Seefahrten des Denkens: Dietmar Koch zum 60. Geburtstag 3893084525, 9783893084524

"Denn man muss bei diesen Dingen wenigstens eines entweder lernen oder herausfinden, wie es sich damit verhält oder

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
„Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ Vorwort zur Festschrift
I. Meer und Reise
Tatjana ArndtAn EuterpeDrei Gedichte von Anna Achmatova
Simon Schüz: Die Sehnsucht nach dem Meer. Stilles Gespräch mit Saint-Exupéry
Antonino Spinelli: Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters. Betrachtungen zu Eugenio Montales Gedichtzyklus "Mediterraneo"
Jörg Magenau: Der Riss im Schleier der Zeit. Ernst Jüngers „Annäherungen“ als Weltreisen ins Innere
Joana Günther: Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche
Sebastián Ochoa: Aufnahmen
II. Gnôthi seautón
Damir Barbarić: Die Einkörperung der Seele nach Platons "Phaidros"
Julia Pfefferkorn: Sokrates’ Lob der "theía manía". Zur Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros
Igor Mikecin: Die Dunkelheit der Sprache Heraklits
Alina Noveanu: Das Genießen der Aphrodite. Zu den Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons "Symposion"
Joachim Schneider: Werden - Entstehen und Vergehen - in der Philosophie der Vorsokratiker. Die Erfindung der Endlichkeit
David Schäfer: Gewissensbisse
III. „Zu den Sachen selbst!“
Arnulf Heidegger: Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger
Giuliana Gregorio: Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs
Francesco Cattaneo: „Die Begriffe jeden Tag neu denken“. Die wesentliche Anfänglichkeit des Denkens im anderen Anfang
Ferdinando G. Menga: Repräsentation und Entzug. Phänomenologische Wege zwischen Fragen und Antworten
Roberto Rubio: Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger
Rosa Maria Marafioti: Der Mensch und der Denker. Heideggers Verirrung und seine Kritik am Nationalsozialismus ausgehend von den "Schwarzen Heften"
Ralf Elm: Technomorphismus und Seinssorge. Aristoteles’ Differenzierung von "poíesis", "prâxis", "theoría" und Heideggers frühes Seinsverstehen
Christos Voudouris: Die Sprache als Mittel zum ‚Rufen der Intention der Welt‘. Ein denkendes Gespräch mit Heideggers Vortrag "Die Sprache"
Julia Schmidt-Peterson: Spiegelungen – das Gestell und das Geviert
Rainer Thurnher: Das Katheder des Galilei. Eine Erzählung in phänomenologischer Absicht
Martin Maria Strohmayer: Sturm in Stille
IV. Stimmungen
Gerhard Wölfle: Versuch über Langeweile
Manuel Schölles: Der Trotz bei Franz Rosenzweig
Cathrin Nielsen: Rapport. Versuch über das Gedächtnis
Ryosuke Ohashi: Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ Zur Japanischen Ethik zwischen Tradition und Moderne
Niels Weidtmann: Was heißt Philosophieren? oder: Über Freundschaft
Daniele GiulianelliEin Streben nach Leere
Ana Munte: Der letzte Zweifler
Friedhelm Schneider: Kants Aufsatz "Beantwortung der Frage 'Was ist Aufklärung?'“. Bemerkungen am Rande oder Mutproben
Siglen
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Seefahrten des Denkens: Dietmar Koch zum 60. Geburtstag
 3893084525, 9783893084524

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Alina Noveanu, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli (Hg.)

Seefahrten des Denkens

Seefahrten des Denkens

Alina Noveanu, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli (Hg.)

Seefahrten des Denkens Dietmar Koch zum 60. Geburtstag

Umschlagabbildung: Martin Maria Strohmayer („Die große Überfahrt“)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: [email protected] Schlusslektorat: Marianne Ott Satz: Antonino Spinelli Printed in Germany ISBN 978-3-89308-452-4

Inhaltsverzeichnis

„Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ Vorwort zur Festschrift .................................................................................... 5 I. Meer und Reise Tatjana Arndt An Euterpe Drei Gedichte von Anna Achmatova .............................................................. 15 Simon Schüz Die Sehnsucht nach dem Meer Stilles Gespräch mit Saint-Exupéry................................................................. 19 Antonino Spinelli Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters Betrachtungen zu Eugenio Montales Gedichtzyklus Mediterraneo .................. 33 Jörg Magenau Der Riss im Schleier der Zeit Ernst Jüngers „Annäherungen“ als Weltreisen ins Innere ............................... 45 Joana Günther Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche ......................... 53 Sebastián Ochoa Aufnahmen .................................................................................................... 67 II. Gnôthi seautón Damir Barbarić Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros ......................................... 81 Julia Pfefferkorn Sokrates’ Lob der theía manía Zur Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros .......................................... 95 Igor Mikecin Die Dunkelheit der Sprache Heraklits .......................................................... 105

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Inhaltsverzeichnis

Alina Noveanu Das Genießen der Aphrodite Zu den Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons Symposion ............ 113 Joachim Schneider Werden – Entstehen und Vergehen – in der Philosophie der Vorsokratiker Die Erfindung der Endlichkeit ..................................................................... 123 David Schäfer Gewissensbisse ............................................................................................. 135 III. „Zu den Sachen selbst!“ Arnulf Heidegger Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger ........ 147 Giuliana Gregorio Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs ...................................... 155 Francesco Cattaneo „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ Die wesentliche Anfänglichkeit des Denkens im anderen Anfang ................. 163 Ferdinando G. Menga Repräsentation und Entzug Phänomenologische Wege zwischen Fragen und Antworten......................... 179 Roberto Rubio Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger ...... 195 Rosa Maria Marafioti Der Mensch und der Denker Heideggers Verirrung und seine Kritik am Nationalsozialismus ausgehend von den Schwarzen Heften ........................................................................... 203 Ralf Elm Technomorphismus und Seinssorge Aristoteles’ Differenzierung von poíesis, prâxis, theoría und Heideggers frühes Seinsverstehen ................................................................................... 219 Christos Voudouris Die Sprache als Mittel zum ‚Rufen der Intention der Welt‘ Ein denkendes Gespräch mit Heideggers Vortrag Die Sprache ..................... 235

Inhaltsverzeichnis

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Julia Schmidt-Peterson Spiegelungen – das Gestell und das Geviert .................................................. 251 Rainer Thurnher Das Katheder des Galilei Eine Erzählung in phänomenologischer Absicht ........................................... 255 Martin Maria Strohmayer Sturm in Stille .............................................................................................. 265 IV. Stimmungen Gerhard Wölfle Versuch über Langeweile ............................................................................. 277 Manuel Schölles Der Trotz bei Franz Rosenzweig .................................................................. 293 Cathrin Nielsen Rapport Versuch über das Gedächtnis ....................................................................... 303 Ryosuke Ohashi Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ Zur Japanischen Ethik zwischen Tradition und Moderne ............................. 309 Niels Weidtmann Was heißt Philosophieren? oder: Über Freundschaft .............................................................................. 319 Daniele Giulianelli Ein Streben nach Leere ................................................................................ 327 Ana Munte Der letzte Zweifler ....................................................................................... 329 Friedhelm Schneider Kants Aufsatz Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ Bemerkungen am Rande oder Mutproben.................................................... 333 Siglen ........................................................................................................... 339

„Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ Vorwort zur Festschrift

Die Philosophie und das Meer Friedrich Nietzsches Appell an die Philosophen, der sich in der Fröhlichen Wissenschaft (FW, KSA 3, S. 529 f.) findet, spielt in seiner pointierten Kürze auf eines der reichsten Metaphernfelder der Philosophie an. Wohl kaum ein Philosoph in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne hat nicht an irgendeiner Stelle seines Werkes auf Meer und Seefahrt Bezug genommen, um seinem Gedanken Ausdruck zu verleihen. Es stellt sich also die Frage: Aus welchem Grund erlangt diese Metaphorik in der Philosophiegeschichte eine solche Bedeutung? Einige einleitende Worte sollen dem Versuch gewidmet sein, dieser Frage nachzugehen. Unschwer lässt sich feststellen, dass wir die thematische Breite und die philosophische Tiefe dieses Bildbereiches Platon verdanken. Die auf Alkaios (46a D, 326 LP) zurückgehende und von Theognis (667-682) sowie Aischylos (Sieben gegen Theben, 62-64) wiederaufgenommene Analogie des Staats-Schiffes und der damit verknüpfte Vergleich zwischen Herrscher und Steuermann finden bei Platon bereits im Frühwerk Anwendung (Euthd. 291d). In der Politeia ist es die Bildlichkeit des Steuermanns, die Sokrates’ Gesprächspartnern vor Augen führen kann, was für sie mit Blick auf den Staat nicht offensichtlich ist: dass die Staatsführung eine Kunst ist, die nicht jeder beherrscht; dass der Staatslenker zugunsten des Ganzen und nicht zum eigenen Vorteil befiehlt; dass ein Staat immer in der Gefahr schwebt, durch Missregierung im wahrsten Sinne des Wortes „unterzugehen“ (R. 341c-d, 342e, 488a-489c). Die bildstarke Metaphorik des Staates als Schiff auf hoher See versetzt die Gespräche über Staatsführung in eine extremere und für die Vorstellung fassbarere, in eine mit einer bestimmten Gefühlslage verbundene Dimension, die die Bedeutung der Frage nach der guten Staatsführung mit großer Prägnanz verdeutlicht. Den Übergang zu einem weiteren Anwendungsbereich des Metaphernfelds leistet die vor allem in der Politeia prominente weiterführende Betrachtung des guten Steuermanns, der hier mit dem Philosophen identifiziert wird. Von dieser Identifikation ist es nicht mehr weit bis zur Übertragung der Metaphorik auf die Seele im Phaidros, wo der νοῦς zum „Steuermann der Seele“ (ψυχῆς κυβερνήτης, Phdr. 247c) erklärt wird. Die Assoziation zwischen dem göttlichen νοῦς und dem Steuermann entfaltet ihre größte philosophische Fruchtbarkeit im Mythos der zwei Weltalter des Politikos, in dem der Gott, kurz bevor die Ordnung der Welt gänzlich aufgelöst ist und sie „im unbegrenzten Meer der Ungleichheit [εἰς τὸν τῆς ἀνομοιότητος ἄπειρον ὄντα πόντον]“ versinkt, das Steuer wieder aufnimmt (Plt. 273d). Das komplementäre Metaphernpaar „Meer“

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Vorwort zur Festschrift

und „Steuermann“ hat hier gegenüber der politischen Dimension eine weit tiefergehende philosophische Ebene erreicht. In der Betitelung des Meeres als „unbegrenztes“ schwingt eine Anspielung auf die in der Spätphilosophie zentralen Prinzipien πέρας und ἄπειρον mit. Doch es gibt noch einen dritten Anwendungsbereich der Meer-Metaphorik, der wiederum mit der Engführung von νοῦς und Steuermann verwandt ist: Was sich im Protagoras (Prt. 338a) als eine Analogie zwischen Rede und Seefahrt andeutet, entwickelt sich zum größten metaphorischen Netz in Platons Philosophie. In zahllosen Kontexten wird die jeweils durchgeführte Untersuchung, ja das Philosophieren selbst mit einer Seefahrt oder gar mit dem Schwimmen im offenen Meer enggeführt. Es sei erinnert an die drei „Wellen“ (κύματα), denen die Argumentation der Politeia begegnen und widerstehen muss (R. 457b, 472a, 473c), sowie an die Gefahr, in der Untersuchung „ins größte Meer [εἰς τὸ μέγιστον πέλαγος]“ zu fallen und nur „durch einen Delfin [δελφῖνά τινα]“ gerettet zu werden (R. 453d). Die philosophische Untersuchung ist eine Herausforderung, ein risikoreiches Unternehmen, das persönlichen Einsatz und Mut erfordert und das auch scheitern kann. Zeichen dessen ist das mehrfache Ausweichen auf einen „δεύτερος πλοῦς“ (Phd. 99d, Plt. 300c, Phlb. 19c), auf eine zweite, alternative Fahrweise, weil sich die erste als nicht gangbar erweist. Mehr noch als die Analogie des Staats-Schiffes und die Verbindung der Bildlichkeit des Meeres und der Seefahrt mit den Inhalten des spezifischen philosophischen Entwurfs scheint dieser dritte Anwendungsbereich der MeerMetaphorik bei Platon, nämlich ihr reflexiver Bezug auf die philosophische Betätigung selbst, auf spätere Autoren großen Einfluss ausgeübt zu haben. Auch Hegel etwa ließ sich durch die metaphorische Verknüpfung von Philosophie und Meer inspirieren, wenn er im Konzept zur Berliner Antrittsrede (1818) schrieb: Der Entschluß zu philosophieren wirft sich rein in[s] Denken […], – er wirft sich wie in einen uferlosen Ocean – – alle die bunten Farben, alle Stützpunkte verschwunden; alle sonstigen freundlichen Lichter [...] sind ausgelöscht, nur der Eine Stern, der innere Stern des Geistes leuchtet – er ist der Polarstern – aber es ist natürlich[,] daß den Geist in seinem Alleinsein mit sich gleichsam ein Grauen befällt; man weiß noch nicht, wo es hinauswolle[,] wohin man hinkomme. (GW 18, S. 30)

Hegel beschreibt das Philosophieren als einen Sprung nicht nur einfach ins kalte Wasser, sondern ins Grenzenlose und Uferlose eines nächtlichen Ozeans. Dieser Ozean ist das Denken selbst, das keine Schranken und keine Orientierungsmarken kennt als sich selbst. Hegels dunkles Bild evoziert die Größe des Denkens, seine Einsamkeit mit sich, die unendliche Zahl der Denkwege und den Mut, dessen der Philosophierende bedarf. Nietzsche, zu dem wir abschließend noch einmal zurückkommen, zeichnet in seinem Gedicht „Nach neuen Meeren“ (FW, KSA 3, S. 649) ein sehr viel

„Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“

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helleres Bild des Philosophierens, und doch bleiben viele Elemente aus Hegels Metaphorik erhalten: Nach neuen Meeren. Dorthin – will ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Offen liegt das Meer, in’s Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit –: Nur dein Auge – ungeheuer Blickt mich’s an, Unendlichkeit!

Auch Nietzsches Genueser Schiff treibt ins „Blaue“, ins „Offene“ und Unbekannte, auch ihm graut vor der abgründlichen „ungeheuer“ wirkenden „Unendlichkeit“ des Meeres, obgleich wir uns hier ein taghelles Meer vorstellen müssen. In Nietzsches Darstellung gibt es ein Ziel, einen konkreten Willen, einen Wunsch nach Herausforderung: Der Mut des Philosophierenden erfährt hier eine positive Beschreibung. Das Bild des schlafenden Mittags außer Raum und Zeit zeugt von einem Moment der Inspiration. Wenn wir also die Anfangsfrage wieder aufnehmen, aus welchem Grund die Meer-Metaphorik in der Philosophie eine solche Bedeutung erreicht, was sie dazu prädestiniert, so wäre jetzt darauf zu antworten: Sie gibt der Philosophie und dem Philosophierenden die Möglichkeit, in wirkungsstarker und treffender Weise auf sich selbst und auf die Unverfügbarkeit der eigenen Voraussetzungen und Wege Bezug zu nehmen. Jedes philosophische Denkunternehmen gleicht einer gefahrvollen Seefahrt und einem Sprung ins offene Meer. Die vorliegende Festschrift versammelt dreißig solcher „Seefahrten des Denkens“.

Die Idee zur Festschrift Die Idee zu dieser Festschrift nahm im Herbst 2014 während einer Tagung in Salerno Gestalt an, an der viele Mitglieder von Dietmar Kochs „Arbeitskreisen“ – dazu unten mehr – beteiligt waren. Entscheidend für den Übertritt der Schwelle von der Idee zur Realität war ohne Zweifel der hohe Grad an Zustimmung, den das Projekt sofort bei allen Freunden, Bekannten, Weggefährten Dietmars, jeden Alters und jeder beruflichen Ausrichtung, erfuhr. Das Herausgeber-Trio fand sich im Handumdrehen. Der Universitätsverlag Attempto, bei dem Dietmar Koch seit Anfang der Neunzigerjahre eine Vielzahl an Monographien und Aufsatzbänden herausgegeben hatte, erklärte sich spontan bereit, das Projekt aufzunehmen und uns bei der Finanzierung entgegenzukommen. Dass der Band sich durch private Spenden würde finanzieren können, stand bereits nach einer ersten Umfrage unter den Beitragenden außer Zweifel. Nachdem so die Grundlagen für die Veröffentlichung geschaffen waren, konn-

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Vorwort zur Festschrift

te zur inhaltlichen Planung übergegangen werden. Besonders in Erinnerung bleiben aus den folgenden Monaten, bis zur Fertigstellung des druckfertigen Manuskripts, die Maßnahmen zur strengen Geheimhaltung, denen ein Projekt dieser Art zwangsläufig unterworfen ist und die nicht selten zu brenzligen Situationen führten.

Ein Sammelsurium von Seefahrten Die hier versammelten Beiträge folgen ausdrücklich keiner formalen und keiner inhaltlichen Vorgabe. Als einzige Empfehlung an die Beitragenden wurde formuliert, dass der eingereichte Text ein persönliches Geschenk an Dietmar Koch sein sollte. Ergebnis ist ein buntes Sammelsurium aus Beiträgen der verschiedensten Textsorten – Aufsätze, Geschichten, Gedichte, Übersetzungen, Essays – sowie auch einige Bildbeiträge in Form von Fotografien und Zeichnungen. Die Breite und Uneinheitlichkeit des Bandes spiegelt so den Reichtum an Ideen und Assoziationen, an Themenfeldern und persönlichen Gedanken, die die Freundschaft mit Dietmar Koch in jedem Beitragenden aufkommen lassen. Die Gliederung, die wir dem Band zu geben versucht haben, ist daher auch nicht als feste Unterteilung zu verstehen. Die Übergänge zwischen den vier Teilen, die jeweils durch einen Bildbeitrag erfolgen, sind fließend. Angeführt von dem etwas anders gearteten Musenanruf Tatjana Arndts – einer Übersetzung dreier Gedichte Anna Achmatovas – enthält der erste Teil, dem wir die Überschrift „Meer und Reise“ gegeben haben, die Beiträge, die sich am deutlichsten auf den Titel der Festschrift beziehen: eine essayistische Deutung von Antoine de Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste (Simon Schüz), eine Interpretation von Eugenio Montales Gedichtzyklus Mediterraneo (Antonino Spinelli), einen Essay über Ernst Jüngers Annäherungen (Jörg Magenau) sowie eine Untersuchung der Berg- und Wander-Metaphorik bei Friedrich Nietzsche (Joana Günther). Auch der erste Bildbeitrag (Sebastián Ochoa), der diesen Teil abschließt, widmet sich der Thematik des Weges und der Wanderung. Der zweite Teil, betitelt mit „Gnôthi seautón“, versammelt die Beiträge, die sich der antiken Philosophie widmen: Zwei Aufsätze zu Platons Phaidros – zum Seelenmythos (Damir Barbarić) und zum „göttlichen Wahnsinn“ (Julia Pfefferkorn) – sind gefolgt von einer Untersuchung von Heraklits Sprache (Igor Mikecin) und einer essayistischen Betrachtung der Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons Symposion (Alina Noveanu). Ein weiterer Aufsatz beschäftigt sich mit der Thematik des Werdens bei den Vorsokratikern (Joachim Schneider), bevor der Teil durch eine fotografische Reise zur Insel Samothrake – ein bedeutendes Reiseziel sowohl in der Antike als auch für Dietmar Koch – zu einem Abschluss kommt (David Schäfer). Die dritte und umfänglichste Gruppe von Beiträgen, überschrieben mit „Zu den Sachen selbst!“, die sich Autoren und Fragestellungen der Phänomenologie widmen, wird eingeleitet durch einen Bericht zur Entstehung der Gesamtaus-

„Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“

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gabe von Martin Heideggers Schriften (Arnulf Heidegger) und enthält weitere Aufsätze zum Thema des Dialogs bei Hans-Georg Gadamer (Giuliana Gregorio), zum Denken des „Anderen Anfangs“ bei Heidegger (Francesco Cattaneo) sowie eine Konfrontation zwischen Heidegger und Bernhard Waldenfels (Ferdinando G. Menga), eine Betrachtung der Bedeutung der Kunst bei Heidegger (Roberto Rubio) und eine Untersuchung seiner Schwarzen Hefte (Rosa Maria Marafioti). Weitere drei Beiträge widmen sich Heideggers AristotelesInterpretation (Ralf Elm), seinem Aufsatz Die Sprache (Christos Voudouris) sowie seinem Begriffspaar „Gestell“ und „Geviert“ (Julia Schmidt-Peterson). Der Teil schließt mit einer Geschichte „in phänomenologischer Absicht“ (Rainer Thurnher) und einigen Zeichnungen Martin Maria Strohmayers. Der vierte und abschließende Teil vereinigt unter dem Titel „Stimmungen“ einen Aufsatz zur Thematik der Langeweile (Gerhard Wölfle), eine Auseinandersetzung mit dem Thema des Trotzes bei Franz Rosenzweig (Manuel Schölles), einen Essay über den Besuch einer Ausstellung (Cathrin Nielsen), einen Aufsatz über japanische Ethik (Ryosuke Ohashi) und eine Betrachtung der Verbindung von Philosophie und Freundschaft (Niels Weidtmann). Ein Aufruf an den Lebensmut in Form eines Gedichts (Daniele Giulianelli), eine komischgruselige Geschichte (Ana Munte) sowie eine Reihe Aphorismen zu Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Friedhelm Schneider) schließen den Band ab.

Der Beschenkte Dietmar Koch, selbst in den achtziger Jahren Studierender der Philosophie, Germanistik und Altphilologie in Tübingen, ist seit 1990 Seminarassistent und Dozent am dortigen Philosophischen Seminar. Er ist Autor zahlreicher Publikationen insbesondere im Bereich der Antike und Phänomenologie und des Weiteren Herausgeber einer großen Zahl philosophischer Publikationsreihen: etwa der Tübinger Phänomenologischen Bibliothek, der Denkwege und Phainomena, der Antike-Studien sowie der Zeitdiagnosen, um nur die wichtigsten zu nennen. Gemeinsam mit Kollegen aus der Philosophie oder aus benachbarten Fachbereichen organisiert er fast jährlich Tagungen in Tübingen, zu denen namhafte Fachvertreter und immer auch Nachwuchswissenschaftler eingeladen werden. Seit 2008 ist er Mitveranstalter der bekannten „Tübinger Platon-Tage“. Erwähnenswert ist schließlich auch sein jahrzehntelanges Engagement als wissenschaftliches Mitglied im Vorstand der „Martin-Heidegger-Gesellschaft“. Jeder Studierende der Philosophie kennt Dietmar Koch vom ersten Tag seines Studiums an: Manch ein verzwicktes bürokratisches Problem wäre ohne seine Erfahrung, seinen guten Willen und seinen Einfallsreichtum unlösbar. Viel wichtiger aber als dies ist, dass in vielen Fällen – etwa in der Studienberatung oder in den Seminarsitzungen zu Semesterbeginn – der erste Kontakt zu den Inhalten des Studienfachs durch Dietmar Koch erfolgt. Seine außergewöhnliche Art und Weise der Heranführung an und der Auseinandersetzung

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Vorwort zur Festschrift

mit philosophischen Texten hat insbesondere – aber bei weitem nicht nur – die jüngeren Beitragenden zu diesem Band nachdrücklich geprägt. Die Beschäftigung mit philosophischem Gedankengut offenbart sich in seinen Seminaren und Arbeitskreisen in jedem Moment als eine besondere Art der Begegnung mit dem Text, mit den Ideen der anderen, mit den eigenen Gedanken und Stimmungen. Sie bekundet sich als ein nie zu beendender lebendiger Austausch zwischen Leser und Text. Ein solcher Austausch sieht sich oft Momenten der Unverfügbarkeit ausgesetzt: zuallererst der Unverfügbarkeit der eigenen Stimmung im Lese- und Schreibprozess, aber auch der Unverfügbarkeit eines definiten Sinns hinter dem unerschöpflichen Reichtum eines klassischen Werks. Diese Momente gilt es als wesentlich für das Philosophieren und die eigene denkerische Entwicklung zu begreifen und mit ihnen geistig zu wachsen. Dietmar Kochs Bemühungen in der Heranführung junger Studierender an die Philosophie zielen so letztendlich immer auf eines: auf das Überspringen des Funkens philosophischer Begeisterung. Philosophie erschöpft sich nicht in Hausarbeiten, Noten und Credit Points. Bereits zu Beginn seiner Tübinger Zeit hat sich Dietmar Koch darum bemüht, einen Kreis Gleichgesinnter zu etablieren. Dieser Kreis fand in dem von ihm mitbegründeten Verein „Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie“ seine feste Form. Im Laufe der Jahre entstand nebst den halbjährlichen Treffen der Gesellschaft, die bis heute der Vorstellung der aktuellen Forschungsprojekte der Mitglieder gewidmet sind, eine Vielzahl von „Arbeitskreisen“, die insbesondere interessierte Studierende ansprechen sollten: Erwähnt seien hier vor allem der sogenannte „Bursen-“ oder „Samstagsarbeitskreis“ (der den aktiven Beiträgen von Nachwuchswissenschaftlern offensteht), der „Logos-Arbeitskreis“ (der sich seit einigen Jahren Platon widmet), der „Arbeitskreis für Europäische Philosophie, Griechische Mythologie und ihr Mysterienwesen“ sowie der „Arbeitskreis Philosophie und Psychoanalyse“. Von großer Bedeutung für alle Arbeitskreise ist ihre nachdrücklich internationale Ausrichtung, die sich sowohl in der Einbeziehung ausländischer Wissenschaftler und Studierender, als auch in der mit Eifer betriebenen Organisation von sommerlichen Arbeitskreistreffen und philosophischen Veranstaltungen etwa privat in Sizilien oder, mit Unterstützung des Deutschen Generalkonsulats Thessaloniki, auf Samothrake niederschlägt. Die stufenweise Einführung der Studienanfänger in das akademische Umfeld mit Hilfe der Arbeitskreise hat sich als eine einmalige und sehr konkrete Form der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern erwiesen: Sie besteht nicht nur in der Möglichkeit, wertvolle Kontakte zu knüpfen, sondern vor allem in der Ermutigung, das Wort zu ergreifen, sowie in der Wertschätzung des individuellen Beitrags jedes Mitglieds. In den oft intensiven Diskussionen steht auch gegenüber den jüngsten Teilnehmern nie die Vermittlung von Lehrmaterial im Vordergrund, sondern immer die Schaffung eines Raums für ein gemeinsames Denken, für ein intergenerationelles Gespräch in Freundschaft. Wie vielfältig und vieldimensional dieser gemeinsame Raum ist, davon kann die vorliegende Festschrift einen Eindruck geben. Sie ist unser aller gemeinsamer Dank an Dietmar Koch, für die Initiierung und Belebung dieses einmaligen Raums der philosophischen Begegnung.

„Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“

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Danksagung Es obliegt uns Herausgebern nun noch, eine Reihe weiterer Danksagungen vorzutragen. An erster Stelle möchten wir herzlich allen Autoren danken, die zum vorliegenden Band beigetragen haben. Ihre spontane und unumwunden zum Ausdruck gebrachte Begeisterung für das Projekt, ihr unbegrenzter Ideenreichtum hinsichtlich Thematik und Gestalt des eingesandten Beitrags, weiter ihr beeindruckender Einsatz und ihr Bemühen um Pünktlichkeit, Genauigkeit und um eine erfolgreiche Zusammenarbeit sowie schließlich ihr Vertrauen in uns Herausgeber waren das unverzichtbare Fundament für das Gelingen des Vorhabens. Die Finanzierung des Bandes verdankt sich den privaten Spenden von (in alphabetischer Reihenfolge) Giuliana Gregorio, Rosa Maria Marafioti, Ana Munte, Sebastián Ochoa, Christos Voudouris, Gerhard Wölfle sowie weiteren großzügigen Spenden, ohne die der Band nicht hätte erscheinen können. Nicht unerwähnt bleiben soll die Unterstützung, die wir durch den Verlag erfahren haben. Namentlich sei Karin Burger, Isabel Johe, Vanessa Weihgold sowie den ehemaligen Lektoren Daniel Seger und Bernd Villhauer, die den Band ursprünglich wohlwollend angenommen haben, herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Tübinger Künstler Martin Maria Strohmayer für das Titelbild („Die große Überfahrt“) sowie Marianne Ott für das Schlusslektorat. Die Herausgeber

I. Meer und Reise

Tatjana Arndt

An Euterpe Drei Gedichte von Anna Achmatova

Tatjana Arndt

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Муза Когда я ночью жду ее прихода, Жизнь, кажется, висит на волоске. Что почести, что юность, что свобода Пред милой гостьей с дудочкой в руке. И вот вошла. Откинув покрывало, Внимательно взглянула на меня. Ей говорю: «Ты ль Данту диктовала Страницы Ада?» Отвечает: «Я». 1924 Aus: Anna Achmatova, Lirika, Moskwa 2007, S. 341.

Muse Nachts, wenn ich sie erwarte, Hängt das Leben, so kommt mir vor, an einem Haar. Was sind schon Ehre, Jugend oder Freiheit Gegen die liebe Gastfreundin mit Schilf in ihrer Hand. Und siehe hin. Sie kommt herein. Wirft die Bettdecke beiseite. Aufmerksam schaut sie mich an. Ich sage ihr: „Warst du es, die dem Dante Die Seiten von der Hölle diktiert hat?“ Sie antwortet: „Ich war’s.“

An Euterpe

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Муза Как и жить мне с этой обузой, А еще называют Музой, Говорят: «Ты с ней на лугу...», Говорят: «Божественный лепет...» Жестче, чем лихорадка, оттрепет, И опять весь год ни гу-гу. 1956 Aus: Anna Achmatova, Die Muse, in Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, ru/dt., hrsg. v. Kay Borowski u. Ludolf Müller, Stuttgart 1983, S. 376.

Muse Wie soll ich mit dieser Last leben, Welche die Menschen auch ‚Muse‘ nennen. Sie sagen: „Du bist mit ihr auf der Wiese…“, Sie sagen: „Es ist göttliches Lallen…“. Härter als Fieberfrost schüttelt mich diese, Und tut mir das ganze Jahr keinen Gefallen.

Tatjana Arndt

18 Музa ушла по дороге Осенней узкой, крутой, И были смуглые ноги Обрызганы крупной росой Я долго ее просила Зимы со мной подождать, Но сказала: «Ведь здесь могила, Как ты можешь ещё дышать?» Я голубку ей дать хотела, Ту, что всех голубятне белей, Но птица сама полетела За стройной гостьей моей. Я, глядя ей вслед, молчала, Я любила её одну, А в небе заря стояла, Как ворота в её страну. 1915 Aus: Anna Achmatova, Lirika, Moskwa 2007, S. 137.

Die Muse ging einen Weg, Einen herbstlich engen, steilen, Und die dunkelhäutigen Beine waren Mit großen Tautropfen bedeckt. Ich bat sie lange darum, Mit mir auf den Winter zu warten, Aber sie sagte: „Das hier ist ein Grab, Wie kannst du noch atmen?“ Ich wollte ihr eine Taube geben, Die die weißeste aller im Taubenhaus ist, Doch der Vogel ist von selbst geflogen, Hinter meiner schlanken Gastfreundin her. Ich, ihr hinterher schauend, schwieg, Ich liebte nur sie allein, Und im Himmel stand Morgenrot, Wie das Tor zu ihrem Land.

Simon Schüz

Die Sehnsucht nach dem Meer Stilles Gespräch mit Saint-Exupéry

Jede philosophische Besinnung ist ein Gespräch. Zum Eigentümlichen philosophischer Gespräche gehört, dass in ihnen über Verschiedenes geredet und doch ein Selbiges ausgesprochen werden kann. Das ermöglicht, dass sich solche Gespräche auch im Stillen entwickeln können. Es liegt an uns, diese stillen Gespräche auszutragen und das Verschiedene ihrer Reden in ein Selbiges zusammenzufügen. Diesem Anspruch an die philosophische Besinnung versuchen die Arbeiten Dietmar Kochs in besonderer Weise zu entsprechen. Ihre thematische Breite darf deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alle Teile desselben Gesprächs sind, in das Platon ebenso eingeschlossen ist wie Heidegger und viele andere. Die Natur dieses philosophischen Gesprächs überhebt ferner der Einteilung in die ‚historische‘ und ‚systematische‘ Behandlungsweise von Themen. Es ist nur konsequent, dass Dietmar Koch seine Weise philosophischer Besinnung im Format von Gesprächskreisen pflegt und an andere weitergibt. Die Würdigung der Arbeiten Dietmar Kochs geschieht daher am besten in der Fortführung ihrer Art der Gesprächsführung, insofern diese von der Überzeugung getragen ist, dass Weg und Sache des Denkens zusammengehören. In diesem Beitrag möchte ich anhand von Passagen aus Antoine de Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste (franz. Citadelle) einen ersten Zugang zu einem solchen im Stillen geführten Gespräch bahnen. Dabei werden einige Resonanzen hörbar werden, die insbesondere zu den Entwürfen Heideggers und zu Nietzsches Also sprach Zarathustra bestehen, aber auch zu platonischen Motiven wie dem Verhältnis von Staat und Kosmos, éros und alétheia, Seiendem und Idee. Doch in erster Linie soll zunächst Saint-Exupéry selbst zu Wort kommen und nicht vorschnell gedeutet und festgesetzt werden. Gleichwohl bleibt, wie es sich für stille Gespräche gehört, die hier vorgenommene Auswahl der Passagen und Leitworte über das beredt, was in ihr verschwiegen wird.

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Analogie, Widerstreit und Weltlichkeit

In Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste hören wir in aphoristischer Form die Gedanken und Erinnerungen eines Königs des Berbervolkes, wie er sein Reich zu gestalten und zu regieren trachtet. Ein zentrales Motiv in den Reflexionen

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Simon Schüz

des Berberfürsten ist es, seinen „Sinn für das Reich“1 zu bewahren und gegen die verstellenden Meinungen seiner Untertanen und Berater festzuhalten: Wenn ihnen der Sinn für das Reich verlorengeht, werden sie nicht gewahr, daß sie verknöchern und ihre Substanz einbüßen und den Dingen ihren Wert rauben. Die Dinge bewahren ihre äußere Erscheinung, aber was ist eine Perle oder ein Diamant, wenn sie niemand begehrt? Sie haben den gleichen Wert wie geschliffenes Glas. [...] Sie sehen nicht ihre Verarmung, denn die Gegenstände, die sie gebrauchen, bleiben die gleichen. (S. 52 f.)

Geht der ‚Sinn für das Reich‘ verloren, dann geschieht mit den Dingen etwas, was sich als ‚Seinsverlassenheit‘ bezeichnen ließe. In dieser Verlassenheit ist das Seiende noch in der Art einer äußeren Erscheinung, wie es heißt, aber es ist vielmehr zu einem ‚Unseienden‘ verarmt und verwahrlost. Dieser Vorgang deutet darauf hin, dass das Wesen und die Substanz der Dinge in etwas anderem liegen als in ihrer bloßen äußeren Erscheinung. Laut dem König ist dies der „göttliche Knoten“, der dem Reich und dem darin wachsenden Menschen zugrunde liegt: Deswegen soll man alles, was Größe hat, stets im Menschen wachhalten und ihn zu seiner eigenen Größe bekehren. Denn die entscheidende Nahrung empfängt er nicht von den Dingen, sondern von dem Knoten, der die Dinge verknüpft. Was ihn speist, ist nicht der Diamant, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen Mensch und Diamant: nicht die Sandwüste, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen der Sandwüste und den Stämmen, die sie bewohnen. (S. 54)

Der durch den „Knoten“ gestiftete Zusammenhang ist ein Geflecht aus mannigfaltigen, aber geeinten Beziehungen unter Verschiedenem. In ihm fügen sich Mensch und Diamant, Sandwüste und Stämme in eine analogische Einheit. Das Bild des Knotens verdeutlicht ferner, dass diese Einheit nicht selbst etwas Seiendes über oder neben dem Seienden ist, welches sie verknüpft. Der Knoten ist nämlich nur eine Weise, wie gewisse Stränge miteinander verknüpft werden; er besteht aus nichts anderem als diesen Strängen. Und dennoch sind die Stränge nicht einfach identisch mit dem Knoten, zu dem sie verbunden werden. Aus dieser ‚ontologischen Differenz‘ ergibt sich, dass das Wesen des Reiches als Knoten unsichtbar wird für den analytischen, am Vorhandenen klebenden Blick der „Logiker“, gegen dessen Beschränktheit (und nicht dessen relative Gültigkeit) sich der König immer wieder ausspricht: So ist es mit denen, die mein Land zu entdecken glauben, indem sie es zerlegen. Es gibt darin, sagen sie, Hammel und Ziegen, Gerste und Häuser – und was denn sonst noch? Und sie dünken sich arm, da sie nicht mehr besitzen. Und es friert sie. [...] Während doch mein Land etwas ganz anderes ist als diese Hammel und Felder, diese Häuser und Berge; nämlich das, wodurch all das be1

Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste, übersetzt von Oswald von Nostitz, Frankfurt a. M. 1985, S. 52. Alle Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf diese Ausgabe.

Die Sehnsucht nach dem Meer

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herrscht und verknüpft wird: das Vaterland meiner Liebe! Und glücklich ist, wer darum weiß, denn er bewohnt mein Haus. (S. 21)

Die hier beschriebene Verknüpfung des Seienden im Knoten, der als „Vaterland meiner Liebe“ angesprochen wird, darf jedoch nicht dazu führen, die ‚ontologische Differenz‘ zwischen dem Knoten und dem Seienden auf den Unterschied zwischen einer Relation und ihren Relata zu reduzieren. Dies wird zum einen dadurch klar, dass das einzelne Seiende erst im und durch den Knoten wahrhaft und wesentlich existiert, also nicht einfach von ihm abtrennbar ist. Dies erläuterte bereits das obige Beispiel vom Diamanten, der ohne Einbindung in den Knoten seine Kostbarkeit verliert und sich nicht mehr wesentlich vom „geschliffene[n] Glas“ abhebt. Zum anderen ist es der Knoten selbst, der in dem, was er verknüpft, aufgeht und nahezu verschwindet; denn als analogisches Gefüge ist der Knoten etwas, worin Einheit und Vielfalt gleichursprünglich sind. Dies erläutert der Berberkönig am Gleichnis der Zitadelle, deren Einheit aus einer Steigerung der Vielfalt erst hervorgeht: Deshalb entfalte ich die Einheit der Liebe in verschiedenartigen Säulen und Kuppeln und ergreifenden Bildwerken. Denn wenn ich die Einheit ausdrücken will, mache ich sie vielgestaltig bis in[s] Unendliche. Und du hast kein Recht, daran Anstoß zu nehmen. (S. 181)

Wie aber sind die gleichursprünglichen Momente der Einheit und Vielfalt im Reich aufeinander bezogen? Dies erläutert der König am Gleichnis des Schiffsbaues, das zeigt, wie die analogische Einheit der Menschen und der Dinge durch einen übergreifenden Zweck gestiftet wird. Die Vielfalt durchdringt gleichsam ein einheitliches ‚Worumwillen‘. Darauf deutete bereits die obige Passage hin, in welcher der König fragt: „[W]as ist eine Perle oder ein Diamant, wenn sie niemand begehrt?“ (S. 53) Die Kategorie des ‚Begehrens‘, die Leben und Wollen umschließt, ist offenbar für das Reich und das vielfältige Seiende in ihm konstitutiv. Im Gleichnis des Schiffbaus scheint das Worumwillen zunächst in dem Ziel zu liegen, mit dem Schiff das Meer zu befahren: Ebenso darfst du es aber auch mir nicht zum Vorwurf machen, wenn mir die Unordnung in meinem Reich keine Sorge bereitet. Denn wenn dich die Betrachtung der Mannschaften verwirrt, die auf verschiedene Weise an ihren Tauen ziehen, mußt du nur ein wenig zurücktreten, um diese menschliche Gemeinschaft, diesen Knoten eines Stammes, der verschiedene Zweige treibt, diese Einheit, die ich vor allem erstrebe und die den Sinn meines Reiches ausmacht, gewahr zu werden. Und dann wirst du nur noch ein Schiff sehen, das auf dem Meere fährt. (S. 182)

Darin zeigt sich der gesuchte ‚Sinn des Reiches‘ als das ‚Welthafte‘ der im Reich gegründeten Welt. Denn der Sinn des Reiches übersteigt nicht nur das einzelne Seiende, sondern auch die jeweiligen Beziehungen des Seienden untereinander, wie etwa die Zweck-Mittel-Beziehungen, die jegliches ‚Zeug‘ ausmachen, wie es in der Herstellung des Schiffes gebraucht wird. Demnach hat auch der Schiffsbau seinen Zweck nicht einfach in sich selbst. Streng genommen ist

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nicht die Seefahrt des Schiffes der Endzweck der verschiedenen Tätigkeiten des Schiffsbaus, sondern das die Seefahrt und den Schiffsbau erst fordernde Worumwillen der „Freude am Meer“: Denn ein Schiff erschaffen, heißt nicht die Segel hissen, die Nägel schmieden, die Sterne lesen, sondern die Freude am Meer wachrufen – die ein und dieselbe ist – und wo sie herrscht, gibt es keine Gegensätze mehr, sondern nur Gemeinsamkeit der Liebe. (S. 182)

Der König unterscheidet somit die vielfältigen bestimmten Zwecke, die im Zuge des Schiffbaus verfolgt werden, sowie den davon abstrahierbaren, allgemeinen Zweck, das Meer mit einem Schiff zu befahren, von der „Freude am Meer“ als Worumwillen. Diese Unterscheidung ermöglicht es erstens, die Vielfalt der Zwecke zu vereinen, und zweitens, dem Zweck als solchem eine tiefere Dimension des Sinns abzugewinnen. Ein Zweck wie der Schiffsbau ist als solcher zunächst etwas Gesetztes, aber sein Sinn und der Grund, warum er überhaupt Zweck ist und dementsprechend ‚begehrt‘ wird, liegen in der „Liebe“, die sich in der „Freude am Meer“ ausdrückt. Zur Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielfalt gehört jedoch auch, dass die Einheit eine strittige, gegenstrebige und dynamische ist. Im Widerständigen sollen sich die Elemente der Einheit gegeneinander und gegen ein bloßes Einerlei profilieren und artikulieren. So spricht der König über die gegenstrebigen Interessen und scheinbar unvereinbaren „Wahrheiten“ der am Schiffsbau Beteiligten, der Brettschneider und Nagelschmiede: Ich werde aber auch nicht versöhnen. [...] Denn alles, was sie suchen, ist begehrenswert; all ihre Wahrheiten sind einleuchtend. Es ist meine Aufgabe, das Bild zu erschaffen, das sie in sich aufnehmen kann. Denn das gemeinsame Maß für die Wahrheit der Brettschneider und die Wahrheit der Nagelschmiede ist das Schiff. (S. 358)

Die vielfältige Einheit, welche die Freude am Meer stiftet, fordert ebenso das Auseinandertreten einander widerständiger Elemente, wie es sie in einem gemeinsamen Streben vereint. Auch für sich genommen braucht jedes Element den Widerstand, um seine Gestalt und seinen Platz im Worumwillen der Freude am Meer zu erhalten, weil es nur so auf lebendige Weise am Schiffsbau teilhat: Ich liebe es, wenn der leitende Baumeister die Brettschneider plagt, um die Nägel zu schützen, und die Nagelschmiede plagt, um die Bretter zu schützen. Denn aus dieser Spannung der Kraftlinien wird das Schiff entstehen, und ich verspreche mir nichts von den Brettschneidern ohne Leidenschaft, die die Nägel verehren, und von den Nagelschmieden ohne Leidenschaft, die die Bretter verehren. (S. 460 f.)

Für diese Notwendigkeit des strittigen Moments steht bisweilen das Motiv des Feindes, der mit dem König ebenso eng verbunden wie zerstritten ist:

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Wenn ich am Werke mitwirke, begegne ich daher stets meinen Feinden mit offenen Armen, damit sie mich wachsen lassen, denn ich weiß, daß es eine Ebene gibt, auf der mir der Kampf als Liebe erschiene. (S. 182)

Das Motiv des Feindes zeigt auch, dass die im Knoten der Liebe zum Reich gestiftete Einheit eine in sich abgeschlossene Ganzheit ausmacht. Zwischen den Reichen herrscht daher eine Art ‚Zerklüftung‘, der zufolge sie ganz ungleich sind, weil sie einem je eigenen Maß angehören, aber auch ganz gleich, weil das Wesen ihres Maßes, die Liebe, dasselbe ist. In diesem Sinn besingt der König seinen „vielgeliebten Feind“ (S. 476): Ich übe daher Gerechtigkeit entsprechend meiner Weisheit. Und er übt Gerechtigkeit entsprechend seiner Weisheit. Beide scheinen einander zu widerstreiten, und wenn sie sich die Stirn bieten, nähren sie unsere Kriege. Doch er und ich, wir folgen auf entgegengesetzten Wegen mit unseren tastenden Händen den Kraftlinien des gleichen Feuers. (S. 476)

Das „Feuer“ bildet eine Einheit, die sogar die beiden Feinde vereint und somit auch die jeweilige Gestalt des Reiches und seines Worumwillens übersteigt. Hier ist für den König der Ort des Göttlichen: In Dir allein, Herr, finden sie [die entgegengesetzten Wege] sich zusammen. [...] Denn Du bist, o Herr, das gemeinsame Maß für den einen wie für den anderen. Du bist der Knoten, der alles vielfältige Tun bestimmt. (S. 476)

Das Wesen des Reiches als göttlicher Knoten bildet somit den Ausgangspunkt und das Ziel für die Regierung des Königs. Im nächsten Abschnitt werde ich näher betrachten, welche Rolle dabei Bestimmtheit und Gestalthaftigkeit spielen, um einen jeweiligen Knoten zu bilden, der als Worumwillen der Menschen dienen kann.

II

Einzelheit, Gestalt und Sinn

Damit das Königreich eine Struktur analogischer Einheit entfalten und dabei ein umgreifendes Worumwillens abgeben kann, muss das Reich gebildet werden. An das Motiv der Bildung knüpft sich eine Auffassung des Lebens, die im Symbol der Zeder konzentriert wird: Bewahrt eure Gestalt, seid beständig wie der Schiffssteven und verwandelt innerlich wie die Zeder, was ihr von draußen hereinholt! Ich bin der Rahmen und das Gerüst und der schöpferische Akt, der euch ins Leben ruft; wie der mächtige Baum, der seine eigenen – und keine fremden – Zweige entwickelt, der seine eigenen – und keine fremden – Nadeln und Blätter bildet, müßt ihr nun wachsen und Wurzeln schlagen... (S. 101)

Das Reich sowie der Mensch, der im Reich aufgeht, haben wie die Zeder den Gesetzen des Lebens zu gehorchen. Zu ihnen gehört erstens eine Art existenzieller Überantwortung, denn die Zeder ist aufgefordert, ihre „eigenen – und keine fremden – Zweige“ zu bilden. Zweitens gebietet das Leben ein Wachs-

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tum durch schöpferische Transformation, so wie die Zeder das Gestein in ihre Zweige und Nadeln verwandeln muss, um zu wachsen. Beides, jemeinige Überantwortung und transformierendes Wachstum, steht unter dem Gebot der Bildung einer bestimmten, einzigartigen Gestalt. Wie der König am Bau des Palastes seines Vaters veranschaulicht, verstattet erst die Formgebung ein Worumwillen, das den „Rahmen“ und das „Gerüst“ für ein begehrendes Streben abgeben kann. In der Formgebung liegen für den König: Auswahl durch Ausschluss, Freiheit durch Zwang und Vollendung durch mühevolles Werden. Erst in diesen Formen des Zwangs und der Beschränkung kann Bestimmtheit erwachsen – und damit die Liebe zu etwas Einzigartigem und nicht mehr Austauschbarem: Ich habe mein Gesetz auferlegt, und es gleicht der Form der Mauern und der Anordnung meines Heims. Der Törichte kam zu mir und sagte: ‚Befreie uns von deinem Zwang, dann werden wir größer werden.‘ Ich wußte aber, daß sie dadurch zunächst kein Gesicht mehr erkennen und sodann – weil sie ein solches nicht mehr liebten – auch sich selber nicht mehr erkennen würden [...]. Denn sie schlugen mir vor, ich solle, damit man sich dort bequemer ergehen könne, die Mauern von meines Vaters Palast niederreißen, wo alle Schritte einen Sinn hatten. (S. 22)

Ohne Bestimmtheit, ohne Gesetz, haben die Schritte im Palast des Königs keinen Sinn mehr. Erst durch den schöpferischen Akt, dem Raum des Heims eine bestimmte Form zu geben, hat dieser auch einen Sinn. Dazu gehört mitunter, dem Heim ein „Herzstück zu geben, damit etwas darin sei, dem man sich nähern und von dem man sich entfernen kann“ (ebd.). Die im „Herzstück“ des Hauses gestiftete Bestimmtheit in der Ordnung des Raums gibt somit den Schritten eine Richtung und ein Entfernungsmaß, das heißt einen Sinn. Ebenso verhält es sich mit der Form der Zeit, die ihr durch die Ordnung der Riten und Feste gegeben wird: Und die Riten sind in der Zeit, was das Heim im Raume ist. Denn es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, das uns verbraucht und zerstört wie die Handvoll Sand, sondern als etwas, das uns vollendet. Es ist gut, wenn die Zeit ein Bauwerk ist. So schreite ich von Fest zu Fest, [...] von Weinlese zu Weinlese, so wie ich als Kind vom Saal des Rates in den Saal der Ruhe ging, im festgefügten Palast meines Vaters, wo alle Schritte einen Sinn hatten. (S. 21)

Der Zwang zur Bestimmtheit ermöglicht hiernach erst Gestaltwerdung. Die Wahl der Festtage mag von außen betrachtet arbiträr erscheinen, aber sie ermöglicht, dass es überhaupt ein bestimmtes Maß der Zeit gibt. Deshalb ist für den König ein „Taugenichts“, wer sagt: „Anderswo hat man andere Bräuche als die euren. Warum solltet ihr sie nicht verändern?“ (S. 23 f.) Wie in Abschnitt III noch näher betrachtet werden wird, kommt die Frage nach der Notwendigkeit einer jeweiligen Gestaltung immer schon zu spät, wenn sie an die Gestalt des Reiches gerichtet ist, das anderen Gestaltungen erst Maß und Raum gibt.

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In der Bestimmtheit der Gestalt gründet ihre Einzelheit und Einzigartigkeit; diese wiederum ermöglicht sinntragende Phänomene wie Liebe und Schönheit. Demnach gibt es ohne das Moment des Zwangs und des Ausschließens auch die Schönheit nicht: „Denn diese Blume hier ist vor allem eine Absage an alle anderen Blumen. Und eben nur unter dieser Bedingung ist sie schön“ (S. 33). Die Befreiung vom Zwang ist umgekehrt das Ende von Streben und Werden, welche auf etwas Bestimmtes gerichtet sind und daraus ihr Ziel empfangen. Mit dem Zwang und dem Widerstand verlieren sich auch die Werthaftigkeit des Worumwillens und der durch es gestiftete Sinn: Was hätte dieser Menschenhaufen, der auf seiner Streu unter der Krippe lag, sich noch wünschen können? Wofür hätten sie sich schlagen können? Für das Brot? Sie empfingen genug. Für die Freiheit? Aber in den Grenzen ihrer Welt waren sie unendlich frei. Sie ertranken schier in dieser maßlosen Freiheit, die manchem Reichen die Eingeweide aushöhlt. [...] Und ich gedachte der Worte meines Vaters: ‚Wenn du willst, daß sie Brüder sein sollen, zwinge sie einen Turm zu bauen. Willst du aber, daß sie sich hassen, so wirf ihnen Korn vor...‘ (S. 51 f.)

Nach den Worten des Königs sind demnach Bildung, Leben und Widerstand gegen Zwang unauflöslich miteinander verknüpft. Dieser Zusammenhang verdichtet sich wiederum im Bild der mühsam aufwachsenden Zeder: Glaubst du, die Zeder hätte dadurch Gewinn, daß sie den Wind vermiede? Der Wind peinigt sie, aber er formt sie zugleich. [...] Du suchst dem Leben einen Sinn zu geben, da doch sein Sinn vor allem darin besteht, daß du dich selber findest, nicht aber, daß du den elenden Frieden gewinnst, der mit dem Vergessen des Streites verbunden ist. Wenn dir etwas widerstrebt und dich peinigt, so laß es wachsen; es bedeutet, daß du Wurzeln schlägst und dich wandelst. Dein Leid bringt Segen, wenn es dir zur Geburt deiner selbst verhilft. (S. 134)

Die Elemente des Zwangs und des Streits kennzeichnen somit den Prozess eines Herausbildens der eigenen Gestalt. Der Mensch wird unter dem Zwang des Reiches somit zu dem, der er eigentlich schon ist. Der Wert des Knotens, der die Dinge zusammenhält, bestimmt sich demnach aus der Liebe und der Hingabe, die für ihn aufgebracht werden: „Gewiß, je härter die Mühen sind, mit denen du dich um der Liebe willen aufreibst, um so mehr feuern sie dich an. Je mehr du gibst, um so mehr wächst du.“ (S. 70) Ein zentraler Ausdruck für diese wertstiftende Hingabe ist der „Austausch“: Und im Laufe meiner langen Wanderungen habe ich klar erkannt, daß der Wert der Kultur meines Reiches nicht auf der Güte der Nahrung beruht, sondern auf der Höhe der gestellten Forderungen und der Inbrunst der Arbeit. Sie ist nicht aus dem Besitz, sondern aus dem Geschenk entstanden. [...] Und ich kenne jene verkümmerten Rassen, die keine Gedichte mehr schreiben, sondern nur lesen: die ihren Boden nicht mehr bebauen, sondern sich vor allem auf ihre Sklaven verlassen. [...] Ich liebe nicht die Seßhaften des Herzens. Alle, die nichts austauschen, werden zu nichts. (S. 33)

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Das Geschenk des Austausches dient keinem Handel und doch empfängt der sich Verschenkende darin erst sich selbst. Im Austausch bildet sich der Mensch zu einer bestimmten Gestalt und kann wachsen und etwas werden, weil er über sich hinausgeht. Diese Transzendenzbewegung im sich austauschenden Menschen, die abermals an das himmelwärts gerichtete Wachstum der Zeder erinnert, hat zwei Pole: zum einen das Göttliche des Reiches, das ihn übersteigt und überdauert, und zum anderen ein jeweiliges Kunstwerk, an das er sich mit Können und Mühe verschenkt. In der Schilderung des Königs gehört beides im Austausch zusammen, das Jenseits des Reiches und seines Tempels sowie das Diesseits eines Kunstwerkes: Und ich erkannte, worauf es ankommt: Vor allem gilt es das Schiff zu bauen und die Karawane zu rüsten und den Tempel zu errichten, der den Menschen überdauert. Und fortan siehst du sie sich in Freuden gegen etwas austauschen, was kostbarer ist als sie selbst. Und es entstehen die Maler, die Bildhauer, die Kupferstecher und Goldschmiede. Aber erwarte dir nichts vom Menschen, wenn er für sein eigenes Leben und nicht für die Ewigkeit arbeitet. (S. 32)

Das Sich-Verschenken der Maler, Bildhauer und anderen Kunsthandwerker ergeht in seinem Worumwillen an den Sinn des Reiches, aber im Vollzug an ihr jeweiliges Werk. Im Werk verdichtet sich der Zusammenhang von Gestaltwerdung und Sinnhaftigkeit, weil das Werk auf eine Vollendung zustrebt. Das (Kunst-)Werk wird somit zum Versammlungsort des göttlichen Knotens wie auch der Bezüge, die der Einzelne zu ihm hat. Insofern bleibt das Werk in seiner Wahrheit für den Künstler zumeist unsichtbar. Er sieht nicht, dass er in seinem Werk aufgeht und sich an es verschenkt, weil es ihn mit dem ‚göttlichen Knoten‘ des Reiches verbindet: ‚Was ist es, Flickschuster, was dich so fröhlich macht?‘ Aber ich hörte nicht auf seine Antwort, denn ich wußte genau, daß er sich täuschte, und daß er mir von dem Gelde, das er verdient hatte, oder von der Mahlzeit, auf die er wartete, oder von seinem Feierabend erzählen würde. Er wußte ja nicht, daß sein Glück darin bestand, sich in goldene Pantoffeln zu verwandeln. (S. 35 f.)

III

Schöpfung, Entfaltung, Freiheit

Die Momente der Bildung, Bestimmtheit und des Zwangs entsprechen der Struktur des „göttlichen Knotens“ als einer aus Vielfalt gebildeten, konkreten Einheit von strittigen Gegensätzen (siehe I.). Was in der Bildung des Reiches durch die Form noch hinzukommt, ist die Freiheit und scheinbare Willkür in der Schöpfung der Form. Das Entscheidende ist hierbei das Moment der Bestimmtheit, dass eine Form die Bildung und Vervollkommnung des Lebens ermöglicht (siehe II.); darüber hinaus ist die Form nicht zu rechtfertigen: „Die Wahrheit meiner Gebote ist der Mensch, der daraus entstehen soll. Und die Bedeutung der Bräuche und der Gesetze und der Sprache meines Reiches suche ich nicht in ihnen selber.“ (S. 25) Die Einzigartigkeit einer bestimmten Form

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verwehrt es, sie wiederum unter allgemeine Gesetze zu stellen und von dort her abzuleiten; vielmehr ist die Form etwas Göttliches wie die Form eines Gedichts: Ich komme und knete diesen Teig, der nur erst Rohstoff ist, nach dem schöpferischen Bilde, das mir allein durch Gott und außerhalb der Wege der Logik zuteil wurde. Ich baue meine Kultur, begeistert von der Einzigartigkeit, die ihr innewohnen wird, so wie andere ihre Gedichte bauen und hier einen Satz umstellen, dort ein Wort abändern, ohne daß sie genötigt wären, die Umstellung oder Abänderung zu rechtfertigen, auch sie begeistert von der Einzigartigkeit, die dem Gedicht innewohnen wird und die sie mit der Kraft des Herzens erkennen. (S. 26)

Die schöpferische Freiheit des Königs mag zunächst als Willkür erscheinen. Genauer betrachtet hat der König sich jedoch dem „schöpferischen Bilde“ zu unterwerfen, das ihm „allein durch Gott“ zugesprochen wurde. Dieses Bild fungiert als eine Art Richtmaß, innerhalb dessen eine freie Entfaltung stattfindet. Die Notwendigkeit einer das Bild ausführenden Entfaltungsbewegung lässt sich zum einen aus dem Entwicklungs- und Werdenscharakter des Lebens nachvollziehen, zum anderen aus der Verfasstheit des Reiches als ‚göttlicher Knoten‘, in dem Einheit und Vielheit gleichursprünglich sind. Obwohl die schöpferische Entfaltung des Reiches ihr inneres Maß, d. h. ihr Worumwillen an jenem Bild hat, so kommt ihr doch eine eigene Dimension von Freiheit zu: Ich brauche das Schiff nicht in seinen Einzelheiten vorauszusehen, wenn ich es erschaffe. Denn ich kann nichts erfassen, was der Mühe wert wäre, wenn ich ganz allein die Pläne für das Schiff in seiner Vielfalt entwerfe. Alles wird sich verändern, wenn es ans Licht tritt, und ich überlasse es den anderen, sich mit diesen Erfindungen zu beschäftigen. Ich brauche nicht jeden Nagel des Schiffes zu kennen. Ich muß aber den Menschen den Drang zum Meer vermitteln. (S. 182 f.)

Wie jedoch das Bild des Knotens augenfällig macht, sind der „Drang zum Meer“ und seine vielfältige Ausgestaltung in der Wachstumsbewegung des Reiches zwar unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen. Als analogische Einheit lässt sich weder der Drang als Bedingung der Entfaltung noch die Entfaltung als Endzweck des Dranges isolieren. Insofern sie beide eine Gestalt ausmachen, gibt es zwischen ihnen kein logisch analysierbares Verhältnis. Vielmehr gibt es nur die Ganzheit der Gestalt, die einfach ist, wie sie ist: So sprechen die Professoren, die von Schlußfolgerung zu Schlußfolgerung schreiten. Aber das Leben ist. Genau wie der Baum. Und der Stiel ist nicht etwa das Mittel, das der Keim gefunden hat, um Zweig zu werden. Stiel, Keim und Zweig sind nur ein und dieselbe Entfaltung. (S. 69)

Das dem ‚Bild‘ und seiner Entfaltung gemeinsame Freiheitsmoment lässt sich als eine ‚Abgründigkeit‘ verstehen, welche die Gründung des Reiches kennzeichnen muss, d. h. eine Unableitbarkeit aus und Unvergleichlichkeit mit an-

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derem. Diese Abgründigkeit ist somit zum einen die Kehrseite der Einmaligkeit und „Einzigartigkeit“ (S. 26) des Reiches, die es wesentlich unvergleichlich und damit auf nichts Gleichartiges zurückführbar sein lassen. Zum anderen ergibt sich die Abgründigkeit des Reiches daraus, dass es eine oberste Maß- und Wertsetzung darstellt, die keinem höheren Maßstab oder Prinzip unterstehen kann. Deshalb führt von einer alten Welt zur Welt eines neuen Reiches nur ein ‚Sprung‘, da keine von einem neutralen Standpunkt und Maßstab aus betrachtet werden kann: Wenn ich dir eine Welt entdecke, dich aber an Ort und Stelle lasse, um sie dir zu zeigen, so siehst du sie nicht. Und du bist im Recht. Denn von deinem Standpunkt aus ist sie falsch. Und mit Recht verteidigst du deine Wahrheit. So übe ich keine Wirkung aus, wenn ich mit originellen [...] Behauptungen komme, denn das allein ist originell [...], was von einem gewissen Standpunkt aus gesehen wird, während es seiner Natur nach eine Betrachtung von einem anderen Standpunkt aus verdiente. (S. 177)

Dieser Fundamentalcharakter der „Wahrheit“, die dem Reich und seinen Gesetzen zugrunde liegt, lässt sich aus der Annahme erhellen, dass Kategorien wie ‚Sinn‘ und ‚Wert‘ nur am Maßstab des Lebens anwendbar sind, das Sinn- und Werthaftes kennt und erstrebt. Das jeweilige Reich ist jedoch eine Gestaltungsform des Lebens, die auf keine höhere Form zurückführbar ist. Aus dem Fundamentalcharakter der „Wahrheit“ des Reiches für das Leben ergibt sich ferner ihre wesentliche ‚Unscheinbarkeit‘: Das große Bild gibt sich nicht als Bild zu erkennen: Es ist. Oder genauer: du befindest dich darin. Und wie vermöchtest du dagegen anzukämpfen? Wenn ich dich in einem Hause unterbringe, bewohnst du ganz einfach das Haus, und so ist es der Ausgangspunkt, von dem aus du die Dinge beurteilst. (S. 176)

Die Sorge des Königs für den Sinn seines Reiches lässt sich nicht zuletzt daraus ersehen, dass der Sinn des Reiches etwas Unscheinbares ist, dessen außer ihm niemand achtet, weil alle es zum selbstverständlichen Ausgangspunkt ihrer Weltsicht und Wertungen nehmen. Doch ist der Sprung in den Abgrund der Gründung des Reiches einmal vollzogen, ergibt sich von selbst ein inneres Maß und eine Notwendigkeit des Reiches. Daher ist das, was aus der Sicht des Sprunges noch als schöpferischer Akt erscheint, zugleich in der Entelechie der Entfaltung etwas ganz Notwendiges und Natürliches: Aber wenn ich dich auf meinem Gange, der weder wahr noch falsch ist – es gibt keine Schritte, die du leugnen könntest, da sie ja da sind – dorthin führe, wo die Wahrheit neu ist, so wirst du mich nicht mehr als deren Schöpfer wahrnehmen und meine Behauptungen werden dir dann nicht mehr originell [...] vorkommen, denn es waren einfache Schritte und sie folgten ganz natürlich aufeinander. (S. 177)

Aus der entelechialen Zusammengehörigkeit von Bild, Gründung und Entfaltung erhellt, dass der Akt der Schöpfung trotz seiner Abgründigkeit nicht will-

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kürlich oder arbiträr genannt werden kann, wenn er ein Reich zu stiften vermag. Die nachträgliche Sinnhaftigkeit und Entelechie des im Reich entfalteten Werkes kann sogar über die Abgründigkeit seiner Schöpfung hinwegtäuschen; so sagt der König gegen die Logiker: Denn die Schöpfung ist von anderer Wesensart als das erschaffene Objekt, das von ihr beherrscht ist, und läßt in den Zeichen keine Spuren zurück. Der Schöpfer entzieht sich stets seiner Schöpfung. Und die Spur, die er zurückläßt, ist reine Logik. [...] So kommt nicht zu mir, ihr Sklaven, die ihr mit Hämmern und Nägeln bewehrt seid, um mir vorzutäuschen, ihr hättet das Schiff erdacht und vom Stapel gelassen. (S. 189)

Die entfaltete Gestalt des Schiffes scheint ‚logisch‘ erfassbar und konstruierbar durch die Hämmer und Nägel, aus denen die Logiker das Schiff zu verstehen suchen. Doch der tiefere Grund der Gestalt liegt im Worumwillen der Sehnsucht nach dem Meer. Aus diesem Worumwillen entstehen die gleichsam axiomatischen Setzungen, denen die Schlussfolgerungen und Notwendigkeiten der Logiker nur nachfolgen können. Der König geht sogar so weit, das Primat des Schöpferischen auf die Axiome der Geometrie auszuweiten: „[I]hr geht Schritt für Schritt den Sätzen der Geometrie nach und werdet nicht gewahr, daß zuvor einer des Weges kam, der sie aufstellte.“ (S. 189) Im Kern handelt es sich dabei jedoch nur um zwei inkommensurable Ansichten derselben Sache, die das eine Mal von der Schöpfung aus, das andere Mal von ihrer Entfaltung aus betrachtet wird. Genauer gesagt, wird die Entfaltung ontisch angesehen und nicht ‚ontologisch‘ hinsichtlich ihres Worumwillens. Der König bringt diese zwei Ansichten in einer Passage auf die Begriffe „Geist“ und „Verstand“: Fürwahr, ich habe es wohl verstanden, Herr, daß der Geist den Verstand beherrscht. Denn der Verstand überprüft die Baustoffe, doch allein der Geist sieht das Schiff. Und sobald ich das Schiff gebaut habe, werden sie mir ihren Verstand leihen, um das von mir erschaffene Gesicht zu kleiden, zu schützen, zu härten und zu erklären. (S. 358 f.)

Die Ansichten des Geistes und des Verstandes bilden eine gewisse Hierarchie, insofern der auf das Vorhandene gerichtete Verstand nicht den Geist erfassen kann, umgekehrt aber der Geist die Sichtweise des Verstandes einschließt und bedingt. Im Narrativ der Stadt in der Wüste sind deshalb die Logiker und kommentierenden Mathematiker die Untertanen des Königs; aus demselben Grund ist der König aber bereit, einem echten, schöpferischen Mathematiker den Thron zu räumen (vgl. S. 189).

IV

Zeremoniell, Gottheit und Brauch

Die unter III. erkundeten Zusammenhänge von Freiheit und Notwendigkeit, Bild und Entfaltung verdichten sich im Begriff des Zeremoniells, das einerseits ein konventioneller Ritus ist, andererseits die höchste Stufe der Formgebung im Leben des Reiches darstellt. Im Zeremoniell verbinden sich ferner die Ge-

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stalthaftigkeit und Bestimmtheit des Reiches und seiner Ordnung (II.) mit dessen Charakter als göttlichem Knoten (I.): Denn es gibt keine Abwesenheit, die dich vom Hause und von der Liebe entfernt, wenn du die Schritte tust, die das Zeremoniell der Liebe oder des Hauses vorschreiben. Deine Abwesenheit trennt dich nicht, sondern verbindet dich, sie läßt dich nicht ausscheiden, sondern vereinigt dich. Und kannst du mir sagen, wo die Grenze liegt, hinter der die Abwesenheit einen Schnitt bedeutet? Wenn das Zeremoniell gut geknüpft ist, wenn du den Gott gut anschaust, in dem ihr euch vereinigt, wenn dieser Gott glühend genug ist – wer wird euch dann vom Hause oder vom Freunde trennen? (S. 472)

Die obige Passage verdeutlicht ferner, dass das Zeremoniell mit Leben und Liebe gefüllt werden muss, d. h. einem „glühend[en]“ Gott dienen muss. Dann wird das Zeremoniell zu einem Band, das Abwesenheit und Entfernung mit Anwesenheit und Nähe verknüpft. Umgekehrt ist das Zeremoniell der Weg des Berberkönigs, nach seinem Gott zu suchen: „Ich forsche, im Finsteren tappend, nach Deinen göttlichen Kraftlinien. Und da es mir an Beweisen fehlt, die nicht meiner Stufe angemessen sind, sage ich, daß ich mit der Wahl der Riten des Zeremoniells im Rechte bin, wenn sich herausstellt, daß ich mich dadurch befreie, und daß ich darin atme.“ (S. 461) Die Wahl des Zeremoniells, die gleichbedeutend mit der Gründung des Reiches zu sein scheint, wurde als schöpferischer, nicht selbst nach einem weiteren Maßstab beurteilbarer Akt beschrieben (III.). Gleichwohl deutet der Bezug zum Göttlichen darauf hin, dass es auch nach dem inneren Maß des Zeremoniells ein Gelingen und ein Verfehlen gibt. Das Gelingen zeigt sich dem König, wenn die Hingabe an den Zwang des Zeremoniells zu einer Befreiung wird: „[D]ein Gott ist kein fertiges Geschenk, kein Vorrat, der irgendwo für dich aufbewahrt wird, sondern Fest und Krönung des Zeremoniells deiner Nöte“ (S. 415). Im Brauchtum des Zeremoniells versammeln sich somit verschiedene Weisen des ‚Brauchens‘. Das Gelingen des Zeremoniells, d. h. die Steigerung und Befreiung des Lebens zu sich selbst, braucht den Bezug zum Göttlichen als dem richtungsweisenden Transzendenten. Insofern der Gott zugleich mit dem „Knoten, der alles vielfältige Tun bestimmt“ (S. 476), identifiziert wird, braucht das Göttliche auch das Zeremoniell. Wie wir etwa an dem Flickschuster sahen, der sich unwissentlich in seine Pantoffel zu verwandeln sucht, braucht ebenso der Mensch das Zeremoniell, um sich an das Reich zu verschenken und in ihm einen bestimmt gebildeten Sinn zu finden. Umgekehrt braucht das Reich die Hingabe des Menschen und dessen Widerstand gegen seinen Zwang, damit die Ordnung des Zeremoniells mit Leben gefüllt wird. Das Brauchen im Zeremoniell lässt sich somit näher bestimmen als ein unbedingter, entfaltende Formwerdung fordernder Anspruch, der im ‚Sinn für das Reich‘ immer schon an den Menschen ergangen ist: Ein vollkommenes Gedicht, das sich in Handlungen äußert und dich mit allem, was du bist, bis auf die Muskeln vollständig in Anspruch nimmt. So ist mein Zeremoniell. (S. 402)

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Indem das Zeremoniell als „vollkommenes Gedicht“ angesprochen wird, hören wir Saint-Exupérys Dichtung auch über sich selbst sprechen. Im Gang unseres stillen Gesprächs werden wir somit auch über dieses selbst belehrt. Philosophische Besinnung vollzieht sich demnach ebenfalls als ein Zeremoniell, das einem höheren Anspruch durch eine Entfaltungsbewegung zu entsprechen versucht. Woher rührt dieser Anspruch, der die am Gespräch Teilnehmenden zusammenführt? Er kommt von Ferne und ist jedem Gesprächsteilnehmer zugleich ganz nah – so wie die ‚Sehnsucht nach dem Meer‘, welche die Menschen im Reich des Berberkönigs zum Schiffsbau versammelt und in einem ‚göttlichen Knoten‘ verbindet. Die Bildersprache der Stadt in der Wüste gibt uns dabei den Wink, dass das Bauen des Schiffes, das Wohnen im Reich und das Andenken an das Meer unzertrennlich sind. Wir tun daher gut daran, unsere Sehnsucht nach dem Meer zu wecken, wenn wir uns auf Seefahrten des Denkens begeben.

Antonino Spinelli

Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters Betrachtungen zu Eugenio Montales Gedichtzyklus Mediterraneo

Der Zyklus Mediterraneo bildet eine der fünf Sektionen von Eugenio Montales erster sowie bekanntester Gedichtsammlung, Ossi di seppia (1925).1 Er besteht aus neun Gedichten, die keine einzelnen Überschriften tragen. Zwar handelt es sich nicht um die einzigen Gedichte ohne Titel, denn diese fehlen auch in der Hauptsektion, die denselben Namen trägt wie die gesamte Sammlung. Im Inhaltsverzeichnis werden jedoch die Gedichte aus der Sektion Ossi di seppia mit dem ersten Vers angegeben, während beim Zyklus Mediterraneo alle neun Gedichte nur kollektiv durch den Titel der Sektion vertreten sind. Schon aus diesem Hinweis wird klar, dass die neun Gedichte keine einzelnen Stücke sind, sondern bereits von ihrem Urheber als innig zusammengehörende Gesamtkomposition verstanden wurden. Im vorliegenden Beitrag soll ein Versuch unternommen werden, diese Komposition aus einem philosophischen Blickwinkel anhand eines ihrer Leitfäden von Anfang bis Ende zu verfolgen. Dabei muss in diesem Rahmen auf eine ausführliche Kommentierung der Gedichte als Ganze verzichtet werden. Stattdessen werden wir uns an einigen Fragmenten2 orientieren, um einen – sei es auch notgedrungen verkürzten – hermeneutischen Weg durch diesen Gedichtzyklus zu gehen. Das Thema, das dafür gewählt wurde, ergibt sich wie von selbst aus einem Gesamtblick auf Montales frühes Werk. In erster Linie ist die metapoetische Ebene in Form einer Reflexion über die Tätigkeit des Dichters bereits in den eröffnenden Gedichten sowohl der ersten als auch der Hauptsektion anwesend. I Limoni, das die erste Sektion, Movimenti, eröffnet, beginnt mit einer Abstandnahme des Autors zu den poeti laureati, den „mit Lorbeer bekränzten Dichter[n]“, die bei den „Pflanzen mit seltenen Namen“ verweilen, während das lyrische Ich sich zu „Schilfröhren“, „Gemüsegärten“ 1

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Eugenio Montale: Ossi di seppia, in Tutte le poesie, a c. di Giorgio Zampa, 5a edizione, Milano 1991. Deutsche Teilübersetzungen in Ders.: Gedichte, 1920–1954, ItalienischDeutsch, übertragen v. Hanno Helbling, München 1987 und Was bleibt (wenn es bleibt). Gedichte 1920–1980, Italienisch-Deutsch, ausgewählt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Christoph Ferber, Mainz 2013. Wenn nicht anders vermerkt, sind die Übersetzungen von Montales Gedichten meine eigenen. Die Übersetzungen wurden von Julia Pfefferkorn revidiert und verbessert. Dafür sowie für die sprachliche Korrektur des gesamten Manuskriptes möchte ich mich bei ihr herzlich bedanken. Nur drei Gedichte (das zweite, das siebente und das neunte) werden im Folgenden in voller Länge zitiert.

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und „Zitronenbäumen“ bekennt. Non chiederci la parola che squadri da ogni lato, das eröffnende Gedicht der Sektion Ossi di seppia, ist seinerseits eine regelrechte programmatische Erklärung über seine Poetik. Darin setzt sich Montale der traditionellen Figur des poeta vate, des ,wahrsagenden Dichters‘, entgegen, indem er der Lyrik jede affirmative und offenbarende Funktion abspricht. In diesem Kontext beschreibt er seine eigene Dichtung als Ansammlung „manche[r] krumme[r] Silbe, dürr wie ein Ast“ (qualche storta sillaba e secca come un ramo). Aus diesen vorläufigen Hinweisen gehen bereits zwei Hauptmerkmale hervor, die auch in Mediterraneo eine zentrale Rolle spielen. Zunächst wird in einer Geste der Demut die Dürftigkeit der Dichtung betont und damit in eins ihre Unfähigkeit herausgehoben, eine inhaltlich positive Sinngebung zu gewähren. In zweiter Linie tritt die Tendenz deutlich hervor, die Dichtung selbst mit sinnlichen Objekten zu identifizieren, das lyrische Wort als gewöhnliche Pflanze, als trockenen Ast, ja gar als Rest eines totes Tieres zu betrachten. In letztere Richtung weist der Titel der gesamten Sammlung: Ossi di seppia (,Tintenfischknochen‘ im Plural). Damit ist – biologisch gesprochen – der Schulp der Sepien gemeint. Als ovaler, flacher und poröser weißer Gegenstand ist er relativ häufig auf Mittelmeerstränden anzutreffen. Dieses stumme, einsame und rätselhaft anmutende Relikt eines früheren marinen Lebewesens wird in Montales Titel zur sinnlichen Verkörperung seiner Poesie erhoben. Dies ist wörtlich zu verstehen: Jedes Gedicht seines Buches ist ein Tintenfischknochen, ein seltsames vom Meer herausgeschleudertes Zeugnis vergangenen Lebens. Damit ist bereits eine der zentralen Annahmen von Mediterraneo berührt: Die Quelle des Dichtens ist das Meer. Der Dichter schöpft seine lyrische Nahrung aus jenem Grenzgebiet, in welchem sich Wasser und Land gegenseitig durchdringen, wo das Gestein sich „losreißen“ will, „hinausgelehnt in einer unsichtbaren Umarmung“ (la pietra // voleva strappartsi, protesa // in un visibile abbraccio), und „die harte Materie den nächsten Wirbel spür[t], und pulsier[t]“ (la dura materia sentiva // il prossimo gorgo, e pulsava3). Diese innige Begegnung von Meer und Land, die die steile und felsige ligurische Küste, in der Montales Dichtung beheimatet ist, charakterisiert, wird zum Ort des ursprünglichen künstlerischen Geschehens, zum Urquell alles Schöpferischen. Diese primordiale, fruchtbare Kraft ist jedoch nur eines der vielfältigen Gesichter, die das Meer im Laufe der Komposition Mediterraneo annimmt. Im Meer spiegelt sich der Wandel des Dichters wider oder, besser, der Wandel des Dichters identifiziert sich mit dem Wandel seines Verhältnisses zum Meer. Die Geschichte dieses Verhältnisses ist also der Gegenstand des Zyklus Mediterraneo. Oder, anders gesagt, Mediterraneo ist, als lyrisches Geschehen, der selbsterzählende Ausdruck des Verhältnisses zwischen Dichter und Meer.

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Aus dem III. Gedicht des Zyklus Mediterraneo, in Montale, Ossi di seppia, S. 55.

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Die Zeit des Meeres I.

[Wirbel]4 A vortice s’abbatte sul mio capo reclinato un suono d’agri lazzi. Scotta la terra percorsa da sghembe ombre di pinastri, e al mare là in fondo fa velo più che i rami, allo sguardo, l’afa che a tratti erompe dal suolo che si avvena. Quando più sordo o meno il ribollio dell’acque che s’ingorgano accanto a lunghe secche mi raggiunge: o è un bombo talvolta ed un ripiovere di schiume sulle rocce. […] Wie ein Wirbel stürzt auf mein geneigtes Haupt das Tönen herber Scherze. Die Erde glüht, gemustert durch die schrägen Schatten wilder Pinien; und da hinten verschleiert das Meer vor dem Blick eher als das Geäst, die Schwüle, die ab und zu aus dem rissigen Boden hervorbricht. Dann erreicht mich, bald dumpfer bald heller, das Brausen des Wassers, das neben langen Untiefen sich verwirbelt: Oder es ist ein Knall, manchmal, und ein Regnen Von Geschäum auf die Felsen. [...]

Der Zyklus wird von einem Gemälde aus sinnlichen Eindrücken eröffnet. Die geistigen Inhalte, die Metaphern der späteren Gedichte bleiben hier aus. Die Dinge bieten sich in ihrer Nacktheit dar: Es ist heiß, laut, das Meer bewegt. Der Dichter schaut nach unten, scheint in sich versammelt zu sein. Seine Sinne sind jedoch empfänglich, und zwar für das Meer und seinem Reich. Aus diesem Zustand der ,sinnenden‘ Offenheit entfaltet sich die Geschichte von Mediterraneo – die Geschichte vom Dichter und dem Meer.

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Die folgenden Zitate stammen aus ebd., S. 53–61. Die römische Zahlen (I–IX) entsprechen der Reihenfolge der neun Gedichter im Gesamtzyklus. Die Überschriften in eckigen Klammern sind mein eigener Zusatz.

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[Kindheit] Antico, sono ubriacato dalla voce ch’esce dalle tue bocche quando si schiudono come verdi campane e si ributtano indietro e si disciolgono. La casa delle mie estati lontane t’era accanto, lo sai, là nel paese dove il sole cuoce e annuvolano l’aria le zanzare. Come allora oggi in tua presenza impietro, mare, ma non più degno mi credo del solenne ammonimento del tuo respiro. Tu m’hai detto primo che il piccino fermento del mio cuore non era che un momento del tuo; che mi era in fondo la tua legge rischiosa: essere vasto e diverso e insieme fisso: e svuotarmi così d’ogni lordura come tu fai che sbatti sulle sponde tra sugheri alghe asterie le inutili macerie del tuo abisso. Ältestes, trunken bin ich von der Stimme, die aus deinen Mündern strömt, wenn sie aufblühen wie grüne Glocken, und zurückstürzen und sich auflösen. Das Haus meiner fernen Sommer war dir nah, du weißt es, dort, in dem Land, wo die Sonne glüht und die Mücken den Himmel bewölken. Wie eh und je in deinem Angesicht werde ich zu Stein, Meer, doch nicht mehr würdig glaube ich zu sein der erhabenen Mahnung deines Atems. Du zuerst hast mir gesagt, dass das winzige Gären meines Herzens nichts sei als ein Moment des deinen; dass tief mir gelte dein heikles Gesetz: weit und ungleich zu sein und zugleich fest: Und mich so von allem Schmutz zu befreien, dir gleich, der du auf die Ufer schleuderst zwischen Kork Algen Seesterne, den nutzlosen Schutt deines Abgrunds.5

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Übersetzung von Julia Pfefferkorn und Antonino Spinelli, unveröffentlicht.

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Das Meer ist in erster Linie der Ort der Kindheit. Oder zumindest lässt es der Rausch als solches erfahren, der den Dichter bei seinem Anblick befällt. Dadurch wird offenbar: Die Zeit des Meeres ist für den Dichter erinnerte Zeit, sie ist für ihn Vergangenheit, ob wirklich, ausgedacht oder einfach ersehnt. Wie eine alte Gottheit offenbart das Meer dem Kind das Gesetz, das es prägen wird. Der Dichter hängt vom Meer ab, ohne es ist er nichts. Und er ist ähnlich wie das Meer: Sein Wesen ist ein Kampfplatz von Gegensätzen; er ist dazu bestimmt, nutzlosen Schutt – die dichterischen Worte – aus dem Abgrund seiner Unergründlichkeit auf die trockenen Ufer der menschlichen Sprache zu schleudern. III.

[Erlösung] [...] Tu vastità riscattavi anche il patire dei sassi: pel tuo tripudio era giusta l’immobilità dei finiti. [...] [...] Du, endlose Weite, erlöstest auch das Leiden der Steine: Gerecht war durch deine Pracht die Unbeweglichkeit der Endlichen. [...]

So wie des Gesetzes und der Offenbarung, ist das Meer in dieser ersten Erscheinungsform auch Quelle der Erlösung. Der Dichter bewundert es, folgt ihm, bleibt ihm treu. Er sieht die menschliche Begrenztheit, empfindet aber kein Leiden daran, weil er, wie in einer mythischen Vergangenheit, in einer Einheit mit ihm lebt. Oder glaubt zu leben. Das Meer ist Heimat, Ruhe, verlobtes Land: IV.

[Heimat] [...] Nasceva dal fiotto la patria sognata. Dal subbuglio emergeva l’evidenza. L’esiliato rientrava nel paese incorrotto. [...] [...] Es entstand aus dem Wogen die erträumte Heimat. Aus der Aufruhr trat die Einsicht hervor. Der Verbannte kam wieder ins unversehrte Land. [...]

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Die Zeit des Dichters V.

[Unmut] Giunge a volte, repente, un’ora che il tuo cuore disumano ci spaura e dal nostro si divide. Dalla mia la tua musica sconcorda, allora, ed è nemico ogni tuo moto. In me ripiego, vuoto di forze, la tua voce pare sorda. [...] Questo pezzo di suolo non erbato s’è spaccato perché nascesse una margherita. In lei tìtubo al mare che mi offende, manca ancora il silenzio nella mia vita. Guardo la terra che scintilla, l’aria è tanto serena che s’oscura. E questa che in me cresce è forse la rancura che ogni figliuolo, mare, ha per il padre. Jäh kommt die Stunde, zuweilen, in der dein unmenschliches Herz uns beängstigt und sich von unserem trennt. Deine Musik ist dann mit meiner unstimmig, und feindlich wird mir all dein Tun. In mich weiche ich zurück, bar von Kräften, deine Stimme scheint mir stumm. [...] Diese kahle Erdscholle ist gebrochen, damit aus ihr eine Margerite entwachse. In ihr trotze ich dem Meer, das mich verletzt, es fehlt noch die Stille in meinem Leben. Ich schaue auf die flimmernde Erde, von lauter Klarheit verfinstert die Luft. Und dies, was in mir steigt, ist wohl der Unmut, o Meer, den jeder Sohn gegen den Vater nährt.

Nachdem, vom zweiten bis zum vierten Gedicht, die mythische Vergangenheit des Meeres in den Worten des Dichters erklang, wendet sich seine Sprache nun plötzlich der Gegenwart zu. Es ist zuerst eine iterative Gegenwart, die von einem wiederkehrenden Verdruss, von einer unerwarteten Feindseligkeit erzählt, welche die einst unerschütterliche Ehrfurcht ablöst. Erst dieser Bruch, diese neu ansetzende Unstimmigkeit schafft den Raum für das Entstehen eines selbstständigen Lebens: Die kahle Erde bricht, damit eine Blume wächst. Die einsame Pflanze auf der Küste wird somit zum Bild des Trotzes, des eigensinni-

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gen Aufstandes gegen die Übermacht des Unendlichen. Das Meer kann nicht nur erlösen, es kann auch ersticken. Die Dichtung ist nicht nur Geburt aus dem grenzenlosen Wasser, sie muss sich auch von der Obhut des Meeres befreien, sich an der trockenen Küste ansiedeln. VI

[Dichtung] [...] Pur di una cosa ci affidi, padre, e questa è: che un poco del tuo dono sia passato per sempre nelle sillabe che rechiamo con noi, api ronzanti. Lontani andremo e serberemo un’eco della tua voce, come si ricorda del sole l’erba grigia nelle corti scurite, tra le case. E un giorno queste parole senza rumore che teco educammo nutrite di stanchezze e di silenzi, parranno a un fraterno cuore sapide di sale greco. [...] Jedoch eines vertraust du uns an, Vater, und zwar dieses: dass ein Wenig deiner Gabe für immer in die Silben eingehe, die wir mit uns tragen, wir summende Bienen. Weit hinaus werden wir gehen, und ein Echo deiner Stimme aufbewahren, so wie sich der Sonne entsinnt das graue Gras in verdunkelten Höfen, zwischen den Häusern. Und diese lautlosen Worte, die wir mit dir aufzogen, genährt von Müdigkeit und Stille, werden einst einem verschwisterten Herzen nach griechischem Salz schmecken.

Einmal aus dem Meer getreten, entpuppt sich das dichterische Wort in all seiner Dürftigkeit. Die Dichter sind „summende Bienen“, winzige Insekten, deren Geräusch in Anwesenheit des Dröhnens der Wogen verschwinden würde. Dennoch trägt dieses Summen ein Echo seiner Herkunft, behält die Spuren seiner verlorenen Heimat. So wie das Gras ohne Sonne, wäre das Wort ohne Meer nicht entstanden. Im Element des Salzes verdichtet sich dieses Verhältnis: Die Spur des Meeres bleibt im Wort eingeprägt, sie ist das, was ihm Geschmack verleiht.

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[Auflösung] Avrei voluto sentirmi scabro ed essenziale siccome i ciottoli che tu volvi, mangiati dalla salsedine; scheggia fuori del tempo, testimone di una volontà fredda che non passa. Altro fui: uomo intento che riguarda in sé, in altrui, il bollore della vita fugace – uomo che tarda all’atto, che nessuno, poi, distrugge. Volli cercare il male che tarla il mondo, la piccola stortura d’una leva che arresta l’ordegno universale; e tutti vidi gli eventi del minuto come pronti a disgiungersi in un crollo. Seguìto il solco di un sentiero m’ebbi l’opposto in cuore, col suo invito; e forse m’occorreva il coltello che recide, la mente che decide e si determina. Altri libri occorrevano a me, non la tua pagina rombante. Ma nulla so rimpiangere: tu sciogli ancora i groppi interni col tuo canto. Il tuo delirio sale agli astri ormai. Rau und wesentlich wollte ich mich fühlen so wie die Steine, die du wendest, zerfressen vom Salzwasser; zeitlose Scherbe, Zeuge eines kalten Willens, der nicht vergeht. Anderes wurde ich: ein umsichtiger Mensch, der in sich selbst wie in den anderen das Sieden des flüchtigen Lebens betrachtet, ein Mensch, der vor der Tat zögert, die niemand, danach, vertilgt. Ich wollte das Übel suchen, das wie ein Holzwurm an der Welt nagt, den kleinen Fehler am Hebel, der das Uhrwerk des Alls anhält, und ich sah alle Ereignisse des Moments wie bereit, sich in einem Sturz zu lösen. Ich folgte der Furche eines Pfads und hatte das Gegenteil im Herzen, mit seiner Verlockung; vielleicht brauchte ich das scheidende Messer, den entscheidenden Geist, der sich bestimmt. Andere Bücher brauchte ich, nicht deine dröhnenden Seiten.

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Doch ich weiß nichts zu bereuen: Du löst immer noch die inneren Knoten mit deinem Gesang. Zu den Sternen steigt nunmehr dein Wahn.

Der Dichter hält sich in einem Zwischenraum, in einem Riss auf. Er wäre gerne ein Stein gewesen, ein kleiner Teil des großen und vollkommenen, vom Meer beherrschten Gefüges. Autark, weil bedürfnislos, in seiner absoluten Abhängigkeit. Als Beobachter der Welt – und deren Erzähler – kann der Dichter jedoch nicht bei dieser Ordnung stehen bleiben, er muss deren Schwachstelle suchen, die Bresche, die in der „gerechten“ „Unbeweglichkeit der Endlichen“ ein neues Sinngeschehen ermöglicht. Sein Austritt aus der primordialen Ordnung ist jedoch nie vollständig: Er ist nicht imstande, dem verlockenden Weg des unbekümmerten Lebens zu folgen. Seine Gebundenheit an das Grenzenlose bleibt für ihn bestimmend, er kann (und will) nicht seine Nabelschnur kappen. Das, was ihn erlöst, verdammt ihn zugleich. VIII [Frust] Potessi almeno costringere in questo mio ritmo stento qualche poco del tuo vaneggiamento; dato mi fosse accordare alle tue voci il mio balbo parlare: – [...] Ed invece non ho che le lettere fruste dei dizionari, e l’oscura voce che amore detta s’affioca, si fa lamentosa letteratura. Non ho che queste parole che come donne pubblicate s’offrono a chi le richiede; non ho che queste frasi stancate che potranno rubarmi anche domani gli studenti canaglie in versi veri. [...] Könnte ich doch zwängen in meinen holpernden Rhythmus auch nur ein Wenig von deiner Beredsamkeit; wäre es mir nur vergönnt, mein stotterndes Wort nach deinen Klängen zu stimmen: – [...] Doch habe ich nichts als die verzehrten Zeichen der Wörterbücher und die dumpfe Stimme, die, Liebe genannt, ermattet, und in kläglicher Literatur endet. Ich habe nichts als diese veröffentlichten Worte, wie Frauen, die sich

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42 dem bieten, der sie verlangt; nichts als diese ermüdeten Sätze, die mir schon morgen gaunerische Schüler stehlen können, in wahren Versen. [...]

Die Rechnung des Dichters geht nicht auf. Die Herkunft aus dem Meer, die Verwurzelung im urheimischen Geschehen kann nicht garantieren, dass das dichterische Wort zu einem offenbarenden wird. Das Wort bleibt menschlich und als solches dem Missbrauch, der Abnutzung, dem Sinnverlust anfällig. Auch der echte Dichter kann nicht umhin, Literat zu sein. Sein Werk ist Tinte auf Papier und das Papier vergilbt, die Tinte verblasst. Dennoch macht dies das Dichten nocht nicht zu einem sinnlosen Werk. Die Erfahrung des Scheiterns bleibt eine Fahrt und seine Spur weist auf die Herkunft hin. Es bleibt die Frage bestehen, die schon zu Anfang in Form eines leisen Zweifels hervortrat: Ist die Herkunft aus dem Meer eine reale oder ist die ewige Vergangenheit des Dichters der bloße Traum eines nie erlebten Glücks, die Verfälschung eines projizierenden Scheingedächtnisses? Ist die Zeit des Meeres eine reale oder eine imaginäre Zeit?

Das Ende der Zeiten? Vielleicht ist die Frage nur eine Scheinfrage. Der Zweifel bleibt das Primäre, jede Antwort ist ihm gegenüber nur nachträglich, kann ihn als solche nicht auflösen. Am Ende – und als Ende – bleibt nur noch die Gewissheit des Verzehrt-Werdens. Im Meer verdünnt sich jeder hineingegebene Tropfen ins Unendliche, er verliert sofort seine Individualität. Im Unterschied zum Zweifel über die Vergangenheit, ist diese Gewissheit über die Zukunft fest, man kann sie nicht erschüttern. In jedem Moment können wir – wie Montale im Schlussgedicht von Mediterraneo – auf unser Leben zurückblicken, als wäre es zu Ende. In diesem Gestus werden die zwei Zeiten, die ewige Vergangenheit des Meeres und die ewige Gegenwart des Dichters, als miteinander vereinigt und in einer projizierten Zukunft aufgehoben gedacht. Der Riss, von dem die Poesie lebt, wird als geschlossen gedacht. Wie durch eine Flutwelle nimmt das Meer die zuvor herausgeschleuderten Relikte, zu denen die Gedichte – und ja auch der Dichter – gehören, wieder zu sich. Die Heilung ist Vernichtung, die Erlösung Auflösung. Doch dies ist auch nur unser Blick auf das Leben – oder das Gedicht eines Dichters. Der Mensch sucht den Sinn im Unendlichen, trägt ihn mit sich, aber drückt ihn nur negativ aus, als Abwesenheit. Und nur negativ lässt sich auch die Lösung dieses Paradoxons denken, und zwar als Ende der Individualität. Liegt der Grund dafür vielleicht darin, dass der echte Sinn sich nicht in der Kunst – und auch nicht in der Philosophie – positiv ausdrücken lässt; dass es unmöglich ist, das Meer in Verse zu zwängen?

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IX.

[Verdunstung] Dissipa tu se lo vuoi questa debole vita che si lagna, come la spugna il frego effimero di una lavagna. M’attendo di ritornare nel tuo circolo, s’adempia lo sbandato mio passare. La mia venuta era testimonianza di un ordine che in viaggio mi scordai, giurano fede queste mie parole a un evento impossibile, e lo ignorano. Ma sempre che traudii la tua dolce risacca su le prode sbigottimento mi prese quale d’uno scemato di memoria quando si risovviene del suo paese. Presa la mia lezione più che dalla tua gloria aperta, dall’ansare che quasi non dà suono di qualche tuo meriggio desolato, a te mi rendo in umiltà. Non sono che favilla d’un tirso. Bene solo so: bruciare, questo, non altro, è il mio significato. Zerstreue, wenn du es willst, dieses schwache, klagende Leben, wie ein Schwamm den flüchtigen Zug von einer Schiefertafel wischt. Ich warte auf die Rückkehr in deinen Kreis, es erfülle sich mein schlingerndes Vergehen. Meine Ankunft war das Zeugnis einer Ordnung, die ich auf dem Weg vergaß, diese meine Worte schwören auf ein unmögliches Ereignis und sie kennen es nicht. Doch immer als ich deine sanfte Brandung auf den Ufern rauschen hörte, ergriff mich Verblüffung, wie einen Gedächtnislosen, der sich seiner Heimat entsinnt. Eher als deiner offenen Pracht, entnahm ich meine Lehre deinem Keuchen, das an mancher trostlosen Mittagsstunde fast geräuschlos erklingt. Dir nun übergebe ich mich in Demut. Ich bin nur der Funke eines Thyrsos. Ich weiß es wohl: Brennen, nichts anderes, dies ist mein Sinn.

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Jörg Magenau

Der Riss im Schleier der Zeit Ernst Jüngers „Annäherungen“ als Weltreisen ins Innere

Wer von „Annäherungen“ spricht, ist noch nicht angekommen. Er hat ja gerade erst begonnen. Annäherungen versprechen eine Bewegung, die ihr Ziel bestimmt noch nicht erreicht hat, ja, vielleicht sogar davon ausgeht, es niemals zu erreichen. Annäherungen1 nannte Ernst Jünger sein Buch über Drogen und Rausch und machte schon mit diesem Titel deutlich, dass das Thema nicht zu Ende zu führen sein würde. 1970 erschienen (da war er 75 Jahre alt), bot er damit eine Summe seiner fortgesetzten Experimente und lebenslangen Beschäftigung mit Drogen aller Art. Er suchte die direkte Verbindung – und doch sind es eben nur Annäherungen, so wie sich zwei Parallelen einander annähern, um sich erst im Unendlichen zu berühren. Also nach menschlichem Ermessen doch wohl eher nie. Annäherungen ist eine Art Autobiographie, die den verschiedenen Substanzen – Bier, Wein, Äther, Haschisch, Opium, Kokain, Meskalin, LSD – folgt, als wären es die Drogen und ihre unterschiedlichen Qualitäten, die den natürlichen Verlauf einer Biografie bestimmen. Leibliche Zugriffe auf Materielles – Rauchen, Kauen, Trinken, Atmen, Schlucken – verwandeln sich dabei in bewusstseinserweiternde Kulturtechniken. Nur ein damals gebräuchlicher Anwendungsbereich fehlt: das Spritzen, und die Droge Heroin. Selbstzerstörung war nie Jüngers Ziel. (Und Blut offenbar nicht der Stoff, den er für den Rausch reservierte. Sein Verleger Michael Klett berichtet vom blutigen linken Hemdsärmel Jüngers. Nach schweren Schicksalsschlägen – als seine Frau Gretha starb, als sein Sohn Alexander sich erschoss – habe er stets eine Nadel im Revers getragen. Wenn der Schmerz zu stark geworden sei, habe er sich mit der Nadel in den Unterarm gestochen, durch das Jackett hindurch, um sich mit körperlichem Schmerz vom depressiven, seelischen Schmerz abzulenken. 2) Von „Annäherungen“ zu sprechen heißt, das Risiko zu kalkulieren und die Grenze nicht zu überschreiten, die eine Rückkehr unmöglich machen würde. Das Beispiel Jünger lehrt aber auch: Wer über hundert Jahre alt werden will, muss nicht unbedingt auf rechtsdrehende Schonkost, Leinsamen und biodynamische Ganzheitlichkeit setzen. Dionysische Erfahrungen mit Rausch und Entgrenzung

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Ernst Jünger: Annäherungen, in Sämtliche Werke in 14 Bänden und 4 Supplementbänden (SW), Stuttgart 1978 ff., Bd. 11. So Michael Klett im Gespräch mit dem Verfasser. Nachzulesen auch in Thomas Hettche: Totenberg, Köln 2012, Kapitel „Feindberührung“.

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und die Bereitschaft, mit Giften in richtig dosierte Berührung zu kommen, können ebenfalls vitalisierend wirken. Der Titel „Annäherungen“, so schrieb Jünger einleitend, „steht für jede, insbesondere die musische Entwicklung und für das Leben überhaupt.“3 Das ist eine starke These, die den Drogenkonsum voraussetzungslos zur künstlerischen Praxis erhöht. Zu erwarten ist demnach ein Bildungsroman wie Goethes Wilhelm Meister, nur dass der Protagonist Ernst Jünger nicht im Theater in die Schule geht, sondern Sinneserweiterung durch Drogen sucht. LSD zum Beispiel ließ ihn, den eher Unmusikalischen, vorübergehend hellhörig werden. Auf einmal konnte er Musik in ihrer Struktur begreifen. Drogen waren für ihn in der Regel kein Mittel der Betäubung und Benebelung, sie dienten dazu, die Wahrnehmung zu schärfen und in andere Dimensionen der Existenz vorzudringen. Der Bildungs-Vorgang, den sie ermöglichen, ist so umfassend, dass das, was Jünger anbietet, selbst zu einer Art Droge wird: Nicht eigentlich ein Buch habe er schreiben wollen, schreibt er. Es sei ihm vielmehr darum gegangen, „einen Apparat zu konstruieren, ein Fahrzeug, das man nicht als derselbe verlässt, der eingestiegen ist.“4 So wird die gelingende Lektüre zu einem Rauscherlebnis, einem Mysterium der Wandlung, einer Annäherung an etwas Unbekanntes, das den Leser – ebenso wie den Autor selbst – ergreift und verändert. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Jüngers Drogenbuch mit der Erinnerung an eine Lektüre-Erfahrung beginnt: Ariosts Rasender Roland begleitete ihn auch in den Schützengräbern Flanderns. Hier fand er seine Maßstäbe für Heroismus – und nicht in der Wirklichkeit des alltäglichen Sterbens. Wegen dieser Diskrepanz stufte er die Lektüre als „gefährlich“ ein: „Überhaupt setzt die literarische Bildung Maßstäbe, die in der Realität nicht ausgefüllt werden können; das Spielfeld wird zu weit gesteckt.“5 Genau dies hat das Lesen mit Rauscherfahrungen gemeinsam. Vielleicht liegt darin auch der Grund, warum es von manchen Eltern als Suchtmittel betrachtet und möglichst eingeschränkt wird. Kafka hat das Lesen einmal als „Axt für das gefrorene Meer in mir bezeichnet.6 Jünger sieht das ähnlich, auch wenn seiner sorgsam ziselierten Prosa das nicht immer gleich anzumerken ist. Aber schließlich vergleicht er ja auch nicht so sehr das Schreiben mit dem Rausch als den Vorgang des Lesens. Der Autor hat die Axt zu bauen, die er seinen Lesern in die Hand gibt. Im Rausch zu schreiben, führt zu nichts. Das belegen Jüngers Drogen-Protokolle eindrucksvoll. Von seinen phantastischen LSD-Erlebnissen finden sich im Nachhinein auf dem Papier nur ein paar nichtssagende Worte: „Adlerflug“. „Drei Schwin-

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Jünger: Annäherungen, S. 21. Ebd. Ebd., S. 11. „Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? [...] Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ (Franz Kafka: Briefe 1902–1924, Frankfurt a. M. 1958, S. 27).

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gen.“ „Der Frühling kommt.“7 Und von der mit Kokain so großartig empfundenen Genialität blieb nichts als sinnloses Gekrakel übrig. Und doch gibt es für ihn einen tiefen Zusammenhang zwischen Rausch und Produktion, wie er am 9.2.1943 im Tagebuch notierte: „Obwohl sie sich zu gleicher Zeit ausschließen, sind sie doch aufeinander angewiesen wie Entdeckung und Beschreibung, wie Exploration und Geographie. Im Rausche dringt der Geist weiter und abenteuerlicher, unmittelbarer vor. Er sammelt Erfahrung im Grenzenlosen ein. Ohne solche Erfahrung ist keine Poesie.“8 Gleichzeitig geht das nicht: Erst kommt der Rausch, dann kommt das Schreiben. So sehr das eine das andere bedingt, so sehr schließen sie sich aus. Textproduktion ist nüchterne Konstrukteursarbeit. Jüngers Arbeitszimmer in der Wilflinger Oberförsterei war ein naturwissenschaftliches Laboratorium. Dem Schreiben diente die eine Seite des Tisches. Da fanden sich Papier, Tinte und Feder und eine Rolle Tesafilm, um bei Bedarf getrocknete Blüten ins Manuskript zu kleben. Daneben stand das Mikroskop. Die Lupe und all das Werkzeug, das der Entomologe für die Präparation seiner Käfer benötigte, lag auf der anderen Seite des Tisches bereit: Pinzette, Nadeln, Watte, Glasröhrchen, ein Ätherfläschchen. Hier war ein Feinmechaniker am Werk, der sich mit der Natur beschäftigte, ein Uhrmacher, der aber keine mechanischen Uhren um sich duldete, sondern Sanduhren sammelte. Die Zeit sollte sanft verrinnen und nicht ticken. Im Rausch aber hört die Zeit auf, messbar zu sein. Dann versagen auch die Sanduhren. All das bildet einen großen Zusammenhang und schließlich auch den Kontext, in den Jüngers Drogenerfahrungen einzuordnen sind: Sie sind weniger Rausch als Experiment, weniger Entgrenzung als Wechsel des Zeitgefühls, weniger Kontrollverlust als auf Messbarkeit und Verwertbarkeit zielende Erfahrung. Alles, was Jünger schreibt und alles, was er sammelt, ist auf Transzendenz ausgerichtet. Zeitlebens ist er ein Todessucher und Todesforscher, voller Neugier darauf, hinter die Dinge zu sehen und sich der letzten Grenze, dem point of no return, anzunähern. Sein Draufgängertum im Ersten Weltkrieg gehört als frühe Rauscherfahrung ebenso in diesen Zusammenhang wie seine 9 Sammlung „Letzter Worte“, die er in den fünfziger Jahren anlegte. So wie er seine Käferfunde bestimmte, systematisierte und in eine große Ordnung des Lebens einbettete, so sammelte er auch letzte Worte von Sterbenden quer durch die Menschheitsgeschichte. Doch seine Hoffnung, damit einen vagen Blick über die finale Schwelle tun zu können, erfüllte sich nicht. Annäherungen, auch hier. Mehr teilt der letzte Rausch des Verlöschens nicht mit.

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Jünger: Annäherungen, S. 392. Ernst Jünger: Strahlungen I (Kaukasische Aufzeichnungen), SW 2, Stuttgart 1979, S. 488. Vgl. auch den Artikel Rausch von Ulrich Baron in Matthias Schöning (Hg.): Ernst Jünger. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014. Ernst Jünger: Letzte Worte, hg. v. Jörg Magenau, Stuttgart 2013.

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Das Sterben als Rausch ist Thema seines Essay über Das spanische Mondhorn.10 Es geht da um einen prachtvollen Käfer, der nach langem Madendasein nur wenige Stunden lebt, in denen er den Hochzeitsflug absolvieren muss. Wie kommt dieses Missverhältnis von Schönheitsaufwand und Lebensdauer zustande, fragt Jünger und vergleicht diese Existenz mit einem Feuerwerk, bei dem erst sehr lange – während des Larvenlebens – die Zündschnur glimmt, bevor es sich in einer gewaltigen rauschhaften Explosion erfüllt.11 „Annäherung“ ist ein Schlüsselbegriff in Jüngers Werk. Er markiert nicht nur die Drogenerfahrungen, sondern steht auch als Titel über einem geheimnisvollen Gedicht, das in seinem Alterstagebuch Siebzig verweht zu finden ist. Am 1. August 199112 und in einer leicht überarbeiteten Fassung am 2. Mai 199213 fassen diese Verse sein religiöses Empfinden in einer Art Glaubensbekenntnis zusammen. Dieses beginnt fast wie der Refrain eines berühmten Songs von Bob Dylan mit der Zeile „Ich klopfe an, ich klopfe an, ich klopfe an“, um dann nacheinander Vater, Sohn und Heiligen Geist und die Elemente Erde, Wasser, Licht aufzurufen und ein kosmisches Gleichgewicht zu proklamieren: Waage, Sterne, Waage, Sonne, Amen, Dank. Bob Dylan dichtete im selben Jahrzehnt: „Tryin’ to get to heaven, before they close the door.“14 Die Balance zu halten ist für Jünger unverzichtbar, in der Konstruktion eines wohlgefügten Universums ebenso wie in der eigenen Erfahrung. Wenn so ein Mann über Rausch und Drogen schreibt, dann tut er das mit Zirkel und Lineal. Aber er zielt auf die letzten, äußersten Dinge und zitiert auch in seinem Drogenbuch das Kirchenlied von Johann Timotheus Hermes, das er so schätzte und das ihn sein Leben lang begleitete: „Ich hab von Ferne // Herr, Deinen Thron erblickt.“15 – Knock, knock, knockin’ on heaven’s door. Jüngers Drogenbiographie der Annäherungen steht unter diesem Stern. Das Leben, das sich daraus ergibt, ist ja selbst so „ein Fahrzeug, das man nicht als derselbe verlässt, der eingestiegen ist“. Vor allem aber besteigt Jünger dieses Fahrzeug nicht gern allein, und wenn er es doch tut, dann geht es meistens schief. Die Drogen, mit denen er in Berührung kommt, sind stets einem sozialen Kontext zuzuordnen. Früheste Erinnerungen gelten der Zeit des Wandervogel, in der die Gruppe der Jungs nach langem Marsch eine Brauerei besichtigt und sich anschließend zielstrebig betrinkt. Äther ist die Droge der Soldaten im Ersten Weltkrieg, in den Lazaretten war sie leicht zu bekommen. Mochte die gnädige Vernebelung der Wirklichkeit noch eine Gemeinschaft stiftende Praxis an der Front gewesen sein, so ging es damit in der 10 11 12 13 14

15

Jünger: Das Spanische Mondhorn, SW 13, S. 49 ff. Ebd., S. 61. Jünger: Siebzig verweht V, SW 22, S. 41. Ebd., S. 75. Auf der CD Time out of mind aus dem Jahr 1997. Da heißt es in der ersten Strophe des Songs Tryin’ to get to heaven: „Every day your memory grows dimmer // It doesn’t haunt me like it did before // I’ve been walking through the middle of nowhere // Trying to get to heaven before they close the door“. Jünger: Annäherungen, S. 58.

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Etappe und vereinzelt schief: Jünger schildert, wie er in Hannover, von Äther berauscht, versäumt, einen Vorgesetzten ordnungsgemäß zu grüßen, weil er ihn nicht mehr als solchen erkennen kann: Der Rausch bewirkt eine „kaleidoskopische“ Wahrnehmungszersplitterung, in der Jünger zwar noch ein Rangabzeichen erfasst, aber nicht mehr dessen Bedeutung.16 Der Eklat, den er damit verursacht, trägt dazu bei, dass er mit dieser Droge keine tiefere Freundschaft schließt. Auch der Versuch mit Haschisch, das aus dem Vorrat der väterlichen Apotheke stammt, misslingt gründlich.17 Da ist Jünger zu Beginn der zwanziger Jahre mit seiner Mutter unterwegs und strandet wegen eines Bahnstreiks in einem Hotel in Halle an der Saale. In seinem Kulturbeutel führt er ein Porzellangefäß mit der zähen, grünen Paste mit sich, die er nun, mangels eines geeigneten Werkzeugs, mit dem Griff der Zahnbürste wie Kaugummi herauszieht. Das führt zu einer kräftigen Überdosis, einem rhythmischen, wie von einem Pendel geschlagenen Schwindel, Herzrasen, Angstzuständen und schließlich dazu, dass er in seiner Panik barfuß und im offenen Pyjama durchs Hotelfoyer ins Zimmer der Mutter eilt, um sie zu wecken. Bevor dann der Arzt erscheint, kann Jünger eben noch den Porzellanbehälter vor dem Fenster in einem Schneehaufen entsorgen. Der Arzt glaubt an eine Fischvergiftung, der am Mittag verzehrte polnische Karpfen sei schuld, und therapiert mit Kaffee, zufällig auch ein zuverlässiges Mittel gegen einen Cannabisrausch. Die Lehre, die Jünger daraus zieht, ist die: Drogen nicht ohne genaue Kenntnisse, Vorbereitung, und nicht ohne Begleitung einzunehmen. Eine ordentliche, gewohnte Umgebung ist der beste Rahmen dafür. Soll der Rausch gelingen, dann ist er im Gemeinschaftserlebnis gut aufgehoben und im Experimentcharakter begrenzt. Schon damals, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, sammelte er Material zum Thema und begann, verschiedene Substanzen systematisch zu erproben. Er legte Akten dazu an und bat auch seinen Bruder Friedrich Georg, ihm alles zu schicken, was er an Zeitschriftenartikeln zu medizinisch, chemisch, physiologisch und psychologisch interessanten Aspekten in die Finger bekäme.18 Zugleich gab er sich dem jüngeren (und vorsichtigeren) Bruder gegenüber als der Eingeweihte, Erfahrene, wenn er ihm schrieb: Es gibt im Rausch eine untrügliche Sicherheit in Bezug auf die Rangordnung, die der lächerlichen Art, in der wir in der Lotterie des Lebens unsere Lose ziehen, sehr überlegen ist. Es handelt sich bei Trunk und Zutrunk um ein Mysterium unter Männern, durch das jenseits von Intelligenz und Tugend das Maß an Urkraft ermittelt wird, das einem jeden zugeteilt worden ist. Für den Lauf einer Nacht werden die Karten neu gemischt und aufgelegt nach den Gesetzen einer höheren Realität.19 16 17 18

19

Ebd., S. 177 ff. Ebd., S. 249–263. So in einem Brief an den Bruder Friedrich Georg Jünger vom 28.7.1923 (unveröffentlicht, Deutsches Literaturarchiv Marbach). So in einem weiteren Brief an Friedrich Georg Jünger, vom 21.11.1921 (ebenfalls unveröffentlicht, Deutsches Literaturarchiv Marbach).

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Das bezog sich auf die militärische Welt, der er damals noch angehörte. Die durch Alkoholexzesse herbeigeführte Entgrenzung dieser „Mysterien unter Männern“ hatte dann zuerst etwas mit der Aufhebung der Rangunterschiede zu tun, war also eine soziale Erfahrung. Das zumindest ist geblieben. Jede weitere Droge ist an eine bestimmte Lebensphase und an Freundschaften gebunden: Kokain an Friedrich Hielscher und die zwanziger Jahre; Meskalin an die frühen Fünfziger und an den Verleger Ernst Klett; zur selben Zeit berichtet der Sekretär Armin Mohler von respektablen Wein-Gelagen in Jüngers damaligem Wohnort Ravensburg. LSD schließlich gehört zur Freundschaft mit Albert Hofmann, dem Finder und Konstrukteur dieser synthetischen Droge, die in den sechziger Jahren weite Verbreitung fand. Zu untersuchen wäre, ob und wieweit der jeweilige Drogenkonsum die Denkweise und das Verhalten im zugehörigen Lebensabschnitt prägte, was zum Beispiel Kokain mit der aufgeputschten Stimmung der militant nationalistischen Kreise zu tun hatte, in denen Jünger in Leipzig und im Berlin der Weimarer Republik verkehrte. Oder inwiefern die mexikanische Pilzdroge Teonanacatl in den fünfziger Jahren dazu beitrug, Jüngers Waldgängertum und seine ökologische Hinwendung zur Natur (die eine Abwendung von der Geschichte war) zu befördern. Für eine solche Nachforschung bräuchte es jedoch einen zugleich chemisch wie literarisch kundigen Leser. Ihm könnte es auch ein Hinweis zur Rausch-Wissenschaft und Dämonologie sein, wenn Jünger 1946 in seinen Erinnerungen Hitler mit einer Pflanze verglich, „die auf einem verrotteten Boden zu mächtiger Größe gedeiht, indem sie seine Kräfte an sich zieht“20 – so wie es die Art der Pilze ist. Rausch ist für Jünger ein Zustand, dem er mit ebenso viel Misstrauen wie Faszination begegnet. Zu Annäherungen an die 68er-Bewegung und das Hippietum der Siebziger kam es nicht; die Hippies waren ihm suspekt, weil sie jeden Ordnungssinn vermissen ließen und von ihren Trips nur zu oft nicht mehr wiederkehrten. Leichtfertiger Drogenkonsum stieß ihn ab. Umgekehrt galt er den Studenten als Repräsentant der verhassten Väter- oder Großvätergeneration, als soldatischer Typus oder gar als Wegbereiter des Faschismus, von dem nichts, noch nicht einmal Drogenerfahrungen annehmbar gewesen wären. Jüngers „Annäherungen“ hatten nichts mit Exzessen zu tun, sondern mit der Überschreitung bestimmter Grenzen. Es handelt sich um kalkulierte Abstürze oder, militärisch gesprochen, um Ausbrüche, denen aber immer wieder der Rückzug hinter die geschlossenen Linien folgt. Vor allem sind es Ausbrüche aus dem Kontinuum von Raum und Zeit, Annäherungen an eine andere Dimension. Die erste Begegnung mit LSD verlief eher enttäuschend. Gegen den „Königstiger Meskalin“ empfand er Albert Hofmanns Droge allenfalls als „Hauskatze“.21 Das lag aber, wie der Freund versicherte, lediglich an der zu niedrig angesetzten Dosis von 0,05 Milligramm, die zwar die Farbwahrnehmung inten20 21

Jünger: Strahlungen II (Die Hütte im Weinberg), SW 3, S. 608 (29.3.1946). Jünger: Annäherungen, S. 349.

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sivierte und den Rauchfaden eines japanischen Räucherstäbchens verzauberte, die aber nicht in die Tiefe führte. Spätere, höher dosierte Versuche, ließen Jünger seine erste Einschätzung revidieren. Wenn Jünger seine Drogenreisen als „Einstiege“ bezeichnete,22 dann hieß das, dass er hinunter wollte in eine Höhlenwelt. Hofmann hatte als Chemiker Erfahrung mit Substanzen, doch er unterschätzte die Sensibilität eines kreativen Menschen. So enttäuschend der erste Versuch verlief, veränderte er doch das Zeitgefühl. In dem sich kräuselnden Rauch des Räucherstäbchens schien die Zeit fassbar zu werden, als wäre sie ein greifbares Ding. „Die Zeit war in dem Gebilde wirkend“, heißt es in der Erzählung Besuch auf Godenholm, in der ein eben solches Räucherstäbchen vorkommt. „Sie hatte es gerieft, gewirbelt, geringelt, als ob sich gedachte Münzen schnell aufeinanderschichteten.“23 Aber das war nicht genug. Es musste gelingen, die Zeit wie einen Schleier zu zerreißen, um dahinter die wahre Substanz der Dinge zu erschauen. Drogen konnten Türen öffnen, wenn man sie richtig zu nutzen verstand. Wer die Tür durchschritt, trat durch die Materie hindurch und aus ihr hinaus und warf einen Blick auf das geistige Sein. (Und so schreibt Jünger auch immer wieder von „geistigen Einstiegen“.24) Doch bei diesem ersten Versuch gelangten sie nur bis an die verschlossene Tür. Die Oberflächen der Dinge begannen zu leuchten, aber sie wurden nicht transparent. Fröstelnd kehrten sie in die Wirklichkeit zurück und hüllten sich in Decken wie erschöpfte Wüstenreisende, wenn sich in der Nacht die Kälte herabsenkt. Im Rausch wird Zeit ausgeliehen und verschwendet; sie muss anschließend zurückbezahlt werden, so Jünger: „Der Flut folgt Ebbe, den Farben Blässe, die Welt wird grau, wird langweilig.“25 Und doch ist diese Rückkehr die eigentliche Kunst. Rausch, heißt es in Alexander Pscheras Jünger-Buch Bunter Staub26 , ist „Heimat und Wanderung zugleich. Im Rausch bricht man auf, ohne wegzugehen. Im Rausch kommt man an, ohne weggegangen zu sein. Rausch ist Hütte, Wüste und Wald zugleich. Rausch ist der verzweifelte Versuch, die Erinnerung einzuholen, die von den Träumen als bunte Spur zurückblieb. Rausch ist der Versuch, die Sehnsucht der Träume zu erhaschen. Rausch bleibt immer auch eine Sehnsucht nach der Sehnsucht und damit auf sich selbst verwiesen. Rausch ist ein hergestellter, 22 23

24

25 26

So das Kapitel „Frühe Einstiege“, ebd., S. 77–95. Jünger: Besuch auf Godenholm, SW 15, S. 404. Exakt dieselbe Formulierung ist auch zu finden in: Annäherungen, S. 356. So z. B. im Zusammenhang mit der Lektüre eines Opium-Buches während der Besatzungszeit in Paris am 3.12.1941. Der „geistige Einstieg“, den das Opium bietet, führt demnach in einen Zustand der Schmerzlosigkeit. „Die Seele schafft sich Ränge zum Übergang in den Tod.“ (Strahlungen I. Das erste Pariser Tagebuch, SW 2, S. 279 f.). Jünger: Annäherungen, S. 21. Alexander Pschera, (Hg.): Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht, Berlin 2008. Der Rausch wird dort als „Gegenteil“ der „Désinvolture“ bezeichnet – einem anderen Zentralbegriff Jüngers, der so etwas wie machtgestützte Souveränität und Gelassenheit impliziert.

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kein echter Traum [...]. Rausch ist ein künstliches Paradies. Und in dessen Künstlichkeit entsteht dann, unter Umständen, eine andere Person.“27 Das trifft die Stimmungslage bei Ernst Jünger ziemlich genau und weist zurück auf das dem Buch vorangestellte Motto Martin Heideggers: „Bleiben aber ist ein Zurückkehren.“ Es beschreibt vielleicht weniger die Person Ernst Jünger als sein Werk. Denn das, was da entstand, ist ja selbst oft genug rauschhaft: die Exzesse des Krieges aus In Stahlgewittern und den Schriften der zwanziger Jahre, die surrealistischen Traumbilder in Das abenteuerliche Herz oder die apokalyptischen Visionen in Auf den Marmorklippen. Den Rausch zu leben, hieß für Jünger, ihn zu kontrollieren und in ein Forschungsgebiet zu verwandeln. Deshalb findet er nur in seinen Büchern statt. Im Text. Und in den Köpfen der Leser, weil ja jede gelungene Literatur ein Aufbruch in andere Welten ist. Ein Einstieg. Eine Annäherung.

27

Ebd., S. 163.

Joana Günther

Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche

Einleitung Nietzsches Philosophie stellt einen Wendepunkt von der rein rational, logisch verstandenen Denkweise zurück zu einer intuitiven, naturverbundenen Denkart, einer Philosophie des Leibes dar. Sein gesamtes Werk ist eine Philosophie der Bewegung, eine ständige Entwicklung, ein ewiges Werden. Diese Bewegung darf von Beginn an nicht als eine lineare Bewegung verstanden werden, sondern vielmehr als eine Kreisbewegung, in der es immer wiederkehrend möglich wird, Gegensätzliches zu vereinen, ohne es ineinander verschwimmen zu lassen. Eine zentrale Figur für diese bewegte Philosophie ist Nietzsches Wanderer und Bergsteiger, zu welchem konstitutiv das Wandern, als heimatloses Umherstreifen, hinzugedacht werden muss. Das Bergsteigen stellt die erste Stufe der höheren Bewegungsformen dar, auf die das Tanzen und schlussendlich als höchste Form der Bewegung das Fliegen folgen. Diese fließend ineinander übergehenden Bewegungsformen setzen implizit die Kunst der Bewegung am Berg voraus, die damit den Anfang der Bewegung an sich ausmacht und daher die Grundlage der folgenden These ist. Es ist die Bewegung, in welcher der Mensch zum Wanderer und zum Überwinder seines bisherigen Ichs wird. Damit ist schon angedeutet, dass es sich hierbei nicht um ein subjektivistisches Weltbild Nietzsches handeln kann, sondern vielmehr die Bewegung an sich, als eine schaffende Bewegung, zu welcher der Bergsteiger bzw. Wanderer konstitutiv dazugehören, im Mittelpunkt steht. Die zu verifizierende Annahme ist daher folgende: Die träumende Bewegung am Berg ist eine schaffende Bewegung, in der sich der Bergsteiger zunächst verliert, um zu seinem eigentlichen, ganzheitlichen Selbst zu finden. Diese Ganzheitlichkeit des Selbst schließt das Ich mit ein, jedoch als bewegten und veränderbaren Teil, der je und je überwunden werden kann und muss, um in die Bewegung einzugehen. Falls diese These bestätigt werden kann, ist das Bild des Berges nicht als simple und ersetzbare Metapher zu verstehen, sondern als der konstitutive Grundbaustein von Nietzsches Lehre vom Schaffenden. Dazu ist es vonnöten, zunächst den Anfang des sich windenden Weges und damit auch den Beginn der Bewegung genauer auszumachen, um die Frage zu klären, wie der Bergsteiger überhaupt auf seinen Weg gelangt. Dies führt zu der Untersuchung des Weges an sich, als eines Weges der Größe, und seiner inneren Verbundenheit mit dem Bergsteiger. Nach der Betrachtung des Schmerzes und des Abgrundes, die mit den unvermeidlichen Gefahren des

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Bergsteigens einhergehen, wird zuletzt die Bedeutung des Augenblicks des Genusses der Bewegung und der vollkommenen Schönheit untersucht und schlussendlich die Unumgänglichkeit der Bergmetaphorik in Nietzsches Philosophie zusammenfassend dargestellt. Zuvor muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich die folgende Auseinandersetzung mit dem Wanderer, der sich in den Bergen bewegt, befassen wird. Um Missverständnisse zu umgehen, ist an dieser Stelle deutlich zu machen, dass der Wanderer in Nietzsches Werken nicht ausschließlich ein Bergsteiger ist, sondern auch Wüsten durchstreift und über Meere fährt. Die Landschaftsvielfalt, welche durch die Figur des Wanderers zu einer Einheit gebracht wird, ist jedoch ein anderes weites Thema, das den Umfang der Abhandlung übersteigen würde. Diese Auseinandersetzung beschränkt sich daher auf die Untersuchung des bergsteigenden Wanderers, um der Tiefe dieses Bildes gerecht werden zu können.1

Der Anfang Die Bewegung des Bergsteigers ist elementar mit dem Weg verknüpft. Der Weg, um welchen es sich hierbei handelt, ist ein Weg der Einsamkeit, der voraussetzt, sich selbst aus der Herde2 zu lösen und sich auf einen eigenen Weg zu begeben. Doch wie kommt es zu diesem Wendepunkt, was, wortwörtlich, bewegt den Wanderer dazu, den eigenen, viel gefahrreicheren und schwierigeren Weg der Einsamkeit auf sich zu nehmen und damit die scheinbare Sicherheit der Herde zu verlassen? Iwawaki-Riebel verortet in ihrer Dissertation den Ursprung des Wanderers in Europa und erklärt das Bedürfnis nach einem Perspektivwechsel, über die europäischen Grenzen hinaus, als Antrieb für die eigentliche Wanderschaft. Diese Fähigkeit der Erweiterung des eigenen Blickwinkels und das Einordnen des eigenen Selbst in einen größeren Kontext stellen für sie damit die zentralen Eigenschaften des Wanderers dar.3 Unbestreitbar ist, dass dieser Perspektivwechsel, welcher zu einer Überwindung der europäischen Subjektivitätsphilosophie führen soll, fundamental zu der Figur des Wanderers und Bergsteigers hinzugehört, dennoch scheint diese Bestimmung nicht auszureichen. Sie würde Nietzsches Versuch, den Bergsteiger als zentrales Element seiner Philosophie, als fundamentale Expression der schaffenden Bewegung, zu konzipieren, nicht 1

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Sean Ireton beschäftigt sich eingehend mit der Einheit der unterschiedlichen Landschaftsformen, durch welche der Wanderer streift, vgl. Sean Ireton: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger“. Nietzsche and Zarathustra in the mountains, in Colloquia Germanica 42,3 (2009), S. 193–212, hier 197. Hier bediene ich mich Nietzsches eigener Terminologie, siehe z. B. in Also sprach Zarathustra die 5. Vorrede über den letzten Menschen (Za, KSA 4, S. 20) oder das Kapitel Vom Wege des Schaffenden (Za, KSA 4, S. 80). Toyomi Iwawaki-Riebel: Nietzsches Philosophie des Wanderers. Interkulturelles Verstehen mit der Interpretation des Leibes, Würzburg 2004, S. 141.

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gerecht werden. Ginge es rein um die geistige Fortbewegung aus Europa, wäre der Wanderer eine zufällig gewählte Metapher und könnte auch durch einen Reiter oder einen anderen Reisenden ersetzt werden. Dass dem nicht so ist und der Wanderer, der auf seinen eigenen Füßen den Weg bestreitet, die einzig mögliche Figur für Nietzsches Philosophie darstellt, soll sich im Folgenden zeigen. Der Anfang und der Antrieb müssen daher, um dieser noch offenen Frage nachzugehen, in der Berg- und Wanderterminologie selbst gefunden werden. Die Tiefe, Einheit und Zusammengehörigkeit der Terminologie des Bergsteigens mit Nietzsches Philosophie kann nur durch ein selbst freies und die Bewegung ermöglichendes Denken erfasst werden. So kommt Jung schlussendlich zu dem Fazit seiner – nicht nur Riebels Monographie, sondern zudem zwei weitere Texte über Nietzsches Berg- und Wanderphilosophie betreffenden – Rezension, dass „die Beweglichkeit dieses Denkens unter schalen Generalisierungen zu begraben“4 der bisher eigentliche Hinderungsgrund bei der Erfassung der Tiefgründigkeit der Thematik sei. Die Bergmetaphorik stellt für Nietzsche also keinesfalls lediglich ein Vehikel zur schönen Ausformulierung seiner Gedanken dar, sondern ist ein fester und nicht zufällig gewählter Bestandteil seines philosophischen Vorhabens. Bei der Suche nach dem Beginn der Bewegung in der Bergterminologie selbst liegt daher eine andere Vermutung nahe, welche eher mit dem antikgriechischen Verständnis des thymós5 einhergeht, nämlich die auffallend häufige Verwendung der Metapher der Füße, wenn es darum geht, einen steilen und steinigen Weg zu bestreiten. Die Füße scheinen bei Nietzsche eine Art enthusiasmós6 und thymós darzustellen und damit der eigentliche Initiator der schaffenden Bewegung zu sein. Die Füße selbst treiben an und werden nicht zunächst vom Verstand beherrscht, sie sind es, welche den Weg erspüren und erlaufen können. Es sind die Füße, die den ersten Schritt wagen und es mit dem Berg aufnehmen können. Sie lassen, als Metapher für das Er-Fühlen des Weges, die fundamentale Bedeutung des Gefühls an sich einsichtig werden, denn das Herz steht vor dem Verstand, wenn der Mut gefragt ist, ein Wagnis einzugehen: „Man sollte keine neuen Wege gehen, wenn unser Herz nicht noch kühner ist als unser Kopf“ (NF, KSA 9, S. 27). Der Beginn eines Weges kann und muss also als ein Wagnis gesehen werden, welches lediglich von starken Füßen, im antik-griechischen Verständnis von einem stark ausgeprägten 4

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Joachim Jung: Nietzsches Philosophie des Wanderers, in Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 323–342, hier 342. Die Bedeutungsspanne des altgriechischen Wortes thymós reicht von Übersetzungen wie das „Lebendige“, sich „Regende“ und dem „Lebensmut“ bis hin zur „heftigen Begierde“ oder gar dem „Zorn“ (vgl. „Thymós“ in Franz Passow: Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. 2, Leipzig 2004). In dieser Abhandlung wird thymós als der Mut und die Lebenskraft verstanden, die für das Gehen des eigenen Weges erforderlich sind. Enthousiasmós, übersetzt mit „göttliche Einwirkung“, „Begeisterung“ oder „Verzückung“, wird hier als die Intuition der Ganzheit verstanden. (vgl. „Enthousiasmós“, in Passow: Handwörterbuch). Beides, die Intuition und der Mut müssen zusammenspielen, um die Bewegung anheben zu lassen.

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thymós, aufgenommen werden kann. Schon an dieser Stelle wird angedeutet, dass es sich um eine ganzheitliche leibliche Bewegung und gerade nicht um eine rein rationale Bewegung des Verstandes handelt. Diese Bewegung wird am ehesten durch den Traum oder das Träumerische zum Ausdruck gebracht. Der Traum ist weder Phantasterei noch ein bloßes Vorstellen, sondern vielmehr gerade die gelebte Bewegung des Denkens selbst, die auch das Unbewusste, das nicht kognitiv Erfassbare, enthält. Das Vorstellen würde in dieser Hinsicht zu kurz greifen, da es gerade nur kognitiv etwas einseitig vor das Subjekt stellt und nicht das Unbewusste miteinschließt. Aber auch die Phantasterei trifft die Denkbewegung, die Nietzsche ausdrückt, nicht. Sie führt in eine jenseitige Sphäre, fernab des Lebens, sodass gerade darin der große Unterschied besteht: Der Traum kann gelebt werden. Er ist als unbewusste Welt daher zentral für die Ausführung der Bewegung. „Die meisten Bewegungen im Einüben sind Versuche, und der Intellekt bejaht die gelungenen, er erzeugt sie nicht“ (NF, KSA 10, S. 405). Für die Erzeugung der Bewegung ist daher das Bild der Füße, die den Weg in ihrer unmittelbaren Verbundenheit zur Erde erspüren, entscheidend. Der Verstand kann lediglich im Nachhinein den Weg als solchen bejahen und überblicken. Aufgrund dessen ist es der Fuß und nicht der Kopf, der den Kampf gegen den Geist der Schwere auf sich nimmt und damit elementar mit dem Bedürfnis nach Leichtigkeit verbunden ist: Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein boshafter, einsamer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Berg-Pfad knirschte unter dem Trotz meines Fusses. Stumm über höhnischem Geklirr von Kieseln schreitend, den Stein zertretend, der ihn gleiten liess: also zwang mein Fuss sich aufwärts. Aufwärts: – dem Geiste zum Trotz, der ihn abwärts zog, abgrundwärts zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde. (Za, KSA 4, S. 198)

Der Fuß drängt Aufwärts immer weiter hinauf in luftige Höhen und voran, sucht sich den harten Bergpfad als Weg, um den Geist der Schwere endlich abzuschütteln und in der Bewegung leichter werden zu können. So besitzt der thymós die Leichtigkeit, den Anfang eines Wagnisses einzugehen, das noch nicht vom Verstand erfasst werden kann. Das Bedürfnis nach Leichtigkeit in der denkenden Bewegung führt über den steinigen Bergpfad, um die Füße zu stärken, die Bewegung des Gehens zu erlernen und schlussendlich zu tanzen und zu fliegen; analog dazu den Mut auszubilden, um je und je weitere Wagnisse eingehen zu können. Dieser Prozess des Leichterwerdens ist einem Schaffensprozess gleich, in welchem das Werk im Mittelpunkt des Geschehens steht. Der Schaffende muss ebenso wie der Bergsteiger Zeiten des Zweifelns, des Abwägens der Gefahr und des Scheiterns in Kauf nehmen, um die Bewegung fortzusetzen und die Möglichkeit, ein gelungenes Werk zu schaffen oder den Gipfel zu erreichen, wahrzunehmen. Diese Entwicklung ist daher auch von stetiger Übung bestimmt, da es sich um eine Bewegung handelt, in der kein Schritt übersprungen werden kann. Lediglich können durch eine gewisse Beständigkeit die Schritte größer und leichter werden: „Wie willst du tanzen lernen, wenn du nicht einmal gehen lerntest! Und über dem Tanzenden ist

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noch der Fliegende und seine Seligkeit“ (NF, KSA 10, S. 556). Diese verschiedenen, aufeinanderfolgenden und fließend ineinander übergehenden Bewegungsformen bilden einen einheitlichen Prozess des Schaffens, doch dazu muss der Mensch bereit sein, sein früheres Ich je und je aufzugeben, um sich dieser Bewegung als Teil derselben, nämlich als Wanderer, hinzugeben. Darin liegt gerade die Bestimmung des Wanderers, in der ständigen Veränderung. 7 Der Beginn der Bewegung durch die Füße darf daher nicht als einmaliges Geschehen missverstanden werden. Die Füße stellen nicht nur den ersten Beginn, sondern einen immer wiederkehrenden Neuanfang und Wendepunkt dar: „Oh Zarathustra, sagten sie, nun liegst du schon sieben Tage so, mit schweren Augen: willst du dich nicht endlich wieder auf deine Füsse stellen?“ (Za, KSA 4, S. 271). Auf die Füße stellen bedeutet, bildlich vorgestellt, wieder Kontakt mit der Erde aufzunehmen. Die Fußsohlen berühren die Erde und sind ihr wieder treu. Durch diese Berührung wird die Fortbewegung, nach vorangegangener Überwindung der alten Bewegungsform und des bisherigen Ichs des Wanderers, ermöglicht. Durch das Auf-die-Füße-Stellen wird ein Weitergehen denkbar. Rekapitulierend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Mensch aufgrund von starken Füßen, und entsprechend eines ausgeprägten thymós, auf seinem Weg angelangt ist und die Bereitschaft mitbringt, sein bisheriges Ich loszulassen8. Dennoch reicht dies nicht aus, um den besagten Weg auch tatsächlich zu gehen. Der Wanderer muss den Weg, den seine Füße gehen und gehen wollen, auch mit seiner Vernunft bejahen, insofern er sich ganzheitlich auf das Wagnis, welches sich mit seinem eigenen Weg vor ihm auftut, einlässt, indem er die Bewegung mitgeht. Das bedeutet, er muss ganz Bergsteiger werden, seine gewohnten Bahnen hinter sich lassen und dem Weg der Einsamkeit durch seine Berglandschaft folgen. Daher ist es nun an der Zeit, den Weg als solchen, den Weg durch die Berge, genauer zu betrachten.

Der Weg durch die Berge Der Weg, auf welchem sich der Gang ereignet, ist keineswegs mit einer geradlinigen, vom Verstand vorausschauend geplanten und im Anschluss gebauten Straße gleichzusetzten. Er kommt vielmehr einem mäandrierenden Lebensstrom gleich, dessen Windungen sich entwickeln und verändern, wodurch der zukünftige Verlauf ungewiss bleibt. Die Wegwindungen sind Ausdruck dieser Unvorhersehbarkeit und implizieren die ständige Bewegung und Entwicklung des Weges selbst, der niemals etwas Statisches sein und werden kann. Daher ist

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„Es muss in ihm selbst [im Philosophen und Wanderer] etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.“ MA, KSA 2, S. 363. Das Loslassen und damit der Verlust des bisherigen Ichs schließt eine Öffnung mit ein, weg von einer starren Subjektzentriertheit hinein in eine Bewegung der Ganzheitlichkeit. Das Ich findet damit zurück in das ganzheitliche Selbst.

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es kein Zufall, dass Nietzsche den Weg unter anderem durch Berglandschaften führen lässt, in welchen der Fluss seinem natürlichen und wilden Verlauf folgt. Gewiss könnte das Bild der Berge in Nietzsches Schriften leichtfertig mit seinem persönlichen Bezug zu den Schweizer Alpen, in deren Gegend er sich während des Schreibens oft aufgehalten hat, begründet werden, doch reicht dieser Bezug nicht aus, um die tiefe Verwurzelung der Berge in Nietzsches Philosophie zu erfassen. So schreibt Nietzsche im Vorwort zu Ecce Homo: „Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge“ (EH, KSA 6, S. 258). Die Berge sind also nicht als banale Metapher zu verstehen, sondern vielmehr als Inbegriff seines philosophischen Denkweges. Sobald nun der Weg über Berge und durch Täler führt, sind Höhen und Tiefen mit eingeschlossen, daher ist es sinnvoll, den Berg als solchen genauer zu betrachten. Der Berg ist bestimmt durch die vertikale Differenz zwischen dem Meeresgrund und dem Gipfel, die Höhe, welche den Abgrund immer schon mit einschließt. Aus der Ferne und direkt am Fuße des Berges lassen sich Höhe und Abgrund nicht durch stillstehendes Beobachten einsehen: Es braucht die Bewegung, um den Berg als solchen zu erfahren. Führt der Weg über den Berg, muss auch der Wanderer diese Bewegung des Über mitvollziehen, er muss den Berg, als Teil seines Weges, über-winden. Der Weg wird damit zu einem Weg der Überwindung und, falls diese tatsächlich geschieht, zu einem Weg der Größe. Resümierend ist der Berg Teil des Weges, der den Menschen zuallererst hin zum Über führt und damit auch Teil der Bewegung des Menschen hin zum Übermenschen. Sich selbst in dieser Bewegung vorfindend wird der Mensch zu einem Bergsteiger, der den Berg als solchen und damit das Über seines Weges erfahren kann. Der vergangene Weg kann hierbei keinen Aufschluss über die zukünftige Bewegung geben, die das Loslassen der Vergangenheit und das Einlassen auf den Weg selbst fordert. Daraus folgt, dass je ausgeprägter der thymós ist und je tiefer sich der Bergsteiger seinem Dasein hingeben kann, desto näher kommt er seinem Weg der Größe: „Du gehst deinen Weg der Grösse: das muss nun dein bester Muth sein, dass es hinter dir keinen Weg mehr giebt!“ (Za, KSA 4, S. 194). Es ist der einzig mögliche Weg, den es nunmehr gibt, kein anderer Weg kommt mehr in Frage, er ist sogar seine (Zarathustras) letzte Zuflucht geworden. Der Blick weg von der Vergangenheit und hin in die Zukunft lässt den Mut des Bergsteigers zu seiner vollen Größe aufblühen. Die Höhe des Berges, im alltagsprachlichen Sinn, scheint auf den ersten Blick eine messbare, quantitative Distanz zu sein. Doch die Höhe bei Nietzsche findet sich immer vereint mit dem Abgrund, beziehungsweise der Tiefe wieder. Daher liegt es nahe, dass die Höhe in Nietzsches Berg-Terminologie vielmehr als Größe und Schönheit verstanden werden muss, im Gegensatz zu einer messbaren, quantitativen Höhe. So schreibt Nietzsche über den hohen, jedoch von ihm für nicht als schön empfundenen Montblanc: „die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller, – aber ‚lange nicht so hoch‘, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt“ (MA, KSA 2, S. 641).

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Die Größe schließt, im Gegensatz zur quantitativen Höhe, auch die Tiefe mit ein, sie lässt den Berg durch seine Abgründe groß werden, durch seine Zerklüftetheit und seine nicht einsichtigen Stellen. „Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Grösse“ (Za, KSA 4, S. 194). In der Bewegung werden die Gegensätze zu einer Einheit vereint und damit groß.9 Diese spannungsvolle Einheit fordert das Fortschreiten bis zu den scheinbaren Grenzen des Weges, an welchen ein Weitergehen unmöglich erscheint, jedoch auch eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Dein Fuss selber löschte hinter dir den Weg aus, und über ihm steht geschrieben: Unmöglichkeit. Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen. (Za, KSA 4, S. 194)

Es ist der Punkt des Über, welcher das Steigen auf den eigenen Kopf fordert und den Weg der Größe ausmacht. Hier entscheidet sich, ob der Weg tatsächlich ein Weg der Größe wird und ob der Bergsteiger bereit ist weiterzugehen, über sich selbst hinauszusteigen, um die Bewegung nicht zu unterbrechen. Ist jedoch der Moment der Entscheidung gekommen und die Größe des Über wird erahnt, scheint die Entscheidung bereits gefallen zu sein: Und noch Eins weiss ich: ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel und vor dem, was mir am längsten aufgespart war. Ach, meinen härtesten Weg muss ich hinan! Ach, ich begann meine einsamste Wanderung! Wer aber meiner Art ist, der entgeht einer solchen Stunde nicht: der Stunde, die zu ihm redet ‚Jetzo erst gehst du deinen Weg der Grösse!‘ (Za, KSA 4, S. 193 f.).

Der letzte Gipfel deutet schon an, dass es sich nicht nur um einen einzigen Berg, der den Anschein eines Absoluten erwecken könnte, handelt.10 Vielmehr führt der Weg über viele Berge und fordert je und je eine Überwindung. Der augenblickhafte Charakter des Antrittes der einsamsten Wanderung wird immer wiederkehrend eintreten. Diese ständige Überwindung entspricht einem Schaffensprozess, in welchem der Mensch zum Übermensch werden kann. Der Berg ist, in der Terminologie des Schaffens gesprochen, ein Werk, welches von dem Bergsteiger, dem Schaffenden zunächst angegangen und schlussendlich auch überwunden oder, anders ausgedrückt, vollendet werden muss. Während des Gehens auf dem Weg entstehen Berge von Größe. Dabei ist das Schaffen eines Werkes, genauso wie ein Berg im Gebirge, nicht einzeln zu denken, sondern vielmehr als eine individuelle Landschaft, in welcher „der Erkennende“ lernen soll, „mit Bergen [zu] bauen!“ (Za, KSA 4, S. 134). 9

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Sean Ireton geht auf die horizontale Bewegung des Bergsteigers ein, indem er den Seiltänzer als Bergsteiger interpretiert. Diese Auslegung stärkt das Verständnis der Höhe als Größe und des Abgrundes als nicht zwingend vertikale Distanz. Ireton: Wanderer und Bergsteiger, S. 199. Bolland stellt in seiner Dissertation fest, dass in Nietzsches Werk nie von dem einen Berg, sondern immer von Bergketten und Gebirgen die Rede ist, und führt daraufhin diese Untersuchung noch weiter fort: Mark Edmund Bolland: Nietzsche and mountains, http://etheses.dur.ac.uk/1579/ (Stand 16.02.16), S. 31.

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An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich bei der Bewegung der Größe um eine wechselseitige Bewegung zwischen dem Bergsteiger und dem Wachstum des Berges handelt. Je erfahrener der Bergsteiger, desto höher wachsen seine Berge – je mutiger der Schaffende, desto größer werden seine Werke. Das bedeutet, dass es hier im Ganzen nicht um eine rein vom Subjekt ausgehende Bewegung geht. Von „sich selbst absehen lernen ist nötig“, um den Weg der Größe zu gehen, das eigene Ich loszulassen, um sich der Bewegung und dem Gang vollständig hingeben zu können, um den nächsten Schritt klar zu sehen, den schmalen Weg weiter in die Höhe zu steigen und endlich „heim“ zu kehren (Za, KSA 4, S. 193). Zurück nach Hause zu gelangen heißt zum eigenen selbst zurückzufinden, was nur im Prozess des Schaffens geschehen kann. Je leichter die Bewegung des Bergsteigens wird, je mehr sie sich in Richtung Fliegen bewegt, desto mehr muss sich das Subjekt als solches hingeben, um mit dieser schaffenden Bewegung eins zu werden, um etwas entstehen zu lassen und zu sich zurückzukehren. Zarathustra ist Bergsteiger geworden und in allem, was ihm auf seinem Weg begegnen wird, wird „ein Wandern […] sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber“ (ebd.). Durch das Absehen von dem eigenen Ich während des Ganges auf den letzten Gipfel kann Zarathustra über sich hinwegsteigen und „Hinab auf [sich] selber sehn und noch auf [seine] Sterne“ (ebd). Die Loslösung von allem Vergangenen, das bisherige Ich eingeschlossen, welche der Gang des eigenen Weges fordert, ist jedoch auch zwangsläufig mit Gefahren verbunden.

Gefahr und Schmerz Es sind vor allem zweierlei Gefahren, welche dem Bergsteiger auf seinem Weg begegnen. Die erste Gefahr ist die Ungewissheit, mit welcher der sich windende Weg konstitutiv verbunden ist. Die zweite wird durch die Abgründe hervorgerufen, die den Berg zu einem Berg machen. Beide Gefahren fordern das Eingehen eines Wagnisses, dies bedeutet jedoch auch immer die Möglichkeit der Überwindung und damit das Schaffen eines Werkes. Zunächst zur ersten Gefahr, der Ungewissheit, die das Bergsteigen immer schon mit sich bringt, da der Weg nicht vorhergesehen werden kann. Gleichzeitig trifft diese Gefahr den Kern von Nietzsches Lehre, dass „das Leben ein Mittel der Erkenntniss“ sein dürfe (FW, KSA 3, S. 553). Das Wagnis besteht jedoch vor allem darin, dass es in der Einsamkeit eingegangen werden muss. Diesen „andre[n]“ Weg, der „schwieriger, verschlungener und steiler“ ist, muss der Bergsteiger in seiner Einsamkeit gehen, auf seinen eigenen Füßen.11 Der Weg fordert die Isolation von der Herde, zwar bestreiten Gefährten mit ihm den Weg, dennoch könne diese dem Wanderer beim Gehen nicht behilflich sein. 11

Friedrich Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in KGW III,2, S. 133– 244, hier 220.

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In dieser Einsamkeit, fernab von dem Lärm des Erfolges, dem Getümmel der Masse, findet der Wanderer seine Stille, die ihm eine Schaffensquelle darstellt. Denn es sind „[d]ie stillsten Worte […], welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt“ (Za, KSA 4, S. 108). Sich der Stille hingeben, ist gleichzeitig ein Sich-der-Stille-Aussetzen, in welcher die Ungewissheit zu einem Schmerz werden kann. Doch erst durch dieses SichAusliefern, wird die Stille selbst zur Quelle des Schaffens. Wortwörtlich sprudelt aus dieser die Kraft, etwas entstehen zu lassen, heraus: So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. (MA, KSA 2, S. 363)

Der Wanderer hat den Abend zuvor durchgehalten, die Nacht der Ungewissheit, die schmerzvolle Einsamkeit, die sich in diesem Morgenmoment zu einer schönen Einsamkeit wandelt. Schmerz und Schönheit hängen im Schaffensprozess unweigerlich miteinander zusammen. Der Schmerz muss bejaht werden, um einen Berg zu besteigen und gehört damit zu diesem Geschehen hinzu. Diese gutartige Einsamkeit zählt zu dem hohen Schmerz, aus welchem Schönheit in Form eines Werkes entstehen kann. Die Stille, als konstitutive Voraussetzung, bietet dem Bergsteiger, dem Inbegriff des Einsamen, den Raum, eine „erste Bewegung“, ein „aus sich rollendes Rad“ zu sein (Za, KSA 4, S. 80). Die Kraft und Macht für diesen Schaffensweg muss aus dem eigenen Selbst herauskommen, sie ist die Freiheit, die sich in der Einsamkeit eröffnet. Es ist der zuvor angesprochene thymós, der den Bergsteiger in seinem Herzen antreibt. In gleicher Weise kann diese einmal angefangene Bewegung schmerzvoll werden, gleich einer sprudelnden Quelle, aus welcher heraus ein Über-Fluss entströmt und nicht ablaufen kann: „Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre; seine Weisheit aber wuchs und machte ihm Schmerzen durch ihre Fülle“ (Za, KSA 4, S. 105). Der Bergsteiger kann, einmal angefangen, die Bewegung des Bergsteigens nicht mehr beenden, ohne einen tödlichen Absturz zu riskieren. Doch der Bergsteiger erkennt bald, dass die Einsamkeit seine einzige Heimat werden kann, da sie die Quelle ist, welche die Kraft für den weiteren Weg in sich birgt. „Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heimkehrte!“ (Za, KSA 4, S. 231).12 12

Auch Riebel schreibt von dieser neuen geistigen Heimat der Einsamkeit: „Wo aber ist Zarathustras Heimat? Er hat in der Tat seine Heimat verlassen, die Einsamkeit aber ist für ihn eine neue Heimat, d. h. die geistige Heimat.“ Iwawaki Riebel: Nietzsches Philosophie des Wanderns, 27.

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Die zweite Gefahr, die ständige Präsenz des Abgrundes, kann ebenso nur im Fluss der Bewegung des Bergsteigens ausgehalten werden. Das Risiko einzugehen, sich überhaupt in die Nähe des Abgrundes zu begeben, ist evident notwendig, um auf hohe Berge steigen zu können und damit, konkret gesprochen, auch notwendig, um Nietzsches Philosophie zu verstehen. Das Bergsteigen führt immer wieder in die Nähe der Abgründe, welche umso tiefer sind, je höher die Berge werden. Nur wer zunächst in die Tiefe des Abgrundes hinabgestiegen ist, kann in die Höhe des Berges aufsteigen. Auch hier findet sich also die unumgängliche Ganzheitlichkeit von Tiefe und Höhe wieder. Wie aus dem Meer heraus die Berge entstehen, wird aus dem Abstieg der Aufstieg ermöglicht: „Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen“ (Za, KSA 4, S. 195). Die Tiefe des Schmerzes muss erfahren werden. Das bedeutet, bis hin zur Todesgefahr13, zum Schmerz des Todeszeitpunktes vorgedrungen zu sein. Diese Todesgefahr taucht als „ein Abgrund“ auf. Alles scheint „plötzlich zum Gestein und Absturz geworden“ zu sein (NF, KSA 9, S. 621). Gleichzeitig treibt dieser Augenblick die Bewegung paradoxerweise weiter in die Höhe. Durch die ganzheitliche Verbindung des Gegensatzpaars am Berg, der Tiefe und der Höhe, wird eine Spannung aufgebaut, welche vom Bergsteiger ausgehalten werden muss, denn aus ihr wird im gleichen Zug die Bewegung der Zukunft geboren.14 Als wesentlicher Bestandteil des Schaffensprozesses ist der Abgrund damit auch Teil der Erfahrung des Selbst. Diese Selbstfindung während der Bewegung des Bergsteigens und die dafür konstitutiven Abgründe werden in Jenseits von Gut und Böse einsichtig: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (JGB, KSA 5, S. 98). An dieser Stelle wird die Eigendynamik des Abgrundes, der selbst zum Sehenden werden kann, ausformuliert. Es handelt sich nicht um eine einseitige Bewegung des Bergsteigers, der in die Abgründe hinabsteigt, um Berge hinaufsteigen zu können, sondern die Abgründe steigen auch in die innersten Tiefen seines Selbst hinab. Eindrücklich wird dieser Zusammenhang auch von Zarathustra erfahren: „In deine Höhe mich zu werfen – das ist meine Tiefe! [...] Du Licht-Abgrund! – in alle Abgründe trage ich da noch mein segnendes Ja-sagen“ (Za, KSA 4, S. 207–209). Der Lichtabgrund gleicht einem Himmel, in welchen sich Zarathustra hineinwerfen möchte, Höhe und Tiefe scheinen nicht mehr unterscheidbar zu sein. Bemerkenswert ist hierbei, dass dieses Hineinwerfen in die Höhe in seine eigenen Tiefen führt. Die Angst vor dem Abgrund wird damit in eine bejahende Liebe verwandelt, eine Liebe zur ganzheitlichen Bewegung, die den Verlust des bisherigen Ichs in Kauf nimmt. Im Augenblick der Konzentration auf das Bergsteigen,

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Der Tod wird hier im weitesten Sinn als Abschiedsmoment verstanden. Vivette Vivarelli beschreibt in ihrem Aufsatz Nietzsches Abgründe dieses Zusammenspiel von Berg und Abgrund als Zeitpunkt der Geburt des Über: „Im anschaulichen Spiel der Umkehrung im Zarathustra entsteht aus dem Abgrund des Nichts wie ein umgestülpter Hut des Übermenschen Berg der Menschen-Zukunft.“ Vivette Vivarelli: Wo der Fels selbst schaudernd zur Tiefe blickt: Nietzsches „Abgründe”, in Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), S. 5–17, hier 7.

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auf den träumerischen Bewegungsfluss, wird dem Bergsteiger sein Selbst leiblich spürbar. Ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehen: wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. (FW, KSA 3, S. 417).

Dieses Bewusstsein über den eigenen Traumzustand ist fundamental für das Bergsteigen, denn durch das Gewahrwerden ist es möglich, der inneren Intuition, den eigenen Füßen bzw. dem enthusiasmós zu vertrauen. Erst dadurch kann die Bewegung fließender und leichter, zu einem Bewegungsfluss15 werden, sich wandelnd vom Gehen, über das Tanzen bis hin zum Fliegen. Diese leichte, träumerische Bewegung bewahrt vor dem Sturz in den Abgrund. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen und in Menschliches Allzumenschliches finden sich diese Bilder des Tanzes am Abgrund wieder, welche, wie Vivette es ausdrückt, das „Abmessen der Schritte“ verhöhnen und damit die träumerische Bewegung zur einzig möglichen in der Nähe des Abgrundes machen.16

Augenblicke der Schönheit Nachdem nun der Schmerz genauer behandelt wurde, welcher die Tiefe des Abgrundes eröffnet, ist es nötig, die Aussicht, die ein Bergsteiger auf seinem Weg wohl als Augenblick der Vollkommenheit bezeichnen würde, genauer zu betrachten. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass auch hier Aussicht und Abgrund wieder als untrennbar und zusammengehörig verstanden werden müssen. Der genussvolle Augenblick der Aussicht und des Überblickes gehört, ebenso wie die Angst im Angesicht des Todes, am Abgrund zum Bergsteigen hinzu. Diese Momente des Innehaltens in der Bewegung geben den Rhythmus derselben vor und treiben dadurch die Bewegung mit neuem Schwung weiter an. Solche Augenblicke dürfen nicht als Stillstand betrachtet werden, sondern sie sind vielmehr zentrale Teile der Bewegung als Ganzes. Hier wird sich der Bergsteiger seiner träumenden Bewegung bewusst, er erkennt die Kraft derselben und erahnt die Vollkommenheit seines Werkes. Es sind die Momente, in denen die Stille zu dem Hinaufsteigenden spricht und sich die Musen gütig zeigen. „Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer — Alles redet nur einmal ganz zum Herzen“ (MA, KSA 2, S. 337). Der Augenblick an sich vereint Gegensätze zu einer Schönheit, in ihm treffen Ewigkeiten aufeinander und werden vereint. Es ist der Moment, in welchem die Spannung nicht nur erträglich, sondern zu einem Genuss wird, im Augenblick verwandelt sich der schreckliche Schmerz in einen hohen Schmerz, durch

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Dieser Bewegungsfluss nähert sich auch dem modernen Phänomen des Flows (beim Bergsteigen, Klettern, aber auch beim philosophischen Denken und Schreiben) an. Vivarelli: Nietzsches Abgründe, 14.

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die Schönheit der vereinten Gegensätze. Nach dem mühsamen Aufstieg erreicht Zarathustra diesen Moment des Augenblicks der Ewigkeit: Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch Niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus — das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf: — und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: „Augenblick“. (Za, KSA 4, S. 199 f.)

Zwei ewige Wege, welche von sich her nicht zu Ende gegangen werden können, treffen sich an diesem Tor und werden als sie selbst gegenwärtig; in diesem einen Moment wird die Ewigkeit als Ewigkeit eingesehen, dadurch wird der Augenblick selbst, als Inbegriff der Vergänglichkeit, zu einem Moment der Ewigkeit. Diese scheinbare Paradoxie kann mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen17 in Verbindung gesetzt werden, insofern diese Augenblicke einzigartig und ganzheitlich gedacht werden. In ihnen geht eine Ewigkeit auf, doch selbst ist der einzelne Augenblick vergänglich. Die Ewigkeit des Augenblicks besteht daher in der fortwährenden Wiederkehr dieser Ganzheitsmomente. Zarathustra wird immer wieder mit seinem Geist der Schwere an diesem Punkt des Weges, dem Augenblick, angelangen und dort je und je die Ewigkeit erfahren. Trotz dieser immensen Bedeutung des Augenblicks ist er gerade nicht durch Lärm und Aufruhr, sondern im Gegenteil durch Stille und Einfachheit bestimmt: „Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick — Wenig macht die Art des besten Glücks. Still!“ (Za, KSA 4, S. 344). Plötzlich wird das harte Bergsteigen zu einem Genuss. Das Werk wird in der Bewegung vollendet und der Bergsteiger spürt in diesem Fluss sein Dasein als Bergsteiger. Es ist ein Moment der Ganzheitlichkeit, die Welt ist „rund und reif“ (Za, KSA 4, S. 344). In der Terminologie des Schaffens gesprochen, entsteht hier eine Einheit zwischen dem Schaffenden und seinem Werk. Das Werk an sich steht unanfechtbar im Mittelpunkt, es ist das Eigentliche, das, worum es geht, und doch findet sich der Schaffende immer schon in seinem Werk vor. Es ist dasjenige, das im vorhergegangenen als das Selbst des Schaffenden bezeichnet wurde. Dieses Selbst braucht es essentiell bei der Entstehung des Werkes, denn das Selbst ist das Schaffende des Schaffenden. Um diesen Augenblick zu erfahren, braucht es die Bewegung, jene, welche in der Einsamkeit und der Stille stattfindet, die träumende Bewegung am Berg, die den Bergsteiger sein Selbst fühlen lässt. Das Bergsteigen ist diese sich fortentwickelnde und im selben Moment verwandelnde Bewegung, welche vom

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Die ewige Wiederkehr des Gleichen, die auch in der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung eine noch immer offene Frage darstellt, ist wohl einer der schwierigsten Gedanken Nietzsches und kann an dieser Stelle nicht weiter ausbuchstabiert werden, da dies den Umfang dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde.

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Gehen bis hin zum Fliegen reicht. Das Fliegen trägt in die Luft, lässt die Aussicht noch weiter werden. Diese Form der Bewegung kennt keinen Stillstand und zeichnet sich durch ihre immer leichter werdende Art aus, die Bewegung vom Gehen, am Boden, bis zum Fliegen, in der Luft, wird immer schwereloser. An dieser Stelle muss jedoch noch einmal ausgeholt werden. Die Schwerelosigkeit bezieht sich hier nicht auf den Abstand zur Erde – dieser soll treu geblieben werden –, sondern vielmehr sind mit ihr die Entfernung zum Geist der Schwere und das Nahekommen zu dem eigenen selbst gemeint. „Und Zarathustra lief und lief und fand Niemanden mehr und war allein und fand immer wieder sich und genoss und schlürfte seine Einsamkeit und dachte an gute Dinge, — stundenlang“ (Za, KSA 4, S. 342). Diese kindliche, tanzende Leichtigkeit, dieser lustige Frohgemut ist es, aus welcher der Bergsteiger seine Kraft und Geduld für seine langen und harten Wanderungen schöpft. Sie ist es auch, die die Ewigkeit in einem Augenblick erscheinen lässt. Hat er die Berge oder die Masten mit „hurtigen Beinen“ erklommen, wird der Augenblick der seligen Vollkommenheit, der Aussicht kommen: „[A]uf hohen Masten der Erkenntniss sitzen dünkte mich keine geringe Seligkeit“ (Za, KSA 4, S. 244). Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Bergsteiger je und je für diese Augenblicke der Klarheit bereit ist, wieder aufzubrechen: [W]illst du aber nicht heute auf einen hohen Berg steigen? Die Luft ist rein, und man sieht heute mehr von der Welt als jemals.“ — „Ja, meine Thiere, antwortete er, ihr rathet trefflich und mir nach dem Herzen: ich will heute auf einen hohen Berg steigen! (Za, KSA 4, S. 296)

Schlusswort Es hat sich gezeigt, dass das Bild des Bergsteigers und des Wanderers der Inbegriff von Nietzsches Philosophie des Schaffens sind. In der Bewegung am Berg werden Höhe und Tiefe in einem Ganzen vereint, die dadurch entstehende Spannung ausgehalten und ein Werk geboren. Einem Traum gleicht diese Bewegung, der den Absturz in den Abgrund verhindert und gleichzeitig die Einsicht in die Tiefen des Innersten des Berges und auch des Bergsteigers ermöglicht. In der Hingabe an die Bewegung, im Fluss derselben, spürt sich der Bergsteiger als Bergsteigender in dem Augenblick des Aktes selbst. Dieser Bergsteiger ist damit ein Schaffender, welcher sich seinem Werk, in der Bewegung des Schaffens, hingibt und es damit vollenden kann. Die Terminologie des Bergesteigens scheint damit die einzig mögliche für Nietzsche zu sein, um seine Philosophie der Bewegung, in welcher Gegensätze vereint werden können, ohne sich aufzuheben, auszudrücken. In keinem anderen Bild vereinen sich das Werk und der Schaffende in einem harmonischen Wechselspiel so außergewöhnlich, wie auch der Bergsteiger mit dem Berg im Austrag der Bewegung. Aus dieser unbewussten, intuitiven Einheit heraus entsteht die Schönheit und Größe eines Werkes, die durch eine

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rational geplante Denkweise niemals zustande kommen könnte. Damit gleicht diese Philosophie des Bergsteigens vielmehr einer Kunst, wie auch die Bewegung am Berg als eine Kunst bezeichnet werden kann, welche den Zugang zu einer Dimension der Größe eröffnet und im Augenblick Einsicht oder auch Aussicht in dieselbe gewährt.

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II. Gnôthi seautón

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Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros

„Ja, bei Hera, schön ist der Ruheplatz. Weit ausladend und hoch die Platane hier, prächtig der hohe Wuchs des Keuschbaumes und die schattige Atmosphäre; und weil er in Blüte steht, wird er den Platz mit süßestem Duft erfüllen. Und dann die Quelle, die allerliebst unter der Platane hervorsprudelt mit ganz kühlem Wasser, wie an den Füßen zu spüren ist. Nach den kleinen Figuren und Votivgaben zu urteilen, scheint der Ort den Nymphen und dem Acheloos geweiht zu sein. Und ferner, mit Verlaub, die frische Luft an diesem Ort, wie lieblich und überaus angenehm; sommerlich und hell tönt sie wieder vom Chor der Zikaden. Von allem aber das Herrlichste ist die Art der Wiese, wie sie in ihrer sanften Neigung, wenn man sich hinlegt, für den Kopf die ideale Unterlage bietet.“1 Wie sollte man in dieser schwärmerischen Schilderung am Anfang des Phaidros, durch deren diskrete Ironie der Eindruck von echter und aufrichtiger Begeisterung noch gesteigert wird, gerade Sokrates wiedererkennen, den Fremdling in der Natur, den eifrigen Liebhaber der Reden und der Gespräche, den unermüdlichen Sucher nach Gesprächspartnern innerhalb der Stadtmauern? Nicht nur der junge Phaidros, auch Sokrates selbst erklärt sich überrascht vom beinahe dithyrambischen Fluss der Worte, die wie von selbst aus ihm herausströmen, und kann sich dem Bann des Staunens nicht anders entziehen als dadurch, dass er seine eigene Begeisterung der geheimnisvollen Macht des göttlichen Orts zuschreibt. Ohne nach seinem sonstigen Brauch darauf zu bestehen, dass der Gesprächspartner durch seine Zustimmung oder Widerlegung die wache Teilnahme am Gespräch bezeugt, gibt er sich widerstandslos der Entzückung des Monologs hin: „In aller Stille also hör mir zu. Denn wirklich, der Platz scheint heilig zu sein, so dass du dich nicht wundern sollst, wenn ich im Fortgang der Rede etwa von Nymphen verzückt werde. Denn was ich bisher sage, klingt fast schon wie Dithyramben“ (238c9–d3). Sokrates ist hier offensichtlich weit entfernt von jener „Flucht in die Logoi“ aus dem Phaidon, wo er, in Angst davor, durch den übermäßig starken Glanz der Dinge in ihrem unaufhörlichem Entstehen und Vergehen blind zu werden, seine Zuflucht zur „zweiten Fahrt“ nahm, die darin besteht, nach der „Wahrheit des Seienden“ nicht mehr mittels „der Augen und eines jeden der anderen Sinne“ zu suchen. Stattdessen gilt es, das Werden der Dinge in der Ruhe und 1

Phdr. 230b2–c5. Die Übersetzung folgt mit einzelnen Veränderungen: Platon Werke, Übersetzung und Kommentar, Bd. III,4: Phaidros, Übersetzung und Kommentar von Ernst Heitsch, Göttingen 1993. Platons Phaidros wird im Folgenden in Klammern im Haupttext nach dieser Übersetzung und mit dem Hinweis auf die Stephanus-Paginierung zitiert.

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Sicherheit der Logoi zu betrachten, d. h. in den „Bildern“ der Dinge, was in diesem Zusammenhang offenkundig in gleichem Maß die Worte wie die Aussagen, Bestimmungen und Voraussetzungen meint.2 Im Unterschied dazu öffnet sich Sokrates im Phaidros den glänzenden Rätseln der werdenden und aufgehenden Natur, und zwar mit allen seinen Sinnen, nicht nur mittels der Sicht, sondern auch des Gehörs sowie des Geruchs- und Tastsinns. Um den Grund für diese überraschende Veränderung des Ansatzes zu finden, scheint es ratsam zu sein, dem Hinweis Ernst Hoffmanns zu folgen, der den Phaidros als Zeugnis von Platons neuem Naturbegriff sieht, der ihm aus der tieferen Einsicht ins Wesen des Lebens als unaufhörlicher Bewegung, die den Himmelskörpern und der menschlichen Vernunft auf gleiche Weise eignet, entsprungen ist. Aus dieser Grundbestimmung des Lebens als nie aufhörender Bewegung entstand auch der neue Seelenbegriff, der den Kern aller Darlegungen im Phaidros ausmacht. Die Seele wird jetzt verstanden und bestimmt als die immerwährende, sich selbst bewegende Grundkraft des Seins und des Werdens, durch die das Ganze des Himmels mit der irdischen Natur und dem Menschenleben unauflöslich verbunden ist.3 Es ist nicht zu übersehen, dass Platon im Phaidros gewissermaßen zurück zu der im Phaidon abgewiesenen „naturphilosophischen“ Spekulation findet, vor allem jener von Alkmaion und Empedokles, die ihm offensichtlich ein neues Licht auf die noch älteren orphischen und pythagoreischen eschatologischen Lehren warfen, die zweifellos die tragende Grundlage für alles sind, was im Phaidros ausgeführt wird. Es ist öfters hervorgehoben worden, dass der wesentlich vertiefte Bewegungsbegriff, nachdem die Bewegung im Sophistes als eines der Seienden anerkannt wurde, Platon den Weg zur Auffassung des „vollständigen Seienden“ im Sinne des Lebens gebahnt hat, und das heißt der unerschöpflichen Kraft des Werdens. Als Ursprung und Quelle dieser Kraft wird im Phaidros die Seele erwiesen. Demnach geht es im Dialog zwar in erster Linie um die Seele4, nicht weniger aber um das Ganze der Natur, allerdings verstanden im Sinne der frühen φύσις. Etwas vereinfachend gesagt, kehrt Platon im Phaidros zum Bereich der natürlichen Bewegungen des Entstehens und Vergehens zurück und versöhnt sich gleichsam damit. Man könnte fast sagen, er nehme diesen irdischen Bereich als Wohnort des Menschen an, der, obwohl vorübergehend, mindestens zum Teil der ernsthaften Mühe wert ist. Es ist in diesem Zusammenhang sicher bezeich-

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Phd. 99d–100b. Ernst Hoffmann: Platon. Eine Einführung in sein Philosophieren, Reinbek 1961, S. 130. Hermias erwähnt in seinem Kommentar zum Phaidros (Hermiae Alexandrini in Platonis Phaedrum Scholia, ad fidem codicis Parisini 1810 denuo sollati edidit et apparato critico ornavit P. Couvreur, Paris 1901, S. 8, 15–19, 10) nicht weniger als sechs in der Überlieferung konkurrierende Untertitel des Dialogs: „Vom Eros“, „Von der Rhetorik“, „Von der Seele“, „Vom Guten“, „Vom ersten Schönen“ und „Vom Schönen schlechthin“.

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nend, dass er vom Phaidros an in seinem Spätwerk die „Ideen“ fast nie ausdrücklich, sondern nur gelegentlich, und dann nur mittelbar, erwähnt.5 Muss die Philosophie dadurch, dass sie ihren sicheren Anhaltspunkt im ewigen, eines und dasselbe bleibenden, einförmigen, unbewegten und unbeweglichen Seienden verlässt und zur alten φύσις zurück findet, des sie auszeichnenden Abstands von aller Sophistik und Rhetorik, also der Künste des geschickten Zurechtfindens in vielfältigen Erscheinungen im Bereich des Werdens, verlustig gehen? Gewiss nicht. Denn die frühgriechische φύσις, zu der Platon im Phaidros zurückkehrt, um ihr dann im ganzen folgenden Werk verpflichtet zu bleiben, ist nicht wie die spätere ,Natur‘ ein begrenztes Teilgebiet des irdischen Seienden, vom Himmel und Himmlischem getrennt, das auf der Erde dem Menschen gegenübersteht und seiner vielfältigen Arbeitstätigkeit unterworfen ist. Zur umfassenden ursprünglichen φύσις gehören in gleichem Maß Erde und Himmel, leblose und lebendige Wesen, Menschen und Elemente, Götter und Welten. Demgemäß sind auch die Menschen, vom Blickpunkt des allumfassenden kosmischen Lebens aus betrachtet, nicht bloße Sterbliche, nur mit eigenen endlichen Zwecken und Zielen beschäftigt und gefesselt durch die Sorge um die Erhaltung und Rettung ihres endlichen Lebens. Ob sie es wissen oder nicht, sind sie vielmehr durch ihre Seele die Verwandten von Göttern, Heroen und Dämonen, die Gefährten der Sterne, die willigen oder unwilligen Helden im stets bewegten und immer von Neuem sich wandelnden kosmischen Drama ohne Anfang und ohne Ende. Daher tritt die „Natur“ im Phaidros nicht als Gegenstand praktischer Umbildung oder theoretischer Forschung auf. Sie erscheint ausschließlich als die schöne Natur, das heißt als solche, die den Menschen – und zwar am heißen Sommermittag, zur Zeit des Aufstiegs des Tages zu seinem Gipfel, wo er sich in voller Stille, vom uralten Pan verführt, der Ahndung dämonischer Geheimnisse hingeben darf6 – begeistert und emporhebt, entzückt und „außer sich“ bringt, ihn derart ins Offene des Ganzen ent-rückend7: „[W]eil er aber vom Treiben der Menschen sich absetzt und dem Göttlichen sich widmet, wird er von der Menge gescholten, als wäre er von Sinnen, dass er aber voll des göttlichen Geistes ist, merken sie nicht.“ (249c8-d3) Jede menschliche Kunst und Fertigkeit, sein ganzes praktisches Können, auch wenn eben das von der Menge als echte Tugend gelobt und hochgeschätzt wird, ist, wenn es nicht von der göttli5

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Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Phaidros sowie Platons späteren Dialogen überhaupt und den mittleren vgl. Hermann Gundert: Enthusiasmos und Logos bei Platon, in Lexis 2 (1949), S. 25–46 (auch in: Konrad Gaiser (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 176–197, hier 191). Vgl. Kurt Schilling: Platon. Einführung in seine Philosophie, Wurzach (Württ.) 1948, S. 203. In diesem Zusammenhang bedient sich Platon absichtlich des doppeldeutigen Ausdrucks μανία, der neben „Verrücktheit“ auch den affirmativen Sinn von „Entzückung“ bzw. „Begeisterung“ hat. Vgl. Johannes Thome: Psychotherapeutische Aspekte in der Philosophie Platons, Hildesheim/Zürich/New York 1955, S. 156.

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chen Begeisterung geleitet und auf das Ganze des Seienden, damit auch des Göttlichen, gerichtet ist, nichts anderes als „bloß sterbliche Nüchternheit“, mit anderen Worten: „sterbliche und eigentlich armselige Ökonomie“, und als solche letztendlich „Unfreiheit“. Jene, die zeit ihres Lebens nur damit beschäftigt sind und für alles andere blind und taub bleiben, ahnen nicht, dass sie sich damit zum nie endenden Aufenthalt im dunklen, gefängnisartigen Bereich der Erde, oder im schlimmeren Fall sogar unter ihr, verurteilen (256e5–257a2). Durch den entzückenden Glanz ihrer Schönheit hebt die im Phaidros von Platon neu entdeckte Natur den Menschen empor und lässt ihn erkennen, dass sie ganz von unerschöpflichem Leben durchgezogen ist und dass ihr Wesen in der Seele besteht, also in einer Bewegung, die unaufhörlich aus sich heraus entspringt und in je anderen Gestalten erscheint. Derart in ihrem Wesen als Seele empfunden, ist die Natur der Ursprung des Lebens sowohl für die scheinbar im Ganzen sterblichen Menschen auf der Erde wie für die wirklich Unsterblichen am Himmel: „Alles, was Seele ist, kümmert sich um alles, was unbeseelt ist, und durchstreift das ganze Himmelsgewölbe, doch immer in anderen Gestalten.“ (246b6–7) Diese Erkenntnis ist nicht erreichbar auf dem geläufigen Weg der vom Logos geleiteten Überlegung, also der gesetzmäßigen Verbindung und Trennung der vereinzelten Gedanken. In Analogie zur Natur des wahrhaft Schönen im Symposion8 wird die Seele im Phaidros als nicht nur allen Sinnen, sondern auch dem Logos selbst entzogen bestimmt. Die Antwort auf die Frage, was sie eigentlich ist, wäre, wenn überhaupt, nur in einer langen Erörterung und mit göttlicher Hilfe möglich. (245a4–5) Alles deutet darauf hin, dass diese Antwort nicht in der Bestimmung ihres beständigen und immer sich selbst gleichen Wesens besteht. Gemäß der allgemeinen dynamischen Seinsauffassung des späten Platon, wonach „Sein“ nichts anderes heißt als „Vermögen zu tun und zu leiden“9, zielt die Erörterung der Seele nicht auf ihr Wesen, sondern auf ihre „Natur“ (φύσις), das heißt, auf alles, was ihr geschieht und was sie tut, in einem Wort: auf ihre „Widerfährnisse und Taten“ (πάθη τε καὶ ἔργα, 245c2–4). Es ist längst erkannt worden, dass der im Phaidros vorgeführte, allem Anschein nach von Alkmaion übernommene ‚Beweis‘ für die Unsterblichkeit der Seele, genauer nur dessen Anfang (ἀρχὴ ἀποδείξεως, 245c4), die Regeln der logischen Beweisführung, auch wenn sie einigermaßen frei und unverbindlich gedeutet werden, nicht befriedigt. Die wohl absichtliche Archaisierung des Ausdrucks und der Satzbildung, die oft irritierende Kreisförmigkeit des Argumentierens, die gegenseitige Bedingung der Grundsätze, von denen keiner als die letzte Grundvoraussetzung, aus der die anderen mit Notwendigkeit folgen müssen, gelten kann, schließlich die unverhüllte Nachlässigkeit bei der Bezeichnung und Benennung – all das mag befremdlich wirken. Es ist aber nicht als Ausdruck von Platons Unfähigkeit zum logisch korrekten Denken und 8

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Vgl. Drew Hyland: Oude Tis Logos, Oude Tis Episteme: The Hermeneutics of Beauty, in Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4 (2005), S. 9–26. Sph. 247d8 f.

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Schließen zu verstehen, sondern eher als Hinweis darauf, dass die Betrachtung der Seele als der „sich selbst bewegenden Bewegung“ an die Grenze des Denkens, wie es gewöhnlich vollzogen wird, führt. Denn in der so verstandenen Bewegung gibt es keinen Platz mehr für etwas, was, selbst fest und beständig ruhend, aller Bewegung zugrunde liegen könnte.10 Daher stützt sich Platon im zehnten Buch seines letzten Werks Nomoi, beim wiederholten Versuch, das Bewegungsproblem bis zur letzten Konsequenz weiterzudenken, auf das Gleichnis eines gefährlichen, kaum zu durchquerenden, da unaufhaltsam schnell fließenden Stroms, der jene, die ihm, nicht hinreichend vorbereitet, unmittelbar begegnen, wie ein Blitzschlag trifft, der bei ihnen verderblichen Schwindel hervorruft und sogar unheilbare Erblindung verursacht.11 Bereits im frühen Charmides war gerade die Möglichkeit einer sich selbst bewegenden Bewegung zusammen mit den anderen Fällen des je fragwürdigen Selbstverhältnisses erwähnt worden, die einigen zwar unglaublich scheinen möchte, den anderen aber vielleicht nicht.12 Es ist daher kein Wunder, dass bei den wichtigsten Denkern der Metaphysik in Platons Nachfolge gerade der philosophische Begriff des Anfangs als maßgebliches Beispiel für die vollständige Widersprüchlichkeit und daher auch logische Unmöglichkeit gilt, womit das allmähliche Verschwinden der platonischen Seelenauffassung aus dem Gesichtskreis dieser Metaphysik zusammenhängt. Schon Aristoteles besteht, indem er das Thema nur auf das Problem des Zeitanfangs einschränkt, darauf, dass die Zeit, um anzufangen, gleichsam ihrer selbst vorausgehen müsste, woraus folgt, dass jeder Jetzt-Augenblick in sich zweifach und zusammengesetzt, nicht eins und einfach, wäre. In ihm müsste nämlich einerseits etwas sein, was anfängt, und andererseits etwas, von woher es anfängt. Da aber der Augenblick, ebenso wie der Punkt auf der Linie, nicht anders gedacht werden kann als einfach, muss geschlossen werden, der Anfang der Zeit sei unmöglich und die Zeit demnach ewig. Jahrhunderte danach wird das in Kants Hauptwerk wiederholt, und zwar vor allem in der ersten Antinomie der reinen Vernunft, der Sache nach aber ebenso in der ersten Analogie der Erfahrung. Wenn es zum Denken, will es kein leeres Denken, sondern das wirkliche Erkennen sein, schlicht notwendig ist, die Zeit und den Raum, damit auch ein beständiges Etwas, vorauszusetzen, dann leuchtet es ein, dass durch den Gedanken einer Bewegung, die aus sich selbst bewegt wird bzw. aus sich selbst anfängt, das Denken selbst auf seine letzte, kaum zu übersteigende Grenze stößt. Eine solche Bewegung erscheint ihm als ein erstaunlicher, ganz unmögli10

11 12

Dies wird zu Recht von Raphael Demos: Plato’s Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion, in: Journal of the History of Philosophy, 6,2 (1968), S. 133–145, hier 136 f., hervorgehoben. Insofern ist die bei Chalcidius (In Timaio 263; 241,8–10 Waszink) zu findende und das ganze Mittelalter beherrschende Auslegung der platonischen Seelenauffassung im Sinne der „körperlosen Substanz, die sich selbst vernünftigerweise bewegt“ (substantia carens corpore semet ipsam movens rationabilis) als irreführend zu erklären. Lg. 892d9 f. Chrm. 168e9–169a1.

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cher und nicht zu denkender plötzlicher Übergang (μεταβολή) vom Stehen und von der Ruhe zur Bewegung. Einen solchen Übergang bestimmt Platon im Parmenides als die innerste Natur des „plötzlichen Augenblicks“ (τὸ ἐξαίφνης), der, da jedes bestimmten Ortes bar, für das Denken stets unerreichbar bleiben muss.13 Auf die weiteren dazu gehörenden Fragen kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur so viel festgestellt, dass der sogenannte Beweis für die Unsterblichkeit der Seele als der Selbstbewegung das Vorspiel zum danach folgenden Mythos ist. Im Mythos wird gleichnishaft zunächst die Geschichte der Seele als solcher dargestellt und dann der Grund der Unterscheidung der göttlichen Seele von jener menschlichen, die gewöhnlich als im Ganzen sterblich bezeichnet wird. Diese Geschichte spielt sich in jenem unermesslichen und allumfassenden Bereich ab, der zwar die Zeit und den Raum, wie wir sie kennen, in sich einschließt, aber nicht auf sie eingeschränkt ist, sondern gleichsam zulässt, auf sie hinab zu blicken von einem viel höheren und weiteren, für beide jenseitigen Blickpunkt, von dem aus erst der wahre Sinn beider genau einzusehen ist. Es ist hier nicht der Ort für eine allgemeine Betrachtung der Bedeutung der Mythen in Platons Philosophie. Anzumerken ist jedoch, dass die einseitige rationalistische Ansicht, nach der sie nur ein pädagogisch motivierter Anhang und poetischer Schmuck für den eigentlichen philosophischen Inhalt sind, heutzutage zu Recht als überwunden gilt. Es ist aber davor zu warnen, in Absetzung davon in das andere, vor allem den romantisch inspirierten Interpreten eigentümliche Extrem zu fallen, nach dem der Mythos die einzig angemessene Form ist, in der Platon die tiefste Wahrheit seiner Philosophie aussprechen kann, da sie dem logischen Denken unerreichbar ist und ihrer Natur nach der mystischen und religiösen Offenbarung viel näher steht. Vielleicht ist es am besten, sich in dieser Frage an die Mitte zu halten und auf der gegenseitigen Bedingung und fruchtbaren Wechselwirkung von Mythos und Logos zu bestehen. Dieser Ansicht nach dient der Mythos bei Platon der möglichst treuen Darstellung der umfassenden, durch das logische Denken zwar zum Teil ergründbaren, aber noch weiter reichenden und daher nie ganz gewissen, sondern immer nur wahrscheinlichen Geschichte der Seele im Ganzen, die immer sowohl zeitlich wie überzeitlich, sowohl räumlich wie überräumlich ist.14 Wenn nach der berühmten Bestimmung aus der Politeia die Aufgabe des wahren 13 14

Prm. 156d–e. Aus der Menge der einschlägigen und weiterführenden Literatur sei nur Folgendes erwähnt: Walter Hirsch: Platons Weg zum Mythos, Berlin 1971, S. 218 ff.; Theo Kobusch: Die Wiederkehr des Mythos, in Markus Janka, Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002, S. 44– 57, insb. 50; Christian Pietsch: Mythos als konkretisierter Logos, in Janka/Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, S. 99–114, insb. 100; Paul Friedländer: Platon, Bd. 1, 3. durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin 1964, S. 200 f.; Ludwig Edelstein: The Function of the Myth in Platon’s Philosophy, in Journal of the History of Ideas, 10,4 (1949), S. 463– 581, insb. 477.

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Philosophen in der Betrachtung der ganzen Zeit und des ganzen Seins besteht, liegt die Aufgabe des Mythos in der auf nachdenklicher Überlegung beruhenden bildhaften Erzählung vom allumfassenden Ganzen des Lebens. Dieses kaum denkbare und aussprechbare Ganze schließt in sich, und zwar jenseits aller Dichotomie, sowohl das Ganze des Seins als auch das Ganze der Zeit und des Raumes, und darüber hinaus deren gemeinsamen Ursprung. In diesem Sinne etwa fasst der Neuplatoniker Salustios, wenn er vom Handeln der Götter bei Homer spricht, das Wesen des griechisch verstandenen Mythos im oft zitierten Satz zusammen: „Das, was in den Mythen dargestellt wird, ist nie geschehen, ist aber immer“, und setzt als Erklärung dazu die eigene Ansicht, dass „die Vernunft alles zugleich schaut, während der Logos eines als Erstes, das andere als Zweites sagt“.15 Der Mythos des Phaidros ist neben dem Er-Mythos im zehnten Buch der Politeia und jenem der zwei Zeitalter im Politikos wohl der tiefste und philosophisch bedeutsamste unter allen platonischen Mythen. Er beginnt mit einem Gleichnis der Seele, demgemäß sie „der vereinigten Kraft eines geflügelten Gespannes und seines geflügelten Lenkers“ ähnelt (246a6–7). Es ist nach allem bisher Gesagten leicht zu erkennen, dass das Wort δύναμις, die Kraft also, hier mit Absicht gewählt ist, um den Gedanken an die Seele als etwas substantiell Bestehendes von vornherein auszuschließen. Die Seele ist kein Etwas; sie ist nichts schlicht Bestehendes, sondern die gespannte Fügung der Kräfte. Als Ursprung der Bewegung ist sie immer nur Drang, Trieb und ständiges Anfangen. Sie ist nichts Einfaches, wie es die zahlreichen früheren Äußerungen Platons, allen voran jene im Phaidon, anzudeuten scheinen. Die Seele ist im Gegenteil eine dynamische Einheit, die aus zwei zusammengekoppelten Kräften, der des Lenkers und der des Gespanns, besteht, genauer aus drei, da die Kraft des Gespanns aus der Kraft von zwei verschiedenen Pferden resultiert. Wie diese Dreifachheit der Seele des Näheren zu verstehen ist, darüber streiten die Interpreten Platons seit Jahrhunderten. Besonders in der neueren Zeit erschöpft sich die Forschung über die Seele bei Platon meistens in zwar scharfsinnigen, aber daher nicht weniger fruchtlosen Auseinandersetzungen über die verschiedensten Einzelaspekte dieses immer anregenden Themas. Man spricht dabei mit kaum zu fassender Selbstverständlichkeit über die „Teile“ der Seele, obwohl Platon hier nachdrücklich das Wort εἶδος gebraucht (253c8), wie er übrigens auch sonst in diesem Zusammenhang auf das Wort „Teil“ (μέρος) entweder ganz verzichtet oder es nur mit unübersehbarer Abstandnahme ge-

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Salustios: De diis et mundo IV 9 (Rochefort): ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί, καὶ ὁ μὲν νοῦς ἅμα πάντα ὁρᾷ, ὁ δὲ λóγος τὰ μὲν πρῶτα τὰ δὲ δεύτερα λέγει. Der zweite Satz spricht die von den Neuplatonikern allgemein vertretene Ansicht aus. Vgl. Plotin: Enneaden 5,9,24–29; Proklos: In Platonis Rempublicam I 77, 13 ff.; Olympiodoros: In Platonis Gorgiam 237, 14–23; 249, 8-16. Dazu Michael Erler: Praesens divinum. Mythische und historische Zeit in der griechischen Literatur, in Janka/Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, S. 81–96, insbes. S. 87.

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braucht.16 So lässt er es z. B. im zehnten Buch der Politeia dahingestellt, ob sich die „wahre Natur“ der Seele – vorausgesetzt, es gelinge einmal, sie ganz rein und von allen Zuwächsen der Sterblichkeit befreit zu sehen – als „mehr- oder eingestaltig“ (εἴτε πολυειδὴς εἴτε μονοειδής) zeigen würde17 , ebenso wie er in den Nomoi die Frage unentschieden lässt, ob das Leidenschaftliche an der Seele (θυμóς) ihr bloßer Zustand oder ein besonderer Teil ist (εἴτε τι πάθος εἴτε τι μέρος).18 Auf jeden Fall wird die Seele im Phaidros ganz eindeutig als die in sich dreifache Kraft bestimmt. Das in diesem Zusammenhang vorkommende Adjektiv σύμφυτος hebt zusätzlich hervor, dass die ihre Einheit bildenden drei Kräfte nicht die äußerlich und bloß mechanisch zusammengesetzten ,Teile‘ sind. Sie sind hingegen zur gemeinsamen Einheit organisch „verwachsen“ und sind daher als so etwas wie ihre Momente zu verstehen. Schon durch die vage Redeweise darüber macht Platon offenkundig, dass die Dreifachheit der Seele nicht dogmatisch als etwas Endgültiges zu nehmen ist und dass es nicht zuletzt aus diesem Grund außerordentlich schwer ist, ihre Seinsweise genau zu bestimmen und angemessen anzusprechen. In der Politeia deutet Platon an, dass nur ein „längere[r] und umfassendere[r] Weg“19 zur vollen und genauen Einsicht in das Wesen der Seele führen könnte, was als Hinweis auf die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit der weiteren Teilung verstanden werden kann.20 Da die Seele keine beständige Substanz ist, sind auch ihre drei Kräfte bzw. Momente nicht dem späteren aristotelischen Modell nach als bloße Eigenschaften oder Vollzugsarten eines zugrunde liegenden Beständigen zu fassen. Im Gegenteil eignet jeder dieser Kräfte eine eigene dynamische Seiendheit und daher kann gesagt werden, eine jede schließe in sich das Ganze der Seele ein. Jede ist in sich ganzheitlich und wesentlich selbstständig, trotzdem aber in ihrer Tätigkeit stets auf beide anderen und auf das Ganze der Seele angewiesen. Nicht zuletzt wird dies durch das von Platon so oft verwendete Bild des gegenseitigen Streits und der heftigen Entgegensetzung der Seelenkräfte, gelegentlich auch ihres freundlichen Einklangs, bezeugt.21 Freilich darf auch die Dreifachheit der Seele nur als bedingt und möglichst wenig starr verstanden werden. Denn die niedrigste und beweglichste Kraft der Seele, jene des Begehrens, ist selbst nicht eins, sondern mannigfaltig, und kann

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Vgl. Thomas A. Szlezák: Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia, in Phronesis 21,1 (1976), S. 31–58, hier 38. R. 612a3-5; auch 435c5. Lg. 863b3. R. 435d3. So auch Apelt in seinem Kommentar: Platon, Der Staat, neu übersetzt und erläutert v. Otto Apelt, Leipzig 1923 (= Platon, Sämtliche Dialoge, hg. v. Otto Apelt, Bd. V, Hamburg 1993), S. 470, Anm. 53. Vgl. Jörn Müller: Psychologie, in Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hg.): Platon Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2009, S. 142–154, insb. 147.

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wegen ihrer Vielartigkeit nicht mit einem Namen bezeichnet werden.22 Platon lässt dies durch das Bild des wilden und vielköpfigen, von den vielfältigen Trieben blind angestachelten Tieres offenkundig werden.23 Diese immer weiter gehende Zersplitterung eignet aber nicht nur der niedrigsten Kraft der Seele. In anderer Art und Weise gehen auch beide anderen Kräfte innerlich immer weiter auseinander.24 In diesem Zusammenhang kommt es einzig darauf an, einzusehen, dass die Einheitlichkeit der Seele keine bloß mechanische, sondern eine durchgängig dynamische und organische ist.25 Abgesehen von den möglichen Unterschieden im Einzelnen entspricht die Dreifachheit der Seele im Phaidros jener, die schon aus der Politeia bekannt ist. Zweifelsohne ist der „Lenker“ die Metapher für den Verstand bzw. die Vernunft, allgemeiner gesagt für das Überlegende (τὸ λογιστικóν) in der Seele; nicht zufällig wird er an einer Stelle (247c6) ausdrücklich als ihr „Steuermann“ bezeichnet. Es liegt ebenso nahe, das Pferd, das als schwarz, starknackig, mit kurzem Hals, zottig um die Ohren, Freund von Maßlosigkeit und Hochmut dargestellt wird (253e1 ff.), mit der begehrenden Kraft der Seele gleichzusetzen, deren Natur die unersättliche, nie zu befriedigende und daher immer wachsende Gier nach Genuss und Vergnügen, vor allem jenen des Erwerbens, Besitzes und Verbrauchens von allem Sinnlichen und Körperlichen, ist, und zwar immer unmittelbar und unbedingt, ohne auch das kürzeste Einhalten, Zögern oder Verschieben. In der Politeia wird diese Kraft der Seele als das, „womit sie verliebt ist und hungert und durstet und von den übrigen Begierden umhergetrieben wird, das Gedankenlose und Begehrliche, gewissen Anfüllungen und Lüsten Befreundete“26 bestimmt. Das andere Pferd, „von aufrechter Gestalt und wohl gegliedert, hoch im Nacken, die Nase etwas eingebogen, von weißer Farbe, schwarz die Augen, ehrgeizig mit Maß und Schamgefühl und ein Freund echten Ruhmes“ (253d3 ff.), ist zweifellos eine Metapher für die mittlere und vermittelnde Kraft der Seele, die bei Platon meistens θυμóς bzw. τὸ θυμοειδές genannt wird. Der Bedeutungsbereich dieser Ausdrücke fasst etwa Leidenschaft, Beherztheit, Zorn und Wagemut in sich zusammen.27 Bei Platon bezeichnen sie hauptsächlich den heftigen Willen zur Anerkennung und Herrschaft sowie zu Ansehen, Ruhm und Ehre, die damit zusammenhängen.

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R. 580d10 ff. R. 588d4. Nach der treffenden Bemerkung von Herwig Görgemanns: Platon, Heidelberg 1994, S. 137 f., geht es in Platons Darstellung der Seele nicht um eine Gestalt mit ihren Teilen, sondern um die Kräfte, die in der Seele zur Tätigkeit kommen. Vgl. auch Robert W. Hall: Ψυχή as a Differentiated Unity in the Philosophy of Plato, in Phronesis, 8,1 (1963), S. 63– 82, hier 69. Vgl. Plato’s Phaedrus, A Commentary for Greek Readers by Paul Ryan, Introduction by Mary Louise Gill, Norman (Oklahoma) 2012, S. 184, ad 2461a6–7. R. 439d6–8. Übersetzung nach Schleiermacher. Zur Bedeutung von θυμóς bei Platon vgl. The Phaedrus of Plato, with English Notes and Dissertations by William H. Thompson, London 1868 (Nachdr. New York 1973), S. 166.

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Die hervorragende Wichtigkeit dieser dreifachen Verfassung der Seele im Ganzen von Platons Philosophie ist bekannt. Sowohl die Tugend wie die Ausartung und der Verfall nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der Polis als der Gemeinschaft des wesenhaften bzw. gelungenen Lebens, darüber hinaus auch der Weltgeschichte selbst, hängen vor allem davon ab, ob diese drei Grundkräfte der Seele, denen auch die drei wichtigsten Stände in der Polis sowie die drei Wesenskräfte der Welt im Ganzen entsprechen, im gegenseitigen Einklang oder im Streit zueinander stehen. Löst sich eine Kraft von den anderen und vom Ganzen ab und lebt sie weiterhin nur um ihrer selbst willen, nur nach dem eigenen höchsten Ziel strebend, dann entsteht daraus sowohl in der Seele des einzelnen Menschen als auch in der menschlich-göttlichen Lebensgemeinschaft der Polis, schließlich auch im All der verderbliche Streit, dem sich Uneinigkeit und Ungerechtigkeit anschließen. Da die Seele ihrem Wesen nach unzerstörbar ist und in jedem Fall ein stets so oder anders verfasstes dynamisches Gefüge miteinander verwachsener Kräfte bleibt, führt diese Ablösung und Verselbstständigung einer ihrer Kräfte nie zur vollkommenen Aufhebung und Vernichtung der übrigen und des ganzen Gefüges. Daher bekundet sich das Auseinandergehen der Kräfte, und als Folge davon das zerrissene, verkehrte und ungerechte Leben, immer dadurch, dass je eine von drei Wesenskräften danach strebt, beide anderen um jeden Preis zu unterwerfen und nur den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Wird etwa die Gier nach Lust und Genuss übermäßig stark, zieht sie die Leidenschaft zu Ruhm und Ansehen nach sich, die dann zusammen mit dem durch die Begierde betäubten Verstand ausschließlich damit beschäftigt werden, der Unersättlichkeit nach Genuss und Besitz höchstes Ansehen und Ruhm zu verschaffen. Am Ende gelingt es ihnen, auch den Verstand selbst, der, da er durch Gier und Lust schwach und weichlich geworden und den eigenen Inhalt verloren hat, immer dürrer und unfruchtbarer wird, zu unterwerfen und dazu zu verlocken, nur noch klug und scharfsinnig immer neue Mittel zu deren endlosem Wachsen zu ersinnen und herzustellen. In dem Falle aber, dass in der Seele die Leidenschaft zur Herrschaft die beiden übrigen Kräfte besiegt und unterwirft, wird sie einerseits zwar die Rohheit der bloßen Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse und die sklavische Hingabe an das sinnliche Vergnügen verachten. Andererseits wird sie aber, da sie nur auf menschliche Meinungen und öffentliche Bräuche gerichtet ist, mit gleicher Verachtung von ihrer angeblichen Höhe hinab auf Verstand, Vernunft und Geist schauen und in ihrem Suchen nach Erkenntnis, Wissen und Weisheit nichts als die nutzlose Muße sehen, die in keiner Weise förderlich sei für den Menschen und seine Tugenden. Lösen sich schließlich Vernunft und Geist von beiden anderen Seelenkräften ab, dann entfernen sie sich mehr als angemessen vom wirklichen Leben. Infolgedessen werden sie allmählich immer abstrakter, um am Ende zur Dürftigkeit eines nur noch formellen, inhaltsleeren Verstandes zu gelangen, der, da er zunächst mit den logischen Notwendigkeiten und dann auch mit den rein formellen Möglichkeiten der verschiedensten Verhältnisse der Dinge zu einen-

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der beschäftigt ist, immer mehr die Dinge selbst und die unhintergehbare Grundtatsache ihres sinnlichen, und d. h. immer zufälligen, Seins aus dem Blick verliert. Deshalb wird der des eigenen Ziels verlustig gegangene Verstand immer weniger fähig, sowohl dem ehrgeizigen Streben nach Anerkennung und Herrschaft wie auch der Gier nach Besitz und genussreichen Verzehr des Sinnlichen Widerstand zu leisten. Diese zugestanden vereinfachende Erinnerung war nötig, um vor ihrem Hintergrund die Bedeutsamkeit der Tatsache stärker hervortreten zu lassen, dass die Seele im Phaidros mehr als in anderen Werken Platons trotz ihrer Dreifachheit immer als das einheitliche Ganze besprochen wird. Das schlechte Pferd steht, auch dann, wenn es sich in seiner ungezähmten Überheblichkeit auf den Körper dessen stürzt, mit dem es sich leiblich zu vereinigen begehrt, nicht gänzlich außer der Reichweite der mit der besinnlichen Überredung gemischten sorgfältigen Versuche, durch die der Lenker und das tüchtige Pferd es von seiner Absicht, auch um den Preis des äußersten Schmerzes, abzuhalten bemüht sind. Ebenso verhält es sich mit dem tüchtigen Pferd. Auch dann, wenn es unter dem Druck seines schlechten Gefährten so sehr schwankt, dass es nicht mehr entscheiden kann, ob sein Urteil, wenn es die leibliche Inbesitznahme zu etwas erklärt, was gutem Geschmack, allgemeinem Brauch und angeborenem Schamgefühl entgegen steht, richtig und treffend ist, bleibt es doch mindestens teilweise den Anweisungen des Lenkers hörig, obwohl es deren wahren Sinn nicht verstehen kann. Schließlich ist auch der Lenker weder von Begierde und Leidenschaft noch von Scham und Wagemut ganz gelöst, da ihm all das, zwar in einem gereinigten und gleichsam geistig aufgeklärten Zustand, innewohnt, wodurch er auch fähig wird, sich ihrer größtenteils zu enthalten. Die innere unaufhebbare Angewiesenheit des Lenkers auf die sinnliche Leiblichkeit leuchtet an mehreren Stellen des Dialogs durch, wie etwa an jener, wo erzählt wird, wie ihm „der Blick voller Liebe und die Seele von einem Gefühl wohliger Wonne erfüllt“ werden, so dass er infolgedessen „die kitzelnden Stiche der Sehnsucht zu fühlen beginnt“ (253e5–254a1). Damit kommen wir zum letzten und vielleicht wichtigsten Moment des ganzen Gleichnisses über die Seele. Die Seele, im Allgemeinen bestimmt als die in sich dreifach verwachsene Bewegungskraft, wird als in ihrer ursprünglichen und reinen Gestalt „geflügelt“ und „überall und ganz mit Flügeln bewachsen“ dargestellt. Das Bild des Flügels dient offensichtlich dazu, – in Anlehnung an eine uralte und größtenteils verlorengegangene orphische Überlieferung, die nur teilweise in den verstreuten Versen frühgriechischer Lyriker und dürftigen Fragmenten der Tragiker bewahrt ist – unter allen Seelenbewegungen eine ganz besondere, innerste zweifache und zweideutige Bewegung hervorzuheben, die für die Seele wohl am verhängnisvollsten ist. Diese Bewegung zeigt sich einerseits als Aufschwung und schwebendes Umherkreisen am Himmel und andererseits als Hinabstürzen auf die Erde und dann auch als das dortige Herumtreiben. Das, was diese beiden entgegengerichteten Bewegungen als ihre rätselhafte Mitte verknüpft und zugleich auseinander gehen lässt, kann darüber

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hinaus als eine dritte, geheimnisvolle Bewegung des reinen Versinkens in die endlose Tiefe gedeutet werden.28 Als die Kraft der Selbstbewegung hat die Seele weder Anfang noch Ende. In ihrer ursprünglichen, reinen und vollkommenen Gestalt ist sie ganz beflügelt und schwebt daher in vollständiger Leichtigkeit im Himmel. Sie kreist überall herum, kümmert sich um alles, was keine Seele hat, und erscheint in immer neuen und verschiedenen Gestalten (246b6–7). Die Seele, der das Unglück geschieht, ihr Gefieder und damit auch die Leichtigkeit des Schwebens zu verlieren, deshalb schwer zu werden und sich mit Schlechtigkeit und Vergessen zu füllen, hat ein ganz anderes Schicksal: Sie „stürzt hernieder, bis sie Halt findet an etwas Festem; und hat sie dort dann Wohnung genommen in einem irdischen Körper, der dank der Wirkung der Seele nun den Eindruck macht, er bewege sich selbst, dann heißt das Ganze, Seele und Körper zusammen, Lebewesen und hat die zusätzliche Bezeichnung ,sterblich‘“ (246c2–6). Die ganz besondere Wichtigkeit dieser Stelle – an der, wie im gesamten Text des Mythos, ein jedes Wort sorgfältigen Nachdenkens und behutsamer Auslegung bedürftig ist – liegt darin, dass hier Platons Bemühung im Phaidros ihren Gipfel erreicht: Er will das Lebensdrama der Menschen auf der Erde in einem Licht zeigen, das nicht nur aus dem Ganzen der Welt, sondern darüber hinaus aus dem geheimnisvollen, diesem Ganzen auf immer jenseits bleibenden „überhimmlischen Ort“ auf dieses herniederscheint. Erst von dort aus gesehen leuchtet es nämlich ein, inwiefern das irdische Leben eines jeden Menschen nur scheinbar endlich und sterblich ist, während es in Wahrheit nur jedes Mal eine der unendlich vielen zeitweiligen Episoden des immer neuen, da unaufhörlich anfangenden Lebens der gesamten Seele ist. Der Lebensanfang eines sterblichen Lebewesens erweist sich von diesem Blickpunkt aus als ein immer neuer Zufall, ein neuer Akt des ewigen kosmischen Dramas, das ihm vorangeht und sich in ihm je auf eine gewisse Zeit und in einer gewissen Weise festlegt und damit einkörpert. In Anbetracht dessen könnte man fast, wie Platon im Gorgias unter Verweis auf Euripides, in vollem Ernst die Frage stellen, ob das, was bei den Menschen ,das Leben‘ heißt, nicht in Wahrheit der Tod ist, während unter dem Schleier dessen, was den Menschen unter dem Namen ,Tod‘ stets verborgen bleibt, sich eigentlich das echte und wahre Leben versteckt.29 Doch der Mythos reicht noch weiter. Zunächst relativiert er den für die Menschen immer erschreckenden Gedanken des Todes und erklärt ihn zur bloßen Illusion. Das befreiende Resultat daraus liegt darin, dass das bedrückende Gefühl der sprach- und bewusstlosen und trotzdem immer und überall gegenwärtigen Angst, die sich dumpf und bedrohlich über die Menschen beugt, sich zurückzieht und ihren Platz der gelassenen Heiterkeit – der Ausdruck φαιδρóς, der dem ganzen Dialog seinen Namen gibt, heißt ja eigentlich „heiter“ – überlässt, welche dem Menschen die Aussicht auf das endlose Ganze der Zeit 28

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Vgl. dazu Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie, hg. v. Helmut Holzhey: Die Philosophie der Antike, Bd. 2/2), Basel 2007, S. 382. Grg. 492e10 f.

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eröffnet. Damit wird er in jedem Augenblick zur schicksalhaften Entscheidung für die je eigene Lebensweise, samt den ihr zugehörenden Taten und Unterlassungen, befreit, wodurch er zur Mitursache aller zukünftigen Veränderungen seiner Lage in der gesamten endlosen Zeit wird. Darüber hinaus lässt diese Gelassenheit selbst den Grund erahnen, aus dem die verkörperte Seele einmal den seligen Bereich göttlichen Lebens verlassen musste, um durch die Geburt ihren irdischen Wohnort im körperlichen Lebewesen, genannt ,Mensch‘, zu finden. Denn das, was dem einzelnen Menschen als das Mysterium der Geburt auf immer dunkel und undurchschaubar bleibt, ist in Wahrheit nicht der Anfang seines Lebens als solches, ebenso wie der Tod nicht dessen völliges Aufhören und Ende ist. Das Leben, der unerschöpflichen Seele unaufhörlich entspringend, hat weder Anfang noch Ende, so dass jede Geburt nichts anderes als eine neue Einkörperung ist. In diesem Sinne ist der große Mythos im Phaidros als ebenso genealogisch wie eschatologisch zu bezeichnen. Durch ihn öffnet sich der Blick sowohl für das, was ,nach dem Tod‘ kommen wird, wie auch für das, was ,vor der Geburt‘ seit je gewesen ist. Was ist aber der Grund für die Einkörperung der Seele, also für die Geburt des menschlichen Lebewesens? Anders gewendet, worin liegt die Ursache für den verhängnisvollen Fall der Seele zur Erde hinab und dafür, dass sie sich dort einen festen irdischen Körper aneignet? Woher stammt überhaupt der Unterschied zwischen den göttlichen, nie durch den Tod gefährdeten unsterblichen Seelen und den menschlichen, die an sich zwar gleichermaßen unsterblich, jedoch dem Verhängnis tödlichen Verschwindens preisgegeben und zu dem verurteilt sind, was die frühgriechische Religions- und Mysterienüberlieferung unter dem Namen „Kreis der Geburten“ (κύκλος γενέσεως) kennt? Um diesem wohl zentralen Rätsel des Mythos einen Schritt näher zu kommen, tut es vor allem Not, einzusehen, dass die Seele als Ursprung der Bewegung und des Lebens ihrer dynamischen, also kraft- und machtartigen, nicht substantiellen Natur gemäß immer in irgendeiner Weise bewegt, und daher wie alles Lebendige dem unaufhörlichen Wechsel von Wachstum und Verfall preisgegeben ist. Diese Notwendigkeit, der auch die Seele selbst unterworfen ist, bringt Platon uns durch eine Wendung näher, die für viele Interpreten so verwirrend ist, dass sie den Ausweg aus der Verlegenheit darin suchen, ihn ohne weiteres zur bloßen Metapher zu erklären. Platon zögert nicht, davon zu sprechen, dass nicht nur der Leib, sondern auch die Seele sich ernährt. Auch sonst an vielen, oft besonders wichtigen Stellen seines Werks erzählt er mit merkwürdiger Selbstverständlichkeit davon, wie die Seele sich nährt und füttert und sich sogar in regelmäßigen zeitlichen Abständen immer wieder verpflegen muss.30 Im Timaios wird diese Ansicht sogar zu dem allgemeinen Satz zusammengefasst, dass „für alles die Pflege in jeder Weise dieselbe ist, die darin besteht, einem jeden die ihm eigentümliche Nahrung und Bewegung zu geben“31. 30

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Vgl. Karin Alt: Diesseits und Jenseits in Platons Mythen von der Seele (Teil I), in Hermes, 110,3 (1982), S. 278–299, insb. 293, Anm. 83. Ti. 90c6–7.

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Gewiss ist die Nahrung bei den reinen himmlischen Seelen ganz verschieden von dem, was den Menschen auf der Erde unter diesem Namen bekannt ist. Wie auf der Erde für die Seltenen, die von der Liebe zur Wahrheit und zum Wissen, von der Musik und Schönheit sowie vom Guten und Gerechten ergriffen und entzückt sind, gesagt wird, ihre Seele nähre sich vom freien Glanz der Wahrheit, Schönheit, Tüchtigkeit und Gerechtigkeit, die glücklicherweise auch unter den irdischen Dingen und Ereignissen ab und zu auftauchen, so kann, und zwar in viel höherem Maß, für die reinen Seelen am Himmel gesagt werden, sie nähren sich im ungestörten Schauen des Wahren, Schönen, Weisen, Guten selbst. Die Frucht dieser Verpflegung ist in beiden Fällen gleich, obwohl in einem verschiedenen und kaum vergleichbaren Maß, nämlich das heilsame Keimen, Sprießen und Wachsen jenes Gefieders, das die Seele emporhebt, oder sie, wenn sie schon emporgehoben ist, in der Leichtigkeit des Schwebens hält. Selbst die Götter – mit Ausnahme von Hestia, der Hüterin des kosmischen Herdes, womit Platon, wie vor ihm die Pythagoreer, wohl die Erde meint, die als einzige im Mittelpunkt des ewig kreisenden Weltalls stehen bleibt32 – verlassen in regelmäßigen Zeitabständen ihre göttlichen Wohnungen und steigen aufwärts zum überhimmlischen Ort, um dort die Schwungkraft ihres Gefieders durch die Schau des wahrhaft Seienden zu erneuern. Es ist eben dieser Aufstieg, bei dem einige Seelen das Gefieder verloren haben und in Richtung auf ihre irdische Geburt in einem festen Körper zu sinken beginnen. Warum? Der Grund dieses verhängnisvollen Ereignisses wird im Mythos nicht klar dargelegt, sondern eher nur sparsam und zögerlich angedeutet. Es bleibt zu vermuten, dass dieser geheimnisvolle, wohl ganz unhintergehbare Grund, wenn überhaupt, dann zu fassen wäre, wenn der ganze Mythos mit allen anderen platonischen Mythen vom Jenseits zusammengedacht und ausgelegt würde. Dies ist sicher eine vielfach lohnende Aufgabe. Denn es mag erquickend sein, ab und zu einen flüchtigen Blick hinter den Schleier des Lebens zu werfen.

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Vgl. William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy, Vol. IV: Plato: The Man and his Dialogues: Earlier period, Cambridge 1975, 403, Anm. 1, außerdem die kurze, aber philosophisch klärende Bemerkung zur Hestia bei Dietmar Koch: Zur Bewegung der göttlichen und der menschlichen Seele in Platons Dialog Phaidros, in Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche (Antike-Studien, Bd. 1), Tübingen 2010, S. 102. Auch sonst liegt das Verdienst des aufschlussreichen Aufsatzes darin, die Interpretation des Mythos im Rahmen eines entsprechend weiten Gesichtskreises der allgemeinen platonischen Unterscheidung der wesentlichen Bewegungsarten sowie der im Sophistes dargestellten Lehre vom Bewegt-Werden der Ideen durch den Akt ihrer Erkenntnis unternommen zu haben.

Julia Pfefferkorn

Sokrates’ Lob der theía manía Zur Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros

Einstieg Die Eröffnungsszene von Platons Phaidros – es ist ein heißer Sommertag in Athen – lässt den Leser an einer spontanen Begegnung zwischen Sokrates und dem jungen Phaidros teilhaben. Phaidros, ein begeisterter Anhänger des Lysias, trägt eine Rede dieses bedeutenden attischen Redners mit sich, in der dieser vertritt, dass man eher dem Nichtliebenden zu Gefallen sein müsse als dem Liebenden (227c5–8). Die beiden entschließen sich zu einem Spaziergang außerhalb der Mauern von Athen,1 um die Rede gemeinsam zu lesen, und lassen sich bald im Schatten einer Platane nieder, wo sie ein kleines Heiligtum für die Nymphen und für Acheloos entdecken. Zur Schönheit und Geeignetheit des Ortes, die von Sokrates emphatisch hervorgehoben wird (230b2–c5, vgl. 229a3–6), fügt sich die besondere Tageszeit: Es ist Mittag (μεσημβρία, 242a4; vgl. 229a6) – die Stunde des Pan, dem das Schlussgebet des Dialogs gewidmet sein wird (279b8–c3, vgl. 263d6). Wie bereits aus diesen einleitenden Worten hervorgeht, sind im Phaidros mythische Gottheiten nicht nur abstraktes Gesprächsthema, sondern sie brechen gleichsam in die Handlung herein und beeinflussen die Unterhaltung zwischen Sokrates und Phaidros von Anfang an als inspirierende und überwachende Kraft. Die verstärkte Gegenwart von inspirierenden und die Handlung beeinflussenden mythischen Gottheiten lässt den Phaidros als besonders geeignet erscheinen, um nach der Rolle mythischer Gottesvorstellungen in Platons Dialogen und für die Dialogführung zu fragen. Im Zentrum der folgenden Betrachtung sollen die Passagen zur θεία μανία stehen, und zwar deren drei „traditionelle“ Formen (243e6–245a8; 265b2–c3): Ihre Einführung erfolgt an einer Gelenkstelle im Dialog zu Beginn der zweiten Rede des Sokrates, doch verblasst ihre Bedeutung gewöhnlich im Schatten der vierten Art der göttlichen μανία, nämlich dem philosophischen Wahnsinn des Eros. Die Untersuchung der Textstellen, die in drei sich gegenseitig ergänzende Beobachtungen mündet, wird die These nahelegen, dass den mythischen Gottheiten – und in besonderem Maße inspirativen Göttern – eine propädeutische Funktion zukommt, die zum philosophischen Denken und Leben führt, begleitet, überredet. 1

Daniel Werner hebt die Bedeutung des Verlassens des Stadtbereichs richtigerweise hervor: „The dialogue is thereby predicated upon a crossing of boundaries, as the two characters move beyond their accustomed haunts“ (Daniel Werner: Myth and Philosophy in Plato’s Phaedrus, Cambridge 2012, S. 21, Herv. D. W.).

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Die Allgegenwart und Asystematik der mythischen Gottheiten Wie bereits die eingangs referierte Rahmenhandlung des Phaidros zeigt, sind die vier Arten der θεία μανία – denen ich mich in Kürze widmen werde – nicht die einzige Bezugnahme auf mythische Gottesvorstellungen, die sich in diesem Dialog findet. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Kontexte, in denen traditionelle Gottheiten in den Vordergrund treten: Im Seelenmythos, dem Herzstück von Sokrates’ zweiter Rede, begegnen wir den zwölf olympischen Göttern, die mit ihrem jeweiligen „Chor“ zum überhimmlischen Ort aufsteigen (246e4 ff.). Unmittelbar im Anschluss an diese zweite Rede mahnt Sokrates, sich nicht vom Gesang der Zikaden, der Boten der vier Musen Terpsichore, Erato, Urania und Kalliope, einschläfern zu lassen (258e6 ff.): Auch sie wirken somit aktiv auf die Handlung ein. Angesichts dieser vier auf verschiedenen Ebenen des Dialogs zu verortenden Kontexte, in denen mythische Gottheiten im Phaidros auftreten – die inspirierenden Götter der Rahmenhandlung, die vier Arten des göttlichen Wahnsinns zu Beginn von Sokrates’ zweiter Rede, die zwölf olympischen Götter innerhalb des Seelenmythos und schließlich die vier Musen nach der zweiten Rede –, scheint es kaum übertrieben zu sein, von einer Allgegenwart der mythischen Götter in diesem Dialog zu sprechen.2 Was bei einem näheren Blick auf diese Instanzen mythischer Gottesfiguren im Phaidros erstaunt, ist jedoch, dass diese sich teilweise überschneiden oder überlagern, aber untereinander doch wesentlich unverbunden zu bleiben scheinen. Die Musen beispielsweise, denen der Wahnsinn der Dichtung zugewiesen ist, werden in der Erläuterung der Zikaden wieder aufgenommen und detaillierter behandelt, jedoch ohne jeglichen Verweis auf die θεία μανία. Apollon, Herr des Wahnsinns der Prophetie, erscheint erneut als eine der zwölf olympischen Gottheiten, zu denen jedoch Dionysos, verantwortlich für den Wahnsinn der Einweihungen, nicht zu rechnen ist. Der göttliche Kosmos, unter dessen Augen sich das Gespräch des Phaidros abspielt, scheint auf einen ersten Blick also jeglicher Systematik oder Kohärenz zu entbehren.

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Tatsächlich scheint diese ständige Bezugnahme auf das Göttliche ein einendes Element für den Phaidros darzustellen, der sich bis heute mit einer angeregten Debatte über die inhaltliche und formale Einheit des Werkes konfrontiert sieht. Vgl. zur Forschungslage und für einen Versuch, den Phaidros als einheitliche Komposition zu deuten, Werner: Myth and Philosophy, S. 13, 151, 236 ff. Wie offen die Diskussion weiter bleibt, zeigt ein neuer Deutungsversuch Stephen Halliwells, der insbesondere den Widerspruch zwischen Sokrates’ Forderungen an die Rhetorik und Platons eigenem Stil herausstellt (vgl. Stephen Halliwell: ‘Where are you going and where have you come from?’ The Problem of Beginnings and Endings in Plato, in Eleni Kaklamanou, Maria Pavlou, Antonis Tsakmakis (eds.), Framing the Dialogues: How to Read Openings and Closures in Plato, Leiden [erscheint voraussichtlich 2017/18].

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Θεία μανία Nach diesen einleitenden Bemerkungen, die auf die Komplexität der Frage nach der Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros einstimmen können, möchte ich mich nun den Textpassagen zum göttlichen Wahnsinn zuwenden. Die Einführung einer göttlichen Form der μανία, die sich vom menschlichen Wahnsinn abhebt und durch die „uns die größten Güter zukommen [τὰ μέγιστα τῶν ἀγαθῶν ἡμῖν γίγνεται]“3 (244a6–7), stellt einen Wendepunkt nach Sokrates’ erster Rede dar, welche sich wie die des Lysias gegen den Liebenden gerichtet hatte: Seine zweite Rede, die Sokrates durch die Abgrenzung des göttlichen vom menschlichen Wahnsinn eröffnet, wird von ihm als Παλινῳδία (243b2), als Widerruf, der beiden vorausgegangenen Reden bezeichnet, weil beide die göttliche – das heißt an sich gute – Natur des Eros nicht respektiert hatten. Auf diese Weise wird die μανία, die zuvor allgemein als ein krankhaftes Verhalten bezeichnet worden war (231d2–3; 241a3–4, b1), in ihrer göttlichen Form gegenüber der rein menschlichen Vernunft (σωφροσύνη und νοῦς) rehabilitiert.4 Meine Analyse konzentriert sich auf die ersten drei Arten der θεία μανία, die Yunis als „traditional examples of beneficial divine madness“5 identifiziert. Die erste Art, der Wahnsinn der Mantik oder Wahrsagekunst, der Sokrates die längste Erläuterung widmet (244a8–d5), wird von ihm im Herzen der griechischen Kultur und auch in der griechischen Sprache selbst verwurzelt: Die Prophetin von Delphi, die Priesterinnen von Dodona sowie die Sybille werden als Beispiele inspirierter Mantik und der Vorhersage der Zukunft zitiert, die allen – sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum – zugutekommt. Im Anklang an die Etymologien des Kratylos behauptet Sokrates, dass das Wort μαντική selbst von dem Begriff der μανία herstamme. Das „Zeugnis der Ahnen [μαρτυροῦσιν οἱ παλαιοί]“, welches aus der Etymologie spricht, offenbart somit die Überlegenheit der inspirierten Prophetie gegenüber Praktiken der rationalen Weissagung wie der Deutung des Vogelflugs.6 Aufgrund des gekünstelten Charakters der Etymologien könnte man Sokrates hier eine ironische Haltung unterstellen. Doch seine zugrunde liegende Absicht ist meines Erachtens alles andere als ironisch: Es geht ihm darum, den Begriff des Wahnsinns an eine der 3

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Die Übersetzungen der Phaidros-Stellen sind meine eigenen, der griechische Text entspricht Burnet (mit Ausnahme von 244d5–245a1, hier folge ich Linforth und Robin). Diese Opposition wird auffallend oft wiederholt: 244a5, b1–2, d3–4; 245a8, b4; 256b6, e5. Vgl. auch die Stellen zu θεία   νόσος   und   θεία   μανία in Sophokles’ Ajax (S. Aj. 185, 611). Harvey Yunis (ed.): Plato Phaedrus, Cambridge 2011, S. 130. Heitsch deutet die ersten drei Formen des göttlichen Wahnsinns als „empirisch[e]“ Argumentation und als Appell „an allgemeine Erfahrungen und deren übliche Bewertung“ (Ernst Heitsch (Hg.): Platon Phaidros, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1993, S. 91). Abgesehen von dieser korrekten allgemeinen Beobachtung ermangelt Heitschs Kommentar einer vertiefenden Problematisierung der drei Formen im Einzelnen. Die „οἰωνιστική“, die Sokrates zufolge das Etymon „νοῦς“ enthält. Vgl. Reginald Hackforth (ed.): Plato’s Phaedrus, Cambridge 1952, S. 56.

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Säulen der griechischen Kultur zu binden und ihm auf diese Weise eine positive Bedeutung zu verleihen. Die zweite Form des göttlichen Wahnsinns ist in einem einzigen, schwer zu deutenden Satz zusammengefasst (244d5–245a1):7 Aber auch von den schwersten Krankheiten und Nöten – nämlich die, welche in einigen Familien in alter Zeit aus Zorn irgendwoher aufgekommen sind – hat der Wahnsinn, [unter diesen] entspringend und prophezeiend durch die dazu Berufenen8, Befreiung gefunden, indem er Zuflucht in Gebeten und Ehrerweisungen an die Götter nahm. So brachte der Wahnsinn durch die Entdeckung von Reinigungen und Initiationen den, der an ihm teilhatte, für die Gegenwart und für die Zukunft außer Gefahr, indem er dem auf richtige Weise Wahnsinnigen und Besessenen Erlösung von den gegenwärtigen Übeln fand. ἀλλὰ μὴν νόσων γε καὶ πόνων τῶν μεγίστων, ἃ δὴ παλαιῶν ἐκ μηνιμάτων ποθὲν ἔν τισι τῶν γενῶν, ἡ μανία ἐγγενομένη καὶ προφητεύσασα οἷς ἔδει, ἀπαλλαγὴν ηὕρετο, καταφυγοῦσα πρὸς θεῶν εὐχάς τε καὶ λατρείας· ὅθεν δὴ καθαρμῶν τε καὶ τελετῶν τυχοῦσα ἐξάντη ἐποίησε τὸν ἑαυτῆς ἔχοντα πρός τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον, λύσιν τῷ ὀρθῶς μανέντι τε καὶ κατασχομένῳ τῶν παρόντων κακῶν εὑρομένη. 7

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Meine Übersetzung (sowie die Interpunktion im Griechischen) orientiert sich hauptsächlich an der äußerst feinkörnigen Analyse von Ivan M. Linforth: Telestic Madness in Plato, in University of California Publications in Classical Philology 13 (1946), S. 163–172. Einzig an zwei Stellen differiert meine Deutung von der Linforths: Die Bestimmung des Zorns (µήνιµα – wrath) als göttlicher (divine) Zorn ist schlicht eine Ergänzung, die sich zwar in der (wahrscheinlichen) poetischen Vorlage in Euripides’ Phönizierinnen (παλαιῶν Ἄρεος ἐκ μηνιμάτων – „aus altem Zorn des Ares“; E. Ph. 934) findet, nicht jedoch im platonischen Text. Sokrates identifiziert die Quelle des Zorns bewusst nicht (ποθέν – irgendwoher), denn Götter, die Leid und Not über die Menschen bringen, sind mit seinem Götterbild nicht vereinbar. Erst kurz zuvor war die göttlich-gute Natur des Eros hervorgehoben worden (242e2–3). Weiterhin ist mit πρός τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον meines Erachtens genau das gemeint, was Linforth ausschließt (vgl. S. 166), nämlich die Befreiung von den Leiden auch für die Zukunft: Es handelt sich um eine Vorausdeutung auf 248c2–5, wo das Erblicken der Ideen – das mehrfach einer Initiation verglichen wird (vgl. insb. 249c7–8 und weiterhin 246b7, 248b4, 250b8, 250c4 sowie 253c3) – es der Seele ermöglicht, bis zum nächsten Auszug oder sogar für immer unverletzt (ἀπήμων) und unbeschadet (ἀβλαβής) zu bleiben. Wie diese Stelle selbst zeigt, schließt der Bezug auf die Zukunft eine Wiederholung der „Einweihung“ nicht aus. Eine große Schwierigkeit für die Übersetzung bereitet die Formulierung „οἷς ἔδει“, die von den meisten Übersetzern dem Hauptsatz zugeordnet und etwa mit „die es nötig haben“ (Heitsch) oder „die in Not waren“ (Schleiermacher) übertragen wird. Ich habe mich entschieden, Linforth zu folgen („the appointed ones“, S. 165; ähnlich Yunis: „the proper persons“, S. 133; vgl. LSJ „δεῖ“ A.I.2), weil andernfalls eine kaum sinnvolle Überlagerung aller von „den schwersten Krankheiten und Nöten“ Betroffener mit den vom Wahnsinn Befallenen eintritt und somit das Moment der „Entdeckung“ von Ritualen (das eines Einzelnen als Medium bedarf) abhanden kommt. Erst infolge dieser Entdeckung können die Notleidenden in eine ritualisierte – gleichsam homöopathische – Form des Wahnsinns versetzt werden, um sich von ihren Leiden zu befreien (sehr aufschlussreich hierzu Lg. 790c5-791b2). Allerdings sollte auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Ambivalenz von Platon intendiert ist.

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Auffallend ist in dieser Charakterisierung des Wahnsinns der Initiationen zweierlei: erstens die bereits von Linforth hervorgehobene Personifizierung der μανία,9 die sie selbst zum göttlichen Akteur und zum Entdecker der erlösenden Riten macht, und zweitens die extreme inhaltliche Ungenauigkeit des Satzes. Worauf wird hier angespielt? Etwa auf den Wahnsinn der tanzenden Korybanten, der Bacchantinnen oder aber auf bestimmte Mysterienkulte?10 Welche Familien sind gemeint? Die Formulierungen verbleiben so stark im Ungefähren, dass ihnen nur ein assoziativer Wert zugesprochen werden kann. Offenbar geht es Platon hier gar nicht darum, auf etwas Bestimmtes Bezug zu nehmen: Vielmehr scheint das bunte, teils dichterische Vokabular des komplexen Satzes eine Vielzahl ritueller Praktiken und mythischer Gehalte aufzurufen, die Phaidros und dem zeitgenössischen Leser einen gefühlsmäßigen Eindruck von der heilenden Kraft der göttlichen μανία geben. Nicht zu übersehen ist auch die globale Anspielung auf „die gegenwärtigen Übel [τῶν παρόντων κακῶν]“, von denen der Wahnsinn der Initiationen erlöst: Sie scheint sich allgemein auf die Nöte und Mühen des menschlichen Daseins zu beziehen.11 Die Zuweisung dieser ersten beiden Arten des Wahnsinns an Apollon bzw. Dionysos erfolgt – entgegen Sokrates’ Behauptung – erst in der kurzen Wiederaufnahme der Unterscheidung in 265b3–4, doch stellt sie für Platons Zeitgenossen wohl keine Überraschung dar: Die Erwähnung von Delphi an erster Stelle verweist unmittelbar auf Apollon und die Verbindung von μανία sowohl mit μαντική als auch mit Dionysos findet sich bereits in einer bekannten Passage von Euripides’ Bakchen.12 Die dritte Art des göttlichen Wahnsinns schließlich, die μανία der Musen (245a1–8), ergreift eine zarte und reine Seele, erregt sie und versetzt sie in bakchische Begeisterung und erzieht, in Gesängen sowie anderen Arten der Dichtung tausend Taten der Ahnen ausschmückend, die Nachkommen. λαβοῦσα ἁπαλὴν καὶ ἄβατον ψυχήν, ἐγείρουσα καὶ ἐκβακχεύουσα κατὰ τε ᾠδὰς καὶ κατὰ τὴν ἄλλην ποίησιν, μυρία τῶν παλαιῶν ἔργα κοσμοῦσα τοὺς ἐπιγιγνομένους παιδεύει. 9 10

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Vgl. Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 170–172. Heitsch: Platon Phaidros, S. 91, Anm. 130 macht eine Reihe von Vorschlägen, ohne dabei jedoch das Problem der textlichen Ungenauigkeit selbst zu thematisieren. Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 169 legt genau darauf den Akzent: „We must acknowledge, that we do not know what legend Socrates had in mind, and I repeat that the vagueness of the relative clause [...] may really mean that he had no legend in mind“ (Herv. I. L.). Vgl. Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 164 („human misery in general“). Μάντις δ᾽ ὁ δαίμων ὅδε: τὸ γὰρ βακχεύσιμον | καὶ τὸ μανιῶδες μαντικὴν πολλὴν ἔχει: | ὅταν γὰρ ὁ θεὸς ἐς τὸ σῶμ᾽ ἔλθῃ πολύς, | λέγειν τὸ μέλλον τοὺς μεμηνότας ποιεῖ – Ein Mantis ist auch dieser Gott [Dionysos]: Das Bakchische nämlich | Und das Manische enthalten Mantik in Fülle. | Denn wann immer der Gott ganz in einen Körper eingeht, | lässt er die Manischen die Zukunft vorhersagen (E. Ba. 298–301, meine Übs.). Vgl. Yunis: Plato Phaedrus, S. 132 u. 195. Siehe auch die explizite Verbindung von Apollon mit der Mantik in der ersten Etymologie des Götternamens „Apollon“ im Kratylos (Crat. 404e8–405c4).

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Wer nicht inspiriert sei und nur durch die τέχνη ein guter Dichter zu sein glaube, ergänzt Sokrates durch ein Wortspiel, bleibe zugleich ‚unvollkommen‘ und ‚uneingeweiht‘ (ἀτελής). Empfängerin des Wahnsinns der Musen ist – durch den inspirierten Dichter – ausdrücklich eine junge Seele; das Ziel ist das der Erziehung. Inwiefern diese drei ersten Arten des göttlichen Wahnsinns tatsächlich „traditionell“ als Formen von μανία aufgefasst wurden, ist verschiedentlich in Frage gestellt worden.13 Womöglich wird der Prophetie genau aus diesem Grund die längste Erläuterung gewidmet: Sie – und allen voran die Pythia – ist das Paradebeispiel einer göttlichen Besessenheit, die den Menschen Gutes bringt, und kann auf ein unmittelbares Verständnis seitens des Gesprächspartners hoffen. Darüber hinaus ist die Thematik der Inspiration bzw. des Enthusiasmus hier bekanntermaßen keineswegs etwas Neues im platonischen Werk. Im Unterschied zu den Bezugnahmen insbesondere auf die poetische Inspiration etwa im Ion, in der Apologie, im Menon und später in den Nomoi sowie auch allgemein auf die dichterische Kunst in der Politeia,14 scheint Platon ihr hier jedoch eine rein positive Bedeutung zuzuweisen, die frei von Kritik und Ambivalenz ist. Wie aktuell diese Problematik des Phaidros bis heute ist, zeigt Capras lapidare Bemerkung in Plato’s Four Muses (2014): „[T]he dialogue is unique in presenting a sustained case for a positive form of inspiration.“15 Während der Lobpreis der traditionellen Inspiration aufgrund der erwähnten Widersprüche zu anderen Dialogen vor und nach dem Phaidros kaum als direkte Äußerung von Platons eigener Haltung aufgefasst werden kann,16 bleibt also die entscheidende Frage bestehen: Welche Funktion erfüllt in diesem Kontext diese so überraschend unkritische Bewertung der Inspiration unter dem Slogan einer göttlichen Form des Wahnsinns – die sich außerdem noch gegen platonische Hauptbegriffe wie νοῦς und σωφροσύνη zu richten scheint? Folgende drei Beobachtungen sollen helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

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Hackforth: Plato’s Phaedrus, S. 60 und Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 171. Ap. 21e2–22c8; Ion 534b3–d4, 536c1–d3; Men. 99b11–d9; Lg. 682a1–5, 700d2–e4, 719c1–d1 und R. insb. 605c10 ff., 607b1 ff. Auch die Mantik wird in vielen anderen Dialogen quer durchs platonische Werk ambivalenter diskutiert: siehe z. B. Ion 531b1–10, 534c7–d4; Men. 99c11–d5; Ti. 69d7–72b5; Lg. 885c5–e5. Andrea Capra: Plato’s Four Muses. The Phaedrus and the Poetics of Philosophy, Washington DC 2014, S. 17. Hackforth: Plato’s Phaedrus, S. 61 hatte (unter Berufung auf Wilamowitz) geschrieben: „Plato is in this dialogue quite exceptionally conscious of the value of the imaginative, as against the rational power of the human soul.“ Heitsch: Platon Phaidros, S. 91 f. weist dagegen mit Recht darauf hin, dass die positive Darstellung der Inspiration – die eine dialoginterne Funktion erfüllt – nicht als Äußerung von Platons eigener Meinung gelesen werden sollte. Diese Deutung scheint inzwischen konsensfähig zu sein: vgl. auch Yunis: Plato Phaedrus, S. 134 und insb. Daniel Werner: Plato on Madness and Philosophy, in Ancient Philosophy 31 (2010), S. 47–71, hier 57.

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1. Beobachtung: der Zielpunkt Platon führt die drei traditionellen Arten der θεία μανία eigentlich bereits weit vor unserer Textstelle ein, und zwar in Gestalt von Sokrates’ Verhalten: Dieser ruft zu Beginn seiner ersten Rede die Musen an (237a7) und bemerkt anschließend, von „etwas Göttlichem ergriffen [θεῖον πάθος πεπονθέναι]“ zu sein, sodass er beginnt, dionysische Dithyramben zu dichten (238c5–d3), bevor er zum Ende seiner Rede wörtlich behauptet, ein μάντις zu sein, weil ihm bewusst geworden sei, gegen die Götter gefrevelt zu haben (242c4). Zu dem Zeitpunkt, an dem der göttliche Wahnsinn eingeführt wird, hat sich die traditionelle Inspiration also auf implizite Weise bereits als problematisch erwiesen, wenn sie sich gegen die vierte Art des Wahnsinns wendet, nämlich den philosophischen des Eros: Sie führt zu einem unwahren Ergebnis (Οὐκ ἔστ’ ἔτυμος, 244a3).17 Die Erläuterung der drei Formen der traditionellen göttlichen μανία ist also nicht so kritikfrei, wie sie auf den ersten Blick erscheinen könnte. Seinerseits ist der Seelenmythos im Anschluss gespickt mit Anspielungen auf die vorigen Erläuterungen zur Inspiration, die hier im Dienst der philosophischen Betrachtung steht.18 So zeigt gerade der Kontrast zwischen den beiden sich stark unterscheidenden Reden des Sokrates, dass die drei traditionellen Arten des göttlichen Wahnsinns auf die vierte zielen, die die „beste [ἀρίστην]“ (265b5) ist und „das größte Glück [εὐτυχίᾳ τῇ μεγίστῃ]“ (245b7) bringt. Umgekehrt gesagt: Ein „Wahnsinn des Eros“ wäre ohne die Erläuterung der traditionellen Formen19 unverständlich. 2. Beobachtung: Zeitlichkeit Weiterhin lässt sich in der Beschreibung aller drei Arten des göttlichen Wahnsinns ein starker Akzent auf der Zeitlichkeit im Sinne der Zeitenfolge Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft feststellen: Erinnern wir uns an die „Ahnen“ und die Vorhersage der „Zukunft“ der μανία des Apollon; weiter an den Zorn 17

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Nicht übersehen werden sollte hier auch das Vokabular des „Richtigen“ und „Angemessenen“, das in der Beschreibung jeder der drei Formen der traditionellen Inspiration versteckt ist: jemanden „richtig ausrichten“ (ὤρθωσαν, 244b5) in Hinsicht auf die Zukunft, „auf die richtige Art wahnsinnig sein“ (ὀρθῶς μανέντι, 244e4) bezüglich der Initiation, ein „angemessener“ (ἱκανὸς ποιητής, 245a6–7) Dichter sein. Es gibt also in allen drei Beschreibungen zumindest einen impliziten Hinweis auf eine Kategorie, die eine Form von Kritik des göttlichen Wahnsinns nahelegt. Eine weitere, explizitere Andeutung einer ambivalenteren Konzeption der Inspiration findet sich auch in der Aufzählung der Lebensweisen, in denen der Prophet, der Priester und der Dichter nur den fünften bzw. sechsten Rang einnehmen (vgl. 248d7–e2). Siehe zum Enthusiasmus 249d2 und e1, 253a3 sowie 255b6. Auf Initiation, Katharsis, Epopteia und Myesis wird angespielt insb. in 249c7–8 und 250c4, weiterhin in 246b7, 248b4, 250b8 sowie 253c3. Vgl. auch Anm. 7 in diesem Beitrag. Die Zweideutigkeit von τελέω (einweihen und vervollkommnen) prädestiniert die Begrifflichkeit der Initiation für Platons Zwecke. Die vier erläuterten Formen des göttlichen Wahnsinns bilden nicht notwendig eine vollständige Liste (vgl. Werner: Plato on Madness, S. 50, Anm. 5).

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„in alter Zeit“ und an die „gegenwärtigen Übel“, von denen der Wahnsinn der Einweihungen „für die Gegenwart und für die Zukunft“ befreit; sowie schließlich an die Taten „der Ahnen“, durch die der Wahnsinn der Musen die „Nachkommen“ erzieht. Auch die Formulierung in der Wiederaufnahme der Thematik, welche die θεία μανία als „göttliche Verkehrung der gewohnten Sitten [θείας ἐξαλλαγῆς τῶν εἰωθότων νομίμων]“ (265a10 f.) definiert, enthält eine Anspielung auf die Ausgedehntheit der Zeit. Die Erläuterung der drei traditionellen Arten der göttlichen μανία hebt also einerseits die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins hervor (bzw. dessen „contingency“, mit Ferrari zu sprechen20 ), während sie andererseits die Perspektive auf eine göttliche Überzeitlichkeit eröffnen: Die Götter stehen außerhalb der zeitlichen Ordnung, sie vereinigen Vergangenheit und Zukunft, sie manifestieren sich in einer ausgezeichneten Gegenwart. Die so gesteigerte Sensibilität für Zeitlichkeit bereitet Phaidros und den Leser auf die Inhalte des unmittelbar folgenden Mythos über die Unsterblichkeit der Seele und die Ewigkeit der Ideen vor. 3. Beobachtung: der Einzelne Die dritte Beobachtung hebt einen Sachverhalt hervor, der nicht nur diese drei traditionellen Beispiele eines göttlichen Wahnsinns betrifft, sondern ganz wesentlich das anspricht, was „Inspiration“ ausmacht: Sie betrifft immer einen Einzelnen, der sich von der Masse abhebt und zum Sprachrohr und Medium des Gottes wird, der von ihm Besitz ergriffen hat. Dies geht unmittelbar aus Sokrates’ Erläuterungen hervor: Die Pythia, die Priesterinnen von Dodona sowie die Sybille werden gleich zu Anfang als Exponenten der Mantik genannt, ferner im Kontext der Initiation die ‚dazu Berufenen‘ (οἷς ἔδει)21 und schließlich, für die dritte Art der θεῖα μανία, die Dichter. Von großer Bedeutung ist auch für diesen Kontext, dass Sokrates selbst sich als göttlich besessen erklärt und somit sich selbst als Einzelnen in Szene setzt. Dieser Wesenszug der Inspiration ist weit mehr als eine Vorausdeutung auf den folgenden Mythos: Sokrates wird mit Nachdruck darauf bestehen, dass der philosophische Eros nur wenige ergreift (ὀλίγαι , 250a5; ὀλίγοι, b4). Sokrates’ Zurückgreifen auf den Mythos deutet selbst bereits an, dass die Erfahrung philosophischer Inspiration letztendlich unveräußerlich, das heißt unübertragbar und in ihrem Wesen nicht kommunizierbar ist.22 Daniel Werner hat weiterhin hervorgehoben, dass Sokrates’ Beschreibung sowohl der göttlichen als auch der philosophischen Inspiration auf eine Erfahrung deutet, die

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Giovanni R. F. Ferrari: Listening to the Cicadas. A study of Plato’s Phaedrus, Cambridge 1990, S. 127, 133, 137, 166, 232. Vgl. auch Halliwell: ‘Where are you going...?’, der die inhaltliche Bezugnahme auf die Kontingenz des Lebens auf der Dialogebene gespiegelt sieht. Vgl. zum Übersetzungproblem von οἷς ἔδει Anm. 8 in diesem Beitrag. Vgl. auch Werner: Myth and Philosophy, S. 216.

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wir als „fundamentally passive“23 empfinden (wie sie auch von Sokrates selbst in 238c6 in Worte gefasst wird) und die uns ein Gefühl der ‚Ergriffenheit‘ gibt. Doch Platon zielt hier meines Erachtens noch auf etwas Weiteres: Während für Lysias die Inhalte seiner Rede zum Spielball seiner rhetorischen Gewandtheit24 werden, die den technischen Intellekt des Verfassers in ihrem Zentrum wissen, verortet Sokrates die Inhalte philosophischen Denkens in einer Höhe, die die Fähigkeiten des menschlichen Intellekts – den menschlichen νοῦς, die menschliche σωφροσύνη – übersteigt: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge.25

Die propädeutische Funktion der mythischen Götter Es gilt nun, die Fäden aus diesen drei Beobachtungen zusammenzuziehen. Aus den Erläuterungen sollte deutlich geworden sein, dass dem Dreigespann der traditionellen Formen der göttlichen Inspiration eine propädeutische Funktion zukommt, die auf die philosophischen Inhalte des Mythos, auf welche alle drei ausgerichtet sind, vorbereitet und einstimmt. Diese Vorbereitung und Einstimmung geschieht sowohl auf der Grundlage von Wissensgehalten (z. B. der Überzeitlichkeit des Göttlichen) als auch, und insbesondere, mit Hilfe bestimmter Gefühle, die die Rede über das Göttliche in Phaidros und im Leser (zumindest im zeitgenössischen) aufkommen lässt: Ehrfurcht und Verehrung – religiöse Gefühle, die eine Haltung des Aufschauens zu etwas Bedeutenderem und Größerem hervorrufen. Es ist Sokrates’ Absicht, eine Projektion dieser Gefühle auf das ‚Göttliche‘ der Philosophie zu erreichen: „Das Göttliche ist das Schöne, Weise, Gute und alles Derartige [τὸ δὲ θεῖον καλόν, σοφόν, ἀγαθόν, καὶ πᾶν ὅτι τοιοῦτον]“ (246d8–e1).26 Man könnte also formulieren, dass Platon sich dieser religiösen Gefühle bedient, um Phaidros und dem Leser die richtige Einstellung zur Philosophie zu vermitteln und um sie zu einer philosophischen Denk- und Lebensweise zu überreden.27

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Werner: Plato on Madness, S. 51 (Herv. D. W.); vgl. auch S. 61 (der Philosoph als „‘possessed’ by the Forms“, „an experience in which something happens to us“; Herv. D. W.). Vgl. für eine ähnliche Deutung von Lysias’ (und Phaidros’) Haltung Ferrari: Listening to the Cicadas, S. 7, 58, 62. Vgl. dazu unmittelbar Lg. 716c4–6. Nicht übersehen werden darf auch, dass die σωφροσύνη explizit unter den im überhimmlischen Ort zu schauenden Ideen genannt wird (Phdr. 247d6). Die Götter verdanken ihre Göttlichkeit der Tatsache, dass sie sich dem Göttlichen – d. h. den Ideen – widmen: siehe 249c6. Dass darin eine persuasive Seite platonischen Schreibens anerkannt wird, muss nicht überraschen. Mit Recht eröffnet Andrea Capra sein Buch mit der Feststellung: „There is a growing consensus that Plato’s ambition was not only to put forward his ideas, but also to provoke and persuade“ (Plato’s Four Muses, S. 1). Vgl. auch seine Thesen zu „inspired, and inspiring, logoi“ (S. 107 ff.). Darüber hinaus wird aus dem Gesagten gut deutlich, dass bestimmte Emotionen von erheblicher Bedeutung für die platonische Dialogführung sind.

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Julia Pfefferkorn

Aus einer anderen Perspektive beinhaltet die propädeutische Funktion der traditionellen Arten des göttlichen Wahnsinns aber auch, dass deren Beschreibung tatsächlich Elemente enthält, die sie mit der Erfahrung des philosophischen Denkens und Lebens teilen: die Unübertragbarkeit der Erfahrung, das Gefühl der Ergriffenheit, die Erhabenheit der Bezugsobjekte.28 Im Seelenmythos des Phaidros sowie auch im Timaios erhält die so ermöglichte Vermittlungsrolle mythischer Gottesvorstellungen eine bildhafte Ausgestaltung in der (ontologischen) Zwischenstellung der olympischen bzw. gewordenen Götter zwischen der Welt des Werdens und dem Ideenkosmos.29 Warum aber, bleibt nun noch offen, treten im vorliegenden Kontext gerade mythische Götter der Inspiration in den Vordergrund? Diese Frage scheint leicht zu beantworten: Schon im Symposion (202d13 ff.) werden etwa die Praktiken inspirierter Mantik dem Dämonischen zugeordnet, dem eine Vermittlungsfunktion zwischen Sterblichen und Unsterblichen, zwischen Menschen und Göttern zukommt. Die mythischen Götter der Inspiration stehen im kulturellen Bewusstsein also für genau das, was sie im philosophischen Kontext des Phaidros leisten sollen: Vermittlung. Kehren wir zum Abschluss noch einmal zu den einleitenden Beobachtungen über den Phaidros zurück, die sich gut in dieses Bild fügen. Das allgegenwärtige Hereinbrechen des Göttlichen von den ersten Seiten des Dialogs an schafft die Atmosphäre für eine Öffnung der Perspektive weg von dem rhetorischtechnischen Intellektualismus des Lysias und nimmt Phaidros mit auf den Weg zu einem philosophischen Denken. Eine Systematik der göttlichen Instanzen hat, so scheint mir, in diesem Rahmen schlicht keine Bedeutung, denn sie sind nicht der Zielpunkt30 des Gesprächs, sondern eine konzeptuelle und emotionale Brücke zu diesem Ziel. Sie sind, ganz analog der Schilderung im Mythos, Vermittler, Reisebegleiter und Chorführer auf dem Weg zum überhimmlischen Ort. 28

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Daniel Werners These, dass „all other kinds of madness, be they of the prophetic, telestic, poetic or crudely human kind, are implicitly being condemned as antithetical to the philosophical life“ (Werner: Plato on Madness, S. 63, vgl. auch S. 57), erweist sich deshalb als zu stark. Von einer Verdammung kann keine Rede sein, wenn die Bezugnahme auf traditionelle Formen der Inspiration dazu dient, zu einem philosophischen Denken und Leben hinzuführen. Eine vollständige Abwertung der drei traditionellen Formen des Wahnsinns ist auch angesichts der ausgezeichneten Rolle als Chorführer, die deren drei Namenspatronen – Apollon, Dionysos, die Musen – in den Nomoi erhalten (Lg. 664b3–665a6), unwahrscheinlich. Siehe Phdr. 248a1 ff. und Ti. 41a3 ff. Vgl. für diesen Kontext auch meine Ausführungen in Julia Pfefferkorn: Der Tanz der Magneten. χορεία, Seele und die Mimesis des Göttlichen in Platons Nomoi, in Michele Abbate, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli (Hg.): Selbstbewegung und Lebendigkeit. Die Seele in Platons Spätwerk, Berlin/Boston 2016, 145–178, hier S. 170 ff. Sokrates scheint tatsächlich zum Sprachrohr Platons zu werden, wenn er auf die Frage, ob er an die Mythen glaube, antwortet, dass er für derlei Fragen keine Zeit habe, weil er sich selbst (d. h. die Natur seiner Seele) immer noch nicht erkennen könne, und folglich einfach annehme, was allgemein geglaubt werde (229e3–230a5).

Igor Mikecin

Die Dunkelheit der Sprache Heraklits

Heraklit wird von alters her der Dunkle (ὁ Σκοτεινός) genannt.1 Aber worin besteht eigentlich und woher kommt diese Dunkelheit (σκότος), nach welcher Heraklit seinen Beinamen erhalten hat? Sie zeigt sich bereits als die Dunkelheit der Sprache Heraklits, die in seinen Sprüchen verwahrt ist (orationis obscuritas, Sen. Epist. XII, 7). Diese Dunkelheit seiner Sprache ist aber nicht die Folge von Nachlässigkeit oder eines Strebens nach einer verführerischen Ausdrucksweise. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits ist überhaupt kein Mangel, der durch eine deutlichere Rede aufgehoben werden könnte. Ihr Sinn liegt auch nicht nur darin, dass das Gesagte vor dem Missverständnis geschützt und für die Unwürdigen unzugänglich gemacht wird, oder dass sie den achtsamen Zuhörer aus der Vergessenheit des immerseienden und allen gemeinsamen Logos erweckt.2 Ihre Gestalt ist mit ihrem Inhalt unzertrennlich verbunden und geht aus dem Anspruch des Logos notwendig hervor. Wem der Logos verborgen bleibt, der hört diese Sprache und vernimmt sie nicht: ἀξύνετοι ἀκούσαντες κωφοῖσιν ἐοίκασι. φάτις αὐτοῖσιν μαρτυρεῖ παρεόντας ἀπεῖναι; indem sie unvernünftig hören, gleichen sie Tauben, der Spruch bezeugt es ihnen: anwesend (sind sie) abwesend (B 34 DK).3 Für Aristoteles ist die Sprache Heraklits unverständlich unter anderem auch deshalb, weil sie sich nicht eindeutig gliedern lässt, so dass unklar bleibt, in welcher Beziehung zueinander die Wörter eines Satzes stehen.4 Aber die von Aristoteles genannte Stelle ist gerade das vorbildhafte Beispiel der bewussten Vieldeutigkeit der Sprache bei Heraklit und jeder Versuch ihrer Auflösung zugunsten einer der möglichen Lesarten führt zum Verlust des ursprünglichen Sinnreichtums. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits lässt sich nicht durch die grammatische Kunst erklären. Überhaupt lässt sie sich nicht zureichend erfassen, wenn die Dunkelheit des Heraklit nur der Sprache 1

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Siehe unter anderem Strab. XIV, 1, 25; Heraclit. Homer. alleg. 24, 3-5; [Arist.] De mundo 396b20; Clem. Strom. V, VIII, 50, 2; Hippol. Ref. omn. haer. IX, 2; Eus. Chron. p. 107, 15; 111, 21; Praep. evang. X, 14, 15; Suda s. ῾Ηράκλειτος; Tzetz. Exegesis in Iliad. p. 101; 126; Etym. Magn. s. βίος; Eustath. In Iliad. I, 49; In Od. IV, 450 usw. Als Übersetzungen für σκοτεινός werden im Lateinischen tenebrosus und obscurus verwendet. Vgl. Cic. De nat. deor. III, 14, 35. Insofern Heraklit nicht deutlich spricht, hat er uns, sagt Plotin, aufgefordert, die Bilder zu deuten, so dass wir bei uns dasselbe suchen müssen, was er selbst gefunden hat (siehe Plot. Enn. IV, 8 [6] 1, 11). Sämtliche Übersetzungen von Heraklits Fragmenten stammen vom Verfasser. Arist. Rhet. 1407 b11-18. Als Beispiel für die Unklarheit der Sprache Heraklits nimmt Aristoteles den Anfang des ersten Spruchs: τοῦ δὲ λόγου τοῦδ’ ἐόντος αἰεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι. Das Adverb αἰεί kann sich sowohl auf ἐόντος (der immer seiende Logos / der Logos des immer Seienden) als auch auf γίνονται beziehen (die Menschen erweisen sich immer als gehörlos gegenüber dem Logos).

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Igor Mikecin

zugesprochen wird, die dann noch bloß als Ausdrucksmittel des Denkens verstanden wird. Die Dunkelheit des Heraklit bezieht sich also nicht nur auf seine Sprache, sondern auch auf sein Denken in seiner wesentlichen Einheit mit der Sprache. Denn die Dunkelheit seiner Sprache beruht auf der Dunkelheit des vernehmenden Versammelns (λέγειν), das dem Logos selbst entspricht. Diese Dunkelheit des vernehmenden Versammelns zeigt sich vor allem an der Einsicht in die Selbigkeit des Gegensätzlichen. Aristoteles sieht die Dunkelheit des Heraklit in der Sprache, die gegen den Satz vom Widerspruch als den Grundsatz des Denkens (ἀρχὴ συλλογιστική) verstößt. Dieser Satz besagt, dass es unmöglich ist, dass dasselbe demselben zugleich und in demselben Sinn zugesprochen und abgesprochen wird (Arist. Met. 1005 b19-20), bzw. dass das Gegensätzliche demselben zugleich zugesprochen und abgesprochen wird (Arist. Met. 1005 b26–27). Diese Unmöglichkeit beruht auf der ursprünglichen Unmöglichkeit, von demselben zu sagen, dass es ist und zugleich nicht ist (Arist. Met. 1005 b23–24, 29–30; 1005 b35 – 1006 a2; 1006 a3–4). Indem die entgegengesetzte Aussage das Gegensätzliche demselben zuspricht, setzt sie auch die zugrunde liegenden gegensätzlichen Gedanken einander auf widersprüchliche Weise entgegen. Es ist zufolge Aristoteles unbezweifelbar, dass Heraklit demselben Gegensätzliches zuspricht (Arist. Met. 1063 b24–30). Aber diese widersprüchliche Rede Heraklits, meint Aristoteles, darf nicht wortwörtlich genommen werden, sondern es gilt zu durchschauen, was hinter ihr eigentlich gedacht wird (Arist. Met. 1005 b23–26). Selbst Heraklit, glaubt Aristoteles, wäre gezwungen anzuerkennen, dass gegensätzliche Aussagen über dasselbe unmöglich sind (Arist. Met. 1062 a31–35). Aber die Dunkelheit des Heraklit lässt sich weder durch den Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch noch durch die Unklarheit der Sprache erklären. Vielmehr ist es nötig, ausgehend von Heraklit die Voraussetzungen zu entdecken, auf welchen der Satz vom Widerspruch als solcher beruht, sowie die Reichweite seiner Geltung. Im Gegensatz zu Aristoteles sagt Platon im Sophistes, indem er unter anderen auch an Heraklit denkt, dass es schwierig und unangebracht sei, den berühmten und ehrenvollen Ahnen vorzuwerfen, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hätten. Es könne jedoch gesagt werden, dass sie rücksichtslos gewesen seien und sich nicht darum gekümmert hätten, ob jemand ihnen folgen könne oder nicht. Der Gedanke der Selbigkeit des Gegensätzlichen ist so schwierig, dass Platon gezwungen ist, durch die dialektische Untersuchung der Ideen dasjenige vorzutragen, was Heraklit einfach und ohne Begründung verkündet.5 In der Rücksichtslosigkeit Heraklits verbirgt sich die anfängliche Einfachheit und Tiefe des vernehmend-versammelnden Sagens in Übereinstimmung mit dem Logos als der ursprünglichen Versammlung.

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Siehe Pl. Sph. 243a.

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Der Sinn der Dunkelheit der Sprache Heraklits wird in der Geschichte über den delischen Taucher (Δήλιος κολυμβητής) angedeutet.6 Als Euripides Sokrates die Schrift Heraklits übergeben habe, habe er ihn nach seiner Meinung gefragt, und Sokrates habe geantwortet: Was ich verstanden habe, ist vortrefflich, wahrscheinlich auch das, was ich nicht verstanden habe, aber es bedarf eines delischen Tauchers. Der ‚Delische Taucher‘ war bei den Griechen eine sprichwörtliche Redewendung für einen guten Schwimmer und Taucher, weil die Taucher von Delos wegen ihrer Fähigkeit berühmt waren, im tiefen Meer nach Perlen zu tauchen. Die Tiefe des bei Heraklit Gesagten erfordert einen tiefsinnigen Zuhörer und Leser (τὸ βάρος τῆς ἑρμηνείας, Diog. Laert. IX, 7). Ebenso wie die Seele einen so tiefen Logos hat (οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει, DK 22 B 45), dass ihre Grenzen nicht gefunden werden können, so ist auch die Sprache Heraklits dunkel, weil ihr eine Tiefe eignet, die mit der abgründigen Meerestiefe vergleichbar ist. Der Taucher stammt aus Delos, und Delos ist die Geburtsinsel von Apollon und Artemis. Besonders Apollon ist an Delos gebunden.7 Der berühmteste Tempel Apollons war gerade auf Delos, und Apollon selbst wurde der Herr von Delos genannt. Apollons Kennzeichen – Bogen und Leier – werden bei Heraklit zu den wichtigsten Zeichen der Anwesenheit des Logos in allem Werdenden. Heraklit ehrt Apollon als den Gott des Lichtes und der Weissagung, so dass die Dunkelheit der Sprache Heraklits mit der Weise verbunden ist, wie Apollon in Delphi durch seine Weissagerin Pythia kündet. Gemäß dem vorhersagenden Weissagen trägt Apollon den Beinamen Λοξίας, der vom Wort λοξός (‚gebogen, schief‘) kommt; τὰ λοξά sind die Weissagungen, eben wegen ihrer Vieldeutigkeit. Schon die Geschichte von der Entstehung des Namens der Geburtsinsel Apollons deutet auf den Streit von Licht und Dunkelheit hin, der im Denken Heraklits waltet: Vor Apollons Geburt nämlich sei Delos ziellos im offenen Meer umhergetrieben, doch sobald Apollons Mutter Leto sie betreten habe, sei sie angehalten und mit Säulen am Meeresboden befestigt worden, und plötzlich habe sie aus dem Meer geragt wie der leuchtende Stern der dunklen Erde.8 Den Namen habe Apollon seiner Geburtsinsel selbst gegeben, indem er den alten Namen Ortygia geändert habe. Der Name Delos komme nämlich vom Wort δῆλος (‚offenbar, klar, deutlich‘), denn sie rage aus dem Meer in die Klarheit des Himmels und bleibe zugleich in der undurchsichtigen Meerestiefe verwurzelt (ἐξ ἀδήλου, Etym. Magn. s. Δῆλος; vgl. Schol. Il. I, 9). Die Redewendung ‚delischer Taucher‘ vereint somit Gegensätzliches: das Licht und die Dunkelheit. Er ist derjenige, der in die Meerestiefe versinkt, um in ihr das Hellste zu finden und ans Licht zu bringen. So wie das Gold in der Dunkelheit der Erde verborgen liegt, und die Goldsucher viel Erde ausgraben müssen, um es zu entdecken (χρυσὸν γὰρ οἱ διζήμενοι γῆν πολλὴν ὀρύσσουσι καὶ εὑρίσκουσιν 6

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Siehe Diog. Laert. II, 22; IX, 12; Suda s. Δηλίου κολυμβητοῦ; David. In Porph. Isag. 4; Elias In Porph. Isag. 16. Vgl. Hom. Hymn. in Ap. Del. III, 140-162. Siehe Pind. Fr. 64; 65.

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ὀλίγον; denn die Gold suchen, graben viel Erde auf und finden wenig; DK 22 B22), so verweilt auch das Weise, nach dem die Seele sucht, in der Verborgenheit ihrer unergründlichen Tiefe. Unter den wichtigsten Beinamen Apollons sind diejenigen, die ihn als den Lichtgott bezeichnen: Λύκειος, Λύκιος, Λυκηγενής, Φοῖβος. Es ist das Licht, das plötzlich in der Dunkelheit aufbricht und so leuchtet, dass das Beleuchtete sich in seiner Wahrheit zeigt. Davon spricht auch das Epigramm bei Diogenes Laertios, das Heraklit gewidmet ist: Nicht schnell entfalte die Buchrolle Heraklits // des Ephesiers. Sehr schwer zu gehen ist der Pfad. // Finsternis ist da und unbeleuchtetes Dunkel, doch führt ein Geweihter // dich ein, ist er heller als die leuchtende Sonne.9 Erst dann werde sichtbar, dass die Sprache Heraklits des Dunklen leuchtend (λαμπρῶς) und klar (σαφῶς) sei.10 Die Sprache Heraklits ist dunkel, nur insofern das Licht und die Dunkelheit gegenstrebig vereinigt sind. Indem das Licht sich aus dem Streit mit der Dunkelheit entzündet, hat es sein Maß, so dass es die Dunkelheit erhellt, ohne sie zu vernichten. Die Dunkelheit ist dem Licht so entgegengesetzt, dass es das eine nicht ohne das andere gibt. Der Gegensatz von Licht (φάος) und Dunkelheit (σκότος) geht aus dem Gegensatz von Entzünden (ἅπτομαι) und Verlöschen (σβέννυμι) des ewigen Feuers hervor. Er selbst aber beruht auf dem Gegensatz des Entbergens (εὑρίσκω) und Verbergens (κρύπτω/λανθάνω), Erscheinens (φαίνομαι) und Verschwindens (ἀφανίζω), Aufgehens (φύω) und Untergehens (δύνω) des Werdens in allem Werdenden und des Seienden im Werden selbst. Der Gegensatz von Entbergen und Verbergen kommt gerade in jenem Spruch zum Vorschein, der vom wahren Sagen selbst spricht: ὁ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει, ἀλλὰ σημαίνει; der Herr, dessen Orakel dasjenige in Delphi ist, weder entbirgt noch verbirgt, sondern gibt Zeichen (DK 22 B93). Das Zeichengeben ist die Weise, wie Apollon durch Weissagungen kündet, die seine Weissagerin Pythia in seinem Tempel in Delphi vermittelt. Sie vernimmt den lautlosen Zuspruch Gottes und übersetzt ihn in die verlautbarten Zeichen. So spricht Apollon durch Pythia, und sie hat keine eigene Sprache, sondern ist in ihrem Verkünden ganz dem Gott hingegeben.11 Heraklit aber verkündet weder wie Apollon und Pythia noch wie Priester, die das Verkündete in die zweideutigen hexametrischen Sprüche übersetzen. Der Gott entbirgt weder nur, noch verbirgt lediglich, denn er unterscheidet nicht das Gegensätzliche in Einem (DK 22 B102). Im Gegensatz dazu ist das zeichengebende Sagen Heraklits weder nur das Entbergen noch nur das Verbergen, sondern beides zugleich, insofern es das Gegensätzliche scheidet und zugleich in das Eine vereinigt. Während die weissagende Sprache vorhersagt und vom Zukünftigen spricht, sagt Heraklit das, was immer war und ist und sein wird, und in allem waltet. In der Nähe des Weisen stehend unterscheidet er sich vom Weissager 9 10 11

Diog. Laert. IX, 16. Diog. Laert. IX, 17. Siehe Iambl. De mysteriis III, 15.

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Gottes. Die Stimme Gottes ist an sich lautlos. Diese Stimme hört in seinem Heiligtum (μαντεῖον) die Weissagerin (μάντις) und übersetzt sie durch ihren rasenden Mund in das lautlich Hörbare (μαινομένωι στόματι ... φθεγγομένη, DK 22 B92). Dieser Laut wird dann von den Priestern als eine Weissagung gestaltet, die den Sterblichen ausgesagt wird, die das Heiligtum besuchen. Heraklit selbst spricht weder menschlich (οὐκ ἀνθρωπείως) noch verkündet er wie die Sibylle, die vom Gott befangen (διὰ τὸν θεόν, DK 22 B92) Zeichen gibt, noch dichterisch wie Priester, sondern deutet das Eine einzige Weise in Zeichen an. Ebenso wenig wie die Weissagerin spricht derjenige, der das Weise liebt (ἀνὴρ φιλόσοφος, DK 22 B35), aus sich selbst, aber er ist kein Bote Gottes, sondern der Herold der Wahrheit des Logos selbst, die durch ihn zur Sprache kommt (οὐκ ἐμοῦ ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι; jenen, die nicht mich, sondern den Logos gehört haben, ist es weise, zusammen mit dem Logos zu sagen: alles ist eins; DK 22 B50). Der Logos selbst spricht durch den Sagenden als seinen Wahr-sager. Er bedarf dabei keiner Offenbarung Gottes in den Weissagungen, denn das zeichengebende Sagen des Weisen tritt an die Stelle der weissagenden Voraussage. Anstatt die Antwort des Gottes im Tempel zu suchen, sucht und erkennt er sich selbst (ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν; ich habe mich selbst gesucht; DK 22 B101) und findet die göttliche Gnome, die alles steuert (vgl. DK 22 B41). Da die Sprache und das Vernehmen im anfänglichen Logos gründen, beruht auch ihre Dunkelheit letztendlich auf der Dunkelheit des Logos. Heraklits Logos schließt in sich das Verbergen ein, weil nur das entbergend-verbergende Sagen das entbergende Verbergen des anfänglichen Logos in allem Werdenden zeigen kann.12 Daher befindet sich der wahre Sinn von Heraklits Beinamen, der Dunkle, nicht bloß in der Unklarheit des sprachlichen Ausdrucks und des Denkens, sondern die Dunkelheit der Sprache Heraklits entspricht der Dunkelheit dessen, was vor allem anderen sagwürdig ist. Die Sprache gehört zum Vernehmen, das schon in sich selbst sagend ist. Und dieses sagende Vernehmen gehört dem Logos selbst, der als das Immerseiende in allem Werdenden waltet. Infolge der Vergessenheit des Logos zerfällt seine ursprüngliche Dreieinheit in Sprache (Grammatik), Denken (Logik) und Sein (Ontologie). Auf dieser Vergessenheit beruht dann auch das oberflächliche Verständnis von Heraklits Beinamen ‚der Dunkle‘. Das Verbergen und das Entbergen des Sagens ist im Zeichengeben vereinigt. Das Sagen als Zeichengeben ist das sich-verbergende Entbergen. Was durch Zeichen angedeutet wird, kann das Werdende, das Werden des Werdenden und das Werden selbst sein, aber was eigentlich in jedem möglichen sagenden Zeichen angedeutet wird, ist der Logos selbst als das Immerseiende (τοῦ δὲ λόγου τοῦδ’ ἐόντος αἰεί, DK 22 B1). Indem der Logos sich entbirgt, verbirgt er sich im Entborgenen. In der Sprache aber, die keine Zeichen gibt, sind das Entbergen und Verbergen nicht vollkommen vereinigt, sondern in ihrer 12

Vgl. Iambl. Ib. Sect. VII, 1.

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Igor Mikecin

Einheit entzweit. Wenn die Sprache das Werdende nur zu entbergen trachtet und nicht zugleich auch bewusst verbirgt, entbirgt sie nicht den verborgenen Logos seines Werdens, und er bleibt im Werdenden verhüllt. Wenn die Sprache den Logos nur zu enthüllen versucht, ohne auf seine eigene Verborgenheit zu achten, und das heißt, nicht in Zeichen spricht, verhüllt sie ebenso den Logos, weil die Verborgenheit immer schon dem Logos gehört (vgl. DK 22 B123). Er ist nämlich in seiner Wahrheit nicht das Entborgene schlechthin, sondern gerade das Un-verborgene. Wenn aber das Verbergen in der Sprache maßlos überwiegt, verhüllt sie nicht nur den Logos, indem sie überhaupt nicht auf ihn hört, sondern auch das Werdende, indem sie es nicht als dasjenige entbirgt, worin sich der Logos selbst verbirgt. Jedes Sprechen entbirgt und verbirgt seinem Wesen nach zugleich. Aber während das wahre Sprechen aus der Einheit der Gegensätze Zeichen gibt, entzweit das unwahre Sprechen die Gegensätze. Trotz dieser Entzweiung können die Gegensätze aber nie getrennt werden. Die übermäßig entbergende Sprache ist die erklärende und begründende Sprache der Vielwisserei (πολυμαθίη), die für die wahre Einheit des Logos taub ist. Im Gegensatz dazu ist die Sprache, die übermäßig verbirgt, die verhüllende Sprache der unverborgenen Unwissenheit (ἀμαθίη). Beiden entzieht sich die Wahrheit des Logos, und es verliert sich die Einheit des immer Seienden in der zerstreuten Vielheit des Werdenden. Das Zeichengeben entbirgt weder nur noch verbirgt es nur, noch entbirgt es bald und verbirgt bald, sondern es vollzieht beides zugleich in der ursprünglichen Einheit. Es entbirgt nicht zu einem Teil und verbirgt zu einem anderen. Es entbirgt nicht etwas und verbirgt etwas anderes, sondern es ist das Zugleich des Entbergens und Verbergens. Aber das sagende Zeichengeben ist auch nicht bloß ein unvollständiges Andeuten. Im Zeichen ist nämlich der Logos im Ganzen anwesend als abwesend. Durch das Zeichen wird das in ihm Verborgene als das Ab-wesende in die Anwesenheit gebracht. Indem das Zeichengeben durch das Entborgene auf das Verborgene hindeutet, bewahrt es das Verborgene in seiner Verborgenheit und lässt es zugleich im Entborgenen erscheinen. Das Zeichen ist nicht bloß aus dem Gegensätzlichen zusammengesetzt, sondern im Zeichen walten die Gegensätze – das Entbergen und Verbergen – unzertrennlich. Das Zeichengeben als das wahre Sagen entbirgt weder nur noch verbirgt es nur, sondern verbleibt in der wahren Einheit des Entbergens und Verbergens. Aber diese Einheit ist kein Einerlei des Gleichen, sondern die äußerste Spannung des Gegenstrebigen. Das sagende Entbergen des Sagbaren beruht auf dem sichverbergenden Entbergen des Logos selbst. Nur dasjenige Sagen, das so entbirgt, dass es zugleich auch verbirgt, erzeugt die Wahrheit des Logos, denn es entspricht seiner eigenen Unverborgenheit. Als das Un-verborgene ist der Logos das, was nie untergeht (τὸ μὴ δῦνόν ποτε, DK 22 B16). Diesem verbergenden Entbergen entspricht das zeichengebende Sagen.

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Das, worin der immer seiende Logos sich verbirgt, ist das Werden des Werdenden. Der Logos des Werdens verbirgt sich so, dass dieses Verbergen nie durch das Entbergen vernichtet werden kann. Der Logos ist zugleich das Unverborgene, weil er in seinem Verbergen nie untergehen kann. Deshalb ist nur dasjenige Sagen un-verborgen, und das heißt wahr, in welchem die Unverborgenheit des Logos vollkommen zur Sprache kommt. Der Gegensatz von Entbergen und Verbergen ist die Herkunft des Gegensatzes der Wahrheit und Unwahrheit, und folglich der wahren und falschen Rede. Die Wahrheit ist dabei nicht nur das Entbergen und die Entborgenheit; und die Unwahrheit ist nicht nur das Verbergen und die Verborgenheit, sondern die Wahrheit ist eben die Un-verborgenheit, in welcher das Entborgene im ursprünglichen Streit (ἔρις) mit dem Verborgenen liegt, und die Unwahrheit ist die gegenseitige Entzweiung des Entbergens und Verbergens, wobei das zeichengebende Sagen ausbleibt, das allein im Stande ist, die Gegensätze in der Sprache zusammenzuhalten. Als das Sichverbergende im Entbergen ist der Logos das Dunkle. Insofern die Sprache Heraklits dem Dunkeln entspricht, ist auch sie selbst dunkel, denn sie ist notwendig durch das bestimmt, was sie anspricht. Wenn das Sagen dem Sichverbergenden zugesteht, in seiner Unverborgenheit zu bleiben, dann achtet es auf die Verborgenheit als die unerschöpfliche Quelle jedes Entbergens. Heraklit ist dunkel, weil sein entbergend-verbergendes Sagen die Wahrheit des Logos bewahrt und in Übereinstimmung mit ihm selbst sagt. Insofern das Sichverbergen dasselbe wie das Sichentziehen des Logos ist, verzichtet das entsprechende Sagen auf das Aussprechen des Unaussprechbaren. Dem Gesagten im zeichengebenden Sagen gehört immer auch das Unausgesprochene oder das Verschwiegene. Das Sagen Heraklits ist dunkel, weil es auf den Logos hört, der in seinem Entzug nur durch die Zeichen sagbar ist. In seinem Verbergen ist der Logos aber nicht unerkennbar, in seinem Entzug ist er nicht unzugänglich, in seiner Unaussprechbarkeit ist er nicht unsagbar. Im Gegenteil, der Logos ist gerade als das Sichverbergende im Ganzen erkennbar. Das sagende Entbergen verhält sich zum Logos als dem ursprünglich Unverborgenen. Es ist das ausdrückliche Sich-Halten in der Unverborgenheit des Logos. So wie der Logos des Werdens sich in den hörbaren Zeichen kundgibt, und vor allem in Worten, so auch in den sichtbaren Zeichen, besonders im Bogen, in der Leier und im Kykeon. Dem wahren Sagen gehört daher auch das zeigende Werk (ἔργον). Indem Heraklit, laut einer Geschichte, den Kykeon aus Wasser und Gerstengraupen wortlos gemischt und getrunken habe (σιωπῶσαν παραίνεσιν ἐκθείς), vor denen, die bei ihm einen Rat gesucht hätten, habe er ein Zeichen (ἐνδειξάμενος ἐμφαίνων) der Bescheidenheit und der Einfachheit, der Unbedürftigkeit und der Selbstgenügsamkeit gegeben.13 Das Mischen und Austrinken des Kykeon ist das schweigende Zeigen der Tugend durch das Werk und zugleich das Zeigen der Wirkung des Kykeon. Wie das Werk, so gibt auch 13

Siehe Plut. De garr. 17, 511b; Themist. De virtute, p. 40.

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Igor Mikecin

der Spruch in sich selbst das Zeichen dessen, wovon die Rede ist, denn das Sagen ist in seinem Wesen das Zeigen und Verweisen. Der Gegensatz von Verbergen und Entbergen erscheint also auch als Einheit von Schweigen und Verlauten. Die übermäßig entbergende Rede achtet nicht auf das Schweigen und das Unaussprechbare, sowie umgekehrt das übermäßige Schweigen auch dann auf das Wort verzichtet, wenn das Sagbare noch immer aussprechbar ist. Das wahre Sagen achtet auf das wahrhaft Unaussprechbare und schließt in sich das sagende Schweigen. Damit wird das Unaussprechbare durch das Ausgesprochene gesagt. So ist der Verzicht auf die Benennung dessen, was sich durch das Sagen verkündet, das weder nur entbirgt noch nur verbirgt, die Eigenschaft des wahren Sagens selbst (vgl. DK 22 B93). Jedes Werdende ist das Zeichen des Logos, die Stätte seines sichverbergenden Entbergens. Aber die Worte sind unter allem Werdenden die besonderen Zeichen, weil durch sie alles als das Zeichen des immerseienden Logos angedeutet wird. Heraklit spricht mit Worten als Zeichen, so dass das Werdende, das in der Sprache zum Wort kommt, wiederum zum Zeichen des Logos selbst wird. Durch das zeichengebende Sagen, das dem Logos des Gesagten entspricht und in Übereinstimmung mit ihm das Gemeinsame sagt, geschieht das λέγειν des an sich lautlosen Logos sprachlich. Ein solches Sagen nimmt den Logos nicht als seinen Gegenstand, über den etwas Wahres gesagt wird. Der Logos ist überhaupt nicht bloß der gedankliche Inhalt des sprachlichen Ausdrucks. Das wahre Sagen gesteht dem Logos selbst zu, in seiner Wahrheit zu seinem eigenen Wort zu kommen. So wird der Logos durch das zeichengebende Sagen, das weder nur entbirgt noch nur verbirgt, in seine eigene Unverborgenheit gebracht.

Alina Noveanu

Das Genießen der Aphrodite Zu den Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons Symposion

Darum habe ich mich auch so herausgeputzt, um schön zum Schönen zu gehen. Platon, Symposion, 174a-b

Dass die Poesie ausgerechnet die Liebe verpasst hätte, will keiner glauben. Die Liebe lebte immer schon im Gedicht. Nichts eignete dem Melos mehr als die süße Begleitung der Lyra. Dagegen ist jeder Diskurs über die Liebe ein potentieller Angriff auf die ihr eigene Rhythmik. Reden über die Liebe laufen Gefahr, sich dem wissenschaftlichen Diskurs zu unterwerfen, ja, sie können anatomisch werden – und die Erotik das Anatomischen hält sich in engen Grenzen, im Vergleich zur Lebendigkeit des Gedichts als verwahrendem ,Körper‘ des Liebesgeschehens selbst. Wie steht es aber um die verschiedenen Töne der Sprache der Weisheitsliebe? So kommt es, dass alles europäische Reden über Liebe mit verkaterten Männern beginnt, deren Prosa als medientechnische, nämlich aufschreibbare Innovation nur eine Leerstelle der Poesie erfüllen soll.1

Friedrich Kittler bezieht sich mit seinem Satz auf einen wesentlichen Moment des ‚europäischen‘ Liebes-Diskurses, der sich aus dem Gedicht und zugleich in Abgrenzung von der Dichtkunst entwickelte. Er beruft sich damit auf Platon, der im Symposion die Sache des Eros und ihre Bedeutung für die Philosophie auslegt und zwar im gleitenden Übergang vom Hymnos zur Lobrede. Das europäische Philosophieren über die Liebe bedient sich also in der Begründung seines Diskurses eines Vorwandes, eines Tricks, so wie es oft die Götter tun, wenn sie einen der auserwählten schönen Sterblichen verführen wollen. Kein Lobgedicht wurde auf den Eros gedichtet, kein enkómion, so die bedauernde Feststellung des Pausanias (177a)2. Die versammelten Männer, die sich noch von der vorigen Nacht erholen, versuchen nun die Lücke auszufüllen – und zwar mit schönen Lobreden, mit lógoi, epaínoi.

1 2

Friederich A. Kittler: Die Wahrheit der technischen Welt, Berlin 2013, S. 330. Die folgenden Angaben verweisen soweit nicht anders vermerkt auf Platons Symposion (Zitate in der Übersetzung von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2012).

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Auch wenn Liebe ohne Schönheit nicht vorstellbar ist, ist diese Engführung zunächst erschlichen. Ob sich Sokrates nun schön macht, um zum Schönen (und Guten) zu gehen oder ob es die jugendliche Schönheit des Phaidros ist und sein Eifer um ein Leben, das „auf schöne Weise“ (178c) gelebt werden sollte: Dieses mythische Tandem Eros und Aphrodite philosophisch zu durchdringen, das ist doch letztlich die Aufgabe, die Sokrates gestellt wird als einem, der sich in allem für unwissend erklärt, bis auf die Sache der Liebe (177d). Zu seinem Wissen ist er einst durch die Hilfe der einzigen Frau gelangt, die im Werk Platons einen Großauftritt bekommt und dabei nichts Kleines leistet. Sie hat alles schon durchblickt, die göttliche Diotima, die Priesterin aus Mantineia, die ihr Volk vor dem Ausbruch einer furchtbaren Seuche zu bewahren wusste und durch die der junge Sokrates auch die ersten ‚Einweihungen‘ in Liebesangelegenheiten erhielt. Unklar bleibt, ob er damals bereits über die kleineren ‚Mysterien‘ hinauszublicken vermochte, über die erotiká, die ihm Diotima nach und nach offenbart. Dann hält sie an einer Stelle ihrer Rede inne. Was folgt, ist für den jungen Sokrates etwas gänzlich Neues. Es geht viel um Blicke, um das Erfahren und Berühren einer ‚Sache selbst‘ „an sich und für sich und in sich ewig in einer Gestalt“ (211b). Wir können aus dem Aufbau der Diotimarede wohl bestimmte Stufen der Mysterieneinweihung herauslesen.3 Ob mystische Berührung oder reiner Rausch: Das Phänomen der Liebe und des Liebens zeichnet sich auf hervorragende Weise dadurch aus, dass Liebe kein Widerfahrnis ist, das sich als solches allein über die Schrift machen ließe. Die Weisen ihrer Übertragung sind weder die der hysterischen Identifizierung noch die der – an sich problematischen – Überlieferung von Wissen. Sokrates lässt Letzteres im Wollfaden-Gleichnis anklingen (175d). Auch ist ihre eigentümliche Dialektik nicht die des Diskurses. Die lógoi selbst sind auch nach der zweiten durchzechten Nacht nicht zu Ende, auch wenn der Eros letztlich – passenderweise – einer uns nicht mehr überlieferten Diskussion über Komödien- und Tragödiendichtung Raum lässt. Die Teilnehmer am Symposion schlafen einer nach dem anderen ein. Nur die (sokratischen) Reden fließen weiter, während sich ihr Urheber unbekümmert den restlichen Wein einflößt. Worte und Reden werden, so sehen wir am Beispiel des Sokrates, nicht einfach übertragen, sondern sie verwandeln sich und wandern über in denjenigen, der sie gut verträgt: Was sie hier ,zeugend‘ erzeugen, ist selbstverständlich auch ein Eros-Geschehen. All dies gilt als Urform einer „Prosa über Liebe“, die, wieder mit Kittler gesprochen, „(zumindest bis vor Nietzsche) den Rausch als Leerstelle weiterträgt“4. Gleichzeitig handelt es sich – so die These Kittlers – bei der vom Abendland praktizierten Liebe um eine ‚Verfallsgeschichte‘. Die langsame Trennung von Rausch und Liebe ist eine Geschichte der ‚Ernüchterung‘, die zwar an den 3

4

Vgl. dazu Manuel Schölles: Die Mysterien des Schönen, in Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche, Tübingen 2010, S. 174– 192. Kittler: Die Wahrheit, S. 330.

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Rausch des Vortags noch anknüpfen konnte, aber „an deren Ende das nüchterne Wissen und das nüchterne Reden von Sex stehen“ 5. Auffällig also, dass gerade Sokrates, der die Liebe ‚wusste‘, den Anfang dieser Verfallsgeschichte markieren soll. Wie konnte es passieren, dass der, der nichts wusste, zum ersten (und vielleicht letzten) ‚Wissenden‘ der Liebe wurde? Wir werden versuchen, uns der Antwort auf diese Frage und dem Geheimnis des Sokrates anzunähern, indem wir einige Gestalten des Eros und der Aphrodite betrachten, wie sie uns Platon in seinem Symposion vorstellt. Die Weise, wie der Eros berührt, ist ohne den Umweg über die Schönheitsmysterien nicht nachvollziehbar. Das Ergriffensein vom silenenhaft Schönen, Verführerischen des Sokrates wird uns auch zum Schluss des Dialogs beispielhaft vorgeführt. Oder bekommen wir dort nur ein falsches lebendes Beispiel, das eines maßlos Verliebten und in seiner Lüsternheit eher mit Vorsicht zu genießenden Liebenden? Sollten wir uns doch besser an den Aufstieg von den Leibern zu den Seelen und zum Schönen selbst halten und die Symposion-Lektüre nach der Diotima-Rede gar weniger aufmerksam fortsetzen? Der Auftritt des liebes- und weintrunkenen Alkibiades (ein Doppelrausch!) und die Geschichte seiner von Sokrates nicht erwiderten Leidenschaft ist wohlbekannt. Der nüchterne Geliebte des schönen und entflammten Liebhabers redet zwar über den Eros, bleibt aber vom Begehren selbst unberührt. Sokrates scheint gleichsam am anderen Pol der erotischen Skala zu stehen, der ‚Trunkenheit‘ des Alkibiades gegenüber, er, der nur ‚nüchterne‘ lógoi über die Liebe liebt. Entsprechend listig entwirft Platon auch zwei gegensätzliche Erscheinungsweisen der Aphrodite und damit logischerweise auch des Eros: eine noble, himmlische und eine irdisch-gemeine, die durchaus auch dem Modell des Seelengespanns mit den beiden ungleichen Rosse im Phaidros6 assoziiert werden können. Diese beiden leicht moralisierend zu missdeutenden Gestalten des Eros und der Aphrodite führt Platon im Symposion interessanterweise nach der schönen Rede des schönen Phaidros ein. Dieser hatte in seiner Rede über die göttliche Liebe des Achilles zu Patroklos davon berichtet, wie der Geliebte (der schönere und stärkere Achill), zum Liebenden geworden, bereit gewesen war, seinem Freund in den Tod zu folgen. Eine Liebe auf Augenhöhe also, die dem gewöhnlichen Modell der Knabenliebe beziehungsweise des Lehrer-SchülerVerhältnisses nicht mehr entspricht. Diese beschreibt Phaidros aber als die von den Göttern meistgeschätzte und gewürdigte Liebe: „Daher zollten die Götter ihm [Achilles] höchste Bewunderung und ehrten ihn vor allen anderen, weil er seinen Liebhaber so hoch geachtet hatte“ (180a). Denn auch wenn die Götter das Gewöhnliche, die Liebe des Liebhabers zum Geliebten gut heißen: „[...] mehr noch allerdings bewundern und preisen und entgelten sie, wenn der Geliebte den Liebhaber liebt, als wenn der Liebhaber den Geliebten“ (180b).

5 6

Ebd., S. 329. Phdr. 246a ff.

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Was es mit dieser Umkehrung des Verhältnisses vom Geliebten zum Liebhaber auf sich hat, darüber gibt vielleicht die Schlussszene des Dialogs genauer Aufschluss. Alkibiades, der jüngere, der daher klassischerweise für die Rolle des Geliebten bestimmt ist, wird zum Liebenden und bietet so den Vergleich zu Achill. Eine schwache Stelle hat Alkibiades aber auch – und jetzt endet unser Vergleich –, denn obwohl er die Schönheit in Sokrates erblickt hat, verfehlt er in seiner Liebe das Wesentliche und verfällt einer Maßlosigkeit, die seine Seele verunstaltet. Seine ungebändigte Leidenschaft und sein Größenwahn bereiten den Untergang vor, seinen eigenen und den seiner Stadt. Und Sokrates, der den Wechsel zum Geliebten gemacht hat, wen oder was begehrt er? Wir kommen darauf zurück. Zunächst scheint es in der Liebe darauf anzukommen, die heftigen Leidenschaften bändigen zu lernen. Schön sein heißt, in der Liebe wie im Genuss das Maß zu halten. Für alles, was in der Intensität keine Grenzen des Komfortablen überschreitet, steht im Symposion Eryximachos. Als Modell für eine gesunde Lebensführung im Allgemeinen und nicht nur in einer Liebesbeziehung könnte dessen Rede einen weiteren Schlüssel für das Verständnis des weiten Umfelds der sogenannten ‚platonischen Liebe‘ bieten. Zuvor aber sind es die Worte des erfahrenen Liebhabers des Agathon, die eine Differenzierung einführen. Pausanias beginnt so: Nicht schön, scheint mir, Phaidros, ist uns das Thema gestellt, wenn uns so schlechthin aufgetragen ist, Eros zu preisen. Denn wenn es nur einen Eros gäbe, dann wäre das schön. Tatsächlich aber gibt es nicht bloß einen; wenn es aber nicht bloß einen gibt, dann ist es richtiger, daß zuvor bestimmt wird, welchen von beiden man loben soll. Ich werde also versuchen, zu berichtigen und zunächst den Eros zu kennzeichnen, den man loben muß, dann ihn zu loben in einer des Gottes würdigen Weise. Wir alle wissen, daß es ohne Eros keine Aphrodite gibt. Wäre sie also nur eine, so würde auch Eros nur einer sein; da es aber nun zwei sind, muß es notwendig auch zwei Arten des Eros geben. Wie sollten aber nicht der Göttinnen zwei sein? Die eine ist die ältere und mutterlose, die Tochter des Uranos, die wir dann auch die himmlische nennen, die jüngere aber ist die Tochter des Zeus und der Dione, die wir die Allerweltsgöttin (die gemeine) nennen. Notwendig wird dann auch der Eros, der der letzteren zur Seite steht, zu Recht der gemeine genannt, der andere aber der himmlische. (180c-e)

Die Verkürzung der Vielfalt der Aphroditengestalten, die in all ihren antiken Beinamen nachwirkt,7 hat hier einen didaktischen Zweck. Bislang war die Rede von dem einen – und einzigen – Eros, dem ältesten Gott, ohne dessen Berührung nichts Werkhaftes bei Menschen entstehen kann und keine Heldentat. Vor allem aber dient die erste Rede, die Rede des Phaidros, dazu, die Verknüpfung von Eros und Schönheit zu verfestigen. Schön zu reden über das Schöne, das ist der Wunsch der Gesellschaft beim Trinkgelage, wenn sie Eros als The-

7

Vgl. z.B. Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen, Stuttgart 2016, S. 56 ff.

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ma wählt. Darauf hatte sich Sokrates bereits im Voraus vorbereitet, ohne zu wissen, was auf ihn zukommen würde. Nun wird allmählich der Boden für eine komplexere Sicht vorbereitet, eine, die auch die weniger schöne und vielleicht sogar gefährliche Gestalt des Eros thematisiert. Eine etwas undemokratische, aber durchaus griechische Betrachtung des Wesens der menschlichen Gemeinschaften spielt da untergründig hinein: Wir hören, es bleibe den Wenigen vorbehalten, schön zu lieben, den anderen aber, den Vielen, wäre Liebe nur auf gemeine Weise bekannt. Pausanias geht es aber nicht allein um die Trennung zwischen seelischer und geschlechtlicher Liebe, sondern hauptsächlich um eine andere. Es geht darum, im Wie des Handelns überhaupt, im Vollzug eines Aktes Schönheit oder Hässlichkeit entstehen zu lassen: Mit jeder Handlung verhält es sich folgendermaßen: An und für sich selbst ist, sie zu tun, weder schön noch häßlich. Was wir zum Beispiel jetzt hier machen, trinken oder singen oder uns unterhalten, davon ist nichts an und für sich schön, sondern erst im Tun wird es so, wie es getan wurde; denn schön und richtig getan wird es schön, nicht richtig aber häßlich. So also auch das Lieben und der Eros: Nicht jeder ist schön und würdig, verherrlicht zu werden, sondern nur der, der dazu antreibt, schön zu lieben. (180e-181a)

Auch wenn die Abwehr des Körperlich-Geschlechtlichen dem platonisierenden Leser Platons immer noch den Leitfaden in Sachen Erotik bietet (Pausanias, könnte man meinen, verfolge in seiner Rede eigene Interessen), geht es hier offenbar nicht um einen bestimmten Akt oder eine bestimmte Handlung, sondern allein darum, etwas (zum Beispiel die Liebe) ,schön‘ auszuführen, sie einem ,Lebensstil‘ harmonisch einzugliedern. Es geht also wie so oft bei Platon um die Sorge um den Gesamtkontext. Ein schönes Ganzes muss gewahrt bleiben, doch diese Schönheit herzustellen, kommt nicht dem Eros zu. Es ist die Schönheit, Aphrodite, die das Entflammtsein überprüft, die das Begehren normiert. Schwierige Situation, denn gerade vom Entflammten kann wenig Nüchternheit hinsichtlich seines Liebesobjekts erwartet werden. Der Hinweis des Pausanias ist hier etwas zweideutig: Der Eros der gemeinen Aphrodite ist also auch in Wahrheit gemein und bewirkt, was sich eben trifft. Dieser ist es dann auch, den die gewöhnlichen Menschen lieben. Es lieben aber solche erstens nicht minder Frauen als Knaben, sodann, gleichviel wen sie lieben, bei denen mehr den Körper als die Seele und ferner, so sehr sie nur können, die Törichtsten, weil sie allein auf ihre Befriedigung sehen und sich nicht darum kümmern, ob es auf schöne Weise geschieht oder nicht. Daher ergibt es sich für sie, dass sie tun, was sich gerade trifft, ebenso Gutes wie auch das Gegenteil. (181a–b)

Wir versuchen, einige Züge des Eros der gemeinen Aphrodite festzuhalten. Die Zufälligkeit, das Nicht-Wissen um sich und das Handeln, wie es sich „trifft“, sprechen dabei nicht gegen den Charakter der Unverfügbarkeit, wie es dem Liebesgeschehen (als ‚Schickung‘, als Empfang, wenn man so möchte) immer schon eignet. Kritisiert wird nicht die Weise des Getroffenseins, sondern die

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Verweigerung der Übernahme dieses Geschehens im Wissen um sich und im Handeln. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gemeinen bei ihrem Lieben Gutes vollbringen (oder auch Schönes). Sie tun das aber ohne Überlegung, ohne auf das Schöne und Gute ihres Handelns oder auf die Wirkung im Gesamtzusammenhang zu achten. Blind für das Ganze zielen sie nur auf ihre eigene Befriedigung. Dass sie dabei häufig „mehr den Körper“ als die Seele des Geliebten begehren, bezeichnet ein trauriges Missverhältnis, doch scheint dies zweitrangig zu sein, verglichen mit der Gefahr des Besitzenwollens, des Missbrauchs der Sache zum Zwecke des eigenen Wohls. Damit wäre man schon bei der prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen dem Philosophen und dem Sophisten. Beide sind, auf unterschiedliche Weise, auf den Eros angewiesen im Umgang mit den schönen lógoi. Wer aber ‚hat‘ das Wissen, und was ist es für ein Wissen, wenn es sich nicht um eine allgemein übertragbare Sachkenntnis handeln soll? Für die Ausbildung der erotischen Tugend gibt es keine klaren Maßstäbe. Vieles ist möglich und dennoch: Sitten bezüglich der Schönheit von Liebesangelegenheiten, (erotische) Gesetze, Normen und Bräuche, wie sie Pausanias aufzählt, lassen sich nicht ohne Weiteres auf jede Situation übertragen und werden an verschiedenen Orten auch anders gesehen und gelebt. So ist auch eine eindeutige Normierung der Liebesverhältnisse für Pausanias eher gefährlich: Also, wo es als häßlich gilt, den Liebhabern nachzugehen, hat das seinen sicheren Grund in der Schlechtigkeit derer, die diese Sitte festgesetzt haben, nämlich in der Selbstsucht der Herrscher und in der Feigheit der Beherrschten. Wo es aber schlechthin als schön gilt, da hat dies seinen Grund in der Trägheit der Seele derer, die dies festgesetzt haben. (182c-d)

Es gibt also keine eindeutig zu empfehlende Ethik des Liebens, aber, so Pausanias, eine viel schönere Sitte habe sich „hier“ eingebürgert, eine, die sich nun zu rechtfertigen böte. Zunächst rühmt Pausanias die Idee einer totalen Toleranz und Transparenz aller möglichen Liebesverhältnisse (denn „es sei schöner, offen zu lieben als heimlich“, 182d). Zu diesem Recht, offen zu lieben, befähige nun gerade die Intensität der Liebe eines Liebhabers für den Geliebten. All is fair in love and war, so gibt Pausanias zu verstehen, denn was bei einem Nichtverliebten zu tadeln oder zu schmähen wäre, Unterwürfigkeit und Kriecherei, das sei einem Liebenden gestattet, „als wäre es etwas über die Maßen Schönes, was er da vollbrächte“ (183b). Starke Liebe rechtfertigt alles, so lange sie dabei „schön“ ist – und nun kommt die Pointe des Pausanias: „ein ganzes Leben lang“. Nicht weil die Liebenden es sich geschworen haben („ein Liebesschwur sei gar kein Schwur“, 183b), sondern weil jeder der Liebenden auf seine Weise, „verschmolzen ist mit etwas, das Bestand hat“ (183e). Dies alles kennzeichnet den Liebhaber der Sinnesart, die eine gute und keine gemeine ist. Pausanias schließt mit einem Lob auf diese Liebesgemeinschaft, deren Prüfstein und Tugend bei aller Relativierung dessen, was und für wen etwas „schön“ sei, doch letzlich nur die Dauer sein kann.

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Auch der nächste Redner Eryximachos ist in Sachen Liebe höchst liberal: von allem genießen dürfen, solange sich der „frevelhafte“ Eros fernhält und der „anständige“ für die maßvolle Mischung sorgt. Anständigkeit und gute Musik, so spricht der besonnene und durchaus sympathische Arzt, das tut Leib und Seele wohl, denn so wie die Heilkunst als Lehre von der Harmonie des Körpers eine Wissenschaft ist, so auch die Musik, „indem sie ihm gegenseitige Liebe und Eintracht einpflanzt; […] eine Wissenschaft von der Liebe in Bezug auf Harmonie und Rhythmus“ (188c). Eryximachos hat mit seiner Rede und in seinem Appell zur Mäßigung durchaus Recht. Aber Eryximachos hat leicht reden. Er trinkt an dem Abend nicht (auch eine radikale Entscheidung), und so ist auch seine Schmähung der Intensitätsstärken am ‚Tag danach‘ und in der neuen Trinkrunde doch eher unangenehm – selbst wenn wir ihm die Einführung der Idee der Harmonie verdanken und ihm nicht unterstellen wollen, dass er ein kleines bißchen geheuchelt hat. Aristophanes, der inzwischen sein Schluckauf in den Griff bekommen hat, schließt mit seiner notorischen Rede über Kugelmenschen an, die, einst getrennt, nach Vereinigung und Verschmelzung trachten. Auch das, was der Komödiendichter über den Eros vorträgt – interessanterweise unter Auslassung der Aphrodite – dürfte jedem vertraut sein: das Begehren, die eigene andere Hälfte zu finden, die vermisste und ersehnte Einheit wiederherzustellen und so mit dem Geliebten glücklich und selig zu sein für alle Zeiten. „Diese Begierde also und dies Streben nach dem Ganzen nennt man Liebe“ (192e–193a). Selbst wenn die Liebenden nie erfahren werden, was sie voneinander wollen – dies gehört zur Tragik der Liebeskomödie –, gibt es hier und da Momente der Erfüllung: Diese wurden (zumindest technisch) nach dem Ur-Verlust möglich und zwar, witzigerweise, durch den chirurgischen Eingriff keines anderen als Hephaistos’, eines Gottes, der auch seine Erfahrungen mit Aphrodite gemacht hat. Nun folgt die rhetorische Glanzleistung des Agathon, der alle begeistert. Agathon redet schön und rund. Er deckt den Fehler aller bisherigen Reden auf – denn sie handeln ja von den Menschen und nicht von dem Gott Eros – und unternimmt seinen eigenen Durchgang durch die Kardinaltugenden. Ein Loblied auf den Eros, das kriegt Agathon virtuos hin: Er ist der Schönste und Beste, der Jüngste, der Besonnenste, Gerechteste und auch der Weiseste. Alles gut argumentiert und, als Krönung, zwei inspirierte Verse. So sei Eros: der da schafft Frieden unter den Menschen, dem Meer aber Stille, ein Schweigen der Stürme und leidlosen Schlaf. (197c)c

Der Beifall ist groß. Der so gezähmte Eros ist greifbar geworden. Keinem der Anwesenden fällt ein, sich über die Flachheit der Rede ihres Gastgebers und Preisträgers zu beschweren. Umso kraftvoller der Eintritt des Sokrates. Sein Verriss der vorherigen Reden ist hart und knapp. Diejenigen, die um den Eros wissen, würden nie solche Reden auf seine Schönheit verfassen, auch nicht mit schönen Worten spielen. Nichts anderes als die Wahrheit wolle er über den Eros sagen, aber gemäß der týche, in Worten, die dem Augenblick und dem Zufall entspringen, Worte, wie sie sich ergeben. Keine vorgefertigte Rede,

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keine bloß schönen lógoi, das kennzeichnet das Philosophieren gegenüber dem sophistischen Putz, der in Agathons Diskurs als leere Schönheit und falscher Glanz offenbar wurde. Was Sokrates mit Diotima anbietet, ist der in der Rede aufsteigende Eros zur Wahrheit des Schönen selbst. Das Reden über entbirgt eine andere Dimension und stellt die gesamte Existenz des Empfängers des Logos in Frage. Ob Einweihung oder nicht, dieser Diskurs ist keine bloße Übertragung von Informationen. Es geht auch nicht ums Überzeugen. Woran Diotima zweifelt, kann weder die intellektuelle Ausstattung des Sokrates noch sein Wille zu wissen sein, sondern es ist seine Fähigkeit, als der junge Mann, der er damals war, sich die ‚höheren‘ erotiká auch entsprechend einzuverleiben. Zunächst sollen aber die bisher angesprochenen, dennoch dürftig ausgeführten Aspekte des Erotischen zusammengefügt werden. Es geht um eine Korrektur, die Momente der Vorreden aufgreift und auf diesen aufbaut. Aufgenommen werden die Verbindung des Eros zum Schönen, sein Gefahr- und Mangelwesen, die belebenden Effekte auf den Menschen und auch die Gründe, warum er sich in der Unerschöpflichkeit seiner Gestalten immer wieder entziehen muss. Der Eros, so der erste Gang der ‚Einweihung‘, ist weder ein Gott noch ist er sterblicher Natur, sondern ein großer Dämon, ein Grenzwesen, aber auch ein Philosoph. Er vollzieht den Umgang der Götter mit den Menschen, er ermöglicht alle Zwiesprache, sowohl im Wachen, sagt Diotima, wie auch im Schlaf. Dann folgt der Mythos. Diotima spricht von Eros als einem Kind des Poros, dem Wegefinder und der Armut, der Penia. Ein Mangelwesen ist er also schon, das eine merkwürdige Sehnsucht nach dem Überfluss, nach göttlicher Unsterblichkeit erweckt. Wer sich auf ihn einlässt und ihn versteht, sei ein ‚dämonischer‘ Mensch. Nur ihm sei gewährt, ein Gottgeliebter, theophilés, zu werden, sollte er die wahre Tugend erreicht haben, nämlich das Schöne für sich selbst und als es selbst, durch alle Erscheinungen hindurch zu erblicken. Bezeichnenderweise wird Eros auf dem Geburtsfest der Aphrodite gezeugt, denn „das Geliebte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Vollendete, glücklich zu preisende. Der Liebende aber hat eine andere Gestalt, so, wie ich es dargelegt habe“ (205c). Eine erste Schlussfolgerung wird hier möglich: Das rein erotische Verhältnis bedeutet immer ein Ungleichgewicht. Der Liebende begehrt am Geliebten dasjenige, woran ihm ermangelt. Und deshalb würden die Götter auch nicht philosophieren, so die berühmte Aussage Diotimas (204a). Zumindest solange diese philía nur einen Aufstieg zur Weisheit vermeinen würde. Aber dies wäre von uns zu kurz gedacht. Dass das Göttliche dennoch einen Anteil an Freude hat, eine andere Form von Genuss, könnten wir mit dem Timaios8 versuchen nachzuvollziehen. Wenn sich der Demiurg angesichts der Schönheit des von ihm erschaffenen Kosmos freut, dann ist das eine Freude, die mit Aufhebung 8

Vgl. Ti. 34b, wo von der Erschaffung des Weltalls als „seliger Gott“ von eudaimonía die Rede ist.

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von Mangelzuständen nichts zu tun hat, sondern mit reinem Genuss. Auch scheinen die Götter etwas für besonders tugendhafte Menschen zu empfinden (und auf den Erwerb der Tugend zielt der erotische Weg): philía als Liebe unter Gleichgesonnenen, gleichzeitig Freundschaft und höchste Achtung.9 Diese Beziehung auf Augenhöhe scheint für die Griechen die höchste Form des Umgangs gewesen zu sein. Um theophilés zu werden, muss der Einzelne zunächst dämonisiert, sprich, den Weg der erotischen Einweihung gegangen sein, aber letztlich nicht, um die Liebe zum Anderen zu erfahren und sein Begehren zu stillen, sondern um darüber hinaus die Freundschaft zu sich selbst zu erlangen. Die Zeugungsfähigkeit im Schönen und nicht das Schöne als Ersatz für den eigenen Mangel, das, so Diotima, ist die Pointe des gesamten Erosgeschehens. Und zugleich ist es die Art Unsterblichkeit, die den Sterblichen vorbehalten bleibt. Was ergibt sich aber auf der höchsten Stufe der Einweihung? Wir haben Gründe zu vermuten, dass es sich sowohl um ein Sehen wie auch um ein Berührtwerden handelt, und zwar seitens des Schönen ,selbst‘. Wir wissen nicht, wie es sich zuträgt. Diotima erzählt nichts darüber. Eine Leerstelle, ein Rausch, ein Übergang. Das Schöne selbst nicht für einen selbst zu begehren, sondern sich von diesem her neu und anders zu erleben, es zu empfangen und dann etwas zu zeugen, dieses Ganze erfordert eine gewaltige Blickumkehr. Wenn sie gelingt, wird aber in dieser Umkehrung der Liebende, der sich im Eros auf die Sachen Einlassende, zum Geliebten von Menschen und Göttern. Durch ihn wird Schönes gezeugt. Davor dürfte er aber viel Schönes geliebt und er muss schön geliebt haben.

Schlusswort Das ist es, ihr Männer, was ich an Sokrates lobe. Und was ich wiederum tadle, habe ich darunter gemischt und euch erzählt, wie er mich verspottet hat. Nicht mir allein hat er jedoch dies angetan, sondern auch Charmides, des Glaukon Sohn, und Euthydemos, des Diokles Sohn, und noch gar vielen anderen, welche er täuscht, als wäre er der Liebhaber und sich dann doch eher als der Geliebte herausstellt anstelle des Liebhabers. (222a–b)

Alkibiades ist entsetzt, und auch andere schöne Jünglinge, die sich gern als Geliebte des Sokrates geträumt hätten, sind es. Sokrates pflegt den Umgang mit ihren Seelen und vermeidet die körperliche Vereinigung. Platonische Verweigerung? Leibfeindlichkeit? Oder aber: Ist er sich selbst genug befreundet und seinem Gott, so dass sein Begehren auf anderes zielt? Rührt daher seine dämonische Anziehungskraft? Sokrates wurde vom Liebenden zum Geliebten. Das ist, was die Götter von ihren Lieblingen erwarten. Vermutlich hat Sokrates seine vielen Lieben gehabt, aber irgendwann wurde er doch auf andere Weise gewaltig (deinós, 207c). Früher nur, so heißt es, soll er gezeugt haben. Jetzt 9

Vgl. dazu u. a. Thomas A. Szlezák: Freundschaft zwischen Gott und Mensch, in Koch/ Männlein-Robert/Weidtmann: Platon und das Göttliche, S. 216 ff.

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schreibe er keine Werke, aber als Maieutiker ist er selbst zum Werk geworden: Ein Liebeswerk Platons und, möglicherweise, die dritte Gestalt der Aphrodite im Symposion. Sokrates mag so ausgesehen haben wie Marsyas, aber die Haut seines Begehrens hat er längst abgestreift. Die ‚dorische Harmonie‘, das in sich Ruhende seines bíos und die schlichte Schönheit seiner lógoi zieht die anderen an, ist aber der Anderen nicht bedürftig. Zum Schluss also doch eine Aphrodite ohne Eros? Hier wäre Vorsicht geboten. Auch wenn es sich um keine der Erosgestalten handelt mit denen Pausanias zu verführen versteht: Das Begehren umkehren zu können, scheint die geheime Kunst der schönsten der Aphroditen zu sein. Sie gewährt ihren Lieblingen Genussfähigkeit, das Einhalten des Maßes bei höchster Leidenschaft und lange Nächte gefüllt mit Gesprächen bei nüchterner Trunkenheit.

Joachim Schneider

Werden - Entstehen und Vergehen - in der Philosophie der Vorsokratiker Die Erfindung der Endlichkeit

Am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte steht das Nachdenken über ‚Entstehen und Vergehen‘ im Zentrum der Reflexionen der Vorsokratiker des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr., sei es, dass sie dabei den Schwerpunkt der Kosmogonie, Physik, Zoologie oder Anthropologie bedenken. Können wir das nachvollziehen? Hat diese Philosophie einen so hohen Stellenwert, sind ihre Aussagen so überzeugend, dass wir sie mehr als zweitausend Jahre danach noch für zitierfähig halten? Oder ist es die bloße historische Reminiszenz, die sie als Vordenker der klassischen Periode Griechenlands bedenkt? Sind ihre Aussagen vielleicht in noch vorwissenschaftlichem – noch mythologisch anmutendem – Gewande so lohnend, unserem Thema einen verständlicheren Zugang zu verschaffen? Wir stehen mit dem Denken der Vorsokratiker an einer bedeutenden Wende. Wurden vormals die alltäglichen und auch die bedeutsameren Ereignisse dem Einfluss übermächtiger Gottheiten zugeschrieben, setzt sich in dieser Zeit die Tendenz durch, Naturphänomene oder vermeintlich schicksalhafte Verläufe mehr und mehr rational zu erklären. Dabei erfolgte die Relativierung mythischer Begründungsweisen evolutionär, denn mit dem rationalen Erklären natürlicher Ursachen wurden nicht auch gleich die Gottheiten abgeschafft. Dafür steht Thales in besonderer Weise, der pantheistisch „alles voller Götter sah“1. Diese evolutionäre Entwicklung zur Zeit des Thales ist nicht sonderlich verwunderlich, da einerseits viele der damals gedeuteten Phänomene nicht restlos nach Ursache und Wirkung aufgeklärt werden konnten, und der Mythos weiterhin als Erklärungsmodell diente. Zum anderen war und ist der Übergang vom Mythos zum Logos auch von der logischen Seite her nicht abgeschlossen. Viele der damals als logisch dargestellten Vorstellungen waren Hypothesen von nur kurzer Dauer. Wir können mit Aristoteles Thales als jemanden sehen, der mit rationalen Argumenten Zusammenhänge zu erklären versuchte, die ihn zum Begründer einer bis heute gültigen erkenntnistheoretischen Vorgehensweise machte. Er formulierte wissenschaftliche Hypothesen, die nur so lange Gültigkeit haben, bis neue Hypothesen die alten ersetzen. 1

DK 11 A22. Die vorsokratischen Fragmente werden nach der Ausgabe Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch v. H. Diels, hg. v. W. Kranz, 3 Bde, Hildesheim 2006 (Nachdruck der 6. Auflage, Berlin 1956) zitiert. Wo davon abweichende Übersetzungen verwendet werden, wird dies in der Fußnote angemerkt.

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Joachim Schneider

In mythologischer Zeit wurde der Tag-Nacht-Rhythmus mit der Fahrt des Sonnengottes über den Himmel gedeutet. Die Drehung der Erde um ihre eigene Achse war noch nicht erkannt. Blitz und Donner waren Machtinsignien eines strafenden Gottes2, nicht die elektrische Entladung eines Spannungsfeldes. Infolge der Beschäftigung mit kosmologischen Phänomenen konnte Thales die Sonnenfinsternis auf das Jahr 585 v. Chr. richtig vorhersagen. 3 Nachdem Thales die alljährlichen Überflutungen des Nils mit den Passatwinden in Einklang brachte,4 diente nicht mehr eine Gottheit als Erklärung dieses Phänomens. Der Mythos besagte nämlich, die Schleusen der Quellen wären von einer zürnenden Gottheit geöffnet.5 Entscheidend für die Beurteilung meteorologischer oder kosmologischer Erscheinungen waren in jener Zeit natürliche Erklärungen, unabhängig davon, dass nach wie vor das Ordnungsprinzip des Ganzen der Welt der Weisheit von Gottheiten zugeschrieben wurde. Die Todesmythen der vorklassischen Zeit Griechenlands waren alles andere als beschwichtigend. Das Leben nach dem Tod hatte noch viel Ähnlichkeit mit den zuvor beschriebenen archaischen Vorstellungen. Die Menschen im Südosten Europas glaubten nicht an ein glücklicheres Leben nach dem Tod, sondern sahen blutleere Schatten ewig ruhelos in der Unterwelt vegetieren. Die Unterwelt wurde dabei keinesfalls als virtueller oder metaphysischer Raum gedacht, sondern war real auf dem Mittelpunkt der Erde oder buchstäblich unter der Welt verortet. So wie die ‚Oberwelt‘ im Sinne eines Herrschaftsverhältnisses hierarchisch strukturiert war, so war symmetrisch dazu auch die Unterwelt mit einem Herrscher und Beherrschten versehen. Als Herrscher der auf ewig Untoten wurden die Gottheiten Hades und seine Frau Persephone gefürchtet. Das Götterpaar stammte in dritter Generation von der Urmutter Erde, der Gaia, und dem Vater Uranos, dem Himmel ab6 und gehörte so, dem Mythos nach, noch zu den vorolympischen Gottheiten Griechenlands. Die Unterwelt, auch gleichlautend mit dem König der Toten, als Hades oder auch Tartaros bezeichnet, wurde von dem Fluss Styx, mit seinen Nebenflüssen Acheron und Kokytos in neunfachen Ringen umflossen,7 um die Unterwelt für die Sterblichen sowohl für den Hin-, wie für den Rückweg unüberwindlich von der Lebenswelt zu trennen. Styx wurde auch als Gottheit geachtet, wenngleich ihr Name von στυγεῖν, von verhasst, als die Verhasste, abgeleitet war.8 Um in die Unterwelt zu gelangen, bedurfte es am Fluss Styx des Fährmanns Charon mit seinem scheußlichen Wachhund Kerberos, die nicht jeden Willigen gleich zu transportieren

2 3 4 5

6 7 8

Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Stuttgart 1997, S. 28. Herodot, I, 74. DK 11 A16. Wolfgang Röd: Geschichte der Philosophie, Bd. 1 Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, 2. Auflage, München 1988, S. 24. Kerényi: Mythologie, S. 29ff. Kerényi: Mythologie, S. 35. Ebd., S. 35.

Werden - Entstehen und Vergehen - in der Philosophie der Vorsokratiker

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gedachten. Um Charon bei Laune zu halten und ihn geneigt zu machen war es Brauch, den Toten für die Überfahrt kleine Münzen in den Mund zu legen. Der Mythos kennt auch so etwas, was man damals als ausgleichende Gerechtigkeit im Reich der Toten empfand, denn es wurde geglaubt, Minos, der gnadenlose Richter der Unterwelt, ließe es nicht damit bewenden, die einmal Gestorbenen als geisterhafte Schatten ewig im Totenreich zu halten, sondern ließe Frevler auch noch im Jenseits peinigen.9 Wer zu Lebzeiten Schuld auf sich geladen hatte, wurde in Ketten gelegt und ins Gefängnis des Tartaros geworfen und wurde dort von den sogenannten Erinnyen physisch und psychisch gequält, was, so muss man annehmen, auch von den Schatten durchaus erlitten wurde. Noch zu Beginn der christlichen Zeitrechnung wurden getöteten Mördern die Beine gebrochen,10 sei es zur Strafe oder sei es, damit sie ihr schändliches Tun im Totsein nicht fortführen sollten. Neben diesen eher erschreckenden Szenarien des Totenreiches gab es auch ‚die Insel der Glückseeligen‘, zu der allerdings nur einige wenige, privilegierte Heroen im Totenreich Zugang hatten.11 Kurzum, in den gängigen Vorstellungen, die der Mythos zu Sprache bringt, war das Reich der Toten ein beängstigender Ort, der das Sterben keinesfalls zu einer einfachen Sache machte. Homer lässt den Achilles, den überragenden griechischen Helden von Troia, sagen: Preise mir nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus, Lieber möcht ich fürwahr dem unbehüteten Meier, Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun, Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.12

Der Schüler des Thales war Anaximander. Der 25 Jahre jüngere Philosoph stammte wie sein Lehrer gleichfalls aus dem ionischen Milet, der besagten Kleinstadt Kleinasiens, die der heutigen Türkei zugerechnet wird. Für unseren Zusammenhang erscheint Anaximander von nachhaltiger Bedeutung, nicht seines geozentrischen Weltbildes wegen, denn er glaubte, die Erde befände sich in der Mitte des Universums, und um sie herum würden sich in konzentrischen Kreisen Fixsterne, Mond und Sonne befinden oder um sie herumbewegen, sondern auf ihn geht die abstrakte Vorstellung der Welt als einer Einheit zurück. Er dachte sich die Welt schwebend im Universum als eine Scheibe, einem Diskus gleich, auf dessen Oberseite sich die Menschen bewegten und auf dessen Unterseite das Reich der Toten angesiedelt war. Anaximander führte die Einheit der Welt nicht wesentlich auf ihre räumliche Begrenztheit zurück, denn er besaß nur mythische Vorstellungen von der Größe der Welt13 , sondern er benannte einen Wesensgrund, der nicht nur allen seienden Dingen in dieser 9 10 11 12

13

Ebd., S. 181 ff. Vgl. Johannes-Evangelium 19, 31. Kerényi: Mythologie, S. 181. Homer: Odyssee, 11, 488-491, nach der Übers. v. J. H. Voss, Hamburg 1791, zitiert bei J. Choron: Der Tod im abendländischen Denken, Stuttgart 1967, S. 32. DK 12 A11.

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Welt eigen ist, sondern der Welt selbst, so wie er sie dachte, gilt. Er erkannte die Endlichkeit als Wesen dieser Welt, deren einheitlicher Grund diese Wahrheit ist, die er von der Allgegenwart und Unsterblichkeit ewiger Gottheiten unterschied. Dass die Endlichkeit keinesfalls immer eine unbestrittene Tatsache war, sondern erst entdeckt werden musste, wie sie in archaischer Zeit von den Ureinwohnern nicht gedacht wurde, die nur zyklische Unendlichkeit und keine Endlichkeit kannten, scheint eine historische Entwicklung der Vernunft zu beschreiben, die die Endlichkeit der Welt als Wesenseinheit entdeckte. Von Anaximander ist ein Spruch über Entstehen und Vergehen der endlichen Dinge überliefert, der für unseren Kontext wichtig ist. Seine dunklen und enigmatischen Aussagen haben zu mehreren Übersetzungsversuchen geführt, die den Zugang zu diesem Spruch zusätzlich erschwert. Hören wir zunächst, was Anaximander in der klassischen Übersetzung von Diels/Kranz sagt: Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron [...]. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.14

Bedenken wir zunächst wer oder was mit ‚den Seienden‘ gemeint ist, so liegt es nahe, dieses anthropologisch auf die Menschen einzuschränken, wie es der Verweis auf die Schuldigkeit, Strafe und Buße des Spruches nahelegt. Allerdings ist diese Interpretation nicht hinreichend, denn τὰ ὄντα (das Seiende) umfasst nach Anaximander nicht nur die lebenden Dinge im heutigen Sinne, sondern es sind für ihn alle materiellen Dinge ‚seiende Dinge‘, die mit organischem oder lebendigem Sein versehen sind. Mit anderen Worten war für Anaximander auch die ‚unbelebte Natur‘ (im heutigen Sinn) belebte Natur. Allerdings ist τὰ ὄντα der Plural des griechischen τὸ ὄν, das Seiende. Wenn τὰ ὄντα klassischerweise im Singular übersetzt wird, dann ist darauf zu verweisen, dass die Griechen unter dem Seienden in der Regel eine Vielzahl dachten, ‚die seienden Dinge‘. Dieser Hinweis ist deshalb nicht ganz ohne Belang, weil ‚das Seiende‘ ein Begriff ist, der im Singular eine abstrakte Allgemeinheit ausdrückt, und die ‚seienden Dinge‘ als konkrete Einzelheiten eine Pluralität vorstellen. Die Übersetzung des τὰ ὄντα auf ‚die seienden Dinge‘ festzulegen, ist Anaximander gemäßer. Erst circa 80 Jahre später wird Parmenides den metaphysischen Gedanken formulieren, das Sein als Eines, singulär zu interpretieren. Die Einheit alles Seienden ist bei Anaximander mit der Endlichkeit der Welt vermittelt, in der alles Seiende wie sie selber ihre Bestimmung haben. „Woraus das Werden der seienden Dinge ist“, sagt Anaximander, „in das hinein geschieht auch ihr Vergehen.“ Der Bezugsrahmen dieses „Woraus die seienden Dinge ihren Ursprung und ihr Vergehen haben“, ist dieses Eine, τὸ ἕν, das für

14

DK 12 B1.

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Anaximander die endliche Welt ist. Das nach Entstehen und Vergehen vereinigte Sein unterliegt der ‚Schuldigkeit‘, endliche Welt zu sein. Wie aber haben wir uns das Hineingehen in das Werden der Dinge vorzustellen, durch das sie ihr Entstehen und Vergehen haben? Ist dieses Hineingehen der Dinge ein exogener Vorgang, der auf die Welt trifft, wie die Hand, die in einen Handschuh schlüpft? Ein merkwürdiger Ungedanke ist es, dass vorgefertigte seiende Dinge extraterrestrisch auf unserer Welt gekommen sein sollen. Kann Anaximander das gemeint haben? Wohl sicher nicht. Wie aber ist dann dieses „woraus sie ihren Ursprung [ἀρχήν] und ihr Vergehen [φθοράν] haben“ zu deuten? Ist das Hineingehen vielleicht mit einem Plan vergleichbar, der als Grundlage dient, nach dem ein Haus gebaut werden soll? Ist dieses Geschehen ein geistiges Prinzip, das sich nur durch sein Anderes, Seiendes, realisiert? Während das Haus den Plan für sein Entstehen konstitutiv braucht, entsteht der Plan des Hauses, auch ohne dass man es baut. Wie viele Pläne gibt es von gedachten, vorgestellten oder schriftlich fixierten Häusern, die nie real werden? Im Gegenteil, die Vorzeitigkeit eines Plans vor dem Hausbau lässt eine Nachzeitigkeit, wenn das Haus erst einmal nach einem gegebenen Plan gebaut wurde, nicht mehr zu. Sobald das Haus Fakt ist, ist der Plan in ihm aufgehoben. Wie ist dann aber das Vergehen des Plans, des nach einem Plan gebauten Hauses, zu denken? Ist er dem Vergehen anheimgegeben, oder bleibt er nicht als Anlage des Hauses anwesend? Hat dieses Geschehen dann noch irgendetwas mit der Aussage des Satzes des Anaximander gemein? Eine andere Möglichkeit eines Hineingehens mag der Satz des Anaximander meinen, wenn er aus dem Vergehen das Neue hervorgehen sieht. Ist dann damit das Einbringen von Fruchtsamen oder Samenkörnern in den Boden gemeint? Auch bei dieser Auslegung des Hineingehens muss uns der Verdacht beschleichen, das Gemeinte nicht richtig erfasst zu haben, denn aus dem Vergehen von Körner- oder Fruchtsamen erwarten wir beim Vergehen ein Entstehen allenfalls des Gleichen von Gleichem, nicht aber ein undefiniertes Neues, anderes Sein von Seiendem. Aus dem Kern des Apfels wird natürlicherweise kein Kirschbaum usw. Alle genannten Deutungen des Werdens, aus dem Entstehen und Vergehen hervorgehen sollen, scheinen den Spruch des Anaximander nicht hinreichend zu erfassen. Denn nach Anaximander sollen Entstehen und Vergehen auseinander hervorgehen. Anaximander gibt als Grund des Entstehens das Vergehen an, und das Vergehen als den Grund dafür, dass alles entsteht. Allerdings ist der Grund richtig bedacht, an dieser Stelle nicht im Sinne einer Kausalität zu begreifen, sondern es ist der Grund, der als Ursprung des Entstehens und Vergehens zu fassen ist. Damit bleibt die Frage offen, wie das Entstehen und Vergehen in diese Welt kommt, die Einheit in Endlichkeit ist? Darüber gibt der einleitende Satz Auskunft, wobei umstritten ist, ob der Begriff des Ursprungs nicht eine spätere

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Einfügung ist.15 Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das ápeiron (ἀρχήν... τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον).16 Wie aber ist dieses ápeiron zu denken, aus dem die seienden Dinge (τὰ ὂντα) ihren Anfang und Ursprung (ἀρχή) haben? Das á-peiron, abgleitet von τὸ πέρας, Grenze oder Schranke, ist die Verneinung des Begrenzten, also das Unbegrenzte, das Grenzenlose, das Schrankenlose. Im Anschluss an die zitierte Stelle erklärt Anaximander dieses ápeiron näher. Er sagt: es sei „ohne Alter“17 und „ohne Tod und ohne Verderben [ἀθάνατον ... καὶ ἀνώλεθρον]“18. Damit erweist sich das ápeiron als überzeitlich, ortsunabhängig und seiend im anaximandrischen Sinne. Dieses ápeiron ist demnach nicht extraterrestrisch angesiedelt, sondern innerweltlich beheimatet, ewig, nicht sterblich, unvergänglich, vereinzelt, grenzen- und schrankenlos in temporärer wie in topologischer Hinsicht. Heidegger nennt es auch bereichslos.19 ‚Bereichslos‘ kann einmal als außerhalb von Raum und Zeit gedacht werden oder, wie wir es zu deuten bevorzugen, ‚bereichslos‘ meint ‚ohne Bereich‘, indem es in allen Bereichen gleichursprünglich ist. Bezogen nur auf den Bereich des Einen, das Anaximander die Welt nennt. Auf die Zeit bezogen hat das Bereichslose dann sowohl vor-, als auch nach- als auch jetztzeitig Geltung. Das ápeiron ist unbegrenzt, daher ohne Anfang und Ende, aber es ist Anfang und Ende der seienden Dinge, daher lebendig seiend im Sinne Anaximanders. Das Vergehen der Dinge fällt in dieses ápeiron zurück, das macht die Endlichkeit der seienden Dinge aus, aus dem neues Seiendes entsteht. Es zeigt sich eines der fundamentalen Spannungsverhältnisse, die Anaximander aufdeckt. Das ápeiron ist innerweltliches ápeiron, einer Welt, deren Grund und Begründetes Endlichkeit ist, die nur Seiendes kennt, das endlich ist. Dieser Endlichkeit stellt er mit dem ápeiron ein schrankenloses Seiendes als Anfang alles Seienden gegenüber. Diese ‚erste Materie‘, wie die Alten es später nannten, ist ohne Anfang dargestellt, unzerstörbar, unvergänglich, ewiger Grund dessen, was Welt wird. Wenn das ápeiron unvergängliche Materie ist, dann ist das ápeiron so etwas, was wir als belebendes Elementarteilchen verstehen können. Den Anfang, aus dem das Entstehen kommt, und in das das Vergehen im Sinne Anaximanders zurückgeschieht, verstehen wir jetzt besser, es ist ein Ursubstanzielles, das er das ápeiron nennt, das so lange besteht wie die Welt selber, die durch Anfang und Ende ihrer selbst bestimmt ist. Damit kommt das andere Spannungsverhältnis des Spruchs von Anaximander in den Blick. Es ist dies der Bezug, der den ersten Teil mit dem zweiten Teil des Spruches verknüpft, der mit den Worten beginnt: „...denn sie zahlen

15

16 17 18 19

Theophrast soll ἀρχήν später eingefügt haben. Vgl. dazu Röd: Geschichte der Philosophie, S. 40, S. 217 Anm. DK 12 B2. DK 12 B2. DK 12 B3. M. Heidegger: Der Spruch des Anaximander, GA 78, S. 143 ff.

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einander Strafe [διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην ... ἀλλήλοις]“20 . Mit den Worten: Strafe (δίκη), Buße (τίσις), Ungerechtigkeit (ἀδικία) befinden wir uns in einem Bereich, der so gar nicht in das Reich der von uns so verstandenen Natur passt, sondern eher in ein menschliches Rechtsverhältnis einrückt. Wer würde der Katze schuldhaft vorwerfen wollen, Mäuse zu fangen? Wir können diese Vokabeln vorschnell als Anthropomorphismus deuten, wenn Schuld, Buße und Ungerechtigkeiten auf die unbewusste Natur treffen. Anaximander aber stellt hier eine Verbindung zum Endlichen her, ein Begriff, der in beiden Welten Gültigkeit hat. In unserem Zusammenhang ist der andere Denker der Vorsokratik Heraklit, der – nach einer von Aristoteles überlieferten Anekdote – einstmals an seinem Herdfeuer stand und sich die Hände wärmte, als ein paar seiner aristokratischen Freunde bei ihm vorbeischauten. Er bat sie, ohne zu zögern einzutreten, denn „auch an diesem Ort seien Götter“21, hieß er die Ankömmlinge willkommen. Warum ist diese kleine Begebenheit so bezeichnend? Für Heraklit war das Feuer Urelement, aus dem alles Werden hervorging und in dasselbe alles nach der Zeitenfolge wieder zurückgehen werde, wie für Thales das Wasser und für Anaximenes die Luft Urstoff der werdenden und vergehenden Welt war. Heraklit sagt, „[a]lles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren gegen Gold und Gold gegen Waren“22 . Die Welt löst sich nach entsprechender Erdperiode wieder in Feuer auf, dem die Stoiker später den Namen ἐκπύρωσις, Weltbrand, gaben. Entstehen und Vergehen werden bei Heraklit nicht mehr wie bei Anaximander als auseinander hervorgehend betrachtet. Alles Seiende, sagt der auch aus dem ionischen Ephesos Kleinasiens stammende Philosoph mit dem größten Einfluss unter den Vorsokratikers auf die nachfolgenden Philosophenschulen – er soll der am häufigsten zitierte Philosoph der Platonischen Akademie in Athen gewesen sein – alles Seiende entsteht aus Gegensätzen. „Vielleicht strebt die Natur nach dem Entgegengesetzten und bringt daraus und nicht aus dem Gleichen das Harmonische hervor“,23 „Zusammensetzungen und Nichtganzes, Zusammentretendes, Auseinandertretendes, Übereinstimmendes, Dissonantes; aus allem eins und aus einem alles“24 . Aus diesem Geist ist der oft zitierte Satz des Heraklit zu verstehen, nach dem „Krieg […] aller Dinge Vater, aller Dinge König [πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς]“25 sei. Harmonie entsteht nach Heraklit, wenn das Widerstreitende zusammentritt.26 20 21

22 23

24 25 26

DK 12 B1. DK 22 A9, Übers. Jaap Mansfeld/Oliver Primavesi, in: Dies. (Hg.): Die Vorsokratiker, Stuttgart 2012. DK 22 B90, Übers. Mansfeld/Primavesi. DK 22 B10, Übers. Laura M. Gemelli Marciano, in: Die Vorsokratiker, Bd. 1, Düsseldorf 2007. Ebd. DK 22 B53. DK 22 B8.

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Es nimmt daher nicht Wunder, dass Heraklit aus dem Gegensatzpaar Entstehen und Vergehen einen seiner wichtigsten Gedanken formuliert, den er aus diesem Gegensatz zu der Einheit des Werdens mit weitreichenden Implikationen formt. Wenn nämlich alles Werden ist, ist Sein nur Übergang, kann es keine Kontinuität geben, nur Bewegung. Es kann nicht stabilisierte und schon gar nicht prästabilisierte Wirklichkeit sein. Wenn Sein nur in Übergängen zu denken ist, wofür das Feuer Heraklit ein Synonym war, dann gibt es kein ruhiges Beharren, keine Beständigkeit und kein Stillstehen mehr. Das Schlimme an dieser Endlichkeit ist, dass sie aus dem Werden hervorgeht. Der Übergang vom Werden zum Sein ist nur so zu denken, wenn das zuvor Gewordene, aus dem das Werden hervorging, in ein Neues übergeht, indem das Alte Vergangenheit wird. Nehmen wir die Zahlenreihe als Beispiel. Wir können hinter dem Komma beliebig viele Zahlen einsetzten. Um von der 1 auf die 2 zu kommen, muss die Zahlenreihe hinter dem Komma endlich sein, was der Beliebigkeit widerspricht. Räumlich ausgedrückt, bedeutet es das Übergehen von einer Grenze, die ein Davor und ein Dahinter kennt. Diese Grenze ist unaufhebbar, weil das Werden ein vergehendes Werden ist, aus dem nur so Neues hervorgeht. Heraklits Werden ist daher der Ursprung der Endlichkeit. Dass dieses Werden für alle Momente des Seienden, aber nicht für Vorstellungen und auch nicht für Begriffe gilt, wurde auch von Heraklit angenommen. Die berühmte Flussmetaphorik Heraklits lautet: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht [ποταμοῖς τοῖς αὐτοῖς ἐμβαίνομέν τε καὶ οὐκ ἐμβαίνομεν, εἶμέν τε καὶ οὐκ εἶμεν].“27 Es ist zu bedenken, dass nicht nur der Fluss in diesem Aphorismus das Synonym für Werden ist, sondern auch die Menschen selber nicht ein und dieselben sind, die zweimal in den fließenden Fluss steigen. Doch betrachten wir den Nachsatz: „wir sind und sind es nicht“ etwas genauer, denn an ihm wird die Wendung des als melancholisch geltenden Heraklit zur Metaphysik deutlich. Die kosmologische Ordnung wird zunächst anthropologisch gewendet: „Als Unsterbliche sind sie sterblich, als Sterbliche unsterblich: Das Leben der Sterblichen ist der Unsterblichen Tod, der Tod der Unsterblichen der Sterblichen Leben.“28 Mit dem Prinzip des Werdens auf die Sterblichen geschaut, wird der Übergang von Leben und Sterben in eine zyklische Bewegung, nicht nur als ein planetares Geschehen von Heraklit gesehen, sondern wird auch ontogenetisch auf das einzelne Leben, auf das einzelne menschliche Sein, bezogen: „Es ist eigentlich dasselbe, was darin ist: Lebendes und Totes und das Wachen und das Schlafen und Junges und Altes; denn dieses, wenn es sich ändert, ist jenes, und umgekehrt jenes, wenn es sich ändert, dieses.“29 Die Vorstellung, dass Leben und Todbringendes zugleich in einem (biologischen) Sein gegenwärtig sind, und Todbringendes überhaupt gegenwär27 28

29

DK 22 B49a. DK 22 B62: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες. DK 22 B88, Übers. Gemelli Marciano.

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tig und nicht als lebensbegrenzend am Ende des Lebens, beides nacheinander empfunden wird, ist eine ungeheure Vorstellung für die damalige Zeit, die das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit neu definierte. Aber das Prinzip des Werdens, aus dem Entstehen und Vergehen als dem universellen Gesetz des Gegensatzes hervorgeht, findet bei Heraklit noch einen weiteren gedanklichen Höhepunkt, wenn er diesen theistisch wendet: „Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger.“30 Heraklit unterzieht offensichtlich auch die unsterblichen Götter diesem Werden und lässt sie als Wesen erscheinen, die ebenso wie die Sterblichen dem universellen Gesetz des Werdens aus Gegensätzlichen ausgesetzt sind. Einen völlig neuen Denkansatz entwickelt der Arzt und Philosoph Parmenides aus dem süditalienischen Elea, der als erster Metaphysiker unter den Naturphilosophen der Vorsokratik zur Geltung kam. Wenn alles Sein nur Werden ist, wie Heraklit lehrte, dann stellt sich die Frage nach dem Beständigen. Was ist beständig, was hat Dauer, was besteht vielleicht sogar ewig? Parmenides war der Philosoph, der aus der Unbeständigkeit aller anschaubaren, empirischen, materiellen, endlichen Dinge nach dem Unwandelbaren fragt, das er metaphysisch glaubte in dem zeitunabhängigen, dauerhaften, intelligiblen, wahren, ewigen Logos erkannt zu haben. Ein Begriff, der eine von den Sinnen unabhängige, gedachte Vorstellung der Vernunft ist. Parmenides misstraute der Veränderung aller seienden Dinge so sehr, dass er nichts Wahres an und in ihnen zu erkennen vermochte, dennoch wollte Parmenides nur diese beiden Seiten der Wirklichkeit als die ganze Wahrheit der Welt anerkennen. Von Parmenides liegt ein Lehrgedicht vor, nicht von ihm selber überliefert, aber von Aristoteles, dessen Schüler Theophrast und anderen schriftlich fixiert und intensiv besprochen. Dieses Lehrgedicht weist zwei Teile auf, deren erkenntnisbildende Leitthematik zum einen die Wahrheit, ἀληθεία, und zum anderen die Meinung, δόξα, oder das bloße Fürwahrhalten der Leute zum Thema hat. Diese zwei Teile eines Werkes sind nicht nur ästhetisch aufeinander bezogen, sondern, so wie wir Parmenides verstehen, sind beide Seiten für einander wechselseitig bestimmend. Gleichwohl fasst Parmenides Wahrheit und Führwahrhalten wie das Verhältnis von Sein und Schein. Weshalb er die Menschen auch die Doppelköpfigen, δικρανοί, nannte. Der Wahrheitssuchende muss sich zwischen zwei möglichen „Wege[n] der Forschung“31 entscheiden, dem Irrtum und der Wahrheit. Die Menschen der dóxa sind dem Irrtum, dem nur scheinbar Richtigen, so verfallen, dass sie sogar den Irrtum erforschen oder nach Meinung des Parmenides irrtümlich erforschen. Der Irrtum bestehe in höchstem Maße in der falschen Vorstellung, die sie über das ‚Sein und das Nichts‘ zu erkennen glauben und sich darüber in Aussagen äußern, denn diese Menschen würden das ‚Sein und das Nichtsein‘ für dasselbe halten.32 Dabei sei es nun einmal der Fall, dass nur das Sein ist.33 30 31 32

DK 22 B67. Übers. Mansfeld/Primavesi. DK 28 B2. Vgl. ebd.

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Dies sei der Weg der Wahrheitssuchenden. Die Menschen, die den Weg des Fürwahrhaltens, der dóxa, beschreiten, halten das Nichts für seiend. Aber über das Nichts lasse sich nichts sagen, weil es nicht ist, es existiert nicht.34 Im Gedicht stellt Parmenides alétheia und dóxa als bloße Form von Erkenntnis gegenüber. Bei genauerer Betrachtung ist diese Gegenüberstellung ein Aufspannen der ganzen Welt der Menschen zwischen Wahrheit und Fürwahrhalten als ‚Weltgefüge‘ der Lebenswelt, wie Karl Reinhardt, unter Hinzuziehung auch der überlieferten Fragmente des Parmenides, in seiner wichtigen Rezeption richtig darstellt.35 Sein und Nichtsein, Sein und Schein, Subjekt und Prädikat, Sein und Nichts werden von Parmenides als universelle Gegensätze gegeneinander geführt. Erstaunlich dabei, welche gleichrangige Geltung der Philosoph dem Irrtum und dem Nichterkennen verschafft. Um der Wahrheit willen, bedarf es seiner Ansicht nach des Irrtums, bisweilen wohl sogar des Unwahren für die Herstellung des Wahren. Das erweiterte universell geltende Gesetz der Gegensätzlichkeit ist bei aller Unterschiedenheit noch dem Denken Heraklits angelehnt. Er spricht von einem zweigeteilten Kosmos, διάκοσμος, die Gegenüberstellungen sind apriorische Gegebenheiten auch in kosmischer Universalität. Damit ergab sich für Parmenides aber ein Problem. Er behauptete über Nichtsseiendes nichts aussagen zu können, bestimmte aber gleichzeitig einen Gegensatz von Sein und Nichtsein als einen universellen Gegensatz. Damit sagt er über das Nichtsein zumindest so viel aus, dass es der Gegensatz des Seins ist. Wenn nun aber das Seiende in seiner Mannigfaltigkeit (der alétheia) mit Parmenides zu denken ist, dann hat das Nichts mindestens diese Universalität. Diese aber wird von dem Philosophen dadurch bestritten, dass nicht einmal die logische Gleichrangigkeit von Sein und Nichts in ihrem gegenseitigen Gegensatz gedacht werden soll. Wie also löst Parmenides dieses vernunftgeleitete Problem logisch auf? Die ‚gegensätzlich verbundenen Seienden‘ verharren nicht in diesen Gegensätzen. Im Fragment 8 führt Parmenides die Mischung von Gegensätzlichem ins Denken ein.36 Für Parmenides ergibt sich eine fundamentale Dreiteilung: a) das Sein, τὸ εἶναι, in Form der Aletheia, der Wahrheit, das was wirklich ist, ist das Sein; b) das Nichtsein, τὸ οὐκ εἶναι, auf der Erkenntnisebene die Doxa, das Fürwahrhalten von Nichtseiendem ist nicht, (man bedenke, auf welcher Ebene Parmenides das Seiende für nicht wahr hält); und c) aus Sein und Nichtsein die Mischung, ἔστι, οὐκ ἔστι, ἔστι τε καὶ οὐκ ἔστι, ist das Zusammengehen von Sein und Nichtsein geworden.37 Der revolutionäre Gedanke besteht in dem Aufbrechen der 33 34 35

36 37

DK 28 B6: ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ᾽ οὐκ ἔστιν. DK 28 B7 und B6. Vgl. Vgl. Karl Reinhardt: Parmenides, 5. unveränderte Auflage, Frankfurt a. M. 2012, S. 44 ff. DK 28 Β12. DK 28 B8. Vgl. Reinhardt: Parmenides, S. 44 ff.

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fundamentalen Antinomien von Sein und Nichtsein. Mit der Mischung von Sein und Nichtsein sieht er das Ineinandergehen dieser Gegensätze in universeller Dimension in eine neue Einheit des Seins, die er metaphysisch zum System des Alleinen ausbaut. Es ist zu bedenken, dass das Nichtsein für Parmenides im Gedicht nur einen logischen Status hatte, es war ontologisch nicht existierend gefasst, da es nur eine rein gedankliche erkenntnistheoretische Struktur der Gegenüberstellung der Vernunft zum Sein ist. In den Fragmenten ist der Charakter des Nichtseins keinesfalls so eindeutig nur als logische Opposition zum Sein besprochen, denn die Mannigfaltigkeit des Seins sieht in allen Dingen das Mischungsverhältnis. Wenn jetzt gefragt wird, was das alles mit Werden und Vergehen, unserem Thema, zu tun hat, so hörten wir, dass Parmenides das Verhältnis von Sein und Nichtsein in allen Körpern als ‚Mischung der Erscheinungen‘ bestimmt: Gleiches und Nichtgleiches, ταὐτὸν καὶ οὐ ταὐτόν, Seiendes und Nichtseiendes zugleich in einem, εἶναί τε καὶ οὐχί, ist das Zusammengehen von Werden und Vergehen in allen Körpern. Der zum System ausgebaute Gedanke der Durchmischung ist der Gedanke des Alleinen, das im 8. Fragment von Parmenides zum Ausdruck gebracht wird und wegen seiner Rezeptionsbedeutung in den nächsten Jahrhunderten bis ins Mittelalter bei Thomas von Aquin, Duns Scotus und darüber hinaus bis zu Leibniz nicht nur in der metaphysischen Bedeutung, sondern auch seinem ontologischen Inhalt nach, der für unseren Zusammenhang wichtig ist, hier ganz in der Version von Karl Praechter zitiert werden soll: „Es bleibt nur noch ein Weg der Darstellung, dass es [das Seiende] ist. Auf diesem Wege aber sind gar viele Zeichen, dass es als Ungewordenes auch unvergänglich ist, ganz eingeboren und unbewegt und unendlich. Und es war nicht erstmals noch wird es sein, da es jetzt ist insgesamt als ein Ganzes, Einiges, Zusammenhängendes. Denn welche Entstehung willst du dafür [für das Seiende] suchen? Wie und woher soll es angewachsen sein? [Aus dem Seienden kann es nicht geworden sein, denn es ist selbst das Seiende], noch werde ich zugeben, dass du sagst oder denkst, es stamme aus dem Nichtseienden. Denn es ist weder sagbar noch denkbar, dass es nicht sein sollte. Welche Pflicht sollte es denn auch getrieben haben, eher später als vorher mit dem Nichts beginnend zu wachsen? So muss es notwendigerweise entweder ein für allemal sein oder gar nicht. Aber da eine Grenze am äußersten Ende vorhanden ist, ist es von allen Seiten vollendet, gleich der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte überall gleich. Denn es darf weder größer noch kleiner sein hier oder dort.“38 Das Sein wird das metaphysisch gedachte Alleine bei Parmenides, in dem alle endliche Verschiedenheit in es aufgehoben ist. Das In-einem-Alles, und Inallem-Eins, das auch Werden und Vergehen ist, ohne dass das Sein selber diesem Gesetz unterworfen ist, denn es „nicht geworden und unvergänglich 38

DK 28 B8, 1 ff, 42 ff, zitiert bei: Karl Praechter: Die Philosophie des Altertums (Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, 1. Teil) 13. Auflage, Graz 1953, S. 84 ff.

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ewig“, repräsentiert im menschlichen Körper, ist das bio-logische Sein, in dem Sein und Tod in einem Organismus (als ontologische Einheit) erfasst ist. Die Brisanz dieses Ansatzes ergibt sich mit der Frage: Wenn alles in Einem ist und das Eine in Allem, wie viel Tod ist dann im Leben und wie viel Leben ist dann im System des Todes? Parmenides hatte vor allen anderen verstanden, dass die ‚Einheit der Gegensätze‘ die Voraussetzung der Endlichkeit des Menschen ist. Wäre die Mischung des Unterschiedenen von Leben und Tod im Körper nicht gegeben, die Menschen wären dann vielleicht gebürtlich, aber nicht sterblich. Parmenides legt mit dem Gedanken der Einheit der Mischung von Gegensätzen ein erstes, noch unausgearbeitetes dialektisches Modell vor, das Platon aufnimmt und in ein erstes dialektisches System transformiert.

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III. „Zu den Sachen selbst!“

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Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger

In der familiären Überlieferung beginnt die Sorge um den Erhalt der Manuskripte mit der Rückkehr Erika Semmlers, einer engen Freundin von Elfride und Martin Heidegger, vom Reichsparteitag der NSDAP 1938. Sie berichtet von der drohenden Kriegsgefahr. Das Haus in Zähringen liegt nahezu in Reichweite der französischen Artillerie, die französischen Besetzungen im Ruhrgebiet und in Baden während der Weimarer Republik sind lebendige Erinnerung. Meine Großeltern sehen daher Freiburg als Frontstadt. Martin Heidegger hatte sein 2. Hauptwerk, die „Beiträge zur Philosophie“1 vollendet. Die Schrift wird fein säuberlich in einem gesondert angefertigten Schuber aufbewahrt.2 Wie sollen sie und viele andere Abhandlungen vor der drohenden Zerstörung oder vor dem Verlust gerettet werden? Einen Ausweg bietet Bruder Fritz in Meßkirch.3 Militärisch ist Meßkirch im Gegensatz zu Freiburg nicht als Frontstadt zu erwarten und in der ländlichen Gegend, geschickt versteckt, besteht die Hoffnung, dass die Manuskripte die dunkle Zeit überleben werden. Darüber hinaus kann der kluge und verständige Bruder mit dem Abschreiben beginnen. Eine andere technische Möglichkeit, die einmaligen Manuskripte zu vervielfältigen, steht noch nicht zur Verfügung. Bruder Fritz bewährt sich als hellsichtiger Begleiter des Denkers. Unklare dunkle Stellen berichtigt er, ohne dass sein älterer Bruder daran Anstoß nimmt, im Gegenteil, seine Verbesserungsvorschläge werden regelmäßig ohne Umschweife angenommen. Zwei Eisenkisten mit Manuskripten werden im Kirchturm des kleinen Örtchens Bietingen (heute Teilort der Gemeinde Sauldorf) verwahrt. Sie überstehen das Kriegsende schadlos. Dennoch wäre ein wichtiger Teil der Manuskripte kurz vor Kriegsende noch fast verloren gegangen. Nach einem Luftangriff auf Meßkirch im Februar 1945 holt mein Großvater selbst die in einem Panzerschrank der Volksbank eingelegten Manuskripte heraus. Der Schrank ist, wie sein Neffe Heinrich Heidegger als Augenzeuge berichtet, unverschlossen.4 Ein kleiner Teil von Manuskripten und vor allem von Abschriften lagert bei Arnold und seinem Sohn Heinrich Petzet in Icking bei München. Auf der Hütte in Todtnauberg gibt es ein gebundenes dünnes Büchlein „Potsdamer Rede über Friedrich den Großen von Walter Elze“. Darin steht folgende Wid1 2 3

4

GA 65. Das Original befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. Vgl. Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, Freiburg 2016, S. 45. Hans Dieter Zimmermann: Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht, 2. Aufl., München 2005, S. 99 f.

Arnulf Heidegger

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mung: „Herrn Prof. Dr. Martin Heidegger in Verehrung mit den herzlichsten Grüßen[,] die treulichen ‚Hüter der Manuskripte‘ Arnold Petzet / Heinrich Petzet / April 1940.“5 Am Ende des Krieges befinden sich beide Söhne Heideggers in russischer Kriegsgefangenschaft. Der Ältere, Jörg, kehrt 1949 zurück. Der Jüngere, Hermann, erreicht Freiburg im September 1947 wieder als Dystrophiker und mit offenen Wunden an Körper und Seele. Umsichtig umsorgt die Mutter ihren Sohn, der zu ihr im Übrigen ein nicht ganz einfaches Verhältnis hat. Nachdem der Vater sieht, dass der Sohn langsam wieder zu Kräften kommt, wendet er sich an ihn mit dem klaren Auftrag, für den Fall seines Todes habe er, Hermann, nichts anderes zu tun, als die Manuskripte zu verschnüren und zu versiegeln und für 100 Jahre gesperrt in ein Archiv zu legen. Die Zeit sei noch nicht reif, ihn zu verstehen. Weihnachten 1957 verbringen meine Großeltern auf der Hütte. Am 28.12.1957 verfasst mein Großvater, „nur für Hermanns persönlichen Gebrauch“ eine „Übersicht über den Bestand an Manuskripten“ und unterteilt diese wie folgt: I. II. III. IV. V. VI. VII.

Vorlesungen... Übungen... Vorträge... Darstellungen zur Geschichte der abdl. Metaphysik... Interpretationen einzelner Texte von Anaximander – Nietzsche... Gespräche über Wissenschaft, Technik, Ding, Sprache... Werkstattaufzeichnungen 26 schw. Hefte... 6

Über die Textart der „Überlegungen“ und „Anmerkungen“ , die weltweit als „Schwarze Hefte“ bekannt wurden, ist viel gerätselt worden. Die von ihm selbst verwendete Bezeichnung „Werkstattaufzeichnungen“ scheint am treffendsten zu sein. Hinzu legt mein Großvater eine am gleichen Tag und ebenfalls „nur für Hermanns persönlichen Gebrauch“ verfasste „Inhaltliche Ordnung der Arbeiten“ Die Sprache der Seinsgeschichte… Geschichte des Wahrheitsbegriffs u. der Logik Gespräch mit Hölderlin Die Sprache Der Weg durch Sein und Zeit – Selbstkritik u. Fortführung Die metaphysischen Grundstellungen der abd. Philosophie Beiträge und Besinnung Vom Anfang; das Ereignis; die Stege Die Vier Hefte. Schema der Kehre Für I. – IX. nach verschied. Hinsichten die Werkstattaufzeichnungen…“7 5

6 7

Walter Elze: Potsdamer Rede über Friedrich den Großen, Potsdam 1939. vgl. auch Heinrich W. Petzet: Auf einen Stern zugehen, Frankfurt 1983, S. 48 f. GA 94–97. „Übersicht“ und „Inhaltliche Ordnung“ befinden sich in Privatbesitz. S. Abb. 1 und 2.

Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger

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Mein Großvater wird in den 50er und 60er Jahren mehrfach gedrängt, seine Schriften zu veröffentlichen oder eine Gesamtausgabe vorzubereiten. Seit den Tagen der Weimarer Republik kennt er den Verleger Dr. Vittorio Klostermann. Dieser schreibt am 07.02.1968, er halte den Zeitpunkt für eine Gesamtausgabe für gekommen; Bibliotheken, Seminare und alle, die eine philosophische Bibliothek besitzen, würden dies begrüßen. Mit Brief vom 20.02.1968 antwortet der Autor: „Für eine Gesamtausgabe meiner Schriften kann ich mich noch nicht entschließen; bei Gelegenheit möchte ich darüber mit Ihnen sprechen. Jetzt bin ich noch mit eigenen Arbeiten beschäftigt, die ich in meinem Alter nicht als Torso liegen lassen möchte.“ Hartnäckig und geschickt verfolgt der Verleger sein Ziel jedoch weiter. Mit Erfolg gewinnt er Martin Heidegger für die Veröffentlichung der „Frühen Schriften“, die 1972 erstmals erschienen. Grund genug für den Verleger, einen erneuten Anlauf zu nehmen. Im Brief vom 10.04.1972 wird Herr Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann vom Verleger als die geeignete Persönlichkeit angepriesen, das Ganze zu leiten. Doch mein Großvater lässt sich nicht umstimmen: „Es würde nicht dem Stil meiner Denkweise entsprechen. Bitte haben Sie Verständnis dafür; ich habe alle ähnlichen Anfragen, die im letzten Jahrzehnt von verschiedenen Seiten an mich gerichtet waren, ablehnend beschieden.“ (Brief vom 11.04.1972) Auf direktem Wege ist das Ziel nicht zu erreichen. Ohne den Autor davon in Kenntnis zu setzen, ruft der Verleger Klostermann Heideggers Sohn Hermann an. Die Gründe, mit der Gesamtausgabe umgehend zu beginnen, liegen auf der Hand: Die weltweite Wirkung von Heideggers Denken wird den Ruf nach einer Gesamtausgabe nicht vergehen lassen. Noch könnte der Verfasser selbst die Richtlinien vorgeben, in welcher Form und Ausstattung eine Edition auf den Weg gebracht wird. Mitte der 70er Jahre stehen zahlreiche geeignete Herausgeberinnen und Herausgeber für die einzelnen Bände zur Verfügung. Nicht zuletzt ist ein Verleger bereit, das Wagnis einzugehen. Meinem Vater leuchten die Gründe ein, sie sind allerdings dem Autor weder unbekannt noch von ihm unbedacht. Hermann Heidegger gelingt es jedoch im September 1973, seinen Vater umzustimmen. Der Sohn ist damals in einem Stab für NATO-Übungen tätig und daher mit den Planspielen für den Ernstfall vertraut. Im Jahre 1973 ist der Kalte Krieg noch lange nicht überwunden, der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSFR liegt gerade 5 Jahre zurück, die Gefahr eines 3. Weltkrieges ist nicht gebannt. Wenn nun alle seine schriftlichen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Hinterlassenschaften in einem einzigen Archiv lägen, bestehe die Gefahr, dass seine jahrzehntelange Arbeit den nächsten Krieg nicht überstehen werde und selbst wenn, dann sei es völlig ungewiss, ob die sämtlich in deutscher Handschrift gefertigten Manuskripte überhaupt noch zu entziffern sein würden. Nach einigen Minuten des Schweigens stimmt Martin Heidegger dem Plan einer Gesamtausgabe zu und bestimmt seinen Sohn Hermann unmittelbar und zu dessen Überraschung zum „Betreuer der Gesamtausgabe“8. 8

Handschriftliche Widmung des Vaters an Hermann im Band 24 der GA, Privatbesitz.

Arnulf Heidegger

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Die Freude beim Verleger ist groß: „Es bedarf keiner besonderen Versicherung, dass mein Verlag (dies gilt für mich wie meine Söhne) es zu seinen wichtigsten Aufgaben zählt[,] Ihrem Werk zu dienen, es verlegerisch zu sichern und zur Wirkung zu bringen.“ (Brief vom 12.10.1973) Am 16.11.1973 kommt es zwischen Martin und Elfride Heidegger sowie dem Verleger Vittorio Klostermann und seinem Sohn Michael zu einer ersten Besprechung, bei der die Aufteilung der Gesamtausgabe in vier Abteilungen vorgesehen wird: „Erste Abteilung enthält alle Werke, die bereits veröffentlicht vorliegen[,] außerdem schon gedruckte Vorlesungen. Zweite Abteilung enthält die Texte der Vorlesungen einschließlich der schon veröffentlichten in chronologischer Folge als Weg der Lehrtätigkeit. Dritte Abteilung enthält die unveröffentlichten Manuskripte der Abhandlungen und Vorträge. Vierte Abteilung enthält Aufzeichnungen und Zusätze zu den veröffentlichten Schriften.“ Knappe 4 Monate später findet in Freiburg-Zähringen eine weitere Besprechung in Anwesenheit der Eheleute Heidegger, Hermann Heidegger, Walter Biemel sowie Vittorio und Michael Klostermann statt. Hier erhalten die Abteilungen III. und IV. ihre heute noch gültigen Titel „Unveröffentlichte Abhandlungen“ und „Aufzeichnungen und Hinweise“.9 In dieser Zeit beginnt Martin Heidegger, Entwürfe, Skizzen, Gedankensplitter niederzuschreiben, die letztlich in einem Vorwort für die Gesamtausgabe münden sollten. Die Kräfte des Autors lassen jedoch merklich nach. Mein Großvater bemerkt selbst, dass er nicht mehr in der Lage sein wird, das von ihm vorgesehene Vorwort fertigzustellen. Er sammelt seine Versuche zusammen, übergibt sie Hermann Heidegger mit der Aufforderung, dieses handschriftliche Konvolut auf der Hütte in Todtnauberg zu verbrennen. Der Sohn weigert sich jedoch, es gäbe darin zu viele Goldkörner; diese zu verbrennen, wäre viel zu schade. Martin Heidegger überlässt es seinem Sohn, was damit geschehen soll. Im Jahre 2006 gibt Hermann Heidegger dieses Konvolut ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach, aus dem Dietmar Koch einige Jahresgaben für die MartinHeidegger-Gesellschaft zusammenstellt und sorgfältig herausgibt. Wenn auch das Vorwort nicht mehr fertig wird, eine Widmung für die Gesamtausgabe verfasst Martin Heidegger noch. Sie lautet: Die Gesamtausgabe ist meiner Frau Elfride geb. Petri gewidmet. Ihr inständiger Beistand auf dem langen Weg war die Hilfe, derer ich bedurfte. M.H.10 9

10

Der Briefwechsel und die Gesprächsprotokolle zwischen Dr. Vittorio Klostermann und M. Heidegger befindet sich im DLA Marbach a. N. Faksimile vor Band 1 Frühe Schriften der GA, hg. von F.-W. von Herrmann, 1978.

Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger

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Die Ehe kennt Höhen und viele Tiefen. Nach einem kleinen Schlaganfall im Jahre 1970 kann Elfride mit ihrem Mann die letzten Jahre ungeteilt verbringen. Sie hat nahezu 6 Jahrzehnte ihres fast 100 Jahre währenden Lebens in den Dienst ihres Mannes gestellt. Ich selbst erinnere mich gut daran, welche Genugtuung ihr diese Widmung gab. Sie dürfte daran Anteil gehabt haben, dass sie ihren Mann um fast 16 Jahre überlebte. Im April 1974 wird der Verlagsvertrag unter Dach und Fach gebracht, ein Jahr später erscheint der erste Band der Gesamtausgabe „Die Grundprobleme der Phänomenologie“11, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, den Martin Heidegger zum „Hauptmitarbeiter der Gesamtausgabe“12 ernennt und der die meisten Bände herausgeben wird. Ein Denkweg ist sichtbar geworden. „Wege, nicht Werke.“

11 12

GA 24, hg. v. F.-W. von Herrmann, 1975 (1.Auflage). In einer Buchwidmung, Privatbesitz.

Abb. 1: Übersicht über den Bestand an Manuskripten, Manuskript von Martin Heidegger, Privatbesitz

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