szenenführung mit ihren verletzenden Kontrasten, die 'stilisierte Zeichnung der Gestalten und die abweisend monumentale Sprache. Es sind jambische, aber sehr freie Verse von steinerner Härte, die das Unmenschliche der Vorgänge aussprechen. Sie gehen jedem weichen
2 « Hans Henny
Jahnns
„Medea"
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Wohlklang, jedem vertrauten Satzgefüge aus dem Wege und drängen jedes naheliegende Wort mit einem fremdartigen zurück. Ich schweige, Herr, weil deiner Knaben Münder dir roter als meine grauen Lippen, zitternd.
sprechen
Auch die Grammatik wird gesprengt: Verfluchte meine Augen, oder: Nicht meine Glieder sollen sinnlos toben werden. Die zu Eis erstarrten Seelen stammeln in selbstvergessenen Wiederholungen: Siehst du nicht, Mann, daß vor der Tür, vorm Eingang zu der bannend, drohend, mit ihrem Lächeln siehst du denn nicht Medea bannend vor ihrer Kammertürf
Kammer,
Im Ton dieser Verse kündigt sich das neue Verständnis der antiken Tragödie an, das seither in der von Jahnn eingeschlagenen Richtung weitergeschritten ist und sich auch in der Wissenschaft verfolgen läßt. Erwähnt sei nur die bedeutsame Abhandlung des Gräzisten Wolfgang Schadewaldt2), der in Lessings Definition der Tragödie als der Dichtung des Mitleids eine zeitbedingte, allzu moralisch-empfindsame Auslegung des Aristoteles nachweist und im Widerspruch zur Hamburgischen Dramaturgie und zu „den Lessingen unter uns" das Wort „Furcht" nicht zu Mitleid abschwächen, sondern wieder als „Schrecken, Schauder", das Wort Mitleid als „Jammer, Ergriffenheit" übersetzen will. Schadewaldts eigene, am späten Hölderlin geschulte Verdeutschungen griechischer Tragödien, die sich seit einigen Jahren auf den Bühnen durchzusetzen beginnen, tragen dem Rechnung, indem sie das archaische Element wieder stärker hervorheben. Wenn sie auch weit hinter Jahnns kühn-gewaltsamer Sprache zurückbleiben, berühren sie sich doch gelegentlich mit ihr. Der blinde Oedipus, die Schritte seiner Kinder hörend: Was sag ich? Hör ich nicht, bei den Göttern! irgendwo Die mir Geliebten beiden Tränen weinen? Auch abgesehen von solchen archaisierenden Stilfiguren fällt an Schadewaldts Übertragungen auf, daß sie wie Jahnns Medea die noch halb barbarische Härte und das seelisch Fremdartige der heidnischen Tragödie betonen. In seinem König Oedipus deklamiert der Chor: Lykeios! Herr! und deine, von der goldgeflochtenen Sehne: Die Geschosse wollt ich, die unbezwungnen, Würden ausgeteilt: schützende Helfer! und die feuertragenden Der Artemis Lichtglänze, mit denen sie Lykische Berge durchschweift, Und den mit dem goldenen Stirnband ruf ich, 2) Furcht und Mitleid? 1955).
Zur Deutung des Aristotelischen
Tragödiensatzes
(Hermes 83, 129 f.,
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Walter Muschg
Benannt nach diesem Lande, Den Weinäugigen, Bakchos, den Gepriesenen, Der Mänaden Gefährten, Daß er komme, brennend, Bewehrt mit glanzblickender Fichtenfackel, Über ihn, der ehrlos ist unter Göttern, den Gott!
SULZER ALS NEUERER Armand Nivelle • Lüttich
Man kann keine ästhetische Theorie aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts richtig beurteilen, ohne sie an der grundlegenden Leistung Baumgartens zu messen. Der Verfasser der Aesthetica ist der eigentliche Urheber der Verselbständigung des Schönen; er hat den Begriff der Schönheit dem Gebiet des Willens und des Verstandes entrissen und dem Bereich der sinnlichen Erkenntnis, des analogon rationis, zugeteilt. Baiumgarten sagte der berühmten Leibniz-Wolffschen Definition der Schönheit ab, wonach diese in der sinnlichen Erkenntnis der Vollkommenheit bestehe, und schlug eine, wenn auch in der Formulierung ähnliche, in Bedeutung und Tragweite jedoch grundverschiedene Definition vor: das Schöne sei die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis. Ohne daß auf den Inhalt dieser Formel eingegangen zu werden braucht, leuchtet es ein, daß sie die sinnliche Erkenntnis verselbständigt, indem sie die Möglichkeit ihrer Vollkommenheit anerkennt, ein Gedanke, der damals etwas Ketzerisches und Unerhörtes darstellte. Freilich wurden wegen des fast identischen Wortlauts die beiden Definitionen — die metaphysische von Leibniz-Wolff und die rein ästhetische von Baumgarten — sehr oft miteinander verwechselt, und somit blieb der ursprüngliche Beitrag des Begründers der wissenschaftlichen Ästhetik lange Zeit tief verkannt. Der Gedanke einer perfectio cognitionis sensitivae war in der Mitte des 18. Jahrhunderts so neu, daß mancher Kritiker die perfectio nicht mit dem Begriff der Vollkommenheit, sondern mit dem der Vervollkommnung wiedergab. Ich habe vor einiger Zeit versucht, eine Deutung zu geben, die hier nur kurz zusammengefaßt werden kann*). Die perfectio wird von Baumgarten als eine Harmonie aufgefaßt, als ein consensus zwischen den Elementen der sinnlichen Vorstellung: Stoff, Struktur und Ausdruck. Diese Harmonie selbst wird sinnlich erkannt, d. h. unter Ausschluß jeder determinierenden Wirkung der oberen Erkenntnisvermögen; tätig bei der Erfassung des Schönen sind vor allem das ingenium, das acumen und das judicium sensitivum. Ebensowenig wie die cognitio superior spielt bei Baumgarten das Gefühl eine bestimmende Rolle in der Wahrnehmung und der Schöpfung des Schönen. Er erwähnt zwar das temperamentum aestheticum connatum, d. h. eine allgemeine Neigung der Seele zur Schönheit; diese Neigung tritt aber nicht selbständig auf und übt also keinen determinierenden Einfluß auf das Schönheitsurteil aus. *) In meinem Buch über Les Théories esthétiques en Allemagne, sprachige Neufassung erscheint 1960 im Verlag W. de Gruyter.
Paris 1955. Eine deutsch-
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Nivelle
W e n n man sich mit Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste b e f a ß t , so gewinnt m a n zunächst den Eindruck, als habe der Verfasser die Verselbständigung des Schönen völlig außer acht gelassen. Dies gilt namentlich f ü r den ersten Teil des vierbändigen Werkes und ganz besonders f ü r die Vorrede zu der ersten Ausgabe, bei deren Lesen m a n sich in die vorbaumgartensche Epoche zurückversetzt glaubt. Wenn m a n bedenkt, d a ß der erste Band, welcher diese Vorrede enthält, im J a h r e 1771 veröffentlicht wurde, so ist m a n versucht, den M u t sinken zu lassen u n d das ganze W e r k beiseite zu legen mit dem V e r m e r k : veraltet, überholt. Die G e d a n k e n der V o r rede gehören tatsächlich in die erste H ä l f t e des J a h r h u n d e r t s u n d sind als ganz orthodoxe A u f k l ä r u n g zu bewerten. Die Kunst und das Schöne w e r d e n dort noch einzig an sozial-moralischen Maßstäben gemessen; von einer Autonomie der Schönheit im Reiche der Werte und von der Eigengesetzlichkeit eines Vermögens im Menschen, welches das Schöne w a h r n e h m e n u n d schaffen soll, ist nicht die Rede. M a n könnte meinen, Baumgartens Errungenschaft sei f ü r Sulzer null u n d nichtig gewesen. Wolfis Psychologie ist immer noch allmächtig: die Seele ist in zwei Vermögen geteilt, Verstand u n d sittliches Gefühl, u n d das Schöne w i r d ohne jedes Bedenken dem sittlichen G e f ü h l untergeordnet. Sulzer scheint gar keine A h n u n g von der Bedeutung Baumgartens gehabt zu haben, obschon er ihn im Artikel Ästhetik als einen wichtigen F a k t o r in der Entwicklung der neuen Wissenschaft ansieht. Worauf sind diese überholten Ansichten zurückzuführen? U m Stellung nehmen zu können, m ü ß t e m a n wissen, w a n n die Vorrede entstanden ist. I m J a h r e 1753, als Sulzer die Arbeit an seiner E n z y k l o p ä d i e der Ästhetik in Angriff nahm, h ä t t e n solche Gedankengänge nicht allzu sehr v e r w u n d e r n d ü r f e n ; zur Zeit der Erscheinung des ersten Bandes h ä t t e Sulzer sie jedoch nicht mehr vertreten sollen, denn sie w i d e r sprechen dem Geist u n d der G r u n d h a l t u n g , die sich in den Schlüsselartikeln k u n d t u n . W e n n Sulzer seine Vorrede im J a h r e 1771 geschrieben hat, k a n n sie nur als eine rhetorische captatio benevolentiae betrachtet werden, mit welcher der Verfasser sich beim gebildeten Publikum, das ja großenteils noch in den Vorstellungen der A u f k l ä r u n g befangen w a r , einschmeicheln wollte. Ein Leser, der es bei der Lektüre dieser Vorrede bewenden ließe, täte falsch daran, denn das W e r k gibt mehr, als aus diesen p a a r Seiten zu e r w a r t e n ist. W e r sich nicht entmutigen läßt und einen tieferen Einblick in die G r u n d a r t i k e l des Werkes zu gewinnen sucht, entdeckt bald, d a ß Sulzer die Baumgartensche Verselbständigung des Schönen als vollzogen a n e r k e n n t und voraussetzt. Freilich ist er weit d a v o n entfernt, die logische Strenge und die unbiegsame Konsequenz seines Vorgängers a n den T a g zu legen, u n d dadurch erscheinen manche Ausführungen als Rückfälle in eine ü b e r w u n d e n e Gedankenschicht. Was ihn an der Baumgartenschen Ästhetik abstößt, ist gerade ihr logischer C h a r a k t e r oder, genauer ausgedrückt, d e r Einschlag des Logischen in der Sphäre des Ästhetischen. Sulzer ist sozusagen von N a t u r Pädagoge u n d Psychologe; als solchem scheint ihm die Theorie Baumgartens der konkreten R e a k t i o n des Individuums v o r dem Schönen nicht genug Rechnung zu tragen. In der Beschreibung des ästhetischen Phänomens durch Baumgarten v e r m i ß t er ein bedeutendes M o m e n t : die Rolle der Empfindung, der R ü h r u n g , des A f f e k t s . M a n k ö n n t e hier gleich einwenden, d a ß die H e r v o r h e b u n g des Gefühlsmoments in der W a h r n e h m u n g der Schönheit schon durchgeführt w o r d e n sei u n d d a ß Sulzer sich u. a. auf die französische
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Ästhetik hätte berufen können, um Vorbilder anzutreffen; man könnte sogar meinen, die Logisierung der Ästhetik durch Baumgarten sei gerade eine Uberwindung der Gefühlsästhetik gewesen. Mehr als in der Betonung des Gefühlsmoments liegt Sulzers Originalität aber in dessen Analyse. Bemerkenswert ist es, daß die Inkonsequenz und die Widersprüche, von denen die Rede war, so gut wie ganz verschwinden, sobald Sulzer sich dem Problem der Empfindung widmet. Man hat dabei den deutlichen Eindruck, daß Sulzers Denken gerade von dem Artikel Empfindung an genauer und zusammenhängender wird. Dem aufmerksamen Leser kann nicht entgehen, daß der Verfasser sich von diesem Augenblick an bewußt ist, daß er „seine" Entdeckung gemacht hat, daß er seinen Originalbeitrag geliefert hat. In den verschiedensten Artikeln wiederholt er von nun an immer wieder die Prinzipien, die er anläßlich der Empfindung ans Licht gefördert hat. Zweck dieses Aufsatzes ist es, zu zeigen, daß Sulzer keineswegs nur ein gedankenloser Eklektiker gewesen ist, dessen Bedeutung nur in einzelnen wie von ungefähr ausgedrückten Einfällen besteht, sondern daß er — wenigstens auf dem Gebiet der Empfindung — eigene Ansichten vertreten und in ein zusammenhängendes Ganzes eingefügt hat. Er mag auf anderen Gebieten noch so willkürlich und inkohärent erscheinen, in der psychologischen Begründung des Schönen weist er einen systematischen Gedankengang auf, der in die Zukunft deutet. Ich will nicht behaupten, Sulzer habe Grundfragen der Ästhetik endgültig gelöst; vielleicht hat er diese Wissenschaft nicht einmal wesentlich vorangetrieben. Er bleibt eine Figur zweiten Ranges. Aber sein Beitrag ist in mancher Hinsicht interessant und fruchtbar gewesen und allenfalls nicht so unbedeutend, wie er gewöhnlich hingestellt wird. Er hat manchmal fremde und unzusammenhängende Meinungen aufgelesen und nebeneinandergestellt, ohne immer redit zu unterscheiden, ob es geniale Aperçus, banale Binsenwahrheiten oder rückständige Schrullen waren. Den psychologischen Artikeln seiner 'Theorie hat er jedoch eine persönliche Richtung aufzuprägen gewußt, die eine kohärente Grundanschauung verrät. Der „Fund" Sulzers — dasjenige, was er sich bewußt ist, entdeckt zu haben, und immer wieder hervorhebt — ist die Subjektivität des Schönen. Die Wahrnehmung des Schönen ist jedweder Form der Erkenntnis, auch der sinnlichen, wesensfremd. Nicht die Erkenntnis, sondern einzig und allein das Gefühl entscheidet über Schönheit und Häßlichkeit. Der Bestimmungsgrund des Schönen besteht nicht in einem objektiven Erkennen, sondern in einem subjektiven Empfinden. Die Originalität und das Verdienst Sulzers beruhen nun aber darauf, daß er bei der Betonung der Subjektivität die Autonomie des Schönen strikt aufrechterhält. Er befreit das Schöne von der Macht der Erkenntnis, ohne es dem Begehrungsvermögen anheimfallen zu lassen. Er sichert ihm einen selbständigen Platz im System der Werte und schreibt ihm ein von Verstand und Willen unabhängiges Vermögen zu. Hier lag natürlich die Klippe, die einen seiner Sache weniger sicheren und von einer Grundanschauung weniger unterstützten Geist sehr leicht zum Scheitern gebracht hätte. Der Boden, auf den sich Sulzer dabei gewagt hat, war damals — und ist heute noch — äußerst glatt, und es ist geradezu bewundernswert, wie Sulzer sich im Gleichgewicht zu halten wußte, wie er der unablässigen Versuchung der Ethik widerstanden hat. Es ist klar, daß Sulzer in der Seele ein autonomes Vermögen unterscheidet, welches eigens zur Wahrnehmung des Schönen bestimmt ist. Es nimmt einen nicht wenig wun-
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der, wenn man bei A. Bäumler liest, es fehle an Belegen, um die Ansetzung eines selbständigen Vermögens annehmen zu können. Im Artikel Geschmack steht namentdas lich folgendes: Der Geschmack ist im Grunde nichts anders als das Vermögen, Schöne zu empfinden, so wie die Vernunft das Vermögen ist, das ~Wahre, Vollkommene und Richtige zu erkennen, das sittliche Gefühl die Fähigkeit, das Gute zu fühlen . . . Der innere Sinn, wodurch wir diese Annehmlichkeit genießen, ist der Geschmack . . . so ist auch der Geschmack ein in der Seele wirklich vorhandenes und von jedem anderen unterschiedenes Vermögen, nl. das Vermögen, das Schöne anschauend zu erkennen und vermittelst dieser Kenntnis Vergnügen daran zu empfinden. Ein paar Zeilen weiter bezeichnet Sulzer die Vernunft, das sittliche Gefühl und den Geschmack als drei voneinander verschiedene Vermögen des Geistes. M a n könnte die Belege nach Belieben vervielfältigen; dies hätte aber nicht viel Zweck, denn mehr noch als in der Dreiteilung der Seele und der Ansetzung eines autonomen Geschmacksvermögens liegt Sulzers Verdienst in der Beschreibung dieses Vermögens selbst. Eine Dreiteilung wurde schon früher vorgeschlagen, namentlich von Riedel in seiner Theorie der schönen Künste aus dem Jahre 1767. Bekanntlich hat zehn Jahre später Tetens etwas Ähnliches vorgenommen. Der Begriff Geschmack war damals Mode, wurde allerdings oft gebraucht, ohne daß sein Verhältnis zu den anderen Vermögen näher beleuchtet wurde. Schon Baumgarten nannte— dem Sprachgebraudi der französischen Ästhetiker der delicatesse folgend — einen sapor delicatus als Bestandteil des analogon rationis. Sulzers Bedeutung liegt aber, wie gesagt, weniger in der Hervorhebung dieses Begriffes als in seiner Anschauung der Art und Weise, wie der Geschmack als ästhetisches Vermögen f u n k tioniert. Schon der Artikel Ästhetik deutet die Richtung seines Hauptanliegens an. Dort wird die Ästhetik definiert als die Wissenschaft, welche sowohl die allgemeine Theorie als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmacks herleitet. Weiter heißt es: Die Ästhetik gründet sich, sowie jede andere Theorie, auf wenige und einfache Grundsätze. Man muß aus der Psychologie wissen, wie die Empfindungen entstehen, wie sie angenehm oder unangenehm werden. Zwei oder drei Grundsätze Sätze, welche die allgemeine Auflösung dieser Frage angibt, sind die der Ästhetik. Also gründen sich die Prinzipien der Ästhetik auf die Psychologie, und zwar auf die Theorie der Empfindungen. Letztere war von jeher das Anliegen Sulzers; ihr hatte er schon seine ersten Veröffentlichungen gewidmet. Auf die Unterscheidung zwischen Erkennen und Empfinden hat er seine besten K r ä f t e verwandt. Die Psychologie der Empfindungen ist denn auch die Grundlage seiner Ästhetik. Empfindung nennt Sulzer den Bereich der Seele, worauf sich die Wahrnehmung der Schönheit bezieht. Seltener gebraucht er das Wort Gefühl, und zwar fast immer in der allgemeineren Bedeutung von Bewußtwerden. Gefühl ist bei ihm kein spezifisch ästhetischer Begriff: ein Artikel Gefühl läßt sich z. B. in seinem Buch vergeblich suchen. Dasselbe gilt f ü r das Zeitwort fühlen: es bezeichnet ebenfalls ein unbestimmtes Bewußtwerden. Das Affektmoment wird gewöhnlich nicht hervorgehoben; meistens heißt Gefühl soviel wie Sinn (vgl. sittliches Gefühl), und fühlen soviel wie gewahr werden.
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Dem Wort Empfindung gibt Sulzer eine psychologische und eine moralische Bedeutung. Letztere soll uns im Rahmen dieses Aufsatzes nicht direkt interessieren, obschon sie in Sulzers Ästhetik eine gewisse Rolle spielt. Sie betrifft aber den Zweck der Kunst, nicht das Phänomen der Schönheit. Psychologisch betrachtet besteht die Empfindung in dem angenehmen oder unangenehmen Eindruck, den eine Vorstellung auf uns macht. Sie gehört also nicht, wie der moderne Sprachgebrauch der Psychologie es nahelegen könnte, in das Gebiet der Erkenntnis; sie bezeichnet nicht einmal die anfängliche Urstufe des Erkennens. Im Gegenteil, sie setzt sich dem Begriff der Erkenntnis überhaupt entgegen. Die Erkenntnis bezieht sich jeweils auf ein Objekt, also auf etwas, das dem erkennenden Vermögen fremd ist. Die Empfindung dagegen bezeichnet einen Gemütszustand des aufnehmenden Subjekts, eine innere Modifizierung, einen Affekt, ohne jede Rücksicht auf den Gegenstand. Solche Affekte lassen sich auf zwei Arten zurückführen, die Sulzer, genau wie später Kant, Lust und Unlust nennt (Art. Empfindung). Wiederholt betont Sulzer den Grundunterschied, der seiner Meinung nach zwischen Erkennen und Empfinden besteht. Die Dinge, deren Wirklichkeit wir fühlen, sind entweder Vorstellungen oder Empfindungen, d. i. Begriffe von der Beschaffenheit der Sache, Urteile, die aus den Begriffen entstehen, oder angenehme oder unangenehme Eindrücke, und Zuneigung oder Abneigung, woraus unsere Entschließungen folgen (Art. Falsch). Vorstellungen sind das Gebiet der Wissenschaft und der Philosophie, Empfindungen das der Kunst: Der Gegenstand hat eine ästhetische Kraft, wenn er vermögend ist, unsere Aufmerksamkeit von der Betrachtung seiner Beschaffenheit abzulenken und sie auf die Wirkung zu richten, die der Gegenstand auf uns, vornehmlich auf unseren inneren Zustand macht (Art. Kraft). Am deutlichsten wird die Grenze zwischen Vorstellung und Empfindung im Artikel Sinnlich gezogen. Erkennen, heißt es dort, ist die Beschaffenheit eines Gegenstandes wahrnehmen mit dem Bewußtsein, daß wir es dabei mit etwas zu tun haben, das verschieden von uns ist. Empfinden ist das Bewußtwerden einer Modifizierung, die in uns selbst vorgeht: Wir fühlen allein uns selbst, unsere uns gefallende oder mißfallende Existenz. Gefällt uns unser Gemütszustand, so wünschen wir uns in demselben zu erhalten; mißfällt er uns, so sehnen wir uns nach einem anderen. Dies ist nichts anderes als Kants subjektive Kausalität! Ein ästhetischer Gegenstand wirkt auf uns nicht durch seine Beschaffenheit, seine Substanz, sein Wesen, sondern durch seine Gegenwart, seine Koexistenz. Eine Gegenwart wird nicht erkannt, sondern empfunden. Wird die Vollkommenheit nicht erkannt, sondern in ihrer Wirkung empfunden, so bekommt sie den Namen der Schönheit (Art. Vollkommenheit). Gegenwart, nicht Beschaffenheit, Existenz, nicht Essenz, Wirkung, nicht Erkenntnis, sind die Eigenschaften des Schönen. Was soll das heißen? Wie definiert Sulzer die Schönheit? Das Schöne gefällt, sagt er; aber nicht alles, was gefällt, ist schon dadurch in der eigentlichen Bedeutung des Wortes schön. Drei Arten von Gegenständen erwecken in uns Gefallen: 1. diejenigen, die einen angenehmen Reiz auf die Sinne bewirken und Menschen und Tiere gemeinsam affizieren (eine Speise, die gut schmeckt); 2. diejenigen, die den Verstand ergötzen, weil dieser ihre Vollkommenheit, ihre Zweckmäßigkeit,
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ihre innere Einrichtung erkennt; 3. diejenigen, die durch die bloße Betrachtung Wohlgefallen erregen ohne Rücksicht auf ihre Beschaffenheit und ihren Zweck (Art. Schön). Nur diese dritte Art von Gegenständen verdient die Bezeichnung schön. Was uns an ihnen gefällt, ist nicht der Stoff wie in der ersten Art und auch nicht der deutlich erkannte Zweck wie in der zweiten, sondern bloß ihre F o r m ohne jede Vermittlung eines verstandesmäßigen Begriffs oder eines Zwecks. Schön ist, was gefällt, wenn man gleich nicht weiß, was es ist, noch wozu es dienen soll, liest man im Artikel Geschmack. Die Empfindung des Schönen liegt also zwischen dem Reiz der Sinne und der intellektuellen Befriedigung durch die deutliche Erkenntnis, d. h. im Gebiet zwischen reiner Sinnlichkeit und Vernunft. Der schöne Gegenstand muß durch die Sinne und die Einbildungskraft wahrgenommen werden, aber die Wirkung auf die Sinne ist nicht das entscheidende Merkmal seiner Erscheinung, sonst bestünde kein Unterschied zu dem Reiz. Anderseits gefällt er, ohne daß der Verstand ihm seine Begriffe aufprägt. Wo liegt also der Grund des Vergnügens? Es liegt nahe, ihn gerade in einer Beziehung der sinnlichen Wahrnehmung auf die Tätigkeit des Verstandes zu suchen. Wann gefällt eine Form? Wie muß jene Form, wodurch das Schöne gefällt, beschaffen sein? Wenn Sulzer auf diese Frage deutlich und konsequent hätte antworten können, so wäre das eine Leistung gewesen, die Kants Kritik der Urteilskraft überflüssig gemacht hätte! Wir sind noch ein gutes Stück davon entfernt, aber die Frage und teilweise schon die Antwort weisen in eine Richtung, die auf Kant zielt. Sulzer schreibt: Ein Teil seines ( = des Schönen) Wertes wird durch unmittelbares, aber feineres Gefühl bestimmt, wie der Wert des Guten (d. h. der ersten Art der Gegenstände, die gefallen; also z. B. der „gut" schmeckenden Speisen), und ein Teil aus Erkenntnis, die aber beim Schönen nicht bis auf die Deutlichkeit steiget (Art. Schön). Die Schönheit ist also ein zusammengesetztes Ganzes. Einerseits fordert sie ein feineres Gefühl als den sinnlichen Reiz: worin kann diese Verfeinerung anders bestehen als in dem Hinzukommen der Einbildungskraft? Eine Speise schmeckt gut ohne den Umweg über diese; was kommt in der Beurteilung des Schönen hinzu, wenn nicht die Phantasie? Die Begriffe Sinne und Einbildungskraft erscheinen übrigens bei Sulzer fast immer gekoppelt, wenn es sich um die Wahrnehmung des Schönen handelt. Anderseits fordert die Schönheit eine Erkenntnis, die nidit bis zum Begriff vordringt. Und diese zwei Momente, Gefühl und Erkenntnis, sind Teile ihres Wertes, bilden zusammen ein Ganzes, müssen also in einem gewissen Verhältnis zueinander stehen. Sind wir wirklich noch so weit weg von der Kantischen Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand? Auf diesem Vorposten angelangt, ist sich Sulzer bewußt, daß er an der äußersten Grenze seiner Möglichkeiten steht. Unmittelbar nach dem angeführten Text schreibt er: Darum wäre es ein vergebliches Unternehmen, die völlige Entwicklung seiner ( = des Schönen) Beschaffenheit zu suchen. Wer könnte ihm diesen Verzicht übelnehmen? Er verfügte ja nicht über die erforderlichen philosophischen Werkzeuge, um das Problem zu lösen. Wir dürfen jedoch nicht aus den Augen Schönen in dem Vergnügen besteht, welches verursacht. Wir nennen etwas schön, wenn der uns gefällt und in dem wir zu beharren
verlieren, daß der Bestimmungsgrund des die Betrachtung eines Gegenstandes in uns es uns in einen Gemütszustand versetzt, wünschen. Es erhebt sich nach dem vorher
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Gesagten notwendigerweise die Frage nach dem Verhältnis des Vergnügens zu den gekoppelten Gegebenheiten der Sinnlichkeit und der Erkenntnis. Diese Frage bildet den Inhalt des berühmten § 9 der Kritik der Urteilskraft. Wieder einmal beantwortet sie Sulzer in einer Weise, die trotz der lakonischen Kürze und des Mangels an Motivierung die Kantische Lösung des Problems ankündigt. Im Artikel Kraft heißt es: das Schöne erweckt unmittelbar und auf eine fast unerklärliche Weise Vergnügen. Stellen wir daneben die Definition des Geschmacks in dem gleichnamigen Artikel: das Vermögen, das Schöne anschauend zu erkennen und vermittelst dieser Kenntnis Vergnügen daran zu empfinden. Aus dieser Nebeneinanderstellung geht hervor, daß Sulzer zwar nicht die Lösung gefunden— das könnte man unmöglich von ihm verlangen —, aber wenigstens das Problem ziemlich deutlich gesehen hat, was an sich kein geringes Verdienst ist. Das Vergnügen entsteht vermittelst der anschauenden Erkenntnis, ist also eine Folge und eine Begleiterscheinung der Beurteilung, um den Kantischen Ausdruck zu gebraudien; ihm geht eine Art Erkenntnistätigkeit voran. Zugleich entsteht es jedoch unmittelbar. Was kann das anders bedeuten, als daß der Gemütszustand, in dem uns die anschauende Erkenntnis zuteil wird, selbst schon ein Zustand des Wohlgefallens, daß er die subjektive Seite einer Handlung ist, deren objektive die Erkenntnis darstellt? Erst das Vergnügen gibt uns das Recht, die Vorstellung als schön zu bezeichnen; die Empfindung ist also der Grund unseres Urteils. Die zwei nebeneinandergestellten Sätze scheinen sich zu widersprechen, weil der Gesichtspunkt von einem zum anderen wechselt: psychologisch gesehen ist das Vergnügen unmittelbar, es entsteht in der Seele und durch seine Entstehung ermöglicht es uns, die Vorstellung des Gegenstandes als schön zu bezeichnen; vom analytischen Standpunkt aus, d. h. in der wissenschaftlichen Beschreibung der Tätigkeit des Gemüts bei der Wahrnehmung des Schönen, muß das Vergnügen die Folge der anschauenden Erkenntnis sein. Wenn dies ein Widerspruch ist, der Sulzer zur Last gelegt werden kann, so muß er in dem gleichen Maße Kant selbst aufgebürdet werden. Daß Sulzer sich des Wechsels der Gesichtspunkte nicht deutlich bewußt gewesen ist, beweist sein Ausdruck auf eine fast unerklärliche Weise. Es fällt uns leicht, dieses Unerklärliche zu erklären, nachdem wir Kant gelesen haben. Daß Sulzer aber zu einer so prägnanten Fragestellung gelangt ist, ist an sich mehr als bemerkenswert. Neben diesen Problemen hat Sulzer sich noch andere Fragen vorgelegt, die Kant ebenfalls wieder aufnehmen und ausführlich behandeln sollte. Beispiele dafür sind namentlich die Interesselosigkeit des Schönen und seine Allgemeingültigkeit. Zum ersten Punkt schreibt Sulzer u. a.: Für den Eigennützigen ist die Schönheit nichts, weil man sie durch bloßes Anschauen genießt (Art. Schön). Dies war eine logische Folgerung aus seiner Erkenntnis der Begrifflosigkeit des Schönen und der ausschlaggebenden Bedeutung der Form. Beachtenswert ist nur, daß er diese Folgerung eingesehen und formuliert hat. Zum zweiten Punkt wäre manche Stelle anzuführen, an der Sulzer sich nach dem Grund der tatsächlichen Verschiedenheit der Geschmacksurteile, ja ihrer verwirrenden Widersprüche fragt, und trotz dieser Verschiedenheit die Allgemeinheit des Schönen aufrechtzuerhalten versucht (Art. Schön u. a.). Darauf will
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ich aber im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingehen, da ich glaube, die Grundfragen dargelegt zu haben. In der „Rettung" Sulzers, die ich mir hier vorgenommen habe, bin ich mir selbstverständlich der Grenzen bewußt, innerhalb welcher diese Rettung möglich ist. Zusammenfassend möchte ich darauf hinweisen, daß ich nicht die Absicht habe, Sulzer als einen Vorläufer Kants darzustellen, welcher dem Königsberger Philosophen seine Grundanschauungen und die Lösung der Kernprobleme seiner Ästhetik in die Hand gespielt hätte. Es ist allzu bekannt, daß es Kant vor allem darum gelungen ist, einen Ausweg aus der Sackgasse der damaligen Ästhetik zu finden, weil er vorher ein philosophisches System entwickelt und dabei Begriffe entdeckt hatte, die er auf das Gebiet der Ästhetik anwenden konnte. Sulzer fehlt eine solche philosophische Grundlage ganz und gar. Ich möchte aber gezeigt haben, daß trotz dieses mangelhaften Unterbaus wenigstens ein wesentliches Moment der Kantischen Ästhetik von Sulzer ausführlich vorweggenommen wurde. Die Kantische Trennung des Schönen von Verstand, Vernunft und sinnlichem Interesse und dessen Zuteilung an das Gefühlsvermögen waren von Sulzer schon vollzogen worden. Dasselbe gilt für Kants Ausführungen, durch die er das Schöne zu einem subjektiven Phänomen gemacht hat, dessen Wirklichkeit sich auf das Bewußtsein des die Vorstellung begleitenden Gemütszustands gründet. Freilich hat Kant diese Ansichten begründet, motiviert, ausgewertet; er hat sie seinem System eingefügt und sie auf seine zusammenhängende und geniale Kritik gestützt, wodurch sie eben fruchtbar wurden. Es bleibt aber wahr, daß diese Ansichten schon vor ihm und namentlich von Sulzer vertreten wurden, wenn auch nicht immer mit genügender Deutlichkeit und ausreichender Begründung. In dem Maße, wie Kant diese Ausführungen Sulzers gekannt hat und sich dadurch hat beeinflussen lassen, glaube ich, sagen zu dürfen, daß Sulzer einen begrenzten, aber nicht unwesentlichen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Ästhetik geliefert hat. Kant hat ihn nicht ohne Grund den vortrefflichen genannt.
DIE ZITATION IM WALDE Will-Erich Peuckert • Göttingen
Das 1587er Volksbuch vom Doktor Faust erzählt in seinem zweiten Kapitel, wie D. Faust den Teufel beschworen hat, und wie man sattsam weiß, vollzog sich das in einem dicken Walde, der bei Wittenberg gelegen ist und der Spessart-Wald genannt wird. Man hat an diesem Namen lange herumgerätselt, denn er paßt nicht in die Wittenberger Gegend. Vielleicht jedoch paßt er ein wenig in die Zeit oder zumindest in das Milieu, das uns das Spießsche Volksbudi bietet. Die älteren Teufelsbeschwörungen, zum Beispiel die Alberti Magni, die der Jenenser Studenten und — um das nur zu erinnern — diejenige des Faust. Erster Teil geschahen in den Studierzimmern, den Museen, inmitten schweinslederner Folianten oder alchemistischer Geräte. Das lag ganz offensichtlich an den handelnden Personen. Albertus, Johannes Theutonicus, Raymundus, Scotus, Petrus von Abano und wie sie sonst noch heißen mögen, sind Angehörige der gelehrten Welt. Der Ort des Doktors und Gelehrten aber ist sein Arbeitszimmer; dort wo die magischen Texte liegen, dort wird der Dämon aus dem Abgrunde auch beschworen. Nun aber erhebt sich eine Welt, die weniger dem Museum als dem offenen Leben hingegeben scheint. Der Faust des Volksbuches bemühte sich zwar um lauter Dardaniae artes, Nigromantia, carmina veneficium, incantatio, und wie solche Bücher genannt werden mögen, spekulieret und studieret Tag und Nacht darin, wollte sich hernach keinen Theologen mehr nennen lassen, ward ein Weltmensch, nannte sich einen Dr. medicinae, ward ein Astrologus und Mathematikus, und zum Glimpf ward er ein Arzt, half vielen Leuten mit der Arznei, mit Kräutern, Wurzeln, Wassern, Tränken, Rezepten und Klystieren. Man muß bei Paracelsus nachschlagen und sein Paragranum lesen, um es genau zu wissen, wie oft und gern die Ärzte jener Tage sich in ihrem Museum aufgehalten haben. Sie kennen nach Paracelsi Vorwürfen keine Bücher, sie haben keine Freude am Studieren, scharwenzen vielmehr im Doktorkleid durch alle Gassen, tun mit den Frauen schön und sind bei allen Gelagen, allen Gastmählern und auf jeder Schlittenfahrt zu finden. Wir haben, sieht man von den in Hexenprozessen erscheinenden Orten ab, und man wird sie beiseite lassen dürfen, die Partner sind da anderer Art, ein halbes Dutzend Teufelspakte und -zitationen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Da ist der Unterricht von der heiligen Kabbala, den ich aus einer Dr. Bohn in Breslau gehörenden Handschrift ausgehoben habe, die in den Jahren um 1705 geschrieben wurde, mit ihren Texten aber in die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts einzugliedern ist. Der Unterricht gibt sich als Autobiographie des Juden Abraham (aus Worms) und 19 Markwardt-Festschrift
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ähnelt in großen Zügen der Lebensbeschreibung jenes Christian Rosencreutz, den Fama und Confessio fraternitatis R. C. gegen 1604 mitteilen. Der Text selbst weiß von der Bekanntschaft jenes jüdischen Magiers Abraham mit Kaiser Sigismund, mit Papst Johann, dem er vom Kostnitzer Konzil geholfen hat und mit verschiedenen deutschen Fürsten und Grafen jener fernen Jahre. Der Magier hatte bei dem Juden Abramelin in Ägypten seine Kunst gelernt; dann kehrte er zurück, konnte aber um der Nahrungssorgen willen in drei ganzen Jahren nichts ins Werk richten. Die meiste Ursache war der volkreiche Ort und der Uberlauf, so bei Handel und Wandel stets vorging. Zwar entschloß ich mich oft, auf dem Harzwald die Einsamkeit zu suchen, — er blieb jedoch in Worms und fand dort endlich Möglichkeiten, seine Magie auszurichten. Auch hier verzieht der Magier sich ins Ferne, in das Einsame, den Wald. Ob Harz in dieser Handschrift mehr bedeutet als der Spessart im Volksbuch von Faust, ich wage kein Urteil, aber für einen Wormser war der Name doch recht unvertraut. Im Jahre 1725 und dann wieder 1726 erschienen, von Regensburg ausgehend, die Hundert acht und dreyßig . . . Geheimnüsse, eins jener magischen Hausväterbücher, von deren Existenz und Werden, Inhalten oder Zweck wir wenig wissen; erst in den letzten Jahren hat man sich um dieses literarische Gut bemüht 1 ). Die Hundertachtunddreißig Geheimnisse sind, wie ich soeben festzustellen vermag, die Neuauflage einer von Friedrich Panzer in dessen Beitrag zur deutschen Mythologie bereits einmal benutzten Schrift Arcanitäten etc. wider Zauberer, von einem Anonymus im Jahre 1715 vorgelegt. Sie dürften dem endenden siebzehnten Jahrhundert oder den ersten Jahren des achtzehnten angehören. Ihr hundert und fünff und zwantzigstes Stück berichtet Von Beschwöhrung eines Geistes bey dem Wiener-Wald. Ein gewisser praetendirter Magus und Teuffels-B anner I der sich lang in Prag aufgehalten hatte / käme in Wien zu einer hohen Stands-Persohn / welche / unerachtet sie vor vielen Jahren diese Welt geseegnet / man Ehr-Forcht wegen nicht nennet / und offerirte deroselben einige magische Arcana, auf welches gedachtes Anbringen dieser große Herr / der kürtzlich 25 000. Gulden in einem Sitze verspielt hatte / etwas / ein Glück zu haben / verlangte. Der Magus gab zur Antwort / dieses wolle man wohl erlangen / müsse aber bey dem Wiener-Walde geschehen / wo man in einem Creyse einen Geist müsse beschwöhren / welcher etwas zum Spielen bringen werde. Man gienge dahin / stellete sich gantz bloß-nackend in den Creyß / worinnen der Magus, welcher besoffen wäre / die Beschwöhrung anfienge / und fehlete. Worauf ein grausamer Sturm und Ungewitter aus dem Walde entstand / auch ein gantz zottichtes Monstrum, wie ein Bär / zum Creyse kam / und bey de / den großen Herrn und Beschwöhrer / mit so viel Schlägen bewillkommete ! daß man sie hinweg führen muste. Es scheint mir übrig, zu den soeben zitierten weitere Beispiele zu stellen, und ebenso übrig, das Motiv von der Zitation im Walde nun ausführlicher zu belegen. Natürlich gibt es sie längst; zumindest so lange, als der Wald unheimlich schien. Ricarda Huch hat in den ersten Kapiteln ihres Großen Krieges Treffendes dazu gesagt. Aber es geht hier nicht darum, die einzelnen Orte der Beschwörungen zu erörtern, es liegt mir 1 ) Adolf Spamer Romanus-Büchlein, bearbeitet v. Johanna Nickel. Berlin 1958. — WillErich Peuckert Die aegyptische Geheimnisse: Arv 10, 1954, 40 ff. — Ders. Das sechste und siebente Buch Mosis: Z f dtsch Phil. 76, 1957, 163 ff.
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nur daran, den diese Orte jeweils bestimmenden sozialen Hintergrund, das für den Zauberer Notwendige eben dieser Ortswahl auszumachen. Gelehrte Theologen beschwören den Teufel nicht im Walde draußen, um einen Pakt mit ihm zu schließen oder um irgendwelche magischen Künste auszurichten. Die Bauern gehen, um den Teufel anzurufen, auch nicht in den Wald; er ist für sie zu finster, unvertraut und irgendwelcher Schrecken voll. Die Darmstädter Landesbibliothek besitzt vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine Handschrift (Signatur 3042), deren Blatt 9 Folgendes enthält: Der schnelle Ruf. Wenn man gebetet und. sich dem Herrn empfohlen hat., geht man um 11 Uhr hinaus aufs freie Feld, und ruft: Speikuli komm! Speikuli komm! Stauli komm! Stattus, Stattus, Stopholis der Gerichte. Dies wiederholt man 3mal zwischen elf und zwölf Uhr bei tag oder bei Nacht, dann kommt der Geist oft in Gestalt eines Hundes, bald wie ein Fuchs oder ein Wolf pp. wo man mit ihm sprechen kann am besten ist es auf einem Kreuzweg. Dies ist der Bauern Ruf im Odenwald, der beelzebub kommt gleich und bringt Geld mit, welches ganz heiß ist. Ausdrücklich wird hier gesagt, dies sei der Bauern Ruf, ihr Zauberspruch, und wiederum ausdrücklich, daß man ihn auf freiem Felde ruft. Da ist der Bauer sozusagen zuhause und da fühlt er sich verhältnismäßig sicher; der Acker ist seine Heimat und sein Auftrag und sein Ort. Dies alles bedenkend wird man, glaube ich, nunmehr sagen dürfen, daß der im Volksbuch dargestellte Faust kein Magier von der Art der alten Magier sei; man stellt ihn in die falsche Reihe, wenn man neben ihm Albertus Magnus, Johannes Theutonicus, Johannes Trithemius oder Petrus von Abano nennt. Es ist schon richtig, an den Namen Georg Sabellicus zu denken. An jenes fahrende Gelichter, das sich auf Märkten produzierte und da — wie jener Prager — dunkle Zauberstücke vorzugaukeln wußte. An einen Gesellen dieser Gattung hat ganz gewiß der Spießsche Druck gedacht, denn anders hätte die Spessart-Szene in dem Volksbuche keinen Sinn. An einen Gesellen dieser Gattung hat das Spießsche Buch gedacht, — doch hinter den vordergründigen, auf den Gauner Säbel passenden drölerien steht — verschwommen, aber in ihren letzten Zügen dennoch zu erspüren und zu ergreifen — der andere, dessen Namen sich Sabellicus gestohlen hat, der wahre Faust, der ungeheure und der magische Sucher aus dem fünfzehnten Jahrhundert.
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DAS EWIGE HERZ I N HÖLDERLINS D I C H T U N G Hermann Pongs •
Gerlingen!Stuttgart
1 Nur ein einziges Mal kommt in Hölderlins Dichtung die Fügung vor: „Das ewige Herz": am Schluß der berühmten Hymne Wie wenn am Feiertage. Da heißt es: Und tief erschüttert, eines Gottes Leiden Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest. Hölderlin selbst hat die Hymne nicht zur Veröffentlichung gebracht, sie ist zuerst 1910 erschienen, in der von Stefan George und Karl Wolfskehl besorgten Sammlung Deutsche Dichtung (Band I I I : Das Jahrhundert Goethes). George folgte dem Text, den Norbert von Hellingrath aus den Handschriften ermittelt hatte. Hellingraths Hölderlin-Ausgabe bringt die Hymne im IV. Band 1916. Die Hymne fand sich im Stuttgarter Foliobuch (I, 6), nicht in einer Reinschrift, sondern in einer ersten Niederschrift, die gerade am Schluß nicht ganz leicht zu entziffern ist. Hellingrath hat trotzdem die Hymne als in sich geschlossene Einheit betrachtet und als solche herausgegeben. Was ihn dazu veranlaßte, ist aus der Art der Überlieferung zu erschließen: die Hymne findet sich als dichterische Niederschrift unmittelbar hinter einer älteren Prosafassung, die den Rohstoff bereit hält. Die dichterische Kraft, mit der Hölderlin den Rohstoff zur Dichtung erhebt, ist außerordentlich. Die beiden Schlußzeilen scheinen das Ganze zum lang vorbereiteten Gipfel zu führen: das ewige Herz scheint wie ein Urphänomen alles zu überragen, alle Spannungen in sidi aufzunehmen, aufzuheben. Die Hymne als Ganzes ist nach Hellingraths Ausgabe längst in der großen wissenschaftlichen Ausgabe (2, 1) durch Friedrich Beißner mustergültig behandelt. Dennoch gibt gerade Beißners Ausgabe ein Rätsel auf: bei ihm ist das ewige Herz verschwunden. Die letzten Zeilen lauten (2, 1; 120): Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest. Wie kann sich ein so außergewöhnlicher Eingriff in die eigenste Substanz einer Hölderlin-Dichtung erklären? Die Antwort auf diese Frage soll erneut versucht werden, nachdem bereits Eduard Lachmann (Dt. Vierteljahrsschrift 1939, 221 ff.) und auf eigenwillige Weise auch Martin Heidegger in seiner Auslegung der Hymne 1941 (NiemeyerHalle) Stellung genommen haben. Bei Lachmann findet sich der ganze Folio-Auszug Blatt 14—17 in Photo-Wiedergabe (Tafel I—VIII S. 232 ff.).
Das ewige Herz in Hölderlins Dichtung
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Unser Ausgangspunkt soll die Schlußstrophe sein, wie sie Hellingrath zusammenfaßt. Der Prosaentwurf soll nochmals abgedruckt werden, die Zeilen nach der Handschrift abgesetzt; die geringfügigen Änderungen bei Hellingrath, Lachmann, Beißner werden nachher hervorgehoben: Und alle trinken jetzt ohne Gefahr das himmlische Feuer, doch uns, ihr Dichter, uns gebührt Mit entblößtem Haupt, unter Gottes Gewittern, zu stehen, und des Vaters Stralen, sie selbst, sie selbst Zu fassen, und eingehüllet und gemildert im Liede den Menschen, die wir lieben, die himmlische Gaabe zu reichen. Denn sind wir reinen Herzens nur, den Kindern gleich, sind schuldlos oder gereiniget von Freveln unsere Hände, dann tödtet (darüber: dann verzehret) nicht der heilige ("oder: das heilige) und tieferschüttert bleibt das Herz doch fest, mitleidend die Leiden des Lebens, den göttlichen Zorn der Natur, u. ihre Wonnen, die der Gedanke nicht kennt. Aber (>weh mir) wenn von anderem Pfeile ("darüber: selb geschlagener Wunde) das Herz mir blutet,
...
Lesarten winziger Verschreibungen, Durchstreichungen, oder in Form von Zusätzen über der Zeile bei Beißner S. 671. Von Belang für uns sind nur zwei Stellen. Zeile 10 liest Hellingrath der heilige, Beißner das heilige. Beide Lesungen sind möglich. Näher liegt Hellingraths Lesung: dann tödtet nicht der heilige (Strahl). Beißner bezieht offenbar schon das darübergeschriebene „verzehret" ein und will lesen: dann verzehret nicht das heilige (Herz). Die andere Stelle ist von größerem Belang. In Zeile 11 steht über das Herz etwas geschrieben, was sehr schwer zu entziffern ist. Beißner liest heraus: warme ewige innere; Lachmann dagegen: unsere. Nach Lachmann sind die beiden folgenden Worte durchgestrichen. Daß ewige durchgestrichen ist, ist ohne Zweifel. Ob auch das dritte Wort durchgestrichen ist oder unlesbare, ineinanderlaufende Buchstaben zeigt, mag offen bleiben. Hellingrath hat die drei Zusätze wohl alle als durchgestrichen angesehen und läßt sie fort. Jedenfalls hat sich Hölderlin schon während der Prosaniederschrift mit dem Gedanken getragen, das Herz durch Beiworte zu verstärken. Es folgt nun Hellingraths Text der Dichtung (IV, 153): Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt Die Erdensöhne ohne Gefahr. Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen. Denn sind nur reinen Herzens, Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände,
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Des Vaters Stral, der reine versengt es nicht Und tieferschüttert, eines Gottes Leiden Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest. Die rhythmische Durchformung erhält ihre geistige Straffung durch kühne Zusätze und durch Streichungen. Alle wird ersetzt durch Erdensöhne, die Strahlen werden zum einen Strahl, des Dichters mutige T a t verstärkt der Zusatz mit eigner Hand. Die Gemütsbewegung in der Formelfolge: im Liede den Menschen, die wir lieben, als zu breit empfunden, wird zusammengefaßt in das eine Wort: dem Volk. In der Handschrift als Zusatz über der Zeile geschrieben, betont sich die Entschiedenheit des dichterischen Eingriffs, dem es wie bei den Erdensöhnen um festere Konturen zu tun ist. Danach wird eine entscheidende Streichung vorgenommen: oder gereiniget von Freveln. Dafür erhält der Strahl des Vaters die wirkungsvolle Apposition der reine, so daß sich jetzt das reine Herz mit dem reinen Strahl begegnet. Lachmann (Dt. Viertelj. 1939, 235) hat diesen Änderungen eine Deutung abgewonnen, die hier folgen soll: Es ist, wie wenn das Licht, das mit dem Erwachen der Natur aufstrahlt aber tagts) aus den Sätzen der Hymne die Nebel sauge, die von Schuld, vom Verfehlen des Dichters sprechen. Es scheint eine Reinigung der Verse selbst, die Worte ,gereinigt von Freveln' verschwinden. Sie stören die Kinderreinheit, bei Kindern kann an Frevel nicht gedacht werden. Von den Schuldgedanken des wurfs bleiben allein die Worte: ,sind schuldlos unsere Hände' übrig. An die Schlußstrophe aus der Ode Dichterberuf
(Jetzt Sich wenn denn Ent-
darf man hier erinnern (2, 1; 48):
Furchtlos bleibt aber, so er es muß, der Mann Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn. Die Ode entstammt derselben Zeit, sie wurde nach Beißner im Sommer 1800 begonnen, 1801 vollendet. Es ist für Hölderlin ein Mysterium um die Einfalt und Reinheit des Herzens im Dichter, ein Lichtmysterium. In der Späthymne von 1801 Der Rhein heißt es (2, 1; 143): Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn Wie du anfingst, wirst du bleiben, So viel auch wirket die Not, Und die Zucht, das meiste nemlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet. Dem Reinen begegnet das reine Licht des Äthers, des von Hölderlin so vielumsungenen Lichtgotts Helios (Die Götter, Juni 1800). Die Lichtbegegnung hat ihr Rätselgesetz in der Weltordnung selbst; die Rheinhymne drückt es unmißverständlich aus: Denn weil die Seeligsten nichts fühlen von selbst, Muß wohl . . . in der Götter Namen teilnehmend fühlen ein Andrer, Den braudien sie. Die Götter braudien, wie es im Archipelagus heißt: zum Ruhme das Herz der fühlenden Menschen (Beiß-
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ner 2,104; entstanden Frühjahr 1800). Dazu aber bedarf es einer Bedingung: daß das Herz den Charakter des „Reinen" hat; daß die „Einfalt" es schützend umwirkt. Warum solcher Schutz nötig ist, das drückt Hölderlin auf zweierlei Art aus: in der Forderung nach Maß, das zum Reinen gehört; und in der Warnung vor der Hybris, die den Göttern gleich sein will. Wiederum ist es die Rheinhymne, die unzweideutig ausmalt, welches Gericht die Überheblichen trifft: Wenn einer, wie sie, sein will und nicht Ungleiches dulden, der Schwärmer. Von dem „Maß" verkündet das Fragment Die Titanen, da heißt es (Beißner 2,219): Denn unter dem Maaße Des Rohen brauchet es auch Damit das Reine sich kenne. Unter dem Gesetz des Maßes braucht es auch der Begegnung mit dem Rohen, damit das Reine sich selbst erkennt als das, was es ist. Wie sehr zum Reinen das Maß gehört, drückt sich in der H y m n e Der Mutter Erde (Mitte 1800) dahin aus, daß die drei Brüder, die hier von der Mutter Erde singen, den Weltschöpfer verherrlichen als den, der mit der Schöpfung auch den Menschen die Maßgesetze der Sprache erschaffen: So hat er donnernd schon Geschaffen ein reines Gesetz Und reine Laute gegründet. Darum kann Der Gesang sein der Chor des Volks; und unaussprechlich wäre der heilige Vater wohl, wenn zum Gesang nicht hätt ein Herz die Gemeinde (2, 1, 123)So steht der Dichter im reinen Gesetz der von Gott geschaffenen Sprache als Chor des Volks, wenn er es wagt, mit eigner Hand des Vaters Strahl zu fassen und dem Volk ins Lied gehüllt die himmlische Gabe zu reichen, ohne doch der Hybris zu verfallen, es Gott gleich tun zu wollen. Was hier der Einfalt des Dichters zugemutet wird, ist Mut und Demut zugleich: mit entblößtem Haupt, dennoch mit eigner Hand. Das Lichtmysterium hat sich hier erweitert um die gewaltigste Spannung zwischen Gott und Mensch: die Gewitterspannung, die sich im Blitz entlädt, als Schicksalsbegegnung. N u r der ursprünglidi Reine, der von Einfalt Umschirmte, wird von solchem Strahl nicht versengt. Die Begegnung zwischen Gott und Mensch, Gott und Dichter, hat Hölderlin zur selben Zeit auch unter etwas anderem Bild gedacht. Das Fragment der Hymne Deutscher Gesang sdiließt (Beißner, 2,203; entstanden um 1800): Doch lächeln über des Mannes Einfalt Die Gestirne, wenn vom Orient her Weissagend über den Bergen unseres Volks Sie verweilen Und wie des Vaters Hand ihm über den Locken In Tagen der Kindheit, So krönet, daß er schaudernd es fühlt Ein Segen das Haupt des Sängers, Wenn dich, der du
geruht,
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Hermann Pongs Um deiner Schöne willen, bis heute, Namlos geblieben o göttlichster! O guter Geist des Vaterlands Sein Wort im Liede dich nennet.
Der Vaterlands-Sänger fühlt sich zugleich gesegnet und schaudernd berührt vom Göttlichen, wenn ihn die Begeisterung erfaßt, das bisher namenlos gebliebene Vaterland zu besingen. Die Hymne Wie wenn am Feiertage, wenn sie im Bilde des göttlichen Blitzstrahls gipfelt, hat diesen gewaltigen Gipfel lange vorbereitet. Bereits mit dem Erwachen des Tags, zu Beginn der Hymne, und dann weitergreifend Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht: mit dem Erwachen der neuen Weltstunde. Viermal kündet der Dichter das Jetzt an, den erhabnen Augenblick. Die Ergriffenheit ist so groß, daß des Dichters hymnisches Ith sich selbst in die Hymne des Dichtertums bringt: Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort. Das Heilige ist die Kunde von neuen Zeichen, von neuen Taten der Welt, die offenbar werden. Vom Äther bis zum Abgrund ist Natur die All-Erschaffende in schöpferischem Aufruhr: was hier heraufdringt, ist aus heiligem Chaos gezeugt, und doch nach festem Gesetz, wie einst. Das Chaos selbst wird heilig gesprochen, es wird aus dem Neuen, das aus ihm hervorbricht, geheiligt. Es ist ein einmaliges Wunder: Und die uns lächelnd den Acker gebauet, In Knechtsgestalt, sie sind erkannt, Die Alllebendigen, die Kräfte der Götter. Was offenbar wird, sind die Götter selbst. Und das Wunderbare ist es, daß sie schon lange am Werke waren, in Knechtsgestalt und lächelnd. Der Ausdruck ist vieldeutig, er erinnert daran, daß Apollo zur Sühne als Knecht dem Admet gedient; er erinnert ebenso an das Bibelwort über Christus: er nahm Knechtsgestalt an. Das heilige Chaos aber beruft das Jetzt und Hier der Weltstunde: daß die, die der Natur am nächsten stehen, wie der Landmann zum Hymnenbeginn, daß die Einfachsten, Einfältigen, die immer den Acker gebaut, plötzlich Verwandelte sind, Götterboten, die die neuen Taten der Welt einleiten: es ist der Sturm der französischen Revolution, der hier seine höchste Verklärung gefunden als ein Zeitengewitter, in dem sich Gott offenbart. Das ist die Stunde der Dichter. Wie sie von Anbeginn in günstiger Witterung stehen, wie ihr Lied den Wettern entwächst, so trifft sie jetzt der Blitzstrahl der Weltstunde. Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter. Wenn Strophe eins und zwei sich gleichnishaft zugeordnet sind: Natur und Dichter, wenn Strophe drei und vier sich zugeordnet sind: Geschichte und Dichter, dann sind die drei Schlußstrophen eine einzige Steigerung auf die Schluß-Apotheose hin. Was die Dichter zu Berufenen macht, wodurch Natur sie vorbereitet hält für ihre Stunde, das drückt die fünfte Strophe aus: Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind, still endend in der Seele des Dichters. Es entspricht dem, was Hölderlin vom Gesetz des Maßes,
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•vom reinen Gesetz der reinen Laute als Ausdruck des Volksgesangs in anderen Hymnen gesungen. Dann aber erfolgt der Blitzstrahl der Stunde. Die sechste Strophe bereitet vor, im mythischen Beispiel. Wie Semele als Frucht des Gewitters unter dem Blitz des Zeus den Bacchus gebar, so wird im Dichter das Lied geboren, als Frucht der Liebe, der Götter und Menschen Werk. Daß die Dichterseele von Erinnerung erbebt, gehört zum Lichtmysterium des Augenblicks ebenso wie, daß der heilige Stral sie trifft, entzündend; beides gehört zusammen, damit der Gesang glückt. Damit faßt dann die siebente Strophe alles zusammen. Der Dichter steht als der Mittler jetzt zwischen Göttern und Menschen. Indem er den Strahl auf sich zieht, trinken himmlisches Feuer jetzt die Erdensöhne ohne Gefahr. Aller Glanz der Darstellung gehört dem Schicksalsaugenblick: unter Gottes Gewittern mutig und demütig zugleich dem Lichtmysterium standzuhalten, dem Blitz, der zu segnen und zu töten vermag. Im Weltvertrauen des Dichters, daß das Reine dem Reinen begegnet, dem reinen Gottesstrahl das reine Herz. Die beiden letzten Verse verdichten, was der Entwurf auseinanderlaufen ließ. Da hieß es: und tieferschüttert bleibt das Herz doch fest, mitleidend die Leiden des Lebens, den göttlichen Zorn der Natur und ihre Wonnen, die der Gedanke nicht kennt. Was die Verse neu einführen, scheinen genau die beiden Begriffe, die der offenbarten Weltstunde entsprechen: eines Gottes Leiden deutet auf die in Knechtsgestalt offenbarten Kräfte der Götter, und das ewige Herz scheint der kühne einmalige Gegenhalt gegen das aus heiligem Chaos Gezeugte. Wenn die siebente Strophe in einem weitgreifenden Bedingungssatz durch die letzten fünf Schlußzeilen alle Grundgedanken in eines faßt und eben damit die Schlußstrophe um drei Zeilen schwerer macht als die vorausgehenden neunzeiligen Strophen, dann drückt der Dichter damit überzeugend auf rhythmisch konstruktive ebenso wie auf steigernd lichtsymbolische Weise die Apotheose des Ganzen aus. Von solchen Gedankengängen her sind sowohl Hellingrath wie auch nach ihm Eduard Lachmann oder auch Paul Böckmann in seiner Gesamtdarstellung Hölderlins (1935, 388) wohl berechtigt, an dem Text festzuhalten, wie ihn zuerst Hellingrath gesichtet. Friedrich Beißner als verantwortlicher Herausgeber der großen Ausgabe kann nun darauf hinweisen, daß gerade das handschriftliche Bild der letzten Zeilen der Hymne einen recht verworrenen Eindruck macht. In seiner Ausgabe versucht Beißner in den Lesarten diesen Eindruck wiederzugeben. Die methodische Schwierigkeit liegt darin, daß jede Aufspaltung in Lesart 1, 2, 3, a, b usw. bereits das unmittelbare simultane Bild des Originals verwischt. Beißner nimmt an, daß der Dichter nach der Zeile: Wie Kinder wir, sind schuldlos unsere Hände in einem Abstand, der von ihm als Strophenabstand gedeutet wird, zuerst niedergeschrieben habe: Dann tödtet nicht der heilige Strahl. Darüber hat Hölderlin dann den endgültigen Text geschrieben: des Vaters Stral, der reine, versengt es nicht. Beißner kann aber daraus nicht folgern, daß eine neue Strophe beginnen sollte. Der Abstand, den hier Hölderlin wählte, entspricht der Absicht, Raum freizuhalten für verbessernde Einfälle. Schon im Erstentwurf war ja das tödtet überschrieben durch dann verzehret. Hölderlin war sich also bewußt, daß die Zeile noch der Korrektur bedurfte.
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Lachmann macht ebenso begreiflich, daß Hölderlin im voraus als letzte Zeile des endgültigen Gedichts niedergeschrieben hat: Des Gottes,
wenn er nahet,
das Herz
doch
fest. Diese Zeile wurde dann überholt durch die beiden unvergleichlich stärkeren Zeilen:
Und tieferschüttert eines Gottes Leiden Mitleidend bleibt das ewige Herz doch
fest.
Wie wenig Hölderlin die letzte Planzeile noch achtete, drückt sich darin aus, daß er über sie bereits den Anfang eines ganz neuen Gedankens hinschrieb, den er nachher wieder durchstrich: Doch weh mir! Aus den beiden Beispielen läßt sich schon schließen, wie schwer es ist, aus diesen Handschriftverhältnissen endgültige Folgerungen zu ziehen. Eindeutig findet sich nun noch über dem Zeilenschluß: eines Gottes Leiden darüber geschrieben: die Leiden des Stärkeren. Wann das geschehen ist, läßt sich nicht mehr ersehen. Hölderlin hat bei der Umschrift Der gefesselte Strom in Ganymed 1803 zweimal an Stelle des Gottes eine Umschreibung gewählt (ein gewanderter Mann — des Fremdlings Stimme). Danach könnte es sich um einen zwei Jahre späteren Entschluß handeln. Die Folge wäre aber dann die, daß Hölderlin keinesfalls mehr jene Planzeile am Schluß, in der Gott benannt ist, hätte unverändert bestehen lassen, wenn sie wirklich als endgültige Schlußzeile gedacht gewesen wäre. Schließlich zeigt die Handschrift noch über der letzten Zeile des Gedichts: das ewige Herz doch fest mehrere übereinandergeschriebene Einträge, die Beißner entwirrt hat als dreifache Versuche: in hochherstürz[enden], in unaufhaltsamen, in tönenden Stürmen. Hölderlin war aber von diesen nachträglichen Einträgen so wenig befriedigt, daß er unterhalb der letzten Zeile nochmals in anderem Kasus angesetzt hat: des Gottes gef. Stürme. Das Halbwort, das sich wie gef liest, deutet an, daß Hölderlin bereits unmittelbar während des Schreibens wieder gezögert hat. Die Schlußfolgerung aus diesem durchaus verwirrenden Schriftbild kann danach nur sein, daß jedenfalls die Plan-Schlußzeile, die Beißner zur endgültigen macht, keinesfalls als endgültig einleuchtet. An dichterischer Kraft steht sie außerdem den darüberstehenden beiden Schlußzeilen, die das ewige Herz enthalten, so außerordentlich weit nach, daß ohne ganz zwingende Gründe der Handschriftenüberlieferung eine Textänderung nicht zu verantworten wäre. Wie weit man Hölderlins späteren Versuchen Gewicht geben will, die Schlußzeilen durch das Bild der Stürme auszuweiten (im Sinn des Gewittermythos), mag dahinstehen. Die Ermüdungserscheinungen während des Versuchs sind offenbar. Von der handschriftlichen Uberlieferung her kann Hellingraths Text nicht zwingend entkräftet werden.
2 Es gibt aber noch einen schwerwiegenden Grund ganz andrer Art, die Hellingrathsche Fassung der Hymne in Zweifel zu ziehen. Im Prosa-Entwurf folgt unmittelbar noch in der Schlußzeile des bisherigen Textes eine neue Gedankenreihe, die mit Aber anschließt: Aber
(durchstr. weh mir) wenn
von
anderem Pfeile (darüber: selbgeschlagener und tiefverloren
Wunde) das Herz mir blutet,
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der Frieden ist u. frei bescheidenes Genügen, Und die Unruh, und der Mangel mich treibt zum Überflusse des Göttertisches, wenn rings um mich (durchgestr. weh mir! mich o daß ich dann nicht sage) und sag ich gleich, ich wäre genaht, die Himmli — schauen (gestr. es stoßen) sie selbst sie werfen mich, tief unter die Lebenden alle, den falschen Priester hinab, daß ich, aus Nächten herauf das warnend ängstige Lied den Unerfahrenen singe. Audi in der Versumschrift hat dies Schlußfragment seinen Niederschlag gefunden, allerdings einen sehr zögernd einsetzenden und stark verkürzten. Viermal setzt der Dichter ein: Doch weh mir! Zweimal streicht er es durch, beim dritten bricht er ab: Doch weh mir! wenn von. Das vierte Mal steht leer im Raum: Weh mir! Danach folgt mit Abstand: Und sag ich gleich, Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen, Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich Das warnende Lied den Gelehrigen singe. Dort Schon der zögernde Einsatz verrät starke innere Hemmungen Hölderlins, den Prosaentwurf mit in die dichterische Umformung einzubeziehen. Dabei ist alles ausgelassen, was eine innere Selbstspaltung, einen inneren Mangel zum Ausdruck bringt: selbstgeschlagne Wunde, Mangel. Dagegen ist die Anklage gegen den falschen Priester aufgenommen, den die Götter ins Dunkle stürzen. Beißner nimmt diese handschriftliche Fortsetzung zum Anlaß, seine Auffassung gegen Lachmann zu stützen (Dichtung und Volkstum 1937, 349 ff.). Er kommt zu der grundsätzlichen Formulierung: es sei geradezu unhölderlinisch, wenn die Hymne mit einem Gipfel schließe, ohne daß danach noch die an ihn selbst gerichtete Warnung vor übereiliger Zudringlichkeit folge. Hölderlin wisse um den Frevel, vorzeitig als falscher Priester die Himmlischen schauen zu wollen. Darum erschließt Beißner, daß noch zwei Strophen folgen sollten und daß die Hymne genau aus neun Strophen zu neun Zeilen habe bestehen sollen. Das glaubt er dann auch rhythmisch von Pindar her begründen zu können 1 ). Er trennt damit von der siebten Strophe die letzten drei Zeilen ab, obgleich sie im festen Bedingungssatz mit der Strophe verbunden sind. Der neue überragende Gesichtspunkt ist der: daß es unhölderlinisch sei, ein Gedicht mit einem reinen Lichtgipfel zu schließen, ohne daß zugleich der Schatten angefügt würde. Von solcher Auffassung her ist es begreiflich, daß Beißner als Herausgeber keine Bedenken hat, das ewige Herz aus der Handschrift herauszunehmen und es durch das einfache Herz zu ersetzen. x
) Der subtile Rhythmen-Streit zwischen Beißner und Lachmann soll hier ausgeklammert
bleiben. Vgl. Lachmann Hölderlins und Volkstum, 1937, 349 ff.
Hymnen in freien Strophen, 1937; dazu Beißner Dichtung
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D i e Frage nach dem ewigen Herzen in Hölderlins H y m n e vertieft sich danach zur Grundfrage nach dem Gesamtbild Hölderlins. Vorerst hat Lachmann darauf hingewiesen, daß die Ode Dichterberuf im inneren Gedankengang und Aufbau der H y m n e sehr nahesteht. Die Ode ist in der Zeitschrift Flora 1802 in endgültiger Fassung gedruckt. D a zeigt sich, daß die drei letzten Strophen ganz neu durchgearbeitet sind und daß dabei alles ausgemerzt ist, was in den Vorentwürfen an Anklagen gegen frechgewöhnie Dichter enthalten ist ( 2 , 2 ; 4 8 2 - 3 ) : Doch die mit frechen Händen verschlossnen Herzens die Gaben rauben und Göttliches zu wenig achten . . . Doch die mit frechgewöhnten das deine dir das Herz mit Händen rauben und Segnendes geringe nehmen, weh, sie selbst sie haben den Fluch in die Brust empfangen ... Dagegen beruft die letzte endgültige Strophe genau dieselben Gegenkräfte Reinen wie die H y m n e (2, 1, 4 8 ) :
des
Furchtlos bleibt aber, so er es muß, der Mann Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn, Und keiner Waffen brauchts und keiner Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft. D i e zusammengefaßte verdichtende Kraft findet hier genau so ein Gipfelwort wie das ewige Herz: bis Gottes Fehl hilft. Die Voreritwürfe lauteten: so lange der Gott nicht fehlet, und so lange der Gott uns nah bleibt. Erst die Endfassung ruft eine Art numinosen Schauder heran. Was soll das bedeuten: bis Gottes Fehl hilft? Hellingrath deutet es: daß die Himmelskräfte den Dichter nicht immer bedrängen. Lachmann ähnlich: daß die in Überfülle niederzuckenden Blitze den Menschen nicht treffen. Dagegen deutet hier Beißner: erst wenn die Erde ganz götterlos ist, wird das Fehlen Gottes dem Dichter helfen, weil er dann der Einzige ist, der das Andenken des Göttlichen pflegt. Beißner nennt das schmerzliche Ironie. D a m i t aber scheint die numinose Kraft, die von der Negation ausgeht, nicht voll umfaßt. Die Lücke, die Gottes Fehl gelassen, übt noch als Lücke eine schirmende Kraft um die Dichter aus. I h r Einfaltglaube wirkt unbeirrbar fort, durch Gottes Fehl nur gesteigert. (In der Rheinhymne heißt es: Die Blindesten aber sind Göttersöhne; da ist der Fehl, daß sie nicht wissen, wohin ihre innerste W a f f e . ) Lachmanns Parallele ist darum so wirksam, weil sie zusammengeht mit den Streichungen der H y m n e . Die H y m n e streicht: oder gereinigt von Freveln. D a m i t scheint doch klar die Absicht zum Ausdruck zu kommen, genau wie in der Ode Dichterberuf alles, was an Frevel erinnern könnte, aus der H y m n e herauszustreichen. A u f das Licht, nicht auf die Schatten kommt es an. U n d so hat die H y m n e noch eine ganze größere Stelle aus dem Prosaentwurf herausgelassen, die in der „ O d e " kontrastreich eingeformt worden ist. Es handelt sich um ein Ausweichen des Dichters vor dem göttlichen Ernst der Aufgabe ins verantwortungslose Spiel. In O d e wie Hymnenentwurf ist hier dasselbe Bild vom mutwillig spielenden K i n d gebraucht (Hymnentext bei Beißner 668). D i e Ode verarbeitet es sehr wirkungsvoll im Kontrast. Sie spricht davon (ganz der H y m n e ähnlich), wie dem Dichter vom Strale gerührt das Gebein erbebt, wenn der Gott stillsinnend lenkt, wohin zorntrunken ihn die gigantischen Rosse bringen. Dagegen dann malt die O d e aus, wie es klingt, als wenn Kinder mutwillig reine Saiten
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im Scherze rühren, und Dichter den Geist verleugnen, im Spott, Alberne, herzlos, zum Spiele feil. Die Schroffheit der Ode, die schließlich den Dichter unter beißen Todesgeschossen des Gottes entseelt entläßt, macht begreiflich, welche anderen Ziele die H y m n e hat, die ja denselben Dichterberuf verherrlichen soll: die H y m n e will nichts Negatives hereinlassen, sie braucht alle Kräfte zur positiven Ergänzung und Steigerung. Darum endet sie nicht mit dem Schauder bis Gottes Fehl hilft, sondern mit dem Schauder, der das ewige Herz umgibt. Was dem in der Ode als höchste Position entspricht, drückt die Verszeile aus: Der Höchste, der ists, dem wir geeignet sind. Die bei den Gegenbeispiele, die Beißner heranzieht (Dichtung und Volkstum 1937, 351), haben demgegenüber wenig Gewicht. Die H y m n e Die Wanderung ist helle Verherrlichung Schwabens und Griechenlands, die in west-östlicher Versöhnung gesehen sind. Zuletzt werden mit einer Art Übermut die Grazien Griechenlands nach Schwaben zu Gast geladen. Dem Lobpreis der Dienerinnen des Himmels folgt die Rühmung von allem Göttlichgebornen. Da heißt es dann zum Schluß, als steigernde Arabeske, umgekehrte Hyperbel: Zum Traume wirds ihm, will es Einer Beschleichen und straft den, der Ihm gleichen will mit Gewalt; Oft überraschet es einen, Der eben kaum es gedacht hat. Hier wird kein Lichtgipfel verschattet, dem Licht des Göttlichgeborenen, der ganzen H y m n e liegt, wird noch ein Glanz hinzugefügt.
das über
Das andre Beispiel findet sich mitten in der Patmoshymne, die eine Verherrlichung des Christuslichts ist. Wie trostreich setzt die H y m n e ein: Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch. Inmitten gilt es, Christi Bild vor der Ruchlosigkeit der Zeit zu bewahren. D a fallen scharfe Worte gegen die, die sich selber spornen, die Knechte, die das Geheimnis verraten möchten. Da heißt es: Gütig sind sie (die Götter), ihr Verhaßtestes aber ist, solange sie herrschen, das Falsche (2, 1, 170). Dagegen gibt es natürlich eine Gestalt, die alle menschliche Unzulänglichkeit dem Göttlichen gegenüber in ihr Schicksal zusammenzieht, das ist Empedokles. Durch drei Fassungen erfährt das Tragisch-Menschliche verwirrend vielartige Beleuchtungen. Im Monolog der ersten Fassung klingt es ganz dem Verzweiflungsausbruch am Ende der H y m n e nah (Hellingrath III, 88): Weh, laßt ihr nun Wie einen Bettler mich, Und diese Brust, die liebend euch geahndet, Was stoßt ihr sie hinab, die Freigeborne, Und schlosst sie mir in schmählich enge Bande? Und dulden soll ich das, das Langverwöhnte, Wie die Schwächlinge, die im scheuen Tartarus Geschmiedet sind ans alte Tagewerk? N u r die Dimensionen der Gestalt, die dahintersteht, sind andere: Empedokles ist von Anbeginn geschildert als furchtbar allverwandelnd Wesen; nicht Mangel, Über-
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maß ist es, was ihn zum Frevler macht: er hat sich selbst zum Gott erhöht, sein Glücksgefühl der Gottnähe war so groß, daß er selbst sich dem Volk als Gott dargestellt. Da ist die Einfalt, der Einklang mit der Schöpfung, von ihm gewichen. Sogleich aber wächst in ihm der Entschluß, zu sühnen durch einen reinigenden l'od. Das Vermächtnis, das er hinterläßt, ist ein Licht-Vermächtnis (iwirst Leuchten, jugendliche Flamme, wirst, was sterblich ist, in Seel und Flamme wandeln). Die 'dritte Fassung, 1800, wohl etwas später als die Hymne, umleuchtet den Todesaugenblick. Höchst gesteigerte Gottnähe strahlt davon aus ( I I I , 220): Der Eine doch, der neue Retter faßt Des Himmels Strahlen ruhig auf, und liebend Nimmt er, was sterblich ist, an seinen Busen, Und milde wird in ihm der Streit der Welt. Die Menschen und die Götter söhnt er aus. Fast sind wir in das gewaltige Schlußbild der Hymne zurückgekehrt: der, der furchtlos den Strahl des Himmels laßt und Versöhnung stiftet. Dennoch ist die Lage eine andre. Die dritte Empedoklesfassung endet damit, daß sie den sühnenden Selbsttod bezieht auf den scheidenden Geist des Volks. Denn wo ein Land ersterben soll, da wählt der Geist noch einen sich. In der Hymne aber wird die neue Weltstunde besungen, wo neue Zeichen, neue Taten der Welt geschehen. Autgabe ist da nicht mehr der Sühnetod eines großen Einzelnen, sondern der hymnische Voiksgesang des Dichters, furchtlos und demütig zugleich in der starken Einfalt des reinen Herzens. Wenden wir uns von hier auf die stammelnden und fragmentarischen Verse am Schluß der Hymne zurück, dann fällt daran vor allem eines auf: der Rückfall aus dem prophetischen Dichtertum der Hymne in das private Ich Hölderlins. Als hätte ihn eine Art Schrecktraum überfallen, Erinnerung an die dunkelste Stunde des Empedokles, wie ihn die Einfalt verlassen. Das Schreckbild eines falschen Priesters, der aus Mangel sich an die Götter herangedrängt. Wahrhaft der tiefste Frevel! Vielmehr dem Hermokrates, dem kalten Priester, aus der zweiten Empedoklesfassung vergleichbar als dem großen Empedokles, den die Götter liebten. Und so ist es begreiflich, daß Hölderlin diese schattenhaften Schreckverse nicht weitergeführt hat. Lachmann, der den handschriftlichen Rahmen besonders genau betrachtet, in dem die letzten Verse stehen, auf Tafel V I I seiner Photokopie, stellt fest, daß Hölderlin in den freien Raum um diese Verse später Verse hineingeschrieben, die zu dem Spätgedicht Die Hälfte des Lebens gehören. Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, . . . (vgl. Beißner 2, 2; 663). Lachmann schließt, daß Hölderlin für die lyrische Stimmung des Weh mir, als des von den Göttern Verstoßenen, jetzt den neuen gemäßeren Ausdrude gefunden und eben damit sich durch die neue Gestalt dem ungemäßen Fragment entzogen. Es bleibt, nachdem die fragmentarischen Schlußsätze abgestoßen sind, noch eine entscheidende Frage zurück. Sollte Hölderlin grade durch die beiden Schlußzeilen der Hymne, durch den monumentalen Abschluß: Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest die Entscheidung bereits vorweggenommen haben, mit der das Tantalus-Angstbild ausgeschlossen wird? Was bedeutet im Gesamt der Hölderlin-Dichtung das ewige Herzf
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Lachmann ist auch dieser Frage bereits nachgegangen (Dichtung und Volkstum 1937, 239). Er sieht drei Möglichkeiten. Einmal ist eine Durchschnittsbedeutung gemeint: Steigerung des Herzens der Dichter nach dem Unsterblichen zu. So wie Hölderlin beim Prosaentwurf über das Herz darübergeschrieben drei Beiworte, darunter eins: ewige. Lachmann stellt die Frage, warum Hölderlin hier das ewige gestrichen hat. Er folgert, daß das Wort ewig ihm in diesem Zusammenhang zu schade war. Er hat es sich aufgespart zu mächtigerer Wirkung. Die zweite Bedeutung entnimmt Lachmann einem Gespräch mit Max Kommereil, der an ein Hölderlinwort erinnerte: Ich denke nicht mehr schön. Das Ich, das vor zehn Jahren mein war, das ist unsterblich — allerdings. Kommerell deutet das so, daß es einen unsterblichen Zustand gab, eine Teilhabe am Gemeingeist, an einer kosmischen Gesamtseele, von der das Ich abgefallen ist. Ladimann erinnert an die Verszeile der Hymne: Des gemeinsamen Geistes Gedanken sind. Aber warum dann der einmalige Ausdruck das ewige Herz. Zum dritten ergibt sich eine neue Dimension, die der neuen Weltstunde entspricht. Lachmann deutet das ewige Herz als das Herz des All, das festbleibt in den Erschütterungen des All, wo der Aufruhr des Chaos geheiligt wird, gleichsam als Schlag des ewigen Herzens. Unter Hölderlins hymnischen Entwürfen gibt es einen vaterländischen Gesang, der das Herz in eine vergleichbare Bildhöhe rückt: Vom Abgrund nämlich haben wir angefangen beginnt das Fragment und schließt (Beißner 2, 1; 251): und mich leset o Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz Untriigbarer Krystall an dem Das Licht sich prüfet wenn Deutschland
wird
Hier ist das Bild des Krystalls, das kristallische Herz in Verbindung gebracht mit dem Licht, so als erprobe sich der untrügbare Krystall daran, daß das Licht sich daran prüft. Vielleicht hat auch das ewige Herz mit solchem Lichtmysterium zu tun. Sehr selten findet sich bei Hölderlin ewig gebraucht, wir suchen die wichtigsten Stellen auf. In der zweiten Fassung der Elegie Der Wanderer, für 1800 angesetzt, findet sich über die Erstfassung hinaus, die vielmehr Idyll bleibt, folgende Steigerung des Lichtmysteriums im Umkreis des Ewigen (2, 1; 83): Und so bin ich allein. Du aber, über den Wolken, Vater des Vaterlands! mächtiger Äther! und du Erd und Licht! ihr einigen Drei, die walten und lieben, Ewige Götter! mit euch brechen die Bande mir nie ... Wenige Zeilen vorher ist das Herz angerufen, ob es noch schlage wie sonst. Unverbrüchliche Bande mit der ewigen Dreifaltigkeit des göttlichen Lichts ruft sich der Dichter zum Trost heran. So zeichnen sich erste Umrisse ab für das ewige Herz. Die Ode Der Frieden, Spätherbst 1799 begonnen, entwirft ein Schreckensbild der Kriege als reinigende Wetter, nachdem die Menschen das Maß verloren. Die Ode steigert sich zum Gebet (2, 1, 7): Ersehnter Friede, komm und gib ein Bleiben im Leben, ein Herz uns wieder!
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Gegen die Erdbeben der Kriege ein Bleiben
im Leben.
Was für ein H e r z kann es
verbürgen? Zwei Gedanken geben der O d e die Steigerung zum Schluß: Einfalt der
Kinder, die kein Zwist irrt und Gunst der Götter, die ewig wohnen,
So steht und lächelt Helios über uns Und einsam ist der Göttliche, Frohe nie, Denn ewig wohnen sie, des Äthers Blühende Sterne, die Heiligfreien.
im Licht.
D i e große Patmoshymne, die dem Landgrafen von Homburg gewidmet ist, erfährt ihre höchste Steigerung im Anruf an den Landgrafen; es ist zugleich der Anruf des ewigen Vaters, der Christus wie die antiken Götter unter seine Söhne rechnet, und der als Gewittergott im Blitz die Taten der Erde entscheidet. So nimmt der ewige Vater das Ganze der H y m n e zusammen und lenkt den Blick des Landgrafen auf die Mittelgestalt: auf Christus, den Gewittertragenden, den die Einfalt des Jüngers auf Patmos geliebt hat (2, 1; 1 7 1 ) :
Denn Eines weiß ich, Daß nämlich der Wille Des ewigen Vaters viel Dir gilt. Still ist sein Zeichen Am donnernden Himmel. Und Einer stehet darunter Sein Leben lang. Denn noch lebt Christus. Was aber Christus im R a u m des Ewigen bedeutet, daran arbeitet Hölderlin in späteren Patmos-Entwürfen immer weiter. U n d immer kühner wird die Lichtapotheose um die Christusgestalt ( 2 , 1 ; 1 8 6 — 1 8 7 ) :
Nemlich Leiden färbt Die Reinheit dieses, die rein Ist wie ein Schwerdt ... denn nie genug Hatt er, von Güte, zu sagen Der Worte, damals, und zu bejahn schneeweiß. Aber nachher Sein Licht war Tod ... Es sahen aber, gebückt, deß unerachtet, vor Gott die Gestalt Des Verleugnenden, wie wenn Ein Jahrhundert sich biegt, nachdenklich, in der Freude der Wahrheit Noch zuletzt die Freunde ... Die Steigerung geht über rein wie ein Schwerdt
zum Schneeweiß
und zur
Freude
der Wahrheit. D a m i t erschließt sich im R a u m des Ewigen ein Lichtmysterium, das über den Begriff des Reinen hinausführt. Wenn die H y m n e : Wie wenn am Feiertage sich steigert vom reinen Herzen zum ewigen Herzen, dann läßt sich jetzt bereits andeuten, was für neue Bereiche damit sich auf tun: das Schneeweiße, das Wahre. Mehrere Späthymnen stoßen in diesen höchsten Bereich vor. So heißt es in dem Fragment Die Titanen Lesarten gibt (2, 2;
bei Hellingrath I V , 209, während Beißner die Stelle nur in den 850):
Das ewige
Herz
in Hölderlins
Dichtung
305
Wenn aber ist angezündet Der geschäftige Tag Und rein das Licht und trunken Die Himmlischen sind Vom Wahren, daß ein jedes Ist, wie es ist, Muß unter Sterblichen auch Das Hohe sich fühlen. Der Begriff des Ewigen fehlt hier, dafür stehen die Unsterblichen. Was sie erfüllt, ist das Wahre, es ist eine Lichttrunkenheit ohnegleichen, es ist Sein selbst, wie es ist. Dieselbe Zone der Unsterblichen, abgehoben von der Scham der Sterblichen, erreicht die H y m n e Germanien. Germania ist hier als Priesterin, stillste Tochter Gottes, in ihrer tiefen Einfalt herausgehoben aus dem Kreis der Sterblichen in den mythischen Bereich, darum wird ihr Offenbarung zuteil (2, 1; 151): Nicht länger darf Geheimnis mehr Das Ungesprochene bleiben . . . Wo aber überflüssiger, denn lautere Quellen Das Gold und ernst geworden ist der Zorn an dem Himmel, Muß zwischen Tag und Nacht Einstmals ein Wahres erscheinen. Dreifach umschreibe du es, Doch ungesprochen auch, wie es da ist, Unschuldige, muß es bleiben. Ein Mysterium, abermals ein Lichtmysterium: flüssiger wie flüssiges Gold, reiner wie lautere Quellen. Der Zorn am Himmel deutet auf den Blitz des Donners vor. Es ist ein Blitz des Wahren, der Verkündung werden will, ohne daß sein Geheimnis herausgeschwätzt wird, wie bei Empedokles, das Wahre als das göttliche Sein selbst, wie es da ist. Vergangengöttliches und Zukünftiges. Allliebend wird die Priesterin genannt. Von des Herzens Liebe spricht die H y m n e zu Beginn. Staunen herrscht bei den Göttern über Germanias stille Einfalt: Weil Eines groß an Glauben, wie sie selbst. D a r u m auch wird sie die Unzerbrechliche genannt. Was anders also kann diese Allliebende, die das Wahre verkündet, ohne sein Geheimnis zu verraten, auszeichnen als ein unzerbrechliches, ein ewiges Herz. Eine letzte Steigerung bedeutet die H y m n e Versöhnender, dreimal versucht, dreimal Fragment geblieben, dann 1802 umgeformt zur Friedensfeier, die erst 1954 aufgetaucht ist 2 ). (Besitz D r . Martin Bodmer, Zürich.) D a heißt es eingangs in den E n t w ü r f e n : Wenn aber ein Gott erscheint, auf Himmel, Erd und Meer Körnt allerneuende Klarheit. In der Friedensfeier (3, 533): Ein Weiser mag mir manches erhellen; wo aber Ein Gott noch auch erscheint, Da ist doch andere Klarheit. 2 ) Die Streit-Literatur über die Friedensfeier darf hier außer Betracht bleiben. Von der Liditsymbolik aus ist es unzweideutig, daß hier Götter im Sinn des Göttlidi-Klaren gemeint sind, nicht Halbgötter oder dämonische Menschen wie Napoleon. Dazu zuletzt Beißner in der wiss. Ausgabe der Friedensfeier im III. Band (Schluß).
20 Markwardt-Festschrift
Hermann
306
Pongs
Es ist die Aura des Ganz Anderen, die hier als Klarheit von vornherein begriffen ist. Die numinose Licht-Klarheit des Gottes. Diese Klarheit überglänzt die ganze Hymne, die ein einziges Wunschbild entfaltet: die Himmlischen zum Friedensfest zu laden. In der 8. Strophe der Friedensfeier taucht dann auch der Begriff des Ewigen auf: Die Unerzeugten, Ew'gen. Solche ü'berhelle Klarheit ist um die Himmlischen, daß die Menschen sie nicht ertragen. Schon im Entwurf heißt es (2,1; 135): Zu schwer ist jenes zu fassen. Denn wäre der es gibt nicht sparsam, Längst wäre vom Segen des Herds Uns Gipfel und Boden entzündet. Und auch schon im Entwurf, der um die Gestalt Christi gebaut war, findet sich das mythische Bild des Gott-Mittlers: Und die lieben Freunde, das treue Gewölk, Umschatteten dich auch, damit der reine, kühne Durch Wildnis mild der Strahl von oben kam o
Jüngling.
Wieder das alte Gewitterbild, abgemildet: Christus im Kreis der Jünger, von ihren menschlichen Schatten abgeschirmt, damit der Strahl milde und ertragbar bleibt. Welche übergewaltige Aufgabe: das Fest für alle Götter zu feiern. Einer ist immer für alle. Mir gleich dem Sonnenlichte! (Hellingrath liest: „Sei gleich dem Sonnenlichte".) Offenbar überstieg es Hölderlins Kraft. Erst die Friedensfeier gibt, im Gemeinschaftsfest des Friedens, das Liebeszeichen, unter dem sich die Wunschbilder ordnen. Zum Gottes-Sohn, dem Ruhigmächtigen, tritt der Vater, der Geist der Welt, der stille Geist der Zeit, der Fürst des Festes. Eine einzige himmlische Dreifaltigkeit. Es hält ein Ahnen die Seele, Vom goldenen Lichte gesendet. Es ist der Liebe Gesetz, und Gespräch und gemeinsamer Gesang gastfreundlich untereinander in Chören gegenwärtig verbürgt, daß des Dichters Herz solchen Lichtbegegnungen standhalten kann. Alles gefällt jetzt, Einfältiges aber am meisten (3, 537). Damit wenden wir uns zu den Schlußversen der Hymne zurück: Und tief erschüttert Mitleidend,
bleibt
eines Gottes das ewige
Herz
Leiden doch
fest.
Jetzt läßt sich die paradoxe Tiefe dieser Verse wohl genauer deuten. Es ist die Paradoxie eines Lichtmysteriums, in dessen Mitte, wie meist bei Hölderlin, die Gewittermythe steht und der Blitzstrahl, der segnet oder tötet. Dem Blitzstrahl des Göttlich-Wahren standzuhalten, ist die heroische Schicksalshaltung Hölderlins durch sein ganzes Leben. Dazu bedarf es der starken Einfalt eines reinen Herzens. Jene Einfalt, vor der die Götter staunen: weil Eines groß im Glauben wie sie selbst. Die Grundeinverstandenheit mit der Schöpfung, aus der Tiefe eines Geistgemüts, das ebenso demütig ist mit entblößtem Haupte, wie es hochgemut ist aus dem unmittelbaren Zugriff seines Ursprungs mit eigner Hand. Das alles aber ist nicht genug. Die Spannungen, die gefordert werden, sind sozusagen überlebensgroß: eines Gottes Leiden mitleidend. Daß hier die Leiden des Lebens, der göttliche Zorn der Natur aus dem Prosaentwurf emporgehoben sind in den Oberbegriff: Gottes Leiden, beruft unmittelbar die Christusgestalt. Die Knechtsgestalt aus der 4. Strophe der Hymne in ihrem
Das ewige
Herz
in Hölderlins
Dichtung
307
biblisdien Tonfall. Christus, der in immer anderen Bildern durch die Späthymnen geht; noch dm Entwurf zum Versöhnenden (2, 1; 132): Da schickte schnellentzündend der Vater Das liehendste, was er hatte, herab, Damit entbrennend. Der Gewittertragende der Patmoshymne, der heiligkühne Strahl zu Menschen aus der Friedensfeier. Der, dessen Licht Tod ist, schneeweiß. Von dem es heißt in Lesarten zum Einzigen: daß zu bleiben in unschuldiger Wahrheit ein Leiden ist (Beißner 2, 2; 745). Es ist der Inbegriff alles Leids der Welt. Solchen Erschütterungen des alliebenden, allmitleidenden Herzens standzuhalten bedarf es: des ewigen Herzens. Zu Krystall gehärtet unter den Strahlen des göttlichen Lichts, unzerbrechlich gegenüber dem Auftrag, das Wahre auszusagen, ohne sein Geheimnis zu verraten. Das Ewige ist mehr als das vom Gemeingeist getragene, vom Maß der reinen Laute, es ist das Sein selbst, wie es ist. Hölderlin hat unmittelbar dazu noch etwas an den Rand der Handschrift geschrieben (Tafel VI bei Lachmann): Die (dlurdigestr. höhere) Sphäre, die höher ist als die des Menschen, diese ist der Gott." Als wollte er den Schlußversen noch ein Gewicht zulegen, damit sie in ihrer paradoxen Tiefe verstanden werden. Es ist dieselbe Tiefe, die Goethe anrührt mit der Maxime 314 (1826): Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen. Der Blitz der Wahrheit ist immer Schicksalsprobe auf Tod und Leben. Hölderlins Lichtsymbolik ist hier gesteigerte Symbolik in Goethes Sinn. 3 Die Welt als Labyrinth ist der wirkungsvolle Titel eines Buches, in dem Gustav René Hocke den Manierismus der Gegenwart darstellt, 1957,3) in der Z wielichtbeleuditung eines Weltstils des Antiklassischen und eines Krisen- und Übergangsstils der Moderne. Das labyrinthische Dunkel als Signatur der Zeit mit seinem ambivalenten Zwielicht allen Werten gegenüber ruft die Frage auf, wie weit Hölderlins Lichtmysterien überhaupt nodi von einer labyrinthischen Gegenwart wahrgenommen werden. Hölderlins ewiges Herz kann auch hier zum Prüfstein werden. Martin Heidegger, nachdem er in seiner Kantinterpretation die Frage nach den Grundvermögen des Gemüts gestellt hatte, hat sich danach der Dichtung zugewandt: Hölderlin, Rilke, Trakl. In einer besonderen Schrift hat er die Hymne: Wie wenn am Feiertage gedeutet 1941. Er hält sich an Hellingraths Text und so gipfelt die Hymne für ihn im ewigen Herzen. Schon das reine Herz ordnet er dem Heiligen zu: 3 ) Gustav René Hocke Die Welt als Labyrinth, Rowohlt 1957, behandelt vorwiegend die bildende Kunst; der ergänzende Literaturband ist soeben 1959 erschienen. Weitere Literatur: Max Bense Die Theorie Kafkas, 1951, Hermann Pongs Im Umbruch der Zeit, 3. Aufl. 1958, Wladimir Weidlé Die Sterblichkeit der Musen, Stuttg. 1958 (Originaltitel: Les Abeilles d'Ariste 1955 — Mythe des Hirten Aristäus nach Vergib Gedicht vom Landbau 4. Buch: Wiedergeburt der Bienen aus den Eingeweiden der geopferten Stiere). Zu Weidlés Buch: Merkur 132, 154 ff. und H. Pongs Franz Kafka, Dichter des Labyrinths 1960 (W. Rothe. Heidelberg). Dort weitere Literatur.
20*
308
Hermann Pongs
Herz bedeutet Jenes, worin sich das eigenste Wesen dieser Dichter sammelt: die Stille der Zugehörigkeit in die Umfängnis des Heiligen. Das reine Herz ist nicht moralisch gemeint, das Wort nennt die Art des Bezugs und die Weise der Entsprechung zur „allgegenwärtigen Natur". Wenn die Dichter innebleiben in der Allgegenwart der mächtigschönen Natur, dann ist auch jede Möglichkeit genommen, nur auf das Eigene zu pochen und sich in dem zu vermessen, was das Gesetz ist. Ihre Hände sind „schuldlos". Und ihre höchste Entschiedenheit, das dichtende Sagen, sieht dann aus wie das unschuldigste aller Geschäfte (26). So rühmt nun Heidegger das ewige Herz als einmalig in Hölderlins gesamter Dichtung. U n d seine Aufgabe ist einmalig. Denn das Heilige ist die Schrecknis der Allerschütterung und das Unmittelbare. So bedarf es der Vermittlung. Dadurch aber droht das Wesen des Heiligen in sein Gegenteil verkehrt zu werden. Das Unmittelbare wird zum Mittelbaren. Das Heilige droht unfest zu werden. Hier beginnt die Aufgabe des ewigen Herzens, indem es eines Gottes Leiden mitleidet. Es durchdringt sich als Innigkeit mit dem Leiden des Heiligen, das seine Wahrheit ins Mittelbare verstrahlt, so anfänglich leidet. Aufgabe des ewigen Herzens: Das Heilige in seinem Festbleiben zu sagen, als das Kommen des Anfangs (30). Hier bereits beginnt die Zwielichtbeleuchtung Heideggers, der auf ein Wort Hölderlins zur Pindarübersetzung zurückgreift (Hellingrath V, 276). Das Unmittelbare streng genommen ist für die Sterblichen unmöglich wie für die Unsterblichen. Heidegger folgert, daß schon der heilige Strahl das Heilige zum Mittelbaren entäußert. D a r a n verstärkt sich die Vorsicht des fragenden Philosophen gegenüber der Symbolsprache des Dichters, auch gegenüber den Symbolbildern Hölderlins, er scheint zu fürchten, daß dadurch die Urprobleme des Seins verdeckt werden. Trotzdem er das ewige H e r z der H y m n e als etwas Einmaliges rühmt, zieht ihn zugleich der von Beißner betonte Fragmentcharakter der H y m n e an: Das Gedicht ist in mannigfacher Hinsicht unvollendet. Die Gestaltung des Schlusses zumal bleibt unbestimmbar. So folgt er Beißner im Abtrennen der drei letzten Zeilen f ü r eine neue Strophe. Heidegger wagt sogar einen Eingriff in den Text: er hebt den Bedingungssatz auf, der die drei letzten Zeilen mit dem Ganzen der siebenten Strophe verbindet und setzt statt des Kommas einen Punkt. Er begründet das damit, daß das Komma nicht in der Urschrift stände. Es steht zwar nicht in der dichterischen Niederschrift, wo Hände am Zeilen-Ende, aber es steht eindeutig in der Prosafassung, wo Hände mitten in der Zeile. Das ist also eine ungerechtfertigte Korrektur. Höchst überraschend ist es nun, daß Heidegger zwar den Fragmentcharakter wie Beißner betont, daß er aber den Stimmungsumschlag: Weh mir! mit seinen Selbstbeschuldigungen gar nicht in Betracht zieht. Vielmehr endet f ü r ihn die H y m n e mit dem ewigen Herzen: Alle Unvollendung ist hier nur Folge des Überflusses, der aus dem innersten Anfang des Gedichtes quillt und das bündige Schlußwort verlangt. Jeder Versuch, das Gefüge der Schlußstrophe nachzuzeichnen, darf nur darauf trachten, Solche zu wecken, die hören können was das „Wort" des Gedichtes ist (30). Heidegger nennt dies Wort das rufende. Hölderlins Dichtung ist jetzt anfängliches Rufen, das vom Kommenden selbst gerufen, dieses und nur dieses als das Heilige sagt (32).
Das ewige Herz
in Hölderlins
Dichtung
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Ein bündigeres Schlußwort kann es nun nicht geben als die Schlußverse der erhaltenen H y m n e . D e r Philosoph in H e i d e g g e r überläßt es hier dem Fragmentarischen schlechthin, die Urprobleme in die D u n k e l h e i t z u rücken; die Frage, die er beim Zurückführen des Wortes Natur auf griechisch Physis aufwirft, die Frage nach dem Lichten jener Lichtung, in die herein überhaupt etwas erscheinen kann, läßt er o f f e n , ohne den A n t w o r t e n ganz z u trauen, die H ö l d e r l i n s Lichtsymbole geben. D i e Folge solcher Unentschiedenheit 4 ) ist es, d a ß Heideggers H ö l d e r l i n d e u t u n g ausgesprochen zwiespältige Wirkungen hervorgerufen hat, m a n k a n n sie nur als l a b y rinthische Wirkungen bezeichnen. Z w e i Schweizer Gelehrte sind es, die hier repräsentativ stehen können für unsere krisenhafte Gegenwart. W a l t e r Muschg, Ankläger einer Zerstörung der deutschen Literatur 1956, v e r w i r f t Heideggers Dichtungsdeutung als zerschwatzte Dichtung. Für Muschg ist es darum ausgemacht, daß H ö l d e r l i n s H y m n e nach Beißners kritischem T e x t z u lesen ist, d a ß also noch die achte und neunte Strophe f o l g e n sollten mit dem durch die Götter v e r w o r f e n e n falschen Priester. Hölderlin erschauerte vor dem Wahnsinn als der Strafe der Götter. D a n a c h ist diese H y m n e keine H y m n e , sondern ein Verzweiflungsschrei, Ausdruck für das, w o r a u f es Muschg a n k o m m t : für die Tragik des Dichters. Muschg macht H e i d e g g e r den V o r w u r f , daß er für diese Tragik kein Verständnis habe. Es sei eine plumpe Fälschung, die H y m n e als Zeugnis für H ö l d e r l i n s Glauben an die Mittlerstellung des Dichters anzusehen. Die zerbrechende Schlußstrophe stellt für jeden, der lesen kann und will, den messianischen Glauben Hölderlins in Frage (97).
4 ) Das Zwielichtige der Heideggerschen Philosophie ist neuerdings in verschärfte Beleuchtung gerückt. Die kritischen Einwände ziehen sich um folgende drei H a u p t p u n k t e zusammen: 1. Er klammert die N a t u r aus (weil sie in unsrer Verfallszeit im Umkreis der Umwelt nicht anzutreffen sei — Vom Wesen des Grundes, 1929). Folge ist, daß er nicht die konkrete Existenz trifft, sondern ein Abstraktum: ins Nichts geworfener Mensch, während jeder durch Eltern in seine Mitwelt geboren wird, männlich oder weiblich organisiert und durch vererbtes Unbewußtes mitgelenkt (Löwith 61 ff., Fürstenau 172 ff., Kuhn 219 ff.). Die erst 1950 eingeführte Einfalt der Vier; Erde, Himmel, Götter, Sterbliche, geht auf Hölderlin zurück und wirkt als aus der Überlieferung aufgegriffen (Fürstenau 181). 2. Er sieht Geschichte nur als Verfall, dadurch klammert er die produktiven Kulturkräfte aus, verschüttet die Dynamik der Geschichte (Fürstenau 176), übersetzt die Lehre vom Sündenfall in das Verfallen an die Welt des Seienden (Löwith 52). Dem Tiefenpsychologen erscheint er darum asketisch-neurotisch (Kuhn 219 ff.). 3. Er mythisiert das Sein als Geheimnis, als Seinsgeschick (Löwith 66, Fürstenau 180, Simon 113). Dadurch behindert er die Entfaltung (Fürstenau), diffamiert jede soziale Bindung (von Krokow 144). Literatur: Max Müller Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 1949; Karl Löwith Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, 1953; Alexander Kühr Neurotische Aspekte bei Heidegger und Kafka (Z. f. psychosomatische Medizin I 1955, 217 ff.); Peter Fürstenau Heidegger, 1958; Christian Graf von Krokow Die Entscheidung bei Ernst Jünger, Carl Schmitt, Heidegger, 1958; Simon Moser Metaphysik einst und jetzt, 1958. Manfred Thiel Umstilisierung der Wissenschaft u. die Krise der Welt, 1959. Zur Hölderlindeutung: Beda Allemann Hölderlin — Heidegger, 1954; Zur Rilkedeutung: Else Buddeberg Denken und Dichten des Seins, 1956. Zur Dichtungsdeutung überhaupt: Walter Muschg Zerstörung der Literatur, 1956, 93 ff. Die Frage des ewigen Herzens hat Heidegger festgehalten. Die Schrift Der Satz vom Grunde, Pfullingen 1957, beruft zweimal den Herzensgrund (162, 207). Seine 12 Vorlesungen enden im Begriff vom Seinsgeschick, wobei der Mensch aufs Spiel gesetzt wird. Heideggers Schlußsatz ist wie aus der Hölderlinhymne abgezogen: Sein als gründendes hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt — (188).
310
Hermann
Pongs
Muschg übergeht, daß Hölderlin hier aus dem symbolischen Dichtertum der Hymne heraustritt in ein privates Ich, mit seinem persönlichsten Leid: Aber wenn von selbgeschlagener Wunde das Herz mir blutet . . . und die Unruh und der Mangel mich treibt zum Überflusse des Göttertisches . . . Schon die Tatsache, daß Hölderlins rhythmische Umschrift diese Selbstklagen herausläßt und dann bei dem ersten matten Umriß eines Tantalusschicksals abbricht, hätte Muschg abhalten können, hier die wirkliche Hölderlinsche Tragik zu sehen. Schwächezustände sind gerade das nicht, was Muschg Hölderlin zuspricht: tragische Größe. Diese Größe findet sich im Ringen um die Empedoklesgestalt. Die Verwechslung von Schwäche und Tragik aber ist ein Merkmal des modernen Manierismus und gehört in die Welt als Labyrinth. Sie setzt den Einbruch der Freudschen Tiefenpsychologie voraus, die mit ambivalenter Haß-Liebe, mit Minderwertigkeitskomplexen, mit selbgeschlagnen Wunden und mit unruhigem Welthaß aus Mangel arbeitet. Bei Muschg hat man gradezu den Eindruck, als begrüßte er die zerbrechende Schlußstrophe, weil sie seine Theorie von der Tragik des Dichters so sinnfällig zu bestätigen scheint, oder auch die Theorie von der Zerstörung der Literatur. Hatte nicht Muschg schon in seinem Gotthelfbuch Freuds Schatten überall beschworen? Was hier seine Triumphe feiert, ist das Freudsche Mißtrauen, das Martin Buber das stärkste Symptom der Krankheit des Menschen von heute nennt. Zwischen dem Wesen Mensch und dem Urgrund des Seins ist die Unmittelbarkeit verletzt (Stuttg. Ztg. 22. Dez. 1956)®). Noch ein andrer, jüngerer Schweizer Gelehrter hat sich in die Probleme der Heideggerdeutung eingeschaltet, Beda Allemann mit dem Buch: Hölderlin und Heidegger, 1954. Er folgt mit ganz andrer Sorgfalt dem rfefdringenden philosophischen Anliegen Heideggers. Er macht den etwas waghalsigen Versuch, Heideggers sogenannte Kehre, auf die wir hier nicht einzugehen brauchen, in Parallele zu setzen mit der vaterländischen Umkehr Hölderlins. Diese deutet er auf neue Weise als Reinigung durch Scheiden. Aus der Gottnähe, aus der Idee eines Mittlertums zwischen Göttern und Menschen trete Hölderlin in das Zwischen, in die Dauertrennung zwischen Göttern und Menschen. Allemann nennt das den heroischen Abstieg im Kampf gegen den Sog der scheidenden Götter (149). Das Erstaunlichste ist es nun, daß für Allemann dieser eigentliche Hölderlin erst Ende 1801 beginnt, erst nach der Rheinhymne, die am Schluß die Versöhnung feiere (128). J a , Allemann wagt sogar zu folgern: Die vaterländische Umkehr erfüllt sich gewissermaßen im Zusammenbruch (168), und so rühmt er besonders die Dichtung nach dem Zusammenbruch, rührend in ihrer Einfachheit. Erst der umnachtete Hölderlin sei der eigentliche, der sich ganz von der idealistischen Empedokles-Stufe befreit hat. So ist es gar nicht im Sinn Allemanns, daß Heidegger die Hymne Wie wenn am Feiertage sich als erste zur Ausdeutung gewählt, weil sie so weit vor der vater5 ) Walter Muschg Die Zerstörung der deutschen Literatur, Bern 1956, 2. Aufl. 1958. Der labyrinthische A n s ä t ' in Muschis Denken t r i n am deutlichsten in seinem Weinheberaufsatz hervor, S. 83: Mfkcllose Form rV in 7p'fn der Zertrümmerung nicht nur unzeitgemäß sondern dem Geist der Kun't zuwider. Weinheher läßt so oft kalt, weil er zu gesund ist, weil ihm die Innerlichheit fehlt... Er weiß nichts vom Mißtrauen gegenüber dem Wort, nichts von der Unruhe üher die Fremdheit zwischen Seele und Sprache, die der modernen Dichtung zugrundeliegt. Meine Stellungnahme dazu im Jahrbuch der Weinhebereesellschaft 1958. Zur Lichtsymbolik sei auf meinen Aufsatz im Studium Generale 1960 hingewiesen.
Das ewige Herz in Hölderlins Dichtung
311
ländischen Umkehr liege. Allemann nennt das grundsätzliche Gewaltsamkeit Heideggers, das Heilige Hölderlins auf die Lichtung hin zu interpretieren (128). Damit kommt er dann auch auf die Hymne selbst zu sprechen. Dreimal muß er herausheben, daß das ewige Herz nur an dieser Stelle in Hölderlins Dichtung vorkommt (116) (125) und von Heidegger sogar ausdrücklich als einmalig herausgehoben wird (174). Es wird für Allemann nur zum Anlaß, Heidegger einen Vorwurf zu machen: die Tendenz zur Vereinzelung, Isolierung des bedeutenden Worts. So entzieht Allemann das ewige Herz dem Gesamtzusammenhang, in den es gehört und in den es auch Heidegger gerückt hat. Aber seine Angriffe richten sich gegen die ganze Hymne. Er nennt es eine Vermessenheit (166), ja eine Blasphemie (135), daß sich hier der Dichter als Mittler zwischen Götter und Menschen stelle. Das ganze Bildgefüge des unter Gottes Gewittern stehenden Dichters, das im ewigen Herzen gipfelt, nennt Allemann ein Bild von dichterischer Inferiorität (25), es sei ein Rückfall in eine allegorische Ausdrucksweise, die dem späten Hölderlin fern liege. Es trifft sich höchst bezeichnend, daß fast zur gleichen Zeit mit Allemanns Buch die Allgemeine Stilistik von Herbert Seidler erschien (1953). Hier gipfelt das Kapitel Das sprachliche Bild in dem berühmten Gewitterbild der Hymne Wie wenn am Feiertage. Es wird als Höchstform sprachlicher Gestaltungskraft herausgestellt (314). Seidlers Stilistik nun beruht auf der Grundlegung: Die Gemüthaftigkeit der Sprache ist das Kernproblem der Stilistik (17). Die Folgerung liegt auf der Hand, daß Allemann sich dieser Grundlegung entzogen hat. Es gehört zum modernen Manierismus, das Gefühl zu verfremden. Gottfried Benn, in der Schrift Über mich selbst (1956), erklärt eindeutig: Das Gemüt? Ich persönlich besitze nichts davon (48) — Gemüt, was fange ich damit an (49). Oder Gustav René Hocke zitiert in der Welt als Labyrinth den exzentrischen Maler Salvador Dali: Gefühl habe ich nie gehabt (90). Offenbar gehört Allemann zu der Generation, die in den Maßstäben des modernen Manierismus denkt. Infolgedessen rührt ihn nur noch der fast umnachtete Hölderlin an, der Diditer der Spätfragmente nach 1801. Und so kann man wohl sagen: Allemann liefert Hölderlin an den modernen Manierismus aus, oder auch an die Welt als Labyrinth. Die Widersprüche, in die sich Allemann verwickelt, berühren bereits den Grundbegriff des Manierismus: das Absurde. Es ist absurd, die Großdichtung Hölderlins, die unter dem Stern Diotimas steht, als allegorisch oder dichterisch-inferior abzutun. Es ist auch absurd, Heideggers Weg in die Dichtung so verständnisvoll zu begleiten und dabei anzunehmen, daß Heidegger die Hymne Wie wenn am Feiertage als Dichtung des Dichters feiert, während es sich um dichterisch inferiore Bilder handle. Und so ist es absurd, mit anti-idealistischem Fanatismus einen Schnitt zu machen zwischen dem Hölderlin, der mit allen mythischen Bildkräften um Lichtmysterien ringt, mit den Grundbegriffen des Reinen, des Ewigen, des Wahren, des Klaren, und zwischen dem Hölderlin, der sich durch Nüchternheit vor solcher Lichtgewalt ins Gleichgewicht zu bringen sucht. Hier sei Bruno Markwardts Geschichte der deutschen Poetik angeführt (III, 185 ff.) mit ihrer weitsichtigen Gesamtdeutung Hölderlins: Hölderlin redet zwar sich selbst und den andern unermüdlich Trost zu, daß der Dichter den herben Bezug auf das Sinnenhafte nicht entbehren, ja, daß er ihn nützen könne und müsse. Aber seine eigene Zartheit und ein Zug zum Abstrakten, der neben
Hermann
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Pongs
seiner Begeisterung nicht übersehen werden sollte und ihm jenes klassische ,Nüchtern'Sein erleichterte, aber auch Schwankungen zwischen Mythischem, Symbolischem und Allegorischem mit sich brachte, machen ihm den eigenen Glauben und das eigene Befolgen solcher Lehren schwer. Eine wesentliche Zuflucht bietet der Begriff einer Totalität des Lebens und der Begriff des organischen ,Ganzen des Kunstwerks', in das auch das an sich ,Unpoetische' harmonisch und nach planvoller künstlerischer Ökonomie eingefügt werden kann, so daß es als Glied dieses Ganzen selbst ,poetisch wird'. Eine Möglichkeit, solche Zuflucht vor der derben oder ,eiskalten' Alltäglichkeit des Lebens aufzusuchen, bietet das Recht und die Pflicht des Dichters, das Widerstreitende und Widerstrebende auszugleichen und anzugleichen und endlich ,aufzuheben', etwa in Hegels Sinne im höheren Dritten. Der Hölderlinsche Begriff der ,Einheit des Einigen' ergänzt sich durch den Begriff der ,Einheit der Entgegensetzung' und erfährt seine Übergipfelung im Begriff des ,Göttlichen, Harmonischentgegengesetzten'. D a m i t wenden wir uns nochmals zum Ewigen Herzen zurück, von dem diese Untersuchung ausgegangen war. Nachdem Allemann es beiseite geschoben, sei an seinen eignen Widersprüchen die einmalige Großartigkeit der Hölderlinschen Fügung ins Licht gehoben. Allemann zitiert (124) das Fragment einer Späthymne (Beißner 2, 1; 2 5 1 ) :
und mich leset o Ihr Blüten aus Deutschland, o mein Herz wird Untrügbarer Kristall an dem Das Licht sich prüfet wenn Deutschland Dazu bemerkt er (126): Indem das Herz der Sterblichen kristallen den göttlichen Anruf aushält, wird es nicht nur zur Stätte der Prüfung des Lichts, sondern auch zum Ort des Widerhalls von den Göttern her. Das trifft so genau zugleich auf das ewige Herz
zu, daß Allemann selbst Heideggers T e x t vom ewigen Herzen heranzieht und
erklärt: Das Herz ist das kristallen Bleibende auf dieser Erde (125). Aber er behauptet: Solches Echo ist nur möglich auf Grund der reinen Unterscheidung und des Verzichts auf empedokleische Übereilung. Die Größe des ewigen Herzens ist es, zugleich kristallen hart und tieferschüttert mitleidend (des Gottes Leiden) zu sein. Die Größe fällt ihm zu in einer Weltstunde, die nicht ein scheidendes Zeitalter mit dem Sühnetod des Empedokles beschließt, sondern die vom Dichter beides: Hochgemutheit und Demut fordert, aus der Tiefe des ehrfürchtig erschütterten und die Zukunft heranrufenden Geistgemüts, dessen tiefste Einfalt im Herzen Gottes ruht. V o n Übereilung ist hier nichts zu spüren, durch die ganze H y m n e nichts. Noch weniger von Blasphemie oder Vermessenheit. Vielmehr vollzieht sich im Gewitterbild derselbe großartige mythische Vorgang, den Hölderlin nach dem Frieden von Luneville 1801 im Hymnenfragment
Versöhnender
so einfügt (2, 1; 130):
Fern rauschte der Gemeinde schauerlicher Gesang, Wo heiligem Wein gleich, die geheimeren Sprüche Gealtert aber gewaltiger einst, aus Gottes Gewittern im Sommer gewachsen, Die Sorgen doch mir stillten ...
Das ewige Herz in Hölderlins
Dichtung
313
Es ist dieselbe Mythenphantasie Hölderlins und dasselbe Lichtmysterium im Gewittermythos. Hier ist es die Gemeinde in der sonntäglichen Andacht, die erschauert und die Sprüche Gottes auffängt. In der Hymne ist es der Dichter, der getragen von des gemeinsamen Geistes Gedanken, fern jeder Hybris, von Erinnerung erbebt und mit entblößtem Haupt sich dem Schicksal darbietet und wie im Deutschen Gesang schaudernd den Segen spürt, der tödlich sein kann. An das Volk denkt er ebenso vaterländisch wie der Dichter des kristallenen Herzens an Deutschland. Allemanns modernes Stilgefühl aber ist immer wieder angezogen vom Tantalusbild, das ihm wie Muschg den Hebel hergibt, die Einheit der Hymne aufzusprengen (117, 135). Hier macht es ihm nichts aus, daß der matte Bildumriß der TantalusBildungsmythe vom falschen Priester, der ins Dunkle geworfen wird, sich mit dem Gewittermythos an Bildkraft gar nicht vergleichen läßt; und daß Hölderlin erlahmt, ehe er dem Bild Eigenwuchs hat geben können. Hölderlin gehört zu den Dichtern des deutschen Idealismus, die das Urphänomen des Lichtes schöpferisch maclit, so daß seine ganze Dichtung eine einzige Verherrlichung des Lichts genannt werden kann. Dagegen die labyrinthische Verdunkelung der Lichtwelt, wie sie mit Diotimas Tod für Hölderlin überhand nimmt, lähmt und zerstört ihn. E r leidet wahrhaft die Leiden des Gottes mit, mit dessen Hingang für Hölderlin die Götter aus der Welt zurückgeschwunden sind. Darin grade unterscheidet sich Hölderlin bis in die letzte Metapher von den Dichtern unserer Gegenwart, die nur noch unter labyrinthischen Bedrängungen schöpferisch scheinen. So sei zuletzt dem ewigen Herzen Hölderlins die labyrinthische Abwandlung davon in der Gegenwartslyrik gegenübergestellt. D a begegnen wir dem mensdilichen Herzen als dem rauchigen Herzen und dem All-Herz der Natur als dem gläsernen Erdherz. Wir wählen zwei eben erschienene Gedichte von Hans Magnus Enzenberger (Jahrgang 1929), einem jungen Dichter, dem man originale Sprachkraft zusprechen muß ( M e r k u r 132). Aus der Ode an
niemand: Dein rauchiges herz ist zeuge einziger könig, im wind dein auge aus trauer . . . dein barer blick weht hin über dein altes künftiges reich, und bewahrt im rauch, was wahr ist, im wind auf.
Aus dem Gedicht: Rache
für ein gläsernes
Herz:
erde, auch du bist nicht mehr dein gläsern herz wenn es zerspringt birst dein
basaltener
ein schindaas aus muschelkalk
rauchend
gefeit
leib aus
und pluton
pech ...
314
Hermann
Pongs
erdherz, der dich geblasen hat aus einem glashauch dankt es dem zornigen schwärm der schwarze glaser, verbirgt im nebelglanz seinen gram und weiß keine räche. Der Schwarzseher-Blick des labyrinthischen Dichters ebnet die Werte ein, das Wahre hängt im Rauch ebenso wie das Königliche, es gibt nur Monotonie des Rauchigen. Diese Monotonie kann beliebig fortgehen, sie kennt weder menschliche noch dichterische Gipfel mehr. Und so ist das Erdherz als Glasgeblase des schwarzen glasers von derselben monotonen Schicksallosigkeit, ob es im Nebel hängt oder zum Zerspringen gebracht wird im Atomzeitalter. Ein Vergleich mit dem ewigen Herzen Hölderlins erübrigt sich. Wohl aber sollte die Hölderlinforschung darauf achten, daß sie nicht Maßstäbe einer labyrinthischen Zeit in die Hölderlinzeit zurückwendet und nicht ohne Not das ewige Herz aus dem Hölderlinschen Schicksalsraum herausnimmt.
ZUM ZERFALL DES NATURALISTISCHEN STILS Ein Vergleich zweier Fassungen des Meister von Johannes Sdilaf
Oelze
Helmut Prascbek • Berlin
1887: 1889: 1890: 1891:
W. Bölsdie Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie — A. Holz/J. Schlaf Papa Hamlet; 20. Oktober Premiere von Vor Sonnenaufgang von G. Hauptmann; G. Hauptmann Das Friedensfest — G. Hauptmann Einsame Menschen; M. Halbe Freie Liebe; A. Holz/J. Schlaf Die Familie Selicke — A. Holz Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze; G. Hauptmann Kollege Crampton —
1891/92: G. Hauptmann Die Weber — 1892:
A. Holz/J. Schlaf Neue Gleise; J. Schlaf Meister
Oelze.
*
Wie aus diesen wenigen Daten hervorgeht, erreichte der deutsche Naturalismus, der kunsttheoretisch die größtmöglichen Konsequenzen aus dem vorwiegend technisch und naturwissenschaftlich bedingten Weltanschauungssystem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ziehen und im Kunstschaffen zu verwirklichen versuchte, um 1890 seinen Höhepunkt, nachdem er durch die antiepigonalen, kunstprogrammatisch aber widerspruchsvollen Frühnaturalisten (Alberti, Bleibtreu, Conrad, Conradi, Hart, Kretzer u. a.) vorbereitet worden war. Johannes Sdilaf ist mit dem Naturalismus untrennbar verbunden. Er gehörte bereits 1886 zu dem Kreis junger Talente (u. a. G. Hauptmann, A. Holz, W. Bölsche), die sich in dem literarischen Verein Durch zusammenschlössen. Eine enge Freundschaft verbindet ihn mit Arno Holz, dem wohl bedeutendsten deutschen Theoretiker des Naturalismus. Mit ihm zusammen schafft er die Prosaskizzen 1 ), die die Übergangsform von der naturalistischen Epik zum naturalistischen Drama darstellen und die maßgebenden Einfluß auf G. Hauptmann und die Gestaltung seines Dramas Vor Sonnenaufgang ausübten. Das naturalistische Musterdrama Die Familie Selicke ist ebenfalls ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit. 1892 schließlich erscheint in Berlin Meister Oelze. Dieses Drama ist das Werk eines der führenden Naturalisten, entstanden in der Blütezeit des deutschen Naturalismus. Die papierne Passion, Krumme Hamlet, Der erste Schultag, Ein Tod.
Windgasse
20, Die kleine Emmi, Ein Abschied,
Papa
Helmut Praschek
316
D e r vorliegenden Untersuchung liegen sechs Fassungen z u g r u n d e : die drei Auflagen (im folgenden als D 1 , D 2 , D 3 gekennzeichnet) 2 ) und die drei Handschriften, in die mir das Stadtarchiv H a l l e freundlicherweise Einsicht gewährte. Diese Handschriften seien nach ihrer chronologischen Entstehung als H 1 , H 2 , H 3 bezeichnet. Kollationen ergaben, d a ß die chronologische Folge dieser Zeugen w o h l D 1 H 1 D 2 D 3 H 2 H 3 ist. Jeder Zeuge stellt eine eigene Fassung dar, w e n n auch teilweise nur durch geringfügige Varianten von den anderen unterschieden. Aus der Gestalt der einzelnen Fassungen m u ß geschlossen werden, d a ß bei ihrer Herstellung nicht v o n nur einer der vorangehenden Fassungen ausgegangen w u r d e , so d a ß die oben angegebene Reihenfolge nicht gleichzeitig als Stemma gelesen w e r d e n darf. H 1 u n d D 2 , die untereinander nur wenig differieren, unterscheiden sich in starkem M a ß e v o n D 1 . D 3 , H 2 u n d H 3 stellen mehr eine Synthese von D l u n d D 2 dar, allerdings auch mit eigenen Varianten. D e r Titel auf dem ersten Blatt v o n H 1 lautet: Johannes Schlaf / Meister Oelze / Drama in 3 Aufzügen. / 2. überarbeitete Auflage. / E. W. Bonsels-Verlag / München. Es d ü r f t e sich demzufolge um die Druckvorlage der w o h l ursprünglich f ü r diesen Münchner Verlag vorgesehenen 2. A u f l a g e handeln. D e r Vorbemerkung in D 2 ist zu entnehmen 3 ), d a ß die z w a r schon lange beabsichtigte Überarbeitung verhältnismäßig k u r z e Zeit vor der Drucklegung von D 2 s t a t t f a n d , zumindest k a u m vor 1900 4 ). Die geringen Unterschiede zwischen H 1 u n d D 2 schließen nicht aus, d a ß H 1 Druckvorlage f ü r D 2 w a r , u n d die wenigen zusätzlichen Änderungen w ä h r e n d der K o r r e k t u r e n angebracht w u r d e n . Auf alle Fälle erlaubt die annähernde Textgleichheit, im Folgenden H 1 auszuschließen, was sich allein schon deshalb empfiehlt, weil D 2 leicht zugänglich ist u n d sich bequem zitieren läßt. Demnach ist die interessanteste E t a p p e der Werkgeschichte des Meister Oelze die zwischen 1892 u n d 1909, in der das W e r k eine Umarbeitung 5 ) erfuhr, die sich von allen folgenden Überarbeitungen q u a n t i t a t i v u n d qualitativ unterscheidet. Als Schlaf die zweite A u f l a g e vorbereitete, w a r der Naturalismus in der Kunsttheorie u n d im Kunstschaffen im wesentlichen überwunden. Das m u ß den kritischen A b s t a n d zwischen Schöpfer und W e r k , der meistens im L a u f e der Zeit zunimmt, wesentlich vergrößern. In dieser künstlerischen Situation m ü ß t e n die H a u p t g r ü n d e f ü r die U m a r b e i t u n g zu suchen sein. Andererseits m ü ß t e d a n n die U m a r b e i t u n g ein Abrücken v o m n a t u r a listischen Stil erkennen lassen. Bei einem Vergleich von D 1 u n d D 2 fällt zunächst die U m w a n d l u n g der Sprachf o r m auf. W e n n audi bereits in der ersten Fassung nicht der Versuch gemacht w u r d e ,
2
) l.Auflg. Berlin 1892; 2. Auflg. München/Leipzig 1909; 3. Aufig. Weimar o. J. ) „Schon lange hegte ich den Vorsatz, den ,Meister Oelze' einer Überarbeitung zu unterziehen. Jetzt, wo die zweite Auflage erscheinen kann, bot sich mir endlich eine gute Gelegenheit, diesen Vorsatz zu verwirklichen." 4 ) Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Probenarbeit und die Erstaufführung am 2. 2.1901 (H. Frenzel Daten Deutscher Dichtung, Köln/Berlin 1953, S. 331) die Umarbeitung beeinflußte. 5 ) Titelblatt von H 1 ursprünglich 2. umgearbeitete Auflage. 3
Zum Zerfall des naturalistischen Stils
317
eine bestimmte Mundart möglichst phonetisch genau wiederzugeben, ganz im Gegensatz zu H a u p t m a n n s De Waber beispielsweise, so läßt sich doch deutlich die thüringischsächsische Sprechweise erkennen. Daraus wird in D 2 eine nur selten geographisch bestimmbare Umgangssprache. Der Lautstand und der Wortbestand werden häufig, die Syntax ganz selten geändert. Das kennzeichnende — ei — beispielsweise wird in den folgenden Worten zu — e u — gewandelt: Zeich (S. 16, l) 6 ), Leite (S. 16,4), heite (S. 41,17), Neimodscher (S. 35,4). Aus der Vielzahl der Wortänderungen sei hier eine kleine Auswahl geboten: (S. 8, 21) Wemmersch > Wenn wir's, (S. 19,7) Herr}ees> Herrgott, (S. 23,7) Seidel>Glas, (S. 27,16) Bis > Sei, (S. 35,6) dadervor> deshalb, (S. 40, 2) egal > fortwährend, (S. 47, 17) Bemmen > Brote, (S. 88, 16) hinne > hier. Ebenso wird die Dialektnachahmung in dem Bericht Meister Oelzes (S. 58,5—10) getilgt. Als Beispiel f ü r die Änderung der Syntax kann das folgende dienen: (S. 38,12 ff,) „Ich möchte nur in aller Welt wissen, was an mir zu ferchten soll sin ?" wird zu (D 2 S. 4 1 , 1 3 f.) „Ich möchte nur in aller Welt wissen, was an mir zu fürchten sein soll?" An diesen Änderungen wird deutlich, daß die Forderung nach phonetisch getreuer Dialektwiedergabe, die aus der kunsttheoretischen Forderung nach kongruenter Wiedergabe der Wirklichkeit resultiert, nicht mehr beachtet und befolgt wird. Als Gründe d a f ü r gibt Schlaf in der Vorbemerkung (D 2 S. 6) die Schwierigkeiten an, die der Dialekt und seine „krause Orthographie" dem Kunstwertaufnehmenden machten. Übriggeblieben ist lediglich die Aufforderung an die Schauspieler, den Dialog „mit sächsisch-thüringischer Nuance" zu sprechen. Der Vergleich der beiden Fassungen läßt auch deutlich erkennen, daß die Dialogführung geändert wurde. Der konsequente Naturalist war bemüht, die wörtliche Rede, das personen- und situationsgebundene Sprechen, unter anderem dadurch der Wirklichkeit getreu wiederzugeben, daß er den Redefluß seiner Dramengestalten durch verschiedenartig angedeutete Pausen unterbrach und abbrach. Der Dialog in D 1 ist daf ü r geradezu beispielhaft. In D 2 dagegen sprechen die Personen wesentlich flüssiger. D a f ü r einige charakteristische Beispiele: D 1 S. 6 D 2 S. 10 Pauline (schrickt auf; verschlafen). Hmf! — Na?! (Reibt sich die Augen.) Was . . . Was is . . . hast' enn?! (Horcht.) Stille mal!! Mariechen (stammelnd). Die . . . Die alte — Großmutter ...
Pauline (schreckt auf, verschlafen): Hm?! — Na?! — (Reibt sich die Augen.) Was gibt's denn?! — (Sie lauscht. Draußen das Schreien.) Still?! Mariechen (stammelt): Die alte Großmutter!
S. 20 Fr. Weidenhammer (sich schüttelnd Lachen). Die krumm' grade — un . . . de graden — krumm . . . Kinder, nee S. 79 Pauline. Nee! — Es is jetzt . . . Hm! E is jetzt soweit — ruh'g!
S. 22 Frau Weidenhammer (sich schüttelnd Lachen): Die Krummen gerade und Geraden krumm!
6
vor un ... —
Pauline:
Nein.
S. 81 — Er is jetzt
ruhig.
) Die Seiten- und Zeilenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf D 1 .
vor die
318
Helmut
S. 88
Praschek
S. 89
Meister Oelze (ängstlich). Nich ... Nich so — nah! ... Nich so — nah! ...
Meister Oelze (ängstlich):
Nich' so
nah!
Während in der 1. Auflage selbst siebzehn einzelne Wörter durch Pausenstriche zweiund dreigeteilt sind, gibt es in D 2 keine Pausenangaben innerhalb von Wörtern mehr. Diese Dezimierung der verzeichneten Sprechpausen läßt sich auch statistisch erfassen. Der 3. Akt enthält in D 1 etwa 2600 Wörter und 667 durch Gedankenstriche oder Punkte bezeichnete Pausen, D 2 enthält etwa 1600 Wörter und 256 Pausenangaben. Der Text wurde also um 38 °/o gekürzt, die Pausen aber um 62 %>. Die anscheinend wirklichkeitsgetreue Sprache wird gegen eine straffere Dialogführung eingetauscht. Zwei andere Beispiele lassen sehr gut erkennen, daß auch durch geringfügige Streichungen von Redeunterbrechungen und Wiederholungen das Schleppende in der Dialogführung beseitigt wird: D 1 S. 12
D 2 S. 15
Mariechen (am Fenster). De Post! Pauline. Ja. Mariechen. Wemmer doch erseht widder mitfiehr'n! S. 84 Meister Oelze. Was denn? Pauline. Ach . . . Meister Oelze. Was denn! Pauline (nach einer Weile).
Mariechen (ist ans Fenster geeilt): Post! Wenn wir doch erst wieder führen!
Die mit-
S. 87 Meister Oelze: Was denn? Pauline (nach einem Weilchen):
Einige Gesprächsteile, die nur dazu dienten, den Eindruck des zufälligen Gesprächs zu erwecken, und keine andere wichtige dramatische Funktion im Werk haben, werden gestrichen. Die Bemerkung Mariechens über den alten Stöber, der nur beiläufig im Gespräch zwisdien Emil und Mariechen erwähnt wird, und der für das dramatische Geschehen völlig gleichgültig ist, fehlt in D 2 . Mariechen (lacht). Du! Der alte Stöber macht immer papp, papp, papp mit sein'm Munde! Grade als wenn e egal ißt! (Lacht.) Emil. Ja! (Liest weiter.). (D 1 S. 49): Im Gespräch Oelze—Pauline wendet sich Pauline an Mariechen: Laß mich e mal e bischen vorbei, mei Mariechen! — So! — (D 1 S. 29) und ein wenig später Zeig e mal, Mariechen? De läßt mer doch keene Masche falln? Wenn de beim Zwickel bist, sagst' es mir! (Streichelt sie.) M! Meine Kleene! — Heere lieber jetzt uf; de verderbst Dir de Oogen. (D 1 S. 32). Beide Stellen werden gestrichen, ebenso wie das folgende kurze, nur die Stille ausfüllende Gespräch: Mariechen. Mutterchen? Pauline. Hm? Mariechen. Du bist je so stille? Pauline (abwehrend). I! (D> S. 10) Die eben erwähnten Veränderungen sind nur eine kleine Auswahl der vielen kleinen Entbehrlichkeiten (D 2 S. 5), deren Vorhandensein in D 1 auf die kunsttheore-
Zum Zerfall
des naturalistischen
319
Stils
tische Konzeption Schlafs zurückzuführen ist, und deren Fehlen in D 2 beweist, daß Schlaf diese Position verlassen hat. An mehreren Stellen wird im Meister Oelze das Gespräch durch längere Berichte unterbrochen. Soweit diese epischen Zerdehnungen keine unmittelbare Bedeutung für die Gestalten und die dramatische Handlung haben, also wieder nur die Unabsichtlichkeit der Handlung und damit den Wirklichkeitscharakter des Geschehens beweisen sollen, der dramatischen Konzentration aber entgegenwirken, werden sie ebenfalls gestrichen. Es fehlen in D 2 der Bericht über die Drescher (S. 18) und die Spukgeschichte von der Gutsbesitzersfrau aus Gera (S. 70). Der Bericht über das Paar Herbst-Bergstedt wird stark gekürzt. Die stärksten Kürzungen erfährt der 3. Akt. Er besteht in D 2 nur noch aus 62 °/o der ersten Fassung. Alles das, was nur den herannahenden Tod der Zentralgestalt verzögert und damit die geringe dramatische Bewegung aufhält, wird gestrichen. Die spärliche Handlung, die sowieso nur inneres Handeln ist, wird zügiger. Das Gespräch konzentriert sich jetzt fast nur noch auf das Ringen um das Geständnis des Meister Oelze. Die Fieberphantasien Oelzes am Aktanfang, die Rese auszunutzen versucht und die zwar dadurch noch eine gewisse Funktion im dramatischen Geschehen haben, aber im Grunde nur das Ringen Rese—Oelze verlängern, nicht steigern, werden gestrichen (D 1 S. 92 ff.). Wie sich aber insbesondere die Striche gegen das Ende des Aktes zu häufen und dadurch eine Beschleunigung der dramatischen Bewegung bewirkt werden soll, zeigt die Angabe der gestrichenen Passagen. Es fehlen in D 2 S. 9 2 , 9 — 2 3 ; 9 2 , 3 0 — 9 3 , 2 4 ; 9 5 , 1 — 7 ; 9 7 , 2 2 — 9 8 , 2 0 ; 9 8 , 2 2 — 9 9 , 2 ; 9 9 , 3 — 1 0 1 , 2 3 ; 101,27—102,24; 103,1—11. Von den letzten Seiten der ersten Fassung sind nur noch einzelne Zeilen übriggeblieben. Die naturalistische Wirklichkeitswiedergabe ist der dramatischen Bewegung zum Opfer gefallen, der Dramatiker Schlaf hat den Naturalisten Schlaf überwunden. Noch in einem anderen Bereich wird das Abrücken vom Naturalismus deutlich. Die naturalistische Kunsttheorie verlangte rücksichtslose Wiedergabe der Wirklichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit und beseitigte damit ästhetische und ethische Stoffauswahl- und Stoffgestaltungskriterien. Derbheiten jeder Art waren erlaubt, und sie wurden insbesondere von den minderen, heute längst vergessenen Talenten, oft aus falschem Verständnis des Naturalismus, bevorzugt. In den Werken der naturalistischen Dichter aber kommen sie verhältnismäßig selten vor. Audi der Meister Oelze weist in seiner ersten Fassung ästhetische Derbheiten auf. Die fortgeschrittene Tbc, an der Oelze erkrankt ist, wird dem Zuschauer und Leser recht eindringlich vorgeführt. Bereits vor seinem Auftreten berichtet Rese Pauline (D 1 S. 16): Un ich weeß ooch gar nicb Du, denn spuckt e jetzt ooch widder so viel Blut? Nach der heftigen Auseinandersetzung mit Rese (D 1 S. 38) bekommt Oelze einen Hustenanfall: Meister
Oelze
Pauline.
Herrgott,
(fortwährend
hustend,
nu gucke doch
spuckt
Meister Oelze (giebt zwischen dem Husten Pauline
(sich über das Ausgespuckte
Meister
Oelze
(wie
eben).
aus).
bloß!! unartikulierte
beugend).
Blut!
Laute von
sich).
Helmut
320
Prascbek
Pauline. Blut! Meister Oelze (mühsam). Q — Quatsch . . . Pauline. O ja, gucke doch, Franz?! — E ganz großes Sticke?! — Das is Lunge?! Am Ende des 2. Aktes schließlich bekommt Oelze einen Blutsturz auf offener Bühne (D 1 S. 76): Rese: Blut
Gott!!! ??!!!
— 'S — leeft 'm je — B lu t?ü! — aus'm Mundwinkeln??!!!
—
In D 2 werden die beiden ersten Stellen völlig gestrichen, und die so derb anschauliche Schilderung der dritten Stelle wird zu dem viel allgemeiner gehaltenen Ausruf gemildert (D 2 S. 80). Rese:
Gott!!
— Das ist ja — Blut?!!
Blut?!!
Im 3. Akt erneuert Pauline dem todkranken Meister Oelze den Leibwickel (D 1 S. 85 f.): Pauline. (Entfernt Meister
Zeig
mal?
den alten Oelze
— Ae!
— Mer — missen
Umschlag.)
(mühsam).
Faß'n
Hu, der glieht! mit — zwee
'n frischen — Du hast
Fingern
Umschlag
uflegn!
Fieber!
. . . Ich hamm
—
ufm
Leibe gehabt . . . hähä . .. Pauline (am Tische, den neuen Umschlag in den Kübel auswringend). Du thust je, als ob 'ch mich vor Dir ekelte, Franz? Meister Oelze. Hähä. — Das — is ooch . . . Pauline (kommt mit dem Umschlag). Komm! (Legt ihn auf seine Brust.) Meister Oelze: Wisch Dir — de Hände — ab . . . Hähä . . . 'S is — Gift dran . . . Diese Partie gehört zu den umfangreichen Streichungen im 3. Akt. Sicherlich sind es außer den oben erwähnten dramaturgischen auch ästhetische Motive gewesen, die Schlaf zu diesem Strich veranlaßten. Die eben genannten Umarbeitungen machen deutlich, daß Schlaf gewisse Grenzen des Geschmacks wieder anerkennt und Überschreitungen derselben, die ein Ergebnis der naturalistischen, kunsttheoretisch fundierten Schrankenlosigkeit und Hemmungslosigkeit waren, beseitigt. Als korrigierte ethische Derbheit könnte man vielleicht die Herzensroheit Paulines interpretieren, mit der sie die Bemerkung Reses 'S is mer doch im Auge.) . . . fortsoll! . . . beantwortet: — eigen, daß e . . . daß e nu (Schürzenzipfel Na Gott! — Hm! — 'S kömmt Dir doch wenigstens nich ganz unverhofft! und kurz darauf E kann's noch bis zum Abend machen! ( D 1 S. 80.) Ein anderes Beispiel dieser Art wäre vielleicht noch die folgende leicht als Blasphemie aufzufassende und in D 2 gestrichene Äußerung Oelzes. Er entgegnet Pauline auf den Vorwurf e Neimodscher, e Freigeist zu sein, daß deshalb Emil Paster wer'n soll, Un denn kann e je mal fer mich beten, daß 'ch in Himmel komme! Hähä! ( D 1 S. 35.) Die aus den verschiedenen Bereichen aufgeführten Beispiele sollen nicht den Eindruck erwecken, Johannes Schlaf habe bei der Überarbeitung seines Werkes alles Naturalistische getilgt, und die 2. Auflage stelle gleichsam die nicht-naturalistische Fassung des Meister Oelze dar. Dazu ist dieses Drama zu sehr aus naturalistischer Kunstauffassung geboren und zu stark mit dem Naturalismus verbunden, dazu ist Schlaf
Zum
Zerfall
des naturalistischen
Stils
321
zu sehr historisch (lenkender Mensch, sein Werk zu sehr historiisches Dokument geworden 7 ). Deutlich genug ist auch die überarbeitete Fassung noch als naturalistisch ausgewiesen. Trotzdem ist der durchgeführte Vergleich ein eindeutiger Beweis, daß die durchgehende Tendenz der Umarbeitung ein Abrücken von der naturalistischen Kunstprogrammatik, die Auflösung der naturalistischen Form und des naturalistischen Stils ist. Überall dort, wo die naturalistische Forderung mit anderen formgebenden und stilbildenden Kräften kollidiert, sei es mit der sprachlichen Allgemeinverständlichkeit, der dramatischen Zügigkeit und Konzentration oder mit ästhetischen und ethischen Maßstäben, überall dort entscheidet sich Johannes Schlaf in der ersten Fassung seines Dramas für, in der zweiten Fassung gegen den Naturalismus.
Emil Staiger unternimmt in seinem Aufsatz Entstellte Zitate8) den interessanten und aufschlußreichen Versuch, Merkmale eines bestimmten Individualstils im stilistisch anverwandelten Zitat nachzuweisen. Das ist möglich, weil fast gleiches sprachliches Aussagematerial in verschiedener sprachlicher Gestalt vorliegt, und die Verschiedenartigkeit ihre Ursache nur in dem einzig Verschiedenartigen, dem individuellen sprachlichen Stil der verschiedenen Verfasser haben muß. Für die Erarbeitung des Epochalstils9) liegen nur dann ähnlich günstige Bedingungen vor, wenn gleiches Aussagematerial vom gleichen Verfasser in verschiedenen Stilepochen bearbeitet wird. Selbstverständlich spielen selbst im günstigsten Falle andere Faktoren, wie beispielsweise wachsende sprachliche Meisterschaft und zunehmendes dramaturgisches Können, eine Rolle. Die vorliegende Untersuchung stellte sich unter anderem das Ziel, einige der bereits bekannten Merkmale des naturalistischen Stils auf diese Weise zu überprüfen. Die beiden Fassungen des Meister Oelze erwiesen sich für einen solchen Versuch als besonders geeignet, weil sie verschiedenartige Bearbeitungen des gleichen Stoffes durch den gleichen Dramatiker, aber zu verschiedenen Zeiten, einmal in der Blütezeit des Naturalismus und zum anderen nach seiner Überwindung, darstellen. Das Ergebnis kann als Beweis für die Richtigkeit der Methode gewertet werden, da sich das Veränderte fast immer eindeutig als Tilgung naturalistischer Stileigentümlichkeiten erwies.
7 ) Das beweist auch seine Äußerung in der Vorbemerkung zu D 2 , S. 5, eine gänzliche Ausschaltung des Milieus wäre natürlich unmöglich, weil gegen den Geist gewisser organisch festgewordener Eigenschaften des neuen Dramas gewesen. Die in den späteren Fassungen vorgenommene Synthese von D 1 und D 2 dürfte darin ihre Begründung finden. Das Werk wurde später noch mehr als historisches Dokument einer literarischen Bewegung und Stilepodie gesehen. 8 ) E. Staiger, Die Kunst der Interpretation, Zürich (1955), S. 161—179. •) Uber die Unterscheidung Individualstil — Epochalstil s. Bruno Markwardt, Studien über den Stil G. E. Lessings im Verhältnis zur Aufklärungsprosa. Wiss. Zsdir. d. Univ. Greifswald 3 (1953/54), S. 151 f.
21 Markwardt-Festschrift
WINCKELMANNIANA
Walther Rehrn • Freiburg i. Br.
I m I V . Band der von H a n s Diepolder und mir besorgten Ausgabe der Briefe Winckelmanns
wurden
S. 1 1 3 — 1 4 8
zeitgenössische briefliche Äußerungen
über
den
Archäologen und sein "Werk zusammengestellt. Auch der Kommentar zu allen vier Bänden verwertet zahlreiche briefliche Erwähnungen, die in der Übersicht I V , 5 8 9 — 5 9 3 verzeichnet sind. Im Folgenden werden einige Nachträge, unter ihnen auch ein bisher unbekannter und ungedruckter, mitgeteilt. Leider war es nicht möglich, den I V , 5 2 9 noch mit unbekanntem Verbleib vermerkten Brief von K l o t z an Lippert aus dem Sommer 1768 zu bringen; er enthält Mitteilungen über Winckelmanns T o d und befand sich früher im Besitz der Preußischen, jetzt Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, steht aber noch nicht wieder zur Verfügung. Auch die I V , 533 aufgeführten, früher am gleichen O r t in Berlin verwahrten Briefe von Herder an Weisse vom 12. 4. 1773 und von Weisse an Herder vom 24. 4. 1773 sind noch nicht greifbar. Die Abkürzungen, die in den den Dokumenten beigegebenen Erklärungen verwendet werden, entsprechen den in der Briefausgabe (I, 503 f.; I I , 371) verzeichneten Siglen. D e r Jubilar möge diese bescheidene Gabe freundlich annehmen. Zeitmangel hat mir die Ausarbeitung eines gewichtigeren Gratulationsbeitrags verwehrt. Sulzer an Hagedorn
[Berlin,]
ce } de Juin 1756.
... J'apprends, que Mr. Winckelmann est à présent à Rome, et que son excellent ouvrage lui a valu une pension. C'est de quoi je suis très charmé. Je vous serois infiniment obligé, Monsieur, si vous pouviez trouver un moyen de lui faire parvenir mon projet, et même de lui en faire prendre de l'intérêt. Sulzer an Hagedorn. [Berlin,] 5. 6. 1756. H : ? D: 1797. Hagedorn S. 302. excellent
ouvrage:
Gedanken von 1755; s. I, 540.
un moyen de lui faire parvenir mon projet: offenbar hatte Hagedorn das inzwischen schon getan, denn Winckelmann schrieb am 1.6.1756 an Genzmer (I, 222): „In Berlin wird Herr Sulzer seine französische Obersetzung der ersten Schrift [Gedanken] drucken lassen, weil man mit der Pariser [Übersetzung; s. die Nachweise I, 546] nicht zufrieden ist." Da Winckelmann ausdrücklich nur von der Übersetzung des ersten, unveränderten Teils der zweiten Auflage seiner „Gedanken" spricht, Sulzer diesen Teil nach der ersten, 1755 erschienenen Auflage aber bereits übertragen hatte (s. die Nachweise I, 542), ist die Bestimmung von Sulzers „projet" nicht sicher, es sei denn, die I, 542 verzeichnete Übersetzung wäre, wie das schon damals häufig vorkam, tatsächlich später erschienen, als das nach den Druck- und Zeitangaben des Journals zu schließen ist. Möglicherweise aber plante Sulzer auch eine Sonderausgabe der zuerst 1755/56 in der
Winckelmanniana
323
„Nouvelle Bibliothèque Germanique" veröffentlichten Übertragung; eine solche Sonderausgabe ist freilich nicht nachweisbar.
Sulzer an Hagedorn /Berlin,]
ce 1 de Decembre
1756.
... Je souhaiterois aussi de savoir quelques nouvelles de Mr. Winckelmann et sourtout, si cette guerre ne derangera pas la tranquillité de son séjour à Rome. Ce seroit grand dommage s'il était arrêté au milieu de ses recherches dont je me promets beaucoup. Sulzer an Hagedorn. [Berlin,] 1. 1 2 . 1 7 5 6 . H : ? D : 1797. Hagedorn S. 304. quelques nouvelles: Winckelmann hatte Hagedorn zuletzt wahrscheinlich Anfang September 1756 in einem verlorenen Brief (Nr. 158; I, 2 4 4 ; 561) geschrieben.
Sulzer an Hagedorn [Berlin,]
ce 1er d'Avril
1759.
Je ne comprends pas bien non plus que Vous, ce que Mr. Winckelmann entend, quand il prétend que la ligne de la beauté est elliptique tombant sur celle de Hogarth. J'ai pourtant remarqué, qu'il y a des statues de femmes qui présentent en gros trois principales de Corps dont chacun fait par son contour une espèce de figure elliptique, qui joints ensemble ne présentent pas mal deux lignes serpentines combinées et j'ai remarqué, que ces statues me plaisoient préferablement aux autres par rapport à l'Ensemble des figures ... Sulzer an Hagedorn. [Berlin,] 1. 4. 1759. H : ? D : 1797. Hagedorn S. 316. que la ligne de la beauté: B S W . 1759, V, 1, 6 : „Die Linie, die das Sdiöne beschreibet, ist elliptisch" (aus dem Aufsatz: Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst). Vgl. zur Sache und zu Hogarth II, 5 3 5 ; IV, 468.
Weisse an Läppert
[Leipz.
den 15. März
1762.J
Hochedler, Hochzuehrender
Herr,
Werthgeschäzter Freund. Ich halte es für eine Pflicht, Ihnen Nachricht zu geben, daß Hr. Winkelmann unsere letzten Briefe richtig erhalten. Doch vielleicht hat er Ihnen schon selbst geantwortet: wenigstens sagt er in seinem Briefe, daß solches mit ehsten geschehen solle: noch mehr, er verspricht mir für meine Bibliotheck der schönen Wissenschaften eine Abhandlung in Form eines Sendschreibens an Ew. Hochedelgeb. zu schicken. Wie sehr schmeichelt mir es nicht die Freundschafft von ein paar Männern zu besitzen, die beyde den Künsten und Wissensdjafften so viel Ehre machen! Das Stoßische Gemmenverzetchniß von Hrn. W. werden Sie von unserm Hrn. v. Hagedorn erhalten haben und es muß für Sie doppelt angenehm seyn, da Sie mit den Schönheiten der Kunst aus dem Alterthume noch weit bekannter sind, als ich, und ganz [Sachjsen, ja noch mehr, Deutschland zusammen genommen: für mich, da ich weder die Steine noch Abdrücke des Stoß. Cabinets gesehen, ist die Beschreibung, in so ferne sie nicht einiges Licht auf die Gewohnheiten der Alten geworfen, meistens unfruchtbar gewesen, und doch habe ich sie mit Ver21»
Walther
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Rehm
gnügen gelesen und einen weitläuftigen Auszug für meine Bibliothek gemacht. Leben Sie wohl, gönnen Sie mir stets Ihre Liebe und Freundschafft und empfehlen mich unserm lieben Hrn. Bland. Der junge Graf Molt[ke] und Graf Schön, die sich mit Vergnügen der vielen schönen Sachen erinnern, die sie bey Ihnen gesehen, haben mir noch vergangenen Sonntags große Empfehlungen an Ew. Hochedelgeb. aufgetragen. Ich bin mit wahrer Hochachtung und Freundschafft Ew. Hochedelgeb. ganz ergebenster Freund und Diener Weiße. Leipz. den 15. März
1762.
Weisse an Lippert, Leipzig, 15. 3. 1762. H : Freiburg/Brsg., W. Rehm. D : ungedruckt. Ein weiterer, bisher ungedruckter Brief von Weisse an Lippert, Leipzig, 21. 7. 1763 (H: Freiburg/ Brsg., W. Rehm) enthält nichts auf Winckelmann Bezügliches. unsere letzten Briefe: keiner von ihnen erhalten; zur Überlieferung der Briefe Winckelmanns an Lippert und Weisse s. I, 464, 479, 559. Die verlorenen Briefe sind wohl auf Januar—Februar 1762 zu datieren. eine Abhandlung: gemeint ist der in IV, 15 f. als Anhang Nr. 3 abgedruckte Entwurf eines Sendschreibens. Der IV, 422 f. begründete zeitliche Ansatz (Frühjahr 1762) wird durch die obige Bemerkung Weisses bestätigt. Der Entwurf wurde nie ausgeführt. Vgl. auch II, 14, 208, 377, 446. Stoßische Gemmenverzeichniß: die Description von 1760. weitläuftigen
Auszug: BSW. 1762, VII, 2, 250—318; vgl. II, 516.
Bland: auch von Winckelmann früher erwähnt; s. I, 220, 551. Moltke: wohl sicher Graf Friedrich Ludwig Moltke (1745—1824), den Winckelmann später in Rom kennenlernte. Der junge Graf hielt sich damals in Sachsen auf und besaß zu Geliert und J. A. Ernesti freundschaftliche Beziehungen; s. II, 516 und die dort angegebene Literatur. Schön: Näheres nicht nachweisbar. Nicolai an Hagedorn
Berlin den 16. Nov.
1763.
... £5 hat hier die Liebhaber der Mahlerey wenig erbauet, daß Hr. Winckelmann in seinem letztern Werke sagt, der K. v. P. haben einen unächten Raphael für 3000 Scudi gekauft. Dies dünkt also Hrn. Winckelmann zu viel. Aber wir wissen, das Herr G. dem Könige dafür 70 000 Ducaten abgefordert, daß der König darüber mit Recht ungnädig geworden, daß Hr. G. hernach diese Forderung für einen Fehler des Hr. O. erkläret, und am Ende mit 48 000 Mark landüblichen Geldes zufrieden gewesen ist. Hr. Winckelmann mag also nur glauben, daß wir untergeschobene Raphaels hier besser zu schätzen wissen als in Rom. Nicolai an Hagedorn. Berlin, 16. 11.1763. H : ? D. 1797. Hagedorn S. 265. Die Jahreszahl des Briefs ist in D nicht genau zu erkennen: entweder 1763 (das würde zu dem Erscheinen der unten erwähnten Arbeit Winckelmanns passen), oder 1765; 1768 scheidet aus. Der Brief ist in D eingereiht zwischen die Schreiben Nicolais an Hagedorn vom 12. 10. 1764 und 18. 1. 1765. in seinem letztern Werke: in der Herbst 1763 erschienenen Abhandlung über die Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst. Dresden 1763, S. 21: „Ein vermeynter Raphael,
Winckelmanniana
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welchen der König von Preußen vor einigen Jahren in Rom für 3000 Scudi erstehen ließ, ist von keinem Kunstverständigen allhier für dessen Arbeit erkannt worden; daher auch kein schriftliches Zeugniß von der Richtigkeit desselben zu erhalten war." Vgl. auch II, 148, 293, 486. K. v. P.: König von Preußen; zu diesen Bemühungen Friedrichs II. vgl. I, 208; II, 293 u. ö. Herr G.: Gotzkowsky; s. zu diesem II, 425; III, 466, 491, 495. Hr. O.: gemeint wohl der auch in I, 208 von Winckelmann in diesem Zusammenhang schon 1756 erwähnte Matthias Oesterreich, seit 1757 Direktor der Kgl. Gemäldegalerie in Sanssouci; s. I, 542. Nicolai an Hagedorn Leipzig
den 12ten
October
1764.
. . . Guilielmi hat sich angeboten, den Platfond im Prinz Heinrichschen Pallast zu mahlen In seinem Werke... herrscht lauter wildes Feuer, ohne Überlegung und achtes Denken. Winckelmann würde sagen, das ganze Werk wäre abscheulich. Nicolai an Hagedorn. Leipzig, 12.10. 1764. H : ? D: 1797. Hagedorn S. 263. Guilielmi: Gregorio Guglielmi (1714—1773), 1764 von Friedrich II. nach Berlin berufen. Der Künstler malte den Festsaal im Neuen Prinz-Heinrich-Palais aus, übrigens nach einem vom König selbst entworfenen Programm; s. III, 471 und H. Tintelnot, Die barocke Freskomalerei in Deutschland, München 1951, S. 184, 196, 318. Winckelmann erwähnt den Namen dieses letzten barocken italienischen Freskanten und Wanderkünstlers nirgends in seinen Werken und Briefen. Brandes an Hagedorn Hannover
den 9ten
April
1766.
... Würden Sie mir Recht geben, wenn ich sagte, daß ich mit des Herrn Winckelmanns Allegorie nicht ganz und gar zufrieden sey? Nicht, daß ich die Hand eines Meisters darinnen gänzlich vermißte. Ich mag ihn aber lieber von Alterthümern in der Geschichte der Kunst lesen, wo Belesenheit und Kritik die Reihe führen müssen. Brandes an Hagedorn. Hannover, 9.4.1766. H : ? D: 1797. Hagedorn S. 148. Zu Brandes s. III, 455 f., 463. Allegorie: zur Beurteilung dieser 1766 edierten Arbeit Winckelmanns vgl. auch IV, 136, 470.
DER JUNGE LESSING ALS ÜBERSETZER AUS DEM SPANISCHEN Hans Rheinfelder
• München
Die stärkste Anregung aus Spanien hat die deutsche Literatur seit der Romantik erfahren. Vernöhmbar schon in Herders „Stimmen der Völker" und Cid-Romanzen, deutlicher in der Don-Quijote-Übersetzung Tiecks, schwillt der Strom der Spanien-Begeisterung an bis zum Ende des Jahrhunderts, bis zur Einmündung in die wissenschaftliche Beschäftigung mit spanischer Kunst und Literatur. Wenn die Ausstrahlungen Spaniens im 18. Jh. weniger hell das Auge treffen, so nur deswegen, weil das hellste Licht damals von der französischen Literatur ausging, neben der auch die italienische und die englische immer mehr zu leuchten begannen. Aus der spanischen Literatur waren es zuerst der Roman und die Romanze, die in Deutschland Eingang fanden. Spaniens mächtigste Leistung, das Drama, dringt nur ganz langsam vor — nicht ohne Schuld der Spanier selbst —, muß sich noch mitten im 19.Jh. manchen Spott gefallen lassen und ist erst heute im Begriff, allmählich ihren ganzen Zauber zu entfalten. Es ist nicht ohne Reiz, unter diesem Gesichtspunkt einen Blick in Lessings Hamburgische Dramaturgie zu werfen. Welchen Literaturen entstammen die in Hamburg aufgeführten Stücke, denen zwischen Ostern 1767 und Ostern 1769 Lessing seine Aufmerksamkeit gewidmet hat? Neben deutschen Dramen, von Cronegk, Heufeld, J . E. Schlegel, Pfeffel usw. und von Lessing selbst (Schatz, Miß Sara Sampson, Freigeist) finden sich fast nur französische Stücke, von Le Grand, Nivelle de la Chaussee, Destouches, Voltaire, Regnard, Gresset, Quinault, Thomas Corneille, Marivaux usw., auch der „Pierre Pathelin", wobei sonst noch vielerlei aus der französischen, italienischen und englischen Literatur herangezogen wird, zumal auch manches deutsche Stück einem Werk jener Literaturen Stoff oder Anregung verdankt, auch manches französische Stück ein italienisches Vorbild gehabt hat. Nur ein einziges Mal kommt ein spanisches Stück zur Besprechung, nun freilich in nicht weniger als zehn auf einander folgenden Nummern der „Hamburgischen Dramaturgie" (die insgesamt 104 Nummern umfaßt). Nicht als ob das Stück in Hamburg gespielt worden wäre; Lessing bespricht es anläßlich wiederholter Aufführungen des „Comte d'Essex" von Thomas Corneille (1678). Schon vorher hat er aus dem gleichen Anlaß sechs Nummern dem von Corneille unbeeinflußten aber den gleichen Gegenstand behandelnden Stück des Engländers J o h n Banks (1682) gewidmet. Zum Abschluß dieser Untersuchung erwähnt er andere Bearbeitungen des gleichen Stoffes, die er jedoch nicht gelesen habe, und fügt hinzu: „Aber einen spanischen ,Essex' habe ich gelesen, der viel zu sonderbar ist, als daß ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte" (59. Stück, Ende). Mit einer Ausführlichkeit, die er bei keinem anderen Theaterstück braudit, bespricht Lessing die comedia „El Conde de
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Essex, o Dar la vida por su dama" von Antonio Coello (den er aber als Verfasser nicht kennt, 1611—82). Die kritische Inhaltsangabe schreibt er mit sichtlicher Liebe, kostet die Dialoge aus, die er in deutsche Prosa übersetzt, und begründet sein langes Verweilen bei diesem Stück: „Wir sind mit den dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wüßte kein einziges, welches man uns übersetzt oder auch nur auszugsweise mitgeteilt hätte" (68. Stück). Dann weiß er, neben manchen Mängeln, viele große Vorzüge des spanischen Dramas aufzuzählen. Lessings Liebe zur spanischen Sprache und Literatur ist nicht erst in der Hamburgischen Dramaturgie an die Öffentlichkeit getreten. Unter den Rezensionen, die er in der wissenschaftlichen Beilage der „Berlinischen privilegierten Zeitung" (später „Vossische Zeitung" genannt) schon als zwanzigjähriger Student veröffentlicht hat, findet sich bereits die Besprechung eines spanischen Werkes, wobei uns die gleiche Wärme begegnet wie später, ja geradezu eine Art kastilischer Ritterlichkeit, die sich gegen die oberflächlichen Angriffe eines französischen Kritikers mit Leidenschaft für das spanische Drama einsetzt. Im Jahre 1751 stieß der Zweiundzwanzig jährige auf ein merkwürdiges spanisches Buch, das ihn so sehr fesselte, daß er es alsbald ins Deutsche übersetzte, unter dem Titel „Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Worinne er die verschiedenen Fähigkeiten, die in den Menschen liegen, zeigt, einer jeden den Teil der Gelehrsamkeit bestimmt, der für sie eigentlich gehöret, und endlich den Eltern Anschläge erteilt, wie sie fähige und zu den Wissenschaften aufgelegte Söhne erhalten können" (Zerbst. In der Zimmermannischen Buchhandlung. 1752). Der Gegenstand des Buches ließ ihn nicht mehr los, und er schrieb darüber eine Dissertation, mit der er im April des Jahres 1752 an der Universität Wittenberg den Grad eines „Magister der Freien Künste" erwarb. Das Buch, um das es sich handelt, war in Deutschland bereits vorher aus dem Spanischen ins Lateinische übersetzt und öfter gedruckt worden (zuerst in Straßburg 1612). Der Verfasser ist der Doctor Juan Huarte de San Juan. Er stammte aus einem Pyrenäenstädtchen, San Juan de Pie de Puerto, das damals zum spanischen Navarra gehörte, heute aber französisch ist (Saint-Jean-Pied-de-Port, Basses-Pyrénées). D o r t ist er um 1526 geboren. Er machte seine Studien, und zwar vor allem medizinische Studien, in der alten einstigen Hauptstadt von Aragonien, Huesca, das von 1354 bis 1845 eine angesehene Universität hatte (nördlich von Zaragoza). Dort war er wahrscheinlich in den Jahren 1569 und 1570 auch als Professor tätig. Später hat er sich aber ganz im Süden niedergelassen, in Linares, an der Sierra Morena, am Nordrand Andalusiens. Dort in Linares hat er auch 1588 in der Marienkirche sein Grab gefunden. Das Buch, das Huarte berühmt gemacht hat und das von Lessing übersetzt worden ist, trägt den Titel „Examen de ingenios para las ciencias, donde se muestra la diferencia de habilidades que hay en los hombres; y el género de letras que a cada uno responde en particular. Es obra donde el que leyere con atención hallará la manera de su ingenio, y sabrá escoger la ciencia en que más ha de aprovechar; y si por ventura la hubiese profesado, entenderá si atinó a lo que pedía su habitual natural". Erstmals wurde es gedruckt in Baeza (bei Linares), von Juan Bautista Montoya, 1575. Unter mannigfachen Schicksalen erlebte das Buch weitere fünf Auflagen. Dann aber wurde es in Spanien und in Portugal bedingt verboten, d. h. dem Verfasser wurde auferlegt, eine
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Anzahl mißverständlicher Stellen abzuändern. H u a r t e ging an diese Arbeit heran, ändertie zum Teil isehr stark, konnte aber den Druck der neuen Fassung nicht mehr erleben. Sie wurde von seinem Sohn Luis besorgt und erschien 1594 in Baeza. Dabei schlichen sich in den Druck eine Menge von Irrtümern, Entstellungen, Wiederholungen usw. ein, die der Verfasser selbst sicher nicht hätte durchgehen lassen. In dieser neuen, aber mangelhaften Fassung wurde das Buch künftig in Spanien immer wieder gedruckt, während man im Ausland weiterhin die alte Fassung auflegte. 1930 hat Rodrigo Sanz in Madrid eine wissenschaftliche Ausgabe erscheinen lassen, in der die beiden Fassungen nebeneinander gestellt sind. Für unsere Zwecke genügt die leicht zugängliche Ausgabe in der Biblioteca de Autores Espanoles, Bd. 65, S. 397—520, nach der im Folgenden zitiert wird. Das Buch Huartes verfolgt den Zweck praktischer Berufsberatung, planmäßiger Auslese der Begabungen f ü r die einzelnen geistigen Berufe. Der Verfasser hat nicht nur erstaunlich viel aus der alten und mittelalterlichen Literatur gelesen, was er in Verbindung mit der Autorität der Bibel zu einer sicheren Traditionsgrundlage ausbaut, sondern er hat auch selbst viel über die verschiedenen Probleme nachgedacht, hat beobachtet und Untersuchungen angestellt. Eine Menge der verschiedensten Erkenntnisse wirken hier zusammen: er schreibt das Buch als Arzt, Physiologe, Anthropologe — wir würden heute sagen: als Eugeniker —, aber auch als Psychologe, als Pädagog und als Soziologe. H u a r t e unterscheidet drei Arten der Begabung, je nachdem in einem Menschen das Gedächtnis oder der Verstand oder die Vorstellungskraft besonders ausgeprägt sind. Diesen drei Begabungen und ihren verschiedenen Mischungen ordnet er die einzelnen geistigen Berufszweige zu, vor allem die Wissenschaften und die Künste, zeigt aber auch, welche Voraussetzungen beim Richter, beim Verwaltungsbeamten, beim Offizier, beim Herrscher usw. vorhanden sein müssen. Daraus ergeben sich dann f ü r ihn Folgerungen f ü r die Auswahl des Ehepartners, f ü r die physiologischen und psychologischen Grundlagen der Ehe, f ü r Auswahl des Klimas und der Ernährung, f ü r die Pflege und Erziehung der Kinder. Es finden sich bei ihm Gedanken, die höchst modern anmuten. Anderes ist heute überholt und war es schon zu Lessings Zeit. Aber es ist ein gescheites Buch und hat in vielen Abschnitten seinen Wert behalten, so daß seine Ratschläge großenteils auch heute noch von Nutzen sein können. Echt spanisch ist der nüchterne Realismus, die klare Unterscheidung, die saubere Abgrenzung, das Verlangen nach Ordnung. Dieses Werk also hat der Student Lessing 1752 auf deutsch herausgebracht. Nach dem langen Titel folgt eine „Vorrede des Übersetzers", in der mancherlei bemerkenswert ist. Sie beginnt — in der Frische des Stils und in der Art der Gedankenführung schon ein ganzer Lessing! — mit der Feststellung: „Von den spanischen Gelehrten werden wenige unter uns so bekannt sein als Johann H u a r t , nicht sowohl nach seiner Person, als nach seinem Werke, dessen Übersetzung wir hier liefern: denn in Ansehung jener t r i f f t der Ausspruch des Seneca, oder wenn man ihn lieber einem Franzosen zuschreiben will, des H e r r n de la Bruyère, auch an ihm ein: viele kennt man und viele sollte man kennen. Unzählige Halbgelehrte haben sich mit ihren Geburtstagen und Sterbestunden, mit ihren Weibern und Kindern, mit ihren Schriften und Schriftchen in die Register der Unsterblichkeit eingeschlichen: nur einen Mann, der über die Grenzen
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seines Jahrhunderts hinaus dachte, der sich mit nichts Gemeinem beschäftigte und kühn genug war neue Wege zu bahnen, findet man kaum dem Namen nach darinne, da doch die geringsten seiner Lebensumstände auf den und jenen Teil seines Werks ein sehr artiges Licht werfen könnten. Unterdessen können gleichwohl mein« Leser mit Recht von mir verlangen, ihnen davon so viele mitzuteilen, als sich hier und da auftreiben lassen. Ich will es tun; man schreibe es mir nicht zu, wenn sie nur allzu trocken und unzulänglich scheinen sollten". So trägt er denn zusammen, was er finden und was er kombinieren kann. Dann folgt zu der lateinischen Ubersetzung eine kluge Kritik, die für die gesunde Methode schon des jungen Lessing sehr aufschlußreich ist. Das spanische Werk ist in Deutschland „unter dem Namen Scrutinium ingeniorum bekannt geworden. Dieses nämlich ist der Titel der lateinischen Übersetzung, welche Joachim Cäsar oder, wie er sich durch dieBuchstabenversetzung nennt, Aesdiacius Major, 1612 herausgegeben. Dieser Mann hat seine Sachen allzugut machen wollen, indem erl die spanischen Ausgaben, so viel er deren habhaft werden können, nicht allein miteinander vergliche, sondern auch alle zugleich zum Grunde seiner Übersetzung gelegt hat. Huart war einer von denjenigen Gelehrten, welche von ihren Schriften niemals die Hand abzuziehen wissen. So oft seine Prüfung aufgelegt wurde, so oft sähe sich die eine Ausgabe der andern fast nicht mehr ähnlich. Er änderte, er strich aus, er zog ins Enge, er setzte hinzu. Anstatt nun, daß sich der lateinische Übersetzer bloß nach der letzten Ausgabe hätte richten sollen, so hat er alle in eine zusammengeworfen und an den meisten Orten das Werk so dunkel, verwirrt und widersprechend gemacht, daß man es nicht anders als mit Ekel lesen kann. Darf man sich also wundern, daß er sich durch dieses Verfahren sogar in den Verdacht gesetzt, als habe er sein Original verfälscht und von den seinigen vieles hinzugesetzt? Ich würde ihn (sie!) über dieses noch Schuld geben, daß er an unzähligen Orten den Sinn des Spaniers verfehlt habe, wenn man dieses nicht für einen Kunstgriff, meiner Arbeit dadurch einen Vorzug zu geben, ansehen möchte. Wenigstens aber wird mir dieses zu sagen vergönnt sein, daß eine von den vornehmsten Ursachen, warum ich mich an eine deutsche Übersetzung gemacht, eben der geringe Wert der lateinischen, an der man sich bisher hat müssen begnügen lassen, gewesen sei". Und sogleich schließt sich ein Urteil über das Werk selbst an: „Das Buch an sich hat seine Vortrefflichkeit noch nicht verloren, obgleich die Art zu philosophieren, welche man darinnen antrifft, jetzo ziemlich aus der Mode gekommen ist. Es ist immer noch das einzige, welches wir von dieser Materie, deren Einfluß in die ganze Gelehrsamkeit ganz unbeschreiblich ist, haben. Und so gewiß es ist, daß Väter und Lehrer unzählige Wahrheiten, weldie viel zu fein sind, als daß sie durchgängig bekannt sein sollten, daraus lernen können, so gewiß ist es auch, daß man mir nicht etwas Überflüssiges getan zu haben vorwerfen kann. — Wann übrigens Huart auf der 88. Seite dieses Werks behauptet, daß es nur den großen und erfindenden Genies erlaubt sein solle, Bücher zu schreiben, so muß er sich ohne Zweifel selbst für ein solches gehalten haben. Sollte man ihn nun nach seinen eignen Grundsätzen beschreiben, so würde man von ihm sagen müssen: er ist kühn, er verfährt nie nach den gemeinen Meinungen, er beurteilt und treibt alles auf eine besondre Art, er entdecket alle seine Gedanken frei und ist sich selbst sein eigner Führer. Man weiß aber wohl, daß solche Geister auch auf unzählige Paradoxa verfallen; und der billige Leser wird sich deren eine ziemliche Anzahl auch
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hier anzutreffen nidit wundern. Man überlege das Jahrhundert des Verfassers, man überlege seine Religion, so wird man auch von seinen Irrtümern nicht anders als gut urteilen können. Mit den allzu groben aher, welche so 'beschaffen sind, daß sie bei der jetzt weit erleuchtetem Zeit gleich in die Augen fallen und daher der Kürze wegen hier übergangen werden, wird man Mitleiden haben. Ich vergleiche ihn übrigens einem mutigen Pferde, das niemals mehr Feuer aus den Steinen schlägt, als wenn es stolpert". D a ß Lessing unter den textlich verschiedenen spanischen Drudeausgaben eine besonders brauchbare sich zur Vorlage genommen hat, dürfte freilich mehr oder weniger ein glücklicher Zufall sein. Denn da Lessing das Todesjahr Huartes nicht kannte, vermochte er nicht zu beurteilen, welcher Druck „die letzte Ausgabe" des Autors selbst gewesen ist. Huarte ist, wie wir heute wissen, 1588 gestorben; so darf man in erster Linie nur die Ausgaben von 1575, 1578, die beiden von 1580 und die von 1581 zugrundelegen. Tiefer gehende Veränderungen scheinen erst nach dem Tode des Verfassers vorgenommen worden zu sein. So umfaßt die Ausgabe von 1640 zu den fünfzehn Kapiteln der ersten Ausgabe noch drei weitere, indem zwei Kapitel vorangestellt und eines zwischen das ursprünglich zweite und das ursprünglich dritte Kapitel eingeschoben wurde. Wie weit man diese drei später auftretenden Kapitel dem Verfasser selbst zusprechen darf, steht hier nicht zur Erörterung. Festzuhalten ist die Tatsache, daß Lessing die kürzere Fassung von fünfzehn „Hauptstücken", wie sie schon in der ersten Ausgabe vorliegen, übersetzt hat. Die spanische Ausgabe in der Biblioteca de Autores Españoles bietet die Fassung mit achtzehn Kapiteln. Eine Abänderung glaubt Lessing am Anfang vornehmen zu sollen. Der Verfasser hat sein Wertk mit zwei „Proemios" begonnen, von denen das erste „a la Majestad del Rey nuestro Señor Don Felipe I I " , das zweite „al Lector" gerichtet ist. Lessing wollte um des grundsätzlichen Inhalts willen auf das erste Prooemium nicht verzichten, hat aiber die historisch bedingte Widmung an den König getilgt — was mit kleinen Abänderungen geschehen konnte — und hat dieses erste Vorwort an den Leser statt an den König gerichtet: „Der Verfasser an den Leser". Um aber dann nicht zwei Vorreden an den Leser zu haben, hat er aus dem nun folgenden „Proemio al Lector" eine „Einleitung" gemacht. Alle zeitgebundenen Stellen des ersten Prooemiums waren leicht zu beseitigen. Der Vokativ „Católica Real Majestad" wurde einfach gestrichen. Und schreibt Juan Huarte den Satz: „De lo cual resultaría en los estados y señoríos de Vuestra Majestad haber los mayores artífices del mundo y las obras de mayor perfección, no más de por juntar el arte con naturaleza", so überträgt ihn Lessing: „Der Nutzen, der in einem so eingerichteten Staate daraus erfolgen mußte, würde dieser sein, daß er die größten Künstler in der Welt und die allervollkommensten Kunstwerke haben würde, bloß weil seine Bürger die Kunst mit der Natur verbänden". Was nun die Übersetzung selbst anlangt, so darf man zunächst einmal über die vorzügliche Kenntnis der spanischen Sprache staunen, die dem Übersetzer auch an schwierigen Stellen des Textes den richtigen Sinn erschlossen hat. Lessing überträgt sehr wörtlich und sehr schlicht, vermittelt dabei einen getreuen Eindruck von dem spanischen Original. Entfernt er sich von diesem wirklich einmal weiter, so geschieht es aus der Erkenntnis, daß die Prägnanz der spanischen Sprache, wenn sie auf deutsch nachgeahmt würde, ihre K r a f t verlöre und daß sie daher durch andere sprachliche Mittel
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ersetzt werden müsse, die dem deutschen Empfinden gemäßer wären. So erklärt sich, in sehr seltenen Fällen, eine breitere Diktion des Übersetzers. Man versuche selbst einmal, den folgenden Satz Huartes ins Deutsche zu übertragen: „Y así vemos que cuantos nacen y estudian fuera de Grecia, si son filósofos, ninguno llega a Platón y Aristóteles; si médicos, a Hipócrates y Galeno; si oradores, a Demóstenes; si poetas, a Homero" (S. 484,2). Lessing hat diesen Satz so wiedergegeben: „Man sieht daher auch, daß soviele sich außer Griechenland auf die Gelehrsamkeit gelegt haben, wenn sie Philosophen gewesen sind, weder dem Plato noch dem Aristoteles gleichgekommen; sind sie Ärzte gewesen, so sind sie weit unter dem Hippokrates und Galenus geblieben; sind sie Redner gewesen, so haben sie es keinem Demosthenes gleichgetan; und sind sie Dichter gewesen, so hat Homer immer noch einen unendlichen Vorzug vor ihnen behalten" (S. 329 f.). Wo also das Spanische mit einer einzigen Verbalform (llega) auskommt, hat Lessing für jeden der vier Vergleiche einen neuen Verbalausdruck gesucht. Besonders aufschlußreich für den jungen Gelehrten Lessing ist die Art und Weise, wie er Huartes Zitate übernommen hat. Der Spanier hat sehr viel zitiert, aus dem Alten und dem Neuen Testament, aus Aristoteles und Plato, aus Cicero und Horaz, aus anderen alten und mittelalterlichen Schriftstellern, besonders viel aber aus Hippokrates und Galen. Bisweilen sind solche Zitate in spanischer Sprache gegeben, meistens aber auf lateinisch, auch diejenigen, deren Grundtext hebräisch oder griechisch ist. Nicht selten wird auch auf die Wiedergabe des Wortlauts verzichtet und nur die Stelle zum Nachschlagen verzeichnet. Lessing hat bei Zitaten griechischen Ursprungs den griechischen Wortlaut an die Stelle des lateinischen gesetzt, sowohl im Text wie in den Randnoten. Wo er die lateinische Fassung übernimmt, wie etwa bei den dem Alexander von Aphrodisias zugeschriebenen Problemata, da handelt es sich um Texte, die nach dem Verlust des griechischen Originals überhaupt nur in lateinischer Fassung bekannt waren, oder um Texte, deren griechische Urfassung noch nicht im Druck vorlag. Bei solcher Aufnahme der Urzitate ist Lessing mit größter Gewissenhaftigkeit vorgegangen. Man kann hier höchst reizvolle Blicke in die Werkstatt des jungen Philologen tun. Stellt er fest, daß die lateinische Übersetzung eines Zitats oder die von Huarte manchmal angefügte spanische Wiedergabe — mehr eine freie Umschreibung als eine wörtliche Übersetzung — dem griechischen Urtext irgendwo, sei es auch in einer Kleinigkeit, nicht gerecht wird, dann scheut er sich nicht, die dem griechischen Text beizugebende deutsche Ubersetzung ganz diesem anzupassen, ohne sich freilich mehr als unbedingt nötig vom Wortlaut Huartes zu entfernen, wenn dieser, um des Zusammenhangs willen, nicht ganz aufgegeben werden darf. So zitiert Huarte im 14. Kapitel auf lateinisch einen Satz von Aristoteles: „Cur efferis et moribus et aspectibus sunt, qui in nimio vel aestu vel frigore colunt?" und fügt auf spanisch hinzu: „Como si preguntara: ¿por qué los hombres que habitan en lugares muy calientes o muy fríos, los más son feos de rostro y de malas costumbres?" (S. 484, 2). Lessing setzt den griechischen Text (ohne Akzente): 8ioc Tt 8t)pico8eis Ta É6r| Kai Tas óyeis ol iv Tai? ÜTrepßoXais óvtes, f| yuxouj r| Kctunaros; und überträgt: „Das ist: warum die Menschen, welche in allzu heißen oder allzu kalten Gegenden wohnen, sowohl von Gesicht als von Sitten wild sind" (S. 329). Man beachte, wie er an Stelle der zwei spanischen Adjectiva feos und malas ent-
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sprechend dem griechischen (und lateinischen!) T e x t das einzige W o r t wild gebraucht, wie er aber andrerseits die von H u a r t e vorgenommene Umstellung rostro — costumbres (gegenüber É6R| — Ó^EIS und moribus — aspectibus) durchaus beibehält, weil sie dem Gedankengang der Darstellung besser entspricht. Auch die Umstellung von kalt und beiß ist beibehalten. Die Freude am griechischen Originaltext geht so weit, daß Lessing sogar Stellen, zu denen Huarte in den Anmerkungen lediglich die Quelle nennt, mit vollem W o r t l a u t in den T e x t einfügt, wenn ihm die Stelle (die er also sorgfältig aufgesucht hat!) besonders gut gefällt. So finden wir im 12. Kapitel, auf S. 257 bei Lessing, ein griechisches GalenZitat, das sich über eine halbe Seite erstreckt, während H u a r t e bloß einen Hinweis hat: Lib. I I I D e aliment. facultat., cap. X X X I X (S. 4 7 0 , 1 , Anm. 3; auch dies von Lessing auf griechisch wiedergegeben: irepi Tpoipcov Svvccu. ßißA. y). Besonders stolz mag der Humanist Lessing gewesen sein, daß er einmal an Stelle eines von H u a r t e mit lateinischen Buchstaben gegebenen, in den Ausgaben noch dazu arg entstellten hebräischen Wortes die richtige Form mit hebräischen Lettern in seine Ubersetzung einfügen konnte. M a n findet im 9. Kapitel den S a t z : „Por la cual razón los llamaban los hebreos gevanin, que quiere decir engañadores" (S. 452,1) und bei Lessing: „Die H e b r ä e r nannten sie daher Q ^ j n , das ist Betrüger" (S. 161). Durch das Zurückgehen auf die U r f o r m hat Lessing seiner Ausgabe einen W e r t gegeben, der, jedenfalls für seine Zeitgenossen, den W e r t des Originals in der Genauigkeit der Zitierweise übertraf. Andrerseits hat nun freilich Lessing im Schlußkapitel, in dem sich die Hinweise in den Anmerkungen bisweilen häufen, den einen oder anderen unterdrückt, was vorher nur ganz selten und aus nicht immer leicht ersichtlichen Gründen geschah, wahrscheinlich aber nur dann, wenn der griechische Wortlaut vom lateinischen so stark abwich, daß er an dieser Stelle dem Zweck eines Beleges nicht mehr entsprochen hätte. N u r bei einer einzigen Quelle hat Lessing lateinische Zitate nicht durch den Original Wortlaut ersetzt: bei der Bibel. Die vielen Stellen aus dem Pentateuch auf hebräisch zu geben, wäre für die Mehrzahl der Leser nicht zumutbar gewesen. Immerhin, meint man, müßten Zitate aus dem Neuen Testament und aus den griechisch überlieferten Büchern des Alten doch wohl ebenso auf griechisch gegeben werden wie Aristoteles und Galen. Doch hatte Lessing es bei der Bibel nicht mit einer anonymen Übersetzung eines griechischen Textes sondern mit der Vulgata zu tun; und so selbstverständlich der Spanier im Bibelzitat die Vulgata benützt, so selbstverständlich ist für Lessing und die meisten seiner Leser der deutsche Luthertext gewesen, zumal es sich großenteils um bekannte Stellen handelte, die eben in dieser Form wirklich vertraut waren. Audi hier verrät Lessing eine Akribie, die man bei heutigen Gelehrten gerade in Bibelzitaten nicht selten vermißt. Ist ja dann nicht nur der W o r t l a u t zu ändern. Lessing ist sich der verschiedenen Zählung der Psalmen bewußt und ändert richtig Huartes „Psalm 8 3 " in ein „Psalm 8 4 " ab. E r weiß auch, daß die Vulgata, entsprechend der Septuaginta, diebeiden Samuelbücher des hebräischen Textes und der Luther-Übersetzung als Erstes und Zweites Buch der Könige bezeichnet, so daß es in der Vulgata ein Drittes und Viertes Buch der Könige gibt, die dem Ersten und Zweiten Buch der Könige in der Luther-
Der junge Lessing als Übersetzer aus dem Spanischen
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Übersetzung entsprechen. Zitate aus den von Luther nicht als kanonisch anerkannten Büchern, wie z. B. aus dem Buche Jesus Sirach (Ecclesiasticus), werden von Lessing allerdings zum Teil ausgelassen (z. B. K a p . 8, S. 449, 2 u n d S. 450, 1; Lessing S. 149 und S. 152), z u m Teil werden sie so, wie sie im spanischen T e x t v o r k o m m e n , auf deutsch a n g e f ü h r t , etwa mit dem Vermerk „Daher sagt auch der Prediger", aber ohne jede Quellenangabe. M a n darf daraus wohl noch nicht schließen, Lessing habe den Ecclesiasticus mit dem auch in der Lutherbibel kanonischen Ecclesiastes (Prediger) verwechselt. Einmal freilich ist durch die Ü b e r n a h m e der Lutherübersetzung a n die Stelle des Vulgatawortlauts d e r T e x t unverständlich geworden. H u a r t e schreibt im 14. Kapitel (S. 4 8 4 , 2 ) : „Esto t e n í a n bien e n t e n d i d o los griegos, pues llamaban a todas las naciones del m u n d o bárbaras, viendo su inhabilidad y poco saber" und gibt dazu die A n m e r k u n g „Graecis ac barbaris, sapientibus insapientibus debitor sum (Ad. Roman., C a p . I ) " , wobei die V e r w e n d u n g des Wortes barbarus den A n l a ß f ü r das Z i t a t bedeutet. Lessing übersetzt im T e x t : „Dieses sahen die Griechen sehr wohl ein, weswegen sie auch alle Völker in der Welt, in Betrachtung ihrer Ungeschicklichkeit und wenigen Wissenschaft, Barbaren n e n n t e n " (S. 329); dazu gibt er in einer R a n d n o t e die Luther-Fassung der Paulus-Stelle, nämlich „Ich bin ein Schuldner beide der Griechen u n d der Ungriechen, beide der Weisen und der Unweisen. Rom. I, 14", in der das W o r t , auf das es a n k o m m t — Barbaren — gar nicht erscheint. Unglücklicherweise ist die R a n d n o t e auch noch ein p a a r Zeilen weiter, gar auf die nächste Seite (S. 330), geglitten, sodaß sie n u n neben einen T e x t zu stehen k o m m t , der überhaupt keine Beziehung zu der R a n d n o t e gestattet. Q u a n d o q u e bonus d o r m i t a t H o m e r u s . M a n w i r d sehr sorgfältig suchen müssen, wenn m a n in Lessings Übersetzung weitere Versehen finden will. I m G r u n d e bleibt es staunenswert, wie deutlich schon der Zweiu n d z w a n z i g j ä h r i g e in dieser Übersetzung eines keineswegs leichten Werkes die V o r züge erkennen läßt, die später so stark an ihm hervorgetreten sind: scharfes Erfassen des Textes, überlegte Methode, lebendige Übertragung bei aller N ä h e zum Original, peinliche Sorgfalt im Zitieren. D a ß er der spanischen Sprache mächtig w a r , d a v o n hat m a n damals nicht so viel Aufhebens gemacht wie heutzutage.
GEORG PHILIPP HARSDÖRFFER UND DIE HUMANISTISCHE TRADITION Wilhelm Risse • Berlin
Sucht man nach den Anfängen „modernen" Geistes, so kann man weit ins Mittelalter zurückgehen. Und andererseits finden sich noch in neuerer Zeit Gedanken alter Traditionen. Geistesgeschichtlich kann man diesen Umbruch des Zeitgeistes in Beziehung setzen zur Verdrängung des Lateinischen als Gelehrtensprache durch die Nationalsprachen. Frühe Werke nichtlateinischen Geistes, wie Dantes Cammedia oder Luthers Bibelübersetzung, verleiten leicht zu dem Trugschluß, als seien in jenen Zeiten nennenswerte nationalsprachige oder gar nationalgesonnene eigenständige Kulturen vorhanden gewesen. Das trifft für die höhere Bildung nicht zu. Denn bis ins 17./18. Jahrhundert hinein sind die maßgebenden Werke sämtlicher Wissenschaften lateinisch geschrieben, auch wenn dieselben Texte in den Volkssprachen verbreitet waren. Hauptgrund dafür ist sicher die Exaktheit der lateinischen Sprache, in zweiter Hinsicht ihre allgemeine Verbreitung. Das Latein dieser Zeit ist aber nicht nur äußere Einkleidung, sondern Spiegel des Geistes, indem sich hier ein Grundzug humanistisch-rhetorischen Gedankengutes kundtut. Besteht nach Cicero die Aufgabe der Rhetorik darin, ut probet, ut delectet, ut flectat; und sehen die Humanisten mit Valla und Erasmus den Weg zu vollkommener wissenschaftlicher Darstellung in der imitatio auctorum, so erfüllt sich die Wissenschaftsgesinnung humanistischer Schulbildung in der Überlieferung geistigen Gutes. Im Mittelpunkt steht die Lehre der Autoritäten, der Bibel und der Klassiker, Aristoteles' und Galens. Ihre Lehre gilt es zu erhalten. Und die Schulstreitigkeiten gelten wesentlich der Interpretation, nicht dem Wahrheitsgehalt ihrer Lehren. So besteht der humanistische Wissenschaftsbetrieb weitgehend in immer wiederholter Darstellung einmal gesetzter Lehren. Und der Wissensstoff wird mehr durch die Stellung des Menschen in der Welt als durch die Gegebenheiten der Dinge bestimmt. Einige Grundzüge dieses Wandels von humanistischer zu moderner Gesinnung seien an Georg Philipp Harsdörffer erläutert. Und zwar einmal an seiner Beurteilung der Sprache. Zum andern an seiner Kunsttheorie. Mit beiden fußt er auf alten Traditionen. Aber beide lassen den Gang der weiteren Entwicklung ahnen. Doch typisch für diese Grenzscheide zwischen den Zeiten ist, daß er seine Rechtfertigung der deutschen Sprache lateinisch vorträgt, in der Gelehrtensprache seiner Zeit. Harsdörffers Ankündigung, in seinem „Poetischen Trichter" (Nürnberg, 1647/53), „die teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der lateinischen Sprache in sechs Stunden einzugießen", erinnert an die Wunderkuren der Alchimisten und Quacksalber der
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Zeit. Und wirklich fußt seine Bildung auf einer Tradition, die zwar weniger in der Poetik als in der allgemeinen Sprachwissenschaft einerseits, in der Logik andererseits eine Reihe phantastisch anmutender Vorgänger aufweist. Die Voraussetzung, daß die Dichtkunst erlernbar sei (Trichter, I, fol. * V rf), entspricht humanistischer Bildungslehre. Ebenso die andere, daß sie moralisch wirken und das Gemüt erfreuen solle (Trichter, I, 7 f.). Dabei will Harsdörffer aber das Wissen nicht nur äußerlich, sondern im Sinne des durch seinen Lehrer Matthias Bernegger vermittelten Lullismus von einem zentralen Mittelpunkt aus erfassen. Dazu hatte Raymundus Lullus um 1300 Tafeln grundlegender Begriffe, Prinzipien, aufgestellt und versucht, durch deren Kombination jede mögliche Gedankenverbindung in ein logisches Schema einzufügen. Das sollte einerseits eine prinzipielle Eindeutigkeit wie Vollständigkeit des Gewußten garantieren, andererseits den Denkvorgang sehr erleichtern. Letztes Ziel dieser Lullistischen Kombinatorik ist damit eine Art Denkmaschine, wie sie auch Harsdörffer vorschwebte. So schreibt Leibniz 1666 (De arte combinatoria, Akademieausgabe VI 1, p. 203): Sic ipsemet Harsdörff. P. 2. sect. 14. prop. 5. madiinam 5 rotarum concentricarum construit, quam vocat, Fünffachen Denckring der teutschen Sprache. Ubi enim rota intima sunt 48 Vorsilben, in penintima 60 Anfangs- und ReimBuchstaben, in. media 12 Mittelbuchstaben, vocales nempe vel diphthongi; in penextima 120 End-Buchstaben, in extima 24 Nachsylben. In has omnes voces germanicas resolvi contendit... Diese Idee, ein mechanisch darstellbares Modell des Denkens zu konstruieren, wird dann verbunden mit Gedanken scholastischer Sprachlogik. Darin, etwa dem Tractatus de modis significandi des Thomas von Erfurt, geht es um die logische Giltigkeit — nicht die äußere, phonetische Gestaltung — der Sprache. Man wollte wissen, was den einzelnen Wortarten als funktioneller Bedeutungsgehalt zukomme. Von dieser Voraussetzung aus, daß die Funktion der Wortarten im Prinzip unwandelbar sei, suchte man dann weiter nach einer allgemeingiltigen Sprache. Trotz der seit der Antike geläufigen Lehre, die Sprache sei konventionell, lag die Frage nahe, ob eine bestimmte Sprache der Sache besonders angemessen sei oder ob sich für die verschiedenen Sprachen eine gemeinsame Wurzel finden lasse. Diese zweite Annahme, die einer „Ursprache", lag für die christlichen Philologen insofern nahe, als auf Grund biblischer Autorität (Genesis XI) eine solche Ursprache angenommen wurde und sämtliche anderen Sprachen als „Verwirrungen" galten. Dieser Gedanke war zwar in der ganzen christlichen Frühzeit und im Mittelalter bekannt, bekam aber erst mit dem Aufschwung der Philologie der Renaissance Bedeutung. Denn mit dem Bekanntwerden der griechischen, hebräischen u. a. Sprachen wurde damals diese Hypothese gewissermaßen in ein System gebracht. Denn nun suchte man, an H a n d ziemlich willkürlich herausgegriffener Beispiele, eine solche Ursprache zu beweisen. Und nach dieser Methode gelang manches, weil man von vornherein von der Richtigkeit dieser Hypothese überzeugt war. Weitgehend galt dabei das Hebräische, als Sprache des Alten Testaments, für die Ursprache der Mensdiheit. Aber auch andere Sprachen, wie die chinesische, schwedische, baskische und holländische, wurden mit diesem Titel bedacht. Doch ist die ganze Frage offensichtlich nicht lösbar.
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Eine andere Frage war, ob sich eine Kunstsprache oder wenigstens eine Kunstschriftsprache finden lasse, die allgemein verständlich ist. Zu dieser lingua universalis gehören nun zwei in ihren Motiven entgegengesetzte Richtungen. Die eine, von Trithemius von Sponheim und dem Herzog August von Wolfenbüttel vertreten, will eine nur dem Eingeweihten verständliche Geheimschrift, eine Steganographia, liefern. Die andere, von John Wilkins, George Dalgarno, Leibniz und teilweise auch von Athanasius Kircher propagiert, erstrebt ein allgemein verwendbares Zeichensystem f ü r wissenschaftliche Zwecke. Die Versuche einer Allgemeinsprache werden dann seit etwa 1660 abgelöst durch die Idee einer allgemeinen Grammatik, eine Tendenz, die namentlich in Frankreich verbreitet w a r und die 1660 in 'der Grammaire générale Lancelots und Arnaulds von Port Royal ihr berühmtestes u n d vielleicht bedeutendstes Werk f a n d . Gehört Harsdörffers Idee einer Denkmaschine thematisch in den Rahmen der lingua universalis, so ist ihm auch der Gedanke einer Ursprache nicht f r e m d : Lingua Hebraea omnium linguarum primigena et matrix e s t . . . Haec lingua iuste cum homine iusto prognata, Deum habuit autorem, Deique interpretem A d a m u m . . . Ideoque lingua Deo vernacula, et sancta vocatur (Specimen philologiae germanicae, Norimbergae, 1646, p. 282). Doch folgert er draus: Lingua germanica prima non est, ut hebraea, sed primo genita eius filia (Specimen p. 284). D. h. ist die deutsche Sprache auch nicht die Ursprache der Menschheit, so ist sie doch neben der lateinischen zum mindesten gleichwertig, auch wenn diese Darstellung der deutschen Sprache lateinisch geschrieben ist. Eine wissenschaftlich fundierte Darstellung dieser von H a r s d ö r f f e r angeschnittenen Sachverhalte sucht man zu seinen Zeiten vergebens. Denn die gelehrte Philologie der Zeit war immer noch die lateinische. Die deutsche Philologie kam damals über die Anfänge wissenschaftlicher Kritik kaum hinaus. U n d sie war f ü r die zeitgenössischen Gelehrten weitgehend bloß ein „kurieuses" Thema zur gelehrigen Spielerei, aber nicht Gegenstand ernster Forschung. W a r mehr Experiment als begründete Lehre. Fragt man nach Einflüssen dieser gelehrigen Experimente auf die Dichtung, so ist allgemein die Neigung der Zeit zu poetischen Einkleidungen zu nennen. Das bezeugen die unzähligen lateinischen Widmungsgedichte ebenso wie die Lehrgedichte, etwa des Hieronymus Fracastorius Syphilisschrift oder des Martin Hallerford Geschichte der Logik, beide in Hexametern. Im besonderen gilt aber die B'uchstabenkombination für manche Kabbalisten als höhere Offenbarung und als Einblick in dem Verstand sonst verborgene Einsichten. So sehen etwa Reuchlin und Knorr von Rosenroth in den vier Vokalen IAVE das Wesen Gottes. Oder Johannes Craig, Theologiae christianae principia mathematica, 1699, will aus der Zuordnung von Zahlen zu theologischen Sätzen die Wiederkehr Christi zeitlich bestimmen. Beliebt sind auch Anagramme, Buchstabenumstellungen, die eine sachliche Charakterisierung des Namens geben sollen. So deutet der Polyhistor J. H . Alstedius seinen N a m e n als „Sedulitas" („Eifer"). U n d Herzog August von Wolfenbüttel schreibt unter dem Pseudonym „Gustavus Selenus" (Lüneburg — luna — aeXnvr]). Zum Ave Maria, gratia plena, dominus tecum werden im „ABC cum notis variorum" (1703, I, p. 176 ff.) gleich 100 fromme Anagrammata gebracht. Beliebt waren auch Gedichte, die man vorwärts wie rückwärts lesen kann (ABC I, 161 ff.), Gedichte, Grabinschriften usw., deren sämtliche Worte mit demselben
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Buchstaben anfangen, wie die 18 Seiten lange Scherzrede „Papa pariens" (ABC II, 71 ff.) und makaroneisdie Verse, gemischt aus lateinischen und nationalsprachigen Worten, wie die „Floia, cortum versicale, de flois swartibus, Ulis deiriculis, quae omnes fere minschos, mannos, weibras, jungfras etc behuppere et spitzibus suis schnaflis steckere et bitere solent. Authore Gripholdo Knick-Knackio ex Floilandia, s. 1. 1593 (u. ö.)". All jene skurrilen Kuriositäten spätlateinischer Dichtung sind Harsdörffer wohl bekannt. Und er hängt ihnen auch an, soweit er einfach Elemente herrschender Moden übernimmt. Bei kritischer Sichtung dieser barocken Exzesse bleibt jedoch für Harsdörffer nicht viel übrig. Die makaroneischen Verse gelten als sprachwidrig, als Verwilderung des Geschmacks (Trichter I, 111 f.). Die wortsym'bolische und anagrammatische Literatur wird zwar einerseits nur als Reim- und nicht als Dichtkunst anerkannt (Trichter I, 11). Andererseits haben diese „poetischen Fechtspringen" aber „wegen ihrer Seltsamkeit einen feinen Gebrauch". Und Anagramme „belustigen . . . vor allen anderen" (Trichter II, 30). Doch wird diese Wortdichtung den Anforderungen echter Poetik nicht gerecht. Fehlt ihnen doch das wesentliche Kriterium echter Dichtung, der malerische Bildgebraudi (Trichter I, 3 f., 6; II, 33, 37; III, 36, 101). Im konkreten Falle, in der Kunsttheorie, sieht Harsdörffer somit weitgehend die innere Hohlheit der Skurrilitäten seiner Vorgänger ein. Er ist aber deren geistigem Erbgut zu sehr verpflichtet, als daß er selber ganz davon abkäme. Diese Betrachtungen entstammen Studien zur Geschichte einer Tradition, die in der Philosophie bei Leibniz in eine rationale Form gebracht ist. Dort bilden diese Lullistischen Gedanken aber ebenso einen Fremdkörper wie in Markwardts Poetik. Und doch sind sie historisch wirksam gewesen und zeigen manche zum Verständnis der geistigen Situation jener Zeit dienlichen Wesenszüge, die uns heute fremdartig erscheinen.
22 Markwardt-Festschriit
D E R W O R T G E B R A U C H F R I E D R I C H AUGUST WOLFS Ein Beitrag zur Sprache des Neuhumanismus Hans-Friedrich
Rosenfeld
• München
Wer sich mit der Sprache des Neuhumanismus1) beschäftigt, kann an Friedrich August Wolf nicht vorbeigehen. Von Winckelmann auf dem Gebiete der bildenden Kunst ins Leben gerufen, gewinnt der Neuhumanismus in Wolf seinen gelehrten Hauptvertreter, der die Gesamtheit der antiken Kultur umfaßt und sie als Grundlage für die Erziehung zu echter Menschlichkeit begeistert preist, wie er es einmal in die Worte faßt: ,Humanitatis studia hingegen umfassen alles, wodurch rein menschliche Bildung und Erhöhung aller Geistes- und Gemüthskräfte zu einer schönen Harmonie des inneren und äußern Menschen befördert wird' (Kl. Schriften ed. Bernhardy, 2, 1896, S. 856 Anm.). Diese Humanitätsidee prägt er dem neuen Lehrerstande ein, den er durch die Trennung von der Theologie und durch die Betonung seiner selbständigen Lebensaufgabe recht eigentlich erst in Erscheinung treten läßt. Sein Großangriff gegen die Einheit der homerischen Werke schlug damals die weitesten Kreise der gebildeten Welt in ihren Bann und entfachte leidenschaftliche Anteilnahme an der Homerfrage. Als Universitätslehrer war er einer der wirkungsvollsten in ganz Deutschland. Der große Historiker Friedrich Christoph Dahlmann bekannte 1849 von ihm: „Als ich nun im Sommer 1803 Wolf . . . hörte, da ging mir freilich an der geistigen Begabung des Mannes ein neues Licht auf, welches weit über seine Fachwissenschaft hinaus strahlte, und noch diesen Augenblick glaube ich, daß der Geist freier Untersuchung, welcher durch seine Prolegomena zum Homer geht, den deutschen Köpfen einen Anstoß gegeben hat, dessen Schwingungen über das Gebiet der Philologie weit hinausgehen." Voll Dankbarkeit erklärte er weiter, von keinem andern 1 ) Die Bezeichnung ,Neuhumanismus' bzw. ,neuhumanistisch' wird leider durchaus nicht einheitlich gebraucht. Dies sei an ein paar Beispielen gezeigt. Für G. Toffanin, Geschichte des Humanismus, Amsterdam 1941, beginnt der Neuhumanismus mit Erasmus (S. 376 u. 281, „nur die Gräkophilen von Venedig . . . gehen ihm teils voraus, teils stehen sie ihm zur Seite"). Aber er läßt diesen im Gefolge des Erasmus entstandenen Neuhumanismus erst im späten 18. Jahrhundert „auch zu uns (d. h. nach Italien) kommen, nachdem er sein alkäisches Schiff schwer mit antirömischem Romanticismus beladen hatte" (S. 382). K. Eder, Deutsche Geisteswende zwischen Mittelalter und Neuzeit, Salzburg-Leipzig 1937, sieht den Beginn des H u m a nismus (nicht bloß des Humanitätsideales) bei den Römern (doch wohl bei Cicero) beginnen (S. 108), während P. Hofmann, Der Humanismus in der abendländischen Gesdiichte (Dt. Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 25, 1951, S. 317 ff.). Sokrates als „den eigentlichen Inaugurator des Humanismus" bezeichnet (S. 140). Hankamer, Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im 16. und 17. Jahrhundert, Bonn 1927, versteht unter Neuhumanismus den späten Humanismus des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. E r spricht daher von „allen Neuhumanisten bis zu Schottel" (S. 72).
Der Wortgebrauch
Friedrieb
August
Wolfs
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„in seiner Denkweise und seiner Ideenrichtung so nachhaltig bestimmt" zu sein als von W o l f (A. Springer, Fr. Chr. Dahlmann, Bd. 1, Leipzig 1870, S. 4 5 2 ) . Sein Umgang mit Goethe und Wilhelm von Humboldt lassen ihn unmittelbaren Einfluß gewinnen auf die Entwicklung des deutschen Idealismus. Goethe, der schon 1795 nach Empfang der Prolegomena geschrieben hatte, daß die Bekanntschaft mit W o l f und dessen Werken bei ihm und bei den Arbeiten in seinen Werken Epoche mache (Weimarer Ausgabe, Briefe 10, 4 2 0 f.), schrieb im Juni 1814 anläßlich eines Zusammenseins mit ihm in B e r k a : „Damit mein metallisches Wesen recht geläutert und gediegen werde, bin ich abermals wie in eine neue ö s s e geworfen, wo die gewaltigsten Blasebälge mich anfauchen. Geheimerat W o l f ist seit mehreren Tagen hier, und dieser wundervolle M a n n nimmt midi unter den Amboß der Kritik, da midi die Flammen der Poesie, aus denen mein Festspiel hervorgeht, schon flüssig genug geschmolzen hatten. . . . D a wird alles aufgeregt, was man besitzt, und einem ein noch ungeheurer Reichtum aufgedrungen; bald weiß ich nicht mehr, wie ich schleppen soll. Es ist eine so furchtbare Konsequenz in diesem Manne, daß man seine Unterhaltung gar nicht teilweise wiedergeben kann; was würde man zu einigen Quadratfußen aus Michel Angelos jüngstem Gericht sagen, und wo man einen Rahmen anlegen wollte, so wird einem immer gleich angst und bange." (Weimarer Ausgabe, Briefe 24, 390 f.; vgl. Reiter 3, 202 f.) D a ziemt es sich wohl, daß im J a h r e der 2 0 0 . Wiederkehr von Wolfs Geburtstag (14. Februar 1759) auch von germanistischer Seite ihm eine Betrachtung gewidmet wird. Diese könnte den Auswirkungen seiner Homerthese für die Germanistik, insbesondere das Nibelungenlied, nachgehen und würde dabei einen guten Teil der Wissenschaftsgeschichte unseres Faches aufzurollen haben. Sie soll hier aber, einem größeren Vorhaben des Verfassers entsprechend, sich im rein Sprachlichen halten. F. A. W o l f war in erster Linie ein Mann des gesprochenen
Wortes.
Jegliche Schrift-
stellerei hat er gelegentlich mit Geringschätzung „die sitzende Lebensweise"
genannt
und hat für sich selbst i n Anspruch genommen, daß er „niemals Schriftsteller, sondern immer nur Lehrer sein wollte". Von der Art seines Vortrages, der ihm die Herzen seiner Schüler so gewann, daß ihm spätere Reisen, besonders eine solche in die Schweiz 1822, geradezu zu Triumphzügen wurden, können wir uns nach den verhältnismäßig wenigen deutschen wissenschaftlichen
Schriften, die er hinterlassen hat, nur geringe
Vorstellung machen. Unmittelbar lebt seine Persönlichkeit fort in seinen Briefen.
Ihnen
soll daher diese Betrachtung vorzüglich gewidmet sein. Das hat zugleich den Vorteil, daß in der ausgezeichneten Ausgabe von Siegfried Reiter,
Fr. A. W o l f . Ein Leben
in Briefen, Stuttgart 1935, bereits mancherlei Vorarbeit geliefert ist. Es ist natürlich, daß bei einem klassischen Philologen des 18. Jahrhunderts
in
Briefen, die größtenteils an Fachgenossen und sonstige Gelehrte gerichtet sind, das antike
Zitat
und das Fremdwort
eine große Rolle spielten. D a b e i werden ebenso gern
geflügelte antike Worte verwendet wie Alltägliches in lateinische, sehr viel seltener griechische Worte gekleidet. Welchen U m f a n g dies hat, ersieht man am besten daraus, wenn wir aus zwei etwa dem Durchschnitt entsprechenden Briefen, die je wenig mehr als eine Druckseite in Anspruch nehmen und die anderthalb Jahrzehnte auseinanderliegen, die Satzteile mit 22*
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Hans-Friedrich Rosenfeld
den fremdsprachigen Worten und den selteneren Fremdwörtern herausheben, der eine an Christian Gottfried Schütz vom 13. September 1796, der andere an Karl August Böttiger vom 19. Februar 1812 (1, 215 f. und 2, 138 f.) 1, 215 f.: ,Ich gehe in 8 Wochen von hier weg — (noch diese Woche hoffe ich die missionem honestam zu erhalten) zur professio Graec. litterarum in Leyden. Der Gehalt (schon das fixum über 3000 Gulden) die Bibl. Leidensis, die lautitiae Mss. Ruhnkenii . . . ziehen mich mächtiglich, wenn gleich die ÖEiva övo[xaTa der Vorgänger mich nicht wenig erschrecken. — (wogegen) die kleine Inscriptio meines letzten Buchs blos ein Tribut der Dankbarkeit war. — bis zu einem völligen Ruhestande der respubl. Batava — So begiengen wir die Thorheit (eine wahre deoßAaßeiav), — Ich bitte Sie daher, diese Nachricht ... selbst dort ev änoQQr\xoi