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German Pages 536 [538] Year 2023
Entgrenzungen Festschrift zum 60. Geburtstag von Andrea Strübind Herausgegeben von Sabine Hübner Kim Strübind
Duncker & Humblot
Entgrenzungen Festschrift zum 60. Geburtstag von Andrea Strübind
Prof. Dr. Andrea Strübind
Entgrenzungen Festschrift zum 60. Geburtstag von Andrea Strübind
Herausgegeben von Sabine Hübner Kim Strübind
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlag: Gedenkstätte Berliner Mauer (© Rhoda Lynn Gregorio) Alle Rechte vorbehalten
© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany
ISBN 978-3-428-18626-6 (Print) ISBN 978-3-428-58626-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Editorial Wir durchleben in vielfacher Hinsicht stürmische Zeiten, denen man gerne Begriffe wie „Zeitenwende“ und „Umbruch“ attribuiert. Eine Historikerin mit dem Forschungsschwerpunkt „Kirchliche Zeitgeschichte“ darauf aufmerksam zu machen, hieße freilich, Eulen nach Athen zu tragen. Die Jubilarin dieser Festschrift versteht sich durch ihre umfangreichen Forschungsbeiträge auf zäsurale Ereignisse, nicht nur diejenigen, die sie biografisch selbst miterlebte. Dazu gehört etwa die politische Wende- und Nachwendezeit um 1989 oder der Versuch ihrer Revision durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022. Umbrüche, Kehrtwendungen und Neujustierungen des politischen und theologischen Bereichs sind für sie auch Erfahrungen in kleinerer, wenngleich nicht unbedeutender Münze. Angefangen von der Promotion und ihrer Dissertation über das bisher weitgehend unbeackerte Feld des deutschen Baptismus im „Dritten Reich“ – 1990 an der Kirchlichen Hochschule in Berlin (1995 in zweiter Auflage erschienen) –, über den engagierten Kampf für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Pastorendienst ihrer Kirche, den sie durch unermüdliche Aufklärungsarbeit vorantrug und der sich bis 2022 in ihrer Mitarbeit als protestantische Delegierte des katholischen Synodalen Wegs fortsetzte, zeigt sich mit ihrem vollendeten sechzigsten Lebensjahr eine enge biografische Verflechtung geschichtlicher, pastoraler und kirchenhistorischer Ereignisse – im akademischen wie auch im nicht-akademischen Bereich. Sehr schnell fiel uns als Herausgebenden dieser Festschrift eine Überschrift ein, und wir meinen, dass „Entgrenzungen“ für das bisheriges Œuvre und Engagement der Jubilarin ein passender Titel ist. Die Rubriken dieses Buches und ihre Autorinnen und Autoren sowie die am Ende angeführte Bibliografie veranschaulichen das durch repräsentative Einblicke. Zahlreiche Beiträge nehmen auf das Engagement von Andrea Strübind auch persönlich Bezug. Wer die Jubilarin kennt, sieht sie als unermüdliche und oft rastlose akademische Arbeiterin. Und doch wäre dies nur eine Teilwahrheit, weil sie auf dem Hintergrund ihrer hochschulpolitischen Verantwortung als (ehemalige) Dekanin und aktive Institutsdirektorin sowie als Vorsitzende der „Jüdischen Studien“ und als Mitglied im Hochschulrat die Geschicke ihrer Oldenburger Universität leidenschaftlich und mit kommunikativem Geschick mitbestimmt. Ob es um die Besetzung von Professuren oder den sinnvollen und uneigennützigen Einsatz von Geldmitteln für das akademische Bonum commune geht: Man wird an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg und insbesondere der Fakultät IV für Human- und Gesellschaftswissen-
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schaften sehr rasch auf den Namen Andrea Strübind und ihr Engagement aufmerksam. Mag dies auch zum manchmal leidvollen professoralen Kerngeschäft gehören, das sie durch ihr seelsorgerliches Geschick und ihre menschlich zugewandte Art prägt, so zeigen sich die „Entgrenzungen“ der Jubilarin eben auch im akademischen Kerngeschäft. Da ist zunächst ihre Forschungs- und Publikationstätigkeit im Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte zu nennen, mit der ihre akademische Laufbahn 1989 begann. Als redaktionell verantwortliche Schriftleiterin der im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag erscheinenden Fachzeitschrift Kirchliche Zeitgeschichte (KZG) trat sie in die Fußstapfen ihres Doktorvaters Gerhard Besier. Mit der Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) verantwortet sie zugleich die Schriftleitung und Herausgabe einer weiteren Fachzeitschrift, die Theologie und kirchliche Praxis miteinander verbinden will. Der zweite Bereich ihrer akademischen Interessen betrifft die Reformations- und Täuferforschung. Mit ihrer – ebenfalls bei Duncker & Humblot – publizierten Habilitationsschrift „Eifriger als Zwingli“ hat sie ein vielbeachtetes Standardwerk der neueren Täuferforschung geschaffen, das durch einen quellenbasierten Ansatz zum Angriff auf die bis dahin unhinterfragte „revisionistische Täuferforschung“ blies und fachwissenschaftlich weit über Deutschland hinaus für Aufsehen sorgte und vor kurzem in zweiter Auflage erschien. Grenzen zu überschreiten, ohne diese durch vorschnelle Fraternisierung zu ignorieren oder kleinzureden, zeigt sich durch ihr ökumenisches Engagement, das ihr bei anderen Kirchen Respekt und hohe Anerkennung einbrachte. Immer wieder hat sie freundlich aber bestimmt die „in Deutschland großen Kirchen“ auf die Leistungen und die kirchenpolitische Bedeutung der hierzulande „kleinen Kirchen“ aufmerksam gemacht, nicht immer mit dem erhofften Erfolg, aber beharrlich. Die Einbeziehung anderer christlicher Traditionen mahnte sie auch dann an, wenn die beiden in Deutschland großen Kirchen – bisweilen bilateral – vor allem mit sich selbst beschäftigt waren, wie beim Reformationsjubiläum 2017. Gerne verweist die baptistische Theologin dabei auf provinzielle deutsche Sichtweisen durch den historisch und geographisch größeren Rahmen des globalen Christentums, in der die „kleinen“ manchmal auch die ganz „großen“ Kirchen sind. Dies betrifft eben auch die häufig in Vergessenheit geratenen oder stigmatisierten Kirchen aus der täuferischen und freikirchlichen Tradition, die sie in ihrer Bedeutung ebenso würdigen, wie mit deutlichen Worten kritisieren kann. Gemeinsam mit dem Verein „Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025“ (https://www.taeuferbewegung2025.de) hat sie zusammen mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern eine Dekade mit den heute noch relevanten theologischen Anliegen des Täufertums und seiner anhaltenden Wirkungsgeschichte, wie etwa der Glaubens- und Gewissensfreiheit und eines staatsunabhängigen Christentums, ins Leben gerufen und veranstaltet dazu und auch in anderen Bereichen ihrer Forschungen, etwa als Vorsitzende der Gesellschaft für Freikirchliche und Publizistik (GFTP), jährliche Symposien.
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„Entgrenzung“ heißt allerdings nicht Grenzlosigkeit, sondern setzt das Bewusstsein bestehender Grenzen voraus, die freilich auf ihren trennenden oder verbindenden Charakter hin befragt werden müssen. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich der von der Jubilarin kuratierten „Jüdischen Studien“, die Michael Daxner als damaliger Präsident der Uni Oldenburg vor 28 Jahren ins Leben rief und deren Vorsitzende Andrea Strübind seit 2006 ist. Die vitale Zusammenarbeit mit der vor 30 Jahren gegründeten und dem liberalen Judentum zuzurechnenden Synagoge zu Oldenburg war und ist ihr ein Herzensanliegen. Durch die akademische Kooperation mit dem LeoTrepp-Lehrhaus in Oldenburg und ihr Engagement innerhalb der Stadtgesellschaft zugunsten einer jüdischen Erinnerungskultur setzt sie bis heute bemerkenswerte Zeichen gegen Antisemitismus und für ein christlich-jüdisches Gespräch auf Augenhöhe. Dies hat auch mit ihren biografischen Erfahrungen zu tun, zumal sie 1985/86 als Stipendiatin des Programms „Studium in Israel“ ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem zubrachte und während ihres Studiums an der Kirchlichen Hochschule Berlin durch den Neutestamentler und verehrten Lehrer Peter von der Osten-Sacken entscheidende Impulse für ihre akademische Ausbildung empfing. „Grenzgänger im Nordwesten“ heißt bezeichnenderweise ein von ihr mitbetreutes und drittmittelgefördertes akademisches Kooperationsprogramm mit der Universität in Groningen, das gemeinsame regionalgeschichtliche Forschungsprojekte zu Migrationsfragen seit der Frühen Neuzeit im „Nordwesten“ (Friesland, Ostfriesland und den Niederlanden) auslotet und durchführt. Durch ihre Initiative sind weitere grenzüberschreitende akademische Kooperationen entstanden, die ihre Prägung tragen. So etwa die Zusammenarbeit mit dem United Theological College (UTC) in Bangalore und der Mercer University in Atlanta/Macon (Georgia), womit ihre Studien zu Martin Luther King, der Black Church und einem durch sie mitbegründeten akademischen Netzwerk verbunden sind, einer weiteren Over-the-Border-Forschungstätigkeit, der sich die Jubilarin weit über die Grenzen ihrer Universität hinaus verpflichtet weiß. Ihre berufsbiografisch frühen ökumenischen Verbindungen aus den Berliner Jahren (als Referentin im Ökumenischer Rat) haben ihr Interesse an anderen Kirchen begründet. Neben ihrer Mitarbeit in der ACK Bayern, im Deutschen Ökumenischen Studienausschuss (DÖSTA), im Beirat des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim sowie im Beirat der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden hat sie sich auch jenseits der eigenen Konfessionsgrenzen engagiert. In den letzten Jahren war sie stimmberechtigtes (externes) Vollmitglied des römisch-katholischen Reformprozesses Synodaler Weg im Forum „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“. Zusammen mit Margit Eckholt, Ulrike Link-Wieczorek und Dorothea Sattler hat sie den vielbeachteten und mittlerweile ins Englische übersetzten Tagungsband „Frauen in kirchlichen Ämtern“ (2018) herausgegeben, dessen Ergebnisse sich auch im Reformprozess des Synodalen Wegs niederschlugen. Vor diesen Hintergründen scheint uns der Titel dieser Festschrift nicht weiter erklärungsbedürftig. Die Forschungstätigkeit der Jubilarin mag eine Ähnlichkeit zu
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Paul Tillichs Postulat einer Theologie „auf der Grenze“ aufweisen, indem man das Eigene im Anderen zu denken versucht und dabei Brücken schlägt. Dies geschieht mit offenem Blick über jene Barrieren hinweg, der ausgehend vom eigenen, theologisch fundierten Glauben das andere, jenseitige Gebiet erkunden will. So weckt das „Andere“ bei ihr die Neugier und die Hoffnung, bei diesen Erkundungen auf potenzielle Verbündete zu stoßen mit dem Ziel gemeinsamer Exkursionen in entgrenzte, wenn auch nicht grenzenlose Terrains des Verstehens. So hat die Jubilarin ihre Aufgabe als Theologin eben auch verstanden: Im Anderen das potenziell Eigene zu sehen und mit Neuem anzureichern, indem man ihm mit Neugier und Wohlwollen begegnet. Dies gilt insbesondere für traditionelle konfessionelle Gehege wie auch für interreligiöse Begegnungsräume, in denen sie immer wieder konkrete Menschen mit ihren Anliegen sieht. Bei aller ökumenischen Vermessung des eigenen Denkens blieb freilich auch der eigene Standpunkt erkennbar, der, wenn auch im Diskurs nicht unverrückbar, so aber doch immer auch ein Wörtlein mitzureden hat, was die Liquidität der Dialogbereitschaft freilich eher fördert als hindert. Für die Erstellung dieser Festschrift gilt es, vielfach Dank zu sagen: den vielen Autorinnen und Autoren, die ohne Zögern zusagten; Carina Ambos und Sören Koselitz für ihre Mithilfe bei der Anpassung der Manuskripte; der Gesellschaft für Freikirchliche Theologie und Publizistik e.V. für die administrative Unterstützung; dem Verlag Duncker & Humblot, dessen Verlagsdirektor Andreas Reckwerth unsere Publikationsanfrage gerne aufgriff, und Heike Frank als Herstellungsleiterin, die uns mit ihrer lektoralen Expertise und Geduld bei der Erstellung des Manuskript zur Seite stand. Auch danken wir herzlich für die finanzielle Unterstützung hinsichtlich der Druckkostenzuschüsse. Namentlich Generalsekretär Christoph Stiba und dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, deren Pastorin die Jubilarin ist, sowie der Gerhard-Claas-Stiftung. Ganz besonders danken wir an dieser Stelle auch dem Oldenburger Kollegen und Religionspädagogen Professor Dr. Dr. Joachim Willems und dem Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Oldenburger Universität. Da die Jubilarin ihre wissenschaftlichen Beiträge gerne mit einem Zitat beginnt, enden wir mit einem, das ihr am Herzen liegt: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ (Franz Kafka). Oldenburg, im Herbst 2022
Sabine Hübner und Kim Strübind
Inhaltsverzeichnis Reformations- und Täuferforschung Volker Leppin Autarkie, Leitung und Amt. Grenzen und Entgrenzungen in Luthers Konzeption von Gemeinde und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Astrid von Schlachta „Ach, daß wir doch alle dahin gelangen möchten“. Der Einfluss des Baptismus auf die Mennoniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaas-Dieter Voß Der Geist als Pfand Gottes. Ucke Walles (1593 – 1653) und seine mystisch spirituelle Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Baptismusforschung / Freikirchenforschung Martin Rothkegel James Foster in Deutschland. Ein Londoner Baptistenprediger und die deutsche Aufklärungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tobias Weger Die Baptisten in und aus der Dobrudscha. Eine lokale und eine globale Verflechtungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl W. Schwarz Das „härteste Pflaster“ für freikirchliche Missionsarbeit. Zur religionsrechtlichen Konstellation in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . 123 Kaholi Zhimomi The Nagas’ Encounter with Christianity. The Baptist and the Indigenous Revival Awakenings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Andreas Liese Auf dass sie alle eins seien. Freikirchliche Vereinigungsbemühungen 1937 bis 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
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Inhaltsverzeichnis
Internationale und kirchliche Zeitgeschichte Robert P. Ericksen Theologians under Adolf Hitler and Christians under Donald Trump: Christianity Gone Awry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Gerhard Ringshausen Lobgesang und Zeitansage. Rudolf Alexander Schröders geistliche Gedichte als Stellungnahme zum „Dritten Reich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Anders Jarlert Kirchengeschichte ist immer Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Theologie und Ökumene Ulrike Link-Wieczorek Taufe als Bittgebet? Überlegungen zu einem pneumatologischen Verständnis in ökumenischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Johanna Rahner Von der Systemrelevanz des Regelbruchs. Warum Dissens wahrhaft katholisch ist und die Zukunft der Katholischen Kirche von der Wiederentdeckung dieser Wahrheit abhängt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Verena Hammes Das ökumenische Potenzial des Gedächtnisses am Beispiel von 500 Jahre Täuferbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Gudrun Löwner Begum Sumru. Der märchenhafte Aufstieg einer islamischen Tänzerin zur einzigen katholischen Herrscherin in Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Dorothea Sattler Ökumenische Begleitung in konfessionellen Reformprozessen. Der römischkatholische „Synodale Weg“ und die christliche Weltkirche . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Dominik Gautier Kosmischer Realismus. Marilynne Robinson als Gesprächspartnerin einer reformierten Theologie der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Judentum und jüdische Studien Matthias Morgenstern Apostaten, Rebellen, Götzendiener. Jeshajahu Leibowitz’ Deutung des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Inhaltsverzeichnis
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Kim Strübind „Ich hoffe, dass Sie mit mir darin übereinstimmen werden, dass der christliche Glaube nur solange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt“. Die Anfänge des christlich-jüdischen Dialogs in der Evangelischen Kirche nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Elisabeth Schlesinger Grußwort der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg anlässlich des 60. Geburtstags von Andrea Strübind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Über die Grenze(n) Raingard Esser Grenzen und Grenzgänger in der Frühen Neuzeit – transregionale und interdisziplinäre Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Nicole Hirschfelder and Jana Weiß Overcoming Barriers. An Interdisciplinary Collaboration in a Transatlantic Research Network on the Black Freedom Struggle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Essays Gerhard Besier Politische und religiöse Impulse für das Einheitsstreben wie für Trennungsbewegungen innerhalb des Christentums – von Konstantin bis zur Russisch-Orthodoxen Kirche der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Erich Geldbach Die Chicago-Erklärungen zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift. Inhalte und Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Michael Daxner Jüdisch in Oldenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Bibliographie Prof. Dr. Andrea Strübind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Tabula gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
Reformations- und Täuferforschung
Autarkie, Leitung und Amt Grenzen und Entgrenzungen in Luthers Konzeption von Gemeinde und Kirche Von Volker Leppin Baptistische Ekklesiologie knüpft, so hat es Andrea Strübind in einem grundlegenden Beitrag zum freikirchlichen Kirchenverständnis aus baptistischer Sicht festgehalten, „an das reformatorische Grundverständnis der Kirche als Versammlung der Gläubigen“ an. Strübind verweist dafür in der Fußnote auf das lutherische Hauptbekenntnis, die Confessio Augustana, und deren siebten Artikel.1 Wenn dem so ist, lohnt es sich in ökumenischer Perspektive, intensiver nach den gemeinsamen Wurzeln lutherischen und freikirchlichen Kirchenverständnisses zu fragen. Wie eng beides beieinander liegt, zeigen die Grundelemente baptistischen Kirchenverständnisses, die Strübind im selben Zusammenhang aufführt. Es sind dies „die Bibel als oberste Autorität, das ekklesiologische Prinzip des ,Priestertums aller Gläubigen‘, die Taufe der Gläubigen, die Selbstständigkeit der Ortsgemeinden und die Trennung von Kirche und Staat“.2 Es ist offenkundig, dass die Differenz neben der Frage der Legitimität der Taufe von Säuglingen vor allem bei der Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat einsetzt. Daher lohnt es sich daran zu erinnern, wie deren enge Beziehung im Kontext der Wittenberger Reformation entstand und ekklesiologisch legitimiert wurde. Hierzu sollen die folgenden Überlegungen einen Beitrag leisten. I. Spirituelle Gemeinschaft der Heiligen In seinem beeindruckenden Aufsatz über „die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff“ von 1915 hat Karl Holl gegen die Auffassung, „daß Luther seinen Kirchenbegriff in den Jahren 1518 – 1521 ausgestaltet habe“,3 eine Fülle von Argumenten aus den frühen Vorlesungen zusammengetragen, deren Kernargument darin bestand, darzulegen, dass Luther schon in der ersten Psalmenvorlesung ein Verständnis vorgetragen habe, nach dem die Kirche vorwiegend eine innere, unsichtbare Größe sei.4 In 1
Vgl. Strübind, Andrea: Das freikirchliche Kirchen- und Gemeindeverständnis. Eine baptistische Sicht, in: Cath (M) 63 (2009), S. 27 – 47, hier: 41. 2 Ebd., S. 40. 3 Holl, Karl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther, 6. Aufl., Tübingen 1932, S. 288. 4 Vgl. Holl, Luther, S. 296 – 298.
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Volker Leppin
jüngerer Zeit ist ihm darin mit Klaus Unterburger auch ein katholischer Autor gefolgt.5 Tatsächlich klingt in manchen Äußerungen aus diesem frühen Kontext Luthers späteres Kirchenverständnis geradezu frappierend an, insbesondere in einer Bemerkung aus dem Scholion zu Ps 91,7: „Als Werk Christi und von ihm gemacht, scheint die Kirche nicht irgendetwas Äußeres zu sein, sondern ihr ganzer Aufbau (structura) ist unsichtbar in Gott. Und so wird sie nicht mit den fleischlichen Augen, sondern mit den geistlichen in Vernunft und Glaube erkannt.“6
Freilich gilt hier wie generell in der Erforschung des jungen Luther Vorsicht gegenüber vorschnellen teleologischen Vereinnahmungen, erst recht, wenn die Deutung der frühen Aussage wie im Falle Holls7 und auch Unterburgers8 im Zusammenhang mit einer Frühdatierung der reformatorischen Erkenntnis Luthers steht, wie sie spätestens seit Berndt Hamms Dekonstruktion des „Wende-Konstrukts“9 kaum mehr plausibel gemacht werden kann. Eher wird man heute in Vorstellungen von mehreren Etappen der Entdeckung10 oder, wohl noch angemessener, einer Entwicklung mit mannigfachen Spuren der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ausgehen,11 die dann insgesamt zu einer Transformation mittelalterlicher Vorstellungen zu reformatorischen geführt haben.12
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Vgl. Unterburger, Klaus: Unter dem Gegensatz verborgen. Tradition und Innovation in der Auseinandersetzung des jungen Martin Luther mit seinen theologischen Gegnern (KLK 74), Münster 2015. 6 Luther, Dictata super Psalterium ad 91,7 (WA 55/2,718, 12 – 14): „opera et factura Christi Ecclesia non apparet aliquid esse foris, Sed omnis structura eius est intus coram Deo Inuisibilis. Et ita non oculis carnalibus, Sed spiritualibus in intellectu et fide cognoscuntur.“ Vgl. Holl, Luther, S. 296 Anm. 3. 7 Vgl. Holl, Luther, S. 27 – 35. 8 Vgl. Unterburger, Unter dem Gegensatz, S. 121 – 142, 146. 9 Hamm, Berndt: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Bultmann, Christoph/Leppin, Volker/Lindner, Andreas (Hrsg.), Luther und das monastische Erbe (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39), Tübingen 2007, S. 111 – 151, hier: 113. 10 Vgl. Hamm, Berndt: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010. 11 Dies scheint mir momentan die angemessenste Beschreibung. Meine früheren Ansätze (siehe insbesondere Leppin, Volker: Martin Luther, 3. Aufl., Darmstadt 2017, S. 107 – 117), erwecken zu sehr den Eindruck einer glatten Entwicklung und sind damit noch nicht in dem nötigen Maße von den Schlacken eines teleologischen Modells gelöst. 12 Zum Transformationsbegriff siehe Leppin, Volker: Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 86), 2. Aufl., Tübingen 2018; ders., Transformation – Ein Modell zur Bestimmung von Kontinuität im Wandel, in: ders./Michels, Stefan (Hrsg.), Reformation als Transformation? Interdisziplinäre Zugänge zum Transformationsparadigma als historiographische Beschreibungskategorie (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 126), Tübingen 2022, S. 43 – 60.
Autarkie, Leitung und Amt
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Das hat schon Bernhard Lohse, selbst ein Vertreter der Frühdatierung,13 gesehen, der in der Ersten Psalmenvorlesung eine hohe Disparatheit der Aussagen Luthers feststellte.14 In der Auslegung von Ps 67 betont Luther, dass die Kirche nicht mehr wie im Alten Bund verborgen (abscondita) sei, sondern „Nunc autem manifestata“.15 Diese Manifestation war für Luther zu diesem Zeitpunkt noch aufs Engste mit der sichtbaren Hierarchie verbunden, die sich in den Aposteln und „sequaces eorum Episcopi“ zeige.16 Luther berief sich für die Rede von der einst verborgenen Kirche auf die Deutung des Verses bei Paul von Burgos, der nicht den Begriff absconditus verwendete, wohl aber auf die Kirche als sponsa Christi rekurrierte, was zugleich den Horizont anzeigt, innerhalb dessen Luther sich bewegte, wenn er von Verborgenheit beziehungsweise Unsichtbarkeit der Kirche sprach. Eben diese Vorstellung von der Kirche als Braut Christi stand auch dahinter, wenn er in der Römerbriefvorlesung die Kirche als corpus mysticum bezeichnete17 und so eine gängige Bezeichnung der mittelalterlichen Kirche aufgriff.18 Dass das Attribut „mysticus“ in diesem Zusammenhang anderes bedeutet, als klassischerweise mit dem Wort „mystisch“ verbunden wird, ist offenkundig – und doch weisen diese Äußerungen der Sache nach auf einen doppelten Traditionshintergrund. Zum einen ist in Rechnung zu stellen, dass die Vorstellung von einer unsichtbaren beziehungsweise verborgenen Kirche der Sache nach ihren Grund in Augustin hat und sich bei diesem auch schon Spuren eines Auseinandertretens der so verstandenen Kirche und der sichtbar hierarchisch gegliederten finden.19 Ergänzt wurde diese für Luther ohnehin schon gewichtige Stimme noch durch Bernhard von Clairvaux, der bekanntlich für die frühe reformatorische Entwicklung des Wittenbergers eine große Rolle spielte.20 So eng der große Zisterzienserabt mit der Deutung der Braut des Hohenliedes als individuelle, mystisch bewegte Seele verknüpft ist, so deutlich findet sich bei ihm doch auch die Anwendung dieser Metapher auf die Kirche, und zwar auffälligerweise auch im Zusammenhang mit einer antijudaistischen 13 Vgl. Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 109. 14 Vgl. ebd., S. 77. 15 Luther, Dictata super Psalterium ad 67,13 (WA 55/2, S. 361,173), unter Berufung auf Paul von Burgos zur Stelle (s. Tertia pars huius j operis in se continens glosam ordinajriam cum expositione lyre litterali et morajli: nec non additionibus ar replicis, Basel: Froben 1498, C 4rb: „unde idem est ac si dicat quod species domus id est ecclesia qui est sponsa christi“). 16 Luther, Dictata super Psalterium ad 67,13 (WA 55/2, S. 362,182 f.). 17 Vgl. Luther, Römerbriefvorlesung (WA 56, S. 60,5). 18 Siehe hierzu de Lubac, Henri: Kirche und Eucharistie im Mittelalter. Eine historische Studie, Einsiedeln 1969. 19 Vgl. zu den verschiedenen Begriffen, die Augustin für dieses Phänomen verwendet Trelenberg, Dirk: Das Prinzip „Einheit“ beim frühen Augustinus (BHTh 125), Tübingen 2004, S. 162 Anm. 98. 20 Vgl. Bell, Theo: Divus Bernhardus: Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993; Posset, Franz: The Real Luther. A Friar at Erfurt & Wittenberg. Exploring Luther’s Life with Melanchthon as Guide, St. Louis 2011.
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Volker Leppin
Abwertung der Synagoge, die Bernhard in Predigt 67 über das Hohelied als fatua sponsa diffamiert.21 Noch in derselben Predigt wendet er dann die Brautschaftsvorstellung positiv auf das Verhältnis Christi zur Kirche an22 und entfaltet diesen Gedanken in der folgenden Predigt,23 die mit der Bemerkung beginnt, am gestrigen Tage habe er die Braut noch verborgen (abscondi).24 Bei der Entfaltung der Kirche aber spricht er nicht etwa über deren äußere Gestalt, sondern er bestimmt sie als die „congregatio iustorum“25 und spricht von ihren Gliedern als den electi. 26 Die Stelle ist auch deswegen von besonderer Bedeutung, weil Bernhard die Qualität der von Christus geliebten Kirche als passiv beschreibt, und dies in einer meritum-Terminologie:27 Die Kirche habe alle ihre Verdienste allein von Christus. Deswegen solle sie zwar nicht nachlassen, sich um Verdienste zu bemühen, diese aber stets nur als die Verdienste Christi erkennen und anerkennen. Vor allem aber verweist diese Stelle auf den Aspekt der Verborgenheit der so verstandenen Kirche, die Bernhard in Predigt 78 mit dem Begriff der „Ecclesia (…) latens“ beschreiben kann.28 Diese Verborgenheit gilt ihm zufolge in erster Linie im Sinne ihrer Schöpfungsursprünglichkeit, aber auch, in offenkundiger Aufnahme von Gedanken Augustins, als eine Verborgenheit unter der massa miserae damnationis.29 Eben diese Kirche wird nun, wie Bernhard mit eben dem Wortstamm, der oben bei Luther begegnete – manifestus – formuliert, offenbar,30 indem eine Sammlung der Glaubenden durch die Verkündigung des verbum erfolgt.31 Bernhard hebt zwar – wie in den frühen Vorlesungen auch Luther – nicht den Gegensatz dieser verborgenen Kirche zur sichtbaren hervor,32 aber er lässt eine Spannung erkennen, wenn er in Predigt 14 erklärt, allein die „Ecclesia 21
Bernhard, Sermo 67, VI,11 (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Lateinisch/ deutsch, hrsg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 6, Innsbruck 1995, S. 404,14). 22 Ebd., S. 406,10 f. 23 Hierauf hat Seeberg, Reinhold: Zur Geschichte des Begriffes der Kirche. Geschichtlichdogmatische Studien, Dorpat 1884, S. 60, hingewiesen. 24 Bernhard, Sermo 68, I,1 (Bernhard, Werke 6, S. 406,19). 25 Bernhard, Sermo 68, I,3 (Bernhard, Werke 6, S. 410,14). 26 Bernhard, Sermo 68, II,4 (Bernhard, Werke 6, S. 412,7). 27 Vgl. Bernhard, Sermo 68, III,6 – 7 (Bernhard, Werke 6, S. 414,6 – 416,17). 28 Bernhard, Sermo 78, II,4 (Bernhard, Werke 6, S. 552,5 f.); vgl. bei Luther, Genesisvorlesung (WA 42, S. 187,37): „Itaque vera Ecclesia latet“. 29 Bernhard, Sermo 78, II,4 (Bernhard, Werke 6, S. 552,7). 30 Vgl. Bernhard, Sermo 78, II,5 (Bernhard, Werke 6, S. 552,9). 31 Vgl. Bernhard, Sermo 78, II,5 (Bernhard, Werke 6, S. 552,15). 32 Seeberg, Geschichte, S. 60, nimmt daran Anstoß, dass Bernhard, Sermo 78, II,5 (Bernhard, Werke 6, S. 552,15) von einer Sammlung zur mater catholica spricht und damit eine Metapher nutzt, die auch von Augustin bekannt ist (Simonis, Walter: Ecclesia visibilis et invisibilis. Untersuchungen zur Ekklesiologie und Sakramentenlehre in der afrikanischen Tradition von Cyprian bis Augustinus, Frankfurt/M. 1970, S. 90). Tatsächlich weist dies darauf hin, dass für Bernhard trotz der Vorstellung von der Verborgenheit der Kirche der Erwählten deren Unterscheidung von der sichtbaren Kirche nicht im Blick ist – eine Spannung, wie sie, wie oben ausgeführt, ähnlich auch bei Luther in der frühen Psalmenvorlesung begegnet.
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(…) perfectorum“ ruhe im Innern beim Bräutigam,33 während die anderen, Unvollkommenen, zu welchen er zumindest rhetorisch auch sich rechnet, noch außerhalb blieben.34 Diese Reflektionen zeigen, wie dringend nötig es ist, Aussagen wie die oben angeführte aus Luthers Erster Psalmenvorlesung nicht einfach von den späteren reformatorischen Konflikten her zu deuten. Luther bewegt sich mit ihnen im Rahmen eines augustinisch-mystischen Gedankenkomplexes, wie er auch sonst für die Zeit des späten Mittelalters charakteristisch ist.35 Er konnte sich umso näher am legitimen Hauptstrom spätmittelalterlicher Theologie sehen, als der Gedanke, die Kirche sei im Sinne Augustins eine „multitudo praedestinatorum, tam salvatorum quam salvandorum“, die auch als „sponsa dei“ und „corpus christi“ bezeichnet werden könne, ihm auch in der Expositio Missae Gabriel Biels begegnen konnte.36 In diesem Rahmen sind die Äußerungen der frühen Vorlesungen zur Kirche alles andere als singulär. Vielmehr machen sie deutlich, warum Luther auf eigenen Wegen zu theologischen Aussagen gelangen konnte, deren Nähe zu Jan Hus er erst später bemerkte.37 So wenig spektakulär diese Überlegungen sind, so sehr stehen sie beim jungen Luther inhaltlich „am Rande“ – so konstatiert es Bernhard Lohse schon für die Erste Psalmenvorlesung für Luthers Kirchenverständnis,38 um dann für die Römerbriefvorlesung festzuhalten, die „Ekklesiologie“ sei „in der Zeit der Paulusexegese von geringerer Bedeutung als vorher in der ersten Psalmenvorlesung.“39 Was den werdenden Reformator in dieser Zeit interessierte, entstammte zwar auch mystischen Quellen, lag aber letztlich in einem anderen Feld. So, wie Luther es 1518 seinem Ordensobe-
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Vgl.Bernhard, Sermo 14, III,5 (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Lateinisch/ deutsch, hrsg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 5, Innsbruck 1994, S. 204,26 f.). 34 Vgl. Bernhard, Sermo 14, III,15 (Bernhard, Werke 5, S. 204,26 f.). 35 Vgl. Leppin, Volker: Die Verbindung von Augustinismus und Mystik im späten Mittelalter und in der frühen reformatorischen Bewegung, in: LuJ 85 (2018), S. 130 – 153. 36 Vgl. Biel, Expositio l.22 E (Gabrielis Biel Canonis Misse Expositio, hrsg. v. Heiko A. Oberman u. William J. Courtenay. Pars prima [VIEG 31], Wiesbaden 1963, S. 200); vgl. hierzu Leppin, Volker: Eine neue Kirche bauen. Die Herausbildung von Luthers Kirchenverständnis in Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, in: Bischof, Franz Xaver/Oelke, Harry (Hrsg.), Luther und Eck. Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich, München 2017, S. 143 – 163, hier: 145 f. 37 Zur Hus-Rezeption bei Luther und darüber hinaus sind jüngst zwei interessante Dissertationen vorgelegt worden: Michels, Stefan: Testes veritatis. Studien zur transformativen Entwicklung des Wahrheitszeugenkonzepts in der Wittenberger Reformation (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 129), Tübingen 2022; Thomsen, Eike Hinrich: Ketzer und Heiliger. Das Bild des Johannes Hus zwischen Reformation und Aufklärung (1517 – 1730), Diss. Leipzig 2021. Als gewichtige ältere Forschungsposition Kaufmann, Thomas: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67), Tübingen 2012, S. 30 – 67. 38 Vgl. Lohse, Luthers Theologie, S. 75. 39 Lohse, Luthers Theologie, S. 93.
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ren und Beichtvater Johann von Staupitz schilderte,40 erfuhr er geradezu eine offenbarungsartige Entdeckung hinsichtlich des Bußbegriffs. Diese Entdeckung auf den Bahnen Johannes Taulers41 führte ihn bekanntlich zu der Frage des Ablasses, die dann den öffentlichen Streit um ihn provozierte. Blickt man auf die verschiedenen Spannungen, die das religiöse Leben des späten Mittelalters prägten,42 so stand Luther hier auf der Seite jener, die einer nach außen gerichteten Frömmigkeitskultur eine stärker innerliche entgegenhielten. Die etwa die Konzilien, aber auch manche nationale Reformanstrengungen bewegende Frage des Gegenübers von zentralistisch-papalen Kirchenvorstellungen zu solchen, die eher auf die Dezentralität der Kirche, sei es in Gestalt der im Konzil repräsentierten ecclesia universalis oder der um eigene Kirchenhoheit bemühten Territorialherren, setzten, war in den Thesen gegen den Ablass allenfalls in Ansätzen präsent, so in den Thesen 20 – 22, in denen Luther die jurisdiktionelle Macht des Papstes auf von ihm selbst auferlegte Vorschriften und den Raum der Erde begrenzte43 oder in seiner kecken Frage, warum der Papst denn eigentlich, wenn er schon das Fegefeuer freiräumen könne, hierfür Geld verlange und das nicht rein aus christlicher Liebe tue.44 Dies sind offenkundige Spitzen oder vielleicht auch Spitzfindigkeiten – diesen Bemerkungen eine konsistente Ekklesiologie zu unterstellen, führte zu weit. Und es führte vor allem an den Interessen eines um spirituelle Anliegen ringenden jungen Mönchs vorbei. Die Verschiebung innerhalb des Geflechts spätmittelalterlicher Spannungen von solchen Fragen der Frömmigkeit zu ekklesiologischen erfolgte erst, dies allerdings rasch und konsequent, durch Luthers Gegner. Zunächst ist hier Silvester Prierias zu nennen, dessen Dialogus gegen Luther bereits im April oder Mai 1518 in den Druck ging.45 Die entscheidende Wende in der Debatte, die er vollzog, lag eben darin, dass er sich nicht damit begnügte, durch den gesamten fiktiven Dialog hindurch dem „magist[er] Martin[]“46 die vermeintlichen Irrtümer in der Frage des Ablasses und der Buße entgegenzuhalten, sondern dass er dem Text vier fundamenta voranschickte, welche ein papalistisches ekklesiologisches Gerüst einschließlich der zugespitzten Aussage, dass wer immer der Lehre der römischen Kirche oder des Bischofs von
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Vgl. Luther, Schreiben an Staupitz (WA 1, S. 525,1 – 526,9). Siehe hierzu Leppin, Volker: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: ders., Transformationen, S. 261 – 277. 42 Vgl. hierzu Leppin, Volker: Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, in: ders., Transformationen, S. 31 – 68. 43 Vgl. Luther, Disputatio de indulgentiis 20 – 22 (WA 1, S. 234,15 – 20). 44 Vgl. ebd. 82 (WA 1, S. 237,22 – 25). 45 Vgl. Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521). I. Teil: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517 – 1518), hrsg. u. komm. v. Peter Fabisch u. Erwin Iserloh, Münster 1988 (CCath41), S. 38. 46 Prierias, Dialogus Überschrift (Dokumente 1, S. 53). 41
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Rom widerspreche, ein Häretiker sei, entfalteten.47 Das war eine ekklesiologische Position, die ihrerseits nicht beanspruchen konnte, die allgemein vertretene Kirchenlehre zu vertreten. Vielmehr stellte sie selbst eine strittige Auffassung dar, die innerhalb der angesprochenen spätmittelalterlichen Spannung hinsichtlich des Kirchenverständnisses eine eindeutige Verortung auf Seiten zentralistischer Modelle vornahm. Der Angriff auf Luther war also ein doppelter: Zum einen war es von Luthers Ansatz her keineswegs zwingend, die Debatte aus dem Feld der Frömmigkeit in das der Ekklesiologie zu verlagern. Zum anderen wurde Luther aus der Feder des mit der Anklage betrauten Kurialen mit einer Position konfrontiert, die man ihrerseits durchaus auch als radikal kennzeichnen könnte. Zumindest den erstgenannten Aspekt, die Achsenverschiebung der Debattenlage, die Luther auf ein ihn nicht besonders interessierendes Feld zog, unterstützte und unterstrich ein anderer bedeutender Vertreter der Kirchenleitung, Kardinal Cajetan, noch im selben Jahr mit seiner Einschätzung von Luthers Bußtheologie in seinem Traktat „De fide ad fructuosam absolutionem sacramentalem necessaria“, mit welchem er sich auf das Augsburger Verhör des Wittenberger Mönches vorbereitete: „Das bedeutet nämlich eine neue Kirche zu errichten“.48 Historisch betrachtet ist diese Aussage weniger „prophetisch[…]“49 denn analytisch scharf: Cajetan war offenbar bewusst geworden, dass die unterschiedlichen Aspekte spätmittelalterlicher Religiosität, Frömmigkeit und Ekklesiologie enger miteinander zusammenhingen, als Luther dies ausdrücken wollte oder vielleicht auch als er tatsächlich gedacht hat. Die ekklesiologische Frage war damit auf dem Tapet – und Luther sah sich zunehmend mit ihr konfrontiert und in die Ecke überführter Ketzerei gestellt. Diese Taktik hat Johannes Eck vorangetrieben. Schon in seinen handgeschriebenen Adnotationes zu den Ablassthesen, die Luther im März 1518 erhielt50 und dann mit dem Namen Obelisci versah,51 bezichtigte er Luther, das Bohemicum virus zu verbreiten,52 worauf Luther empört reagierte.53 Eck trieb die Taktik weiter, bis hin 47
Vgl. Prierias, Dialogus fund. 3 (Dokumente 1, S. 55). Cajetan et Luther en 1518. Edition, traduction et commentaire des opuscules d’Augsburg de Cajetan, hrsg. v. Charles Morerod, Fribourg 1994, S. 336: „Hoc enim est novam Ecclesiam construere“; vgl. Hallensleben, Barbara: „Das heißt eine neue Kirche bauen“. Kardinal Cajetans Antwort auf die reformatorische Lehre von der Rechtfertigungsgewißheit, in: Cath (M) 39 (1985), S. 217 – 239. 49 Felmberg, Bernhard Alfred R.: Die Ablaßtheologie Kardinal Cajetans (1469 – 1534) (SMRTh 66), Leiden u. a. 1998, S. 219. 50 Vgl. Dokumente 1, S. 380. 51 Luther an Johann Sylvius Egranus, 24. 03. 1518 (WA.B 1, S. 157 [Nr. 65,10]). 52 Vgl. Dokumente 1, S. 431. 53 Vgl. Luther an Johann Sylvius Egranus, 04. 03. 1518 (WA.B 1, S. 158 [Nr. 65,18 f.]). Dass Eck sich mit den Vorwürfen des Hussitismus in Leipzig mithin auf ein „von Luther selbst betretenes Terrain“ begeben habe (Kaufmann, Anfang, S. 39 Anm. 34), lässt sich an den Quellen nicht bestätigen. Kaufmanns Annahme, Luther habe sich schon vor Leipzig zu Hus als „einem rite et recte verurteilten Häretiker der römischen Kirche“ bekannt (a.a.O.), lässt sich nicht mit der hier herangezogenen Stelle WA 2, S. 159,17 – 19 begründen, an welcher sich 48
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zur Leipziger Disputation, auf welcher es zu der berühmten Szene am 5. Juli kam, in welcher Eck Luther einige in Konstanz verurteilte pestiferi errores vorlegte, darunter den von Luther zuvor klar bejahten Satz: „Petrus ist und war nicht das Haupt der heiligen katholischen Kirche“54. Die Taktik ging bekanntlich auf, denn Luther bekannte sich nun dazu, dass es unter den Artikeln der Böhmen einige articuli Christianissmi et evangelici gebe55. Der ihm von Eck vorgehaltene Artikel war nicht nur selbst ein ekklesiologischer, sondern er zog auch erhebliche ekklesiologische Weiterungen nach sich. Denn wer so argumentierte, musste am Ende zugestehen, dass ein legitim versammeltes Konzil – und die Legitimität musste gerade für das sich dem Papst vorordnende Konstanzer Konzil gelten – irren konnte. Luther erklärte, das gelte vor allem in Fragen, die nicht den Glauben tangierten, in den anderen aber eben auch.56 Damit brachen wichtige Säulen des bestimmenden mittelalterlichen Kirchenverständnisses fort. Eine der Folgen war die klare Herausbildung des Sola-scriptura-Prinzips, die sich im Wesentlichen in Melanchthons Baccalaureatsthesen vom 9. September 1519 nachvollziehen lässt,57 deren Ergebnis Luther bald in einem Schreiben an seinen Mentor Staupitz als „ganz schön frech, aber überaus zutreffend“ billigte.58 Seine eigene Konsequenz war eine andere, wenn auch nicht gänzlich überraschende oder unvorbereitete: Schon in Vorbereitung der Leipziger Disputation hatte er an Spalatin geschrieben, er frage
Luther vielmehr ausdrücklich von Hus distanziert (ebd. Z. 4 – 7. 19 f.; vgl. Leppin, Volker: Papst, Konzil und Kirchenväter. Die Autoritätenfrage in der Leipziger Disputation, in: Hein, Markus/Kohnle, Armin [Hrsg.], Die Leipziger Disputation von 1519. Ein theologisches Streitgespräch und seine Bedeutung für die frühe Reformation, Leipzig 2019 [HerChr 25], S. 187 – 196, hier: 194 Anm. 30). 54 Leipziger Disputation (WA 59, S. 461,883 f.): „Petrus non est nec fuit caput ecclesiae sanctae catholicae“. 55 Vgl. Leipziger Disputation (WA 59, S. 466,1049). 56 Vgl. ebd., S. 500,2081 – 2083. Dass Konzilien in Fragen, die den Glauben nicht betrafen, irren konnten, hatte in der kanonistischen Diskussion schon Panormitanus gelehrt; siehe hierzu Voigt-Goy, Christopher: „dictum unius privati“. Zu Luthers Verwendung des Kommentars der Dekretale Significasti von Nicolaus de Tudeschis, in: Mähling, Patrik (Hrsg.), Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. FS Manfred Schulze, Bern u. a. 2010 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 13), S. 93 – 114, hier: 94 – 98. Auch der Gedanke, dass Konzilien in Glaubensdingen irren konnten, war bekannt und in der Debatte präsent. So hat Pierre d’Ailly, dessen Werk Luther bekanntlich gut bekannt war, im Zuge der Diskussion des Papstamtes in seiner „Quaestio resumpta“ geradezu selbstverständlich als Argument angeführt: „concilium generale potest contra fidem errare. Immo de facto sic aliquando errauit sicut per multa exempla ostendunt.“ und dabei auf das Konzil von Ephesus als eines der vielen Beispiele verwiesen (Quaestiones magistri Petri de j Alliaco cardinalis cameracenjsis super libros sententiarum, Straßburg: Georg Husner 1490, F6r). 57 Siehe Kruse, Jens-Martin: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516 – 1522 (VIEG 187), Mainz 2002, S. 227. 58 Vgl. Luther an Staupitz, 3. Oktober 1519 (WA.B 1, S. 514 [Nr. 202,33]): „auduculas, sed verissimas“.
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sich, ob der Papst – gemeint ist dabei stets das Papsttum als Institution59 – nicht vielleicht der Antichrist oder dessen Gesandter sei.60 Öffentlich machte er diesen Verdacht in seinen, gleichfalls Spalatin gewidmeten, Resolutiones zur Leipziger Disputation, die wenige Wochen nach dem Ereignis, am Übergang vom August zum September 1519, erschienen.61 Zwar gebrauchte Luther hier nicht den Terminus „Antichrist“, sah aber die Prophezeiung aus 2 Thess 2,4, die traditionell auf den Antichrist gedeutet wurde, im Papst erfüllt.62 Dieses Urteil hatte starke ekklesiologische Gründe. Luther bezog sich auf das berühmte Diktum Augustins „Ich glaubte dem Evangelium nicht, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche dazu bewegte“.63 Werde dieses im Sinne eines Vorranges der päpstlichen Lehrentscheidung gegenüber dem Evangelium, ja im Sinne einer Abhängigkeit der Glaubwürdigkeit der Letzteren vom Ersteren gedeutet, so erhebe sich der Papst oder derjenige, der ihm dies zuschreibe, im Sinne des von Luther für authentisch erachteten Pauluszitates über alles was Gott oder Gottesdienst heiße und verkehre die rechte Ordnung, denn die Kirche sei „creatura (…) Euangelii“.64 Hierin zeigt sich eine zunehmende Diastase zwischen Luthers Verständnis von der schon in der Ersten Psalmenvorlesung vertretenen Wortgebunden- und -gegebenheit der Kirche65 und einem institutionell-papalen Verständnis. Der Gegensatz wird für ihn nun offenbar in einem solchen Maße manifest, dass er in seiner eigenen Deutung der für sein Verständnis gewiss heiklen Augustinstelle seinen augustinisch-mystischen Kirchenbegriff aktiv in Stellung gegen den von ihm als zu papalistisch abgelehnten Kirchenbegriff bringt. Er hebt hervor, dass Augustin hier gar nicht vom Papst spreche, sondern von der universalen Kirche der Glaubenden, die, im Unterschied zu den Manichäern, im Einvernehmen mit dem Evangelium stehe.66 Ekklesiologisch entscheidend wird hier also ein Kirchenbegriff, der auf der Gemeinschaft der Gläubigen, nicht aber auf hierarchischen Elementen basiert. 59 Vgl. Seebaß, Gottfried: Art. Antichrist IV. Reformations- und Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie 3 (1978), S. 28 – 43, hier: 28 f. 60 Vgl. Luther an Spalatin, 13. März 1519 (WA.B 1, S. 359 [Nr. 161,29 – 31]). Eine erste Andeutung dieser Überlegungen findet sich schon in einem Schreiben an Wenzeslaus Link vom 18. Dezember 1518 (WA.B 1, S. 270 [Nr. 121,11 – 14]), seinerzeit aber noch in der etwas vorsichtigeren, nicht unmittelbar identifizierenden Wendung, er fürchte, dass der Antichrist in der Romana curia regiere; vgl. hierzu Leppin, Transformationen, S. 473. 61 Vgl. WA 2, S. 388. 62 Vgl. Luther, Resolutiones (WA 2, S. 430,5 f.). 63 Augustin, Contra epistulam Manichaei 5.6 (CSEL 25/1, S. 197,22 f.) „Ego uero euangelio non crederem, nisi me catholicae Ecclesiae commoueret auctoritas“; vgl. Luther, Resolutiones (WA 2, S. 430,17 f.). Luther wirft der altgläubigen Seite vor, dies verkürzend zu zitieren als „Euangelio non crederem, nisi Ecclesiae crederem, id est, plus credo Ecclesiae quam Euangelio“ (ebd. 429,34 f.). 64 Luther, Resolutiones (WA 2, S. 430,6 f.). 65 Vgl. z. B. Luther, Dictata super Psalterium (WA 55/2,824,706 f.): „Quia in verbo Euangelii est Ecclesia constructa“; weitere Belege gesammelt bei Holl, Luther, S. 293 Anm. 2. 66 Vgl. Luther, Resolutiones (WA 2, S. 430,28 – 431,5).
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Man kann durchaus fragen, ob Luther nicht die Erwähnung von auctoritas bei Augustin erheblich herunterspielt, indem er das Verständnis des Zitats zum Konsens hin verschiebt. Das ist auch Ausdruck der argumentativen Nöte, in die ihn die erwähnte Achsenverschiebung der Argumentationslage gebracht hat. Der Wittenberger Mönch, den man im Blick auf die Ablassfrage noch als forsch betrachten mag, befand sich in Fragen der Ekklesiologie in der Defensive: Die Fragen, mit denen er nun konfrontiert wurde, trafen nicht den Mittelpunkt seiner Interessen, und sie trafen ihn daher auch theologisch weniger vorbereitet, als dies bei Debatten um den Ablass der Fall gewesen wäre. Doch er konnte, wie das Beispiel zeigt, auf die oben beschriebenen früh entwickelten Positionen zurückgreifen, und er tat dies immer mehr und immer grundsätzlicher. Herausgefordert wurde er hierzu, als kurz nach der Leipziger Disputation am Ort des Geschehens ein eigenes ekklesiologisches Pamphlet gegen ihn erschien: In seinem Traktat „Super apostolica sede“ nahm der Franziskaner Augustin Alveldt gezielt die Frage nach dem Papstamt aus der Disputation auf.67 Argumentationsziel war, dass der „apostolische Stuhl oder Stuhl Petri allein aufgrund höchsten göttlichen Rechts errichtet, gestaltet und verteidigt worden“ sei68. Alveldt band diese Frage an die Bulle „Unam Sanctam“ vom 18. November 1302 zurück, die das V. Laterankonzil kurz zuvor in Auseinandersetzung mit dem Konziliarismus des 15. Jahrhunderts bestätigt hatte.69 Wer deren Schlusssatz, dass es heilsnotwendig sei, dem römischen Bischof untertan zu sein,70 leugnete, vertrat laut Alveldt eine Häresie.71 Ganz ähnlich also wie im Falle von Prierias’ Gutachten, handelte es sich hier um eine radikale Form des Papalismus. Und so wie Luther zunächst meinte, der Angriff durch Prierias werde sich schon selbst entlarven, wenn er ihn – übrigens bei demselben Drucker Melchior Lotter d.Ä., der dann auch Alveldts Schrift herausbringen sollte – unkommentiert nachdrucken
67 Super apostolica se-jde, An videlicet diuino sit iure nec ne, anque pontifex j qui Papa dici cæptus est, iure diuino in ea ipsa j presideat, non parum laudanda, ex sacro Bibliorum j canone declaratio. ædita per F. Augustinum j Alueldensem Franciscanum (…), Leipzig: Melchior Lotter, Melchior d.Ä. 1520; siehe zu dieser Schrift Smolinsky, Heribert: Augustin von Alveldt und Hieronymus Emser. Eine Untersuchung zur Kontroverstheologie der frühen Reformationszeit im Herzogtum Sachsen (EGST 122), Münster 1983, S. 48 – 87; Mähling, Patrik: „Weide meine Schafe!“. Das Papstamt in der Auseinandersetzung zwischen Augustin von Alveldt und Martin Luther, in: ders. (Hrsg.), Orientierung für das Leben, S. 115 – 139, hier: 117 – 120. Zur Auseinandersetzung zwischen Luther und Alveldt siehe Hammann, Konrad: Ecclesia spiritualis. Luthers Kirchenverständnis in den Kontroversen mit Augustin von Alveldt und Ambrosius Catharinus (FKDG 44), Göttingen 1989. 68 Alveld, Super apostolica sede f. A 4v : „SEDES APOSTOLICA SEV CATHEDRA Petri sola suprema, iure divino erecta, formata et defensa“. 69 Vgl. V. Lateranum, Pastor aeternus gregem (Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Hrsg. v. Giovanni Domenico Mansi. Bd. 32, Paris 1902, Sp. 968E). 70 Vgl. DH 875. 71 Vgl. Alveldt, Super apostolica sede f. A 2r.
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ließe,72 ließ er auch auf Alveldt zunächst seinen Ordensbruder Johannes Lonicer antworten.73 Offenkundig spielte für seine Überlegungen aber der Unterschied von Gelehrten- und Laienkultur eine Rolle. Alle drei Texte – Prierias’ Dialogus wie auch Alveldts Traktat und Lonicers Erwiderung – waren in lateinsicher Sprache verfasst und insofern auf einen begrenzten Markt der Gebildeten ausgerichtet. Als aber Alveldts Werk auch auf Deutsch erschien,74 reagierte Luther selbst und nutzte die Gelegenheit, um sein Kirchenverständnis umfassend darzulegen.75 Die Deutung Alveldts, der Kirche auf den Zusammenhang mit Rom beziehungsweise die Unterordnung unter den Papst bezog, fasste Luther als Ausdruck eines äußerlichen Kirchenverständnisses,76 welchem er ein innerliches gegenüberstellte. Es sei nämlich nach der Schrift deutlich, „das die Christenheit heysset eyn vorsamlunge aller Christgleubigen auff erden, wie wir ym glauben betten ,Ich gleub in den heyligenn geyst, ein gemeynschafft der heyligenn‘. Diesz gemeyne odder samlung heysset aller der, die in rechtem glauben, hoffnung und lieb leben, also das der Christenheyt wesen, leben und natur sey nit leyplich vorsamlung, sondern ein vorsamlung der hertzen in einem glauben, wie Paulus sagt Eph. iiij. Ein tauff, ein glaub, ein her.“77
Schon das Gegenüber von „innerlich“ und „äußerlich“, das Luther hier ekklesiologisch aufmacht, verweist auf eben jenes Konglomerat augustinischer und mystischer Vorstellungen, das seinen Weg von früh an prägte. Die in Paulus wurzelnde Unterscheidung vom inneren und äußeren Menschen (2Kor 4,16), die Augustin aufgenommen hat,78 begegnete Luther in der von ihm bekanntlich herausgegebenen79
72 Vgl. WA 1, S. 644 f.: R. P. Fratris j Siluestri Prieratis ordi-jnis predicatorum et sacre j Theologie professoris celeberrimi j sacrique palatij apostolici magistri:j in praesumptuosas Martini Luther j conclusiones de potestate pape dialogus, Leipzig: Melchior Lotter 1518. 73 Contra Romanistam fratrem j Augustinum Alueldensem. Fran-jciscanum Lipsicum Canonis j Biblici publicum lictorem et j tortorem eiusdem. F.j Joannes Lonice-jrus j Augustinianus, Wittenberg: Rhau-Grunenberg 1520; vgl. Luther an Spalatin, 5. Mai 1520 (WA.B 2, S. 98 [Nr. 284,11; hier die Bezeichnung „famulus“ durch Luther]); Luther an dens., 13. Mai 1520 (WA.B 2, S. 103 [Nr. 287,5 – 7]); Luther an dens., 31. Mai 1520 (WA.B 2, S.111 [Nr. 291,7]). Zur Person Lonicers siehe Horowitz, Adalbert: Art. Lonicer, Johannes, in: ADB 19 (1884), S. 158 – 163. 74 Eyn gar fruchtjbar vnd nutzbarlich buchleyn von dem babstjlichen stule/vnnd von sant Peter/ vnd von j den dye warhafftige scheffleyn Christi j seynt/dy Christus vnßer herre/ Petro be-juolen hat/yn seyne hute vnd regirung/gejmacht durch bruder Agustinum. Alueldt.j Sant Francisci ordens.tzu Leyptzk, Leipzig: Martin Landsberg 1520; vgl. hierzu Mähling, Weide meine Schafe, S. 123 – 129. 75 Siehe hierzu Peter, Benedikt: Der Streit um das kirchliche Amt. Die theologischen Positionen der Gegner Martin Luthers (VIEG 170), Mainz 1997, S. 71. 76 Vgl. Luther, Von dem Papsttum zu Rom (WA 6, S. 294,4 – 15). 77 Luther, Von dem Papsttum zu Rom (WA 6, S. 292,27 – 293,5). 78 Vgl. Horn, Christoph: Anthropologie, in: Drecoll, Volker Henning (Hrsg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, S. 479 – 487, hier: 481.
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„Theologia deutsch“ in christologischer Wendung.80 Noch markanter aber ist die Nähe zu Tauler. In jenem 1508 gedruckten Band der Predigten des Dominikaners, den Luther benutzte, befand sich auch eine Predigt zur Geburt Johannes’ des Täufers, die Tauler nutzte, um über das Hohepriesteramt von Johannes’ Vater Zacharias zu reflektieren. Zu ihr gibt es keine Randbemerkungen Luthers. Da folgende Predigten aber welche enthalten, spricht vieles dafür, dass ihm dieser Sermon nicht entgangen ist. Leitend war für Tauler darin die Unterscheidung von „inwendig“ oder „innerlich“ und „außwendig“,81 die er schließlich in einer kühnen Verbindung auf Anthropologie und Priesteramt zugleich anwandte. In einer Bemerkung, die im Druck durch ein Absatzzeichen hervorgehoben ist, sagt er: „Dieser obester prister ist ain inwendiger mensch der also geet in sein inwenndigkait. vnnd tregt mit jm das hailig blu˚ t vnsers herrn jesu cristi.“82
Die naheliegende Vermutung, dass Luther sein noch 1520, bald nach seinem Traktat gegen Alveldt, in Adels- und Freiheitsschrift entwickeltes Verständnis vom allgemeinen Priestertum Tauler verdankt,83 findet hier weitere Unterstützung, denn tatsächlich hat Luther das oben angeführte Verständnis der Kirche als der Gemeinschaft der Heiligen mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen weiter unterfüttert: Die Gläubigen „heyssen […] ein vorsamlung ym geist, die weil ein iglicher prediget, gleubt, hoffet, liebet unnd lebet wie der ander, wie wir singen vom heiligen geyst ,der du hast allerley sprach in die eynickeit des glauben vorsamlet‘.“84
Das allgemeine Priestertum also konstituiert die Gemeinde, und dies pneumatologisch und innerlich. So formiert sich jenes mystische oder auch spirituelle Konzept von Kirche, das sich in Luthers Vorlesungen schon früh, auf den Bahnen Bernhards angedeutet hatte, nun weiter mit Hilfe von Tauler als Auslegung von Paulus und Augustin – und als scharfe Kritik an einer Kirche, deren Leitung durch den Papst Luther nun immer definitiver als antichristlich verstand. Alveldts Auffassung, dass ihr Haupt der Inhaber des Bischofsstuhls von Rom sei, stellte Luther, ganz auf der Linie seiner 79 Siehe hierzu Zecherle, Andreas: Die Rezeption der „Theologia Deutsch“ bis 1523. Stationen der Wirkungsgeschichte im Spätmittelalter und in der frühen Reformationszeit (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 112), Tübingen 2019, S. 69 – 83. 80 Vgl. Theologia deutsch c. 7 („Der Franckforter“. [„Theologia Deutsch“]. Kritische Testausgabe, hrsg. v. Wolfgang von Hinten, München/Zürich 1982, S. 78,10 – 16). 81 Sermones: des hochjgeleerten in gnaden erleüchten dojctoris Johannis Thaulerii sannt j o dominici ordens die da weißend j auff den nächesten waren weg im j gaist zu wanderen durch e o überswej bendenn syn. Von latein in teütsch j gewendt manchem menschenn zu j saliger r fruchtbarkaitt, Augsburg: Hans Otmar 1508, f. 173 b. Die Predigt entspricht Nr. 40 in: Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften. Hrsg. v. Ferdinand Vetter (Deutsche Texte des Mittelalters 11, Berlin 1910), S. 162 – 169. 82 Tauler, Sermones f. 174ra. 83 Vgl. Leppin, Transformationen, S. 416 f. 84 Luther, Von dem Papsttum (WA 6, S. 293,6 – 9).
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Argumentation in der Leipziger Disputation, die Überzeugung entgegen, die so verstandene Christenheit könne kein anderes Haupt haben als Jesus Christus selbst.85 So war im Jahre 1520 seine Ekklesiologie in negativer wie positiver Hinsicht in den Grundlagen entwickelt. Allerdings kamen neue Anfragen und Erfordernisse auf sie zu. II. Sichtbarkeit der Kirche in der Gemeinde Ein offenkundiges Scharnierjahr für Luthers Ekklesiologie ist das Jahr 1523 mit seinen beiden Schriften De instituendis ministris und „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der heiligen Schrift“. Schon allein der umständliche Titel der letzteren Schrift lässt erkennen, dass Luther nun über eine bestimmte Form der Sichtbarkeit von Kirche nachdenkt, eben die Sichtbarkeit in der je konkreten Gemeinde. Ebenso wie „De instituendis“ verdankt sie sich einer spezifischen kirchenrechtlichen Konstellation. Ein durch Johannes Kamprad überliefertes Zitat des Mönches Zopachius aus dem Kloster Buch beschreibt die Verhältnisse in der Gemeinde Leisnig, an welche Luther sich wandte, in aller Schärfe aus e der Sicht des alten Glaubens: „Aber MVCIIXX, haben die Burger ihres gefallens mit er Phar, nach Luterscher Secten, sich muthwillig czu gebarn unterfangen“.86 Tatsächlich musste das Kloster Buch einen Bruch seines seit 1354 bestehenden87 Patronatsrechts konstatieren, als die Gemeinde von Leisnig in Heinrich Kind einen eigenen Pfarrer und in Johannes Gruner einen Prediger einsetzte.88 Deren Wahl scheint Ende 1522 stattgefunden zu haben, streng genommen allerdings rechtlich nicht, wie Gustav Kawerau in der Weimarer Ausgabe schreibt, die „Occupirung“ von Pfarr- und Predigtstelle,89 denn diese sollte offenkundig erst aufgrund des Rates erfolgen, den Bürger, Rat und Pfarrgemeinde von Leisnig bei Martin Luther am 25. Januar durch ihre Gesandten Sebastian von Kötteritz und Franz Salbach einholten. Die an Luther gesandte Mitteilung lautete – neben der auf die Neuorganisation der Finanzen gerichteten Frage nach einem gemeinem Kasten – nämlich, dass sie „durch die Gnade Gottes mit einträchtigem Beschließ bei uns allhier zu Leysneck furgenommen […] nach Aussatzunge gottlicher Schrift der Berufunge und Vorse-
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Vgl. Luther, Von dem Papsttum (WA 6, S. 295,8 f.). Leisnigker Chronica, j oder j Beschreibung der sehr alten j Stadt Leisnigk /j (…) zum Druck aber gefertiget und verlegt von j Johann Kamprad, Leisnig 1753, S. 256. 87 Vgl. WA 12, S. 3. 88 Vgl. Sprengler-Ruppenthal, Anneliese: Gesammelte Aufsätze. Zu den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (Ius ecclesiasticum 74), Tübingen 2004, S. 279. Die Herausgeber weisen in WA.B 3, S. 22 Anm. 2, allerdings auf eine Unsicherheit hinsichtlich der Person Kinds hin, der möglicherweise noch regulär vom Abt eingesetzt war und beim alten Glauben blieb. 89 WA 12, S. 5. 86
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hunge unsers Pfarr-Ambts zu gebrauchen“.90 Streng genommen war dies eine – allerdings sehr feste – Absichtserklärung, und Luther wurde nun darum gebeten, er möge „daruf läuterlich umb Gottes wille christlichen Rat und Unterweisung mitteilen und in Schriften vorfassen, darnach wir uns und unser nachkommend eingepfarrte Vorsammlunge als gehorsame christgläubige Menschen zu halten haben mogen“.91
Was von ihm also erwartet wurde, war nicht ein theologischer Traktat, sondern ein Gutachten, dem Entscheidungswirkung zugemessen wurde. Dies lag tatsächlich auf der Linie jenes Verhaltens charismatischer Kirchenleitung, das Luther eben in dieser Zeit an den Tag legte und das ihm auch zugesprochen wurde: Ein gutes Jahr später, am 24. Juni 1524, sollte Herzog Johann Friedrich Luther in Auseinandersetzung mit Karlstadt faktisch zur Übernahme der Visitationsaufgaben auffordern, die nach spätmittelalterlichem Recht dem Bischof zukamen.92 Das war aus Sicht des überkommenen Rechts ein ebensolcher eklatanter Rechtsbruch, wie die Besetzung von Pfarrei und Predigerstelle in Leisnig – und letztere wurde zu einem Rechtsakt aus Sicht der Verantwortungsträger im Ort erst durch die Approbierung durch Luther selbst. Freilich war der Rechtsbruch dadurch abgemildert, dass die Gemeinde lediglich davon sprach, dass die entsprechenden Personen mit der „Vorwesunge“ des Pfarramtes versehen werden sollten.93 Die Berufung zielte mithin nicht auf volle Amtsinhaberschaft, sondern lediglich auf eine Art interimistischer Verwaltung der Aufgaben. Wie die an Leisnig gerichtete Schrift zum Recht der Gemeinde verdankt sich auch Luthers Schreiben „De instituendis ministris“ einer kirchenrechtlich komplexen Konstellation, die sogar noch eine weit längere Geschichte hatte: Infolge der Auseinandersetzungen um Jan Hus und seine Erben war der Stuhl des Erzbischofs von Prag seit 1421 vakant.94 Das war Ausdruck dessen, dass die im Frieden von Kuttenberg 1485 schließlich anerkannte Entwicklung des Utraquismus zur Konfession95 letztlich 90 Bürger, Rat und Pfarrgemeinde Leisnig an Martin Luther, 25. Januar 1523 (WA.B 3, S. 22 [Nr. 576,3 – 7]). 91 Bürger, Rat und Pfarrgemeinde Leisnig an Martin Luther, 25. Januar 1523 (WA.B 3, S. 22 [Nr. 576,18 – 21]). 92 Vgl. Johann Friedrich an Luther, 24. Juni 1524 (WA.B 3, S. 310 [Nr. 754,44 – 52]): „Es sind leider der Schwärmer, Gott sei es geklagt! Allzu viel, und machen uns hie oben gar viel zu schaffen. Ich acht aber dafür, daß es nicht baß möchte gestillet werden, denn daß ihr Euch eins hätt’ der Weil genommen und von einer Stadt in die andern im Fürstentum gezogen und gesehen (wie Paulus tät), mit was Predigern die Städte der Gläubigen versehen wären. Ich glaub, daß ihr bei uns in Duringen kein christlicher Werk tun möchtet. Welche prediger denn nicht tüglich, hättet Ihr mit Hülf der oberkeit zu entsetzen”; vgl. Leppin, Luther, S. 215. 93 Bürger, Rat und Pfarrgemeinde Leisnig an Martin Luther, 25. Januar 1523 (WA.B 3, S. 22 [Nr. 576, 18 – 21]). 94 Vgl. Borovy, Clemens: Die Utraquisten in Böhmen, in: Archiv für österreichische Geschichte 37 (1867), S. 238 – 289, hier: 261. 95 Zur Deutung als Konfession siehe Eberhard, Winfried: Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478 – 1530, München u. a. 1981.
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zur Herausbildung einer „Landeskirche“ führte.96 Allerdings wollten die Utraquisten durchaus in den hierarchischen Weihezusammenhang eingebunden bleiben, und so wurden die Weihen ihrer Priester in der Regel durch italienische Bischöfe vollzogen, zu denen sie eigens anreisen mussten.97 Diese vollzogen die Weihe wiederum nur, wenn ihnen die Kandidaten versprachen, das Abendmahl sub una zu vollziehen.98 Da sie die Weihe aber brauchten, um in ihrer utraquistischen Kirche zu dienen, leisteten sie gleich nach der Rückkehr nach Prag vor ihrer obersten Kirchenbehörde, dem Konsistorium, einen Widerruf eben dieses Versprechens. Sie waren also gezwungen, „gleich beim Beginn ihrer priesterlichen Wirksamkeit einen Treubruch zu begehen, falls sie überhaupt im Verbande des Utraquismus bleiben wollten“99. Luther, der im Gefolge der Leipziger Disputation auch zu seiner berühmten Erkenntnis gekommen war: „Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen“,100 hatte wohl am 15. Juli 1522101 an die böhmischen Stände einen Brief gesandt, in welchem er offenkundig – und wohl unter dem Einfluss einzelner Utraquisten102 – versuchte, den hier auftretenden Tendenzen, sich im Windschatten der gemeinsamen Abwehr reformatorischer Neuerungen wieder mit Rom zu versöhnen, entgegenzutreten.103 Sein Schreiben war ein Werbeschreiben, in welchem er darauf verwies, dass er noch ehe er den Papst als Antichrist identifiziert habe, selbst als Böhme gescholten worden sei.104 Nun aber hoffe er, dass „Böhmen und Deutsche durch das Evangelium eines Sinnes und Namens zusammenkommen mögen.“105 Er verband dies mit der Mahnung sich nun nicht durch Verwerfung ihrer Lehren im Nachhinein am Blut von Hus und Hieronymus von Prag schuldig zu machen.106 Würden die Böhmen selbst sich von Hus distanzieren, so werde dieser ganz zu einem der Wittenberger.107 Dieses mit einer Drohung garnierte Angebot wurde nun in einer Weise aufgegriffen, in welcher Luther offenbar bis zu einem gewissen Grade auch funktionalisiert 96
Vgl. Wernisch, Michael: Art. Hus, Jan / Hussitismus, in: Leppin, Volker/SchneiderLudorff, Gury (Hrsg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014; 2. Aufl. 2015, S. 305 f., hier: 305. 97 Vgl. Borovy, Utraquisten, S. 261. 98 Vgl. ebd., S. 263. 99 Vgl. ebd., S. 264; WA 12, S. 160 führt dies ohne Quellenangabe als Zitat an. 100 Luther an Spalatin, 14. Februar 1520 (WA.B 2, S. 42 [Nr. 254,24): „sumus omnes Hussitae ignorantes.“ 101 Die Datierung hängt an der Konjektur „Bohemos“ gegenüber Aurifabers Lesart „blasphemos“ in Luther an Johannes Lang, 16. Juli 1522 (WA.B 2, S. 579 [Nr. 522,12 f.]); vgl. WA 10/2, S. 171. 102 Vgl. WA 10/2, S. 171. 103 Ebd., S. 169. 104 Vgl. Luther, Schreiben an die böhmischen Landstände (WA 10/2, S. 172,14 – 17). 105 Ebd., S. 173,10 f.: „Bohemi et Germani per Euangelion in unum sensum et nomen conveniant.“. 106 Vgl. ebd., S. 174,5 f. 107 Vgl. ebd., S. 174,10 – 13.
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ˇ ahera, dessen Aufnahme durch die Böhmen Luther am wurde: Eben der Gallus C Ende seiner Schrift „De instituendis ministris“ mit dem Hinweis empfahl, dass er noch unter päpstlichen Bischöfen geweiht worden sei und darum nun selbst Weihen vornehmen könne,108 hatte sich zuvor in Wittenberg aufgehalten.109 Hier hat er, so schildert Luther es im folgenden Jahr, erheblichen Anteil an der Entstehung der Schrift gehabt: „Und nichts in diesen Büchern ist meins, außer der Darbietungsweise, der Lehre und dem Argumentationsgang der Schrift. Der Rest ist alles von Gallus.“110 Wovon Luther sich hier in einem Schreiben an einen 1524 in Prag inhaftierten Anˇ aheras vom Luthertum111 distanzierte, waren offenbar eben hänger nach dem Abfall C jene praktischen Umsetzungshinweise, die sich auf den spiritus rector des Schreibens bezogen. Den Inhalt und die Präsentation des Traktates als solchen machte er sich ausdrücklich zu eigen. Insofern sind die Aussagen, in welchen Luther auf die beschriebene Schwierigkeit der Ordination in Böhmen mit einem eigenen Vorschlag zur Einsetzung von Amtsträgern reagierte, ihrer Substanz nach als seine zu bewerten. Gemeinsam mit dem an Leisnig geschriebenen Traktat über das Recht der Gemeinde lässt sich hier also zuverlässig eruieren, wie Luther in der Umbruchssituation, sei sie akut wie in Leisnig oder langdauernd wie in Böhmen, über die Neukonstitution des Amtes und damit über die Grundlagen des Kirchenverständnisses dachte. Schritt für Schritt lässt sich nachvollziehen, wie Luther auf die konkret zu regelnden Situationen seine prinzipiellen ekklesiologischen Überlegungen anwandte. Die oben angesprochene Wortgebundenheit spitzte Luther auf eine Lehre vom rechten Evangelium als einem Heerespanier112 vergleichbares Zeichen der wahren Gemeinde zu: Wo das Evangelium „gehet“, da seien rechte Christen, wo nicht, dort fehle es auch an Christen.113 So definiert aber sprach Luther den bisherigen Autoritäten ekklesiale Legitimität grundlegend und in aller Pauschalität ab: „Daraus folget unwiddersprechlich, das die Bischoff, stifft, kloster und was des volcks ist, lengist keyn Christen noch Christlich gemeyne geweßen sind, wye wol sie solchen namen alleyne fur allen auffgeworffen haben.“114
Mit diesem Griff konstituierte Luther eine ekklesiale Notsitation, in welcher jegliche kirchliche Struktur – und im Kontext der Schrift über die rechte Gemeinde, der 108
Vgl. Luther, De instituendis ministris (WA 12, S. 194,21 – 32). Vgl. Fronius, Robert: Luther’s Beziehungen zu Böhmen, in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 16 (1895), S. 1 – 28, hier: 17; zur ungewissen Datierung in Sommer oder Herbst siehe WA 12, S. 162. 110 Luther an Ritter Burian Sobek von Kornitz, 27. 10. 1524 (WA.B 3, S. 364 [Nr. 786,15 – 17]): „Et nihil in his libellis meum est, praeter modum, dogma et scripturae discursum, reliqua omnia Galli sunt.“ 111 Vgl. Luther an Gallus Cˇ ahera, 13. November 1524 (WA.B 3, S. 370 f [Nr. 791]). 112 Vgl. Luther, Dass eine Gemeinde (WA 11, S. 408,10). 113 Vgl. ebd., S. 408,16 – 21. 114 Vgl. ebd., S. 408,22 – 24. 109
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dies entnommen ist, muss man hervorheben: insbesondere die klösterliche Struktur und mit ihr die des Klosters Buch – als ekklesial invalid definiert wurde. Die Gemeinde Leisnig, deren Problem Luther zu klären hatte, wurde gewissermaßen in eine ekklesiale Ursprungssituation versetzt, in welcher damit unbeschadet möglicherweise bestehender Normalvorgänge Kirche neu zu begründen war. Die kirchliche Notsituation, auf welche Leisnig sich berufen konnte, nahm Luther auf, und erklärte auch ausdrücklich, dass die Bischöfe und Äbte zur Einsetzung von Amtsträgern berufen wären, wenn sie sich tatsächlich als Apostelnachfolger benähmen.115 Nun, in dieser Situation, in der genau das nicht mehr der Fall sei, bestehe für eine christliche Gemeinde aber nicht nur das Recht, sondern nachgerade die Pflicht, sich der Autorität von Bischöfen und auch Äbten und Klöstern zu entziehen.116 Noch deutlicher sah Luther die Situation in Böhmen gegeben, da die beschriebene Konstellation mit der Revokation eines bei der Ordination gegebenen Versprechens letztlich dazu führte, dass eine Ordination eines Priesters nicht allein nur unter mühsamsten Umständen, sondern unter Verletzung der Gewissen möglich war.117 Diese Diagnose einer Notsituation verband Luther mit grundsätzlichen Überlegungen dazu, wem in seinen Augen in der Kirche die Befugnis zur Beurteilung von Lehre zukam. Unter Berufung auf Joh 10,14.27 sprach er den Bischöfen, Konzilien und Päpsten das Recht ab, über Fragen des Glaubens zu entscheiden – dieses Recht komme allein den Glaubenden zu,118 und zwar mit einer dem biblischen Text hinzugefügten interessanten anthropologischen Begründung, dass nämlich ihre Seele ewig sei119 – ein Gedanke, in dem wiederum möglicherweise Vorstellungen Taulers nachklingen,120 die hier eine bemerkenswerte Allianz mit Überlegungen eingehen, die sich in ihrer Gesamtheit den Debatten um die Stellung des Konzils im 14. und 15. Jahrhundert zu verdanken scheinen. In Aufnahme des kanonistischen Gedankens einer Restkirche war Wilhelm von Ockham seinerzeit zu der Auffassung gelangt, es sei möglich, dass die wahre Kirche, der Unfehlbarkeit bis ans Ende der Welt verheißen war, nur noch in Laien – gleich welchen Geschlechts –, ja sogar nur in unmündigen Kindern fortleben könne.121 Der gelehrte Franziskaner war dabei zu dem Ergebnis gekommen: „Unser Glaube stützt sich nicht auf die Autorität
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Vgl. ebd., S. 413,28 – 31. Vgl. ebd., S. 411,13 – 18. 117 Vgl. Luther, De instituendis ministris (WA 12, S. 12 – 25). 118 Vgl. Luther, Dass eine Gemeinde (WA 11, S. 409,27 f.). 119 Vgl. ebd., S. 409,2 f. 120 Vgl. Tauler, Sermones, f. 152v : „Wann got ist ain gaist. Vnnd die sele ist ain gaist vnnd darumb so hat sy widernaygen vnnd widerlauffen in den grunde yres ursprungs“; vgl. Tauler, Predigten (Vetter) S. 261,35 f. 121 Vgl. Leppin, Volker: Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham (FKDG 63), Göttingen 1994, S. 284 – 292. 116
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irgendeines in diesem sterblichen Leben Lebenden.“122 Eine direkte Aufnahme dieser Überlegungen durch Luther oder auch ihre indirekte Vermittlung durch Pierre d’Ailly, bei dem Luther den Gedanken der Restkirche gleichfalls lesen konnte,123 lassen sich nicht nachweisen. Daher wird hier vorsichtiger von einem Resonanzhintergrund gesprochen und ausgegangen, in welchem mystische wie scholastisch geprägte Überlegungen zu einem Kirchenbild zusammenflossen, das geprägt von der Bedeutung der individuell glaubenden Seele die hergebrachten institutionellen Autoritäten infrage stellte. Wenn diese nun aber in der vorhandenen Notsituation nicht oder nicht mehr legitim agieren konnten, musste die Wortverkündigung, auf die die Gemeinde Christi konstitutiv angewiesen ist, auf andere Weise gesichert werden.124 Dies sollte dadurch erfolgen, dass „wyr uns nach der schrifft halten und unter uns selb beruffen und setzen die ienigen, so man geschickt datzu findet und die gott mit verstand erleucht und mit gaben datzu getziert hatt.“125
Die Grundlage für diese Befugnis sah Luther in der oben schon angesprochenen Lehre vom allgemeinen Priestertum,126 das nun also aufgrund der im Versagen der Autoritäten gewissermaßen eingetretenen Tabula rasa kirchenkonstitutive Bedeutung gewann. In seiner Schrift an die Böhmen berief Luther sich gar auf die kirchenrechtliche Erlaubnis, dass Laien in Notsituationen die Taufe spenden durften, um zu begründen, dass die Möglichkeit bestehe, dass ein Haushaltsvorstand (paterfamilias) seinem Haus das Evangelium verlese und Taufen durchführte.127 Auf dieser Grundlage schien es ihm dann, in einem Modell, das den Aufbau der Kirche von den einzelnen Glaubenden aus in den Blick nahm, möglich, dass sich mehrere Häuser oder gar eine ganze Ortschaft zusammenfanden, um einen minister zu bestimmen, der dann auch, über die Rechte des Hausvaters hinaus, befähigt sein sollte, das Abendmahl zu spenden.128 Für diese Fassung der Verhältnisse half ihm auch die terminologische Unterscheidung im Lateinischen: während die Taufe zum sacerdos mache, obliege die Amtsführung dem presbyter oder eben minister.129 Eben das so beschriebene Amt des minister war für Luther hier, in den Argumentationsgängen von 1523, ebenso Erfüllung des unabdingbaren göttlichen Auftrags zur Wortverkündigung wie Repräsentation all jener, die durch das in der Taufe ge122 Ockham, Opus nonaginta dierum (Wilhelm von Ockham, Opera Politica. Bd. 2. Hrsg. v. R. F. Bennett u. H. S. Offler, Manchester 1963, S. 853,273 f.: „Fides (…) nostra non innititur auctoritati cuiuscumque viventis in hac vita mortali“. 123 D’Ailly, Questio de resumpta (Petrus de Alliaco, Quaestiones, f. F6v). 124 Vgl. Luther, Dass eine Gemeinde (WA 11, S. 411,22 – 24). 125 Vgl. ebd., S. 411,27 – 30. 126 Vgl. ebd., S. 411,31 f. 127 Vgl. Luther, De instituendis ministris (WA 12, S. 171,17 – 21). 128 Vgl. Luther, De instituendis ministris (WA 12, S. 171,24 – 31). 129 Vgl. Luther, De instituendis ministris (WA 12, S. 178,9 f.; 190,11 – 23).
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gebene Priesteramt zu diesem Auftrag gerufen waren.130 Die legitime Berufung hierzu konnte demnach durch eben die erfolgen, die gleichermaßen durch die Taufe zum Priesteramt berufen waren, also durch die christliche Gemeinde.131 Will man diese Gedanken gewichten, muss man die von Luther benannte Notsituation in Rechnung stellen. Luther hat hier nicht eine generelle Ekklesiologie entworfen, sondern Kirchenrecht subversiv genutzt, um im Protest gegen die Institutionen der mittelalterlichen Kirche das Prinzip vom allgemeinen Priestertum wie das der Gemeinde stark zu machen. Der vorausgesetzte Normalfall war dessen ungeachtet der einer hierarchisch strukturierten Kirche. Und doch tragen seine Argumente einen stark grundsätzlichen Charakter, wie insbesondere das oben angeführte Zitat zeigt, in welchem Luther von einem „handeln nach der schrifft“ spricht. Die von ihm skizzierten Modelle, Kirche dort aufzubauen, wo die hierarchische Kirche des Mittelalters auf die eine oder andere Weise ihre Legitimität verloren hatte, zeigen die Potenziale jenes Denkens, das er in seinen Vorlesungen zu entwickeln begonnen hatte, ehe ihm noch der kirchliche Konflikt vor Augen stand, der sein späteres Leben bestimmen sollte. Als Ausschnitte aus dem Jahre 1523 blieben diese Modelle Etappen einer Transformation, die auch wenn die reale Entwicklung der Kirchen unter Luthers Einfluss sich anders als in ihnen skizziert entwickelte, Ausdruck von grundsätzlichen Überlegungen des Reformators sind. III. Irdische Strukturen und die Sichtbarkeit der Kirche Die Linie zur obrigkeitlichen Leitung der Kirche führt tatsächlich über diese Texte und nicht über die gleichfalls 1523 erschienene Obrigkeitsschrift,132 deren Anliegen es ja in erster Linie war, die Grenzen der Obrigkeit zu bestimmen: Wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, war die Frage, der Luther nachging, und er verwendete hier eben die Zitate aus Joh 10, mit welchen er die Freiheit des Glaubens von päpstlicher Autorität begründete, um auch der weltlichen Autorität Grenzen zu setzen.133 Alles, was jene Seele, mit deren Ewigkeit Luther das allgemeine Priestertum begründete, tangierte, oblag nicht der Obrigkeit.134 Selbst die leitende Unterscheidung – was die Seele angeht, ist innerlich, die weltliche Macht aber ist rein äußerlich135 – greift of130 Vgl. Luther, Dass eine Gemeinde (WA 11, S. 412,32 f.). Hinter der oben stehenden Formulierung steht natürlich auch eine Stellungnahme zur Kontroverse zwischen Stahl und Höfling (Höfling, Johann Wilhelm Friedrich: Grundsätze evangelisch-lutherischer Kirchenverfassung, 2. Aufl., Erlangen 1851; Stahl, [Julius]: Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, 2. Aufl., Erlangen 1862). Eine ausführlichere Stellungnahme hierzu muss an dieser Stelle unterbleiben. Sie ist meinem Beitrag zum „Amt im Luthertum“ im Rahmen des von Eilert Herms initiierten Ökumeneprojektes zu „Grund und Gegenstand des Glaubens“ vorbehalten. 131 Vgl. Luther, Dass eine Gemeinde (WA 11, S. 413,10 f.). 132 Vgl. Luther, Von weltlicher Obrigkeit (WA 11, S. 229 – 281). 133 Vgl. ebd., S. 262,22 – 24. 134 Vgl. ebd., S. 266,9 – 13. 135 Vgl. ebd.
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fenkundig auf jene Denkmuster zurück, die Luther sehr früh im Zusammenhang augustinischen und mystischen Denkens entwickelt hat. All dies passte bestens in jene Zeit subversiver Konstitution von Gemeinde. Luther stärkte das Recht hierzu durch Verweis auf die innere Bindung an Gott und benannte scharf die Grenzen kirchlicher wie weltlicher Autoritäten. Dieses Modell musste sich ändern, als der Wittenberger Strom der Reformation von einer defensiv-subversiven Haltung zu einer aktiv gestaltenden übergehen konnte oder musste. Diese Situation trat ein, als die sächsischen Fürsten sich das spätmittelalterliche bischöfliche Instrument der Visitation aneigneten – also das, was Luther seinerzeit charismatisch vollzogen hatte, nun wieder in institutionelle Bahnen gelenkt werden sollte. Schon im Oktober 1525 ermunterte Luther Kurfürst Johann, der eben an die Stelle seines verstorbenen Bruders Friedrich getreten war, dazu, durch die Aufsicht über die kirchlichen Belange Gottes „trewes wegzeug“ zu sein.136 Nur eine Woche später erbat der Kurfürst ein Gutachten zur Visitationsfrage von ihm,137 was der Reformator denn auch erstellte. Grundlage seiner Vorschläge war die Überzeugung, dass es die Pflicht des Landesherren war, für Pfarrer zu sorgen, die das Evangelium verkündigen könnten138 – notfalls dadurch, dass in Gemeinden, deren Pfarrer nicht in der Lage hierzu seien, Luthers Postille verlesen werde.139 1526 begannen die Visitationen und wurden durch den Speyerer Reichstag intensiviert.140 Die umfassende theologische Begründung hierzu lieferte Luther in seiner Vorrede zum „Unterricht der Visitatoren“, der nach einer komplexen Entstehungsgeschichte141 1528 erschien. Luthers Beschreibung der gegenwärtigen kirchlichen Situation folgte darin den Argumentationsgängen von 1523: Der von ihm diagnostizierte Niedergang der mittelalterlichen Kirche hatte diese ihrer eigentlichen Amtsfunktionen, in diesem Falle der bischöflichen Visitation, beraubt.142 Die zuvor konstatierte Notsituation bestand also fort, der Mangel setzte nun aber nicht unmittelbar gemeindlich beim Fehlen von Predigern ein, sondern auf der gemeindeübergreifenden Ebene. In dieser Hinsicht ist es strukturell durchaus naheliegend, dass Luther auch nach einer gemeindeübergreifenden Struktur suchte, die diesen Mangel ersetzen könnte. Dass er dabei im Grundsatz autoritativ, ja hierarchisch dachte, war, wie oben ausgeführt, auch durch die Texte des Jahres 1523 keineswegs in Frage gestellt und darf daher auch 1528 nicht verwundern. Es liegt auch durchaus nahe, dass in einem grundsätzlich vorde136
Luther an Johann, 31. 10. 1525 (WA.B 3, S. 595 [Nr. 937,47]). Vgl. Johann an Luther, 07. 11. 1525 (WA.B 3, S. 613 f [Nr. 944]). 138 Vgl. Luther an Johann, 30. 11. 1525 (WA.B 3, S. 628 [Nr. 950,10 – 12]). 139 Vgl. Luther an Johann, 30. 11. 1525 (WA.B 3, S. 628 [Nr. 950,23 – 29]). 140 Vgl. Peters, Christian: Art. Visitation.I. Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie 35 (2003), S. 151 – 163, hier: 154. 141 Vgl. Bauer, Joachim/Michel, Stefan (Hrsg.): Der „Unterricht der Visitatoren“ und die Durchsetzung der Reformation in Kursachsen (Leucorea-Studien 29), Leipzig 2017; Bauer, Joachim/Blaha, Dagmar/Michel, Stefan: Der Unterricht der Visitatoren (1528): Kommentar – Entstehung – Quellen (QFRG 94), Gütersloh 2020. 142 Vgl. Luther, Unterricht der Visitatoren (WA 26, S. 196,1 – 32). 137
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mokratischen Denken die Vorstellung, dass eine Aufsicht über Amtsträger sich einer anderen Legitimation verdankte als diese selbst, plausibel war. Luther wandte sich daher einem autoritätsorientierten Modell zu, das angesichts des Versagens der Bischöfe das nächstliegende war. Schon im späten Mittelalter hatten die Landesherren vielfach Aufgaben übernommen, die traditionell den Bischöfen zukamen.143 Es war also durchaus lediglich eine weitere Transformation von zuvor Gegebenem, wenn Luther nun die Verantwortung für die Bildung einer übergreifenden Aufsichtsstruktur im Landesherren fand, obwohl der dieser Aufgabe „nach welte licher oberkeit nicht schuldig“ sei.144 Ausdrücklich also handelte es sich bei dem, was sich hierdurch als das fürstliche Notbischofsamt herauskristallisierte, nicht um einen Ausfluss der obrigkeitlichen Macht als solcher, sondern die Argumentationslinie erscheint zunächst als eine pragmatische: der Landesherr verfügte über die Organisationsstrukturen, die für eine Visitation genutzt werden konnten. Theologisch war der Landesherr nicht stärker in die Pflicht genommen als jede andere getaufte Christin oder jeder andere getaufte Christ auch, mit denen er Anteil am allgemeinen Priestertum hatte. Die theologische Grundlage für die Beteiligung der Landesherren lag eben in diesem Priestertum. Letztlich dachte Luther mit diesen Überlegungen auf den Bahnen, die er ja 1523 nicht bestritten hatte, dass nämlich eine kirchenleitend bischöfliche Funktion für die Kirche der Normalfall sei, und setzte diese Überzeugung im Rahmen eines ekklesiologischen Modells um, das fundamental auf dem Gedanken des allgemeinen Priestertums aufbaute. Eben in dieser charakteristischen Transformation zeichnet sich das Neue seines Kirchenverständnisses ebenso ab wie die Verbindung zu den Vorstellungen der mittelalterlichen Tradition. * Das Gesamtbild, das in diesem Beitrag entworfen wurde, ist das einer kontinuierlichen Entwicklung. Mystisch gefärbte Konzeptionen von Kirche, die sich in Luthers Auseinandersetzung mit dem Papsttum bewährten, wurden allmählich zur Grundlage einer Kirchenkonzeption, welche der Wittenberger Reformator zu einer Zeit entwickelte, in der Kirche sich noch subversiv gegen die bisherige Kirchenorganisation gestalten und behaupten musste. Die Grundidee einer von den Gläubigen her zu denkenden Kirche hat Luther auch nicht aufgegeben, als er selbst Gestaltungsmöglichkeiten sah und zugesprochen bekam. Allerdings änderten sich die sozialen Muster innerhalb deren er Kirche nun gestaltet sehen wollte. Die Etappen lassen sich nach dem hier Vorgestellten vereinfacht in drei Stufen nachzeichnen. In einer 143 Siehe exemplarisch für den sächsischen Raum Schulze, Manfred: Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 2), Tübingen 1991; Bünz, Enno/Volkmar, Christoph: Das landesherrliche Kirchenregiment in Sachsen vor der Reformation, in: Bünz, Enno/Rhein, Stefan/ Wartenberg, Günther (Hrsg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 2005, S. 89 – 109. 144 Luther, Unterricht der Visitatoren (WA 26, S. 197,26).
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Phase kritischer Auseinandersetzung hat er zunächst ein spirituelles Kirchenverständnis entwickelt, das Amtsstrukturen für die Kirche zwar nicht negiert, aber doch als zweitrangig hat erscheinen lassen. In ganz spezifischen Konstellationen hat er dann Überlegungen angestellt, wie sich die spirituelle Kirche in der Gemeinde konkretisieren und so auch institutionalisieren könne. Als sich aber die Möglichkeit einer territorialen Kirchengestaltung mit gemeindeübergreifenden Strukturen abzeichnete, ist er den Weg zur Konstitution der sichtbaren Kirche nicht über das Gemeindeprinzip gegangen, sondern hat zur Absicherung einer autoritativen Aufsichtsfunktion die Rolle und Person der Fürsten stark gemacht. In der oben im Anschluss an Andrea Strübind angeführten Reihe von Grundelementen freikirchlicher beziehungsweise baptistischer Ekklesiologie ist es offenbar gerade dieser Punkt, die fehlende klare Trennung der kirchlichen Organisation von der staatlichen, die das werdende lutherische Kirchenverständnis vom freikirchlichen unterscheidet. Dieses Merkmal ist eingebunden in eine kontinuierliche und in sich konsistente Transformation ohne markante Brüche. Dabei ergeben sich aus den unterschiedlichen Etappen deutlich unterschiedliche Bilder von der sichtbaren Kirche, und offenbar bildet jede der Etappen eine mögliche Ausformung von Grundprinzipien von Luthers Kirchenverständnis. Die beiden ersten Etappen sind dabei offenkundig weit näher am freikirchlichen Kirchenverständnis als die dritte. Hermeneutisch gibt es keinen Grund, allein diese dritte Stufe als eine Art vollendeten Kirchenverständnisses anzusehen, zumal Luther ja auch hier ausdrücklich mit einer Notsituation argumentiert hat. Dass er selbst die obrigkeitliche Leitung der Kirche aus der Sozialverfasstheit der Christen und Christinnen ableitet, zeigt den arbiträren Charakter dieser Konstitution, und die lutherischen Landeskirchen haben sich ja auch in Deutschland von dieser Notverfassung nach dem Ersten Weltkrieg gelöst, wenn auch keineswegs aus freien Stücken, sondern gezwungenermaßen. Theologisch machen dieser realhistorische Vorgang wie Luthers Begründungsfiguren deutlich, dass das lutherische Kirchenverständnis offen für andere Modelle als die strikt strukturierten Landeskirchen deutschen Gepräges ist, und dass solche anderen Formen keine Abweichung von den ekklesiologischen Grundlagen des Luthertums darstellen, sondern geeignet sind, diese weiterhin, unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen zu erfüllen. Anders gesagt: Das, was in Deutschland als freikirchliches Modell gilt, unterscheidet sich von der traditionellen Verfasstheit des dortigen Luthertums. Aber es steht nicht im Gegensatz zu seinen ekklesiologischen Grundlagen. Literaturverzeichnis Bauer, Joachim/Blaha, Dagmar/Michel, Stefan: Der Unterricht der Visitatoren (1528). Kommentar – Entstehung – Quellen (QFRG 94), Gütersloh 2020. Bauer, Joachim/Michel, Stefan (Hrsg.): Der „Unterricht der Visitatoren“ und die Durchsetzung der Reformation in Kursachsen (Leucorea-Studien 29), Leipzig 2017. Bell, Theo: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993.
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„Ach, daß wir doch alle dahin gelangen möchten“1 Der Einfluss des Baptismus auf die Mennoniten Von Astrid von Schlachta Die folgenden Reflexionen zu den manchmal zusammenlaufenden, dann sich wieder trennenden Wegen von Mennoniten und Baptisten entstehen auf Java, Indonesien. Im Sommer 2022 fand hier, in der Stadt Salatiga, die Mennonitische Weltkonferenz statt. Nicht weit entfernt von Salatiga, in der Region unterhalb des Berges Muria, begannen die holländischen Doopsgezinden 1847 eine Missionsarbeit, die erste mennonitische überhaupt. 1851 gingen die aus Amsterdam stammenden Pieter und Wilhelmina Jansz nach Jepara. Die neue Missionsstation, die in den folgenden Jahrzehnten durch Spenden aus den Niederlanden, und schließlich auch aus Deutschland, getragen wurde, war das Ergebnis der Abnabelung der Doopsgezinden von der Baptisten-Missions-Gesellschaft. Nachdem baptistische Prediger im frühen 19. Jahrhundert erfolgreich in täuferischen Gemeinden für die Unterstützung ihrer eigenen Missions-Gesellschaft geworben hatten, war auch reichlich mennonitisches Geld in deren Kassen geflossen. Die Mennoniten waren in die Missionsstrategie der Baptisten eingebaut worden.2 Doch damit sollte nun Schluss sein. Zumal die Kritik an der Ausrichtung der baptistischen Missionsarbeit gewachsen war, denn nach Auffassung der Doopsgezinden hatte diese sich viel zu wenig den niederländischen Kolonien zugewandt. 1847 wurde deshalb die „Doopsgezinde Zendingsvereeniging“ gegründet, die nun eben auf Java und Sumatra Missionsstationen errichtete und die schließlich auch die deutschen Mennoniten unterstützten – durch den „Taufgesinnten Verein zur Beförderung der Ausbreitung des Evangeliums“.3 Folgen wir ein wenig der Spur von Mennoniten und Baptisten in der Geschichte und schauen auf die sich immer wieder kreuzenden und trennenden Wege. 1 Der mennonitische Älteste J. Kroeker über eine Predigt von Johann Georg Oncken, zit. nach: Donat, Rudolf: Wie das Werk begann. Entstehung der deutschen Baptistengemeinden, Kassel 1958, S. 323. 2 Zum Hintergrund der baptistischen Situation, insbesondere der Missionsarbeit in Deutschland vgl. Strübind, Andrea: „Mission to Germany“. Die Entstehung des deutschen Baptismus in seiner Verflechtung mit der internationalen Erweckungsbewegung und den Schwesterkirchen in den USA und in England, in: dies./Rothkegel, Martin (Hrsg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2012, S. 163 – 200. 3 Van der Smissen, Johannes: Der Taufgesinnten-Verein zur Beförderung der Ausbreitung des Evangeliums, in: Mennonitische Blätter 2 (1855), S. 7; zur Mission in Indonesien: Roth, John D.: A Cloud of Witnesses. Celebrating Indonesian Mennonites, Harrisonburg/VA 2021.
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I. Als Baptisten den Mennoniten neue Impulse gaben Die Geschichte der ersten baptistischen Versammlung in den Räumen einer Bäckerei der holländischen Doopsgezinden ist oft erzählt worden. Von mennonitischer wie von baptistischer Seite blickte man immer wieder auf die gemeinsamen Wurzeln zurück. Auch für die weitere Entwicklung im 17. Jahrhundert fand man gemeinsame Erzählungen. So hob etwa der Autor eines Beitrages in den „Mennonitischen Blättern“, der im Februar 1900 erschien, die Anfänge der Baptisten in Kreisen der „Collegianten“, einer Erneuerungsbewegung der Reformierten, hervor. Und er vergaß nicht zu betonen, dass sich über die „Collegianten“ enge Verbindungen zu den holländischen Taufgesinnten ergaben.4 Auch ideelle Parallelen waren leicht zu identifizieren. So strich der anonyme Autor des erwähnten Beitrags heraus, dass die Baptisten des 19. Jahrhunderts in Deutschland durch ihr „standhaftes Bekenntnis“, die Erduldung aller Verfolgungen und durch ihre „zähe Treue“, mit der sie am Wort Gottes festhielten, auffielen – wie die Täufer des 16. Jahrhunderts. Mit dem Blick auf das 19. Jahrhundert weist der Artikel bereits in eine Zeit, in der Mennoniten und Baptisten erneut intensivere Kontakte aufnahmen. Am Anfang dieser Beziehungen standen die baptistischen Prediger William Henry Angas und Carl Christian Tauchnitz. Aus England beziehungsweise aus Leipzig stammend bereisten sie verschiedenste Regionen Deutschlands, auf der Suche nach Verbindungen zu anderen christlichen Gemeinden, und sie machten dabei auch Station in Mennonitengemeinden. Carl Christian Tauchnitz war eigentlich gebürtiger Lutheraner und in Zerbst auf die Schule gegangen. Anschließend hatte er in Leipzig die Buchdruckerei sowie die Buchhandlung seines Vaters übernommen, der vor allem Klassikerausgaben veröffentlichte. Der Sohn machte sich dann um die Herausgabe manch mennonitischer Werke verdient. So war Tauchnitz daran beteiligt, dass das Glaubensbekenntnis des Mennoniten Cornelis Ris durch den Prediger der Mennonitengemeinde Friedrichstadt/Eider, Carl Justus van der Smissen, ins Deutsche übersetzt wurde. Darüber hinaus druckte der Leipziger Baptist mennonitische Katechismen sowie Predigten mennonitischer Pastoren, unter anderem jene von Hermann Reeder (Weierhof). Tauchnitz, 1798 geboren, hatte in Tübingen und Basel Theologie studiert und war nach seinem Studium nach England gegangen. Dort kam er in Kontakt mit dem Baptismus, ließ sich taufen und zum Prediger ordinieren. Zu den Mennoniten, so heißt es in einem Beitrag über sein Leben im „Christlichen Gemeinde-Kalender“ von 1899, habe er sich stets „in bester Absicht“5 hingezogen gefühlt. Tauchnitz stand in regelmäßigem brieflichem Kontakt mit führenden Vertretern der Mennoniten; einige seiner Briefe liegen heute in der Mennonitischen Forschungsstelle Weierhof. Und er besuchte viele Gemeinden in der Pfalz, in Baden sowie im Norden Deutschlands und in 4 Aus der Entwicklungsgeschichte der deutschen Baptisten, in: Mennonitische Blätter 47 (1900), S. 14. 5 Carl Christian Tauchnitz, in: Gemeinde-Kalender 1899, S. 43 – 56, hier: 49 f.
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der Schweiz. Er führte Gespräche über den Glauben, predigte und taufte sogar. Stets war dabei das Werben für den Missionsgedanken in seinem Munde, was nicht nur gut für die Kassen der Missionsgesellschaft war, sondern zudem den Mennoniten Anstöße für ein neues Denken in theologischen und gesellschaftlichen Fragen gab. Seine Aktivitäten und Verdienste aufgreifend widmeten sich mennonitische Autoren wiederholt dem Leben und Wirken von Carl Christian Tauchnitz. In seinem Todesjahr, 1884, erschienen einige Nachrufe, unter anderem der bereits erwähnte Aufsatz von Heinrich August Neufeld, Pastor der Mennonitengemeinde Friedrichstadt/ Eider, in den „Mennonitischen Blättern“. 1899 brachte der „Christliche GemeindeKalender“, eine jährliche Publikation der süddeutschen Mennoniten, den ebenfalls bereits zitierten Aufsatz. Beide Artikel machten nicht nur die Verdienste und Tätigkeiten des baptistischen Predigers einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, sondern hoben auch die vielfältigen Beziehungen des baptistischen „Halbbruders“6 zu den Mennoniten, sein vorbildhafte Glaubensleben sowie seine überkonfessionelle Verbindlichkeit hervor. Heinrich August Neufeld betonte 1884 gleich zu Anfang seines Nachrufs, dass Carl Christian Tauchnitz nicht den „Gegensatz der christlichen Konfessionen“ bestärkt, sondern mit „Gerechtigkeit, Anerkennung und Liebe über die kirchliche Scheidewand hinweg in eine andre christliche Konfession“ hineingeblickt habe.7 Eine interessante Bemerkung eines mennonitischen Predigers, die exemplarisch für das wachsende Interesse an frühökumenischen Kontakten der Mennoniten im 19. Jahrhundert steht. Ein namentlich nicht gekennzeichneter Artikel, der sich, ebenfalls im Todesjahr von Tauchnitz, mit dem Verhältnis des Verstorbenen zu den pfälzischen Mennoniten beschäftigte, benannte den positiven Einfluss von Tauchnitz auf die Mennoniten etwas konkreter, indem er auf dessen dauerhaftes Bestreben hinwies, die „Neubelebung und Organisation“ der mennonitischen Gemeinschaft zu befördern. Seine Predigten, die ihn in zahlreiche Mennoniten-Gemeinden führten, hätten dazu beigetragen, dass bei den Mennoniten „ein neues Leben für die Reichsgottessache“ erwacht sei.8 Tauchnitz habe darüber hinaus mennonitische Initiativen wie den Bildungsverein, der sich für die Gründung eines mennonitischen Predigerseminars beziehungsweise einer Schule auf dem Weierhof einsetzte, mit größeren Summen unterstützt, am liebsten anonym.9 Tatsächlich engagierte Tauchnitz sich von Anfang an für den Schulverein. Und er schickte nicht nur Geld, sondern stellte der neuen Schule „als Zeichen der Teilnahme“ zudem eine „Elektrisier-Maschine“ für den Physik-Unterricht zur Verfügung.10 Das Anliegen von Tauchnitz, den im frühen 19. Jahrhundert 6
So eine Formulierung von Neufeld, [Heinrich August]: Dem Andenken von Carl Christian Philipp Tauchnitz, in: Mennonitische Blätter 31 (1884), S. 39. 7 Ebd., S. 38. 8 C.C. Tauchnitz und die pfälz. Mennoniten, in: Mennonitische Blätter 31 (1884), S. 44. 9 Vgl. ebd., S. 43. 10 Brief Carl Christian Tauchnitz vom 4. 7. 1870, in: Mennonitische Forschungsstelle Weierhof, Bestand Briefe Tauchnitz (bisher nicht verzeichnet).
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oftmals sehr orthodox, formalistisch und moralistisch ausgerichteten Mennoniten durch Bildung und biblische Unterweisung einen neuen, vom Heiligen Geist inspirierten Atem einhauchen zu wollen, wird hier besonders deutlich. Auch der bereits erwähnte baptistische Prediger William Henry Angas bereiste im frühen 19. Jahrhundert verschiedene Regionen Deutschlands und unterhielt so intensive Kontakte zu Mennoniten. Er wird rückblickend gerne als „Katalysator für die Transformation von Mennonitengemeinden“ bezeichnet.11 Ebenso wie Tauchnitz war Angas ein unermüdlicher Werber für die baptistische Mission, wobei er die Mennoniten offenkundig zunächst einmal über die „Anderen“ informieren musste. Angas erwähnt in seinen Memoiren die anfängliche Ahnungslosigkeit insbesondere in West- und Ostpreußen. Die dortigen Mennoniten hätten noch nicht sehr viel über die Baptisten gehört und würden diese als „only a better sort of Roman-catholics“ einstufen.12 Im Juli 1824 fand auf dem Spitalhof, der Mennonitengemeinde bei Neustadt/ Weinstraße, ein Treffen der pfälzischen Mennoniten statt, das auf Initiative von William Henry Angas zustande gekommen war. Der Baptist nahm auch teil. Ziel war es, über die Teilnahme „an der zu unserer Zeit so wichtigen, von Gott so reichlich gesegneten und – geheiligten Missionssache“ nachzudenken. Im Hintergrund stand jedoch immer auch das Reflektieren darüber, wie die Gemeinden „stünden“ und ob sie „fremde Hülfe nothwendig“ hätten. Der über das Treffen verfasste Bericht „Gütdunken einer kleinen Kirchenversammlung der Mennoniten-Gemeinden“ vermittelt implizit, dass es genau diese Frage war, die die anwesenden Mennoniten umtrieb. Und explizit heißt es: „Doch ja, warum sollten wir uns verhehlen wollten, daß wir kräftige Anregungen bedürfen und viel Hülfe nöthig haben. […, v.S.] Allein unsere Hülfsbedürftigkeit und traurigen Verfall anzuerkennen, ohne uns rathen zu lassen – wahrlich! das wäre von allem das Schlimmste.“13 Einen Ausweg und die Möglichkeit, die Situation der Gemeinden zu verbessern, sah man gerade in der Beteiligung an der Missionsarbeit, die bei der Versammlung auch beschlossen wurde. Angas erklärte sich bereit, die jährlichen Berichte der baptistischen Missionsgesellschaft ins Deutsche zu übersetzen und drucken zu lassen. William Henry Angas ließ seine Unterstützung einem jungen Mennoniten auch ganz praktisch zukommen. Für den späteren Prediger der Mennonitengemeinde Friedelsheim, Jakob Ellenberger, bezahlte er das Stipendium für die Ausbildung in der Armenschullehreranstalt von Christian Heinrich Zeller in Beuggen am Rhein.
11 Roth, John D.: William Henry Angas Encounters the Mennonites. How NineteenthCentury Palatine Mennonites Became Protestant, in: The Mennonite Quarterly Review 94 (2020), S. 421 – 442, hier: 422. 12 Memoirs of the Rev. William Henry Angas, ordained a „Missionary to Seafaring Men“, May 11, 1822, London 1834, S. 81. 13 Gutdünken einer kleinen Kirchenversammlung der Mennoniten-Gemeinden, o. O.. 1824, S. 5.
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Eine weitere Episode im mennonitisch-baptistischen Miteinander war durch die Veröffentlichung des neuen Gesangbuchs der Mennoniten in der Pfalz markiert, bei der wiederum Carl Christian Tauchnitz eine entscheidende Rolle spielte. Das Bestreben war, das alte Gesangbuch, das „GOtt-geheiligte Harfen-Spiel der Kinder Zion“, durch eine Neubearbeitung zu ersetzen. Widerstand kam jedoch von einer Gruppe konservativer Mennoniten, die die „alte Ordnung“ aufrechterhalten und Traditionen bewahren wollten.14 Sie widersetzten sich jeglichen Neuerungen und Einflüssen von außen – das geplante Gesangbuch bot da einige Angriffsfläche. Denn bestimmte Lieder aus dem alten Gesangbuch sollten nicht mehr in das neue übernommen werden. Einem Brief von Tauchnitz zufolge handelte es sich um die Lieder „Ringe recht, wenn Gottes Gnade“, „Seelenbräutigam, Jesu, Gotteslamm“, „Glück zu, Kreuz, von ganzem Herzen“ und „Mir nach, spricht Christus, unser Held“, also Lieder, die sich um das Kreuz Jesu und das Leiden drehten. Offenkundig gelang es Carl Christian Tauchnitz jedoch, die Gegensätze zu überbrücken, indem er mit beiden Seiten Gespräche führte. Schlussendlich wurden die vier Lieder aus dem „Harfenspiel“, um die es ging, doch in das neue Gesangbuch übernommen.15 „Have, pia anima!“ („Sei gegrüßt, fromme Seele“) – so der Schlusssatz des Gedenkens an Tauchnitz im Jahr 1884.16 Dass die konservativen Freunde der „alten Ordnung“ ganz generell auch immer wieder einen in ihren Augen ungebührlichen Einfluss anderer Konfessionen wie der Baptisten oder der Reformierten auf die Mennoniten anprangerten, scheint bei den Vermittlungsversuchen von Tauchnitz offenbar keine Rolle gespielt zu haben.17 Kritik an den Baptisten kam jedoch nicht nur von konservativer Seite. Auch der an den Universitäten Danzig und Halle ausgebildete Prediger Carl Harder, der im Verlauf seines Lebens in den Gemeinden Elbing, Königsberg und Neuwied tätig war und einige Zeit auch die Kinder des Prinzen zu Wied unterrichtete, sah Schwächen im baptistischen Glaubensleben. 1848 schrieb er, die Baptisten hätten zwar gut angefangen, indem sie die Kindertaufe verwarfen und nur Wert auf die „innere Verfassung des Menschen“, nämlich die „Wiedergeburt“, gelegt hätten. Dann seien sie jedoch immer stärker nur auf „äußere Begebenheiten“ konzentriert gewesen. So sei es ihnen wichtig geworden, in welcher Form die Taufe vollzogen würde; unter Verweis auf das Vorbild Jesu Christi durch ein dreimaliges Untertauchen unter das Wasser. Ein großer „Rückschritt zum sinnlosen Festhalten an dem Zufälligen“, wie Harder 14 Vgl. zum Hintergrund Roth, John D.: Context, Conflict, and Community. South German Mennonites at the Threshold of Modernity, in: Biesecker-Mast, Susan/Biesecker-Mast, Gerald (Hrsg.), Anabaptists & Modernity (The C. Henry Smith Series 1), Telford/PA 2000, S. 120 – 144. 15 Vgl. C.C. Tauchnitz und die pfälz. Mennoniten, S. 44; das Zitat aus dem TauchnitzBrief: Brief vom 10. 05. 1831, in: Mennonitische Forschungsstelle Weierhof, Bestand Briefe Tauchnitz (bisher nicht verzeichnet). 16 C.C. Tauchnitz und die pfälz. Mennoniten, S. 53. 17 Vgl. von Schlachta, Astrid: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert, Tübingen 2020, S. 249 – 253.
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urteilt.18 Er resümiert weiter: An der Liebe sollte man die Jünger Jesu erkennen, nicht am Festhalten an „ceremoniellen Gesetzen“. Zudem merkte er an, dass die Taufe der Baptisten dazu tendiere, lediglich eine äußere, oberflächliche Entscheidung zu befestigen. Zwar würden die Baptisten vorgeben, dass ein Mensch nur getauft würde, wenn er eine innere Bekehrung erlebt habe, aber viel zu häufig würden die Taufen „keine bleibenden Folgen“ nach sich ziehen. Die Kritik an der baptistischen Taufe führt Carl Harder schlussendlich zu der Frage, warum der Mensch dazu neige, sich anstelle des Geistes auf das Äußerliche zu verlassen. Er kommt zu dem Urteil, dass sich der „schwache Sterbliche“ wohl lieber an Äußerlichkeiten festhalte. Doch „die Buchstaben, die todten Formen, die unumstößlich festgesetzen Einrichtungen“ seien es, die immer wieder die Gewissen belasten und die „freudige Andacht und Liebe unterdrücken.19 II. Mennoniten und Ökumene Der Kontakt zu den Baptisten und die unter den Mennoniten sichtbar werdenden, ganz generellen Auseinandersetzungen über das Miteinander mit anderen Denominationen ruft nach einem kurzen Blick auf die Wahrnehmung frühökumenischer Bewegungen in mennonitischen Kreisen. Es war zweifelsohne ein Verdienst baptistischer Prediger wie Carl Christian Tauchnitz und William Henry Angas, dass sich die Mennoniten öffneten, andere Konfessionen positiver wahrnahmen und die Chancen des Miteinanders be- und ergriffen. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass eine erste Öffnung bereits im 18. Jahrhundert durch Kontakte in pietistische Kreise hinein geschah.20 Im 19. Jahrhundert setzte sich diese dann fort und konkretisierte sich unter anderem darin, dass Mennoniten nach mehr Bildung sowie nach einer besseren Ausbildung ihrer Prediger riefen und begannen, Bibel- und Missionsgesellschaften zu unterstützen. Als sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts das überkonfessionelle Miteinander unter dem Dach der „Evangelischen Allianz“ intensivierte, waren Mennoniten ebenfalls dabei, was in der eigenen Presse nicht ohne Stolz vermeldet wurde. 1874 etwa berichten die „Mennonitischen Blätter“ über die gemeinsame Gebetswoche verschiedener christlicher Konfessionen in Mömpelgart, im Elsass. Die Mennoniten seien beteiligt gewesen, so die hocherfreute Mitteilung des Hamburger Mennonitenpredigers Berend Carl Roosen. Er schloss folgende Bemerkung an: „Erfreulich ist es, daraus von Neuem zu ersehen, wie an diesem wichtigen wahrhaft ,internationalen‘ Werke im Königreiche unsers Herrn und Heilandes auch Glieder unserer ,Mennonitischen‘ Gemeinschaft mancherorts sich betheiligten. Es dürfte zur Erweckung und Belebung 18 Harder, Carl: Die Baptisten, in: Mitteilungen aus dem religiösen Leben, Dezember 1848, S. 5. 19 Ebd., 8. 20 Vgl. Roth, John D.: Pietism and the Anabaptist Soul, in: Pietismus und Neuzeit 25 (1999), S. 182 – 202; von Schlachta, Astrid: „Bleiben hangen in der Todesfurcht“. Erweckliches Predigen als „Ausweg“ oder „Ärgernis“, in: Mennonitica Helvetica 42 (2019), S. 81 – 93.
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unserer Gemeinschaft dienen, wenn dergleichen Erfahrungen, wie sie dort mitgetheilt sind, noch aus anderen Gegenden berichtet werden könnten und denn auch berichtet würden.“21 Von seiner eigenen Gemeinde konnte Roosen eine entsprechende positive Entwicklung vermelden. Hamburg habe sich nämlich ebenfalls an der Gebetswoche der „Evangelischen Allianz“, die jedes Jahr Ende Januar stattfand, beteiligt. Berend Carl Roosen weiter: „So macht durch Gottes Gnade die Anerkennung der Einheit aller Gläubigen in den verschiedenen Gemeinschaften in Christo Jesu wie der Verpflichtung, diese Einheit auch zu bestätigen, auch in unserer früher so abgeschlossenen mennonitischen Gemeinschaft mehr und mehr Fortschritte. Und das wird nicht ohne Frucht bleiben für das innere Leben der Einzelnen und der Gemeinden.“22 Schon 1857 hatten acht Mennonitenprediger aus der Pfalz, aus Westpreußen und aus Berlin am Treffen der „Evangelischen Allianz“ in Berlin teilgenommen. Eine interessante Begebenheit verband sich mit der Begrüßungsrede, die Johannes Molenaar, Prediger der Gemeinde im pfälzischen Monsheim, bei der Versammlung hielt. Er wandte sich darin an alle „in dem Herrn geliebte Brüder“ und grüßte im Namen der Mennoniten, einer Gemeinschaft, wie er betonte, die „wenig bekannt und wenig genannt“ sei, aber dennoch „inmitten der evangelischen Allianz steht“. Er erwähnte zudem voller Freude, dass einige der anwesenden Mennoniten bei evangelischen Professoren studiert hätten. Dies alles sei „Allianz praktisch“, ebenso wie das neue mennonitische Gesangbuch, das auch evangelische Lieder enthalte. Molenaar unterstrich seine Wünsche mit der Schilderung eines Traums, in dem er Martin Luther, Philipp Melanchthon, Jean Calvin und Menno Simons zu Füßen Jesu Christi habe sitzen sehen – in der „allerinnigsten herzlichsten Allianz“.23 In der Niederschrift der Reden im stenografischen Bericht der Versammlung passierte dann allerdings ein Fauxpas, der das schöne Bild in Molenaars Traum grausamst entstellte. Der Bericht machte nämlich aus „Menno Symons“ die „Männer Zions“. Die „Mennonitischen Blätter“ spekulierten anschließend, wie dieser Fehler hatte passieren können. Sei es lediglich ein Fehler beim Hören gewesen? Oder sei Menno Simons tatsächlich so unbekannt, dass „selbst sein Name“ den vielen Professoren, Doktoren und Pastoren „wie ein völlig fremdes unverständliches Wort erklungen ist, mit dem sie nichts anzufangen wussten“? Oder deute all dies letztendlich doch nur auf ihre Abneigung hin, neben Luther und Calvin Menno Simons sehen zu wollen?24 Die Antwort musste offenbleiben.
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Roosen, B. C.: Die Gebetswoche in Hamburg, in: Mennonitische Blätter 1874, S. 21. Ebd., S. 22. 23 Die Versammlung der Evangelischen Allianz in Berlin, in: Mennonitische Blätter 5 (1858), S. 8. 24 Vgl. ebd. 22
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III. Als Baptisten Mennoniten die Mitglieder abspenstig machten Dass Baptisten und Mennoniten sich überkonfessionell vernetzten und gemeinsam in neue Zeiten voranschritten, ist die eine Seite der Medaille. Doch es gibt auch die andere Seite. Diese ist gekennzeichnet durch die Unbeweglichkeit mennonitischer Prediger und Gemeindeglieder, sich Neuem zu öffnen und ihre Gemeindeglieder damit zu motivieren, sich der „jungen“ und „lebendigen“ baptistischen Bewegung anzuschließen. Viele Namen, die auf eine mennonitische Herkunft schließen lassen, tauchen beispielsweise in den frühen baptistischen Gemeinden West- und Ostpreußens auf. Johann Gerhard Oncken reiste mehrfach in die Regionen an der Ostsee, um in den jungen Baptistengemeinden zu predigen und Taufen durchzuführen. Auf seiner Agenda stand dabei immer auch, Beziehungen zu Mennoniten aufzunehmen beziehungsweise bestehende Kontakte auszubauen. So ist beispielsweise überliefert, dass Oncken 1833 in den Mennonitengemeinden Elbing und Ellerwald predigte. Der Mensch müsse zu Gott kommen, Buße tun und sich bekehren, um selig zu werden. So überliefert der Älteste der Gemeinde, J. Kroeker, Onckens „sehr kraftvolle“ Botschaft an die Mennoniten. Und er fügt hinzu: „Ach, daß wir doch alle dahin gelangen möchten.“25 1841 reiste Johann Gerhard Oncken dann erneut nach West- und Ostpreußen, um Mennonitengemeinden zu besuchen. In Tilsit, so berichtet er anschließend, habe er den „einzigen, in dieser Stadt wohnenden Mennoniten besucht, einen Destillateur.“ Als er ihn in seinem Laden besuchte, war er entsetzt über die „Verweltlichung“, die geistliche Leere und den sorglosen Umgang mit Alkohol: „Er, seine Frau und eine oder zwei andere Personen waren hinter dem Ladentisch beschäftigt, dies destillierte Gift an die arme Landbevölkerung zu verkaufen, welche den Jahrmarkt besuchte. Später traf ich zwei Diakone; aber leider scheinen auch sie nichts von der Wahrheit zu wissen.“ Die Mennoniten ganz generell beschrieb er als „in geistlicher Beziehung in einer sehr traurigen Verfassung“.26 Kartenspiel und Tanz seien bei ihnen erlaubt und sie nähmen keinen Anteil an der Bibel- und Traktatmission. Ihre jungen Leute würden mit 13, 14 oder 15 Jahren zur Taufe besprengt – alles sehr traditionell. Zudem würde bei der Zulassung zum Abendmahl kein Gewicht auf Herzenserneuerung gelegt.27 Das Urteil von Oncken erscheint angesichts der wachsenden Offenheit der Mennoniten als nicht ganz gerechtfertigt. Zumal auch Carl Christian Tauchnitz betonte, dass sich in vielen Familien der Mennoniten ein lebendiger Glauben erhalten hätte, obwohl die Familien oftmals auf entlegenen Höfen ohne Seelsorger lebten und lediglich die Bibel und Andachtsbücher als geistliche Nahrung hätten. Er lobte den mennonitischen Familiensinn. Andererseits fielen Tauchnitz die Uneinigkeit, der Mangel 25
Donat, Wie das Werk begann, S. 323. Zit. nach: ebd. 27 Vgl. ebd. 26
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an wahrem Gemeinschaftsgefühl sowie der „stark ausgeprägte Eigenwille (Eigensinn)“ auf.28 Ein gemischtes Bild also, das die baptistischen Augen bei den Mennoniten wahrnahmen. Es bleibt unbestritten, dass eine von Traditionalismus, Formalismus und geistlicher Unbeweglichkeit geprägte Grundtendenz zu spüren war. William Henry Angas schrieb diese in seinen Memoiren vor allem strukturellen Schwächen zu. So schildert er etwa die Ältesten, die in Westpreußen aus den Reihen der Gemeindeglieder erwählt wurden, als „often illiterate men“ und als „ignorant of the grace of God“.29 Auch den Gemeindegliedern attestierte er, eine „vital godliness“ vermissen zu lassen, obwohl doch immer wieder eine „singularly deep and simple piety“ durchschimmere. Er führte diese Diskrepanz, beziehungsweise die fehlende lebendige Frömmigkeit, darauf zurück, dass die Mennoniten alle Jugendlichen zur Taufe zuließen, egal, ob jemand Gottes Gnade im Herzen spüre oder nicht. Das äußere Erscheinungsbild der Mennoniten passte zur fehlenden Lebendigkeit im geistlichen Leben. Angas beschreibt die Männer als altmodisch gekleidet, mit Bärten und breitkrämpigen Hüten. Manche von ihnen trugen keine Knöpfe an ihren Jacken, sondern Haken und Ösen aus Messing. Auch die Täufer in der Schweiz würden sich sowohl von ihrer Kleidung als auch von ihrer Lehre her sehr stark von den anderen Christen unterscheiden.30 Zu jenen Mennoniten, unter denen sich ein lebendiger Glauben erhalten hatte, dürften jene Kreise zu zählen sein, die durch die Tätigkeit von Herrnhuter Reiseprediger geprägt waren. Zu ihnen gehörte der Elbinger Kaufmann J. Wiens, der sich den Baptisten anschloss. Auch Jakob Braun, der im Geschäft von Wiens tätig war, zeigte sich am Baptismus interessiert, erlebte eine Erweckung und wurde schließlich im Hamburger Buchgeschäft von Oncken dessen rechte Hand. Wiens und Braun blieben nicht die einzigen Mennoniten, die zu den Baptisten wechselten. Wie erwähnt lassen sich in den Mitgliederlisten der Baptistengemeinden in West- und Ostpreußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wenige typisch mennonitische Namen finden. Ihre Träger waren über erweckliche Kreise, die in verschiedene Mennonitengemeinden hineinreichten, zum Baptismus gekommen. Die Versammlungen dieser erweckten, für einen lebendigen Glauben kämpfenden Mennoniten fanden einigen Zulauf, wie die Quellen berichten. So heißt es über Treffen im Haus der Familie Wiens in Trettinkenhof, dass dieses immer wieder verlegt werden musste, weil zu viele Leute zusammenkamen. An einem Abend im September 1844 wurde Jakob Wiens, der Sohn des Hauses, gemeinsam mit seinem (nun ehemals) mennonitischen Glaubensbruder Simon Riesen im Elbingfluss getauft. Anschließend feierte man in der Laube eines Gartens, im Schutze der Nacht, das Abendmahl.31 Die Heimlichkeiten verweisen auf die prekäre Lage der Baptisten im 28
C.C. Tauchnitz und die pfälz. Mennoniten, S. 54 f. Memoirs of the Rev. William Henry Angas, S. 82 f. 30 Vgl. ebd., S. 82, 85. 31 Vgl. Donat, Wie das Werk begann, S. 328.
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19. Jahrhundert. Somit brachte der Schritt hinein in den Baptismus nicht nur Probleme mit den alten, sehr familiär geprägten mennonitischen Gemeinden mit sich, sondern bedeutete auch eine neue Unsicherheit in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht. Möglicherweise war es gerade das Anliegen der baptistischen Prediger gewesen, durch den Kontakt zu den Mennoniten eine gewisse Legitimation zu erhalten und aus der „Schmuddelecke“ der jungen baptistischen Neugründung herauszukommen. IV. Prolog – Gemeinsam in die Zukunft Baptisten und Mennoniten blicken auf einige Strecken gemeinsamer Geschichte zurück. Gaben die Doopsgezinden den Baptisten in ihrer Anfangsphase einige Hilfestellung, so liefen die Wege beider Konfessionen auch später immer wieder zusammen – wobei es dann die Baptisten waren, die den Mennoniten entscheidende Impulse zum Neuanfang gaben. Die gegenseitige Wahrnehmung war grundsätzlich positiv, aber zuweilen auch gespalten und nicht ohne Kritik. Als sich 1928 die Hinrichtung von Balthasar Hubmaier zum 400. Mal jährte, war es Mennoniten und Baptisten gleichermaßen ein Anliegen, dieses Datum und die Person Balthasar Hubmaiers zu würdigen. Allerdings wurden sehr kritische Anfragen von mennonitischer Seite laut, die darauf abzielten, dass die Baptisten doch gar keine direkten Verbindungen zu Hubmaier hätten. Dennoch kam man zu einer gemeinsamen Feier in Wien zusammen, von der eine ganze Nummer der „Mennonitischen Blätter“ zeugt. Knapp 100 Jahre später ist es erneut eine Gemeinschaftsaktion von Mennoniten und Baptisten, der 500-jährigen Geschichte der Täufer zu gedenken. Im Verein „Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025“ werden die Feierlichkeiten vorbereitet. Und es ist der Blick auf das Verbindende, der die Gedanken lenkt. Literaturverzeichnis Anonym, Gutdünken einer kleinen Kirchenversammlung der Mennoniten-Gemeinden, o. O. 1824. Anonym, Memoirs of the Rev. William Henry Angas, ordained a „Missionary to Seafaring Men“, May 11, 1822, London 1834. Anonym, Die Versammlung der Evangelischen Allianz in Berlin, in: Mennonitische Blätter 5 (1858), S. 3 – 8. Anonym, C.C. Tauchnitz und die pfälz. Mennoniten, in: Mennonitische Blätter 31 (1884), S. 43 – 44, 51 – 53. Anonym, Carl Christian Tauchnitz, in: Gemeinde-Kalender 1899, S. 43 – 56. Anonym, Aus der Entwicklungsgeschichte der deutschen Baptisten, in: Mennonitische Blätter 47 (1900), S. 14. Donat, Rudolf: Wie das Werk begann. Entstehung der deutschen Baptistengemeinden, Kassel 1958.
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Harder, Carl: Die Baptisten, in: Mitteilungen aus dem religiösen Leben, Dezember 1848. Neufeld, [Heinrich August]: Dem Andenken von Carl Christian Philipp Tauchnitz, in: Mennonitische Blätter 31 (1884), S. 38 – 39. Roosen, B. C.: Die Gebetswoche in Hamburg, in: Mennonitische Blätter 1874, S. 21 – 22. Roth, John D.: Pietism and the Anabaptist Soul, in: Pietismus und Neuzeit 25 (1999), S. 182 – 202. Roth, John D.: Context, Conflict, and Community. South German Mennonites at the Threshold of Modernity, in: Biesecker-Mast, Susan/Biesecker-Mast, Gerald (Hrsg.), Anabaptists & Modernity (The C. Henry Smith Series 1), Telford/PA 2000, S. 120 – 144. Roth, John D.: William Henry Angas Encounters the Mennonites. How Nineteenth-Century Palatine Mennonites Became Protestant, in: The Mennonite Quarterly Review 94 (2020), S. 421 – 442. Roth, John D.: A Cloud of Witnesses. Celebrating Indonesian Mennonites, Harrisonburg/VA 2021. von Schlachta, Astrid: „Bleiben hangen in der Todesfurcht“. Erweckliches Predigen als „Ausweg“ oder „Ärgernis“, in: Mennonitica Helvetica 42 (2019), S. 81 – 93. von Schlachta, Astrid: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert, Tübingen 2020. Strübind, Andrea: „Mission to Germany“. Die Entstehung des deutschen Baptismus in seiner Verflechtung mit der internationalen Erweckungsbewegung und den Schwesterkirchen in den USA und in England, in: dies./Rothkegel, Martin (Hrsg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2012, S. 163 – 200. Van der Smissen, Johannes: Der Taufgesinnten-Verein zur Beförderung der Ausbreitung des Evangeliums, in: Mennonitische Blätter 2 (1855), S. 7 – 10.
Der Geist als Pfand Gottes Ucke Walles (1593 – 1653) und seine mystisch spirituelle Hermeneutik Von Klaas-Dieter Voß I. Mennonitische Vielfalt Bis heute gibt es im mennonitischen Täufertum stark differierende theologische Sichtweisen und Gemeindetraditionen. Dabei handelt es sich aber keineswegs um ein Phänomen der jüngeren Geschichte. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Ausdifferenzierungen bei den Mennoniten. Noch zu Lebzeiten von Menno Simons (1496 – 1561), der für das sogenannte friedfertige Täufertum namensgebend war, kam es aufgrund unterschiedlicher trinitarischer Vorstellungen zu einem Konflikt mit Adam Pastor (1500 – 1560) und seinen Anhängern, die deshalb 1552 von der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden.1 Etwa zehn Jahre später spalteten sich die waterländischen Gemeinden ab, die eine insgesamt gemäßigtere Haltung einnahmen und die die zum Teil sehr rigide gehandhabte Ehemeidung ablehnten. Die den Waterländern nahestehenden Hoogduitsers (auch Hans Matthysses-, Jan Schellingswous- oder Ane Anesvolk genannt2) schieden ebenso aus der täuferischen Gemeinschaft aus.3 Eine große Zäsur bedeutete die 1567 erfolgte Aufspaltung der verbleibenden Mennoniten in Friesen und Flamen. Während die Friesen, so wie Menno Simons zuvor, am Literalsinn der Heiligen Schrift festhielten, praktizierten die Flamen als Anhänger des Melchioriten Jan Smeitgen bzw. Jan van Tricht († 1537) eine geistliche Interpretation der Bibel.4 Doch auch diese beiden Richtungen zerfielen gegen Ende des 16. Jahrhunderts in weitere Untergruppen. Es wurde schließlich zwischen den Zachten und Harden Friezen, den Janjacobsgezinden sowie den Jongen und Ouden Vlamingen unterschieden. Im 17. Jahrhundert traten dann die Groninger Oude Vlamingen und schließlich die sogenannten Ukowallisten in Erscheinung.5 1 Vgl. Samme, Zijlstra: Om de ware gemeente en de oude gronden. Geschiedenis van de dopersen in de Nederlanden 1531 – 1675, Hilversum 2000, S. 181. 2 Vgl. Zijlstra, Gemeente, S. 283. 3 Vgl. ebd., S. 271 – 284. 4 Vgl. Voß, Klaas-Dieter: Das Emder Religionsgespräch von 1578. Zur Genese des gedruckten Protokolls sowie Beobachtungen zum theologischen Profil der flämischen Mennoniten, Leipzig 2018, S. 228 – 230. 5 Vgl. Zijlstra, Gemeente, S. 270 – 271.
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Hintergrund für diese vielen unterschiedlichen Facetten des mennonitischen Täufertums ist die bei Menno Simons zum Ausdruck gebrachte Forderung nach der Eigenverantwortung eines jeden einzelnen Christen vor Gott und das Fehlen dogmatischen Schrifttums. Der Reformator stellte menschliche Autorität in Frage, trat für Gewissensfreiheit ein und erblickte in Christus und seiner Offenbarung den einzigen Weg wahrer Erkenntnis. Menno Simons warnte am Ende sogar vor einer allzu unbedachten Übernahme seiner eigenen Lehrmeinung. Ein jeder sollte prüfen, ob die eigene Glaubens- und Lebenspraxis der biblischen Überlieferung gemäß sei. Das Ergebnis war ein stark individualisierter Glaube, eine große Vielfalt an theologischen Ansätzen und die Entstehung separatistischer Bewegungen. Auch in Ostfriesland existierten in den größeren Orten zeitweilig unterschiedliche Mennonitengemeinden nebeneinander. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts spielten insbesondere die Ukowallisten eine nicht unbedeutende Rolle. Benannt wurde diese Denomination nach ihrem wichtigsten Wortführer Ucke Walles (1583 – 1653),6 der erstmals 1637 aus der Provinz Groningen verbannt wurde und sich nach einem kurzen Aufenthalt in Drachten/ Provinz Friesland in Ostfriesland ansiedelte. Obgleich den Gemeinden im Oldambt und der Stadt Groningen ein Versammlungsverbot erteilt wurde, war seine Anhängerschaft beträchtlich, so dass zum Zeitpunkt seines Todes etwa fünfzig sogenannte ukowallistische Gemeinden existierten, fünf davon in Ostfriesland.7 II. Der Blick von außen auf Ucke Walles und die Ukowallisten Anfang des 18. Jahrhunderts verfasste Joachim Christian Jehring (1690/1 – 1729) eine Dissertation über Uko Walles, die 1723 in Bremen veröffentlicht wurde.8 Der spätere lutherische Pastor war Sohn eines Amtmanns in Friedeburg und mag durch seinen Vater auf die Schutzgeld zahlende Gemeinschaft im zwölf Kilometer entfernten Neustadtgödens erstmals aufmerksam geworden sein. Jehring versah nach seinem Vikariat in Reepsholt von 1721 an den Dienst in der Kirchengemeinde Bingum.9 Bereits 1720 veröffentlichte er die Übersetzung einer bereits 1658 in Amsterdam erschienenen Schrift über die Aufspaltung der mennonitischen Bewegung im 6 Zu seinen Nachfahren gehört u. a. auch die kirchenhistorische Schriftstellerin Antje Brons, geb. Cremer ten Doornkaat (1810 – 1902), vgl. Schuh, Theda/Friesland, Hans: Die Nachkommen von Jan ten Doornkaat Koolman 1773 – 1851 und seiner zweiten Ehefrau Jeikelina, geb. Cool 1792 – 1878, Norden 1979, S. 53 – 55. 7 Vgl. Knottnerus, Otto S.: Uke Walles, in: van Dijk, J.D.R./Foorthuis, Willem R., Vierhonderd jaar Groninger Veenkoloniën in biografische schetsen, Groningen 1994, S. 255 – 256; Zijlstra, Gemeente, S. 313. 8 Vgl. Joachimi Christiani Jehringii: Dissertatio De Ukonis Walles. Vita, fatis, libris atque erroribus, in: Grimm, Johannes Andreas (Hrsg.), Bibliotheca Historico-Philologico-Theologica Classis Septimae, Bremen 1723, Fasc. I, Nr. VI, S. 113 – 148. 9 Vgl. Reershemius, Peter Fridrich: Ostfriesländisches Prediger-Denkmahl, Aurich 1796, S. 303 – 304.
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16. Jahrhundert.10 Dabei handelte es sich offensichtlich um ein Nebenprodukt seiner Beschäftigung mit den Ukowallisten. In den Anmerkungen finden sich viele Einzelbeobachtungen, die auf persönlich gemachten Erfahrungen beruhen. Seine kleinen Schilderungen geben einen zum Teil recht tiefen Einblick in deren Lebens- und Gemeindeverhältnisse. Im Anhang der übersetzten Schrift findet sich als Bestandteil einer umfangreicheren Materialsammlung u. a. auch das Protokoll von einem Tauf- und Abendmahlsgottesdienst der Ukowallisten in Norden, an dem er persönlich am 16. September 1716 teilnahm und dessen achteinhalbstündigen Verlauf er skizzierte.11 Alles jedoch, was er beschreibt, lässt nur die große Nähe der Ukowallisten zu den flämischen Mennoniten erkennen. Jehring selbst differenziert wenig zwischen den ukowallistischen und den älteren flämischen Gemeinden. Er erläutert an ihrem Beispiel sogar, dass die in der niederländischen Schrift von 1658 dargelegte Eigenart der flämischen Mennoniten noch immer anzutreffen sei: „Heutiges Tages halten die Tauffgesinnete durchgehends noch viel auf Reinlichkeit/ sowohl in Kleidung als Haußgeräthe. Sie haben zwar keine äusserliche prächtige Kleider/ denn die Männer haben nicht einmahl Falten in ihren Röcken; Die Frauens-Personen tragen gar kein buntes Kleid/ und unter den Ukowallisten machen dieselbe sich auch ein Gewissen/ Spitzen zu tragen; wie denn ihnen schon im Concept von Cölln pag. penult. schlechte Kleider recommendiret werden: Jedoch muß alles in ihrer Kleidung just/ genau/ nett und fein seyn/ worunter sie insgemein eine ziemliche subtile Hoffarth blicken lassen. In ihren Häusern findet man auch keine Unreinigkeit oder Unordnung/ sondern alles muß fein sauber und eben gehalten werden; wiewohl sie/ wie sonsten gebräuchlich/ ihr Hauß wenig mit Haußgeräthe auszieren/ wie man fürnehmlich bey den Ukowallisten siehet.“12
Auch in Hinblick auf Beerdigungsriten und den Umgang mit den aus der Gemeinschaft ausgeschlossenen Personen, stellt er eine andauernde Kontinuität seit dem 16. Jahrhundert fest: „Die heutige Tauffgesinnete meiden/ wie vorhin unter ihnen geschehen/ also auch noch jetzund bey ihren Leichen alles Gepränge. Geläute/ Gesang/ Leich-Predigten und andere Ceremonien werden bei ihnen nicht gebraucht. Und ob sie wohl ihren Leichen zum Theil in Mänteln folgen/ so tragen sie doch Bedencken einen Trauer-Flor aufzubinden/ so gar/ daß da auch an einem gewissen Orte einige der Aeltisten unter ihnen von ihrer Obrigkeit selbst ersuchet wurden/ einer verstorbenen Bedientin in der Trauer zu folgen/ und den ihnen zu dem Ende zugesandten Flor aufzubinden/ sie sich dessen weigerten/ und den Flor wieder zurück sandten. Denen Gebanneten folgen sie zu Grabe/ wenn sie gleich mit der Gemeine nicht wieder versöhnet sind/ wie mir davon ein Exempel bekandt ist. Wenn aber jemand abgesondert ist/ so essen und trincken sie nicht mit demselben; daher als vor einigen Jahren eine Tauffgesinnete Frauens-Person zu uns Evangelischen war übergetreten/ und dieselbe in eines Lu10
Vgl. Jehring, Joachim Christian (Hrsg.): Gründliche Historie von denen Begebenheiten, Streitigkeiten und Trennungen/ so unter den Tauffgesinneten/ oder Mennonisten/ von ihren Ursprung an/ biß aufs Jahr 1615 vorgegangen, Jena 1720. 11 Vgl. Jehring, Historie, S. 242 – 252. 12 Ebd., S. 138, Anm. rr.
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Klaas-Dieter Voß therischen Hauß/ wo auch Mennoniten/ geladen waren/ sich zu Tische setzte/ so stunden sie alle auf/ und gingen ungegessen davon. Welches alles insonderheit von denen Ukowallisten zu verstehen.“13
Bestätigt werden seine Beobachtungen 1806 durch den lutherischen Pastor Joachim Fastenau, der im Sterberegister seiner Gemeinde in Engerhafe die näheren Umstände der Beerdigung eines ehemals zu den Ukowallisten gehörenden Mennoniten festhält.14 Jehring beschäftigt sich in seiner Dissertation mit den „Irrtümern“ von Ucke Walles und ordnet ihn den Ouden Vlamingen zu, wenngleich er ihn und die Ukowallisten auch als besondere Sekte innerhalb des mennonitischen Täufertums bezeichnet.15 Der Kirchenhistoriker Eduard Meiners (1691 – 1752) charakterisiert Ucke Walles als jemanden, der die Heilige Schrift gut kannte und der als Redner sehr eloquent gewesen sei. Er habe die häretische Lehre der Kainiten, einer gnostischen Sekte aus dem zweiten Jahrhundert, übernommen, die beinhalte, dass Judas und die Juden, die den Kreuzestod Christi gefordert hätten, nicht sündigten, da mit Christi Tod das Leben und die Seligkeit gekommen sei. Damit knüpft er an Aussagen aus einer Schmähschrift16 des lutherischen Pastors Johann Lübberti Alphusius († 1652) in Ochtelbur an.17 Nicht aber diese Auffassung sei es gewesen, so Meiners weiter, die seine späteren Anhänger bewogen habe, sich ihm anzuschließen. Meiners benennt dafür die in einem Brief von dem Emder Vermahner Cornelius van Huisen an Joachim Jehring genannten Gründe: 1) Das Festhalten an der mennonitischen Menschwerdungslehre. 2) Die Wiederholung der Taufe bei Aufnahme von Mitgliedern anderer mennonitischer Denominationen auf ein abzulegendes Bekenntnis hin. 3) Eine sehr rigorose Bannpraxis. 4) Eine Kleiderordnung, die auf äußere Schlichtheit abzielt. 5) Älteste und Lehrer nicht allein von der Gemeinde, sondern von der Gesamtheit aller Mitglieder berufen zu lassen. 6) Die Unmöglichkeit, eine Berufung zum Predigerdienst abzulehnen. Außerdem hielten die Ukowallisten
13
Ebd., S. 139, Anm. ss. „Dirck Helmers, erbeingesessener Hausmann auf Uiterdyk, […] wurde im Stillen ohne über ihn, wie hier gewöhnlich, zu läuten, in den Sarg gelegt; auch am Tage seiner Beerdigung, als d. 15ten April hielt beym Sarge im Sterbhause der Mennoniten Domine [=Pastor] zuvor ohne Gesang eine Standrede; die Leiche wurde hierauf, wie gewöhnlich, doch ohne Geläut und Gesang zum Kirchhofe gefahren; beym Aufnehmen der Leiche ginng ich, Prediger, voran und sang der Schulmeister mit den Kindern, wie gewöhnlich und wurde hierauf von mir die Leichen-Predigt gehalten, wie hier immer geschieht; auch war genannter Mennoniten Domine aus Norden, welcher nicht vor der Leiche mitgehen sondern derselben folgen wollte, in der Kirche gegenwärtig.“ Sterberegister der Kirchengemeinde Engerhafe, Ao 1806. 15 Vgl. Jehring, Walles, S. 114. 16 Vgl. Alphusius, Johann Lubbert: Christliche und sehr nothwendige Erinnerung, wider den bey uns allhier meuchelmörderischer und falsch prophetischer Weise eingeschlichenen Irrgeist Uko Wallens, Emden 1637, S. 11, 25 – 28. 17 Vgl. Reershemius, Prediger-Denkmahl, S. 152 – 154. 14
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an den Schriften von Menno Simons und Dirk Philips fest und seien ansonsten rechtgläubig.18 Der ostfriesische Historiker Tileman Dothias Wiarda (1746 – 1826) ordnet Ucke Walles ebenfalls den flämischen Mennoniten zu, zu denen er sich bekannt habe, auch wenn er in einigen Punkten von deren Lehrmeinung abgewichen sei.19 Die Einsicht, dass er eigentlich ein flämischer Mennonit ist, findet sich immer wieder und folgt aus den von Ucke Walles abgegebenen Erklärungen und der Einschätzung der ostfriesischen Landesherrschaft, die ihn aus diesem Grunde am Ende auch duldete und ihm einen Schutzbrief ausstellte.20 Steven Blaupot ten Cate (1807 – 1884) betont, dass Ucke Walles für seine Zeit sehr liberale Anschauungen an den Tag gelegt habe, gepaart mit einer streng moralischen Lebensauffassung. Er habe dies auch so gelebt und sei ein Vorbild für andere gewesen. Er verdiene Respekt für seinen unsträflichen Wandel und Mitleid aufgrund seines unglücklichen Schicksals. Seine Zeit sei nicht die Zeit für gegenseitige Toleranz gewesen.21 Zu Recht verweist der mennonitische Theologe Johann Peter Müller (1829 – 1907) auf den Widerstand von Ucke Walles gegen eine sich zu seiner Zeit anbahnende Versöhnung der mennonitischen Denominationen. Diese Haltung und gewisse Meinungsäußerungen, die der Orthodoxie jener Zeit entgegengestanden hätten, hätten Unruhen und am Ende auch seine Verbannung aus der Provinz Groningen zufolge gehabt. Den eigentlichen Grund für die Separation der Alten Flamingen von den anderen Mennoniten weiß er nicht zu benennen, macht Ucke Walles und seine Lehre dafür verantwortlich und datiert das erste Auftreten dieser Gruppierung in Ostfriesland in das Jahr 1644.22 Anton Koolman (1891 – 1965) kommt in seiner Artikelserie über seinen Vorfahren Ucke Walles zu dem Ergebnis, dass sich seine freien Ansichten nicht mit dem dogmatischen Standpunkt der damaligen Landeskirchen habe vereinbaren lassen, und nimmt damit Bezug auf die Ausführungen Müllers.23 Menno Smid (1928 – 2013) führt in seiner Ostfriesischen Kirchengeschichte insbesondere die Lehre von Ucke Walles als Grund für seine Vertreibung aus den Niederlanden an, die aber weniger Motivation für diejenigen gewesen sei, die sich ihm angeschlossen hätten.24 18 Vgl. Meiners, Eduard: Oostvrieschlandts kerkelyke Geschiedenisse of een historisch en oordeelkundig verhaal van het gene nopens het Kerkelyke in Oostvrieschlandt, Groningen 1739, S. 468 – 472. 19 Vgl. Wiarda, Tileman Dothias: Ostfriesische Geschichte Bd. 4, Aurich 1794, S. 387 – 389. 20 Vgl. Müller, Johann Peter: Die Mennoniten in Ostfriesland vom 16. Bis zum 18. Jahrhundert, Emden-Borkum-Amsterdam 1887, S. 60, Anm. 35. 21 Vgl. Blaupot ten Cate, Steven: Geschiedenis der Doopsgezinden in Groningen, Overijssel en Oost-Friesland, Leeuwarden-Groningen 1842, S. 80. 22 Vgl. Müller, Mennoniten, S. 55 – 57. 23 Vgl. Koolman, Anton: Uko Walles. Portrait einer eigenwilligen Persönlichkeit, in: Der Deichwart (1953), Nr. 45, 51 und 57, hier: Nr. 51, S. 1. 24 Vgl. Smid, Menno: Ostfriesische Kirchengeschichte, Pewsum 1974, S. 328, 387.
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Samme Zijlstra präzisierte, dass nicht seine Einordnung des Apostels Judas, sondern vielmehr die Interpretation seiner Aussagen durch Dritte Grund für den Konflikt mit der reformierten Kirche und dem Magistrat der Stadt Groningen gewesen sei. Die Ansichten darüber, wie der Verrat an Christus zu bewerten sei, habe zur Abspaltung von den Groninger Oude Vlamingen geführt.25 Sie hätten von 1534 an eine eigene Gemeinschaft gebildet, so Nicole Grochowina, die aufgrund der Vorstellung, dass die Gemeinde Christi rein sein müsse, eine sehr strikte Bannpraxis handhabte.26 Otto Knottnerus schließlich nennt Ucke Walles zu Recht einen Wegbereiter des Pietismus. In seiner Jugend schon habe der Richtungsstreit in der reformierten Kirche seinen Anfang genommen. Beeinflusst dadurch habe er für sich daraus die Konsequenz gezogen, dass allein die Bekehrung und die persönliche Wiedergeburt einen Ausweg aus der menschlichen Sündhaftigkeit weisen könnten, und dabei auf Schriften reformierter Autoren, wie William Perkins und Adam Westerman, verwiesen.27 Was war am Ende nun aber das wirkliche Anliegen von Ucke Walles und was führte tatsächlich zur Separation der Ukowallisten? Warum zog er nicht nur den Zorn vieler Mennoniten, sondern auch den der Vertreter der reformierten und lutherischen Gemeinden in der Provinz Groningen und in Ostfriesland sowie den des Groninger Magistrats und den der Herren der Ommelande auf sich, so dass er angefeindet in der Verbannung leben musste? Was war auf der anderen Seite aber auch wiederum so anziehend, dass viele Mennoniten Teil seiner Gemeinschaft waren bzw. wurden? Antworten auf diese Fragen finden sich in den fünf Schriften, die er zu Lebzeiten veröffentlichte, aber auch in seinen persönlichen Bekundungen, die sich in Unterlagen der Groninger Archive28 und des Niedersächsischen Landesarchivs in Aurich finden. III. Die Entstehung der Groninger Oude Vlamingen Ucke Walles Familie väterlicherseits stammte aus der Umgebung von Vliedorp in der Nähe von Houwerzijl im Nordwesten der Provinz Groningen, wo er vermutlich 159329 zur Welt kam. Zumindest lebte sein Vater, Walle Egges († nach 1624), auf dem 25 Vgl. Zijlstra, Samme: De Dopersen in Groningen 1530 – 1795, in: van Halsema Thzn., G. u. a. (Hrsg.), Geloven in Groningen, Capita Selecta uit de geloofsgeschiedenis van een stad, Kampen 1990, S. 119 – 132, hier: 127. 26 Vgl. Grochowina, Nicole: Indifferenz und Dissens in der Grafschaft Ostfriesland im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt 2003, S. 285. 27 Vgl. Knottnerus, Walles, S. 256; Tielke, Martin: Uko Walles, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Bd. 2, Aurich 1993, S. 392 – 394, hier: 392. 28 Das Groninger Archivgut wurde umfassend, d. h. vollständig und in transliterierter Form, in der dreibändigen Ausgabe über die Genealogie täuferischer Familien im Groninger Oldambt veröffentlicht: Abels, Sebo: Doopsgezinde families in het Oldambt (1520 – 1811), Eexterzandvoort 2002. 29 Als Ucke Walles 1637 vom Magistrat der Stadt Groningen befragt wurde, wurde vermerkt, dass er im 44. Lebensjahr stehe. Vgl. Gemeente archief Groningen – Portefeuille met
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Brungersmaheerd in Vliedorp, als Ucke Walles 1615 seine erste Frau, Heijke Hermens († 1625) aus Noordbroek, heiratete.30 Sie war die Witwe des verstorbenen Ackerbauern Writser Jacobs († vor 1615), der mit ihr zumindest drei Kinder hatte und ihr eine Hofstelle in Godelinze hinterließ, die sie in die Ehe mit dem wesentlichen jüngeren Mann einbrachte.31 Im gleichen Jahr pachtete Ucke Walles neun Grasen Land in Godelinze, um die zu bewirtschaftende Landfläche dort zu vergrößern.32 1623 lebte er aber bereits mit seiner Familie in Noordbroek,33 und zwar auf dem Hof, der von seinem Schwiegervater bewirtschaftet wurde.34 Hintergrund könnte eine Klausel im Ehevertrag sein, die vorsah, dass er den Hof in Godelinze an seine Stiefkinder wieder verkaufen musste, wenn diese das verlangten.35 In Noordbroek betrieb Ucke Walles einen Ackerbaubetrieb und pachtete zu diesem Zweck 15 ha Land.36 Sebo Abels vermutet, dass er dort bereits 1617 Vermahner wurde als Nachfolger des gerade verstorbenen Cornelis Pieters in Noordbroek.37 1625 heiratete er Tjaktje Ulpherts († nach 1658), nachdem seine erste Frau verstorben war.38 Das erste Mal, dass er nachweislich in dieser Funktion in Erscheinung trat, war seine Teilnahme an einer Versammlung von Vertretern mennonitischer Gemeinden 1628 in Middelstum. Die Gemeinde ohne „Flecken und Runzeln“ war das hohe Ideal der Jongen Vlamingen, um als wahre Gemeinde Gottes auftreten zu können. Als Kennzeichen galten Taufe, Abendmahl und die rechte Praxis der Gemeindezucht.39 Die Bannpraxis unter den Gemeinden variierte in der Schärfe ihrer Umsetzung und Durchführung. Als es in Blokzijl/Overijssel zu einer Eheschließung zwischen einem Gemeindeglied und einer noch nicht zur Gemeinde gehörenden Frau kam, erwuchs daraus ein Streit losse stukken na de reductie – 3 – 53, ao 1637, in: Abels, Families, Bd. III (1679 – 1757), S. 1689. 30 Vgl. Alma, Redmer: Dekenlammeren, koeschot, schapenschot, weltplege en dijkhaver in de Marne, in: Gruoninga 42 (2002, [i. e. 2004]), S. 131 – 158, hier: 142. Sein Vater heiratete ein Jahr zuvor seine zweite Frau, Wijpke Jochems. Vgl. Abels, Sebo: Geschiedenis der doopsgezinden in het Oldambt 1577 – 1811, Eexterzandvoort 2002, S. 73. 31 Vgl. Regest des Ehevertrags vom 4. September 1615: 731 – 7186 – Noordbroek (H.V.), in: Abels, Families, Bd. II. (1520 – 1811), S. 860 – 861; Bd. III. (1679 – 1757), S. 1681. 32 Vgl. Abels, Families, S. 1679. 33 Abels gibt an, dass er bereits 1617 in Noordbroek gelebt habe. Vgl. ebd., S. 71. 34 Seine Schwiegermutter, Sijben Joachims, war eine Schwester seiner Stiefmutter Wijpke Jochems. Vgl. ebd., S.73. Dies könnte der Grund dafür gewesen sein, dass die Familie seines Vaters später auch in unmittelbarer Nachbarschaft in Noordbroek lebte. 35 Vgl. Abels, Families, S.1681. 36 Vgl. Knottnerus, Walles, S. 253. 37 Cornelis Pieters wurde 1592 zusammen mit Brixius Gerrits, dem Wortführer der flämischen Mennoniten, während des Emder Religionsgesprächs mit dem Bann belegt, weil keiner von beiden sich für eine der neuen Denominationen der flämischen Mennoniten, Jonge und Oude Vlamingen, entscheiden konnten. Vgl. Zijlstra, Gemeente, S. 300. 38 Vgl. Abels, Families, S. 1681. 39 Vgl. Kühler, Wilhelm J.: Geschiedenis van de Doopsgezinden in Nederland 1600 – 1735, Haarlem 1940, S. 119.
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unter den Gemeinden. Jan Luyes († 1637), der Älteste der Gemeinde in Kloosterburen sah darin eine große Verfehlung und sprach gegen den Ältesten in Blokzijl, der sich weigerte, den Bräutigam aus der Gemeinde auszuschließen, 1623 den Bann aus. Auch die Annäherung zwischen den mennonitischen Denominationen wurde unterschiedlich beurteilt. 1626 näherten sich in Harlingen Vlamingen und Friezen einander an, was vereinzelte Gemeinden in der Provinz Groningen nicht guthießen. Ihr Unverständnis ging so weit, dass sie gegenüber den Harlinger Gemeinden den Bann aussprachen. Die bereits erwähnte Versammlung in Middelstum im Jahre 1628 sollte nun ein Versuch sein, um die Einheit der Gemeinden wieder herzustellen. Dieser scheiterte aber, weil Jan Luyes sich zusammen mit Ucke Walles von den Jongen Vlamingen40 trennte und damit die Sozietät der Groninger Oude Vlamingen begründete, die in der Geschichte als strengste Richtung des mennonitischen Täufertums galt. In ihren Gottesdiensträumen fehlte eine Kanzel. Erhöht auf einem Podest standen die Stühle des Kirchenrats, wobei der größte dem Vermahner vorbehalten war. Zierrat, modische Kleidung und kostbare Möbel wurden nicht toleriert. Es gab eine vorgegebene Kleiderordnung, und den Männern wurde auferlegt, ihre Bärte wachsen zu lassen. Außerdem war die Fußwaschung vor oder nach dem Abendmahl nach neutestamentlichem Vorbild obligatorisch. Die Danziger Oude Vlamingen lehnten die Fußwaschung ab und trennten sich darum um das Jahr 1630 von den Groningern.41 IV. Die Lehre von der Allversöhnung Es war der Älteste Jan Luyes, der darüber sprach, dass auch Judas Gottes Gnade teilhaftig werden könne, da er Teil des göttlichen Heilsplans gewesen sei. Diese Aussage rief das Misstrauen des noch jungen reformierten Predigers in Godelinze, Theodorus Johannes a Lengelius, auf den Plan. Er forderte Jan Luyes zu einem Disput auf, der am 24. Februar 1634 stattfand. Gut ein Jahr später, am 6. Januar 1635, folgte in der Wohnung von Herman Tammens in Godelinze ein weiteres Gespräch, und zwar dieses Mal zwischen Theodorus a Lengelius und Ucke Walles, in dessen Verlauf letzterer den Pastor als Verführer und Falschlehrer beschimpft haben soll. Daraufhin erhob der Pastor Klage vor Gericht, so dass Ucke Walles sich für seine Äußerungen rechtfertigen musste.42 Über den genauen Verlauf der Gespräche ist weiter nichts bekannt, da keine Protokolle überliefert sind.43
40 Zijlstra wies darauf hin, dass die meisten Groninger Gemeinden zu den Jongen Vlamingen gehörten, ideologisch gesehen aber den Oude Vlamingen näherstanden. In der Literatur seien sie darum oft zu Unrecht als zu der letztgenannten Gruppierung gehörig bezeichnet worden. Vgl. Zijlstra, Gemeente, S. 311, Anm. 165. 41 Vgl. ebd., S. 310 – 313. 42 Vgl. Abels, Families, S. 1683 – 1684. 43 Vgl. Wumkes, Geert Ailco: De Gereformeerde kerk in de Ommelanden tussen Eems en Lauwers (1595 – 1796), 2. Aufl., Groningen 1975, S. 35.
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Seine Stellungnahmen wurden Ucke Walles immer mehr zum Verhängnis. Am 23. April 1636 nahm er nach eigener Darstellung zusammen mit drei Gemeindegliedern an einer Versammlung in Noordbroek teil. Unter den dort Anwesenden seien fünf oder sechs Personen gewesen, die aus der Gemeinde ausgeschieden seien und andere, die nie dazu gehört hätten. Er habe sich am Gespräch beteiligt. Obgleich es inhaltlich um völlig andere Themen gegangen sei, sei er nach bestimmten Aspekten seiner Lehrmeinung befragt worden. Er habe zunächst nicht darauf eingehen wollen, sich aber dann doch auf einen Disput eingelassen. Anschließend habe man Handzettel mit protokollierten Aussagen, die er angeblich machte, verbreitet und ihn damit öffentlich diffamiert.44 Wenig später kam es auch zum Streit in den eigenen Reihen. Der Vermahner Juriaen Thomas aus Groningen hatte die Glaubwürdigkeit der beiden Ältesten Jan Luyes und Ucke Walles in Frage gestellt. Während einer Zusammenkunft der Vertreter von 29 Gemeinden der Groninger Oude Vlamingen vom 26. Februar bis zum 7. März 1637 in Groningen beherrschte dieser Konflikt die Tagesordnung.45 Jurjen Thomas bezichtigte Ucke Walles der Falschlehre, weil er die von dem inzwischen verstorbenen Jan Luyes vertretene Ansicht, dass auch Judas Hoffnung auf göttliche Gnade haben dürfe, verteidigt hatte. Diese Kritik an Ucke Walles äußerte er zunächst nicht laut. Als aber klar wurde, was er ihm zum Vorwurf machte, begründete Ucke Walles seine Sicht vom Leiden Christi und von Judas mit einer Verteidigungsrede, die er mit Zitaten aus der Heiligen Schrift belegte. Als Juriaen Thomas danach aufgefordert wurde, seine Sicht der Dinge darzulegen, weigerte er sich das Gespräch fortzusetzen. In seiner Abwesenheit wurde dann von den anwesenden Delegierten über ihn der Bann ausgesprochen. Er soll schließlich eine eigene Gemeinde, die als Juriaen Thomasvolk bezeichnet wurde und deren Mitglieder ausschließlich aus Groningen stammten, ins Leben gerufen haben. Verletzt, nicht zuletzt auch deswegen, weil Ucke Walles und nicht er die Nachfolge des führenden Ältesten Jan Luyes antreten konnte, wandte vermutlich er sich an den Magistrat der Stadt Groningen, der Ucke Walles daraufhin in Arrest nahm und die Vorwürfe gegen ihn untersuchen ließ.46 Ein Fragenkatalog, der dem 44jährigen Ucke Walles zur Beantwortung vorgelegt wurde, ist erhalten geblieben. Die ersten fünfzehn Fragen beziehen sich u. a. auf seine Ausführungen über Judas und über die Schächer am Kreuz. Es handelt sich im Wesentlichen um die Aussagen, die nach dem Gespräch im Jahre 1636 in Umlauf gebracht worden sind und die später 44 Vgl. Ucke Walles, Noodwendighe verantwoordinghe, op eenighe laster ende faem-roovende gheschriften, soo my nae-gheschreven zijn, van eenige persoonen tot Noortbroeck, en ander plaetsen woonende, ende onder het volck gestroyt, daer uyt mijn naem seer ghelastert wordt, s. l. 1637, S. 4 – 10, 43 – 44. 45 Dabei handelte es um jeweils zwei Vertreter aus 17 Gemeinden der Provinz Groningen, aus acht Gemeinden der Provinz Friesland und vier Gemeinden aus Ostfriesland, nämlich aus Leer, Neustadtgödens, Krummhörn und Wirdumer Neuland. Vgl. Abels, Families, S. 1684. 46 Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 75; Abels, Families, S. 1684 – 1689, Zijlstra, Gemeente, S. 313.
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auch noch einmal in Ostfriesland von dem Ochtelburer Pastor Johann Lübberti Alphusius in seiner Schrift von 1637 gegen Ucke Walles kolportiert wurden.47 Neunzehn der Fragen beinhalten angeblich gemachte Aussagen über die reformierte Kirche, von denen er sich größtenteils distanzierte. Bei der Frage allerdings, ob er behauptet habe, dass die Lehre der reformierten Prediger nicht schriftgemäß sei, bekannte er sich dazu und erklärte, dass vieles von dem, was sie verkündeten, völlig entgegen seinem eigenen Schriftverständnis sei. Die letzten elf Fragen bezogen sich auf Juriaen Thomas und die kurz vorher stattgefundene Versammlung in Groningen. Einer der Vorwürfe lautete, dass Ucke Walles einen Widerspruch gegen seine Schriftauslegung als Lästerung des Heiligen Geistes bezeichnet habe und Juriaen Thomas darum ausgeschlossen worden sei. Dies räumte Ucke Walles zum Teil ein, wies aber darauf hin, dass es für den Ausschluss auch noch andere Gründe gegeben habe.48 Die Folgen des Verhörs waren drastisch. Ucke Walles wurde mit Urteil vom 8. April 1637 aus der Provinz Groningen verbannt. Zugleich wurden den ihm nahestehenden Gemeinden ein Versammlungsverbot erteilt.49 Ein damals veröffentlichtes Plakat verbot die Zusammenkünfte der Ukowallisten. Damit wurde eine neue Bezeichnung für die Groninger Oude Vlamingen eingeführt, die zunächst ausschließlich von der Obrigkeit und den reformierten Predigern verwendet wurde.50 Ucke Walles selbst wehrte sich vehement gegen die Vorstellung, er habe eine neue Gemeinde gründen wollen.51 Eine neue Bleibe fand er in Ostfriesland,52 wo er erneut auf Gegnerschaft stieß. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte er eine apologetische Schrift, die sich gegen die verbreiteten Flugblätter von 1636 richtete, aber auch gegen Briefe, die von dem Emder Vermahner Jan Sywers und von Douwe Jansz aus Harlingen unterschrieben und in Umlauf gebracht worden waren. Es gebe viele Unstimmigkeiten darin und die auf diese Weise verbreiteten Aussagen seien unwahr und seien ihm in den Mund gelegt worden. Er führt aus, dass er nie behauptet habe, dass Judas Se47
Vgl. Fn. 16. Vgl. Abels, Families, Frage 39 – 42, S. 692. 49 Vgl. ebd., S. 1693 – 1694; Knottnerus, Otto S.: Ucke Walles, in: Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlands protestantisme, Bd. 5, Kampen 2001, S. 554 – 556, hier: 555. 50 Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 75. 51 Vgl. Ucke Walles, Een Corte Leerachtige Verklaringe/ uyt de H. Schrifture vervatet/ hoe men de tijdt verstaen sal/ doen Christus Jesus onsen Salighmaecker/ in sijn heylige Menschwerdinghe/ op aerden was: dat doen een donckeren en onwetene tijdt was: (de Wet was by nae ten eynde/ en dat Euangelium noch niet bevestight) dat welcke Christus alles door sijn Doot en gave des Heyligen Geestes/ in‘ t licht ghebracht heeft/ als een klare Spiegel der Godlijcker kracht/ Mede uyt Adamo Westermanno verklaert. Met Een kort bewijs onses Christelicken Geloofs, uyt-gegeven door Ucke Walles, s. l. 1645, S. 51; ders., Verantwoordinghe, S. 19. 52 Abels behauptet, dass er Unterschlupf in der Norder Westermarsch gefunden habe und begründet dies mit einer Schutzgeldabgabe im Jahre 1641. Leider macht er keinen Hinweis auf den Fundort. Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 76; Brucherus, Heino Hermannus: Gedenkboek van stad en lande, Groningen 1792, S. 286. 48
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ligkeit versprochen worden sei. Er habe sich allein gegen die Vorstellung gewandt, dass Gott ihn auf ewig verdammt habe. Schließlich seien seine Taten zur Zeit des Alten Testamentes prophezeit worden und somit Teil des göttlichen Heilsplans gewesen. Alle Menschen seien mit Adam und Judas Tod und Verdammnis anheimgefallen, wenn Gott sie nicht alle durch den Tod seines Sohnes gerecht gemacht habe. Judas sei noch unter dem Gesetz gestorben. Er unterstehe dem Urteil Christi und dem wolle und dürfe er nicht vorgreifen. Es sei aber auch nicht verdammenswert und böse, wenn er hoffe, dass auch der Apostel Judas mit Christus versöhnt sei.53 Allein darum werde er nun als Sektengründer beschimpft.54 Er habe auch nie behauptet, dass die Schächer, die mit Christus am Kreuz gestorben seien, als selig zu bezeichnen seien. Es gebe dazu gegensätzliche Aussagen in der Bibel. Es sei zu hoffen, dass derjenige von beiden, der sich laut dem Evangelisten Lukas zu Christus bekannt habe, Gnade finden werde. Denn jeder, der an Christus glaube, sterbe in diesem Leben mit Christus am eigenen Kreuz, um ihm im neuen Geiste dienen zu können.55 Er habe auch nie behauptet, dass alle Menschen Verräter Christi seien, dass sei schon allein darum nicht möglich, weil die Menschen der Gegenwart damals noch nicht gelebt hätten. Dennoch sei Christi Heilswerk um die Sünde aller Menschen geschehen.56 Dass Datan, Korach und Abiram unter der Verheißung stünden, selig zu werden, habe er nie geäußert. Es sei aber überzeugt, dass die Menschen vor Christi Heilstat eine größere Aussicht auf Gnade hätten, als Christen, die danach heidnische und abgöttische Werke verrichtet hätten.57 Viele, die für Christi Leiden und Tod verantwortlich seien, seien Teil des göttlichen Heilsplans gewesen. Herodes und Pilatus mit den Heiden und dem Volke Israel hätten am Ende nur ausgeführt, was Gott in seinem Ratschluss beschlossen habe. Gott habe durch den Mund der Propheten verkündigt, dass Christus leiden werde. Der Herr habe am Kreuz den Menschen vergeben und ihnen ihr Tun nicht angerechnet. Damit wolle er nicht behaupten, dass sie darum alle selig seien, es stehe aber anderen Menschen nicht zu, ein Urteil über sie zu fällen.58 Wie schon Brixius Gerrits († nach 1592) und Peter van Collen (vor 1530–nach 1603) während des Emder Religionsgesprächs von 1578 zuvor, vertrat Ucke Walles damit die sogenannte Allversöhnungslehre, wie sie sich auch bei Andreas Karlstadt (1486 – 1541), Melchior Hoffman (um 1495 – 1543) und Hans Denck (um 1500 – 1527) nachweisen lässt. In der Kirchen- und Ketzerhistorie von Gottfrid Arnold werden die Ukowallisten sogar ausdrücklich als „Nachfolger“ von Hans Denck bezeich53 Vgl. Ucke Walles, Een weemoedige klaghende supplicatie aen alle heeren, rechteren, officieren, ende aen alle menschen … tot ontlastinghe ende verantwoordinghe van veele onware beschuldingen over mijn persone, s. l. 1645, S. 49 – 50. 54 Vgl. Ucke Walles, Verantwoordinghe, S. 10 – 19. 55 Vgl. ebd., S. 19 – 24. 56 Vgl. ebd., S. 24 – 27. 57 Vgl. ebd., S. 31 – 37. 58 Vgl. Ucke Walles, Verantwoordinghe, S. 41 – 47.
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net.59 Die flämischen Mennoniten waren einhellig der Meinung, dass grundsätzlich niemand von der Gnade Christi ausgeschlossen werden könne.60 Ucke Walles entwickelte somit keine neue Lehrmeinung, wie später so oft behauptet wurde.61 Ursächlich für die entstehenden Konflikte war eher sein Festhalten an überkommene Sichtweisen, die von Teilen der mennonitischen Glaubensgemeinschaft nach und nach aufgegeben wurden. V. Widersacher: Junker Lucas van Lissabon und D. Laurentius Pimperlingh Dass Ucke Walles Zeit seines Lebens angefeindet wurde, ist nicht nur religiös motiviert gewesen. Der Unmut gegen seine Person hatte einen sehr viel komplexeren Hintergrund. Zum Teil scheint es dabei auch um einen Streit um irdische Güter gegangen zu sein. Vielleicht hat man die aufkommenden Gegensätze innerhalb der mennonitischen Gemeinschaft nur genutzt, um einen handfesten Grund zu haben, gegen ihn vorzugehen bzw. ihn vertreiben zu können. Bereits seit 1631 forderten die Erben der Familie Buckhorst, vertreten durch den Junker Lucas van Lissabon, die Nutzungsrechte an den Ländereien in Noordbroek zurück. Ucke Walles war aber nicht bereit, seinen Besitz und die ihm gehörenden Gebäude aufzugeben. Nachdem er selbst verbannt worden war, blieb seine Familie in Noordbroek wohnen. Zwischendurch kehrte er immer wieder für kurze Zeit aus Ostfriesland zurück. Noch im ersten Verbannungsjahr hielt er sich im August 1637 kurz in der Provinz auf, da ihm erlaubt worden war, das Krankenbett seiner Frau aufzusuchen.62 Tjaktje Ulpherts bemühte sich 1639 um eine weitere Aufenthaltsgenehmigung für ihren Mann, die vom Magistrat der Stadt Groningen für die Dauer von sechs Wochen gewährt wurde, mit der Auflage, sich ausschließlich zu Hause aufzuhalten und nicht mehr als fünf Personen gleichzeitig zu empfangen.63 1640 durfte er erneut für sechs Wochen ins Groningerland zurückkehren, um die Kornernte einfahren zu können.64 Er erhielt dann sogar die Zustimmung, wesentlich länger bleiben zu dürfen. Abels vermutet, dass er sich bis zum 12. Oktober 1541 in Noordbroek aufgehalten hat.65 59 Vgl. Arnold, Gottfried: Anderer Theil der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie von Anno 1500 biß 1688, Bd. XVI Cap. XXI, Nr. 15, Frankfurt 1700, S. 863. 60 Vgl. Voß, Religionsgespräch, S. 210 – 211, 307 – 312. 61 Vgl. Jehring, Walles, S. 114; Meiners, Geschiedenisse, 469; Wumkes, Kerk, S. 34 – 35; Smid, Kirchengeschichte, S. 328; Zijlstra, Dopersen, S. 127; Knottnerus, Walles, S. 258; Zijlstra, Gemeente, S. 313; Grochowina, Indifferenz, S. 286. 62 Vgl. Abels, Families, S. 1694; GAG – 314r – Res. B. en R. – fol. 261 – 262. 63 Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 79. 64 Vgl. Abels, Families, S. 1695; GAG IIIa 37. 65 Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 80. Er gibt aber auch an, dass Ucke Walles 1641 auf einem Bauernhof in der Norder Westermarsch lebte und dort Schutzgeld entrichtete. Vgl. Abels, Families, S. 1695, NLA Au, Rep. 4 B II d 33 – S. 8. Die Zahlung von Schutzgeld in Ostfriesland steht der Annahme eines längeren Aufenthalts in Noordbroek entgegen.
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Im Dezember gleichen Jahres forderten Bürgermeister und Rat der Stadt Groningen die Familie auf, den Hof in Noordbroek zu räumen. Es kam zu Verhandlungen, bei denen die Familie von Dr. Gerhardus Swart vertreten wurde. Es wurde versucht, einen Kompromiss auszuhandeln. Nachdem der Wert der Gebäude ermittelt war, wurde der Familie eine Kaufsumme von 1100 Gulden angeboten, die Tjaktje Ulpherts in Stellvertretung ihres Mannes ablehnte. Sie weigerte sich, einen vorgelegten Kompromiss zu unterzeichnen. Selbst als ihr während eines weiteren Termins die Pacht zum dritten Mal aufgesagt wurde, weigerte sie sich noch immer standhaft. Am Folgetag wurden im gerichtlichen Auftrag die Kühe gezählt. Als der Gerichtsdiener diese von der Weide treiben wollte, wurde dies von Angehörigen und Freunden der Familie verhindert, so dass die Kühe des neuen Pächters dort nicht untergebracht werden konnten und ein Pachtwechsel somit nicht erfolgte.66 Es gelang der Familie immer wieder aus formalen Gründen, die Aufgabe ihrer Hofstelle zu vereiteln. Es wurde zeitweilig sogar erwogen, Militärgewalt einzusetzen. Am Ende kam es 1544 zu einem Kompromiss zwischen Lucas van Lissabon und Ucke Walles, dessen Wortlaut nicht überliefert ist. Die Tatsache aber, dass der Sohn Harm Ukens den Hof in Noordbroek weiterhin betrieb, zeigt, dass der Grundherr sein eigentliches Ziel nicht hat durchsetzen können.67 Als sich die Möglichkeit ergab, einen zur Kirchengemeinde Midwolda gehörenden Hof mit 89 Grasen [ca. 30 ha] in Marsum zu übernehmen, entschieden sich die Eheleute zum Umzug und übernahmen zum 1. Juni 1642 den wesentlich größeren Betrieb. Marsum lag in den Ommelanden und somit außerhalb der Machtsphäre von Bürgermeister und Rat der Stadt Groningen. Ucke Walles zog damit aber auch in die unmittelbare Nachbarschaft des ihm nicht gerade gut gesonnenen Junkers Lucas van Lissabon, dessen Einfluss in diesem Bereich weit größerer als in Noordbroek war.68 Er scheint auch dem Appingedamer Pastor D. Laurens Pimperlingh ein Dorn im Auge gewesen zu sein. Zusammen mit seinem Amtsbruder, Bernhard Cras, hatte dieser sich nämlich zuvor vergeblich mit der Bitte an die Kirchvögte in Midwolda gewandt, die Hofstelle in Marsum nicht an Ucke Walles zu verpachten.69 Vielleicht war es ein Versuch, den moralisch nicht sonderlich gefestigten Pastor zu beschwichtigen, als Ucke Walles im Sommer 1542 der Familie des Pastors 1/4 Fass Butter zukommen ließ. Schon bald machte das Gerücht die Runde, der Pastor habe sich durch den Täufer Ucke Walles bestechen lassen, wofür er sich auf der Provinzsynode der reformierten Kirche in Groningen am 4. Dezember 1644 verantworten musste. Rund zwei Wochen später, am 17. Dezember 1644, wurde der oben er66
Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 82. Es würde zu weit führen, alle Einzelheiten darzustellen. Darum sei auf den Beitrag von Sebo Abels verwiesen. Vgl. Abels, Sebo: Jonkheer Lucas van Lissabon en de stad Groningen contra Uucke Walles, in: Abels, Geschiedenis, S. 79 – 97. 68 Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 98. 69 Ucke Walles, Twee brieven aen Laurens Pimperlingh, prediker in Appinga Damme: gesonden tot ontschuldinghe ende onderrichtinge van sijne ghedane lasteringhe, over mijn persoone, s. l. 1645, S. 1. 67
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wähnte und für Lucas van Lissabon eher unerfreuliche Kompromiss geschlossen, so dass nun in unmittelbarer Nähe zwei ihm sehr feindselig gesinnte Männer lebten, die auf Vergeltung sannen. Abels vermutet sogar, dass beide sich in einer Alliance gegen Ucke Walles verbündeten. Ob Lucas von Lissabon dabei Pastor Pimperlingh instrumentalisierte, wird sich kaum nachweisen lassen.70 Dennoch sorgte Letzterer dafür, dass Ucke Walles 1644 gefangen gesetzt wurde. Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte der in Misskredit gebrachte Vermahner eine apologetische Schrift, mit der er seine unbeantworteten Briefe an den Pastor in Appingedam öffentlich machte. Die Frage, ob Plakate und Verfolgung reformiert seien,71 zielte dabei offensichtlich auf die Vergangenheit Pimperlinghs, der erst 1638 vom Katholizismus zur reformierten Konfession konvertiert war.72 Jemand, der niemanden neben sich dulde und aus Glaubensgründen verfolge, führe die Inquisition wieder ein, heißt es in der Vorrede an den Leser. Ucke Walles erinnert darin bewusst an die jüngste Geschichte der Niederlande, die sich zur Wahrung der Gewissensfreiheit gegen den König von Spanien aufgelehnt hatten, und zitiert dabei Wilhelm von Oranien. Das Regiment über Seele und Gewissen komme allein Gott zu, heiße es auch im ebenfalls zitierten Sendbrief der Generalstaaten an die Stadt Amsterdam aus dem Jahre 1577.73 In seinem ersten Brief an Pimperlingh, der aus dem Jahre 1642 datiert, wendet Ucke Walles sich gegen üble Nachrede und appelliert an den Pastor, ihn nicht länger zu verfolgen. Wenn er in seiner Lehre fehle, solle er ihn in der Schrift unterweisen. Er suche aber nicht etwa den Disput, sondern wolle seinen Glauben in aller Stille leben, wie es seinen Vorfahren vergönnt gewesen sei. Sein Hinweis, dass gesetzliche Zeremonien und äußerliche Gottesdienste weder selig machen könnten noch von Sünden erlösten, muss der wohl eher orthodox denkende Appingedamer Pastor geradezu als Kampfansage empfunden haben.74 In seinem zweiten Brief wendet Ucke Walles sich gegen eine Predigt vom 22. Februar 1644, mit der Pimperlingh sich an die Junker und Erbgesessenen der Ommelande gerichtet habe, um ihn zu verleumden. Dabei habe er sich nicht der Inhalte seines Briefes an den Pastor bedient, in dem er ausführlich seinen Glauben dargelegt habe, sondern eines parteiischen Buches von Juriaen Thomas.75 In seinem Buch charakterisiert dieser seine Gegner in sehr negativer Form, bezeichnet u. a. die Aussagen über Judas als Falschlehre und kritisiert die von Ucke Walles praktizierte Hermeneutik: „Dit begere ick dat ghy my beantwoort met dat de letter der Schrift uytspreeckt/ 70
Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 80 – 105. Vgl. Ucke Walles, Brieven, S. 4. 72 Vgl. Ucke Walles, Brieven, S. 58. 73 Vgl. Ucke Walles, Brieven, Tot den Leser. 74 Vgl. Ucke Walles, Brieven, S. 6 – 7. 75 Vgl. Juriaen, Thomas: Een vermaninghe ofte indachtigh makinge. En nootwenidge verantwoordinge op Wcke Walles onwaerachtige beschuldinge enz., s.l. 1643; Ucke Walles, Brieven, S. 27. 71
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sonder Philosophie ofte beduydinghe“.76 Ucke Walles verteidigt nicht zuletzt auch darum seine allegorische Schriftauslegung und verweist auf die Schriftgemäßheit seiner Glaubenspraxis. Am Pfingsttag seien die Apostel mit dem Heiligen Geist begabt worden, denn nur durch den Heiligen Geist sei das Evangelium zu verstehen.77 Darum seien Geist- und Wassertaufe gleichermaßen wichtig, denn so wie die Samaritaner (Apg 5, 8 – 24) und Cornelius mit seiner Familie gläubig und getauft worden seien (Apg 10, 44 – 48), so geschehe es auch in ihrer Gemeinschaft.78 In einer weiteren apologetischen Schrift nimmt er Bezug auf Aussagen des reformierten Pastors Adam Westerman.79 Die Menschen hätten zu Jesu Erdenzeiten das göttliche Heilshandeln gar nicht erkennen können, weil sie, durch den Sündenfall verdorben, eine angeborene Unwissenheit und die Vorstellung von einem ewigen Königreich Christi auf Erden gehabt hätten. Erst mit der Gabe des Heiligen Geistes am Pfingsttage sei das ewige und geistliche Königreich verkündet worden.80 Es gebe Menschen, die meinten, einen Unterschied machen zu müssen zwischen dem lebenden Christus und denen, die ihm Leid zufügten. Als ob jene dadurch von der Gnade ausgenommen worden seien und als ob das Leiden Christi andere Gründe gehabt hätte, als die Verheißung Gottes und die menschliche Sünde. Die Schrift müsse geistlich verstanden und ausgelegt werden. Letzteres habe wenig mit seinem persönlichen Verständnis zu tun, wie behauptet werde, und werde so auch von Adam Westerman vertreten.81 Auch die Fußwaschung könne neutestamentlich begründet werden. Christus habe sich erniedrigt, seinen Aposteln die Füße gewaschen und ihnen geboten, das Gleiche zu tun. Es sei ein Zeichen Christi. Er könne nicht verstehen, warum man ihn darum verfolge.82 Pimperlingh solle den Offizieren raten, ihre Dienste nicht zu missbrauchen und sich nicht an der Stätte Gottes zu vergreifen.83 Nachdem Pimperlingh von der Kanzel verkündet hätte, dass die Ukowallisten aus dem Lande getrieben werden müssten, sei er bei Nacht von Bewaffneten aus dem Haus geholt worden, in dem er zwei Jahre lang friedlich gelebt habe, um in Delfzijl 76
Thomas, Vermaninghe, S. 82. Vgl. Ucke Walles, Brieven, S. 37 – 38. 78 Vgl. ebd., S. 39. 79 Adam Westerman wurde in Heisfelde bei Leer geboren und nahm 1597 das Studium der Theologie in Franeker auf. Er war reformierter Pastor in kleinen friesischen Hafenorten in den Niederlanden und veröffentlichte u. a. das Buch „Christelijke zeevaart“, das um die 30 Neuauflagen erlebte. Er war es auch, der den Begriff der christlichen Seefahrt prägte. Westermann verstarb 1635. Vgl. Wassenaar, Jan Dirk Theodor: Art. Adam Westerman, in: Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlands protestantisme, Bd. 6, S. 341 – 342. URL: http://resources.huygens.knaw.nl/retroboeken/blnp/#page=341&accessor=accessor_index& source=6. 80 Vgl. Ucke Walles, Verklaringe, S. 15 – 16. 81 Vgl. ebd., S. 14 – 16, 28 – 29. 82 Vgl. Ucke Walles, Brieven, S. 42 – 43. 83 Vgl. ebd., S. 49. 77
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für acht Wochen in Kerkerhaft genommen zu werden. Schließlich habe er eine hohe Geldbuße entrichten müssen. Pimperlingh selbst habe kritisiert, dass die altgläubige Kirche jeden für einen Ketzer hielte, der nicht mit ihr einer Meinung sei. Sie habe darum die von ihnen als Ketzer verdächtigten Menschen der weltlichen Gerichtbarkeit übergeben, auch wenn deren Schuld gar nicht bekannt sei. Er frage sich, warum Pimperlingh als reformierter Pastor sich nun genau so verhalte. Er riete der Obrigkeit, wie mit Mennoniten umzugehen sei und führe auf diese Weise Inquisition und Gewissenszwang wieder ein. Die Reformierten seien einst zusammen mit den Mennoniten von der altgläubigen Kirche verfolgt worden und müssten doch wissen, dass das falsch und gegen Gottes Gebot gewesen sei. Er solle nicht die gleichen Fehler machen.84 Er behaupte, dass Ucke Walles ein Ketzer und schandloser Verführer sei und vermahne die Obrigkeit, ihr Amt zu tun. Im vorliegenden Fall aber hieße es, das Amt zu missbrauchen. Er habe der Obrigkeit geraten, ihn zu verfolgen, aufzugreifen und zu töten.85 Pimperlingh würde am Ende genau das machen, was er in seinem Buch der altgläubigen Kirche als Fehlverhalten vorgeworfen habe.86 Mit einer Kaution von 20.000 Gulden87 als Sicherheit durfte Ucke Walles seine krank darniederliegende Frau für drei Tage besuchen. Nachdem erneut ein Plakat veröffentlicht wurde, das noch strenger als das von 1637 formuliert war, entschied Ucke Walles sich mit Rücksichtnahme auf die mennonitische Gemeinschaft, das Land für immer zu verlassen. Möglicherweise hielt er sich danach kurz bei seinem Sohn Walle Uken in der Norder Westermarsch auf. Ein Jahr später lebte er nachweislich in Neustadtgödens. Knottnerus vermutet, dass er sich auf Einladung des Vermahners Albert Lubberts (Cremer)88 dort aufgehalten habe. Von Graf Ulrich II. von Ostfriesland (1605 – 1648) erhielt er einen am 25. November 1645 ausgestellten Schutzbrief und konnte das Grashaus des ehemaligen Klosters Sielmönken gegen Bezahlung von 3000 Reichsthalern pachten.89 Zusammen mit seiner Familie siedelte er sich hier am 12. März 1646 an.90 Unmut erregte sein Aufenthalt in Ostfriesland sowohl beim Emder Coetus als auch bei lutherischen Pastoren, ohne dass jedoch irgendjemand etwas gegen ihn hätte unternehmen können.91 84
Vgl. ebd., S. 59 – 62. Vgl. ebd., S. 65. 86 Vgl. ebd., S. 68. 87 Für diese für damalige Zeiten gigantische Summe hätte man fünf große Marschbauernhöfe kaufen können. Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 102. 88 Albert Lubberts Cremer war ein Alturgroßvater von Antje Brons, geb. Cremer ten Doornkaat. Vgl. Cremer I. des Stammes van Lingen aus Emden; Cremer II. des Stammes Freerks aus Holwierde/Provinz Groningen, in: Koerner, Bernhard (Hrsg.), Deutsches Geschlechterbuch, Bd. 26, S. 65 – 85. 89 Vgl. Müller, Mennoniten, S. 60. 90 Vgl. Abels, Geschiedenis, S. 103. 91 Vgl. Tielke, Uko Walles, S. 393; Die wider Uko Wallis von den Predigern zu Norden und dem Coetus zu Emden geführten Klagen und das ihm verliehene Geleit, NLA AU Rep. 4, B 2 d, Nr. 9. 85
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VI. Das Pfand des Geistes In einer weiteren Druckschrift, mit der Ucke Walles sich vor allem an die Obrigkeit, aber auch die Einwohnerschaft Groningens und der Ommelande wendet,92 bestreitet er, in seiner antiklerikalen Haltung grundsätzlich Gottesdienstbesucher verdammt zu haben. Er führe vielmehr einen geistlichen Streit, um das Böse abzuwehren. Christus habe die Menschen unter das Gesetz des Geistes gestellt und einen evangelischen Bann bzw. eine entsprechende Disziplin gefordert.93 Damit begründet er die von den Groninger Oude Vlamingen rigoros betriebene Gemeindezucht. Zugleich wende er sich gegen die Inhalte der von Juriaen Thomas veröffentlichten Schriften, der ihn in seinen Büchern verleumde und sich ihm gegenüber unglaubwürdig verhalte.94 Für Ucke Walles konnte es außerhalb seiner Gemeinde kein Heil geben, wenn er es explizit auch nicht behauptete und es dem Urteil Christi anheimstellte. Er verweist auch hier auf Adam Westerman, der in einer Schrift aus dem Jahre 1628 Stellung gegen die Sündhaftigkeit des gemeinen Volkes bezogen und die Obrigkeit zum Handeln aufgefordert habe, was derselbe mit der Bibel und theologischem Schrifttum begründet habe.95 Widersprüchliche Aussagen in der Schrift oder auch die Theodizeefrage ließen sich mit Hilfe der geistlichen Interpretation der Bibel erklären.96 Schon Melchior Hoffman sprach davon, dass widersprüchliche Aussagen in der Bibel zusammengenommen einen tieferliegenden Sinn für diejenigen offenbare, die in der Nachfolge Christi stünden und die Schrift geistlich interpretierten.97 Der Verweis darauf, dass ein jeder Mensch für Christi Kreuz verantwortlich sei, so wie Judas, Herodes, Pontius Pilatus und die Juden, und dass die Sünden eines jeden Einzelnen die Nägel, die Dornen und die Speere seien, die Christus durchstochen hätten, diene dazu, den Menschen wach zu rütteln, wie William Perkins (1558 – 1602) es bereits vor ihm formuliert habe.98 Es gehe ihm um die Erkenntnis der persönlichen Schuld eines jeden Menschen und um den Glauben an Christus, um so durch ihn selig zu werden. Wer in der Zeit des Heiligen Geistes Christus nicht bekenne, glaube und annehme, trage selbst die Verantwortung dafür. Das Leiden Christi sei nicht auf die Eingebung des Teufels oder auf Hass und Neid der Menschen zurückzuführen, son-
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Vgl. Ucke Walles, Supplicatie, S. 1, 70. Vgl. ebd., S. 30 – 33. 94 Vgl. Schreiben an Juriaen Thomas vom 28. Juli 1644, in: ebd., S. 72 – 74. 95 Vgl. ebd., S. 38 – 39; Westermann, Adam: Vrye Iaer-Merckt voor den Volcke Zion, in de welcke de zonden ende grouwelen die heden ten daghe in de Jaer-Merckten ende kermissen in swangh gaen, Amsterdam 1628. 96 Vgl. Ucke Walles, Supplicatie, S. 52. 97 Vgl. Deppermann, Klaus: Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979, S. 214. 98 Vgl. Ucke Walles, Supplicatie, S. 58 – 59. 93
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dern sei allein Gottes verheißener Wille zur Erlösung und Seligkeit der Menschen, wie es auch Perkins in seiner Schrift dargestellt habe.99 Damit begründet er noch einmal seine Sicht auf den Apostel Judas, auf die Hohepriester und Schriftgelehrten und die Schächer, die mit Christus am Kreuz starben. Doch andererseits ist ihm zugleich wichtig, die Schuld aller Menschen zu betonen, da nur durch das Eingeständnis von Schuld eine Bekehrung und Buße des Einzelnen möglich werde. Erwachsenen müsse der rechte Sinn der Erlösung, des Lebens und der Seligkeit durch Christus bekannt gemacht werden. Adam stehe sinnbildlich für die erste Geburt und den toten Buchstaben, Christus aber für die Wiedergeburt und den lebendig machenden Geist. Worauf die Menschen im Alten Testament gehofft hätten, sei erst durch Christus und die Gabe des Heiligen Geistes offenbar geworden.100 Gott habe den Herzen das Pfand des Geistes gegeben (2 Kor 1,21). Erst der Glaube und die Gabe des Heiligen Geistes ließen die große Gnade und die Wohltaten Christi erkennen.101 Eine rechte Wiedergeburt sei aus Wasser und Geist. Er glaube an eine geistliche Auferstehung auf Erden, um in einem neuen Leben Gott und den Nächsten zu dienen. Die zu Christus gehörten, hätten ihr Fleisch mit all seinen Sinnen und Begehrlichkeiten gekreuzigt und regierten ihr Leben mit Hilfe des Heiligen Geistes.102 Ucke Walles bezieht sich in seinen Ausführungen aber nicht auf Westerman und Perkins, weil er durch sie beeinflusst war, wie Zijlstra u. a. annehmen,103 sondern bediente sich bewusst reformierter Schriftsteller, um die Richtigkeit seiner Aussagen gegenüber einer reformierten Leserschaft zu belegen. Er fragt darum auch, warum man ihn verfolge, wenn doch ihre eigenen Lehrer mit ihm der gleichen Meinung seien?104 Doch auch wenn er dagegen aufbegehrte, so erblickte er in der Verfolgung am Ende eine notwendige Konsequenz der Nachfolge Christi. Bereits Paulus habe ausgeführt, dass alle die gottselig leben wollten, Verfolgung leiden müssten, da den Christen in dieser Welt nur Traurigkeit und Bedrückung verheißen sei.105 Seine theologische Sicht entspricht weitestgehend derjenigen, die im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts von den flämischen Mennoniten in Emden vertreten wurde. Wenn stimmt, dass einer der Wegbegleiter von Brixius Gerrits sein Vorgänger im Amt war, ist das auch nicht überraschend. Es liegt daher wohl kaum eine Identifika99
Vgl. ebd., S. 64 – 65. Vgl. Voß, Religionsgespräch, S. 350. 101 Vgl. Ucke Walles, Verklaringe, S. 57 – 58. 102 Vgl. ebd., S. 49 – 50; Ucke Walles, Een Lerende vermaning en grondigh Bewijs/ uyt de Godlijcke Schriftuer: waer toe/ en oock hoe Godt den Mensch in den beginne ghemaeckt ende voorsien heeft/ en is verklaerdt in Adam en Christum/ ende de Weder-geboorte/ die uyt Water ende Geest gheschiet/ Joh. 3. v. 4. en 5 als oock in des Menschen sinnen/ lichaem ende leeven, s. l. 1645, S. 10 – 15; Voß, Religionsgespräch, S. 358. 103 Vgl. Zijlstra, Gemeente, S. 313; Knottnerus, Walles, S. 257; Tielke, Uko Walles, S. 392. 104 Vgl. Ucke Walles, Supplicatie, S. 61. 105 Vgl. ebd., S. 69. 100
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tion mit Vorbildern aus dem reformierten Kontext vor, sondern eine Argumentation, die den Vorwurf sektiererischen Handelns entkräften soll. Sowohl die Lehre von der Allversöhnung als auch die geistliche Interpretation der Bibel wurden, wie bereits ausgeführt, auch 1578 schon von den flämischen Mennoniten in Emden vertreten und stellen ein melchioritisches Erbe dar. Die Rede von mystischen Glaubenserfahrungen, die Einfluss auf das Leben nehmen, und die geistliche Interpretation der Bibel waren es, die den großen Gegensatz zu den eher orthodox ausgerichteten Predigern der großen evangelischen Konfessionen deutlich werden ließen. Sie dürften mit ein Grund für die heftige Reaktion des reformierten Pastors Pimperlingh in Appingedam und anderer Vertreter der reformierten und lutherischen Orthodoxie gewesen sein. Es war die Zeit, in der der aufkommende Pietismus zum Richtungsstreit in den größeren protestantischen Konfessionen führte. In Ostfriesland wurde seinerzeit im reformierten Bereich, ebenso wie in den Niederlanden, die praedestinatianische Orthodoxie mit Hilfe weltlicher Instanzen durchgesetzt.106 Insofern war der für diese Richtung stehende englische Theologe Perkins, der gleichzeitig aber auch zu den Vorläufern pietistischer Frömmigkeit gezählt werden kann,107 als Referenzgröße für Ucke Walles geradezu ideal. Mit ihm verweist er unwillkürlich aber auch auf seine eigentliche Gegnerschaft. Obgleich Ucke Walles gerne in die Provinz Groningen zurückgekehrt wäre, starb er 1653 in seinem Sielmönker Exil. Sein Leichnam wurde nach Woldendorp überführt, wo er seine letzte Ruhe finden sollte.108 Die ukowallistischen Gemeinden bzw. die Gemeinden der Groninger Oude Vlamingen existierten in Ostfriesland fort, bis sie sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit den anderen mennonitischen Gemeinden vereinigten (Leer und Emden 1767,109 Norden 1780110), oder sich, wie 1785 in Neustadtgödens geschehen, aufgrund eines internen Streites von der Groninger Sozietät trennten.111 Viele Nachfahren ukowallistischer Familien schlossen sich aber bereits Ende des 17. / Anfang des 18. Jahrhunderts offiziell den reformierten und lutherischen Ortsgemeinden an und waren oft gleichzeitig Teil des in Ostfriesland verbreiteten separatistischen Pietismus.112 Auch wurden Überzeugungen und Traditionen nach und nach aufgegeben. 106 Vgl. Hollweg, Walter: Die Geschichte des älteren Pietismus in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands von ihren Anfängen bis zur großen Erweckungsbewegung (um 1650 – 1750), Aurich 1978, S. 25. 107 Vgl. Knottnerus, Uke Walles, S. 257. 108 Vgl. Tielke, Uko Walles, S. 393. 109 Vgl. Beisser-Apetz, Katja/Voß, Klaas-Dieter u. a.: Die Mennoniten in Ostfriesland, Emden 2006, S. 31. 110 Vgl. ebd., S. 135. 111 Vgl. ebd., S. 148. 112 Als Beispiel seien die Geschwister Willem Geerdes, Abbe Geerdes Fegter und Engel Geerdes genannt, die Kinder des Ukowallisten Geerd Wessels (1677–?) waren. Alle drei gehörten offiziell zur reformierten Gemeinde in Wirdum, hatten sich aber dem Separatisten Hinderk Janssen aus Freepsum angeschlossen und unterstützen ihn u. a. auch finanziell. Vgl.
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Als 1750 in Neustadtgödens der 77jährige Beerent Meuwes starb, vermerkte der Kirchenbuchführer: „Deze was de Laatste, die onder onze Gemeente Een Baard heeft Waßen Laaten“.113 VII. Zusammenfassung Entgegen der vorherrschenden Meinung, Ucke Walles habe sich aufgrund ganz eigener Anschauungen mit seinen Anhängern von den Groninger Oude Vlamingen separiert, erweist sich der Begriff Ukowallisten als eine völlig willkürlich und in diesem Fall zu Unrecht eingeführte Bezeichnung seitens der Groninger Obrigkeit, die bewusst irreführend sein sollte. Ucke Walles wurde damit erfolgreich als Sektengründer stigmatisiert. Da er der wichtigste Wortführer der Groninger Oude Vlamingen war, etablierte sich der Begriff Ukowallisten schließlich allgemein. Die populistisch geführte Argumentation, er verteidige Judas und die an Jesu Tod Schuldigen, vermochte ihm nicht nur in mennonitischen Kreisen Schaden zuzufügen. Auch die Vertreter der lutherischen und reformierten Konfession in der Provinz Groningen und in Ostfriesland bedienten sich dieses Vorwurfs. Die von ihm vertretene Allversöhnungslehre wurde aber schon im 16. Jahrhundert von den geduldeten flämischen Mennoniten vertreten. Seine Verbannung aus der Provinz Groningen in den Jahren nach 1637 und die Kerkerhaft im Jahre 1644 in Delfzijl scheinen daher nicht nur religiös motiviert gewesen zu sein, sondern düften einen sehr viel komplexeren Hintergrund gehabt haben. Ein Streit um Landbesitz mit dem Junker Lucas van Lissabon ist einer der vielen Begleitumstände seines Schicksals. In Ermangelung einer detaillierteren Überlieferung dieser Vorgänge kann ein unmittelbarer Zusammenhang mit den gegen ihn eingeleiteten Schritten jedoch nur vermutet werden. Hinsichtlich seiner Lehrmeinung hat er an den überlieferten Grundsätzen und Überzeugungen seiner Vorväter festgehalten und sich neueren Sichtweisen gegenüber verschlossen. Zu seiner Verteidigung zitierte er in den von ihn verfassten apologetischen Schriften aus den Werken reformierter Theologen, wie William Perkins und Adam Westerman. Daraus aber schließen zu wollen, Ucke Walles sei von der frühen pietistischen Strömung der reformierten Kirche beeinflusst worden, ist völlig abwegig. Nicht nur, dass er diese Autoren eindeutig der gegnerischen Position zuordnete; seine Auffassung von persönlichen Glaubenserfahrungen, von Wiedergeburt und Heiligung sowie seine mystisch-spirituelle Hermeneutik weisen ihn auch hier als einen Vertreter der flämischen Mennoniten aus, deren Theologie 1578 in Emden während eines Religionsgespräches ausführlich behandelt wurde. Die Heftigkeit, mit der orthodoxe Pastoren der reformierten und lutherischen Konfession auf ihn reagierten, könnte ein Reflex auf die damalige Situation gewesen sein, in Tileman Dothias Wiarda, Geschichte Ostfrieslands, Aurich 1798, Bd. 8, S. 98 – 101; Deutsches Geschlechterbuch, Görlitz 1928, Bd. 59, 42 – 47; Smid, Kirchengeschichte, S. 378 f. 113 Vgl. Arch. JALB, Der Doops-gesinde christen /andero/ Mennoniten Kercken-boek of Protocolle van diegeenen die onder deselfs Gemeinte in N Geuns gebooren, gestorven en ook getraut sijn, 1727 – 1871.
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der der aufkommende Pietismus in den Gemeinden immer mehr als Gefahr für die institutionelle Kirche erkannt wurde. Literaturverzeichnis Quellen Alphusius, Johann Lubbert: Christliche und sehr nothwendige Erinnerung, wider den bey uns allhier meuchelmörderischer und falsch prophetischer Weise eingeschlichenen Irrgeist Uko Wallens, Emden 1637 [JALB, Kunst Bi 0652]. Arnold, Gottfried: Anderer Theil der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie von Anno 1500 biß 1688, Bd. XVI, Cap. XXI, Nr. 15, Frankfurt 1700. Sterberegister der Kirchengemeinde Engerhafe, Ao 1806. Thomas, Juriaen: Een vermaninghe ofte indachtigh makinge. En nootwenidge verantwoordinge op Wcke Walles onwaerachtige beschuldinge enz., s.l. 1643, URL: https://books.google.de/ books?id=RItnAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_ r&cad=0#v=onepage&q&f=false. Ucke Walles: Een Corte Leerachtige Verklaringe/ uyt de H. Schrifture vervatet/ hoe men de tijdt verstaen sal/ doen Christus Jesus onsen Salighmaecker/ in sijn heylige Menschwerdinghe/ op aerden was: dat doen een donckeren en onwetene tijdt was: (de Wet was by nae ten eynde/ en dat Euangelium noch niet bevestight) dat welcke Christus alles door sijn Doot en gave des Heyligen Geestes/ in‘ t licht ghebracht heeft/ als een klare Spiegel der Godlijcker kracht/ Mede uyt Adamo Westermanno verklaert. Met Een kort bewijs onses Christelicken Geloofs, uyt-gegeven door Ucke Walles, s. l. 1645, URL: https://books.google.de/books?id=HiN jAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepa ge&q&f=false. Ucke Walles: Een Lerende vermaning en grondigh Bewijs/ uyt de Godlijcke Schriftuer: waer toe/ en oock hoe Godt den Mensch in den beginne ghemaeckt ende voorsien heeft/ en is verklaerdt in Adam en Christum/ ende de Weder-geboorte/ die uyt Water ende Geest gheschiet/ Joh. 3. v. 4. en 5 als oock in des Menschen sinnen/ lichaem ende leeven, s. l. 1645, URL:https://books.google.de/books?id=HSNjAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&s ource=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false. Ucke Walles: Een weemoedige klaghende supplicatie aen alle heeren, rechteren, officieren, ende aen alle menschen … tot ontlastinghe ende verantwoordinghe van veele onware beschuldingen over mijn persone, s.l. 1645, URL: https://books.google.de/books?id= PSNjAAAAcAAJ&pg=PP3&hl=de&source=gbs_selected_pages&cad=2#v=onepa ge&q&f=false. Ucke Walles: Noodwendighe verantwoordinghe, op eenighe laster ende faem-roovende gheschriften, soo my nae-gheschreven zijn, van eenige persoonen tot Noortbroeck, en ander plaetsen woonende, ende onder het volck gestroyt, daer uyt mijn naem seer ghelastert wordt, s. l. 1637, URL: https://books.google.de/books?id=MBBjAAAAcAAJ&pg= PA1&hl=de&source=gbs_selected_pages&cad=2#v=onepage&q&f=false. Ucke Walles: Twee brieven aen Laurens Pimperlingh, prediker in Appinga Damme: gesonden tot ontschuldinghe ende onderrichtinge van sijne ghedane lasteringhe, over mijn persoone, s.
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Baptismusforschung / Freikirchenforschung
James Foster in Deutschland Ein Londoner Baptistenprediger und die deutsche Aufklärungstheologie Von Martin Rothkegel Die Bibliothek der Theologischen Hochschule Elstal besitzt einen für die Vorgeschichte des Baptismus in Deutschland interessanten, 764 Seiten starken Oktavband mit dem Titel Jacob Fosters, Predigers der Mennonitischen Gemeine in Londen, Heilige Reden über Wichtige Glaubens- und Lebens-Lehren […] Aus dem Englischen ins Hoch-Teutsche übersetzt. Das Werk erschien 1739 in Göttingen und Jena. Den insgesamt 32 Predigten liegt jeweils ein neu- oder alttestamentlicher Bibeltext von ein bis drei Versen Umfang zugrunde. Die Predigten haben thematische Überschriften wie „Allgemeines Gefühl des Guten und Bösen“, „Ebenbild Gottes in Menschen, oder Vortrefflichkeit menschlicher Natur“, „Ketzerey“ und „Religion auf Vernunfft gegründet, und das Recht des eignen Urtheils oder Prüfung“.1 Übersetzt wurde die Predigtsammlung von August Tittel (1691 – 1756), einem späten Vertreter der lutherischen Orthodoxie und unbeugsamen Gegner des Pietismus.2 Vorangestellt ist eine umfangreiche Einleitung des biederen „Wolffianers“ Georg Heinrich Riebow (1703 – 1774), lutherischen Superintendenten in Göttingen und Professors an der 1737 eröffneten Universität.3 Allerdings war Foster mitnichten Mennonit, denn eine Mennonitengemeinde gab es in London im 18. Jahrhundert nicht. Vielmehr handelte es sich bei der Gemeinde in Paul’s Alley, Barbican, in der der Verfasser James Foster (1697 – 1753)4 als Prediger wirkte, um eine der zahlreichen Baptistengemeinden der englischen Hauptstadt.5 1
Foster, Heilige Reden (vgl. Anhang, Nr. 1). Das Exemplar stammt aus dem antiquarischen Handel. 2 Vgl. Ben-Tov, Asaph: August Tittel (1691 – 1756). The (Mis)fortunes of an EighteenthCentury Translator, in: Erudition and the Republic of Letters 2 (2017), S. 396 – 430. 3 Vgl. Wagenmann, Julius August: Art. Ribov, Georg Heinrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie 28 (1889), S. 804 – 805. 4 Zu Fosters Biographie vgl.: Wilson, Walter: The History and Antiquities of the Dissenting Churches and Meeting Houses in London, Westminster, and Southwars, Including the Lives of their Ministers, Bd. 2, London 1808, S. 270 – 283; Stephen, Leslie/Benedict, Jim: Art. Foster, James (1697 – 1753), in: Oxford Dictionary of National Biography (2004), online; Copson, Stephen: Stogdon, Foster, and Bulkeley. Variations on an Eighteenth-Century Theme, in: Briggs, John H. Y. (Hrsg.), Pulpit and People. Studies in Eighteenth Century Baptist Life and Thought (Studies in Baptist History and Thought 28), Milton Keynes/Colorado Springs/Hyderabad 2009, S. 43 – 57, hier: 48 – 51.
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Die Publikation einer baptistischen Predigtsammlung im Deutschland des 18. Jahrhunderts kann angesichts der massiven Vorbehalte, die im staatskirchlichen deutschen Protestantismus gegen „Wiedertäufer“ bestanden, als ein ungewöhnlicher Vorgang gelten. Noch bemerkenswerter ist, dass nach den Heiligen Reden bis 1753 noch zehn weitere Bände mit Übersetzungen von Schriften Fosters in Deutschland erschienen (vgl. die Liste im Anhang): zeitweise war Foster einer der im deutschen Sprachraum meistgelesenen und in den gelehrten Zeitschriften meistbesprochenen englischen Theologen. Insbesondere August Friedrich Wilhelm Sack (1703 – 1786), Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709 – 1798) und Johann Joachim Spalding (1714 – 1804), drei Hauptvertreter der protestantischen Neologie, schätzten Foster als Erbauungsschriftsteller und wirkungsvollsten zeitgenössischen Kanzelredner eines „aufgeklärten“ oder „gereinigten“ Christentums: „Wenn ich doch damit alle Deutschen, die da denken wollen, so könnte denken lehren wie Foster“, schrieb Spalding 1750 an den Halberstädter Publizisten Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803), während er an der Übersetzung einer Schrift Fosters arbeitete.6 Foster, von Haus aus Presbyterianer, war Absolvent einer theologischen Dissenter-Akademie in Exeter und begann früh zu predigen. Er trat bereits 1720, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, mit einem programmatischen Essay on fundamentals an die Öffentlichkeit. Darin argumentierte er, dass das trinitarische Dogma kein heilsnotwendiger Glaubensartikel sein könne, da die Trinität weder in der Heiligen Schrift bezeugt noch der Vernunft einsichtig sei. In einem Anhang legte er dar, dass Jesus Christus nur in einem übertragenen Sinne als „Sohn Gottes“ bezeichnet werden könne. Das traditionelle christologische Dogma, an dem einige der „more orthodox brethren, of more zeal than judgement,“ festhielten, sei letztlich „nonsense“ oder, wie es in einer postum und in gekürzter Form veröffentlichten deutschen Übersetzung hieß, „recht vortreffliche Narrenspossen“.7 Damit positionierte sich Foster in dem Streit um die Trinitätslehre, der in den Jahrzehnten um 1700 sowohl unter staatskirchlichen Theologen als auch in den Dissentergemeinden für Unruhe sorgte,8 pro5 Vgl. Wilson, History and Antiquities, Bd. 3, S. 257 – 258; [Whitley, William Thomas] (Hrsg.): Paul’s Alley, Barbican, 1695 – 1768, in: Transactions of the Baptist Historical Society 4 (1914), S. 46 – 54. 6 Vgl. Johann Joachim Spalding. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Albrecht Beutel. Abt. 1, Bd. 6/2: Briefe an Gleim. Hrsg. v. Albrecht Beutel/Tobias Jersak, Tübingen 2002, S. 65; zitiert nach Bultmann, Christoph: Was ist ein theologischer Klassiker? Anmerkungen zu Johann Joachim Spaldings Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, in: ders., Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012, S. 13 – 40, hier: 16. 7 Foster, James: An essay on fundamentals, with a particular regard to the doctrine of the ever-blessed Trinity. With an appendix, concerning the true import of the phrase, Son of God, as ’tis apply’d to Christ, London: Clarke, 1720. Eine gekürzte deutsche Übersetzung eines Neudrucks (London 1754) veröffentlichte der Lutheraner Friedrich Wilhelm Kraft mit der Absicht, seine Leser vor Fosters Lehre zu warnen: D. Friedrich Wilhelm Krafts Neue Theologische Bibliothek, darinnen von den neuesten theologischen Büchern und Schriften Nachricht gegeben wird. Hundert und sechzehntes Stück, Leipzig: Breitkopf, 1757, S. 509 – 524. 8 Vgl. Hedley, Douglas: Persons of Substance and the Cambridge Connection. Some Roots and Ramifications of the Trinitarian Controversy in Seventeenth-Century England, in: Mul-
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vozierend ungeschützt als Vertreter des antitrinitarischen Lagers. In Übereinstimmung mit dem späten, zum Rationalismus tendierenden Sozinianismus vertrat Foster die Auffassung, dass nur solche Lehraussagen der christlichen Religion als heilsnotwendig gelten können, die mit der „natürlichen Religion“ in Einklang stehen und die zur moralischen Vervollkommnung des Menschen nützlich sind.9 Für die Gläubigentaufe wurde Foster durch die Lektüre eines gelehrten Werks aus der Feder des Londoner Predigers Dr. John Gale (1680 – 1721)10 gewonnen. Nachdem Foster in London die Taufe empfangen hatte, wurde er 1724 als Prediger derselben Gemeinde angestellt, in der zuvor Gale gewirkt hatte, nämlich der oben erwähnten Baptistengemeinde in Paul’s Alley, Barbican. Paul’s Alley hielt sich weder zu den calvinistischen Particular Baptists noch zu den „arminianischen“ General Baptists, die zwei getrennte Gemeindebünde bildeten und nicht miteinander kooperierten. Dass eine Baptistengemeinde einen notorischen „Sozinianer“11 in den Predigtdienst berief, war damals noch ausgesprochen ungewöhnlich. Zwar hatte sich eine ganze Reihe von baptistischen Gemeindevertretern 1719 bei den Salters’ Hall Debates, einer Serie von Zusammenkünften von Dissenter-Predigern in London, dagegen ausgesprochen, alle Prediger per Unterschrift auf das trinitarische Dogma zu verpflichten. Den baptistischen „Non-Subscribers“ ging es jedoch vor allem um die prinzipielle Frage, ob eine schriftliche Selbstverpflichtung in Glaubensdingen verlangt werden könne, nicht etwa um die Ablehnung des trinitarischen Dogmas, das zu dieser Zeit sowohl bei den Particular Baptists als auch bei den General Baptists noch weitgehend unumstritten war.12 Forsters Wirken als Prediger in sow, Martin/Rohls, Jan (Hrsg.), Socinianism and Arminianism. Antitrinitarians, Calvinists and Cultural Exchange in Seventeenth-Century Europe (Brill’s Studies in Intellectual History 134), Leiden/Boston 2005, S. 225 – 240; Sell, Alan P. F.: Christ and Controversy. The Person of Christ in Nonconformist Thought and Ecclesial Experience, 1600 – 2000, Eugene/Or 2011, S. 20 – 60. 9 Für eine knappe Charakterisierung der Theologie Fosters vgl. Bultmann, Bibelrezeption in der Aufklärung, S. 17 – 21. 10 Vgl. Gale, John: Reflections on Mr. Wall’s History of Infant-baptism, in Several Letters to a Friend. London: Darby, 1711. Gegenschrift zu: Wall, William: The history of infantbaptism, in two parts. The First being An impartial Collection of all such Passages in the Writers of the four first Centuries as do make For, or Against it. The Second, Containing several things that do illustrate the said History, 2 Bde., London: Sympson, 1705. Walls Werk erschien in Deutschland in einer lateinischen Übersetzung des Hamburger Pastors Johann Ludwig Schlosser (1702 – 1754): Historia Baptismi Infantvm, 2 Bde, Bremen: Rump, 1748; Hamburg: Brandt, 1753. 11 So ausdrücklich in einer Liste der Londoner baptistischen Prediger von 1731, in der jeweils deren theologische Orientierung (Antinomian, Calvinist, Arminian, Socinian) angegeben ist, vgl. [Whitley, William Thomas] (Hrsg.): The Baptist Board. Minutes from 1724, in: Transactions of the Baptist Historical Society 5/2 (1916), S. 97 – 114, hier: 113. 12 Vgl. [Whitley, William Thomas]: Salters’ Hall 1719 and the Baptists, in: Transactions of the Baptist Historical Society 5/3 (1917), S. 172 – 189; Wykes, David L.: Subscribers and nonsubscribers at the Salters’ Hall debate, in: Oxford Dictionary of National Biography (2009), online; Copson, Stephen (Hrsg.): Trinity, Creed and Confusion. The Salters’ Hall Debates of 1719 (Centre for Baptist Studies in Oxford Publications 20), Oxford 2020; Owens, Jesse F.:
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Abb.: James Foster. Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach einem Bildnis von James Wills. Frontispiz zu: Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion, Bd. 1, Leipzig 1750. Bildnachweis: Bibliothek der Theologischen Hochschule Elstal.
Paul’s Alley stand zeitlich noch ganz am Anfang einer Entwicklung, als deren Ergebnis schließlich im 19. Jahrhundert zahlreiche Gemeinden aus der Tradition der General Baptists zum Unitarismus übergingen.
The Salters’ Hall Controversy: Heresy, Subscription, or Both? In: Perichoresis 20 (2022), S. 35 – 52.
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Trotz der rationalistischen Grundlagen seiner Theologie zielte Foster bewusst darauf ab, seine Predigthörer auch emotional anzusprechen.13 Seine undogmatischen, provozierend „modernen“ Predigten zogen weit über die kleine Zahl der Gemeindemitglieder hinaus zahlreiche Zuhörer aus der Londoner Bildungselite an. Der Dichter Alexander Pope (1688 – 1744) urteilte, der bescheidene Foster predige besser als zehn Erzbischöfe zusammen („Let modest Foster, if he will, excel / Ten metropolitans in preaching well“).14 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, später lutherischer Hofprediger in Braunschweig, hielt sich zwischen 1737 und 1740 in London auf. Er berichtete rückblickend in seinen Lebenserinnerungen, dass „der berühmte Anabaptistenprediger James Foster […], da er von seiner geringen Pfarreinnahme nicht leben konnte, alle Sonntage Abends, in einem großen öffentlichen gemietheten Zimmer, auf Subscription einen Religionsvortrag hielt, und in dieser Predigt eine Anzahl angesehner Zuhörer aus allen möglichen Partheien des Christenthums hatte; da er selbst, wie man weiß, sich öffentlich für einen Unitarier bekannte. Sowohl wegen seines simplen, aber sehr schönen und gründlichen moralischen Vortrags […] als auch wegen seines edlen, frommen und sanften Charakters, wurde er mit einer allgemeinen Hochachtung gehört, und der Verfasser war selbst, einen ganzen Winter durch, einer seiner fleißigsten Zuörer, ob er gleich weiter als eine Stunde von ihm wohnte, und besuchte ihn auch nachher verschiedene male.“15
In Übereinstimmung mit der baptistischen Tradition sprach Foster der Obrigkeit das Recht ab, religiöse Auffassungen gleich welcher Art zu unterdrücken, und hielt es für ein angeborenes Menschenrecht, dass jedermann seine persönliche Meinung zu religiösen Fragen öffentlich frei äußern dürfe. Dabei schloss er die Gegner des Christentums – gemeint waren die Deisten – ausdrücklich ein. Wahre Religion könne nur eine freiwillige Sache sein, zu der man sich nach gründlicher Überlegung aufgrund eines freien Entschlusses bekenne. Wenn man die „Gottseligkeit […] durch Zwang und Gewalt unterstützet, so thut man nicht nur einen Eingriff in die allerheiligsten natürlichen Rechte der Menschen, sondern man beschimpfet auch dadurch die Religion selbst.“16 Foster gab zahlreiche Einzelschriften und mehrere Sammlungen seiner Predigten und Abendvorträge in den Druck. 1735 veröffentlichte er einen Vortrag „Über Ketzerei“, in welchem er theologische Irrtümer für indifferent für die ewige Seligkeit erklärte, sofern die Personen, die diese Irrtümer vertreten, nicht gegen das allgemeine und natürliche Sittengesetz verstoßen. Darauf antwortete der angli-
13 Vgl. Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, S. 165; Osthövener, Claus-Dieter: „Affectionate Religion“. Religion und Gefühl in der englischen und deutschen Aufklärung, in: Barth, Roderich/Zarnow, Christopher (Hrsg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, S. 79 – 112, hier: 81 – 82. 14 Zitiert in Stephen/Benedict, Art. Foster. 15 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm: Nachgelassene Schriften, Bd. 2, Braunschweig: Schulbuchhandlung, 1793, S. 17 – 18. 16 Foster, Vertheidigung (vgl. Anhang, Nr. 2), S. 1.
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kanische Theologe Henry Stebbing (1687 – 1763) mit einer heftigen Polemik.17 Die Kontroverse stieß auch in Deutschland auf Widerhall. Bereits 1737 erschien anlässlich der Eröffnung der Universität Göttingen eine Widerlegung der Fosterschen Argumentation aus der Feder des lutherischen Theologen Friedrich Andreas Crome (1705 – 1778).18 Trotz seiner unübersehbaren Nähe zu religionsphilosophischen Konzepten des Deismus erwarb sich Forster den größten Ruhm bei seinen Zeitgenossen ausgerechnet als Verteidiger der geoffenbarten Religion gegen die Deisten. Laut Foster ist die göttliche Offenbarung, von der die Heilige Schrift zeugt, zur Erlangung der Seligkeit zwar nicht notwendige Voraussetzung, wohl aber überaus nützlich. 1731 veröffentlichte Foster unter dem Titel The usefulness, truth, and excellency of the Christian revelation eine Gegenschrift gegen eines der Hauptwerke des englischen Deismus, Matthew Tindals Christianity as old as the creation (1730). In der Gegenschrift, von der mehrere Auflagen erschienen und die ins Französische, Niederländische und 1741 auch ins Deutsche19 übersetzt wurde, wies Foster Tindals Argumentation zurück, die darauf hinauslief, dass alle über die „natürliche Religion“ hinausgehenden Lehren und Praktiken des Christentums bloßer Aberglaube seien. Zwar vermag auch nach Fosters Verständnis die christliche Religion keine Heilsgüter zu vermitteln, die über diejenige diesseitige und postmortale Glückseligkeit hinausgehen, die auch ohne eine göttliche Offenbarung durch die „natürliche Religion“, allein aufgrund der Vernunft, erreichbar wäre. Angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit der großen Masse der Menschen, kraft ihrer Vernunft zu sittlicher Vollkommenheit und zur Glückseligkeit zu gelangen,20 könne aber kein Zweifel an der Nützlichkeit der Offenbarung bestehen. Die Heilige Schrift und die darin bezeugten Rituale der Taufe und des Abendmahls seien in besonderer Weise geeignet, das Gefühl und die Empfindung zur Verwirklichung des natürlichen Sittengesetzes und des tätigen Wohlwollens gegenüber allen Menschen anzuregen. Fosters Moraltheologie beruhte auf der Annahme der natürlichen Gleichheit und Freiheit aller Menschen. Er war einer der ersten, der in England öffentlich gegen den 17 Vgl. Bourgès, Nicolas: Defining Heresy. The Controversy between James Foster and Henry Stebbing (1735 – 1737), in: Revue Française de Civilisation Britannique 18/1 (2013), online. 18 Vgl. Crome, Friedrich Andreas: Viro summe venerabili atque magnifico Domino Balthasari Mentzero […] in solemni inauguratione […] gratulaturus, de jure Ecclesiae declarandi haereticos contra assertiones Fosteri, Hannover: Schultze, 1737. Crome lag Fosters Abhandlung in Form von umfangreichen Auszügen vor, die in französischer Sprache in Amsterdam erschienen waren. 19 Vgl. Foster, Vertheidigung der Nutzbarkeit, Wahrheit und Vortreflichkeit der christlichen Offenbarung (vgl. Anhang, Nr. 2). 20 Vgl. dazu die Beobachtung von Aner, Karl: Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, S. 171, Anm. 2, wonach Fosters „Theodizeeproblem die Frage gewesen war, wie es komme, daß in Wirklichkeit so viele Dummköpfe existieren, während doch Gott beim Wert der Vernunft für die Gotteserkenntnis jeden Menschen mit der gleichen Dosis ausgestattet haben müßte. Foster wußte keine Lösung.“
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transatlantischen Sklavenhandel und gegen die Sklaverei protestierte, und wurde damit zu einem Wegbereiter des Abolitionismus. Fosters 1752 veröffentlichte Rede gegen die Sklaverei wurde noch 1763 in Auszügen in deutscher Übersetzung in Pennsylvania als Teil einer quäkerischen Flugschrift nachgedruckt.21 1744 wechselte Foster, der zeitlebens unverheiratet blieb und in bescheidenen Verhältnissen lebte, als Prediger zu einer traditionsreichen Gemeinde, die sich in Pinners’ Hall, London, versammelte. Ihr gehörten sowohl Baptisten als auch Gemeindemitglieder mit einem kongregationalistischen Hintergrund, die lediglich als Säuglinge getauft worden waren, an.22 1748 promovierte das schottisch-reformierte Marischal College, Aberdeen, Foster ehrenhalber zum Doktor der Theologie. Das ehrenvolle Angebot, mit einer einträglichen Pfründe in Irland in den Dienst der Staatskirche zu treten, lehnte Foster dagegen ab. 1750 erlitt er dreiundfünfzigjährig einen Schlaganfall. Nach einem zweiten Schlaganfall im Sommer 1753 starb Foster am 5. November desselben Jahres. Begraben wurde er auf dem Londoner Dissenterfriedhof Bunhill Fields im Familiengrab der wohlhabenden Dissenter-Familie Hollis, die sowohl die Gemeinde in Pinner’s Hall als auch das Harvard College in Neuengland großzügig förderte.23 Schon bald nach Fosters Tod ließ das Interesse an dessen in großen Auflagen gedruckten Schriften nach. Umstritten war Fosters Theologie von Anfang an gewesen. Aufgrund persönlicher Bekanntschaft urteilte der deutsche England-Kenner Georg Wilhelm Alberti (1723 – 1758): „Foster ist ein Mann von gutem natürlichem Verstande, aber in seiner Art zu denken ein volkomner heidnischer Weltweiser.“24 Der Danziger lutherische Superintendent Friedrich Wilhelm Kraft (1712 – 1758) schrieb rückblickend über Foster: 21
Vgl. Foster, James: Of the distinct obligations of masters, and servants, in: Ders.: Discourses on all the principal branches of natural religion and social virtue, Bd. II (1752), Auszüge in: Benezet, Anthony: Short account of that part of Africa, inhabited by the Negroes (1762), deutsche Übersetzung: Eine kurtze Vorstellung des Theils von Africa, welches bewohnt wird von Negroes, Darinnen beschrieben wird die fruchtbarkeit desselben landes, die gutartigkeit dessen einwohner, und wie man daselbst den sclaven handel treibt. Ausgezogen aus verschiedenen Authoren, um die ungerechtigkeit solchen handels und die falschheit derer gründen, womit er behauptet wird, an tag zu legen, Ephrata [Pennsylvania]: Auf Kosten etlicher Freunden [Quäker], 1763, S. 45 – 48. Vgl. Lotz, Adolf: Sklaverei, Staatskirche und Freikirche. Die englischen Bekenntnisse im Kampf um die Aufhebung von Sklavenhandel und Sklaverei, Leipzig 1929, S. 25; Davis, David Brion: The Problem of Slavery in Western Culture, Oxford 1988, S. 360, 366, 378 – 379, 485. 22 Vgl. Wilson, History and Antiquities, Bd. 2, S. 270 – 283; [Whitley, William Thomas]: Baptist Meetings in the City of London, in: Transactions of the Baptist Historical Society 5/2 (1916), S. 74 – 82, hier: 74 – 79; [Whitley, William Thomas]: The Hollis Family and Pinners’ Hall, in: Baptist Quarterly 1/2 (1922), S. 78 – 81. 23 Vgl. Whitley, William Thomas: Bunhill Fields. The Place and the Records, in: Baptist Quarterly 5 (1931), S. 220 – 226, hier: 225. Der Text der Grabinschrift bei Wilson, History and Antiquities, Bd. 2, S. 282 – 283. 24 Alberti, Georg Wilhelm: Briefe betreffende den allerneuesten Zustand der Religion und der Wißenschaften in Groß-Brittanien, Bd. 3, Hannover: Richter, 1752, S. 735.
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Martin Rothkegel „Von den Schriften des Verfassers werden in der gelehrten Welt zweyerley Urtheile gefället. Einige, und unter diesen sind Männer von großem Witze, und unstreitigen Verdiensten, wissen selbige nicht genug zu erheben, und als Muster einer gereinigten Theologie vorzustellen. Andere sehen dagegen diese Schriften als verführerische Schriften an, die ein deistisches Christenthum einführen, die Grundsätze des ächten Christenthums umstoßen, die Sacramente verwerfen, und Christo die Ehre der wahren und ewigen Gottheit rauben: folglich unmöglich als nützliche Schriften angepriesen werden können. Wir gestehen gar gerne, dass wir diesem letzten Urtheile so lange unterschreiben müssen, als wir Wahrheit, Wahrheit nennen wollen.“25
Ein zeitgenössischer Gegner aus den Reihen der calvinistischen Particular Baptists sah in Fosters Auffassungen sogar die logische Vorstufe zu blankem Atheismus.26 Dezenter drückte sich mehr als ein halbes Jahrhundert später ein freikirchlicher Historiker aus: „[…] it is no injury to him to observe, that the grand doctrines of human redemption, and divine influence, formed no part of his creed.“27 Aufgrund des bisher Gesagten ist anzunehmen, dass der Übersetzer des in Elstal vorhandenen Predigtbands von 1739, der streitbare Lutheraner August Tittel, sich mit den Heilige[n] Reden über Wichtige Glaubens- und Lebens-Lehren des sozinianischen „Wiedertäufers“ Forster wohl kaum aus theologischer Sympathie beschäftigte. Tittel war einst Pfarrer im kurfürstlichen Sachsen gewesen, kam aber 1728 wegen Schmähung des zum Pietismus tendierenden Dresdner Hofpredigers Bernhard Walther Marperger (1682 – 1746) und wegen Illoyalität gegenüber dem zum Katholizismus konvertierten Landesherrn ins Gefängnis. 1737 gelang Tittel die Flucht in das benachbarte Herzogtum Sachsen-Eisenach, aber auch dort konnte er keine Anstellung finden.28 In der Widmungsvorrede an Herzog Wilhelm Heinrich von Sachsen-Eisenach (1691 – 1741) deutete Tittel an, dass er nach einer Audienz bei Hofe der Gattin des Fürsten zuliebe (es handelte sich um Herzogin Anna Sophie Charlotte, 1706 – 1751) die Übersetzung der Fosterschen Predigten übernommen hatte. Deren Vergnügen sei es nämlich, „gute Bücher um sich zu haben und deren eine Menge aus England überkommen.“29 In einer weiteren Vorrede und in einer Reihe von Fußnoten ließ jedoch Tittel keinen Zweifel daran, dass er Fosters mit der lutherischen Rechtfertigungslehre unvereinbare Theologie, in der dem Kreuzestod Jesu keine effektive Heilswirkung zugemessen wurde, missbilligte. Um dem Werk dennoch eine Empfehlung mit auf dem Weg zu geben, steuerte der Göttinger Superintendent Georg Heinrich Riebow eine argumentativ gewundene Abhandlung über die Frage bei, was eine erbauliche Predigt sei. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass eine Predigt auch ohne positiven dogmatischen Gehalt erbaulich sein könne, sofern sie zur moralischen Besserung beitrage, dass also die Fosterschen Pre25
Kraft, Neue Theologische Bibliothek. Hundert und sechzehntes Stück, S. 510. Vgl. Brine, John: A vindication of some truths of natural and revealed religion: in answer to the false reasoning of Mr. James Foster, on various subjects, London: Ward, 1746, S. 3. 27 Wilson, History and Antiquities, Bd. 2, S. 280. 28 Vgl. Ben-Tov, August Tittel, S. 396 – 406, hier: 420 – 421. 29 Foster, Heilige Reden (vgl. Anhang, Nr. 1), Bl. a7v. 26
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digten trotz der von Tittel benannten theologischen Defizite durchaus als erbaulich gelten können. Auch ließen sie erkennen, dass die Mennoniten zu Unrecht als irrationale Schwärmer verschrien seien (die Unterscheidung zwischen den Mennoniten und den englischen Baptisten war Riebow nicht geläufig), denn von Foster könne gewiss nicht behauptet werden, dass er die Vernunft missachte.30 Angesichts des unverhohlenen Unbehagens, mit dem Tittel und Riebow die Übersetzung in den Druck gaben, legt sich die Annahme nahe, dass es die Eisenacher Herzogin selbst gewesen war, die um eine deutsche Übersetzung der Fosterschen Predigten gebeten hatte. Dass man sich an deutschen Fürstenhöfen für Fosters Predigten interessierte, ergibt sich auch aus der Widmungsvorrede an die preußische Königin Elisabeth Christine, die Gemahlin Friedrichs II., die der Herausgeber August Friedrich Wilhelm Sack 1750 einer Neuübersetzung der (zuvor bereits von Tittel übersetzten) Predigten Fosters voranstellte. Dort heißt es: „Das Ansehen des berühmten Gottesgelehrten der Englischen Kirche, dessen Reden ich übersetze, leistet mir die Gewähr, daß Ew. Majestät diese meine ehrfurchtsvolle Zuschrift“ gnädig aufnehmen werde.31 Fosters Bekanntheit auf dem Kontinent, die sich in den französischen, niederländischen und deutschen Übersetzungen32 seiner Schriften widerspiegelte, beruhte vor allem darauf, dass sein literarisches Werk in den weit verbreiteten Rezensionszeitschriften, die von französischsprachigen Protestanten in den Niederlanden herausgegeben wurden, besondere Beachtung und überaus positive Aufnahme fand. Eine systematische Durchsicht der Bibliothèque raisonnée (erschienen in Amsterdam 1728 – 1753), der Bibliothèque britannique (Den Haag 1733 – 1747) und des Journal britannique (Den Haag, 1750 – 1755) für die Jahre 1731 – 1753 erbrachte Rezensionen und Zusammenfassungen von Werken Fosters im Umfang von nicht weniger als 586 Druckseiten.33 Eine entsprechende Untersuchung der deutschsprachigen Zeitschriften fehlt. Bereits eine einfache elektronische Suche mit Google Books in deutschsprachigen Publikationen der Jahre 1730 bis 1760 legt aber nahe, dass das Interesse an Foster auch bei der deutschen Leserschaft groß war.
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Vgl. ebd., Bl. c7r. Zu dieser bei den Zeitgnossen viel beachteten Vorrede vgl. Straßberger, Andres: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik (Beiträge zur historischen Theologie 151), Tübingen 2010, S. 250, 259 – 260, 471 – 472. 31 Foster, Reden über wichtige Wahrheiten, Bd. 1 (vgl. Anhang, Nr. 5), Dedikation [4]. 32 Zu den in den Niederlanden gedruckten französischen und niederländischen Übersetzungen vgl. Eijnatten, Joris van: Liberty and Concord in the United Provinces. Religious Toleration and the Public in the Eighteenth-Century Netherlands (Brill’s Studies in Intellectual History 111), Leiden 2003, S. 201 – 203, 350, 360, 363, 374, 504, 523 – 524. Die französische Übersetzung einer Predigt Fosters erschien 1746 auch in Berlin: Foster, Discours Sur Ecclesiaste VII (vgl. Ahang, Nr. 4). 33 Vgl. Beckwith, F[rank]: James Foster, D.D., 1697 – 1753, in: Baptist Quarterly 5/7 (1931), S. 314 – 321.
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Mit der Übersetzung von Schriften Fosters konnten deutsche Aufklärungstheologen, die als Untertanen protestantischer Obrigkeiten oder gar als ordinierte Amtsträger der Staatskirchen eigentlich an den Lehrstand des jeweils herrschenden Bekenntnisses gebunden waren, eine radikal dogmenkritische Theologie dem deutschen Lesepublikum zugänglich machen, ohne sich selbst direkt dem inkriminierenden Vorwurf auszusetzen, verbindliche Lehren der herrschenden Kirche zu leugnen. Den Anfang machte 1741 der begabte, aber glücklose Johann Lorenz Schmidt (1702 – 1749). Schmidt hatte 1735 anonym eine rationalistische Übersetzung des Pentateuch veröffentlicht.34 Anonym erschien sechs Jahre später auch seine Übersetzung von Matthew Tindal, Christianity as old as the creation (1730), das erste in deutscher Übersetzung gedruckte Werk des englischen Deismus. Die Identität des Übersetzers wurde umgehend in den gelehrten Rezensionszeitschriften enthüllt.35 Als Anhang zu Tindals Schrift veröffentlichte Schmidt im selben Band Fosters Gegenschrift, die die gründlichste und beste Verteidigung des Christentums gegen den Deismus sei, auch wenn der Verfasser „in seiner Schrift verschiedene Sätze, insonderheit in Ansehung der Genugthuung Christi, einfließen lassen, womit die Gottesgelehrten nicht zufrieden sein werden.“ Allerdings liegt es auf der Hand, dass Fosters dogmatischer Minimalismus in Schmidts Augen eher einen Vorzug als einen Mangel darstellte. Ferner räumte Schmidt ein, der Verfasser sei „zwar, welches wol Vielen fremd vorkommen wird, ein Prediger bey einer Gemeine der so genannten Widertäufer in England: Allein er hat darbei nicht das Geringste von einiger Schwärmerey an sich, wie sonst wol vielleicht einige bey dem bloßen Namen dieser verhaßten Secte möchten denken.“36 Da Schmidt Fosters Text getreu und in vollem Umfang wiedergab, enthielt die Übersetzung auch eine von Foster der eigentlichen Widerlegung angehängte Darlegung der baptistischen Taufpraxis: „Wenn wir nämlich unter der Taufe denjenigen Gebrauch verstehen, wie solcher ursprünglich angeordnet und auch in den ersten christlichen Kirchen beständig ist verrichtet worden“, habe die Taufe aufgrund eines freiwilligen wohlbedachten Entschlusses, mit der sich der Täufling auf die vernommene und verstandene Lehre öffentlich festlege, durch Untertauchen zu erfolgen. Dass ein solcher Brauch keineswegs der Vernunft widerspreche, so fasste Foster seinen Exkurs über die Taufe zusammen, ergebe sich schon allein daraus, dass auch von Seiten der Ärzte „der Gebrauch der kalten Bäder selbst für
34
Zu Schmidt vgl. Mulzer, Martin: Art. Schmidt, Johann Lorenz, in: Bauks, Michaela/ Koenen, Klaus/Alkier, Stefan (Hrsg.), WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (2016), online. 35 Vgl. Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Zweites Buch, Stuttgart/Berlin 1922, S. 501 – 502; Voigt, Christopher: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts (Beiträge zur historischen Theologie 121), Tübingen 2003. 36 Tindal: Beweis, daß das Christentum so alt als die Welt sei (vgl. Anhang, Nr. 2), S. 126 – 127, 122 – 123.
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die zärtlichsten Personen so oft angepriesen und von so vortrefflichem Nutzen befunden wird.“37 Während Schmidt als Vertreter des akademischen Präkariats seiner Zeit charakterisiert werden kann, hatten die drei prominentesten Bewunderer Fosters in Deutschland, Sack, Jerusalem und Spalding, einflussreiche kirchliche Stellungen inne. August Friedrich Wilhelm Sack, der zwischen 1750 und 1752 eine fünfbändige Ausgabe der Predigten Fosters in deutscher Übersetzung herausgab, hatte seit 1740 eine Stelle als reformierter Hof- und Domprediger in Berlin inne, war Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften und wurde 1750 von Friedrich II. zum Oberkonsistorialrat ernannt.38 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, der mit Foster persönlich bekannt war und nach seiner Rückkehr aus England seit 1742 als Hofprediger in Braunschweig wirkte, empfing von Foster bleibende theologische Anregungen und verfasste eigene Sammlungen kurzer Abhandlungen über die natürliche Theologie nach dem Vorbild von Fosters Abendvorträgen.39 Der intellektuell vielversprechende Johann Joachim Spalding stand (obwohl bereits 36 Jahre alt) noch am Anfang seiner Karriere, als er zwischen 1750 und 1753 die gesammelten Abendvorträge Fosters übersetzte und in zwei Bänden herausgab (er war damals Prediger in der Kleinstadt Lassan bei Anklam),40 aber später stieg er zum Propst und Konsistorialrat in Berlin auf. Während Sack in seiner Vorrede „Über den Nutzen moralischer Predigten“41 Foster vorbehaltlos rühmte und keinerlei Anstalten machte, sich von den dogmatisch anstößigen Aspekten der Fosterschen Theologie zu distanzieren, räumte Spalding in dem kurzen Vorwort zum ersten der beiden von ihm übersetzten Bände vorsichtig ein: „was einige Sätze betrift, die zu dem Hauptvorwurf [d. h. dem Thema, M.R.] nicht gehören, so glaube ich nicht, daß ich für dieselbigen zu stehen gehalten 37
Foster, Vertheidigung (vgl. Anhang, Nr. 2), S. 441 – 446. Vgl. Foster, Reden, über wichtige Wahrheiten, Bd. 1 – 5 (vgl. Anhang, Nr. 5 – 9). Dazu vgl. Pockrandt, Mark: Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703 – 1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738 – 1817) (Arbeiten zur Kirchengeschichte 86), Berlin/New York 2003, S. 31, 64, 107, 154, 157, 178 – 179, 205, 213, 313, 412 – 413; dass es sich bei dem in der Ausgabe nicht namentlich genannten Übersetzer um Sack selbst handelte, schließt Pockrandt aus einer zeitgenössichen Quelle: ebd., S. 569 – 570. 39 Zu Fosters Einfluss auf Jerusalem vgl. Aner, Theologie der Lessingzeit, S. 149 – 150, 171, 194 – 195; Müller, Wolfgang Erich: Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Eine Untersuchung zur Theologie der „Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion“ (Theologische Bibliothek Töpelmann 43), Berlin/New York 1984, S. 209 – 223; Hofmann, Jan: „Liebe Gottes, Liebe des Menschen“. Zum Verhältnis von Glaubens- und Sittenlehre in den Predigten Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems, in: Eichhorn, Kristin/Laak, Lothar van (Hrsg.), Kulturen der Moral. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2018 in Paderborn (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 42), Hamburg 2021, S. 101 – 115. 40 Vgl. Beutel, Albrecht: Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2014, S. 49 – 50. 41 Zu Sacks für die Homiletik der Neologie bedeutsamer Vorrede vgl. Straßberger, Johann Christoph Gottsched, S. 367 – 368, 520 – 522. 38
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bin.“42 Eine ähnlich schwacher „Disclaimer“ findet sich auch in der Vorrede zum zweiten Band im Kontext eines überschwenglichen Lobes der Beredsamkeit, der Frömmigkeit und des edlen Charakters des inzwischen schwer erkrankten Londoner Predigers: „[…] so wenig ich seine besonders freyen Meinungen zu vertheidigen über mich nehme, so sicher kann ich meinen Lesern die großmächtigen Empfindungen der Wohlgewogenheit anpreisen, die in diesem Buche mit einem so rührenden Glanze herschen. Wer kan sich erwehren, der Freund eines Mannes zu seyn, der aller Menschen Freund ist?“43
Als ab 1834 die ersten Baptistengemeinden auf deutschem Boden entstanden, war James Foster in Deutschland längst vergessen. Die Geschichte der Baptisten von John Mockett Cramp (1796 – 1881), deren deutsche Übersetzung 1873 für den Gebrauch der deutschen Baptisten erschien, erwähnte nicht einmal Fosters Namen und skizzierte lediglich in knappen Strichen und düsteren Farben die „traurige Entartung“ der „arianisch-gesinnten“ General Baptists im 18. Jahrhundert.44 Fosters rationalistische Theologie wäre für die von der Erweckungsbewegung geprägten deutschen Baptisten des 19. Jahrhunderts ohnehin nicht anschlussfähig gewesen. Für die Vorgeschichte des deutschen Baptismus ergibt sich aus dem vorliegenden kleinen Überblick über die Foster-Rezeption in Deutschland nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als die Feststellung: So wie im Kontext der deutschen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts der calvinistische Particular Baptist Charles H. Spurgeon (1834 – 1892) trotz konfessioneller Vorbehalte zum Beststeller-Autor werden konnte,45 konnte in der Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts der sozinianische General Baptist Foster trotz der kirchlichen und gesellschaftlich-politischen Gegensätze, die ihn und seine deutschen Leser trennten, eine geradezu begeisterte Aufnahme in Deutschland finden. Spezifisch baptistische emanzipatorische Anliegen, die den Baptisten Spurgeon und Foster trotz aller theologischen Unterschiede gemeinsam waren, etwa das Prinzip der Freiwilligkeit des religiösen Bekenntnisses und der Taufe und die Forderungen nach uneingeschränkter Religionsfreiheit und Trennung von Kirche und Staat, spielten jedoch weder im einen noch im anderen Fall eine nennenswerte Rolle bei der Rezeption ihrer Schriften im staatskirchlich geprägten Deutschland.
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Foster, Betrachtungen, Bd. 1 (vgl. Anhang, Nr. 10), Vorrede, Bl. )(6r. Foster, Betrachtungen, Bd. 2 (vgl. Anhang, Nr. 11), Vorrede, Bl. )(4r–v. Zu Fosters Einfluss auf Spalding vgl. Bultmann, Bibelrezeption, S. 16 – 23. 44 Cramp, J[ohn] M[ockett]: Geschichte der Baptisten von der Gründung der ersten christlichen Gemeinden bis zum Schluß des achtzehnten Jahrhunderts. Übers. v. J[ohann] J[akob] Balmer-Rinck, Hamburg 1873, S. 568 – 569. Vorlage: Baptist History (1856). 45 Zu Spurgeon in Deutschland vgl. Bitzel, Alexander: Der brennende Londoner Dornbusch. Charles Haddon Spurgeon, seine Homiletik und Spuren seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology 8 (2001), S. 234 – 273. 43
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Anhang: In Deutschland gedruckte Übersetzungen der Schriften von James Forster 1.
Jacob Fosters, Predigers der Mennonitischen Gemeine in Londen, Heilige Reden über Wichtige Glaubens- und Lebens-Lehren. Göttingen und Jena: Cuno, 1739. [62], 698, [4] Seiten, 88. – Vorlage: Sermons on the following subjects, Bd. I (1732), Bd. II (1737). Übersetzung: August Tittel. Vorrede: Georg Heinrich Riebow.
2.
Vertheidigung der Nutzbarkeit, Wahrheit und Vortreflichkeit der christlichen Offenbarung gegen die Einwürfe, welche lezthin in einem Buche mit der Aufschrift Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, u.s.w. dagegen sind gemacht worden […] nach der dritten und verbesserten Ausgabe, welche im 1734 Jahre zu London herausgekommen ist. In: [Matthew Tindal:] Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung desselben. Frankfurt und Leipzig: s.n., 1741. 130, [6], 763 j 30, 504, [2] Seiten, 88. – Vorlagen: Matthew Tindal: Christianity as old as the creation (1730); James Foster: The usefulness, truth, and excellency of the Christian revelation (1731, 31734). Übersetzung und Vorrede: [Johann Lorenz Schmidt].
3.
Herrn Jacob Fosters, berühmten Predigers in London, letzter Beystand, welchen er dem Grafen von Kilmarnock, von dem Tage seiner Verurtheilung, bis zu seiner Hinrichtung den 29. August, geleistet hat. Vier Ausgaben: Hamburg: s.n., 1746; Hamburg: s.n., 1746; Hamburg: Grund, 1746; Hamburg: s.n., 1748. 62 Seiten, 88. – Vorlage: An account of the Behaviour of the late Earl of Kilmarnock, after his sentence, and on the day of his execution (1746). Übersetzung: Unbekannt.
4.
Discours Sur Ecclesiaste VII. 1. Le Jour de la Mort vaut mieux que celui de la Naissance, Qui Traite de la veritable idée qu’on doit se faire de la Vie humaine, & du moyen d’en tirer le meilleur parti qu’il est possible, Traduit de l’Anglois de Monsieur Foster, Célébre Prédicateur des Anabaptistes à Londres. Berlin: s.n., 1746. 31 Seiten, 88. – Vorlage: Of the true idea and improvement of human life. In: Sermons on the following subjects, Bd. II (1737). Übersetzung: Unbekannt.
5.
Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Erster Theil. Nebst einer Vorrede August Friedr. Wilhelm Sacks von dem Nutzen moralischer Predigten. Frankfurt und Leipzig: Weidemann, 1750. [32], 399 Seiten, 88. – Vorlage: Sermons on the following subjects, Bd. I (1732). Übersetzung: [August Friedrich Wilhelm Sack]. Vorrede: August Friedrich Wilhelm Sack.
6.
Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Anderer Theil. Frankfurt und Leipzig: Weidemann, 1750. [4], 378 [i. e. 380] Seiten, 88. – Vorlage: Sermons on the following subjects, Bd. II (1737). Übersetzung: [August Friedrich Wilhelm Sack].
7.
Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Dritter Theil. Frankfurt und Leipzig: Weidemann, 1751. [4], 364 Seiten, 88. – Vorlage: Sermons on the following subjects, Bd. III (1744). Übersetzung: [August Friedrich Wilhelm Sack].
8.
Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Vierter Theil. Frankfurt und Leipzig: Weidemann, 1751. [4], 348 Seiten, 88. – Vorlage: Sermons on the following subjects, Bd. IV (1744). – Übersetzung: [August Friedrich Wilhelm Sack].
9.
Herrn Jacob Fosters Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Fünfter Theil. Frankfurt und Leipzig: Weidemann, 1752. [4], 172 Seiten, 88. – Vorlage: Additional discourses and sermons. In: Ders.: Discourses on all the principal branches of natural religion and social virtue, Bd. I (1749). Übersetzung: [August Friedrich Wilhelm Sack].
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10. D. Jacob Fosters Betrachtungen über die vornehmsten Stücke der natürlichen Religion und der gesellschaftlichen Tugend. Aus dem Englischen übersetzt. Leipzig: Weidmann, 1751. [12], 448 Seiten, 88. – Vorlage: Discourses on all the principal branches of natural religion and social virtue, Bd. I (1749). Übersetzung und Vorrede: [Johann Joachim Spalding]. 11. D. Jacob Fosters Betrachtungen über die vornehmsten Stücke der natürlichen Religion und der gesellschaftlichen Tugend. Der andere Theil. Nebst einigen auf das vorhergehende sich beziehenden Andachten. aus dem Englischen übersetzt. Leipzig: Weidmann, 1753. [8], 624 Seiten, 88. – Vorlage: Discourses on all the principal branches of natural religion and social virtue, Bd. II (1752). Übersetzung und Vorrede: [Johann Joachim Spalding].
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Die Baptisten in und aus der Dobrudscha Eine lokale und eine globale Verflechtungsgeschichte Von Tobias Weger In den Staaten Ost- und Südosteuropas erweisen sich seit dem politischen Wandel der frühen 1990er-Jahre freikirchliche Konfessionen als attraktive Alternativen zu den vorherrschenden Konfessionen, insbesondere in Ländern mit einer orthodoxen Tradition. Nach den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft, die religiöse Praktiken einzuschränken und die einzelnen Religionsgemeinschaften in unterschiedlichem Maße zu unterwandern, infiltrieren und gefügig zu machen versuchte, erhielten Freikirchen starken Zulauf – zum Missfallen der übrigen christlichen Konfessionen. In Rumänien steht die Rumänisch-Orthodoxe Kirche in einem traditionell engen Verhältnis zum Staat, unabhängig davon, ob dieser im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts als konstitutionelle Monarchie, Königsdiktatur, faschistischer Autoritarismus, kommunistische Ein-Parteien-Herrschaft oder Republik verfasst war. Der folgende Beitrag rekonstruiert die Entwicklung der Baptisten in der rumänischen Dobrudscha (rum. Dobrogea, bg. 5_RadUWQ, tu¨rk. Dobruca). In dieser Region zwischen dem Unterlauf und dem Mu¨ndungsgebiet der Donau sowie dem Schwarzen Meer waren in den 1860er-Jahren deutsche Kolonisten, die urspru¨nglich aus dem Russla¨ndischen Reich in die noch bis zum Berliner Kongress (1878) zum Osmanischen Reich za¨hlende Gegend zugezogen waren, die Initiatoren ta¨uferischen Christentums. Welche Entwicklungen nahm seit diesen Anfängen der Baptismus unter den Deutschen in der Dobrudscha, welche unter den anderen Ethnien dieser Region? Wie wirkten sich die demografischen Prozesse in der Dobrudscha im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Baptisten aus? In welchem Verhältnis standen sie zu anderen christlichen Konfessionen unter den Deutschen in der Dobrudscha – der römisch-katholischen oder der evangelisch-lutherischen? Wie standen sie gegenüber der vor allem unter Rumänen, Bulgaren und Russen in der Dobrudscha dominanten Orthodoxie, wie gegenüber der nicht unerheblichen türkischen und tatarischen Bevölkerung islamischen Glaubens? Und schließlich: Wie lässt sich die verzögerte Begründung des ethnisch rumänischen Baptismus erklären, und welche Entwicklung nahm er im Untersuchungsraum bis in die Gegenwart?
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I. Im Osmanischen Reich Die Anfänge des Baptismus in der Dobrudscha sind eng mit dem Zuzug deutscher Siedler in diese osmanische Region in mehreren Phasen seit den 1840er-Jahren verbunden.1 Die überwiegend von Viehzucht und Ackerbau lebenden Kolonisten waren ursprünglich im frühen 19. Jahrhundert aus unterschiedlichen deutschen Landen einer Einladung des Zaren gefolgt, sich in den ukrainischen Gebieten an der agrarischen Erschließung des Landes zu beteiligen. In Bessarabien sowie in den Gouvernements Cherson (ukr./russ. FVab_^) und Odessa (ukr. ?UVbQ, russ. ?UVbbQ) entwickelten sich zahlreiche Siedlungen, in denen Deutsche neben Angeho¨rigen anderer Ethnien lebten und arbeiteten. Epidemien, die Aufhebung urspru¨nglicher Privilegien, starker Kinderreichtum und interne Konflikte veranlassten zahlreiche Deutsche aus dem su¨dlichen Russla¨ndischen Reich, die Donau nach Su¨den zu u¨berqueren und im Osmanischen Reich eine neue Heimat zu finden. Mehrheitlich waren sie evangelisch-lutherischen Glaubens und, sofern sie ihre Herkunft auf den deutschen Su¨dwesten zuru¨ckfu¨hrten, pietistisch gepra¨gt, doch auch Katholiken waren zahlreich vertreten. Die ersten deutschen Siedler in der Dobrudscha segregierten sich in den neuen Niederlassungen nach ihrer Konfessionszugeho¨rigkeit. Der Baptismus, demgegenu¨ber sich sowohl die evangelisch-lutherische Kirche als auch die ruma¨nische Orthodoxie distanziert erwiesen,2 entwickelte sich zuna¨chst unter den Deutschen in der Dobrudscha als evangelisch-freikirchliche Alternative zum Luthertum, ha¨ufig infolge eines Konfessionswechsels. Ihr geografischer Ausgangspunkt wurde das etwa 15 Kilometer su¨dlich der Donau-Hafenstadt Tulcea gelegene Dorf Cataloi.3
1 Vgl. Johnson, Robert E.: A Global Introduction to Baptist Churches, Cambridge u. a. 2010, S. 316. Zur Geschichte der Deutschen in der Dobrudscha vgl. u. a. Traeger, Paul: Die Deutschen in der Dobrudscha. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Wanderungen in Osteuropa, Stuttgart 1922; Georgescu, Ioan: Coloniile germane din Dobrogea [Die deutschen Siedlungskolonien in der Dobrudscha], in: Analele Dobrogei 7 (1926), S. 1 – 58; Sallanz, Josef: Dobrudscha. Deutsche Siedler zwischen Donau und Schwarzem Meer, Potsdam 2020. 2 P., M.: Dare de seama˘ asupra scrierii Biserica ortodoxa˘ s‚ i cultele sale [Bericht über die Schriften der Orthodoxen Kirche und ihrer Kulte], in: Biserica ortodoxa˘ româna˘ . Revista periodica˘ eclesiastica˘ 29 (1905) H. 4, S. 308 – 316, hier: 310. 3 Aus Gründen der Einheitlichkeit werden in diesem Beitrag die rumänischen Ortsnamenvarianten anstelle der im 19. und frühen 20. Jahrhundert in deutschen Texten gelegentlich gebrauchten eingedeutschten Formen verwendet, die hier in Klammern angegeben werden: Atmagea (Atmadscha), Caramurat (Karamurat), Cataloi (Kataloi oder Katalui), Ciucurova (Tschukurowa), Cogealac (Kodschalak), Constant‚ a (Konstan[t]za), Malcoci (Malkotsch), Tulcea (Tultscha).
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II. Die Gemeinde in Cataloi Am 30. April 1856 hatte sich der Tischler und Zimmermann Karl/Carl Johann Scharschmidt (1820–ca. 1895), der zuvor in Ungarn tätig gewesen war,4 in der walachischen Metropole Bukarest (rum. Bucures‚ ti) niedergelassen.5 Dort lebte im 19. Jahrhundert eine kleine, aber durchaus einflussreiche Zahl Deutschsprachiger, die aus den Staaten des Deutschen Bundes oder aus unterschiedlichen Regionen der Habsburgermonarchie zugezogen waren. Scharschmidt, der nach dem Großen Brand von Hamburg im Mai 1842 als Handwerker am Wiederaufbau der zerstörten Hansestadt mitgewirkt hatte, hatte dort von dem Baptistenpastor Johann Georg Oncken (1800 – 1884) die Erwachsenentaufe empfangen. Um Scharschmidt bildete sich in Bukarest eine Gemeinschaft von Konvertiten – ausnahmslos Angehörige der deutschen Diaspora –, deren Zahl bis 1863 so stark anwuchs, dass eine eigene Gemeinde gegründet werden konnte. Da Scharschmidt nicht ordiniert war, wandte er sich hilfesuchend an Oncken.6 Scharschmidt selbst verlagerte seinen Wohnort nach Jassy (rum. Ias‚ i), wo er fortan die Agentur der British and Foreign Bible Society (BFBS) leitete.7 Diese überkonfessionell arbeitende Gesellschaft hatte sich die Übersetzung, den Druck und den Vertrieb günstiger Bibeln auf die Fahnen geschrieben. Ihre Agenten waren in Südosteuropa häufig Baptisten, die sich missionarisch betätigten. Johann Georg Oncken, der selbst mit dem Vertrieb der Heiligen Schrift beschäftigt war,8 entsandte 1863 als Prediger August Gustav Alexander Liebig (1836 – 1914), einen gebürtigen Neumärker, nach Bukarest.9
4 Karl Scharschmidt hatte in Pest in der Attilagasse 662 eine Werkstatt betrieben; vgl. Anzeige, in: Pesth-Ofner Localblatt und Landbote, 5. Jg., Nr. 267, 19. 11. 1854, S. 3. 5 Gedenkfeier in Bukarest, Rumänien, in: Täufer-Bote, Nr. 6/1936, S. 4; Kish, George Alexander: The Origins of the Baptist Movement Among the Hungarians. A History of the Baptists in the Kingdom of Hungary from 1846 to 1893, Leiden/Boston 2012, S. 117, S. 125. 6 Vgl. Kish, The Origins, S. 180. 7 C., Mihail: 150 de ani de la vizita lui J. G. Oncken pe meleagurile romanes‚ ti s‚ i fondarea oficiala˘ a Bisericii Baptiste Germane din Cataloi [150 Jahre seit dem Besuch J. G. Onckens in den rumänischen Landen und der offiziellen Gründung der deutschen Baptistengemeinde Cataloi], 9. 11. 2019, https://prologos.ro/istoria-baptistilor/150-ani-vizita-oncken-si-fondarea-bi sericii-baptiste-cataloi [Zugang 23. 03. 2022]. 8 Vgl. Railton, Nicholas: No North Sea. The Anglo-German Evangelical Network in the Middle of the Nineteenth Century, Leiden/Boston 1999, S. 160, 165. 9 August Gustav Alexander Liebig (1836 – 1914), geb. in Bernstein (pl. Pełczyce), Neumark, aufgewachsen in einer lutherischen Familie, 1854 Konversion zu den Baptisten in Reetz (pl. Recz), Assistent des Missionars Carl August Kemnitz (1821 – 1894) in Templin, 1859 theologische Ausbildung an der Bibelschule für Pastoren und Gemeindeleiter in Hamburg, 1865 sechsmonatige Fortbildung in der Missionsschule Hamburg, Prediger in Einlage (ukr. ;Yh[Qb), 1874 – 1887 Prediger in Odessa, 1887 – 1890 Prediger in Lodz (pl. Ło´dz´), von den russischen Beho¨rden ins Deutsche Reich ausgewiesen, 1890 – 1892 Prediger in Stettin (pl. Szczecin), 1892 – 1913 Pastor in Emery SD, Denhoff und Pleasant Valley, gest. in Pleasant Valley SD. Vgl. Rauschenberger, Elisabeth: Zur Geschichte der Baptistengemeinde Katalui, in: Jahrbuch der Dobrudscha-Deutschen 1972, S. 208 – 217, hier: 212; Wardin, Albert W.:
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In den 1860er-Jahren suchten taufgesinnte Christen aus dem südlichen Russländischen Reich, die eine religiöse Erweckung erfahren hatten und sich administrativen Schikanen und politischen Verfolgungen ausgesetzt sahen, Zuflucht im Osmanischen Reich, das in der Phase der Tanzimat-Reformen als verhältnismäßig tolerant gegenüber christlichen Gemeinschaften galt. Anfangs 25 – 30 Personen formierten sich zu einer neuen Gemeinschaft in Cataloi, wo es bereits eine deutsche lutherische Gemeinde gab, aber auch Rumänen und Türken zu Hause waren. Weitere Zuwanderungen deutscher Baptisten aus dem Russländischen Reich erfolgten in den Jahren 1863 – 1864 und 1864 – 1865. Sie und weitere Glaubensgenossen fanden in Cataloi Aufnahme, wo sie ihre ersten Treffen in der lutherischen Kirche abhielten.10 Die baptistischen Bewohner des Dorfes stauten am südlichen Ortsende das kleine Flüsschen Telisa (rum. Telit‚ a) auf und gewannen somit ein Gewässer, in dem die Tauchtaufe vollzogen werden konnte.11 Allerdings fehlte in Cataloi noch ein ordinierter Theologe, der überhaupt die Taufe vornehmen konnte. Die Baptisten in Cataloi schrieben an den britischen Baptistenpastor Charles Haddon Spurgeon (1834 – 1892), dessen gedruckte Predigten und Traktate ihnen vertraut waren. Spurgeon leitete die Bitte nach Hamburg an seinen deutschen Amtsbruder Oncken weiter.12 Oncken, der Förderer zahlreicher deutscher und kontinentaleuropäischer Baptistengemeinden, entsandte den seit 1863 in Bukarest tätigen August Liebig 1865 in die Dobrudscha, wo er am 1. November elf Personen die Taufe spendete.13 Aus dem Russländischen Reich kamen 1865 Jakob Klundt (1839 – 1921), die Brüder Friedrich und Martin Engel, Josef Edinger, Georg Leitner (1825–?) und Martin Heringer (1837 – 1901) nach Tulcea und Cataloi. Sie stammten aus den Ortschaften Alt-Danzig (ukr. ;Qa\wS[Q, russ. ;Qa\_S[Q) und Neu-Danzig (ukr. 3Y^_TaQUwS[Q) im Gouvernement Cherson. Klundt trat mit Alexander Thomson (1820 – 1899) von der BFBS in Kontakt und wurde Missionar in Mazedonien und Bulgarien.14 Ein zweites Mal besuchte Liebig Cataloi am 22. April 1866, predigte dort und taufte 16 konversionswillige Erwachsene. Liebig legte den Weggang der Baptisten von Neu-Danzig und die Neuansiedlung in Tulcea und Cataloi als Willen Gottes
August G. A. Liebig. German Baptist Missionary and Friend of the Mennonite Brethren, in: Mennonite Studies 28 (2010), S. 167 – 186. 10 Vgl. Rauschenberger, Zur Geschichte, S. 208 f.; Nichols, Gregory L.: The Development of Russian Evangelical Spirituality. A Study of Ivan V. Kargel (1849 – 1937), Eugene OR 2011, S. 73, 82. 11 Vgl. Schwarz, Bernh[ard]: Vom deutschen Exil im Skythenlande. Erlebnisse, Klagen und Aufklärungen aus der Dobrudscha, Leipzig 1884. 12 Vgl. Rauschenberger, Zur Geschichte, S. 210; Mitrofan, Daniel: Biserica baptista˘ „Betel“ din Tulcea [Die Baptistenkirche „Betel“ in Tulcea], o.O. o. J., S. 10 f. 13 Vgl. Rauschenberger, Zur Geschichte, S. 210. 14 Vgl. Byford, Chas T.: Peasants and Prophets. Baptist Pioneers in Russia and South Eastern Europe, 2. Aufl., London 1911, S. 53; Wardin, Albert W.: The Baptists in Bulgaria, in: Baptist Quarterly 34 (1991) H. 4, S. 148 – 159, hier: 149.
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aus.15 Er musste sich des Widerstands lutherischer Protagonisten aus Atmagea und Catalui erwehren, die ihn sogar bei den osmanischen Behörden denunzierten, ohne damit Erfolg zu haben.16 In den Jahren 1866 – 1867 gelangten weitere täuferische Religionsflüchtlinge aus dem Russländischen Reich nach Cataloi. Sie ließen sich entlang der Hauptstraße nach Tulcea nieder und erbauten 1866 – 1867 ein eigenes Bethaus, das einen Gottesdienstraum für etwa 150 – 180 Gläubige, einen Gemeindesaal und eine Küche umfasste.17 Das längliche Gebäude war etwa 20 bis 25 Meter von der Straße zurückgesetzt. Den Gottesdienstraum und die Nebenräume trennte ein Quergang voneinander. Den Baubestimmungen der osmanischen Behörden entsprechend war das Äußere schlicht gestaltet. Auf einen Turm oder einen Dachreiter verzichtete die Gemeinde, um den religiösen Charakter weder gegenüber den osmanischen Behörden noch gegenüber den Lutheranern zu akzentuieren. Zur Straße hin war dem Bethaus ein Garten vorgelagert. Am 28. Januar 1867 verlegte Liebig seinen Wohnsitz von Bukarest nach Cataloi. Auf dem Rückweg von einer Missionsreise zu Baptisten- und Methodistengemeinden im Russländischen Reich traf Johann Georg Oncken am 18. November 1869 per Dampfschiff in Tulcea ein und wurde dort von Liebig, dem designierten Pastor von Cataloi, und dem in Tulcea wirkenden methodistischen Prediger Frederick W. Flocken (1831 – 1893) empfangen. Oncken hinterließ in der Dobrudscha mit seiner Persönlichkeit und seinem Auftreten einen tiefen Eindruck.18 In Onckens Gefolge reisten der Prediger und Historiker Johann E. Pritzkau (1842 – 1924) und Pastor Heinrich Meyer (1842 – 1919).19 Oncken besuchte auch die Siedlung Atmagea, in der mehrere Lutheraner zum Baptismus übergetreten waren, und weihte dort ein Bethaus ein. Am 20. November 1869 erfolgte die eigentliche Gründung der Baptistengemeinde von Cataloi, der ersten im Osmanischen Reich,20 die zu diesem Zeitpunkt 111 Mitglieder zählte.21 August G. Liebig standen als Pastor sechs Diakone zur Seite, vier in Cataloi und zwei in Atmagea. Am darauffolgenden Tag wurde die Kirche von Cataloi im Rahmen einer sechsstündigen Abendmahlsfeier eingeweiht. Am 24. November verließen Oncken und Liebig Cataloi und fuhren per Dampfer von Tulcea nach Galat‚ i auf der Donau, von dort aus auf dem Landweg nach Bukarest. Liebig kehrte nach Cataloi zurück, während Oncken 15
Vgl. Pritzkau, Johann E.: German Baptists in South Russia. Winnipeg MB, Goessel KB 2013, S. 14. 16 Vgl. Turkey and Russia, in: The Gospel Herald or, Poor Christian’s Magazine 35 (1866), S. 176 f. 17 Vgl. Popovici, Istoria Baptis‚ tilor, S. 93. 18 Vgl. Pritzkau, German Baptists, S. 29. 19 Vgl. ebd., S. 27. 20 Vgl. Popovici, Istoria Baptis‚ tilor, S. 93; Wardin, The Baptists in Bulgaria, S. 149; Wardin, On the Edge. Baptists and Other Free Church Evangelicals in Tsarist Russia, 1855 – 1917, Eugene OR 2013, S. 75; Rauschenberger, Zur Geschichte, S. 211. 21 Issler, Erwin/Issler, Hans: Die Isslers. Eine Familiengeschichte. Eine Zeitreise durch 500 Jahre, Nördlingen 2015, S. 110.
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über Kronstadt (rum. Bras‚ ov, ung. Brassó), Klausenburg (rum. Cluj-Napoca, ung. Kolozsvár), Budapest und Wien nach Hamburg fuhr. August G. Liebig war ab 1869 vor allem im südlichen Russländischen Reich aktiv, unter anderem in Odessa. Sein Handlungsraum waren die verstreuten deutschen Siedlungen. Am 3. Mai 1872 führte er den Vorsitz über das Treffen der ersten Baptistenorganisation im Russländischen Reich. Im gleichen Jahr traf er wieder in Cataloi ein, wo 1873 sein Bruder Ludwig das Pastorenamt übernahm. Während der Abwesenheit August G. Liebigs von Cataloi hatte ihn Ferdinand Massier (1842 – 1923), ein gebürtiger Bukowiner, im Predigeramt vertreten, Er war von August G. Liebig in Bessarabien getauft worden und hatte am 21. April 1867 in Cataloi Dorothea Engel (1844 – 1888), eine Tochter Martin Engels, geheiratet.22 Massier wurde zu einem einflussreichen baptistischen Missionar in der habsburgischen Bukowina. 1873 trat August G. Liebigs älterer Bruder Ludwig Leopold (1831 – 1911), Prediger im mecklenburgischen Alt-Strelitz, dessen offizielle Nachfolge in Cataloi an und hatte das Predigeramt bis 1878 inne, als er sich als Landwirt in Cataloi zur Ruhe setzte.23 Von 1878 bis 1883 übernahm noch einmal Ferdinand Massier die Leitung der Gemeinde Cataloi. Am 24. September 1884 ordinierte August G. Liebig den aus Bessarabien zugezogenen Landwirt und Schuster Martin Issler (1853 – 1939) zum Prediger.24 Er war 22
Ferdinand Massier (1842 – 1923), geboren in Alt-Fratautz (rum. Fra˘ ta˘ ut‚ ii Vechi), Bukowina, Hutmacher und -händler in Bukarest, 1865 Konversion zum Baptismus, Niederlassung in Catalui, 1872 – 1876 Missionar in Alt-Fratautz, 1883 Rückkehr in die Bukowina, 1883 – 1917 Prediger in Snjatyn (ukr. B^pcY^, pl. S´niatyn), Galizien, 1917 Prediger in Neustadt am Zeltberg (ung. Sa´toraljau´jhely, sk. Nove´ Mesto pod Sˇ iatrom), dort auch gestorben. Vgl. Massier, Paul F.: Ferdinand Massier and the German Baptist Movement in Bukovina and Galicia, 1993, www.bukowinasociety.org/Religion/Massier-German-Baptist-Movement-Buko vina-Galicia-1997.html [Zugang 21. 03. 2022]; Dobrincu, Dorin: Sub puterea Cezarului. O istoria politica˘ a evanghelicilor din Romaˆnia (a doua juma˘ tate a secolului al XIX-lea–1989) [Unter der Macht des Kaisers. Eine politische Geschichte der Evangelischen in Ruma¨nien (von der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts bis 1989)], in: Dobrincu, Dorin/Ma˘ na˘ stireanu, Da˘ nut‚ (Hrsg.), Omul evanghelic. O explorare a comunita˘ t‚ ilor protestante romanes‚ ti [Der evangelische Mensch. Eine Erkundung der ruma¨nischen protestantischen Gemeinschaften], Ias‚ i 2018, S. 59. 23 Ludwig Leopold Liebig (1831 – 1911), geb. in Bernstein (pl. Pełczyce), Bruder August G. A. Liebigs (s. o.), Studium in Hamburg, Heirat mit Wilhelmine Roenpagel (1836 – 1924), Prediger in Templin, 1873 Prediger in Alt-Strelitz, Mecklenburg, gest. in Cataloi. Vgl. Pritzkau, German Baptists, S. 14; Schwarz, Vom deutschen Exil, S. 52; Ludwig Leopold Liebig, https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/74667781/person/32311594199/facts [Zugang 01. 08. 2019]. 24 Martin (Johann Martin) Issler (1853 – 1939), geb. in Lichtenthal (ukr. BSwc\_U_\Y^bm[V, russ. BSVc\_U_\Y^b[_V), Bessarabien, Schusterlehre und Landwirt, 1871 – 1873 Gesellenwanderung im su¨dlichen Russla¨ndischen Reich, unter anderem in Odessa, 1874 – 1884 Schuster und Landwirt in Atmagea, 1875 Heirat in erster Ehe mit Elisabeth Wagner (?–1890), ¨ bersiedlung nach Cataloi, Landwirt, 24. 09. 1884 Ordination durch August Liebig, 1882 U
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ursprünglich Lutheraner und hatte in Atmagea in der Dobrudscha unter dem Einfluss der dort beheimateten Baptisten ein Bekehrungserlebnis und wurde im Mai 1876 getauft. Die Zahl der Baptisten in Cataloi stieg damals einerseits stark an, andererseits sank sie auch wieder dramatisch infolge einer starken Auswanderungstendenz. Die religiösen Aktivitäten der Baptisten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von lutherischen Pastoren beargwöhnt und befehdet. Den Ausschlag gaben weniger inhaltlich-theologische Zerwürfnisse, sondern Stereotypen und das Konkurrenzverhältnis zwischen evangelischer Amtskirche und Freikirche. Einige Lutheraner führten unhaltbare Vorwürfe und Verleumdungen ins Feld, um die Baptisten zu diskreditieren.25 So wurde etwa die Qualifikation Martin Isslers mit der Aussage in Abrede gestellt, er sei als „Schuster von seinem Schemel zum Prediger“ berufen worden.26 Lutherische Christen gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Einheit von Ethnos und Confessio aus. Konnte man gerade noch akzeptieren, dass sich in Tulcea, Malcoci und an anderen Orten auch römisch-katholische Deutsche niederließen, so wurde die Verbreitung des Baptismus als Gefahr einer nationalen Zersplitterung empfunden, etwa von dem Theologen und Entdeckungsreisenden Bernhard Schwarz (1844 – 1901): „Dadurch wurde zunächst den ordnungsgemäß bestellten Geistlichen, die zugleich in anderen Dingen der Halt der Gemeinden waren, die Wirksamkeit erschwert und bald auch Uneinigkeit unter die Leute selbst gebracht, während doch gegenüber dem starken äußeren Feinde hier Eintracht als erste aller Erfordernisse gewesen wäre.“27
Die Baptisten hätten, so der Bukarester lutherische Pastor Willibald Teutschländer (1837 – 1891), „in äusserst aufdringlicher und fanatischer Weise nicht selten zum Nachteil der Gemeinden agitiert und zersetzend auf dieselben eingewirkt“.28 Diese Diktion wurde später auch von dem rumänischen Regionalforscher und Lehrer Ioan Georgescu (1889 – 1968) übernommen, der schrieb, „am gefährlichsten für den Frieden und die öffentliche Ordnung“ seien die Baptisten, die ihr „Nest“ in Cataloi besäßen.29 Auch den russischen Autoritäten jenseits der Donaugrenze waren die 1891 Heirat in zweiter Ehe mit Anna Pauline Liebig (1872 – 1947), einer Tochter Ludwig Liebigs, 1900 – 1910 Prediger in Johannestal und Neufreudenthal, 1909 – 1929 zweite Amtszeit in Cataloi. Vgl. Rauschenberger, J.: Prediger Martin Ißler †, in: Ta¨ufer-Bote, Nr. 3/1940, S. 7; Issler/Issler: Die Isslers, S. 81 – 91. 25 Vgl. Unsere deutsche Kirche in Rumänien. Reise-Berichte aus den Donau-Provinzen. V, in: Echo aus der Heimath und Fremde 5 (1868), S. 139 – 143, hier: 140; Ebd. VIII (Schluß), S. 394 – 398, hier: 397. 26 Vgl. Von unseren Glaubensbrüdern im alten Königreich Rumänien. Die Gemeinden in der Dobrudscha, in: Kirchliche Blätter aus der ev. Landeskirche A. B. 11 (1919) H. 15, S. 62 f., hier: 63. 27 Schwarz, Bernhard: Die deutschen Kolonien in der Dobrudscha, in: Ueber Land und Meer 1 (1894/95), S. 353 – 355, hier: 355. 28 Teutschländer, Willibald Stefan: Geschichte der Evangelischen Gemeinden in Rumänien mit besonderer Berücksichtigung des Deutschtums. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Rumäniens, Bukarest 1891, S. 242. 29 Vgl. Georgescu, Coloniile, S. 47.
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baptistischen Aktivitäten in Cataloi ein Dorn im Auge, da die kleine Gemeinde weit über die Dobrudscha hinaus nach Bessarabien ausstrahlte, indem sie theologische Abhandlungen und Gesangbücher nach Bessarabien transportierte.30 Der oben genannte Bernhard Schwarz hatte bei seinem Besuch in Cataloi in den 1880er-Jahren die Gastfreundschaft des Baptistenpredigers Ludwig Leopold Liebig in Anspruch genommen. Aus seinem Reisebericht erfahren wir von den „zahlreichen frommen Sprüche[n], die unter Glas und Rahmen die Wände“31 im Haus Liebigs zierten, unter anderem: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ bzw. „Die Heimath der Seele ist droben im Licht.“32 Zum Einzugsbereich der Baptistengemeinde Cataloi zählten anfangs unter anderem die Diaspora-Gemeinschaften in Ciucurova, Tariverde, Cogealac, Mangalia, Cobadin und Mamuslia (rum. Cerchezu). Die wichtigsten Außenstellen von Cataloi waren Atmagea und Ciucurova. Hatten sich in Ciucurova noch 1872 drei Deutsche als Baptisten bekannt (gegenüber 234 evangelisch-lutherischen Christen), wuchs die Zahl der Baptisten bis 1892 auf 107 an, bei gleichzeitig 241 Lutheranern.33 Das Gemeindeleben in Cataloi spielte sich in den sonntäglichen Andachten, den sich anschließenden Hauptgottesdiensten und der Sonntagsschule ab. In den Wintermonaten traf sich ein Frauenkreis.34 Die Baptistengemeinde Cataloi wirkte als Transmissionsriemen für die Verbreitung des Baptismus in Südosteuropa. Sie war die Muttergemeinde der deutschsprachigen Baptistengemeinschaften in der Dobrudscha und der russisch-deutschen Gemeinde von Tulcea. In den Jahren 1869 – 1874 schlossen sich sieben Baptisten aus Cataloi der BFBS an und missionierten als deren Agenten im südöstlichen Europa.35 Die Rolle Ferdinand Massiers für den Baptismus in der Bukowina wurde oben bereits erwähnt. In Cataloi lebten zeitweilig die beiden Brüder Conrad (1845 – 1910) und Philipp Spiess, die ursprünglich aus Radautz (rum. Ra˘ da˘ ut‚ i) in der südlichen Bukowina stammten, 1872 in Cataloi die Taufe empfingen und anschließend als Missionare im Banat, in Oberungarn (der heutigen Slowakei) und in Ungarn, später auch im rumänischen Altreich aktiv waren.36 Georg Fischer (1848–?) predigte in Albanien; Jacob Klundt und Martin Heringer waren 1869 von Oncken persönlich von Cataloi 30
Vgl. Wardin, On the Edge, S. 76. Schwarz, Bernhard: Ein geographisches Aschenbrödel. Skizze aus dem deutschen Diaspora-Gebiet, in: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung, Nr. 46, 11. 06. 1887, S. 273 – 278, hier: 276. 32 Schwarz, Vom deutschen Exil, S. 52. 33 Vgl. Georgescu, Coloniile, S. 29. 34 Vgl. Rauschenberger-Highfield, Elisabeth: Unser Leben in der Gemeinde Cataloi, in: Der Dobrudschabote 24 (2000) H. 79, S. 13 – 18, hier: 15 f. 35 Vgl. Elsbeth Rauschenberger (1914 – 2016), https://prologos.ro/dale-crestinismului/els beth-rauschenberger-1914-2016/ [Zugang 13. 01. 2021]. 36 Vgl. Kish, The Origins, S. 156, S. 259. 31
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aus als Bibelkolporteure der BFBS delegiert worden – Klundt in den Kosovo, nach Montenegro, Mazedonien und Bulgarien, Martin Heringer nach Zentralbulgarien, während Josef Edinger das östliche Bulgarien abdeckte.37 Die deutschen Bewohner von Cataloi lebten in einem multikulturellen Kontext. Um 1900 zählte die politische Gemeinde Cataloi insgesamt 1.712 Einwohner, die sich auf 311 Familien verteilten. Von diesen waren 561 Bulgaren (144 Familien), 351 Rumänen (64 Familien), 299 Deutsche (58 Familien) und 332 Italiener (64 Familien).38 Die türkischen Bewohner waren ab 1878 sukzessiv nach Anatolien abgewandert. In konfessioneller Hinsicht zählte die Baptistengemeinde von Cataloi 1892 ca. 200 Angehörige,39 deren Zahl sich infolge von Auswanderungen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf 6940 und auf 37 am Ende des Ersten Weltkriegs reduzierte.41 Ab 1899 vertrat Benjamin Schlipf (1875 – 1968), ein Sohn deutscher Auswanderer in den USA, Martin Issler in Cataloi.42 Als Schlipf 1909 wieder nach North Dakota zurückging, übernahm erneut bis 1929 Martin Issler das Predigeramt.43 Zwischen 1929 bis 1935 war der gebürtige Wiener Hans Folk/Volk (1900 – 1954), der am Baptistenseminar in Hamburg ausgebildet worden war, Prediger in Cataloi.44 Während seiner Amtszeit fand am 5. Oktober 1933 in Cataloi die Vereinigungskon-
37
Vgl. Ramaker, Albert John: Eine kurze Geschichte der Baptisten, Cleveland OH 1906, S. 110. 38 Vgl. Lemma „Cataloi“, in: Lahovari, George Ioan/Bra˘ tianu, C. I./Tocilescu, Grigore G.: Marele Dict‚ ionar geografic al Romîniei [Großes geografisches Wörterbuch Rumäniens], Bucures‚ ti 1899, Band 2, S. 228 f.; zu den Italienern vgl. Il viaggio dell’On. Morporgo in Levante. Le colonie italiane in Romania, in: Giornale di Udine, 39. Jg., Nr. 171, 26. 07. 1905, S. 2; Traeger, Die Deutschen, S. 71; Georgescu, Coloniile, S. 28. 39 Vgl. Baban, Octavian D.: Note despre înfiint‚ area Seminarului Baptist din Bucures‚ ti. Paradigmele liberta˘ t‚ ii s‚ i credint‚ ei la început de secol XX, în România [Anmerkungen zur Gründung des Baptistenseminars in Bukarest. Die Paradigmen von Freiheit und Glauben zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rumänien], in: Jurnal Teologic 20 (2021) H. 1, S. 39 – 71, hier: 39 f., Anm. 3. In ethnischer Hinsicht ausschließlich Deutsche. Die übrigen Deutschen in Cataloi waren 1892: 56 Lutheraner, 60 konfessionell Indifferente. 40 Vgl. Byford, Peasants and Prophets, S. 62. 41 Vgl. Traeger, Die Deutschen, S. 71; Georgescu, Coloniile, S. 29. 42 Benjamin Schlipf (1875 – 1968), geb. in Newark NJ, 1909 Auswanderung nach Rosenfield, ND, 1910 – 1922 Pastor in Rosenfield ND, 1922 – 1957 Pastor in Roselle Park NJ, gest. in Fort Dodge, IO. Vgl. Conference is Over. German Baptists of North Dakota Close Annual Gathering, in: The Fargo Forum and Daily Republican, 29. 06. 1909, S. 2; Rauschenberger, Zur Geschichte, S. 215. 43 Vgl. Byford, Peasants and Prophets, S. 62. 44 Hans Folk/Volk, Studium am Baptistenseminar in Hamburg-Horn, 1935 Pastor in Czernowitz, Leiter der Baptistischen Judenmission in Czernowitz. Vgl. Parker, Joseph Irving: Directory of the World Missions. Missionary Boards, Societies, Colleges, Cooperative Councils and Other Agencies Related to the Protestant Churches of the World, London 1938, S. 212; Rauschenberger, Zur Geschichte, S. 217; Issler/Issler, Die Isslers, S. 116 f.
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ferenz der deutschen Baptisten in Rumänien statt.45 Volk wechselte 1935 als Leiter der Judenmission nach Czernowitz (ukr. HVa^wSgw, rum. Cerna˘ ut‚ i). In den 1930erJahren bildeten die Baptisten aufgrund weiterer Konversionen wieder die Mehrheit unter den deutschen Dorfbewohnern. Der dortige Prediger versorgte auch die in Atmagea und Ciucurova ansa¨ssigen Baptisten seelsorgerisch mit.46 In den letzten fu¨nf Jahren vor der NS-Umsiedlung vom Herbst 1940 war dies Jakob Rauschenberger (1902 – 1965), ein gebu¨rtiger Dobrudschaner, der aber ebenfalls in Hamburg studiert hatte.47 III. Die Gemeinde Mangalia Die zweitälteste deutsche Baptistengemeinde in der Dobrudscha hatte ihren Sitz in Mangalia, einer kleinen Hafenstadt am Schwarzen Meer, zehn Kilometer nördlich der Grenze zu Bulgarien. Die Geschichte der Gemeinde begann mit der Ansiedlung von August Adolph Benjamin Lück (1848 – 1926) im nördlichen Stadtbereich im Jahr 1891.48 Lück wurde Prediger der lokalen Gemeinschaft, die anfangs von Cataloi abhing. Sie zählte zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 40 Mitglieder, die ein Bethaus in der Strada T¸epes‚ Voda˘ besaßen.49 Die Gemeinde wurde 1926 autonom, als Prediger wurde nunmehr nach Lücks Tod Jacob Dermann (1886 – 1974) installiert,50 der bis 1934 in diesem Amt blieb.51 In seine Amtszeit fiel die staatliche Anerkennung der Baptisten als Religionsgemeinschaft in Rumänien (1928). Ein dokumentierter Vorfall belegt allerdings, dass der Alltag nach wie vor von Vorbehalten bestimmt wurde: Im Dezember 1929 fuhr Dermann mit einem der Söhne Martin Isslers 45
Vgl. Teutsch, G.: Vereinigungskonferenz deutscher Baptistengemeinden in Cataloi, Rumänien, in: Täufer-Bote, Nr. 11 – 12/1933, S. 5. 46 Vgl. Zidaru, Marian: Date despre germanii dobrogeni din ca˘ la˘ toria lui Theo Steinbrucker în Dobrogea (1934 – 1935) [Daten zu den Deutschen in der Dobrudscha von der Dobrudscha-Reise Theo Steinbruckers (1934 – 1935)], in: Transilvania 36 (2007) H. 4 – 5, S. 11 – 23, hier: 15. 47 Jakob Rauschenberger (1902 – 1965), geb. in Ortachioi, Jugend in Catalui, Ausbildung am Theologischen Seminar in Hamburg, 1931 Heirat mit Elsbeth (1914 – 2016), Prediger in Kronstadt, 1951 Auswanderung nach Kanada und Gründung der German Baptist Church of Calgary, gest. in Prince Rupert BC, Kanada. Vgl. Rauschenberger-Highfield, Unser Leben; Zidaru, Date, S. 15; Issler/Issler, Die Isslers, S. 118 f. 48 August Adolph Benjamin Lück (1848 – 1926), geb. in Landsberg an der Warthe (pl. Gorzów Wielkopolski), Stationen in Wolhynien und Bessarabien, verheiratet mit Juliane Lück, geb. Gross (1868–?), gest. in Mangalia. Vgl. Byford, Peasants and Prophets, S. 62; Mitu, Istoria, S. 30 – 32. 49 Vgl. Byford, Peasants and Prophets, S. 62. 50 Jakob Dermann (1886 – 1974), geb. in Cobadin, Pastor in Atmagea, Teilnahme am Ersten Weltkrieg als rumänischer Soldat, 1934 Pastor in Friedenstal, Bessarabien, gest. in Lingarten bei Heilbronn. Vgl. Rauschenberger-Highfield, Unser Leben, S. 18; Schlarb, Cornelia: Tradition im Wandel. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Bessarabien 1814 – 1940, Köln/ Weimar/Wien 2007, S. 464; Jahrbuch (Kalender) der Deutschen Bessarabiens 1940, S. 177. 51 Abschied von Prediger Dermann von Mangalia, in: Täufer-Bote, Nr. 1/1935, S. 6.
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Abb. 1: Die rumänische Dobrudscha in den Jahren 1913 – 1940.
nach Mamuslia zu einer baptistischen Versammlung. Das weckte den Argwohn der regionalen rumänischen Behörden, die dahinter eine Verschwörung von „Bolschewisten“ vermuteten. Die beiden wurden von der Polizei verhaftet und der Gendarmerie überstellt. Auf dem Weg nach Constant‚ a, der letztlich mit ihrer Freilassung endete, erfuhren sie von deutschen und rumänischen Glaubensbrüdern große Unterstützung.52 Dermann setzte sich nach außen und innen für die Verbesserung der kirchlichen Infrastruktur ein; bei einer Reise in die 1913 – 1940 zu Rumänien gehörende Süddobrudscha bemerkte er die kirchliche Unterversorgung der dort lebenden deutschen Kolonisten, die oftmals nicht einmal wüssten, welcher Konfession sie eigentlich angehörten.53 Ein Gemeindemitglied stiftete 1930 den Baugrund für die Errichtung einer eigenen Kirche an der Strada Mihai Viteazu Nr. 16, zu der am 10. März 1931 der Grundstein gelegt wurde. Noch im selben Jahr wurde das Gotteshaus mit Mitteln aus dem
52 53
Vgl. Dermann, Jakob: Auf Apostelpfaden, in: Täufer-Bote, Nr. 2/1930, S. 2. Vgl. Auslandsdeutschennot!, in: Täufer-Bote, Nr. 3/1930, S. 5.
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europäischen Ausland fertiggestellt.54 1933 folgte auch in der Außenstation Sarighiol ein baptistisches Bethaus.55 Die meisten Gemeindemitglieder waren Deutsche, mitunter konvertierten aber auch rumänische Familien zum baptistischen Glauben.56 Die Taufen wurden im See von Mangalia (rum. Balta Mangalia oder Mlas‚ tina Hergheliei) beziehungsweise im Schwarzen Meer vorgenommen.57 Von Dermann existiert ein Foto, das ihn vor der örtlichen Esmahan-Sultan-Moschee aus dem 16. Jahrhundert, in Gesellschaft der muslimischen Prominenz des Städtchens zeigt.58 Mit den geistlichen Persönlichkeiten der Moscheegemeinde verband ihn eine persönliche Freundschaft, und offenbar wurde in Mangalia in seinen Amtsjahren so etwas wie ein interreligiöser Dialog gepflegt, wie er im Alltag auch von anderen Orten in der Dobrudscha überliefert wird. Das Besondere an dieser spezifischen Situation war allerdings, dass der Austausch von den Verantwortlichen beider Gemeinden praktiziert wurde und offenbar die Gespräche über Religionsgrenzen einfacher waren als diejenigen über Konfessionsgrenzen. Als belastend empfanden viele Baptisten das problematische Verhältnis zu den Lutheranern. Aus dem zur Gemeinde Mangalia gehörenden Dorf Mamuzlia wurde etwa im Februar 1934 berichtet, dass die Baptisten aus einem öffentlichen Brunnen des Ortes, der allen Bewohnern zur Verfügung stand, Taufwasser holen wollten, aber von den Lutheranern fortgejagt wurden, sodass das Wasser aus dem Nachbardorf beschafft werden musste.59 1936 wurde Michael Theil aus Temeswar (rum. Timis‚ oara, ung. Temesvár) als Prediger in Mangalia eingeführt.60 In seine dreijährige Amtszeit fällt die in Mangalia abgehaltene 23. Vereinigungskonferenz der deutschen Baptisten Rumäniens vom 16. bis 18. September 1938.61 Das Gotteshaus in Mangalia ging nach dem Ende der deutschen Baptistengemeinde 1940 in Staatsbesitz über. In der Zeit der kommunistischen Herrschaft wurde das Gebäude zunächst in ein Kulturhaus umgewandelt, später in ein Lebensmittelgeschäft. Erst nach 1990 wurde es der örtlichen rumänischen Baptistengemeinde „Emanuel“ überlassen. 54
Vgl. Mitu, Istoria, S. 38 f. Vgl. Dermann, Jacob: Mangalia, Rumänien, in: Täufer-Bote, Nr. 4/1933, S. 7. 56 Vgl. Mitu, Istoria, S. 117 f. 57 Vgl. Fischer, Emil: Die Schwaben in der Dobrudscha, in: Holdegel, Georg/Jentzsch, Walther (Hrsg.), Deutsches Schaffen und Ringen im Ausland. Ein Quellenlehrbuch für Jugend und Volk, für Schule und Haus. Erster Band: Österreich-Ungarn, Balkan, Orient, Leipzig 1916, S. 111 – 115, hier: 114. 58 Online unter https://bisericacrestinabaptistaemanuelmangalia.files.wordpress.com/2011/ 03/20.png, [Zugang 11. 04. 2022]. 59 Mamuzlie, in: Täufer-Bote, Nr. 2/1934, S. 5. 60 Michael Theil, ab 1940 Prediger in Großpold (rum. Apoldu de Sus, ung. Nagyapold), Siebenbürgen; Kühn, Karl: Mangalia, Dobrudscha, in: Täufer-Bote, Nr. 7/1936, S. 6. 61 Vgl. Schlier, J[ohann]: Die 23. Vereinigungskonferenz der deutschen Baptisten Rumäniens, in: Täufer-Bote, Nr. 11/1938, S. 7. 55
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IV. Die Gemeinde Cogealac Die dritte deutsche Baptistengemeinde in der Dobrudscha befand sich in Cogealac: Sie zählte zu Beginn des 20. Jahrhunderts 52 Angehörige.62 Die dortigen Baptisten besaßen ein Bethaus „in unmittelbarer Nähe“ der evangelisch-lutherischen Kirche.63 Dort waren Theologen im Einsatz, die später eine wichtige Rolle unter den Baptisten spielen sollten. In den Jahren 1905 – 1908 war Emil Meister (1876–?), ein gebürtiger Schweizer, Prediger dieser Gemeinde.64 In den Jahren 1910 – 1919 wirkte in Cogealac der baptistische Theologe Johannes Fleischer (1886 – 1955), der aus dem Deutschen Reich stammte.65 Mit seinem Weggang hinterließ er in Cogealac eine Vakanz.66 Vorletzter deutscher Baptistenprediger in Cogealac war Jakob Lutz, der einen Fortbildungskurs in Hamburg absolviert hatte und 1940 mit seiner Familie ausgesiedelt wurde.67 Vom 24. bis 26. Oktober 1930 fand in Cogealac die 15. Vereinigungskonferenz der deutschen Baptisten in Rumänien statt. Dazu reisten 39 Vertreter von elf baptistischen Gemeinden in Großrumänien an, die insgesamt 1.150 Gläubige repräsentierten.68 Am 7. Juni 1933 wurden 28 neue Mitglieder in die Baptistengemeinde Cogealac aufgenommen. Die besondere Atmosphäre einer Taufzeremonie im Sommer 1934 schilderte Lutz mit folgenden Worten: „Am 9. Juni hatten wir bei Cogealia im Limann am Schwarzen Meer ein schönes Tauffest. Wir hatten viele Zuschauer und Zuhörer von verschiedener Nationalität. Aus diesem Grund 62
Vgl. Byford: Peasants and Prophets, S. 62. Vgl. Honigberger, Rudolf: Eine Dobrogeafahrt, in: Die Karpathen, 7. Jg., Nr. 22, 15. 11. 1913, S. 110 – 121, hier: 115; Georgescu, Coloniile, S. 32. 64 Emil Meister (1876–?), Jugend in Lohn, Kanton Schaffhausen, Ziegeleiarbeiter, von der Missionsgesellschaft Rämismühle/Turbental in die Dobrudscha entsandt, 1908 Prediger in Sofular, 1909 Prediger in Cocos‚ u, 1913 – 1922 in der Schweiz, 1922 – 1928 erneut Prediger in Cocos‚ u. Vgl. Kundig, Werner: Drei Schweizer Schicksale in Rumänien, in: Zürcher Illustrierte, 13. Jg., Nr. 8, 19. 02. 1937, S. 252 f. 65 Johannes Fleischer (1886 – 1955), geb. in Rixdorf bei Berlin, Ausbildung zum Lithografen, Studium am Baptistenseminar in Hamburg, 1914 – 1916 Kriegsdienst im deutschen Heer, Heirat mit Karolina Mack, 1919 – 1928 Prediger in Bochum-Hermannshöhe, 1928 – 1944 Prediger der deutschen Baptistengemeinde Bukarest, 1930 – 1942 Herausgeber des Täufer-Boten. Monatsschrift der Baptistengemeinden deutscher Zunge in den Donauländern, 1944 – 1945 Internierung, 1946 Ausweisung aus Rumänien, 1947 – 1948 Pastor in BremenLesum, 1948 – 1950 Pastor in Witten an der Ruhr und Bochum-Bärendorf, gest. in Witten an der Ruhr. Vgl. Fleischer, Roland: Art. Johannes Fleischer, in: Historisches Lexikon des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, https://www.lexikon.befg.de/doku.php?id=jo hannes_fleischer [Zugang 14. 02. 2021]. 66 Vgl. Byford, Peasants and Prophets, S. 62. 67 Lutz’ Lebensdaten ließen sich bisher nicht ermitteln. Vgl. Rauschenberger-Highfield, Unser Leben, S. 18; Zidaru, Date, S. 16. 68 Vereinigungskonferenzen, in: Täufer-Bote, Nr. 10/1930, S. 8; Die diesjährige Vereinigungskonferenz der deutschen Baptisten in Rumänien, in: Täufer-Bote, Nr. 1/1931, S. 7. 63
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sprach Br. Strobel rumänisch und ich deutsch, und konnten wir vor vielen Menschen von Jesus zeugen. Es konnten 12 Seelen getauft werden. Es hatten sich 17 Seelen gemeldet, aber die anderen konnten ihre Papiere nicht in Ordnung bringen. Wir werden also in diesem Jahr, will’s Gott, noch ein Tauffest haben. Es offenbart sich hier auch unter Türken und Bulgaren ein Suchen und Fragen nach Gottes Wort. Wir verkaufen ihnen Evangelien in ihrer Sprache und hie und da verschenken wir sie auch. Wir freuen uns über den Sieg, müssen aber auch wahrnehmen, daß sich die Macht der Finsternis steigert.“69
Die letzten Jahre der deutschen Baptistengemeinde von Cogealac begleitete Immanuel Eisemann als Prediger, der zuvor im Banat gearbeitet hatte.70 V. Die russisch-deutsche Baptistengemeinde Tulcea Mit etwas zeitlicher Versetzung konstituierte sich 1862 – 1872 in Tulcea eine zweisprachige Baptistengemeinde, deren Mitglieder ebenfalls aus dem Russländischen Reich geflohen waren und die aus ethnischen Russen und Deutschen bestand. Sie hatten ihren Treffpunkt in Tulcea im Haus von Leon Grenaderov (1846–?) in der Strada Vasile Lupu. Als 1870 die örtliche mennonitische Gemeinde, die ihre Wurzeln im Gebiet von Odessa gehabt hatte, geschlossen in die USA auswanderte, überließ sie den Baptisten ihr Bethaus. Die beiden bereits erwähnten Missionare Josef Edinger und Jacob Klundt aus dem nahen Cataloi begannen, in Tulcea an deutsche und russische Gläubige Bibeln zu verteilen. In Tulcea ließ sich 1886 der russlanddeutsche Prediger Johann Wieler (1839 – 1888) nieder, der aufgrund seiner kirchlichen Aktivitäten aus dem Russländischen Reich ausgewiesen worden war. Er war zunächst nach Berlin geflohen, musste jedoch nach dem Ablauf seiner achtmonatigen Aufenthaltserlaubnis im Deutschen Reich nach Rumänien weiterziehen. Wieler übernahm in Tulcea die Leitung der Exilgemeinde und begann am 15. Juli 1887 mit dem Neubau eines baptistischen Bethauses an der Strada Traian nr. 45. Bei einem unglücklichen Sprung vom Dach zog er sich tödliche Verletzungen zu und starb noch vor der Fertigstellung des Gotteshauses.71 Dieses wurde schließlich am 9. Oktober 1888 eingeweiht. Die folgenden Prediger waren jeweils nicht sehr lange in der Gemeinde Tulcea tätig: von 1890 bis 1894 etwa Evgenij Gerasimenko,72 eine Zeit, in der erste Spannungen zwischen den russischen und den deutschen Gemeindemitgliedern auftraten. Diese setzten sich auch unter dem Prediger Vasili Pavlov zwischen 1895 und 1901 69
Br. Pred. J. Lutz, Cogealac, Rum, in: Täufer-Bote, Nr. 7/8, Juli/August 1930, S. 6. Auch zu Immanuel Eisemann liegen lediglich wenige Daten vor: Prediger in Hatzfeld (rum. Jimbolia, ung. Zsombolya, srb. 7_]R_z), 1936 Heirat mit Lydia Hempert. Vgl. Teutsch, G.: Abschied in Jimbolia, in: Ta¨ufer-Bote, Nr. 5/1937, S. 5. 71 Vgl. Issler, Gustav: Spuren des Segens, in: Mennonitische Rundschau, 102. Jg., Nr. 4, 14. 02. 1979, S. 13; Dyck, Johannes: Art. Wieler, Johann, in: Mennonitisches Lexikon, mennlex.de/doku.php?id=art:wieler_johann [Zugang 19. 03. 2022]. 72 Evgenie Gherasimenko, 1894 Prediger in Ruse, Bulgarien. 70
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fort.73 Er spielte eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des Baptismus im Russländischen Reich.74 In Tulcea gelang es ihm allerdings nicht, die Einheit der Gemeinde aufrecht zu erhalten: Die deutschen Baptisten der Stadt schlossen sich als Außenposten der Gemeinde in Cataloi an, wohingegen die russischen Baptisten organisatorisch eigener Wege gingen.75 VI. Auswanderungen nach Übersee Im Jahre 1882 setzte eine religiös und sozial motivierte Auswanderung von Baptisten aus der Dobrudscha nach Carrington im damaligen Dakota Territory (USA) ein, die in einigen Fällen weiter ins westliche Kanada führte, dessen fruchtbare Ackerbau- und Weidegebiete damals infrastrukturell erschlossen wurden. Für manche der deutschen Baptistengemeinden in der Dobrudscha bedeutete die Nordamerika-Auswanderung einen regelrechten Aderlass: Zählte etwa die baptistische Gemeinschaft von Cataloi 1892 etwa 200 Gläubige, waren es 1906 gerade noch 50; noch stärker war im gleichen Zeitraum der Rückgang in den Filialorten Atmagea von 95 auf 15 und in Ciucurova von 107 auf 15. In Tariverde verringerte sich die Gemeinschaft um mehr als die Hälfte von 31 auf 14 Seelen.76 Zunächst wanderten sieben Familien nach Carrington aus.77 Baptisten aus Cataloi gründeten am 2. November 1884 die First German Baptist Church in Carrington, die später durch Zuwanderer aus der Dobrudscha, aber auch aus Bessarabien und anderen Regionen des südlichen Russländischen Reiches noch weiteren Zuwachs erhielt.78 Insgesamt wanderten 1884 etwa 50 Prozent der Baptisten aus Cataloi nach Nordamerika aus.79 Die Auswanderung verlief häufig nach dem Prinzip einer Kettenmigration, indem die bereits in den USA oder in Kanada angekommenen Angehö73 Vasili Gurevic Pavlov (1854 – 1924), 1871 Taufe, 1875 – 1876 Studium in Hamburg, 1876 Ordinierung, Tätigkeit in unterschiedlichen Gemeinden des Russländischen Reichs, von den russischen Behörden verhaftet und 1887 – 1891 nach Orenburg verbannt, Auswanderung nach Tulcea, 1901 Rückkehr nach Tiflis, 1905 Teilnehmer des Ersten Baptisten-Weltkongresses in London, 1908 Teilnehmer des Europäischen Baptisten-Kongresses in Berlin, 1911 Teilnehmer des Zweiten Baptisten-Weltkongresses in Philadelphia, gestorben in Baku. Vgl. Rushbroke, J[ames] H[enry]: Vasili Pavlov. A Russian Baptist Pioneer, in: The Baptist Quarterly 6 (1933), S. 361 – 367; Dobrincu, Sub puterea, S. 174. 74 Vgl. Dobrincu, Sub puterea, S. 46. 75 Vgl. ebd. 76 Vgl. Traeger, Die Deutschen, S. 167; Enßlen, Die Kolonie Tariverde, S. 98; Constantinescu, Anghel: Monografia Sfintei Episcopii a „Duna˘ rei de Jos“ [Monografie des Heiligen Bistums der „Unteren Donau“], Bucures‚ ti 1906, S. 365. 77 Vgl. Sallet, Richard: Russian-German Settlements in the United States. Translated by Lavern J. Rippley und Armand Bauer, Fargo ND 1974, S. 26 f.; Klukas, Herbert: Ein Beitrag zur Auswanderungsgeschichte unserer Landsleute nach Nordamerika, in: Der Dobrudschabote 21 (1997) H. 72, S. 38 – 40, hier: 38. 78 Vgl. Nelsen, Marvel: Down Home… Up North. o. O. 1933, S. 5. 79 Vgl. Dobrincu, Sub puterea, S. 46.
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rigen für die ausreisewilligen Verwandten in der Heimat das Geld für die Bahnreise zu einem der Nordseehäfen und für die Schifffahrt über den Atlantik vorstreckten. Ab 1885 ließen sich baptistische Auswanderer aus der Dobrudscha, die zuvor in Carrington gelebt hatten, in der kanadischen Provinz Saskatchewan, etwa 40 Kilometer nordöstlich von Regina (ursprünglich: „Pile of Bones“), auf halbem Wege zwischen dieser Stadt und Fort Qu’Appelle entlang der Eisenbahnlinie Regina – Melville unter Führung der Brüder Seiboldt aus Tulcea nieder.80 Die neue Kolonie, die sich durch fruchtbare Ackerböden auszeichnete, erhielt zunächst den Namen „Neu-Tultscha“. Im Jahre 1887 wurde zirka 7 Kilometer südlich des Dorfes ein baptistischer Friedhof angelegt.81 Als der Prediger Heinrich Coelestin Schmieder (1863 – 1933) im Jahre 1889 aus Philadelphia (USA) in den Ort kam, äußerte er, er erinnere ihn an den Garten Eden. Philipp Mang, Sr., antwortete darauf, es handle sich aufgrund der waldreichen Gegend wohl eher um einen „Edenwald“. Dieser Name setzte sich gegenüber „Neu-Tultscha“ durch, als 1890 ein eigenes Postamt und damit auch der Ort offiziell registriert wurde,82 wobei den Behörden in Ottawa ein Schreibfehler unterlief und so aus „Edenwald“ letztlich „Edenwold“ wurde.83 Ab 1890 ließen sich in Edenwold auch deutsche Auswanderer aus der Bukowina nieder.84 Als die Ernten ab 1892 mehrere Jahre hintereinander schlecht ausfielen, wanderten manche deutsche Ansiedler nach North Dakota bzw. nach Texas aus, kehrten allerdings zumeist nach ein paar Jahren wieder zurück. So zählte man im Edenwold Farm District im Jahre 1896 insgesamt 265 deutsche Familien.85 Die Baptisten gründeten 1886 in Edenwold eine eigenständige Kirchengemeinde, die von Zeit zu Zeit Prediger Friedrich August Petereit (1850 – 1922) von der Baptist Union of Western Canada besuchte. Er wurde in den späten 1880er-Jahren Superintendent der German Baptist Missions in Manitoba and the North West.86 Zwanzig Baptistenfamilien aus der Dobrudscha und der Bukowina, die zunächst in Edenwold gelebt hatten, ließen sich um 1905 in Serath, bei Quinton und Raymore, nieder. Wie beschwerlich der Neuanfang vieler Baptisten im vermeintlich gelobten Land war, lässt sich anhand einer Familiengeschichte illustrieren: 1888 traf das Ehepaar Joseph und Helena Edinger mit zwei Kindern in North Dakota ein. Joseph Edinger 80 Vgl. Lehmann, Heinz: The German Canadians 1750 – 1937. Immigration, Settlement & Culture. Translated, edited and introduced by Gerhard P. Bassler. St. John’s NF 1986, S. 223. 81 Lemma „Edenwold“, in: McLennan, David: Our Towns. Saskatchewan Communities from Abbey to Zenon Park, Regina SK 2008, S. 107 f. 82 The Following New Post Offices were Established in Canada on the 1st November 1890, in: The Canada Gazette, Jg. 24, Nr. 21, 22. 11. 1890, S. 893. 83 Vgl. Klukas, Ein Beitrag, S. 39. 84 Vgl. Lehmann, Heinz: Das Deutschtum in Westkanada, Berlin 1939, S. 84; Lehmann, The German Canadians, S. 126; Bujea, Eleanor: Romanians in Canada, Grass Lake MI 2009, S. 22. 85 Vgl. Lehmann, The German Canadians, S. 225. 86 Vgl. McLaurin, Colin Campbell: Pioneering in Western Canada. The Baptists, Calgary 1939, S. 113, 117, 262; Lehmann, Das Deutschtum in Westkanada, S. 200.
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war 1859 im Russländischen Reich zur Welt gekommen, aus religiösen Gründen mit seinen Eltern 1866 in die Dobrudscha übersiedelt, wo die Familie zunächst in Atmagea Fuß fasste. Im April 1888 machte sich das Ehepaar auf den sechs Wochen dauernden Weg in die USA. Von Bremerhaven aus überquerten sie den Atlantik ins kanadische Québec, von dort aus ging die Reise per Eisenbahn weiter nach Carrington. Von den drei Söhnen starb einer im Kleinkindalter auf der Reise und wurde in Detroit beigesetzt. Zunächst lebten die Edingers in einer bescheidenen Hütte, einige Meilen von Carrington entfernt, und bewirtschafteten mit einem Ochsen und einem Handpflug das ihnen zugewiesene Siedlerland. Nach drei Jahren ersetzten sie die Hütte durch ein solides Haus und kauften zwei Pferde hinzu. Um die inzwischen sehr kinderreich gewordene Familie unterbringen zu können, wurde schließlich 1905 ein zweistöckiges Haus errichtet, das als Zeichen des inzwischen erarbeiteten Wohlstands gelten konnte.87 Einer ihrer Söhne war der noch in Cataloi geborene Christian H. Edinger (1882 – 1939). Er studierte 1904 – 1910 am Rochester Theological Seminary im Bundesstaat New York und wurde baptistischer Pastor.88 In Monroe, Orange NY, heiratete er am 10. Mai 1910 Helene A. Noehring, mit der er drei Söhne und eine Tochter hatte. Sein weiterer Lebensweg führte ihn nach Spokane WS, wo er als deutschsprachiger Pastor an der First German Baptist Church wirkte,89 1920 nach Kern CA und schließlich nach Wichita Falls TX. Nach der ersten Auswanderungswelle in den 1880er-Jahren folgte eine zweite Migrationsbewegung in den 1900er-Jahren, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs andauerte. Die gemeinsame Konfessionszugehörigkeit der ausgewanderten Baptisten bildete ein wirkmächtiges Netzwerk, das vielen Menschen Halt bot und auch lange nach der Auswanderung die Kontakte zwischen den Fortgegangenen und den Dagebliebenen in der Dobrudscha aufrechterhielt. Manche von ihnen kommunizierten über ritualisierte Presseberichte, die etwa in der Rubrik „Aus Rumänien“ im Deutschen Herold in South Dakota abgedruckt wurden. Dobrudschaner in den USA finanzierten nicht selten ihren Verwandten und engen Freunden in der Dobrudscha Abonnements dieser Zeitungen, so dass zumindest bis zum Ersten Weltkrieg und zum Teil noch bis in die Zwischenkriegszeit durch die Zirkulation dieser Zeitungen zwischen der amerikanischen und der rumänischen Provinz das Wissen voneinander aufrechterhalten blieb. Deutsche Baptistengemeinden in den USA setzten auf lange Dauer das Erbe der Gemeinden in der Dobrudscha fort – häufig mit der Folge, dass diese Gemeinden auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine bevorzugte Anlaufadresse für diejenigen Menschen wurden, die nach den NS-Umsiedlungen 1940 und den Erfahrungen von Lageraufenthalt, Ansiedlung in von Deutschland okkupierten Gebieten Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens, der Flucht im Januar
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Vgl. Nelsen, Down Home…, S. 3 – 6. Vgl. Rochester Theological Seminary General Catalogue, S. 271. 89 Vgl. Anzeige, in: The Rathdrum Tribune, 28. Jg., Nr. 22, 27. 10. 1922, S. 4. 88
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1945 und dem schwierigen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland erneut ihr Glück in Übersee suchten. VII. Rumänische Baptistengemeinden in der Dobrudscha Rumänische Baptistengemeinden wurden im Vergleich zu den deutschen Gemeinden erst mit reichlicher Verzögerung gegründet; die Initiative dazu kam von ethnischen Rumänen außerhalb des damaligen Königreichs Rumänien, konkret aus Siebenbürgen und dem Banat. Der Impuls von außen lässt sich damit erklären, dass lange Zeit im Regat protestantische Aktivitäten unter Rumänen insgesamt nicht toleriert wurden und auch nach deren rechtlicher Zulassung in der Praxis noch lange administrative, aber auch soziale Vorbehalte bestanden.90 Die erste rumänischsprachige Baptistengemeinde in der Dobrudscha formierte sich 1902 in Cernavoda˘ , dem an der Donau gelegenen Städtchen an der Ostseite der kilometerlangen Eisenbahnbrücke, die 1895 in Betrieb genommen worden war. Dort stellte ein Privatmann sein Haus als Versammlungsort für die taufgesinnten Christen zur Verfügung.91 In Cernavoda˘ wirkte als Prediger Radu Tas‚ ca˘ (1884 – 1962), der ebenso wie sein Bruder Nicolae Tas‚ ca˘ aus Kurtitsch (rum. Curtici, ung. Kürtös) bei Arad, damals noch im Königreich Ungarn, stammte.92 Die weitere Entwicklung des rumänischen Baptismus in der Dobrudscha ist untrennbar mit der Geschichte der Familie Baban verknüpft. Dumitru Baban (1827 – 1915) ließ sich 1907 taufen; auch sein Sohn Nicolae Baban (1856 – 1929) empfing 1907 in der Donau bei Cernavoda˘ die Erwachsenentaufe. Er wurde 1915 ordiniert und veranlasste den Bau eines Bethauses. Mit der Angliederung ehemals habsburgischer und russländischer Gebiete an das Königreich Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg entstand Großrumänien (România Mare). Nicht nur auf politischer, sondern auch auf religiöser Ebene bildete die Integration von Provinzen mit unterschiedlichen rechtlichen und kulturellen Traditionen eine Herausforderung. Die rumänischsprachigen baptistischen Gemeinden schlossen sich 1919/20 zur Baptistenunion Rumäniens (Uniunea Comunita˘ t‚ ilor Cres‚ tine Baptiste din România) mit Sitz in Bukarest zusammen.93 In der Dobrudscha lebten zu jener Zeit nicht mehr als 77 rumänischsprachige Baptisten.94 90
Vgl. Byford, Peasants and Prophets, S. 64. Vgl. Dobrincu, Sub puterea, S. 47; Ba˘ jenaru, Aurel: Drumuri dobrogene – Români anticres‚ tini în Dobrogea [Dobrudschanische Wege – antichristliche Rumänen in der Dobrudscha], 05. 04. 2019, https://techighiol.com/romani-anticrestini-in-dobrogea [Zugang 23. 03. 2022]. 92 Vgl. Ghit‚ a˘ , Marian: Istoria Bisericii Cres‚ tine Baptiste „Sfânta Treime“ din Constant‚ a [Die Geschichte der Baptistenkirche „Heilige Dreifaltigkeit” in Constant‚ a], in: Buletin Duminical 2 (2012) H. 20, S. 1 – 3, hier: 1. 93 Vgl. Silves‚ an, Marius: Identitatea baptista˘ s‚ i comunismul în România [Die baptistische Identität und der Kommunismus in Rumänien], in: Budeanca˘ , Cosmin/Olteanu, Florentin (Hrsg.), Identita˘ t‚ i sociale, culturale, etnice s‚ i religioase în comunism [Soziale, kulturelle, 91
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Nicolae Babans Bruder Dumitru N. Baban (1896 – 1975) wurde 1917 in Bukarest getauft. Er zählte 1924 zu den ersten Absolventen des Baptistischen Theologischen Seminars. Diese Hochschule war zunächst 1921 in Buteni (ung. Buttyin) bei Arad gegründet, aber bereits im November desselben Jahres in die Hauptstadt Bukarest verlegt worden. Deren Arbeit förderte die Southern Baptist Convention in den USA.95 Dumitru N. Baban wurde bereits Ende 1921 vom Seminar nach Constant‚ a abgeordnet, wo er 1926 seine deutsche Glaubensgenossin Christina Rauser (1901 – 1968) heiratete, noch ehe er 1924 ordiniert wurde.96 Er arbeitete eng mit dem deutschen Prediger Martin Issler aus Cataloi zusammen.97 Beide vollzogen am 27. Juni 1924 in Mamaia gemeinsam die Taufe von 45 Personen, weitere fünf folgten am 17. August und nochmals acht am 2. November 1924.98 Dumitru Baban wurde zunächst bis 1928 als Leiter der Kirchengemeinde von Cogealac eingesetzt, während Jean I. Sta˘ neschi (1900 – 1980), der spätere Generalsekretär der Baptistenunion Rumäniens und Direktor des Theologischen Seminars in Bukarest, in den Jahren 1925 – 1928 die Gemeinde Constant‚ a betreute. Danach wurden beide Gemeinden unter der Leitung Babans zusammengefasst. Die Zahl der Gemeindemitglieder von Constant‚ a stieg in dieser Zeit an:99 Jahr
1922
1928
1930
1933
1938
1948
Zahl
4
20
25
54
83
62
In der Zwischenkriegszeit widersetzte sich den Baptisten in Rumänien insbesondere die Rumänisch-Orthodoxe Kirche.100 Staat und nicht-orthodoxe Konfessionen näherten sich zu Anfang der 1930er-Jahre etwa an, als sich die Regierung in Bukarest den Freikirchen gegenüber aufgeschlossener zeigte. Unter diesen Prämissen entstand 1933 die Rumänische Baptistische Kirchengemeinschaft Constant‚ a (Comunitatea Bisericeasca˘ Baptista˘ Româna˘ din Constant‚ a), zu deren Sprengel die baptistischen Christen der gesamten damaligen Nord- und Süddobrudscha, also der Bezirke Conethnische und religiöse Identitäten im Kommunismus], Bucures‚ ti 2015, S. 386 – 402, hier: 387. 94 Vgl. Bunaciu, Ioan: Istoria bisericilor baptiste din România [Die Geschichte der Baptistenkirchen in Rumänien], Oradea 2006, S. 259. 95 Vgl. Pope, Earl A.: Protestantism in Romania, in: Ramet, Sabrina Petra (Hrsg.), Protestantism and Politics in Eastern Europe and Russia. The Communist and Post-Communist Eras, Durham-London 1992, S. 157 – 208, hier: 177. 96 Vgl. Baban, Octavian D.: Pastori baptis‚ ti din prima promot‚ ie a Seminarului, Dumitru Baban (1896 – 1975) [Baptistische Pastoren des ersten Abschlussjahrgangs am Seminar, Dumitru Baban (1896 – 1975)], https://www.academia.edu/68863616/Pastori_baptis‚ ti_din_pri ma_promot‚ ie_a_Seminarului_Dumitru_Baban_1896_1975_ [Zugang 30. 03. 2022], S. 12. 97 Vgl. Baban, Note, S. 40. 98 Vgl. Ghit‚ a˘ , Istoria, S. 2. 99 Ebd., S. 3. 100 Vgl. Coms‚ a, Grigorie Gh.: Zece ani de lupta˘ împotriva baptis‚ tilor [Zehn Jahre Kampf gegen die Baptisten], Arad 1930.
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stant‚ a, Tulcea, Caliacra und Durostor, zählten.101 1933 wurde auch in der Gemeinde Gra˘ dina eine neue Baptistengemeinde begründet, in der der aus Siebenbürgen stammende Gligor Cristea (1897 – 1988) predigte. Diese einvernehmliche Phase blieb nicht von langer Dauer: Am 14. Dezember 1938 verfügte der rumänische Kultusminister und orthodoxe Bischof Nicolae Colan (1893 – 1967) ein Verbot aller 1.602 Baptistengemeinden in Rumänien. Dieses Verbot wurde zwar im April 1939 durch einen Erlass des Ministerpräsidenten Armand Ca˘ linescu (1893 – 1939) wieder aufgehoben,102 doch in den Jahren 1942 – 1944 waren die Baptisten in Rumänien erneut nicht zugelassen.103 Nach dem Sturz des mit dem Dritten Reich eng verbündeten autoritären Regimes wurden am 31. August 1944 die bisher existierenden baptistischen Institutionen reaktiviert. Das Jahrviert zwischen 1944 und 1948 gilt als einigermaßen tolerante Phase. Dies änderte sich in den 1950er-Jahren, als das kommunistische Regime insgesamt eine kirchenfeindliche Politik betrieb. Ausgrenzungen, Verhaftungen und andere Formen der Diskriminierung bestimmten das Verhältnis zwischen Kirchengemeinschaft und Staat.104 Der aus der obenstehenden Zahlenreihe ersichtliche leichte Mitgliederrückgang in Babans letztem Dienstjahr 1948 erklärt sich mit der Teilung der bisherigen und der Gründung einer zweiten Baptistengemeinde in Constant‚ a. Baban wurde von den staatlichen Behörden seines Amtes enthoben, begab sich ins innere Exil nach Siebenbürgen, wurde aber doch zur Zwangsarbeit beim Bau der Donau-Schwarzmeer-Kanals eingesetzt.105 Nach Auffassung des Historikers Marius Silves‚ an befanden sich die rumänischen Baptisten in der Zeit der kommunistischen Herrschaft in einem Dilemma. Das prinzipielle Versprechen der kommunistischen Ideologie als einer „politischen Religion“ mit utopistischen und chiliastischen Elementen konnte partiell mit bestimmten baptistischen Vorstellungen – etwa dem Glauben an die Erlösung – in Kongruenz gebracht werden.106 Andererseits wurden die Baptisten wie alle Religionsgemeinschaften staatlicherseits vom Geheimdienst Securitate kontrolliert, Beschränkungen ausgesetzt und unterdrückt. Davon waren auch die Baptistengemeinden in der Dobrudscha nicht ausgenommen. Nach dem Ende der kommunistischen Diktatur erlebte der Baptismus in Rumänien einen neuen Aufschwung; annähernd 2.000 Baptistenkirchen im gesamten Land
101
Vgl. Ghit‚ a˘ , Istoria, S. 2. Baptisten in Rumänien wieder legal, in: Banater Deutsche Zeitung, 21. Jg., Nr. 92, 25. 04. 1939, S. 4. 103 Vgl. Pope, Protestantism, S. 177. 104 Vgl. Johnson, A Global Introduction, S. 316. 105 Vgl. Baban, Pastori baptis‚ ti, S. 18 f. 106 Vgl. Silves‚ an, Identitatea baptista˘ , S. 399 f. 102
Die Baptisten in und aus der Dobrudscha
117
wurden 2007 von etwa 110.000 Gläubigen frequentiert.107 Hatte der Anteil der Baptisten in Rumänien im Jahr 1930 noch 0,34 Prozent betragen, belief er sich 1992 auf 0,48 Prozent, 2002 auf 0,58 Prozent und 2011 auf 0,60 Prozent, wenngleich die absoluten Zahlen leicht rückläufig waren. In der rumänischen Dobrudscha verharrte hingegen der Anteil der Baptisten an der regionalen Bevölkerung seit 1992 relativ konstant bei 0,1 Prozent.108 Damit ist der Baptismus in der seit 1878 zu Rumänien gehörenden Region vergleichsweise deutlich schwächer vertreten als in den erst nach 1918 mit Rumänien vereinten Gebieten Siebenbürgen oder Banat. Es scheint, dass die dominante Position der Rumänisch-Orthodoxen Kirche und deren jahrzehntelange Intoleranz gegenüber jeglicher Form von evangelischem Christentum im Regat tendenziell bis in die Gegenwart nachwirkt, während sich in den bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörenden Landesteilen, in denen eine gemäßigte Religionspolitik betrieben wurde, freikirchliche Tendenzen leichter entfalten konnten. Die Baptisten in Rumänien sind aktuell auf Landesebene in der Union der Baptistenkirchen (Uniunea Bisericilor Cres‚ tine Baptiste, UBCB) organisiert, die sich in 14 Gebietszusammenschlüsse (comunita˘ t‚ i teritoriale) gliedert.109 Für die Dobrudscha ist dabei einerseits die Baptisten-Gemeinschaft Bra˘ ila (Comunitatea Cres‚ tina˘ Baptista˘ Bra˘ ila) zuständig, die unter anderem die Gemeinden des politischen Bezirks Tulcea umfasst, darüber hinaus den außerhalb der Dobrudscha gelegenen walachischen Bezirk Bra˘ ila und den moldauischen Bezirk Galat‚ i. Andererseits ist die Baptisten-Gemeinschaft Constant‚ a (Comunitatea Cres‚ tina˘ Baptista˘ Constant‚ a) relevant, die die Gemeinden des Bezirks Constant‚ a und ferner die der nicht zur Dobrudscha gehörenden walachischen Bezirke Ca˘ la˘ ras‚ i und Ialomit‚ a einschließt.110 Im politischen Bezirk Constant‚ a liegen die Gemeinden:111 Ort
Gemeinde
Cernavoda˘
Betel
1902
Constant‚ a
Biserica Nr. 1/Sfânta˘ Treime [Hl. Dreifaltigkeit]
1922
Constant‚ a
Biserica Nr. 2/Golgota
1948
Constant‚ a
Biserica Nr. 3/Sperant‚ a [Hoffnung]
2003
Constant‚ a
Biserica Nr. 4/Nova Vita
?
Constant‚ a
Biserica Nr. 5/ARKA
2010
Corbu de Jos
Harold [Anmut]
1950
Hârs‚ ova
Sfânta˘ Treime [Hl. Dreifaltigkeit]
1989
Mangalia
Emanuel
1994
107
seit
Vgl. Johnson, A Global Introduction, S. 316. Ce ne spune recensa˘ mântul din anul 2011 despre religie? [Was sagt uns die Volksbefragung 2011 über Religion?] Hrsg. vom Institutul Nat‚ ional de Statistica˘ , Bucures‚ ti 2013. 109 Vgl. Arad, Baca˘ u, Bra˘ ila, Bucures‚ ti (Bukarest), Caras‚ , Cluj-Napoca (Klausenburg), Constant‚ a (Konstanza), Hunedoara, Oradea (Großwardein), Oltenia, Valea Cris‚ ului Alb, Sibiu (Hermannstadt), Suceava (Suczawa), Timis‚ oara (Temesvar). 110 Vgl. Bunaciu, Istoria, S. VII, S. XII f. 111 Ebd., S. 261 – 273. 108
118
Tobias Weger
Ort
Gemeinde
seit
Medgidia
Sfânta˘ Treime [Hl. Dreifaltigkeit]
1994
Murfatlar
Netanya
1979
Nazarcea
Sfânta˘ Treime [Hl. Dreifaltigkeit]
?
Na˘ vodari
Sperant‚ a [Hoffnung]
?
Na˘ vodari
Maranata
?
Siminoc
Betel
?
Tariverde
Biruint‚ a [Seige]
?
Viis‚ oara
Emanuel
1910
Im politischen Bezirk Tulcea existieren folgende Gemeinden:112 Ort
Gemeinde
seit
Babadag
(Bethaus)
1990
Baia
(Bethaus)
1991
Cataloi
Biserica baptista˘
?
Ciucurova
(Bethaus)
1988
Isaccea
(Bethaus)
1995
Lucavit‚ a
(Bethaus)
1971
Ma˘ cin
(Bethaus)
1989
Tichiles‚ ti
(Bethaus in der Leprosenanstalt)
1945
Tulcea
Betel
1888
VIII. Fazit Die Geschichte des Baptismus in der Dobrudscha begann als ethnisches Projekt, indem deutsche Zuwanderer aus dem Russländischen Reich im 19. Jahrhundert mit tatkräftiger Unterstützung vor allem aus Hamburg, London und den USA diese Konfession etablierten. Partiellen Beistand erhielten sie von Menschen mit ethnisch russischem Hintergrund. Die anfänglich zurückhaltende Mission unter Rumänen erklärt sich allerdings nicht aus nationalen Vorbehalten seitens der Deutschen, sondern aus einer Reserviertheit, die lange durch die geltende Gesetzgebung und die Haltung der Orthodoxie bestimmt war. Die Fixierung auf das deutsche Ethnikum führte nach der starken Auswanderungswelle von Baptisten aus der Dobrudscha seit den 1880er- und in den 1900er-Jahren dazu, dass die Migranten an den neuen Wohnorten in Übersee häufig aus Gewohnheit auch deutschsprachige Baptistengemeinden bevorzugten, beziehungsweise zu den Initiatoren solcher Gemeinden wurden. Aus den genannten rechtlichen Bestimmungen im Königreich Rumänien konnten sich rumänische Baptistengemeinden in der Dobrudscha erst mit einer zeitlichen Distanz zu den deutschen Gemeinden öffentlich formieren. Sie erlebten einen gewissen 112
Ebd., S. 96 – 102.
Die Baptisten in und aus der Dobrudscha
119
Zuspruch; allerdings konnten die Baptisten in der Dobrudscha mit einem Anteil von 0,1 Prozent an der Gesamtbevölkerung nie die Anteilswerte in den posthabsburgischen Regionen Großrumäniens erreichen. Noch immer verzeichnet die Rumänisch-Orthodoxe Kirche unter den rumänischen Christen mit großem Abstand den höchsten Prozentsatz. Seit der politischen Wende von 1989/90 haben die Baptisten durch weitere Freikirchen – unter anderem Pfingstler und Evangelikale – eine gewisse Konkurrenz erfahren. Im Unterschied zu den Baptisten, die an ökumenischen Prozessen teilhaben, bilden diese Gruppierungen nicht selten abgekapselte Parallelwelten. Die Baptisten waren in der Dobrudscha vor und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Konfession in der Minderheit. Dennoch ist gerade die Geschichte der deutschen Baptisten bis 1940 mit einer Reihe wichtiger theologischer Persönlichkeiten des Baptismus verbunden, so dass die Region mit Fug und Recht als ein wichtiger Vorposten dieser konfessionellen Richtung in Südosteuropa bezeichnet werden kann. Literaturverzeichnis Baban, Octavian D.: Pastori baptis‚ ti din prima promot‚ ie a Seminarului, Dumitru Baban (1896 – 1975) [Baptistische Pastoren des ersten Abschlussjahrgangs am Seminar, Dumitru Baban (1896 – 1975)], https://www.academia.edu/68863616/Pastori_baptis‚ ti_din_prima_promot‚ ie_ a_Seminarului_Dumitru_Baban_1896_1975_ [Zugang 30. 03. 2022]. Baban, Octavian D.: Note despre înfiint‚ area Seminarului Baptist din Bucures‚ ti. Paradigmele liberta˘ t‚ ii s‚ i credint‚ ei la început de secol xx, în România [Anmerkungen zur Gründung des Baptistenseminars in Bukarest. Die Paradigmen von Freiheit und Glauben zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rumänien], in: Jurnal Teologic 20 (2021) H. 1, S. 39 – 71. Ba˘ jenaru, Aurel: Drumuri dobrogene – Români anticres‚ tini în Dobrogea [Dobrudschanische Wege – antichristliche Rumänen in der Dobrudscha], 05. 04. 2019, https://techighiol.com/ romani-anticrestini-in-dobrogea [Zugang 23. 03. 2022]. Bujea, Eleanor: Romanians in Canada, Grass Lake MI 2009. Bunaciu, Ioan: Istoria bisericilor baptiste din România [Die Geschichte der Baptistenkirchen in Rumänien], Oradea 2006. Byford, Chas T.: Peasants and Prophets. Baptist Pioneers in Russia and South Eastern Europe, 2. Aufl., London 1911. C., Mihail: 150 de ani de la vizita lui J. G. Oncken pe meleagurile romanes‚ ti s‚ i fondarea oficiala˘ a Bisericii Baptiste Germane din Cataloi [150 Jahre seit dem Besuch J. G. Onckens in den rumänischen Landen und der offiziellen Gründung der deutschen Baptistengemeinde Cataloi], 9. 11. 2019, https://prologos.ro/istoria-baptistilor/150-ani-vizita-oncken-si-fondarea-bise ricii-baptiste-cataloi [Zugang 23. 03. 2022]. Ce ne spune recensa˘ mântul din anul 2011 despre religie? [Was sagt uns die Volksbefragung 2011 über Religion?] Hrsg. vom Institutul Nat‚ ional de Statistica˘ , Bucures‚ ti 2013. Coms‚ a, Grigorie Gh.: Zece ani de lupta˘ împotriva baptis‚ tilor [Zehn Jahre Kampf gegen die Baptisten], Arad 1930.
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Das „härteste Pflaster“ für freikirchliche Missionsarbeit Zur religionsrechtlichen Konstellation in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert Von Karl W. Schwarz I. Einleitung Mein Andrea Strübind gewidmeter Beitrag drückt die Dankbarkeit für langjährige Kontakte und Gespräche über das Wesen der Freikirchen aus. Wann immer ich zu diesem Thema das Wort nehmen musste, bezog ich mich auf ihre Forschungen.1 Das ist auch der Fall, wenn ich im Folgenden deren diffizile Geschichte in der Habsburgermonarchie skizziere. Sie nahm einen ganz anderen Verlauf als in Deutschland.2 Dem österreichischen Religionsrecht ist der Begriff „Freikirche“ fremd. Wegen der vorherrschenden positivistischen Rechtskultur konnte sich eine Religionsgemeinschaft erst nach erfolgter „Anerkennung“ und zwar qua hoheitlicher Konzession konstituieren,3 und sie gewann erst dadurch für den Staat erkennbare Konturen. Der Rechtspositivismus – so ist bei Hans Kelsen nachzulesen4 – ist eine „zutiefst österreichische Theorie“, denn im „Vielvölkerstaat der Monarchie mit ihren zentrifugalen Kräften konnte nur eine streng formale Betrachtung der gemeinsamen rechtlichen Organisation die Sprengsätze entschärfen, die in den unterschiedlichen nationalen und ideologischen Vorstellungswelten lagen“. Mit einigem Recht kann dies auch 1 Vgl. Strübind, Andrea/Rothkegel, Martin (Hrsg.): Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2012; Strübind, Andrea: Glaube und Gewissensfreiheit. Eine freikirchliche Sicht, in: Söding, Thomas/Oberdorfer, Bernd (Hrsg.), Kontroverse Freiheit. Die Impulse der Ökumene, Freiburg/Basel/Wien 2017, S. 55 – 80 – dazu Schwarz, Karl W.: Die „Freikirchen“ in Österreich im historischen Überblick von der Toleranz (1781) bis zur gesetzlichen Anerkennung (2013), in: FF 25 (2016), S. 216 – 235, Nachdruck in: Ders., Der österreichische Protestantismus im Spiegel seiner Rechtsgeschichte (= Jus Ecclesiasticum 117), Tübingen 2017, S. 284 – 303. 2 Vgl. Strübind, Andrea: Baptisten in Deutschland, in: KZG/CCH 13 (2000), S. 391 – 414. 3 Vgl. Wallner, Lukas: Die staatliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Die historische und aktuelle Umsetzung der religiösen Vereinigungsfreiheit in Österreich unter Berücksichtigung des deutschen Religionsrechts, Frankfurt a. M. 2007, S. 79 ff. 4 Zitiert bei Link, Christoph: Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Kirche in Österreich, in: Schmidt-Lauber, Hans-Christoph (Hrsg.), Theologia scientia eminens practica. Festschrift für Fritz Zerbst zum 70. Geburtstag, Wien 1979, S. 228 – 240, hier: 231.
124
Karl W. Schwarz
auf die Religionskultur im alten Österreich bezogen werden, wie dies am Weg vom „Ketzerrecht“ zur „Glaubensfreiheit“ zu illustrieren wäre, an der mühsamen Entwicklung von der „Glaubenseinheit“, die von den Habsburgern mit gegenreformatorischer Gewalt durchzusetzen versucht wurde, über die „Toleranz“ gegenüber bestimmten „a-katholischen“ Bekenntnissen zum religiösen Pluralismus heutiger Tage. In diesem charakteristischen Zuschnitt des altösterreichischen Kultusrechts war für eine Freikirche kein Platz5 – es sei denn, dass sie sich den prozeduralen Vorschriften einer Anerkennung unterwarf. Die im Anschluss an den Protest der „Altkatholiken“ gegen das Infallibilitätsdogma von 1870 aufgetretenen interkonfessionellen Turbulenzen (wer ist die wahrhafte katholische Kirche?) erzwangen eine Kollisionsnorm. Das Anerkennungsgesetz wurde, nicht zuletzt um die angestammte römisch-katholische Kirche mit ihrem organisatorischen Substrat und Kirchengut und als Körperschaft öffentlichen Rechts (Art. 15 StGG 1867) zu schützen, vom Parlament 1874 beschlossen6 und 1877 erstmals im Falle der „Altkatholischen Religionsgesellschaft“ zur Anwendung gebracht;7 wenige Jahre später folgte eine ausländische „Freikirche“, die Herrnhuter Brüdergemeine,8 die nach 1861 im nordböhmischen Grenzgebiet Missionsarbeit zu betreiben begann. Ihr Zentrum lag jenseits der böhmisch-sächsischen Grenze in Berthelsdorf; sie verstand sich als „erneuerte Brüderkirche oder Brüderunität“9 und erinnerte an die durch Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf im 18. Jahrhundert erfolgte Ansiedlung der aus dem Habsburgerreich geflüchteten böhmischen Brüder. Zum Kreis der bestehenden christlichen Kirchen waren somit zwei höchst unterschiedliche Religionsgemeinschaften getreten, die sich als „privilegierte Corporationen des öffentlichen Rechts“ verstehen durften oder mussten, obwohl sie größenmäßig sehr unterschiedlich waren. Als Staatskirchen in die öffentliche Verwaltung eingebunden, oblagen ihnen die Evidenzhaltung der Bevölkerung, die Führung der Geburts-, Trauungs- und Sterbematriken und die Entgegennahme des Ehekonsenses. Die römisch-katholische Kirche spielte mit ca. 91 % Anteil an der Bevölkerung (1910) natürlich auch weiterhin die dominierende Rolle, Österreich war und blieb die katholische Großmacht. Die Ehe von Thron und Altar bezog sich auf den katholischen Altar. Der Kaiser wurde als der „weltliche Bruder des Papstes“ ver5 Vgl. Heinz, Daniel: Kein Platz zwischen Thron und Altar. Freikirchliche Mission in Altösterreich (bis 1918) am Beispiel der Adventisten, in: FF 27 (2018), S. 39 – 54. 6 Vgl. Reichsgesetzblatt [RGBl.] Nr. 68/1974. 7 Vgl. RGBl. Nr. 99/1877 – dazu Kalb, Herbert/Potz, Richard/Schinkele, Brigitte: Religionsrecht, Wien 2003, S. 642 ff. 8 RGBl. Nr. 40/1880 – dazu Schwarz, Karl W.: Eine kultusrechtliche Quadratur des Kreises? Anmerkungen zur gesetzlichen Anerkennung der Herrnhuter Brüderkirche im Jahre 1880, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion [öarr] 50 (2003) = Festgabe für Richard Potz zum 60. Geburtstag, S. 481 – 496. 9 Wernisch, Martin: Die Brüder-Unität als vorreformatorische und reformatorische Freikirche, in: FF 7 (1997), S. 64 – 75.
Das „härteste Pflaster“ für freikirchliche Missionsarbeit
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standen – so jedenfalls in der Wahrnehmung von Joseph Roth in seiner literarischen Analyse der Donaumonarchie.10 Die Herrnhuter Brüdergemeine war demgegenüber mit kaum mehr als zweihundert Mitgliedern in zwei Gemeinden Nordböhmens die mit Abstand kleinste, auch wenn sie bis zur Volkszählung von 1910 ihren Mitgliederbestand auf 1.059 praktisch verfünffachen konnte. II. Zur Vorgeschichte der Freikirchen in Österreich Die Vorgeschichte der Freikirchen in Österreich blieb unbeachtet, eine Kontinuität zur täuferischen Tradition im 16. Jahrhundert wurde nicht erhoben, obwohl sich unter der Decke der Normalität Nonkonformisten und Dissidenten versteckten, die vom Mainstream der allein seligmachenden römisch-katholischen Kirche abgewichen waren, die nicht mit der allgemeinen Form übereinstimmten und die von Habsburg angeordnete „Glaubenseinheit“ in Frage stellten. Neben die Anhänger der Wittenberger und der Schweizer Reformation traten auch die Täufer, die in Österreich weit verbreitet waren, zumal in Tirol.11 Die von Grete Mecenseffy herausgegebenen „Täuferakten“ enthalten eindrückliche Belege.12 Von diesem „linken Flügel der Reformation“ wird gesagt, dass seine Anhänger nicht nur eine Reformation der Kirche, sondern auch eine solche der Gesellschaft in den Blick nahmen. Die Glaubenstaufe wurde zum trennenden Sakrament.13 Deshalb nannte sie Luther „Anabaptisten“ und warf ihnen vor, durch die Radikalität ihrer Ansprüche das theologische Anliegen der Reformation zu kompromittieren. Ihnen wurde sogar zur Last gelegt, dass sie sich mit den Osmanen verbündet hätten.14 Ein Reichsmandat verhängte 1528 die Todesstrafe auf die „Wiedertaufe“.15 - Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass einer der frühesten Exponenten der Täufer, Konrad Grebel, gemeinsam mit Ulrich Zwingli in Wien 1515 10
Vgl. Roth, Joseph: Radetzkymarsch, München 1981, S. 196. Vgl. Leeb, Rudolf: Der Streit um den wahren Glauben. Reformation und Gegenreformation in Österreich, in: ders. u. a., Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 145 – 279, hier: 185. 12 Vgl. Mecenseffy, Grete (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der Täufer Bd. XI: Österreich, Gütersloh 1964; Bd. XII: Österreich II, Gütersloh 1972; Bd. XIV: Österreich III (hrsg. gemeinsam mit Matthias Schmelzer), Gütersloh 1983 – vgl. dazu Schwarz, Karl W.: Margarethe von Mecenseffy, in: Kümper, Hiram (Hrsg.), Historikerinnen. Eine bio-bibliographisches Spurensuche im deutschen Sprachraum, Kassel 2009, S. 133 – 139. 13 Vgl. Strübind, Andrea/Strübind, Kim: Taufe als Advent der Gnade Gottes – eine baptistische Perspektive, in: Catenhausen, Wolf-Michel u. a. (Hrsg.), Damit ihr Hoffnung habt. Das Buch zum ökumenischen Kirchentag 2010, Freiburg/B. u. a. 2009, S. 94 – 97. 14 Vgl. Laubach Ernst: „… kain obrigkait zu erkhennen und sich dem Turkhen anhengig zu machen“. Zu einer Stigmatisierung der Täufer im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 37 (2010), S. 411 – 439, hier: 433. 15 Vgl. von Schlachta, Astrid: Die Täuferbewegung in Österreich, in: FF 27 (2018), S. 26 – 38, hier: 28; dies.: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert, München 2020; Themenjahr 2020: „Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung“ 1525 – 2025, Frankfurt a. M. 2020. 11
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an der Alma Mater Rudolfina Viennensis immatrikuliert wurden und an der damals wegen des humanistischen Lehrangebotes am stärksten frequentierten Universität ihren Studien oblagen. - Zu erinnern ist an die Hutterer,16 die wegen ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber der Obrigkeit verfolgt und hingerichtet wurden: Jakob Hutter wurde 1536 vor dem Goldenen Dachl in Innsbruck verbrannt.17 - Der vermutlich Gelehrteste der Täufer war Balthasar Hubmaier,18 ein ganz entschiedener Verfechter der Toleranz, an den die Baptistengemeinde in der Mollardgasse mit einigem Stolz erinnert. Von dort ist auch die Initiative ausgegangen, diesem leidenschaftlichen Verfechter der Toleranz ein Denkmal zu setzen. Mit seiner 1524 publizierten Schrift „Von den Ketzern und ihren Verbrennern“ hat er diesen Gedanken literarisch verfestigt.19 Beim Stubentor in Wien wurde er 1527 hingerichtet. Er war ein Studienkollege des späteren Wiener Erzbischofs Fabri, der ihn wiederholt im Gefängnis besuchte und ihn vor dem Ketzertod bewahren wollte. Im Museumsdorf in Niedersulz/Niederösterreich wird das Anliegen der Täufer didaktisch gut aufbereitet.20 Es waren drei Haltungen, welche die Täufer an den Rand der damaligen Gesellschaft rückten, weil deren Ablehnung der Kindertaufe als politische Demonstration gegen die überkommene Ordnung bewertet wurde. Denn für diese lag in der Taufe überhaupt die Grundlage für die Bürgerschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Neben der Ablehnung der Kindertaufe waren vor allem ihre Distanzierung von der Schwertgewalt der Obrigkeit und das Verbot der Eidesleistung, die sie in politischer Hinsicht „disqualifizierten“. Die Täufer sahen indes diese Forderungen alle biblisch gut begründet: Sie begannen freie Gemeinden „wahrhafter Christen“ zu bilden. Sie befreiten sich von jeder staatlichen Bevormundung und sie forderten die Trennung der Bürgergemeinde von der Christengemeinde und hatten deshalb heftige Verfolgung zu erleiden – nicht nur von Seiten der staatlichen Obrigkeit, sondern auch von der römisch-katholischen Kirche und den sich territorial etablierenden lutherischen oder reformierten Konfessionskirchen. 16
Vgl. von Schlachta, Astrid: Hutterische Konfession und Tradition. Etabliertes Leben zwischen Ordnung und Ambivalenz, Mainz 2003; dies.: Die Hutterer zwischen Tirol und Amerika, Innsbruck 2006, S. 34 f. 17 von Schlachta, Astrid/Forster, Ellinor/Merola, Giovanni: Verbrannte Visionen? Erinnerungsorte der Täufer in Tirol, Innsbruck 2007; Geissler, Edi: Täufergedenkorte in Tirol und Südtirol, in: Themenjahr 2020, S. 110 f. 18 Vgl. Rothkegel, Martin: Von der Schönen Madonna zum Scheiterhaufen. Gedenkrede auf Balthasar Hubmaier, verbrannt am 10. März 1528 in Wien, in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 120 (2004), S. 49 – 73; ders., Balthasar Hubmaier, in: Themenjahr 2020, S. 54 f. 19 Vgl. Rothkegel, Martin: Anabaptism in Moravia and Silesia, in: Roth, John D./Stayer, James M. (Hrsg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism 1521 – 1700, Leiden/Boston 2007, S. 163 – 215. 20 Vgl. Eichinger, Reinhold/Enzenberger, Josef F.: Täufer, Hutterer und Habaner in Österreich, 2. Aufl., Nürnberg 2011.
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Die Ablehnung des „täuferischen“ Programms durch die Wittenberger und die Züricher Reformatoren wies eine bis weit ins 20. Jahrhundert reichende Wirkungsgeschichte auf und bestimmte die schwierige Beziehung zur „freikirchlichen“ Tradition“. III. Das „härteste Pflaster“ freikirchlicher Missionsarbeit in Österreich Mit der Herrnhuter Brüderkirche war die erste „Freikirche“ scheinbar ohne Mühe zu einer „Staatskirche“ im Sinne des österreichischen Kultusrechts transformiert worden. Es ist diese Tatsache einer in der Literatur gefestigten These entgegen zu halten, dass ein freikirchliches Missionswerk erst durch Missionare aus dem anglo-amerikanischen Raum in Angriff genommen wurde. Freilich wird der Begriff „Freikirche“ erstmals mit der Free Presbyterian Church of Scotland konnotiert, die 1843 durch Disruption aus der Schottischen Staatskirche entstanden war und in Ostund Südosteuropa missionierte. Sie bildete in Breslau einen Stützpunkt, der sehr stark in den böhmischen Raum einwirkte und hier nachweislich eine Erweckungsbewegung inspirierte21. Aber davon unabhängig bedeutet das Tätigwerden der Herrnhuter Wanderprediger einen zeitlichen Vorsprung vor den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrer Missionstätigkeit in Österreich beginnenden Freikirchen (Baptisten 1864/69, Methodisten 1870, Adventisten 1890). Diese verfügten als Anhänger eines nicht anerkannten Bekenntnisses lediglich über eine äußerst eingeschränkte Religionsfreiheit und waren auf die „häusliche Religionsübung“ (Art. 16 StGG) verwiesen. Ihnen wurde sofort die restriktive Rechtslage vor Augen geführt und die Engmaschigkeit des österreichischen Kultusrechts zur Kenntnis gebracht, sodass die Habsburgermonarchie in den biographischen Aufzeichnungen der Missionare aller Freikirchen als „härtestes Pflaster“ bezeichnet wurde, wo Polizeiverhöre, Versammlungsverbote und Inhaftierungen auf der Tagesordnung standen22 und den Eindruck einer „Märtyrergeschichte“23 vermittelten. Ihre Anhän21 Vgl. Filipi, Pavel: Die Erweckungsbewegung in Ostmitteleuropa, in: Gäbler, Ulrich (Hrsg.), Der Pietismus im 19. Und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 359 – 369, hier: 362 – 365. 22 Vgl. Heinz, Daniel: Church, Sect, and Government Control. Seventh-day Adventists in the Habsburg Monarchy, in: Eastern European Quarterly 23 (1989), S. 109 – 115; ders.: Church, State and Religious Dissent. A History of Seventh-day Adventists in Austria 1890 – 1975, Frankfurt a. M. 1993, S. 60 ff.; Kimball, Stanley B.: The Mormons in the Habsburg Lands, in: Austrian History Yearbook 9/10 (1973/74), S. 143 – 169; Hammer, Baronin Amelie, 149 ff. („bedrängte Kirche“); Streiff, Patrick Ph.: Der Methodismus in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Rieden 2003, 116 ff.; Graf-Stuhlhofer, Franz (Hrsg.): Frisches Wasser auf dürres Land. Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bundes der Baptistengemeinden in Österreich, Kassel 2005, 25 ff. 23 Vgl. Möller, Robert: Von Gottes Gnade bin ich, das ich bin. Lebenserinnerungen eines deutschen Methodistenpredigers, Manuskript o. J., 93 f. – zitiert von Franz Graf-Stuhlhofer, Freikirchen in Österreich seit 1846. Zur Quellenlage und zu Methodenfragen, in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 124/125 (2008/2009), S. 270 – 302, hier: 275.
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ger wurden durch die religionspolizeilichen Maßnahmen, die oft genug auf Betreiben der etablierten Kirchen veranlasst wurden,24 auf den „steinigen Weg“ der Konfessionslosen25 gewiesen, d. h. sie wurden behandelt wie Menschen „ohne religiöses Bekenntnis“ – nota bene bis 2013. Aus diesem Dilemma führte nur ein einziger Weg heraus, nämlich jener über die gesetzliche Anerkennung, denn die vereinsrechtliche Konstituierung einer Religionsgemeinschaft war vom Vereinsgesetz ausgeschlossen.26 Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert sukzessive durch die Zulassung von Hilfsvereinen (mit religiösem Teilzweck), zuletzt aber mit dem Vereinsgesetz von 2002,27 sodass es neuerdings auch Religionsgemeinschaften gibt, die über eine privatrechtliche Rechtsgrundlage als eingetragener Verein verfügen und deshalb nicht im kultusrechtlichen Koordinatennetz aufscheinen, wenn sie nicht um staatliche Registrierung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft ansuchen. Für das Selbstverständnis jener Freikirchen, die in den Großstädten des Habsburgerreiches Fuß gefasst hatten, galt die Trennung vom Staat geradezu als Dogma und verlangte die Abwehr jeglicher staatlicher Einflussnahme. Die „Ehe von Thron und Altar“, ja jegliches kirchliches Establishment galt als verhängnisvolle Fehlentwicklung, die gesetzliche Anerkennung geradezu als Verrat am ursprünglichen kirchlichen Auftrag und als Versuch staatlicher Instrumentalisierung und Korrumpierung. Mit der staatlichen Anerkennung verliere eine Kirche alles, was ihr Kraft verleihe, argumentierte einer der prominenten Freikirchler auf einer Allianzkonferenz in Wien (15. 3. 1900):28 „Einer Kirche Christi sei es unwürdig, staatliche Anerkennung nachzusuchen.“ Diese mit charismatischer Vollmacht vorgetragene Lehrmeinung wurde aber nicht allgemein geteilt, denn schon 1892 hatten die Wesleyanischen Methodisten einen Antrag auf Anerkennung gestellt. Er wurde aber mit Bescheid vom 30. Juni 1896 abgelehnt, weil im 20. Artikel des von John Wesley nach anglikanischem Vorbild formulierten Bekenntnisses eine abfällige Bemerkung über das Messopfer der
24
Vgl. Hinkelmann, Frank: Freikirchen in Österreich in der öffentlichen Wahrnehmung 1845 – 1945. Eine Dokumentation anhand zeitgenössischer Medienberichte, Bonn 2021, S. 92. In einer früheren Publikation: Geschichte der Evangelischen Allianz in Österreich. Von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts, Bonn 2006, 30 ff.; 46 f. – brachte er auch gegenteilige Beispiele von evangelischen Amtsträgern, die als Mitglieder der Evangelischen Allianz eine „zurückhaltende Solidarität“ mit den betroffenen Freikirchen zeigten. 25 Vgl. Schima, Stefan: Die Rechtsgeschichte der „Konfessionslosen“. Der steinige Weg zur umfassenden Garantie von Religionsfreiheit in Österreich, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 14 (2002), S. 97 – 124. 26 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht, S. 123 ff., 128. 27 Tichy, Heinz: Religiöse Gemeinschaften nach dem Vereinsgesetz, in: öarr 51 (2004), S. 379 – 397. 28 Adlof, Adolf, Gesetzliche Stellung der staatlich nicht anerkannten Religionsgesellschaften in Österreich, Budapest 1900, S. 6.
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römisch-katholischen Kirche („vermaledeite Abgötterei“) enthalten war, die als „Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche“ bewertet wurde.29 1906 stellten die Baptisten erstmals einen Antrag auf Anerkennung, der aber wie etliche weitere im Sand verlief. Die Freikirchen wurden nicht nur als landfremd und abhängig von einer im Ausland befindlichen Kirchenleitung stigmatisiert, sie wurden vom langjährigen Leiter der Kultusverwaltung Max Hussarek sogar als „unerwünschter Import“ des Getriebes „amerikanischen Sektenunwesens“ denunziert.30 So wird verständlich, dass die Betroffenen umso heftiger auf die grundlegenden Freiheitsrechte in den Vereinigten Staaten von Amerika verwiesen31 und die dortige „Trennung von Staat und Kirche“ als Lösung anpriesen. IV. Die Systemwidrigkeit der Freikirchen Die Freikirchen waren für den Staat vor allem systemwidrig:32 Systemwidrig aus der Sicht einer volkskirchlich strukturierten Staatskirche war ihre Sammlung zu „Freiwilligkeitsgemeinden“, ihr ethischer Rigorismus, der sich gegen Eidesleistung und Kriegsdienst richtete, eine freie antihierarchische Laienreligiosität propagierte, die Gleichheit der Mitglieder ohne hierarchische Stufen forderte, die Säuglingstaufe verwarf und durch die Glaubenstaufe der Erwachsenen ersetzte, die ethische Würdigkeit der Gemeinde der „Wiedergeborenen“ durch Gemeindezucht und Bann kontrollierte, die Übernahme staatlicher Ämter problematisierte etc. – nota bene durchwegs Elemente eines theologischen Programms, das der führende Religionssoziologe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ernst Troeltsch zu den charakteristischen Zeichen der Sektenbildung zählte.33 Systemwidrig war schließlich auch die exzeptionelle Stellung der Freikirchen, denn sie konnten sich weder vereinsrechtlich noch kultusrechtlich konstituieren, sondern galten als „konfessionslos“; nur die gesetzliche Anerkennung lieferte den Schlüssel für die Integration in das damalige österreichische „Kultusrecht“, und der blieb den Freikirchen verwehrt. Ihr missionarisches Wirken in Prag und Wien verursachte unter den etablierten Kirchen einen gehörigen Schrecken – nachzulesen bei Max von Hussarek, dem füh29
Vgl. Hammer, Paul Ernst: Baronin Amelie von Langenau, Wien 2001, 149 ff. Vgl. Hussarek-Heinlein, Max: Die kirchenpolitische Gesetzgebung der Republik Österreich, in: Hudal, Alois (Hrsg.), Der Katholizismus in Österreich. Sein Wirken, Kämpfen und Hoffen, München 1931, S. 27 – 40, hier: 29. 31 Strübind, Baptisten in Deutschland, S. 393; Rothkegel, Martin: Freiheit als Kennzeichen der wahren Kirche. Zum baptistischen Grundsatz der Religionsfreiheit und seinen historischen Ursprüngen, in: Strübind/Rothkegel, Baptismus, S. 201 – 225. 32 Vgl. Schwarz, Karl W.: „Freikirchen“ und „Staatskirchenrecht“ – eine österreichische Problemgeschichte, in: öarr 60 (2013), S. 347 – 355. 33 Vgl. Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) – Neudruck Tübingen 1994, Bd. II, 794 ff. – Vgl. auch Strübind, Andrea: Max Weber und Ernst Troeltsch. Ihre These vom Zusammenhang zwischen religiösem Nonkonformismus und Moderne, in: ZThG 21 (2016), S. 77 – 103. 30
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renden Interpreten des zeitgenössischen „Staatskirchenrechts“ (so der von ihm geprägte Begriff).34 Es ist nicht zu übersehen, dass die Entwicklung in Österreich bestimmt war von den mit dem Sektenbegriff verknüpften Vorurteilen, von der Ablehnung einer „Amerikanisierung“ des Kultusrechts und der perhorreszierten Einflussnahme aus dem Ausland, von der Furcht vor einer „Trennung von Staat und Kirche“, die geradezu mit einer revolutionären gesellschaftlichen Umwälzung verbunden wurde.35 Das freikirchliche Engagement in der Habsburgermonarchie fiel unter das Verdikt der engmaschigen religionsrechtlichen Vorgaben. Doch auch die religionsgeschichtliche Dokumentation blendete die Freikirchen aus, wie das Standardwerk über die Habsburgermonarchie zeigt. Im Konfessionsband der breit gegliederten Buchreihe bemühte sich der Herausgeber Adam Wandruszka durch ein sehr aussagekräftiges Bild seine These von der multikonfessionellen Habsburgermonarchie zu untermauern.36 Er erinnerte an eine Rekrutenvereidigung in Wien kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die in zehn Sprachen und unter Mitwirkung der Militärgeistlichen von sieben Religionsgemeinschaften erfolgte. In einer Reihe standen diese geistlichen Amts- und Würdenträger römisch-katholischer, evangelisch-lutherischer und reformierter, griechisch-unierter, griechisch-orthodoxer und armenischer Konfession mit dem Rabbiner der mosaischen und dem Imam der muslimischen Religionsgesellschaft. Des letzteren Teilnahme resultierte aus der Tatsache, dass Österreich seit der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina 1878 über ein Territorium verfügte, das mehrheitlich von Muslimen bewohnt wurde, und dass mit Rücksicht auf diese „Bosniaken“ dem Islam nach hanefitischem Ritus seit 1912 der Status einer gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft zukam.37 Das Bild ist außerordentlich eindrucksvoll, aber es zeigt, dass das weite Feld der Religiosität jenseits der gesetzlichen Anerkennung ausgespart blieb, damit aber auch das Wirken der Freikirchen, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Missionsarbeit in den großen Städten des Habsburgerreiches, in Wien, Prag, Brünn und Budapest leisteten. Aus der Warte der Mehrheitskonfession im Habsburgerreich wurden diese als „zentrifugale“ Kräfte empfunden, die sich der überkommenen kultusrechtlichen Tradition widersetzten. Der Staat mochte sich zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Ära der konstitutionellen Monarchie, einen gewissen überkonfessionellen Anstrich zugelegt und durch seine Verfassung (StGG 1867) sowie einzelne konfessionelle Gesetze 34
Vgl. von Hussarek, Max: Grundriß des Staatskirchenrechts, 2. Aufl., Leipzig 1908, S. 6. Hussarek-Heinlein, Die kirchenpolitische Gesetzgebung, S. 31. 36 Vgl. Wandruszka, Adam: Katholisches Kaisertum und multikonfessionelles Reich, in: ders./Urbanitsch, Peter (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. IV: Die Konfessionen, Wien 1985, S. XI–XVI, hier: XI. 37 Vgl. Potz, Richard: Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Olechowski, Thomas u. a. (Hrsg.), Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris, Wien 2010, S. 385 – 408. 35
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(Kirche-Schule-Gesetz [1868], Interkonfessionelles Gesetz [1868], Anerkennungsgesetz [1874]) den Anspruch suggeriert haben, dass er einen religiösen Pluralismus in den Blick genommen habe.38 Aber wenn man genauer hinsieht, bemerkt man die Potemkinschen Dörfer: Österreich war und blieb die katholische Großmacht. Die Ehe von Thron und Altar bezog sich auf den katholischen Altar. Für ihre providenzielle Haltung zugunsten Roms waren dem Haus Habsburg wichtige kirchliche Privilegien zugewachsen – Nominierungsrechte bei Bischofsernennungen und das Ius Exclusivae bei der Papstwahl. Im Alltag wurde die besondere Stellung der katholischen Kirche vor allem beim Eherecht bemerkbar. Hier verhinderte deren politischer Arm, die Christlichsoziale Partei, jedwede Reform und zementierte das bestehende konfessionelle Eherecht. Erst 1912 wurden für die Angehörigen der islamischen Religionsgesellschaft zivileherechtliche Strukturen eingeführt; 1938 nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland wurde schließlich das deutsche Zivileherecht hierzulande aufgenommen. V. Der Widerstand des Establishments im 19. Jahrhundert Gegen das importierte Trennungsprogramm liefen die etablierten Kirchen Sturm und setzten ihre gesellschaftliche Stellung dementsprechend ein. Ihre Einbindung in die Strukturen der Habsburgermonarchie39 forderte umgekehrt die Freikirchen heraus – bis zur Stigmatisierung als „unheilige Allianz“40. Dagegen richtete sich der Protest – zugespitzt zur Parole von der Trennung von Staat und Kirche41. Sie war in Amerika aufgekommen. Dorthin waren die Täufer geflüchtet, weil sie sich dem strengen Grundsatz des europäischen Religionsrechts nicht unterwerfen wollten. Sie opponierten gegen den Religionsbann des konfessionellen Zeitalters, der mit dem Grundsatz „cuius regio eius et religio“ die konfessionelle Landkarte nach der Entscheidung des jeweiligen Landesherrn gestaltete – in Österreich eben nach dem Wunsch der Habsburger im Sinne der alten Kirche. In Amerika wirkten sie am Aufbau einer besonderen Kultur der Religionsfreiheit mit.42 Um nur zwei Namen zu nennen, den amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson und den baptistischen Prediger Roger Williams. Jefferson verlangte, dass zwischen Staat und Kirche eine Trennungsmauer errichtet werden soll, ein wall of separation, der verhindern soll, dass es (wie in Europa) zur Etablierung einer Staatskirche oder Staatsreligion kommt („No establishment“). Jegliche staatliche Unterstützung 38 Vgl. Potz, Richard: Die Donaumonarchie als multikonfessioneller Staat, in: Kanon XII = Multikonfessionelles Europa, München u. a. 1994, S. 49 – 65. 39 Vgl. von Hussarek, Grundriß des Staatskirchenrechts. 40 Fleischmann-Bisten, Walter: Unheilige Allianz von Religion und Politik, in: Kiesel, Doron/Lutz, Ronald (Hrsg.), Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Frankfurt a. M./New York 2015, S. 138 – 154. 41 Vgl. Link, Christoph: Kirchliche Rechtsgeschichte, 3. Aufl., München 2017, S. 189 ff. 42 Grübel, Markus: Der Beitrag der Täuferbewegung zur weltweiten Religionsfreiheit, in: Themenjahr 2020, S. 36 f.
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einer Religion soll vermieden werden („No aid to religion“). Der Hintergrund dieser amerikanischen Doktrin war aber nicht eine Feindschaft gegenüber der Kirche. Es war vielmehr der Reflex einer religiös-pluralistischen Einwanderergesellschaft mit ihren spezifischen Erfahrungen im alten Europa. Von dort waren sie ja wegen religiöser Verfolgungen aufgebrochen, etwa die Pilgrim Fathers (1620). Sie wollten in der Neuen Welt ihre Religion in vollkommener Freiheit leben – ohne staatliche Eingriffe und ohne Diskriminierung und Bevorzugung einzelner Glaubensgemeinschaften. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kehrten die Nachfahren jener Exulanten wieder nach Europa zurück – als Missionare der Freikirchen:43 Baptisten, Methodisten, Adventisten, Mormonen. Sie brachten ihre Erfahrungen mit und propagierten die Trennung als das „Non plus ultra“ religionsrechtlicher Ordnung.
VI. Die engmaschige religionsrechtliche Ordnung der Habsburgermonarchie Die Rückkehrer stießen auf den heftigsten Widerstand44 und scheiterten an der etablierten staatskirchenrechtlichen Ordnung. Einer von ihnen, der vom Baptismus zum Methodismus konvertierte Theologieprofessor Joseph Paul Bartak hat dies eindrücklich beschrieben45 und dokumentiert, mit welcher Verständnislosigkeit die Freikirchen dem überkommenen Staatskirchenrecht begegneten und sich herausgefordert sahen, ihre Sichtweise der Religionsfreiheit,46 die „Trennung von Staat und Kirche“ zu propagieren. Wegen fortwährender Einschränkungen der Missionstätigkeit wandten sie sich an die Evangelische Allianz, welche bei ihrer Hauptversammlung in Basel 1879 die Grundrechtsverletzungen in Österreich in den Mittelpunkt ihrer Beratungen rückte und eine hochrangige Delegation nach Wien schickte, um bei Kaiser Franz Joseph und dem österreichischen Kultusministerium zu intervenieren.47 Ein Abgeordneter des britischen Parlaments war darunter, der in einer Sitzung 43 Hinkelmann, Frank: Die Evangelikale Bewegung in Österreich, Bonn 2014, 104 ff.; Heinz, Church, State and Religious Dissent, S. 60 ff.; ders.: Repression, Toleranz und Legalität. Siebenten-Tags-Adventisten in Österreich. Geschichte, Organisation und Wachstum einer Minderheitskirche, in: öarr 48 (2001), S. 323 – 344. 44 Vgl. von Hussarek, Grundriß des Staatskirchenrechtes, S. 6. 45 Vgl. Bartak, Joseph P.: The Protestant Struggle in Bohemia, in: The Methodist Review 63/3 (1914), S. 500 – 510. 46 Vgl. Strübind, Baptisten in Deutschland, S. 393; Rothkegel, Freiheit, S. 201 – 225. 47 Vgl. Hinkelmann, Geschichte, S. 43 ff.; Lindemann, Gerhard: Für Frömmigkeit in Freiheit. Die Geschichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus (1846 – 1879), Münster 2011, S. 911 – 913; Schwarz, Karl W.: Eine religiöse Neuvermessung in Österreich. Historische, juristische und politische Aspekte des Religionsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Freikirchen, in: ZRG 151 KA 100 (2014), S. 468 – 494; ders.: Historia docet. Freikirchen als Kläger über kultusrechtliche Beschränkungen der Religionsfreiheit, in: Schinkele, Brigitte u. a. (Hrsg.), Recht – Religion – Kultur. Festschrift für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014, S. 817 – 833, hier: 827 ff.
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des Unterhauses (19. Februar 1880) die „Religionsverfolgungen“ in Böhmen zur Sprache brachte. Das hatte diplomatische Konsequenzen, denn das britische Außenministerium ließ den Sachverhalt durch ihre Botschaft in Wien überprüfen. Auch das österreichische Parlament nahm sich der Frage an, was es mit der „sogenannten Protestantenverfolgung in Böhmen“ auf sich habe. An diesem Beispiel wurde die Brüchigkeit des österreichischen Religionsrechts offenbar. Es waren nicht Protestanten, die verfolgt wurden, sondern Dissidenten, welche die Beschränkungen des Art. 16 StGG (häusliche Religionsübung) nicht wahrnehmen wollten und öffentliche Gottesdienste veranstalteten, die von der Polizei aufgehoben wurden. Denn sie waren von der evangelischen Superintendentur nicht als solche ihrer Kirche identifiziert worden. Der Streit lief also auf die Interpretation des genannten Art. 16 StGG hinaus, der von der Behörde sehr penibel ausgelegt wurde. Im Windschatten einer beachtlichen internationalen Erregung konnte 1880 nicht nur die Herrnhuter Brüderkirche gesetzlich anerkannt werden, sondern auch die Konstituierung einer evangelikalen Freikirche (Reformierte Freikirche nach dem Vorbild der Free Presbyterian Church of Scotland) in Böhmen erreicht werden – erstere als Körperschaft öffentlichen Rechts, letztere aber nur als privatrechtliche Institution. Sie suchte erst nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches als Jednota Cˇ eskobratrská (Tschechische Brüderunität) beim tschechoslowakischen Staat um Anerkennung an.48 In Österreich blieben im Übrigen die behördlichen Schikanen bestehen. Mochte auch das Staatsgrundgesetz 1867 in Art. 14 die Glaubens- und Gewissensfreiheit verbürgt haben, so änderte dies nicht die rigiden Bestimmungen bezüglich der kultusrechtlichen Ausübung der Religionsfreiheit. Als die Baptisten die Gründung der ersten „Gemeinde getaufter Christen in Wien“ anmeldeten, wurde ihnen die Eröffnung eines Betsaales behördlich untersagt. Erst eine Intervention im Kultusministerium erreichte, dass die durch Art. 16 StGG erfolgte Beschränkung auf den Hausgottesdienst eine freundlichere Interpretation erfuhr – zugunsten einer „außerhäuslichen Religionsübung“ – allerdings mit Beschränkung auf geladene Gäste und unter Ausschluss schulpflichtiger Kinder. Die Freikirchen wurden generell als gefährliche „Amerikanisierung“ empfunden, der Einfluss aus dem Ausland wurde perhorresziert, wobei man den vatikanischen Einfluss auf die römisch-katholische Kirche auszublenden verstand. Deren Status durfte nicht tangiert, ihre Lehre nicht persifliert werden. Eine juristische Crux trat hinzu: Die Anerkennung wurde im Wege einer Verordnung ausgesprochen, weil sie eine Personenmehrheit betraf. Das bedeutete, dass die Anerkennungswerber aber keinen Anspruch auf einen Bescheid hatten und über die Untätigkeit der Kultusbehörde keine Beschwerde führen konnten. 48 ˇ eské republice / Die Brüderkirche in der TscheVgl. Cˇ erny´, Pavel: Cirkev bratrské v C chischen Republik, in: Demandt, Johannes (Hrsg.), Freie Evangelische Gemeinden, Göttingen 2012, S. 149 – 158.
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Diese frustrierenden Erfahrungen mit dem Kultusamt verbitterten die Freikirchen, für die sich im 19. Jahrhundert kein Platz zwischen Thron und Altar auftat. VII. Ausblick Erst nach dem Ende des Berichtszeitraumes sind zwei bedeutsame Veränderungen zu registrieren, die sich zugunsten der Freikirchen auswirkten: Der Staatsvertrag von St. Germain 1919, den die etablierten Kirchen als Katastrophe empfanden,49 brachte den Anhängern gesetzlich nicht anerkannter Kirchen eine ganz erhebliche Verbesserung, denn er hob den beklagten Artikel 16 StGG auf und räumte allen Staatsbürgern das Recht ein, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei auszuüben (Art. 63 StV St. Germain). Damit war eine von den Freikirchen stets beklagte Diskriminierung beseitigt. Aber sie betraf nur die individuelle Glaubensfreiheit, die korporative Religionsfreiheit blieb an die gesetzliche Anerkennung gebunden, zumal das Staatskirchenrecht 1920 keine neue verfassungsrechtliche Grundlegung erfuhr, sondern das StGG (mit Ausnahme des Art. 16) in die neue Verfassung rezipiert wurde.50 Was die rechtliche Form der Vergemeinschaftung betrifft, so wurde wenigstens die Bildung von sogenannten religiösen Teilzweckvereinen ermöglicht; 2002 wurde schließlich das Vereinsrecht novelliert und religiösen Gruppen geöffnet. Außerdem wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch die „Verordnungstheorie“ aufgegeben und im Falle einer Ablehnung des Anerkennungsantrags die Bescheidform verlangt, die die Möglichkeit einer juristischen Bekämpfung eröffnete. Eine ganz wesentliche Änderung aber betraf das Selbstverständnis der Freikirchen.51 Das Präfix „frei“, das ursprünglich auf die Freiheit von jeglichem staatlichen Einfluss bezogen wurde, erfuhr eine Umdeutung in die Richtung einer freiwilligen Mitgliedschaft. Freikirchen verstehen sich als Freiwilligkeitskirchen und unterscheiden sich von den etablierten Volkskirchen durch den aktiven Beitritt ihrer Mitglieder. Die korporative Religionsfreiheit blieb auch im Rahmen der österreichischen Bundesverfassung 1920/1929 den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften vorbehalten. Auf diese mussten die Freikirchen aufgrund der strengen
49
Vgl. Hussarek-Heinlein, Die kirchenpolitische Gesetzgebung, S. 29; Reingrabner, Gustav: Die Protestanten und die Republik, in: Karner, Stefan/Mikoletzky, Lorenz (Hrsg.), Österreich. 90 Jahre Republik, Wien 2008, S. 359 – 368. 50 Vgl. Gampl, Inge: Österreichisches Staatskirchenrecht 1918 bis 1920, in: Scheuermann, Audomar u. a. (Hrsg.), Convivium utriusque iuris. Festschrift für Alexander Dordett, Wien 1976, S. 367 – 380. 51 Vgl. Graf-Stuhlhofer, Franz: Freikirche zwischen Volkskirche und Sekte – Versuch einer Definition anhand dreier Kennzeichen, in: FF 17 (2008), S. 290 – 296; Jung, Edwin: Die Freikirchen in Österreich. Selbst- und Sendungsverständnis eines neuen Gemeindebundes, in: FF 27 (2018), S. 101 – 109.
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Zweipromille-Klausel des Bekenntnisgemeinschaftengesetzes (1998)52 bis zum 26. August 2013 warten. Da wurde nämlich im Bundesgesetzblatt der Republik Österreich die gesetzliche Anerkennung von fünf Freikirchen kundgemacht,53 die sich zu einer freikirchlichen Union verbündet54 und das freikirchliche Trennungsprinzip55 modifiziert hatten, nämlich die Mennonitische Freikirche, der Bund der Baptistengemeinden, der Bund evangelikaler Gemeinden, die Freie Christengemeinde-Pfingstgemeinde und die Elaia-Christengemeinden. Sie wählten dafür die leider nicht verwechslungsfreie Bezeichnung „Die Freikirchen“56. Dies war nur möglich, weil die Charta Oecumenica alle im Ökumenischen Rat der Kirchen vertretenen Mitgliedskirchen zu einer besonderen Sensibilität für die Beziehung von Mehrheits- und Minderheitskirchen verpflichtet hatte:57 Deshalb wird es an den Freikirchen liegen, ihre gelegentlich artikulierten Vorbehalte gegen den Ökumenismus zu überdenken und die Charta Oecumenica als Basistext des interkonfessionellen Miteinanders in Österreich zu rezipieren:58
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Vgl. Klimt, Walter: Stellungnahme aus der Sicht der Baptisten, in: öarr 57 (2010), S. 224 – 226 mit einer heftigen Kritik an der „unverschämten Zahl von zwei Promille“. 53 Vgl. BGBl. II Nr. 250/2013. 54 Fleischmann-Bisten, Walter: Kirchenunionen im Bereich der Freikirchen, in: Una Sancta 72 (2017), S. 62 – 69. 55 Vgl. dazu auch Strübind, Andrea: Trennung von Staat und Kirche? Bewährung und Scheitern eines freikirchlichen Prinzips, in: ZThG 4 (1999), S. 261 – 288. 56 Schinkele, Brigitte: Gesetzliche Anerkennung der „Freikirchen“ in Österreich aus religionsrechtlicher Sicht, in: öarr 60 (2013), S. 357 – 363, hier: 360; dies.: Aktuelle Fragen des österreichischen Anerkennungsrechts am Beispiel evangelischer Freikirchen und alevitischer Gruppierungen, in: Religionen unterwegs 19/3 (2013), S. 17 – 23. 57 Fichtenbauer, Johannes: Eine katholische Position zur Anerkennung der Freikirchen, in: öarr 60 (2013), S. 374 – 378; Lang, Hans-Peter: Freikirchen auf dem Weg zur staatlichen Anerkennung, in: Fichtenbauer, Johannes/ Heinrich, Lars/Paul, Wolf (Hrsg.), Meilensteine auf dem Weg der Versöhnung. 20 Jahre „Ökumene der Herzen“ am Runden Tisch für Österreich, Wien 2018, S. 265 – 274. 58 Schwarz, Karl W.: Über die Selbstverpflichtung „Vorurteile abzubauen“ und den Dialog mit den „Freikirchen“, in: Ohly, Christoph/Haering, Stephan/Müller, Ludger (Hrsg.), Rechtskultur und Rechtspflege in der Kirche. Festschrift für Wilhelm Rees zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Berlin 2020, S. 781 – 794; Swarat, Uwe: 20 Jahre Charta Oecumenica und die bleibende Hoffnung auf größere Einheit, in: Marosch, Markus/Griesfelder, Martin/Fischer-Dörl, Dietrich (Hrsg.), Weg der Versöhnung 1/1 (2022), S. 9 – 23.
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The Nagas’ Encounter with Christianity The Baptist and the Indigenous Revival Awakenings By Kaholi Zhimomi In the extreme corner of Northeast India sharing its border with Myanmar is Nagaland that hosts a number of tribal groups known as the Nagas. They are a conglomeration of several tribes with different languages and cultures. The detailed account of their migration is vague and obscure due to the loss of the written script. Most of the histories that we know of were either through oral sources or few references by the Ahoms and the western travelers or historians and anthropologies. Oral traditions of the Memei version say that the Nagas came to the present Naga Hills from China. This version tallies with the Chinese historians who view that the Nagas lived in China in the 3rd millennium B.C. around the year 2500 B.C. According to this source the ancient Nagas were also a Chiang group who lived in northeast China. During the Shan and Chou dynasty they took refuge in northeastern Tibet and from there they migrated to upper Myanmar, then moved into Irrawaddy valley, the Malay and finally the Indonesian peninsula.1 Hence from Indonesia they entered the Naga Hills using Myanmar as a corridor, which is in the North Eastern direction of India around the year 1257 C.E.2 The Nagas’ sense of patriotism, freedom and identity were evident during their encounter with the British conquest and later intensified through the resistance with the Indian Government throughout the twentieth century. For this reason, until today the Nagas continue to resist the Indian Government seeking liberation and independence. The Nagas were head-hunters before the advent of Christianity in the nineteenth century. It is a historical fact that when Europe was entering into heights of modernization, industrialization and enlightenment this small tribal nation was still hunting heads and living in the deep jungles far from all the blaze of the new world order. Remarkably, far removed and isolated from modern civilization and resisting the Christian faith, Nagaland today is recognized as the land of Christians especially the Baptist Christians. It has the highest percentage of Christianity in India with almost 90 % of the total population of the indigenous Nagas being Christians. The rapid spread of Christianity in Nagaland can be credited to the different stages of revival movements influenced by pietism and evangelical awakening in Europe and 1 Cf. Sumi, V./Timothy, K.: Cry for Justice, N.p.: Ministry of Information and Publicity, GPRN, n.d., p. 9. 2 Cf. Alemchiba, M.: A Brief Historical Account of Nagaland, Kohima 1970, p. 17 – 19.
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America and the political situations in Nagaland right after the Indian independence. Intense growth occurred with the revival movements that swayed almost all the hills’ people. With the proliferation of Christianity local leadership began to develop to help take the Christian missions to their own kin and tribes. Pietism and Evangelical Awakening in Europe and America and the Naga People Europe experienced religious revivals in the seventeenth and eighteenth centuries and the major emphasis of all these revivals was confined to evangelism. This missionary thinking was influenced by German pietism with the work of Philipp Spener, a Lutheran theologian from Halle University. The evangelicals spearheaded the cause of mission and asked for the state support to Christian missionary activities. There was formation of missionary societies3 and a number of missionaries were sent out to different parts of the world. This awakening had enormous impact on the people of India particularly in South India and Northeast India. It was in this context two German missionaries from Halle, Bartholomäus Ziegenbalg and Heinrich Plütschau came to Tranquebar, Tamil Nadu in 1706 and the British Baptist Missionary William Carey came to West Bengal in 1793 and began the protestant movement in India. By the beginning of the nineteenth century, the religious revival movement swept across America tremendously. The American Baptist Mission with its Puritanical and Evangelical insights and background came to work among the tribal Nagas in Nagaland. Some of fundamentals of faith and the confessional traditions they brought and taught were along these tenets.4 American Baptist Missions: Naga People’s Encounter with Christianity The Christian mission reached the Nagas in 1839 and continued their missionary endeavors but due to political unrest in Nagaland, the missionaries were asked to leave the state in 1954 by the Government of India. The first missionary to the Nagas was Rev. Miles Bronson of the American Baptist Mission. He made contact with the Nagas and Simphosi in 1836 from his station Jaipur, Assam and started a school at Namsa Naga Village which is now under the territory of Arunachal Pradesh. But he discontinued his work due to the death of his sister and his failing health con3 Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK, 1698); Society for Propagation of the Gospel (SPG 1701); Baptist Missionary Society (BMS, 1792); London Missionary Society (LMS, 1795); Church Missionary Society (CMS, 1799); British and Foreign Bible Society 1804; Wesleyan Methodist Missionary Society 1813; American Board of Commissioners for Foreign Missions 1810; American Baptist Missionary Society 1814; Berlin Society 1824; Basel Mission of Switzerland 1815; Denmark 1821; France 1822; Sweden 1835; Norway 1842. 4 Cf. Keitzer, Renthy: In Search of a Relevant Gospel Message, Guwahati 1995, p. 38 – 39.
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dition which forced him to shift to the plains area. Many missionaries tried to enter Nagaland to preach the gospel but unfortunately, they were resisted at the frontiers.5 It was only in 1871 that Rev. Edward Winter Clark and Mary Mead, commissioned as missionaries under Baptist Missionary Union made an attempt to reach out to the Nagas.6 Though the Clarks were primarily assigned to the Sibsagar, Assam mission in 1869, they re-established their contact with the Nagas. E.W. Clark sent one of his Assamese evangelists Godhula to the Ao region to preach the Gospel in 1871, who brought back with him nine Nagas who were eventually baptized and began fellowshipping with them at Sibsagar church. In 1872 a total of twenty-four Ao new converts were baptized. By 1876 E.W. Clark was already living with the Nagas, in the village of Deka Haimong. But because of the constant persecution on 24th October 1876, he decided to form a new village called Molung a few miles away from the present village. Then in 1878 Mary Clark came and joined him in the mission. The Molung church was disbanded on 19th August 1894 and in October a new station at Impur was established.7 They continue to serve the Ao tribe from the Naga community and later to the other Naga tribes for about forty years, and retired from the active service in 1911.8 The coming of E.W. Clark marked the growth of Christianity in the Ao regions and the neighboring areas too. He requested the American Overseas Missionary Board at Boston for a full time missionary and the board commissioned Rev. C.D. King as an official missionary to the Naga Hills. He arrived in India on 19th December 1878, got married on 24th to Anna Sweet of Nowgong, Assam and left for his journey towards Naga Hills. But he was denied entry into the Naga Hills because of the ‘unsettled condition’ of the people. So, he was stationed at Samaguting where he was joined by his wife on 27th June 1879. Together with Punaram an Assamese teacher they began their school work. He finally gained permission and went on to form a mission center at Kohima in March 1880. They were also later on given approval by the Government to establish a new mission at Wokha, a British post in 1885. Rev. Witter, from the Sibsagar mission center was assigned to take up the Wokha mission. The Impur Mission which was established in 1894 helped in schooling, in spreading the Gospel and Biblical education to the Aos, Sangtams, Changs, Phoms, Lothas and the Northern Sumis. The Kohima Mission served the Angamis, Chakesangs, Western Sumis, Southern Sumis, Zealings, Rengmas and Naga Hills Kukis. These two were the earliest missions to spread the Gospel to all the corners of
5 Cf. Sema, Piketo: British Policy and Administration in Nagaland: 1881 – 1947, 2nd Edition, New Delhi 1992, p. 70. 6 Later known as the American Baptist Foreign Missionary Society and now it has changed to Board of International Ministries, American Baptist Churches. 7 Cf. Ao, A. Bendangyabang: History of Christianity in Nagaland: A Source Material, Mokokchung 1998, p. 51 – 52. 8 Cf. Sema, British Policy, p. 73.
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Naga Hills.9 By 1915 there were already 36 Churches with 1700 members among the Aos. Christianity took a foothold among all the tribes under the British rule by 1919. But the mass movements did not take place until the 1920 s and it was through mass conversion that Christianity among the Nagas proliferated.10 The response of the native people to the new religion was incredible. The number of converts began to grow in most of the villages culminating to establishing several local churches. The native evangelists and pastors also played a significant role in the conversion history. The history of the Christian conversion movement is but a subject to ponder with wonder and admiration. Therefore, it is right to assert that the Nagas experienced the most massive movement to Christianity in all Asia, second to the Philippines. It is imperative at this point to ascertain the theories and their motives of conversion. The Christian mission played a dynamic role and made an immense contribution to the upliftment of the Nagas. The establishment of schools, medical services, literature and reducing the native language to a written form were some of the notable contributions to the people. Hence, we may say that the dawn of the nineteenth century Christianity initiated a process of change and transformation among the Nagas. Revival Movements: The Evolution of Indigenous Naga Christianity One of the important factors for rapid growth of Christianity in Northeast India was the series of revival movements. There were periodic revival movements in small scale in 1885, 1896 – 1897, 1910, 1913 – 1914. This new religious movement soon began to be felt by the indigenous tribal people and many people converted to Christianity. Within few decades of American mission in Nagaland there were massive Christian conversion movements among the people. The Mass Movements in Nagaland especially among the Aos were influenced by the conversion of the Tatars or the Gaonburas (village chiefs) which led to the conversion of many people under them.11 Mass movement took place among the Nagas between 1922 and 1926. In 1922 there were 4,725 baptized Christians, in 1926 the membership rose to 8,973 and churches were organized in fifty-three villages. In 1926 while celebrating the fifty years anniversary of the arrival of E.W. Clark among the Aos, Christians had taken a strong decision to reach out to their own people with indigenous support and to encourage women’s education. Since 1930, the Ao churches became self-supporting and there was a steady growth of Christians so that by 1936 there were already sixty-four Churches with 10,000 baptized members. In 1945 the baptized membership was 14,000. Christianity among Sumi Nagas also had a rapid growth though they received Christianity very late. But by the year 1925 there 9
Cf. ibid., p. 72. Cf. Linyu, Keviyiekielie: Christian Movements in Nagaland, Kohima 2004, p. 57, 68, 73. 11 Cf. Linyu, Christian Movements, p. 73.
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were about 500 baptized members. In this same year the mass movement began among the Sumi areas. It was exercised by the local people without the influence of any Western missionaries.12 The Christian conversion movement began to grow and manifest itself vividly. Mrs. Clark wrote, “the new wave was none other than the work of the Holy Spirit.”13 These revival movements14 led to both numerical and spiritual growth. The arrival of C. E. Hunter, a product of the eighteenth century ‘American Awakening’ in 1948 also made a remarkable contribution to the revival movement. Rev. Rikum, the then evangelist said that Hunter started teaching the need for revival from 1949, because he saw people being baptized without receiving the power of the Holy Spirit; and without receiving forgiveness of sins.15 As revival was progressing Hunter had to leave the mission field due to some personal reasons and problems in 1950. However, due to the dynamic preaching of Rikum, who was a close associate of Hunter, phenomenal revival broke out in some villages.16 During the decade between 1941 and 1951 there was a remarkable increase in the number of Christians under the direction of the missionaries. The local leaders also played a great role during the decade 1951 – 1961. The 1950 s revival movement led many to accept Christianity. In the midst of Indo-Naga political turmoil, sufferings, and conflicts, revival movement swept all over Nagaland resulting to the establishment of several churches. In this spiritual movement, miracles were performed and revival songs were heard everywhere. It was also a force for reconciliation as Christian love was restored, stimulating many to convert into the Christian fold both as individuals and as groups. The same kind of revival occurred again in the 1970 s and the remaining Nagas converted to Christianity except for few tribal groups who chose to remain in their old tribal religious faith.17 Though it was the foreign missions that initiated the change in the religious position among the indigenous people groups, the rapid spread of Chris12
Cf. ibid., p. 91 – 97. Baptist Missionary Magazine, Vol. 1, No. LXXVII (October, 1897), p. 569. 14 Some of the characteristics of the revival movement in the 1950 s were: 1) People came to know their savior Jesus Christ and repented of their sins; 2) The presence of Holy Spirit was felt; 3) Young people started undergoing theological training; 4) Many lay people dedicated their lives to be full-time church ministers among border tribes like the Phoms, Sangtams, Changs, Konyaks and Yimchungs. Throughout 1949 – 1950, Ao Pastors in 25 teams went to preach the “Good News” in the border areas; 5) The local churches became more conscious of and concerned for perishing souls; 6) Bible school was opened at Impur Christian center to train native people; and 7) As a result of revival, the translation of the Holy Bible was taken up. 15 Cf. Ao, Rikum: 1952 Nungi Naga Revival, Mokokchung 1978, p. 1. 16 Cf. Longkumer, Akumla: Revival in Nagaland: Fact or Fallacy? Aolijen, Mokokchung 1986, p. 29. 17 Cf. Downs, Frederick S.: History of Christianity in India: North East India in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Vol V., Bangalore 1992, p. 108. 13
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tianity can be credited to the local Christian leaders through different stages of revival movements. Local leadership began to promote indigenous values among the larger section of the community in Nagaland within the programmes of evangelism and education. Moreover, it also became clear that leaders within the traditional socio-political structures of the different tribes largely influenced the conversion movement. The Tatar systems of the Aos, the Ahngnate of the Konyaks and the Chieftainship of the Sumis, the Sangtams and the Lothas influenced conversions in great numbers. During the great revival, the churches witnessed the development of indigenous Christian songs with new tunes developed from English hymns and traditional folk music. Song writers and composers increased, but the theology in essence remained Western. Among the Ao-Naga the first revival songbook, Revival aser Sayutsungi Ken (Revival and Preaching Songs), was published in 1965. This was translated into other tribal dialects for the use and development of indigenous spiritual songs, with emphasis on the imminent return of Christ and hope for heaven. The revival songs focused on eschatological aspirations and a futuristic perspective on Christ, failing to address the ‘humanness’ and ‘liberative’ mission of Christ and leading to indifference toward socio-political and cultural aspects of the society. Nevertheless, revival movements were channels in reforming indigenous identity since they paved the way for the renaissance of traditional religions and cultures. The spiritual-cultural elements like traditional drums and indigenous songs and dances were integrated into the worship patterns of Christianity. Regrettably today these indigenous revival ways of worship are incorporated only during revival services, home devotions and annual Christian gatherings, while the usual church services are still modeled after the missionaries’ worship prototype. Naga Tribal Spirituality, Rituals and Ceremonies: Discontinuities and Continuities Even as Christianity crossed the threshold of Naga cultures, it ushered in significant transformations in belief, cultural life, health and hygiene, community dynamics and education. Navigating post-independence and post-colonial times, the people and cultures of the Naga people have never remained the same. Nonetheless, those living in the rural context continued to maintain their intrinsic customary social and economic statuses, rituals and unique structures of ascendancy. Two dominant theories have been advanced to explain the change: assimilation theory and synthesis theory. According to assimilation theory, there was a series of assimilation movements, which can be conceptualised as ‘Sanskritisation,’ ‘Westernisation’ and ‘Christianisation.’ According to synthesis theory, on the other hand discontinuity between Christianity and the old way of life has not been as radical as some observers have claimed. External matters, such as earlier customs of dressing and hair style among indigenous
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communities, took shape in new ways. There was a fusion of traditions and Christianity, a synthesis between the two. The new religion – Christianity – was understood in fundamentally the same way that religion had always been understood. Christianity did not bring instant change in the cultural traditions, but as the natives converted to the new religion there was a union of the new and the old. In the process a mutation occurred to create a Christian religion unique to the specific culture of the indigenous people of Northeast India. This calls for careful study of the individual contexts and value systems, with a view to better understanding both the change and the continuity that marked the reception of Christianity. The tribal people did not have a standardised codified system of religion. Rather, their spirituality was integral to their very being. They believed in the creator God or high God. Like most of the tribal peoples around the world, their beliefs were based on their experience of daily life – hunting and agriculture, achievements and losses, feasting and mourning. Christianity simply redefined the nature of a God with whom the people had been familiar. Some of the rites and taboo observances of the old religion and traditional life elements were not negated totally but were incorporated into Christianity with Christian undertones. They survived in new guises under the new order; for example, observance of the Sabbath replaced genna or taboo days, hence many among the indigenous communities still do not travel on Sundays because of their understanding of taboo. Church buildings replaced the previous indigenous sacred space. Christian celebrations such as Easter and Christmas provided alternatives to traditional community feasts and celebrations. Christian funeral rites incorporated the indigenous custom of burying important items along with the body of the departed, traditionally believed to be essential for the journey to the Village of the Dead. Angels and demons replaced tribal beliefs in benevolent and malevolent spirits. Indigenous fortune tellers or diviners were succeeded by Christians speaking in tongues and prophesying. There is certainly continuity between old and new, and the process should not be understood as one replacing the other. Christian love began to be expressed along the contours of traditional religious perspectives so as to form a synthesis of the two religions. However, in spite of the continuity in some intrinsic values and systems, the indigenous people began to engage in the process of change that ushered in multiple intricacies that continue to exist till today. Though in certain areas the indigenous people retained their old traditional habits, the general cultural ethos of the indigenous communities is steadily losing ground to modernisation and globalisation. Youth dormitories, basic native institutions for moral correctness and orderliness, were replaced by institutions like schools and churches. The indigenous solidarity and the concept of communitarianism gave way to individualism. Communal and collective land ownership is replaced by individual ownership, which continues to usher in many family, community and village disputes. Claiming of ownership of
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lands and villages has increased over the years, subsequently leading to displacement, disowning and clan hatred. The clanship system is still maintained in the overall social structure. Hence there is an increased interest in the re-reading of the history of clans and lineage to determine individual clan superiority. Exogamy of clans and endogamy of tribes are still persevered so as to safeguard purity of lineage. The individual labour system is replacing the communal labour system common to all the indigenous people, known as aloji among the Sumis in Nagaland. Under aloji, the community is divided into groups, such as the youth, and these groups cultivate the fields of each individual family without payment. Every adult person is involved in helping cultivate the fields of the other members, and they themselves are helped in return. However, this system is declining as it gives way to a new system of agriculture. The monetised economy, the state administrative system, transportation and communication, the extension of welfare activities, and media exposure compelled the ethnic people groups to discontinue their old ways of living in favour of more modernised and globalised methods. Since the Naga cultural system is quite distinct from the hierarchical Indian caste society, the changes introduced by the coming of Christianity seemed unforced and occurred without many setbacks. The absence of hierarchy and extreme disparities in distribution of wealth facilitated the transitioning of the indigenous communities. However, the genetic heterogeneity of the indigenous people was not in any way replaced by the cultural homogeneity. Neither did cultural similarity among the indigenous communities eliminate conflict and division in the areas of economics and politics. Amidst indigenous cultural connections the tendency to manifest their own individuality and distinctiveness still causes struggle in many parts of the Naga region like clanship, chieftanship and tribalism. Conclusion The cultural change that Christianity brought, especially within the revival movements was not unilinear but involves both dislocation of the old culture and accretion, where there is a mutation of the old and new. The process of the selective retention of the old and the selective rejection of the new are necessary in the course of cultural change so that culture is protected from assimilation or isolation. After the exit of the foreign missionaries there was a renaissance of traditional religions and cultures that brought to light many old traditions and cultures which were preserved and inculcated in the Christian worship system and societal structure. From this vantage point Christianity must not be assumed to be an agent of acculturation but an agent that helped in the process of metamorphosis of the indigenous norms into authentic tradition. In the context of popular urban culture, ‘becoming indigenous’ is complex. Along with the imbibing of the new, old value systems and thought patterns continue to flow seamlessly, connecting indigenous people to their roots. In this way they recover strands of indigeneity that were once lost amidst the cultural hues of the West
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and Christian religion. In this contemporary context the indigenous people groups of Nagland continue to expand their cultural boundaries to form a synthesis of indigenous heterogeneity.
Auf dass sie alle eins seien Freikirchliche Vereinigungsbemühungen 1937 bis 1941 Von Andreas Liese Erich Sauer, damals Studienleiter der Bibelschule Wiedenest, veröffentlichte 1939 einen Artikel, in dem er die Auffassung vertrat, dass Gott immer besondere Glaubenswahrheiten in „bestimmten Jahrhunderten“ neu in den Mittelpunkt stelle. So wurde im 17. und 18. Jahrhundert besonders das Prinzip der Heiligung im Pietismus betont. Vor allem das 19. Jahrhundert war durch eine „glückselige Hoffnung“, d. h. also durch die Erwartung der Wiederkunft Jesu gekennzeichnet. Für seine Zeit stellte Sauer ein besonderes Bemühen um die „praktische Verwirklichung […] [der] gottgegebenen Einheit“ der Gemeinde fest.1 Diesen Bestrebungen und ihren Begründungen soll in diesem Beitrag nachgegangen werden. I. Vereinigungsbemühungen 1. Diskussionen und Entscheidungen 1937/38 Schon 1933 hatte es Überlegungen gegeben, die fünf, der „Vereinigung evangelischer Freikirchen“ (künftig: VEF) angehörenden Glaubensgemeinschaften in einem Bund der Freikirchen zusammenzuführen.2 Anlass dafür waren Befürchtungen hinsichtlich einer Gleichschaltung mit der neuen Reichskirche und dem NSStaat. Für den Fall, dass es möglich sein würde, neben der Deutschen Evangelischen Kirche als eine geeinte Freikirche zu existieren, wurde im Sommer 1933 ein Verfassungsentwurf für einen „Bund deutscher Freikirchen“ ausgearbeitet.3 Im September des Jahres wurde dieser auf der VEF-Vorstandssitzung beraten und angenommen.4
1
Sauer, Erich: Gelegenheit zum Sieg, in: Handreichung. Freikirchliche Monatsschrift 24 (1939), S. 14 – 18, hier: 15. 2 Vgl. zum Ganzen Baumann, Imanuel: Loyalitätsfragen. Glaubensgemeinschaften der täuferischen Tradition in den staatlichen Neugründungsphasen des 20. Jahrhunderts (Kirche – Konfession – Religion 78), Göttingen 2021, S. 205 – 210. 3 Abgedr. in: Zehrer, Karl: Evangelische Freikirchen und das „Dritte Reich“ (Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes, Ergänzungsreihe 13), Göttingen 1986, S. 112 – 114. 4 Verhandlungsbericht des Vorstandes der Vereinigung Evangelischer Freikirchen und der Vorsitzenden der Aktionsausschüsse der dieser Vereinigung angeschlossenen Freikirchen und
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Nachdem man aber sowohl im Reichsinnenministerium als auch von der Kirchenleitung erfahren hatte, dass weder an eine Eingliederung in die evangelische Kirche noch an einen zwangsweisen Zusammenschluss gedacht sei, wurde das Vorhaben, eine einheitliche evangelische Freikirche zu bilden, erst einmal nicht weiter verfolgt.5 In den nächsten Jahren tat sich bezüglich eines Zusammenschlusses der Freikirchen nichts. So konstatierte der baptistische Bundesdirektor Paul Schmidt (1888 – 1970) im Februar 1937, dass die „taufgesinnten Gemeinden“, die eine „klarere Schau der Gemeinde“ besäßen, sich „nicht näher gekommen“ seien, allerdings hätte es auch kaum diesbezüglich Bestrebungen gegeben.6 Allerdings war diese Frage schon 1936 von Ernst Lange, einem führenden Vertreter der Offenen Brüder, aufgegriffen worden.7 Anfang 1937 veröffentlichte er eine Artikelreihe unter der Überschrift Die Überwindung der Konfessionen. Er forderte dazu auf, die bestehenden Lehrgegensätze zwischen den einzelnen Freikirchen eher als Lehrunterschiede zu verstehen. Entscheidend sei, die Einheit der Gläubigen im Sinne von Joh 17 zu verwirklichen. Unterschiede in Fragen der Gemeindeordnung, Taufe und Abendmahl würden keine Trennungen rechtfertigen. Lange forderte also nicht dazu auf, seine Herkunftstradition einfach aufzugeben, sondern diese nicht mehr als Hindernis für die Verwirklichung der praktischen Einheit der Christen anzusehen.8 Wichtig für die weitere Entwicklung in dieser Frage war dann die Theologische Woche der Baptisten Ende März/Anfang April 1937, an der ungefähr 170 – 180 Prediger und Älteste teilnahmen. Hier entstand „die Überzeugung“, dass man „ein erstes Wort zur Sammlung der Taufgesinnten-Christen finden sollte, zum Zeugnis an die Welt, zur Erfüllung von Jesu Wunsch und zur Kräftigung der Gemeinde“.9 Gedacht war dabei neben den Baptisten an die Geschlossenen und die Offenen Brüder und an die Freien evangelischen Gemeinden (künftig: FeG).10 Danach suchten Paul Schmidt und der Prediger Karl Gronenberg aus Duisburg Ernst Brockhaus auf, bei dem es sich um einen der wichtigsten Vertreter der GeGemeindebünde, 4. Oktober 1933, Punkt 6, in: Oncken-Archiv, E2 VEF-Korrespondenz 1922 – 1957. 5 Bericht der Verhandlungen des Vorstandes der Evangelischen Kirchen in Deutschland in der Sitzung am 29. Dezember 1933, in: ebd. 6 Schmidt, Paul: Das Jahr und die Zeit, in: Hilfsbote 47 (1937), S. 25 – 28, hier: 28. 7 1936 erschien von ihm eine kleine Schrift, die die Überschrift trug: Die Bibel gegen konfessionellen Zwiespalt. Dabei handelte es sich um einen Auszug aus dem Buch „Der Ausweg“, ebenfalls 1936 in Diesdorf erschienen. 8 Vgl. Lange, Ernst: Überwindung der Konfessionen, in: Die Tenne 15 (1937), S. 11 ff., 37 ff., 65 ff. Schriftleiter dieser Zeitschrift war Fritz von Kietzell, der den Geschlossenen Brüdern angehörte. 9 Bundespost 3/1937. 10 Vgl. P. Schmidt, Rede auf der 30. Bundesversammlung des Bundes der Baptistengemeinden 1941, in: Oncken-Archiv, 30. Bundesversammlung, Anlage 6.
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schlossenen Brüder (künftig: GB)11 handelte.12 Letzterer reagierte durchaus positiv. Die Anfrage beim Bund Freier evangelischer Gemeinden (künftig: BFeG) ergab, dass man es dort bei den verschiedenen Bünden belassen wollte. Die Offenen Brüder (künftig: OB) reagierten zuerst zögerlich, zeigten sich aber dann doch gesprächsbereit.13 Ernst Lange nahm dann Ende Mai noch schriftlich Stellung zur Anfrage der Baptisten. Er befürwortete einen Zusammenschluss und meinte, wenn diese Bestrebungen im Sinne der Regierung wären, sei dies „als ein Eingreifen Gottes“ zur Förderung der Einheit zu begrüßen. Sollte die Bildung einer „Einheitsgemeinde“ die Position der freikirchlichen Christen im NS-Staat stärken, wäre dies ebenfalls positiv zu bewerten. Dabei stand es für Lange außer Frage, dass die Körperschaftsrechte der Baptisten auch auf einen neuen Gemeindebund auszudehnen seien. Grundlegend für die neue Organisation müsste ein kongregationalistisches Kirchenverständnis sein. Entscheidend war für Lange, dass die neue Organisation einen neutralen Namen tragen müsse, wie beispielsweise „Bund der Christengemeinden oder Christenbund“. Am Ende seiner Ausführungen, die auch schon genaue organisatorische Vorschläge beinhalteten, forderte Lange zum sofortigen Beginn der Vereinigungsarbeit auf.14 Lange wies in seiner Stellungnahme auch auf aktuelle Probleme der GB hin und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass diese gelöst werden könnten. Damit meinte er das Ende April erfolgte Verbot dieser Gemeinschaft, das durch die Geheime Staatspolizei ausgesprochen worden war.15 Diese gab dann dem promovierten Juristen und Wirtschaftsmanager Hans Becker die Erlaubnis, mit den aus ihrer Sicht loyalen Kräften der verbotenen GB den Bund freikirchlicher Christen (künftig: BfC) gründen zu können. Hier sind diese Ereignisse insofern von Interesse, als dass die Vereinigungsfrage jetzt bei den ehemaligen GB eine neue Bedeutung erhielt. Auf der Informationsveranstaltung für die Vertreter der verbotenen Gemeinschaft erläuterte Becker die Bedingungen, unter denen örtliche Gruppen des BfC entstehen könnten. In diesem Zusammenhang verdeutlichte er, dass damit auch eine grundsätzliche Änderung 11 Die Bezeichnungen für diese Gemeinschaft sind vielfältig: Christliche Versammlung (so wird diese Gemeinschaft in den Gestaposchriftstücken genannt), Elberfelder Brüder und Darbisten. Diese wie auch die Offenen Brüder gehören zur Brüderbewegung. Vgl. dazu: Artikel „Brüderbewegung in Deutschland“ auf dem Portal der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen: Digitale Konfessionskunde; Brüderbewegung in Deutschland, https://konfessionskun de.de/kirchen/detail/bruederbewegung-in-deutschland/ [Zugriff 17. 07. 2022]. 12 Vgl. P. Schmidt an Gustav Runkel, 02. 04. 1947, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. Vgl. zu Brockhaus: Liese, Andreas: Verboten-geduldet-verfolgt. Die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung, Hammerbrücke 2002, S. 106 f. 13 Vgl. Schmidt, Paul: 15 Jahre Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, in: Junge Mannschaft. Zeitschrift für die Jugend im Bund Ev.-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (August 1956), S. 16. 14 Vgl. E. Lange, Gedanken über die Einigungsvorschläge der Baptisten, 26. 05. 1937, in: Oncken-Archiv, Bestand Büro des Bundesdirektors. 15 Zum Verbot der Geschlossenen Brüder (Christliche Versammlung) und der Entstehung des Bundes freikirchlicher Christen vgl. Liese, Verboten, S. 207 – 271.
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der Haltung gegenüber den Christen außerhalb des Kreises der GB erfolgen müsse. Er führte diesbezüglich aus, dass die „Brüder“ ihrem Anspruch, die Einheit der Gemeinde zu bezeugen, nicht nachgekommen seien; man habe vielmehr eine „Mauer“ der Trennung (Absonderung) gegenüber anderen Christen aufgerichtet. An diesem Punkt müssten grundlegende Veränderungen stattfinden. Zu fragen sei daher, ob es für die „Brüder“ noch biblische Gründe der Trennung von anderen Gemeinschaften gebe. Die nun aufzubauende Organisation werde deshalb nur als eine Übergangslösung begriffen, da er auf das Entstehen einer „Einheitsorganisation“ jenseits der Landeskirchen hoffe, in der dann der BfC aufgehen könnte.16 Die Vorläufigkeit des BfC benannte Becker 1947 auch in einem Memorandum für die damalige Bundesleitung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, in dem es hieß, der BfC sei „gegründet worden […] mit der klar ausgesprochenen Absicht, nur ein Zwischenstadium zu sein auf dem Wege des Zusammenschlusses“ mit anderen Christen.17 Damit hatten die Baptisten einen wichtigen Bündnispartner für ihre Einheitsbestrebungen gewonnen. Ernst Lange wollte nun ausloten, ob es schon möglich sei, eine Verständigung zwischen dem neuen BfC und den Kirchenfreien christlichen Gemeinden (künftig: KcG), wie die OB jetzt offiziell hießen, zu erreichen. So verabredete man ein Gespräch zwischen führenden Vertretern beider Gruppen am 20. August 1937 in Kassel. Lange hatte noch Paul Schmidt hinzu gebeten, da dieser nach seiner Einschätzung organisatorische Hilfen leisten könnte. Schmidt lud seinerseits noch weitere Baptisten ein, so dass sich daraus ein Gespräch zwischen drei Verhandlungsdelegationen entwickelte.18 Das Protokoll betonte gleich zu Anfang, dass man, da Vertreter der FeG nicht zugegen seien, keine weitreichenden Beschlüsse fassen könne. Am Anfang sprachen zuerst die Delegationen der beiden Brüdergruppen miteinander. Man kam überein, die historischen Ursachen für die Trennung der beiden Richtungen der Brüderbewegung nicht weiter zu untersuchen, sondern diese Frage auf sich beruhen zu lassen. Da man auch in wichtigen Lehrfragen einen Konsens erlangen konnte, beschloss man, den Gemeinden mitzuteilen, dass man sich umfassend geeinigt habe und einen gemeinsamen Bund anstreben wolle.19 16 Zusammenfassung der Elberfelder Zusammenkunft, 30. 5. 1937, zit. n. Kretzer, Hartmut: Quellen zum Versammlungsverbot des Jahres 1937 und zur Gründung des BfC. Mit einer historischen Einordnung und Kommentaren des Herausgebers, Neustadt/Weinstraße 1987, S. 80 – 85, hier: 84 f. 17 H. Becker an die Mitglieder der Bundesleitung und der Geschäftsführung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, 01. 10. 1947, Anlage 5 zum Protokoll der Sitzung der BL, in: Oncken-Archiv. 18 Vgl. E. Lange an A. v. d. Kammer, 23. 08. 1937, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. 19 Vgl. dazu ausführlich: Liese, Andreas: 1937 – ein Schicksalsjahr der deutschen Brüderbewegung, in: Getrennte Brüder finden zusammen. Der Zusammenschluss von Geschlossenen und Offenen Brüdern in Deutschland 1937, hrsg. vom Arbeitskreis „Geschichte der Brüderbewegung“, o.O. 2012, S. 6 – 25; online auf: www.bruederbewegung.de.
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Danach sprachen beide Brüderdelegationen auch mit den Baptisten bezüglich eines Zusammenschlusses.20 Dabei machten die Vertreter der Brüdergruppen deutlich, dass bei einer eventuellen Vereinigung ein neuer Name gefunden werden müsse. Die baptistischen Vertreter stimmten dem zu. Alle drei Gruppierungen verwarfen die Idee eines lockeren Dachverbandes und befürworteten die Bildung einer „Einheitsorganisation“, wobei am Prinzip der Selbstständigkeit der Ortsgemeinde festgehalten werden sollte. Der schwierigste Punkt stellte die Tauffrage dar. Hier gelang es den Vertretern der beiden Brüdergruppierungen, den Baptisten ein bemerkenswertes Zugeständnis abzuringen: Man würde zunächst auch diejenigen als Mitglieder in einer neuen Organisation akzeptieren, die nicht die Glaubenstaufe empfangen hätten. Die Vertreter der beiden Brüdergruppen machten deutlich, dass sie sich ebenfalls für die Gläubigentaufe aussprächen; allerdings würde sie diese nicht zu einer Vorbedingung für die Teilnahme am Abendmahl erklären. Ein Konsens bestand auch darin, die Körperschaftsrechte auf die neue Organisation übertragen zu lassen. Im Prinzip war damit schon die Einigung skizziert worden, die dann knapp 4 Jahre später umgesetzt werden sollte. Erkundigungen beim Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten (künftig: RKM) ergaben, dass ein Zusammenschluss möglich sei.21 Als die Anfrage an das RKM gerichtet wurde, hatte dieses bereits die Geheime Staatspolizei gefragt, wie man sich zu einem Anschluss der Mitglieder der verbotenen GB an die Baptisten stelle. Da das RKM nicht mit deren Verbot einverstanden und auch an der Entstehung des BfC nicht beteiligt gewesen war, lehnte es diesen ab. Man plädierte dort stattdessen für einen Anschluss an die Baptisten. Die Gestapo erklärte, dass erst einmal der BfC als Organisation notwendig sei. Später könne er sich dem Baptistenbund anschließen. Allerdings dürfe dieser Bund nicht zu einem „Sammelbecken“ der Freikirchen werden.22 Diese Auskunft bildete die Grundlage für das positive Votum des RKM. Da die FeG unbedingt an den Verhandlungen teilnehmen sollten, trafen sich Vertreter der beiden Brüdergruppen und der Baptisten mit Vertretern des BFeG am 17. September zu einem Gespräch in Kassel. Allerdings war die Delegation der FeG nicht hochkarätig besetzt. Es nahmen lediglich die Prediger Wöhrle (Schriftleiter der Zeitschrift „Gärtner“ der FeG) und Wächter teil war. Im Protokoll der baptistischen Bundesleitung (künftig: BL) hieß es hinterher, die freien Gemeinden und die OB hätten Forderungen erhoben, die die Baptisten „gewissensmäßig nicht erfüllen“ könnten.23 So gestand Wächter zwar den Baptisten die „biblische Berechtigung der Gläubigentaufe zu“, forderte sie aber gleichzeitig auf, von der Forderung der „Groß20 Vgl. hierzu und im Folgenden: Protokoll der Besprechung vom 20. 08. 1937 (wahrscheinlich von Hugo Hartnack verfasst), in: Archiv Wiedenest, Bestand Zeiger. 21 Vgl. den Kurzbericht (Baptisten) für den August 1937. 22 Vgl. zum Ganzen: Liese, Verboten, 389 f. 23 Protokoll der Sitzung der BL des Bundes der Baptistengemeinden, 14./15. 10. 1937, Pkt. 18: Einigungswerk der Taufgesinnten, in: Oncken-Archiv, Protokollbuch (Sitzungen der BL), S. 113.
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taufe“ als Voraussetzung der Gemeindemitgliedschaft abzusehen.24 Interessant ist, dass Christian Schatz, ein Vertreter der OB, diese Position unterstützte, während die Vertreter des BfC sich stärker für die baptistische Auffassung aussprachen.25 Die Baptisten hatten ihrerseits den Anderen die „uneingeschränkt[e] Abendmahlsgemeinschaft“ angeboten.26 Das war allerdings ein bemerkenswertes Zugeständnis, da in der Regel in baptistischen Gemeinden das geschlossene Abendmahl praktiziert wurde, was bedeutete, dass nur gläubig Getaufte daran teilnehmen konnten.27 Nach dem Treffen äußerten sich verschiedene Teilnehmer schriftlich. So verfasste Christian Schatz eine kurze Stellungnahme, die er an einige Vertreter der beiden Brüdergruppen (Becker, Richter, Neumann u. a.) verschickte.28 Im Begleitschreiben hieß es, dass sich Schatz dazu genötigt sehe, da Becker am Ende des Treffens am 17. September festgestellt habe, ein „Zusammengehen“ sei nicht möglich, da die FeG und die OB eine „ablehnende Haltung“ bekundet hätten. Er führte u. a. dazu aus: Wegen der Beibehaltung der Körperschaftsrechte sei es notwendig, zuerst in den Baptistenbund einzutreten. Erst danach könnte es zur „Namensänderung“ und zu einer neuen Verfassung kommen. „Ein Eintreten“ in den Baptistenbund sei aber den OB nicht möglich, da es sich bei ihm um einen Predigerbund handelte. Eine derartige Ausrichtung widerspreche jedoch den Auffassungen der OB vom allgemeinen Priestertum. Entscheidend sei vor allem, dass die „Gläubigen-Taufe“ keine Bedingung für die Gemeindezugehörigkeit sein könne. Das habe Wächter richtig gesehen. Die Baptisten aber würden an diesem Grundsatz festhalten. Um den anderen entgegenzukommen, würden sie den „sonderbaren“ Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Gemeinden machen. Letztere wie die FeG oder die OB würden damit den „Stempel der Minderwertigkeit“ erhalten. Lange verfasste daraufhin Anfang Oktober eine schriftliche Stellungnahme. Zuerst stellte er noch einmal fest, die Baptisten seien dazu bereit, dem neuen Bund einen neutralen Namen zu geben. Im Gespräch sei die Bezeichnung „Bund biblischer Gemeinden“, der Einzelne könnte sich „Bibelchrist“ nennen. Außerdem böten die Baptisten allen Mitgliedern die Abendmahlsgemeinschaft an. Allerdings seien sie nicht 24
E. Lange an von der Kammer, 03. 10. 1937, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. Allerdings teilten nicht alle OB diese Auffassung. Gerade Johannes Warns hatte in seinem Buch über die Taufe, das in zweiter Auflage vom baptistischen Oncken-Verlag herausgegeben wurde, eine direkte Verbindung zwischen Glaubenstaufe und Gemeindemitgliedschaft hergestellt. Vgl. Liese, Andreas: Taufverständnisse in der Brüderbewegung, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinden 12 (2007), S. 272 – 286, hier: 278. 25 Vgl. E. Lange an von der Kammer, 03. 10. 1937, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. 26 E. Lange an Ernst Pickhardt, 06. 01. 1938, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. Lange schrieb, dass er sich Anfang Januar noch einmal in der Geschäftsstelle erkundigt habe, ob diese Zusage noch gelte; Lange erhielt eine zustimmende Antwort. 27 Vgl. Popkes, Wiard: Abendmahl und Gemeinde. Das Abendmahl in biblisch-theologischer Sicht und in evangelisch-freikirchlicher Praxis, 2. Aufl., Wuppertal/Kassel 1983, S. 27 – 31. 28 Vgl. C. Schatz, Warum wir nicht in den Bund der Baptisten eintreten mit einem Begleitschreiben an verschiedene Brüder, 21. 09. 1937, in: Archiv Wiedenest, Bestand Zeiger.
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dazu bereit, die Glaubenstaufe als Bedingung für die Gemeindemitgliedschaft aufzugeben, wie auch die anderen nicht auf die Wiedergeburt als alleinige Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Ortsgemeinde verzichten würden. Damit gäbe es in einem zukünftigen Bund zwei Arten von Gemeinden, diejenigen, die Menschen allein auf der Grundlage der (spirituellen) „Wiedergeburt“ aufnähmen; die anderen, die nur gläubig Getauften die Gemeindemitgliedschaft gewährten. Lange führte weiter aus, dass es für die Existenz von vier Gruppierungen mit eigenen Bezeichnungen keine biblische Rechtfertigung mehr gebe. Einer Arbeitsgemeinschaft der vier Bünde erteilte Lange eine Absage.29 Ein Bund von Gemeinden mit zwei unterschiedlichen Ausrichtungen – so Becker in einem Schreiben an alle Verhandlungsdelegationen – könnte aber eine Ursache für künftige Spaltungen darstellen. Er schlug deshalb vor, eine Einzelmitgliedschaft im Gesamtbund einzuführen, da jeder Christ Glied am Leib Christi sei. Die Mitglieder des Bundes könnten sich dann an einem Ort zu einer Gemeinde zusammenschließen, diese hätte aber einen lediglich verwaltungsmäßigen Charakter.30 Becker wollte damit die Strukturen des BfC auf einen gemeinsamen Bund übertragen: Man wurde Mitglied des BfC.31 Der Vorschlag Beckers wurde aber in der weiteren Diskussion nicht aufgegriffen. Lange erläuterte dann noch zweimal seine Abhandlung vom 1. Oktober für die OB; hier sei auf seine Bemerkungen vom 15. Oktober eingegangen, die vertraulich sein sollten.32 Die erste Reaktion auf die Vorschläge zu einer Verschmelzung der Gruppen sei häufig, man werde dann Baptist. Aber dies wolle niemand; der einzelne „Bibelchrist“, der man dann sei, behalte seine „gewissensmäßige Überzeugung“ und bringe sein „Erkenntnisgut“ ein. Denn es ginge in diesem neuen Bund darum, die „Glaubenseinheit“ zu bezeugen. Wichtig sei, dass das Prinzip der „Selbstständigkeit“ der Ortsgemeinde gelte; Gemeinden könnten deshalb ihre bisherige Prägung beibehalten, Rücksicht auf Entscheidungen der anderen sei aber geboten. Die Leitung des neuen Bundes müssen aus den Angehörigen der vier Gruppen gebildet werden; dabei habe das Prinzip der Einstimmigkeit bei wichtigen Entscheidungen zu gelten, damit Beschlüsse gegen die eigene Gruppe nicht möglich seien. Ein Name zur Kennzeichnung sei wichtig, dürfe aber nicht die Tatsache des einen Leibes ignorieren. Deshalb müsse er so inklusiv sein wie möglich. Als nächsten Schritt nannte Lange die „Vereinigung mit dem Bund freikirchlicher Christen“, die bald geschehen müsse. Er äußerte dann noch die Vermutung, dass,
29 Vgl. E. Lange, Gedanken über den Vorschlag der Baptisten, einen neuen Bund zu bilden, 01. 10. 1937, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. 30 Vgl. H. Becker an die vier Verhandlungsdelegationen, 08. 10. 1937, in: Oncken-Archiv, Bestand Büro des Bundesdirektors. 31 Vgl. Liese, Verboten, S. 404 f. 32 Vgl. E. Lange, Vertrauliche Bemerkungen zu den „Gedanken“, 15. 10. 1937, in: AW, Nachlass Bister.
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wenn der Staat einen Zusammenschluss fordern würde – was aber nicht der Fall sei –, dies wohl für niemand eine „Gewissensfrage“ wäre.33 Wie von Lange erhofft, wurde dann Mitte November der offizielle Beitritt der KcG zum BfC vollzogen.34 Diese Vereinigung wertete Lange in einem Papier aus, das er im Hinblick auf eine weitere Zusammenkunft von Baptisten, FeG und BfC verfasste. In zwölf Punkten beschrieb er die Grundlagen für einen zukünftigen Zusammenschluss. Seit dem Frühjahr liefen nun die Einigungsbemühungen. Der erste Schritt sei durch die am 16. November erfolgte Vereinigung zwischen beiden Brüdergruppen geschehen, wobei Lange allerdings den Sachverhalt nicht ganz korrekt darstellte: Es handelte sich – wie beschrieben – nicht um einen Zusammenschluss, sondern um einen Eintritt der KcG in den BfC. Lange bezeichnete diese Vereinigung als ein „Schulbeispiel“ für weitere Zusammenschlüsse. Er führte im Weiteren die Aspekte an, die dabei beiden Seiten wichtig geworden seien und die „zugleich […] [eine] Darlegung der Grundlagen“ für weitere Bemühungen sein könnte. Wichtig sei allen Beteiligten gewesen, dass es nur einen Leib Jesu gebe, deshalb seien alle „Parteiungen […] unbiblisch“. Verpflichtend sei Jesu Gebot, eins zu sein, damit die Welt erkennen könne, dass Gott Jesus in die Welt gesandt hat. Dieser neue Bund bedeutete keine Absonderung von anderen. Basis für den erfolgten Zusammenschluss sei der bestehende „Erkenntnisstand“, an den man gewissensmäßig gebunden sei. Daher könne man sich auch nicht gegenseitig seine Erkenntnisse aufzwingen. Deshalb gehe es um „Glaubenseinheit“ und nicht um „Erkenntniseinheit“. Entscheidend sei, dass man das „gemeinsame Zeugnis“ der Welt „schuldig“ sei. Voraussetzung für die Aufnahme in den Bund sei die Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde. Die „Mitglieder aller vereinigten Gemeinden“ könnten dann „Abendmahlsgemeinschaft“ nach den Vorgaben der Bibel pflegen. Lange wies noch einmal auf das Prinzip der Autonomie der Ortsgemeinden und auf den vorgeschlagenen Namen „Bund biblischer Gemeinden“ hin. Er formulierte dann eine konkrete Abfolge von Schritten, die nach einem Grundsatzbeschluss für eine Vereinigung notwendig seien: Es sollte sich zuerst eine Bundesleitung aus den bestehenden „Bruderräte[n]“ bilden, deren Beschlüsse einstimmig ausfallen sollten. Der neue Bund müsste die Geschäftsstelle der Baptisten übernehmen und ausbauen, dann sollten Untergliederungen erfolgen. Die gemeinsame Arbeit in Form von verschiedenen Arten von Konferenzen würde schnell „zur praktischen Verschmelzung“ führen. Verlage und Predigerschulen würden bestehen bleiben. Änderungen könnten nur mit Zustimmung der bisher Verantwortlichen erfolgen. In rechtlicher Hinsicht sollten die Baptisten aufgrund ihrer Körperschaftsrechte die „Genehmigung“ einholen, um den Namen und die von allen drei Gruppen vereinbarte Verfassung ändern zu können. Nach erfolgter Änderung würden dann die beiden anderen Gruppen diesem Bund beitreten. Lange nannte auch den Zweck der Vereinigung: 33 So wurde mitunter argumentiert: Würde der Staat einen Zusammenschluss fordern, könnte man das ruhigen Gewissens tun. 34 Vgl. hierzu: Liese, 1937 – ein Schicksalsjahr, S. 20 f.
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eine „Verringerung der bestehenden Zersplitterung“ aus Gehorsam gegenüber der Bibel. Zum Schluss erfuhr die angestrebte Vereinigung noch eine politische Konnotation: Mit der Vereinigung würde man sich von der „vergangenen liberalen Periode“ abwenden, in dieser habe das „individuelle Leben“ im Vordergrund gestanden und die Rücksicht auf die Gesamtheit sei sekundär gewesen. Lange zog daraus den Schluss, dass dieses kirchenpolitische Handeln bewusst in Übereinstimmung mit dem „heutigen Prinzip“ der Betonung der „Zusammenfassung aller Kräfte“ stünde, es decke sich auch mit der Bibel.35 Im Rückblick zeigt sich, dass manches von dem, was Lange hier formuliert hatte, später bei dem Zusammenschluss von Baptisten und BfC 1941 umgesetzt wurde. Alle drei Bünde – BfC, Baptisten, BFeG – vereinbarten dann ein weiteres Treffen, das in Dortmund am 14. Dezember stattfand.36 Dieses Gespräch war deshalb möglich – so die Feststellung der Baptisten – weil sich 1. die Konferenz des BfC37 im November einstimmig für die „Fortführung der Vereinigungsverhandlungen“ ausgesprochen habe und sich 2. Wächter (BFeG) an einem wichtigen Punkt korrigiert habe. Er würde jetzt die baptistische Auffassung bezüglich Taufe und Gemeinde für „biblisch“ und damit für „berechtigt“ einschätzen; sie sei daher auch in einem gemeinsamen Bund vertretbar.38 An dem Treffen nahmen dieses Mal auch die führenden Vertreter der FeG wie Mosner (Bundespfleger), Heitmüller (Leiter der Gemeinschaft am Holstenwall), Qiering (Leiter der Predigerschule), Pickhardt (Schatzmeister) u. a. teil. Der baptistische Bericht informierte kurz über die Positionen der FeG-Vertreter. So konnten die „Bedenken“ Pickhardts zerstreut werden. Heitmüller zeigte sich für den neuen Bund aufgeschlossen; aber von Mosner, Wiesemann, Quiering u. a. sei ein nur „mühsam zu beschwichtigende[r] Widerstand“ zu konstatieren gewesen. Damit zeigte sich, dass es keine gemeinsame Haltung der leitenden Personen der FeG gab.39 Ein ausführlicher Bericht40 – wahrscheinlich von Wiesemann verfasst – verdeutlicht dies und zeigt auf, wie von allen beteiligten Seiten argumentiert wurde. Schmidt skizzierte am Anfang der Besprechung einen zukünftigen Bund; dieser müsse einen gemeinsamen Namen tragen und einheitliche rechtliche Strukturen aufweisen. Für die einzelnen Gemeinden ergäben sich keine Änderungen. Der gemeinsame Bund würde sie gegenüber dem Staat vertreten. Alle drei Gruppen müssten in der Gesamt35
E. Lange, Die Grundlagen unserer Vereinigung, 03. 12. 1937, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. 36 Das Treffen fand im „Vereinshaus Hospiz“ statt. Vgl. Becker an Luckey, 10. 12. 1937, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. 37 Eigentlich handelte es sich um die letzte Konferenz der KcG, die hier den Beitritt zum BfC beschlossen. Man votierte danach für die Fortsetzung der Gespräche. 38 [Luckey], Bericht über das Gespräch mit den Taufgesinnten, Bundesverwaltungssitzung in Hamburg-Horn, 24./25. 01. 1938, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. 39 Vgl. ebd. 40 Hier und im Folgenden: Bericht über die Besprechung am 14. 12. 1937, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt.
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leitung vertreten sein. Erst einmal sollte kein Baptist den ersten Vorsitzenden stellen. Von Bedeutung sei ferner, dass missionarisch gearbeitet werden würde. Damit trete eine „wachstümliche“ Entwicklung ein. So würde man „eine starke Truppe in der großen Bewegung“ der Gegenwart werden und damit „langsam zur Einheit heranwachsen“. Die Baptisten erteilten allen Arten von Religionsgesprächen eine Absage.41 Diskutiert wurde dann die Frage, welche Seite zu welchen Kompromissen bereit sei. Die Baptisten gingen mit der Anerkennung der „Abendmahlsgemeinschaft der anderen“ an ihre äußerste Grenze. Die FeG hätten ihre Haltung insofern korrigiert, als dass sie den „Weg der Baptisten auch als biblisch anerkennen“ würden. Die Diskussion drehte sich dann um die Frage, ob Gemeinden, die allein die Wiedergeburt als Voraussetzung der Gemeindemitgliedschaft ansähen, von den Baptisten auch als biblische Gemeinden anerkannt werden würden. Ganz am Anfang hatte Schmidt aber schon ausgeführt, die Baptisten sähen „den geschlossenen Kreis als richtig an“. Einige Vertreter der FeG äußerten sich teilweise polemisch. So sprach beispielsweise Bussemer davon, die freien Gemeinden seien Gemeinden von Gläubigen, die Baptisten aber Gemeinden von „gläubig Getauften“, womit er auf das aus seiner Sicht zu exklusive Gemeindeverständnis der Baptisten anspielte. Ähnlich äußerte sich Quiering, indem er die Teilnehmer vor die Alternative „Bund der Gemeinden der Gläubigen oder der Taufgesinnten“ stellte. Die Tendenz ging dann dahin, diesen zukünftigen Bund auch für Kreise offenzuhalten, die keine Gläubigentaufe kennen. Becker wandte dagegen ein, dass die Frage, ob auch die Methodisten dazu kommen könnten, derzeit nicht aktuell sei. Lange fragte, ob eine Einigung an diesen Fragen scheitern müsste. Schmidt dagegen konstatierte schon Differenzen zwischen den einzelnen Gruppen. Dass der Bund letztlich aus zwei Arten von Gemeinden bestehen würde, machte Friedrich Rockschies, 1. Vorsitzender der BL der Baptisten als Antwort auf eine Frage von Pickhardt deutlich. Letzterer hatte gefragt, ob bei einem Ortswechsel eine Aufnahme in eine baptistische Gemeinde erfolgen könne, wenn er als ein nicht-gläubig Getaufter aus einer FeG käme. Rockschies antwortete, dass eine Abendmahlsteilnahme beispielsweise möglich sei, er aber, weil er nicht Gemeindemitglied werden könne, nicht an der baptistischen „Geschäftsstunde“ teilnehmen oder Prediger werden könnte. Trotz diverser Differenzen einigte man sich auf eine große Kommission von neun Brüdern, aus der heraus ein Ausschuss von drei Personen gebildet werden sollte, die dann jeweils ihre Gruppe repräsentieren sollte.42 Aufschlussreich ist, wie Vertreter des BFeG im Nachhinein das Gespräch bewerteten. Friedrich Heitmüller stellte die Ernsthaftigkeit der Verhandlungen seitens der maßgeblichen BFeG-Vertreter in Fragen.43 Ernst Pickhardt, Fabrikant, Kassierer des Bundes und Mitglied der Bundesleitung, meinte in seinem Rückblick, dass jetzt, da 41
Gemeint war der Versuch, durch die Herstellung eines lehrmäßigen Konsenses (Erkenntniseinheit) eine kirchliche Vereinigung herzustellen. 42 Wie diese Gruppe genau arbeitete, ist bis jetzt nicht bekannt. 43 Vgl. F. Heitmüller an die Brüder Bolten, Pickhardt, Wiesemann u. a., 17. 12. 1937, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt.
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die Baptisten die FeG als biblisch ansähen und auch einige Vertreter des BFeG bekundeten, dass eine „Vereinigung“ möglich sei, man alles versuchen müsse, um diese zu realisieren. Da auch der BfC sich vorbehaltlos hinter die baptistischen Vorschläge stelle, wäre es seitens der FeG verantwortungslos, sich an den Vereinigungsbemühungen nicht zu beteiligen, es sei denn, dass es „wesentliche“ Einwendungen gebe. Kurz vor dem Abschicken seines Briefes erhielt er ein „Fazit“ Mosners bezüglich des Dortmunder Gespräches, welches ihn sehr verwunderte, da es negativ ausfiel. Mosner hatte zunächst den in Dortmund vorgetragenen Vorschlag der Baptisten kurz beschrieben und dann die Argumente pro und contra aufgelistet. Die entscheidenden Einwände waren für ihn zum einen die Gefahr von Spaltungen innerhalb des BFeG und zum andern, dass man damit die „ganze bisherige Geschichte“ aufgeben würde.44 Pickhardt blieb dagegen weiter bei seiner Meinung, dass eine äußerliche Einheit notwendig sei.45 In der Sitzung des Arbeitsausschusses des BFeG wurde dann am 8. Februar über dieses Thema diskutiert. Es wurde auf briefliche Äußerungen verwiesen, die sich gegen eine Vereinigung aussprächen. Der Kreisausschuss Berlin wies darauf hin, dass sich im Augenblick der Vereinigung ein neuer „ostelbischer“ Gemeindebund konstituieren würde. Pickhardt dagegen plädierte für eine Vereinigung. Die Vorschläge der Baptisten seien akzeptabel, da die Baptisten ihren „exklusiven Standpunkt aufgegeben hätten“. Er wandte sich dann noch gegen Mosners Formulierung bezüglich der Abendmahlsteilnahme nicht-gläubig Getaufter in dessen Fazit, nach der die Baptisten gesagt hätten, sie würden auf ihre Gemeinden dementsprechend einwirken. Nach Pickhardts Meinung hätten die Baptisten „mehr als das gesagt“. Der Einwand wurde von den anderen Mitgliedern anhand des Gesprächsprotokolls verworfen, ein leicht abgeänderter Text Mosners wurde angenommen. Er sollte als Grundlage für die Beratung im Bundesausschuss dienen.46 Dieses Gremium, das aus „Vertrauenspersonen der Gemeinden und der ,Kreise‘“ bestand und das eigentliche Leitungsgremium darstellte47, entschied dann, die „Verhandlungen“ nicht fortzusetzen; man plädierte stattdessen für einen Bedeutungszuwachs der VEF. Diese Entscheidung wurde den anderen beiden Bünden mitgeteilt.48
44 An die Mitglieder des Arbeitsausschusses (BL des BFeG), in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. 45 Vgl. E. Pickhardt an verschiedene Brüder, 20. 12. 1937, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. 46 Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses des BFeG, 08. 02. 1938, in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel. 47 Vgl. zu den Gremien des BFeG: Weyel, Hartmut: Evangelisch und frei. Geschichte des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland (Geschichte und Theologie der der Freien evangelischen Gemeinden Bd. 5.6), Witten 2013. 48 Vgl. Vertrauliche Mitteilungen, Nr. 2, März 1938, in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel.
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Auch die BL des BfC stellte im Februar 1938 fest, dass eine Vereinigung vorerst nicht möglich sei.49 Lange wollte sich mit der vorläufigen Einstellung der Bemühungen nicht abfinden und veröffentlichte Anfang März erneut eine kleine Schrift, in der er sich explizit für eine Vereinigung der drei Gemeindebünde aussprach. Neben der positiven Außenwirkung wies er jetzt auch ausdrücklich auf den Vorteil der Körperschaftsrechte hin.50 Hugo Hartnack, Mitglied der BL des BfC entgegnete, dass er zwar auch grundsätzlich für eine Vereinigung sei; bekundete aber bezüglich der „Fragen der Taktik und des Tempos“ eine andere Vorstellung als Lange. Hartnack empfahl erst einmal in Richtung einer Dachorganisation im Rahmen der VEF zu gehen.51 Die BL der Baptisten konstatierte am 31. März ebenfalls einen „Stillstand“ der Bemühungen; man warte jetzt auf die Initiative der anderen beiden Bünde, da man von sich aus erst einmal nichts unternehmen wolle.52 2. Entwicklungen bis zum Kriegsbeginn (1939) Dieser „Stillstand“ wurde dann durch die Jahreskonferenz des BfC im Mai 1938 überwunden. Die Verantwortlichen hatten sich für das Thema Die Ekklesia Gottes im Neuen Testament entschieden. Man hatte vorher Referenten bestimmt, die zu verschiedenen Aspekten dieser Thematik vortragen sollten. In seinem Geleitwort zur Veröffentlichung des Konferenzberichts führte Hartnack aus, worum es bei dieser Veranstaltung gegangen sei. Zum einen wollte man die Frage der Einheit thematisieren. In den vergangenen Zeiten sei immer wieder „die sichtbare Einheit der Gemeinden“ durch Kirchenspaltungen „verdunkelt worden“. „Aber durch unsere Tage hindurch“ sei das „Rauschen einer neuen Zeit“ zu vernehmen, „einer Zeit […] des Zusammenstrebens der christlichen Gruppen“. Alles, was trenne, sei letztlich „erbärmlich“ gegenüber „der großen Wahrheit von der Gemeinde“. Diese Einheit existiere, nun solle sie „in Erscheinung“ treten, damit sie ihrer „Zweckbestimmung“ entsprechen könne. Gleichzeitig wollte man auch den erfolgreichen Zusammenschluss der beiden Brüdergruppen dokumentieren. Die an dieser Konferenz teilnehmenden Vertreter der Baptisten, Methodisten und der FeG u. a. hätten „freudig bezeugt“, wie sie „aufgehorcht hätten“, als sie von dem Zusammenschluss der Brüdergruppen erfuhren. Alle Vorträge und die Aussprache 49 Vgl. dazu E. Berning an Erich Sauer, 15. 11. 1940, abgedr. in: Menk, Friedhelm: Die Brüderbewegung im Dritten Reich. Das Verbot der „Christlichen Versammlung“ 1937, Bielefeld 1986, 147. Berning zitiert hier aus einem Brief von Christian Schatz, der ihm am 08. 03. 1938 schrieb, dass die BL des BfC am 08. 02. 1938 zur Auffassung gelangt sei, nach der eine „Verschmelzung“ mit den Baptisten nicht möglich sei. 50 Vgl. E. Lange, Gründe und Gegengründe für die Vereinigung der Baptisten, Freikirchlicher Christen und Freier Evangelischer Gemeinden, nach dem Vorschlag der Baptisten, 05. 03. 1938, in: Oncken-Archiv. 51 H. Hartnack an die Brüder der Bundesleitung des BfC, 05. 03. 1938, in: Oncken-Archiv, Bestand Büro des Bundesdirektors. 52 Protokoll der Sitzung des Bundes der Baptistengemeinden, 31. 3. 1938, in: Oncken-Archiv, Bestand Protokolle.
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bezeugten das „Bewusstsein“ der „Zusammengehörigkeit“. Man habe als einen „nächsten Schritt“ vereinbart, dass die örtlichen Gemeinden stärker zusammenrücken und kooperieren sollten (gemeinsames Gebet, Evangelisation u. a.).53 Alle Vorträge der Referenten wie auch die Aussagen in den Diskussionen nach den Vorträgen wurden später veröffentlicht. In der Aussprache nach dem Vortrag von Erich Sauer äußerten sich Paul Schmidt und Eduard Wächter dahingehend, dass die Konferenz bezeuge, wie doch die Trauer „über die unzähligen Trennungen“ unter den Christen „sowie das ernstliche Streben nach Einigung Fortschritte mache.“ Durch den „Zusammenschluss“ der beiden Brüdergruppen „sei ein Schritt […] getan worden“, der viele Christen hätte „aufhorchen lassen“. In Erinnerung an das Wort Jesu im Johannesevangelium, „die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln“, gelte es, die Bedeutung der „Stunde Gottes zu erkennen“ und diesem ersten Schritt weitere folgen zu lassen. Bis dahin sei das geschwisterliche Miteinander zu stärken.54 Nach dem Vortrag von Heinz Köhler, Leiter der Bibelschule Wiedenest, äußerten sich Teilnehmer zur Frage der Einheit. Köhler hatte darüber gesprochen, dass zur gegenseitigen Anerkennung das gegenseitige Vertrauen gehöre.55 In der Aussprache wurde auf die neuen Entwicklungen Bezug genommen; hier sei die „Verantwortung“ nötig, die „Stunde Gottes“ nicht zu ignorieren. Hingewiesen wurde zum einen auf die noch vorhandenen Probleme im Einigungsprozess, andererseits gebe es ein „Verpflichtung, diese Einheit auch darzustellen“, da alle Spaltungen keine Berechtigung hätten.56 Eduard Wächter (FeG) beschäftigt sich in seinem Vortrag mit der „Darstellung der Einheit“ der Gemeinde.57 Auch er beklagte die Zerrissenheit unter den Christen und bewertete die vollzogene Vereinigung der beiden Brüdergemeinden als ein positives Zeichen. Er sprach von dem „geplanten Bund von Christengemeinden“ und signalisierte damit, dass er im Gegensatz zu den führenden Vertretern der FeG weiterhin für einen Zusammenschluss offen war. In seinem Schlusswort ging Becker noch einmal darauf ein, dass die christliche Kirche58 in der Gegenwart ein Bild der „Zerrissenheit“ biete. Es sei die Schuld der Christen, dass sie sich in unzählige Konfessionen aufgespalten habe. Sie seien u. a. dadurch entstanden, dass man immer wieder eine Uniformität der Ansichten gefordert habe. Diese sei jedoch nicht gefordert. Entscheidend sei es, zu den Anfängen zurückzukehren und alle von Menschen geschaffenen
53 Hartnack, Hugo: Zum Geleit, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes. Bericht über die Elberfelder Konferenz des Bundes freikirchlicher Christen (26.–29. Mai 1938), hrsg. v. d. Dönges Verlagsgesellschaft in Dillenburg, o.D., S. 5 f. 54 Ebd., S. 21. 55 Vgl. Köhler, Heinz: Die Einheit der Ekklesia in ihrem Gemeinschaftsleben, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes, S. 38 – 42. 56 Ebd., S. 42. 57 Vgl. Wächter, Eduard: Die Darstellung der Einheit, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes, S. 49 – 55. 58 Becker verwendet hier ebenfalls den Begriff „Ekklesia“.
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„Zäune“ zu beseitigen.59 Während der Tagung beschlossen die Baptisten und der BfC in Beratungen einzutreten, wie man die Vereinigung „praktisch“ umsetzen könne. Die Prediger der rheinisch-westfälischen Gemeinden erklärten, dass sie eine gemeinsame Tagung vorbereiten wollten.60 Hans Luckey (Dozent am Predigerseminar der Baptisten), der als Referent teilgenommen hatte, beurteilte die Konferenz des BfC im Nachhinein als ein sehr positives Ereignis. Er hatte gefordert, dass sich die Christen aus taufgesinnten Gemeinschaften näherkommen müssten. Dieses sei nun auf dieser Tagung geschehen. Es zeige sich deutlich, dass man nicht nur „zueinander gehöre“, sondern auch „zueinander finden“ wolle. Er, Luckey, denke gern an diesen brüderlichen Austausch zurück.61 An Becker schrieb er, die „Bahn“ sei jetzt „frei“ für eine verstärkte Kooperation.62 Lange seinerseits sprach sich dafür aus, dass die Baptisten und der BfC „Vorreiter“ sein müssten.63 Mit dieser Konferenz und ihren Beschlüssen hatte der BfC, wie von den Baptisten gefordert, jetzt die Initiative übernommen, und die Annäherung der beiden Gruppen setzte sich fort. Da die FeG nach den vergangenen Gesprächen gehört hatten, dass behauptet würde, sie stellten sich gegen einen beabsichtigten Zusammenschluss, luden sie den BfC zu einem Gespräch nach Witten ein, um den BfC davon zu überzeugen, dass diese Behauptung nicht stimme. Bei diesem Treffen, das im August 1938 stattfand, stellte man „übereinstimmend“ fest, Grundlage für alle Bemühungen sei die geistliche innere Einheit, der dann auch eine äußere Einheit folgen könne. Der BfC sei bereit, dabei bis zu einer „Einheitsorganisation“ zu gehen. Allerdings könnte man sich auch vorläufige Lösungen vorstellen. Zwei Punkte seien dabei für den BfC wichtig: Zum einen sollte eine kleinere Lösung nur eine Etappe auf dem Weg zu einer größeren Vereinigung darstellen, zum anderen dürfte ein Zusammengehen nicht die mit den Baptisten auf der Konferenz in Elberfeld „beschlossene Zusammenarbeit“ gefährden. Die FeG würden ausloten, wo bei ihnen die Grenzen einer Kooperation mit dem BfC lägen. Der BfC seinerseits schickte ihnen eine – aufgrund der Elberfelder Vereinbarung – ausgearbeiteten Entwurf „als Anregung“ für weitere „Beschlüsse“.64 Dieses Papier benannte zuerst als Grundsatz, dass sich die verschiedenen Gemeinden gegenseitig als „Gemeinden Gottes“ anerkennen sollten. Der Entwurf beschäftigte sich dann in drei großen Abschnitten mit den Aspekten: Maßnahmen zur Vermeidung und Beseitigung von Konflikten zwischen unterschiedlichen Gemeinden; Maßnahmen für die Herstellung eines guten Verhältnisses zwischen den Gemeinden 59
Becker, Hans: Schlusswort, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes, S. 59 – 63, hier 61. Vgl. Bundespost 2/1938. 61 Luckey, Hans: Zu den Einigungsbestrebungen unter den Taufgesinnten (Unter dem Pflug), in: Hilfsbote 48 (1938), S. 143 f., hier: 144. 62 H. Luckey an H. Becker, 09. 06. 1938, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. 63 E. Lange an H. Luckey, 14. 06. 1938, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. 64 H. Becker an den Reichsbrüderrat des BfC, 13. 08. 1938, in: Archiv Wiedenest, Sammlung Zeiger. 60
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verschiedener Bünde; und die „gemeinsame Arbeit“ an der Jugend und in der Gemeinde. Die ersten beiden Aspekte gliederten sich dann auch noch in weitere Unterpunkte. Als gemeinschaftsfördernde Maßnahmen wurde beispielsweise gemeinsame Abendmahlsfeiern genannt.65 Ende September fand dann auf Einladung der Baptisten die erste Gemeinschaftstagung der Prediger und „Lehrbrüder“ der Bünde der Baptisten, der FeG und des BfC der rheinisch-westfälischen Gemeinden in Weltersbach/Rheinland (baptistische Diakonieeinrichtung) statt, von der wichtige Impulse ausgingen. Diese bewirkten einen Abbau von „Missverständnissen“ und ebneten den Weg zueinander – so die baptistische Einschätzung.66 Ein weiteres Gespräch zwischen dem BfC und den FeG fand dann am 18. Oktober ebenfalls in Witten statt. Vertreter des BfC zeigten sich danach enttäuscht, weil es offensichtlich ergebnislos ausgegangen war. Walter Vogelbusch, Mitglied der BL des BfC, verortete dabei die größeren Hindernisse bei den FeG, da sie wohl auch aufgrund ihrer geringen Mitgliederzahl befürchteten, in einem gemeinsamen Bund mit den Baptisten an Einfluss zu verlieren. Vogelbusch meinte allerdings, er sähe nicht, dass die Baptisten für die FeG ein „rote[s] Tuch“ darstellten, da an vielen Orten Gemeinden beider Bünde eigentlich ein gutes Verhältnis zueinander hätten. Vogelbusch vermutete, dass die FeG deshalb immer wieder die Baptisten erwähnten, um künstlich Probleme herbeizuführen.67 Die offizielle Version des BfC teilte der Geschäftsführer des BfC, Friedrich Richter, dem Reichsbrüderrat mit: Man sei zur „übereinstimmenden Auffassung“ gelangt, dass weitere Besprechungen über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit der drei Bünde „zweckmäßigerweise“ unter Einbeziehung der Baptisten geschehen sollten. Deshalb habe man vereinbart, sich in Kürze „zugleich“ mit ihnen zu treffen, „um das begonnene Gespräch fortzusetzen“.68 Der BFeG kommentierte das Gespräch mit dem BfC nur ganz kurz in einer Information für die Gemeinden: Es habe „Einmütigkeit darin (bestand[en])“, dass man „in engere Fühlung miteinander treten“ und „dadurch die Einheit der Kinder Gottes auch nach außen bekunden“ sollte.69 Diese beiden Gespräche zeigen auf, dass es trotz manch wohlklingender Formulierungen zu keiner wirklichen Annäherung zwischen den beiden Gruppen kam. Erfahrungen der Vergangenheit, die man miteinander gemacht hatte, wirkten sich noch immer negativ aus, obwohl es durchaus theologische Gemeinsamkeiten u. a. bezüglich des Abendmahls und der Taufe gab.70 65
Vgl. Anlagen zum Schreiben an den Reichsbrüderrat, in: ebd. Bundespost 4/1938. 67 Vgl. W. Vogelbusch an Christian Schatz, 28. 10. 1938, in: Archiv Wiedenest, Sammlung Zeiger. 68 BfC-Geschäftsführung, gez. Dr. Richter an den Reichsbrüderrat, 21. 10. 1938, in: Archiv Wiedenest, Sammlung Zeiger. 69 Vertrauliche Mitteilungen an die Gemeinden, Nr. 5, Oktober 1938. 70 Hinzuweisen ist u. a. auf den Schriftenstreit zwischen den GB und den FeG. Dass beide Gruppen im Taufverständnis nahe beieinander waren, bezeugte auch Pickhardt in einem Brief, in dem er schrieb, dass der BfC und die FeG „in der Tauffrage einen gemeinsamen Stand66
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Wie von Richter angekündigt, trafen sich Ende November 1938 Verantwortliche der drei Bünde und beschlossen die „Wittener Richtlinien“, die das Verhältnis von Baptisten, BfC und FeG besonders auf der örtlichen Ebene auf eine neue Grundlage stellen sollten.71 Sieht man sich diese Vereinbarung genauer an, stellt man fest, dass viele Passagen wörtlich oder mit leichten Abänderungen aus dem Papier entnommen worden waren, das der BfC zuerst an die Baptisten und später an die FeG verschickt hatte. So hieß es in den „Richtlinien“ gleich am Anfang: „Die Gemeinden erkennen sich gegenseitig als Gemeinden Gottes an.“72 Genau die gleiche Formulierung fand sich auch in dem Entwurf des BfC.73 Auch hieß es in den „Richtlinien“ I., a): „Mindestens einmal im Monat kommen die für die Leitung der Gemeinden verantwortlichen Brüder zusammen zu Gebet, Wortbetrachtung und Aussprache“.74 Das BfC-Papier enthielt die gleiche Formulierung, nur wurde der Begriff der Leitung noch durch den Begriff der „Führung“ ergänzt. Auch der manchmal etwas belächelte Vorschlag hinsichtlich gemeinsamer „Ausflüge oder Spaziergänge“ fand sich mit leichten Abänderungen schon in dem BfC-Papier.75 Aufschlussreich ist auch ein Vergleich bezüglich der gemeinsamen Abendmahlsfeiern: In dem BfC-Entwurf hieß es: „Die Gemeinden üben Gemeinschaft beim Mahl des Herrn“. In den „Richtlinien“ wurde etwas zurückhaltender formuliert: „Die Gemeinden feiern gelegentlich das Mahl des Herrn gemeinsam.“ Offensichtlich wollte man die Gemeinden in dieser Hinsicht nicht überfordern. Der Vergleich der beiden Schriftstücke belegt den entscheidenden Anteil des BfC an dieser ersten Vereinbarung zwischen den drei Freikirchen. Bedeutsam war an diesen „Richtlinien“, dass sich damit die Baptisten und die FeG zum ersten Mal gegenseitig, trotz unterschiedlicher Auffassungen hinsichtlich Taufe und Gemeindemitgliedschaft, als neutestamentlich legitimierte Gemeinden anerkannten. Dieses neue Miteinander, auch als „Arbeitsgemeinschaft“ bezeichnet, wurde von den Bünden unterschiedlich gewichtet und kommentiert. So schrieb Paul Schmidt: Die „Richtlinien“ belegten das Resultat der „gemeinschaftlichen Bemühungen um die größere Einheit zwischen den Gemeindebünden“.76 Nun hinge es von den Gemeinden vor Ort ab, inwieweit diese umgesetzt würden und der „Weg für noch engeres Zusammengehen gebahnt“ werden würde. Da eine große Zahl von Gemeinden im Westen verortet waren, käme es gerade auf diese bei der praktischen Umsetzung an. Bezüglich der „Richtlinien“ wurde von Seiten der Baptisten die Zuversicht bepunkt“ einnähmen (Pickhardt an Rudersdorf, 20. 11. 1940, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt). Besonders traf das auf die früheren GB und die FeG zu. 71 Vgl. Liese, Verboten, S. 407. 72 Bundespost 4/1938, Anlage 1: Richtlinien. 73 Vgl. Entwurf als Anlage zum Schreiben Beckers an den Reichsbrüderrat, in: Archiv Wiedenest, Sammlung Zeiger. 74 Bundespost 4/1938, Anlage 1: Richtlinien 75 Ebd., Richtlinien; vgl. Weyel, Anspruch, S. 353. 76 Bundespost 4/1938.
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kundet, dass diese die gemeinsame Arbeit stärken würden und damit ein „völligeres Zusammengehen“ ermöglichen könnten. Besonders erwähnenswert fand man noch, dass der BfC, der einen wirklichen Neuanfang erlebt habe, jetzt besonders interessiert sei an Kontakten mit Gemeinden aus anderen Bünden.77 Der BFeG kommentierte die Weitergabe der „Richtlinien“ dahingehend, dass es sich hier nicht um ein „Gesetz“, sondern eher um „eine Anleitung und Hilfe“ handelte. Auch könnte die Zusammenarbeit mit Gemeinden erfolgen, die nicht den drei Bünden angehörten. Erklärt wurde auch, dass man sich bemühen wolle, „die Einheit der Gemeinde“ nach außen sichtbarer zu machen; aber man bleibe freievangelisch. Die Aufgabe, die Gott diesem „Kreis“ gegeben habe, dürfe nicht vernachlässigt werden.78 Der BfC dokumentierte mit seiner Unterschrift unter diesen „Richtlinien“ eine neue Haltung gegenüber anders ausgerichteten Gemeinden, die im Gegensatz zur Einstellung der früheren GB stand, die in diesem Bund die stärkste Gruppierung darstellten. In einer Sitzung des Reichsbrüderrates wurden sie einstimmig angenommen. Vorher erläuterte Becker die „Richtlinien“ und berichtete über den Weg, den man zusammen mit den Baptisten und dem BFeG seit der Elberfelder Konferenz auf der Grundlage der dort getroffenen Beschlüsse gegangen sei. Auf die Frage eines Teilnehmers, ob in den anderen Bünden die „Auffassung“ existiere, dass die „geplante Arbeitsgemeinschaft“ ein Zwischenschritt einer „organisatorischen Verschmelzung“ sei, antwortete Becker, „dass dieser Wunsch weithin“ in den Gemeinden der anderen Bünde vorherrschend sei. Wenn man diese Aussage Beckers mit den bisherigen Verlautbarungen des BFeG vergleicht, dann muss man feststellen, dass Becker dessen Motivlage etwas zu optimistisch dargestellt hatte. Im Falle der Baptisten lag er – wie oben aufgezeigt – jedoch richtig. So kann man sagen, dass die Baptisten und der BfC hofften, dass man dem Ziel einer „Einheitsorganisation“ (Becker) nähergekommen sei. Deutlich wird aber auch, dass einerseits der BFeG schon an einer Zusammenarbeit mit Gemeinden der anderen Bünde interessiert war, andererseits seine Eigenständigkeit aber nicht aufgeben wollte. Der BFeG befragte seine Gemeinden 1939/40, wie sich diese „Richtlinien“ vor Ort auswirkten. Es wurde von unterschiedlichen Erfahrungen berichtet: An manchen Orten gab es ein gutes Verhältnis vor allem zum BfC (z. B. Bonn), in Castrop-Rauxel fusionierten die FeG und die BfC-Gemeinde, an manchen Orten wiederum wurden die Kontakte nach anfänglich gutem Beginn seltener; auch von Beziehungen der drei Bünde untereinander wurde berichtet. Allerdings beklagte man sich auch, dass die Baptisten die FeG drängten, sich ihnen anzuschließen.79 In seinen Gemeindeinformationen kommentierte der BFeG die Ergebnisse folgendermaßen: An manchen Orten gestalte sich das Mitein77
Bundespost 4/1938, Anlage 2: Bemerkungen zu den ,Richtlinien‘. Vertrauliche Mitteilungen der Bundesleitung an die Gemeinden Nr. 6 (Dezember 1938), in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel. 79 Vgl. Stimmen aus den Gemeindeberichten über die Erfahrungen in den Vereinigungsbestrebungen der „Taufgesinnten“, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. 78
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ander mit dem BfC positiv, an anderen Orten käme es aufgrund „eines wohl unbewussten, hartnäckigen Formalismus“ zu keiner guten „Zusammenarbeit“. Aufschlussreich ist, dass die Baptisten hier nicht genannt werden.80 Wichtig für das weitere Miteinander war, dass alle vier Freikirchen der Aufnahme des BfC in die VEF im Dezember 1938 zustimmten.81 Damit konnten sich seine Vertreter noch stärker in die freikirchlichen Bestrebungen einbringen. Das große Interesse des BfC an den Einheitsbestrebungen zeigte sich im Herbst 1938 auch daran, dass er beschloss, die „Handreichungen“ als ein freikirchliches Monatsblatt herauszugeben. Fritz von Kietzell, ihr neuer Schriftleiter, schrieb deshalb Ende 1938 verschiedene Persönlichkeiten aus den Freikirchen an, um sie als Mitarbeiter zu gewinnen. In dem Schreiben an Mosner (FeG) hieß es, dass der BfC sich dazu entschlossen habe, die Zeitschrift „Handreichungen“ – ab 1939 hieß sie dann nur noch „Handreichung“ – ausschließlich für die Förderung der Einheitsidee herauszugeben. Die einzelnen Abhandlungen zu den Themen könnten durchaus kontrovers ausfallen; letztlich erhoffte man sich damit eine Auflockerung der „Parteidogmatik“. Kietzell verschickte dann auch die von ihm ausgearbeiteten „Richtlinien“ für die neue Konzeption der Zeitschrift. Als Ziele wurde das Kennenlernen und die gegenseitige Wertschätzung der unterschiedlichen Erkenntnisse in den Freikirchen formuliert. Jedes Heft sollte zu einem bestimmten Thema herausgegeben werden. Die „Handreichung“ sollte sich an „denkende ,erwachsene‘ Christen“ richten, die sich für Themen wie die Tauffrage, Abendmahl, das Verständnis von Joh 17 usw. interessierten. Kietzell formulierte, dass die Zeitschrift materiell vom BfC getragen werden sollte, da für ihn das „Einigungswerk“ ein wichtiges Anliegen darstelle.82 Die „Handreichung“ erschien von April/Mai (Doppelnummer) bis August 1939. Zur angekündigten Septembernummer kam es nicht mehr, weil Fritz von Kietzell ab 1. September 1939 in der Wehrmacht tätig war.83 Aufschlussreich ist natürlich der Begriff „Parteidogmatik“. Gemeint ist damit vermutlich, dass bestimmte Gemeindekonzeptionen wie beispielsweise die der GB, die oft als ein starres Lehrgebäude begriffen wurden, aufgebrochen werden sollten, um zu einer größeren Duldsamkeit untereinander zu gelangen. Im Mai 1939 erschien dann die erste Ausgabe. Der erste Artikel stammte von F. v. Kietzell, der sich mit konfessionellen Spaltungen beschäftigte.84 Er führte aus, dass 80
Vertrauliche Mitteilungen der Bundesleitung an die Gemeinden, Nr. 15 (Juli 1940). Vgl. Siebente Tagung der Vereinigung Evangelischer Freikirchen in Deutschland. Gehalten vom 4.–6. Dezember 1938 in Wuppertal-Elberfeld. Das Berichtsheft wurde vom Christlichen Verlagshaus in Stuttgart gedruckt. 82 F. von Kietzell an Karl Mosner, Ende Dezember; Anlagen: Richtlinien, Themenübersicht, in: Oncken-Archiv, VEF-Akten. 83 Vgl. Jordy, Gerhard: Die Brüderbewegung in Deutschland, Bd. 3: Die Entwicklung seit 1937, 2. Aufl., Wuppertal 1989, S. 278. Zur Geschichte der „Handreichungen“ vgl. Müller, Ulrich: Die Geschichte der Handreichungen, https://www.bruederbewegung.de/themen/zeitschriften/handreichungen.html. 84 Vgl. von Kietzell, Fritz: Trennende Schranken, in: Handreichung 24 (1939), S. 1 – 6. 81
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die Kirchengeschichte oft eine „Geschichte der Trennungen“ gewesen sei. Zu fragen sei nach den Gründen dafür. Als eine Ursache benannte Kietzell Lehrstreitigkeiten, die zu Erkenntnisunterschieden und dann zu bestimmten Bekenntnissen geführt hätten. Als Beispiele führte er die Auseinandersetzungen um das Abendmahl und auch die verschiedenen Taufauffassungen an. Entscheidend sei, dass es sich häufig um eine Überbetonung der Lehre handelte, die zu einer bestimmten Traditionsbildung geführt habe. Zu beobachten sei, dass es im weiteren Verlauf entweder zu einer Abschwächung der unterschiedlichen Traditionen oder zu Überspitzungen gekommen sei. Inzwischen aber – so die Einschätzung Kietzells – setze sich die Einsicht durch, dass unterschiedliche Erkenntnisse nicht trennend wirken müssten. Er konstatierte eine „schnelle Entwicklung in dieser Richtung“, die von Gott gewirkt sei.85 Entscheidend sei, dass ein neues Miteinander entstünde. Denn die eigentliche Ursache für die Trennungen sei oft eine persönliche Enge, die „Rechthaberei“. Hier müsse sich eine andere Haltung durchsetzen. Kietzell resümierte, die „trennende[n] Schranken“ „sehen“, heißt, sie zu „verurteilen“ und sich um ihre „Beseitigung“ zu bemühen. Kietzell stellte eine Beziehung zum Geschehen in der Welt her, indem er meinte, die Deutschen hätten seit dem letzten Jahr „im politischen Bereich immer neu das Wunder fallender Schranken erlebt“; nun könne man auch im christlichen Bereich „von Gott das gleiche Wunder erwarten“. Aber man sollte sich auch darum bemühen, dass Gott „es uns erleben lassen kann“.86 In einem weiteren Artikel setzte sich Becker ebenfalls mit dem Problem der Spaltungen und dem Umgang mit ihnen auseinander.87 Er ging zuerst ausführlich auf die verschiedenen Auffassungen zu Fragen wie Gesetz und Taufe in den urchristlichen Gemeinden ein und konstatierte, dass unterschiedliche Lehrauffassungen keine trennenden Schranken dargestellt hätten.88 Becker lehnte die Vorstellung einer unsichtbaren Kirche ab; sie sollte vielmehr als „Körperschaft“ sichtbar sein. Aber statt der einen Kirche sei inzwischen ein „Zerrbild der zerrissenen Gemeinde“ entstanden, und zwar aufgrund der verschiedenen Lehrauffassungen, die zu „trennende[n] Schranken“ geführt hätten. Da aber unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Gemeindeorganisation, der Taufe usw. nicht die Existenz von „Sonderorganisationen“ rechtfertigten, rief Becker dazu auf alle „trennenden Schranken“ zu beseitigen.89 Die gegenwärtigen Herausforderungen bedürften der „gesammelten Kraft“, die nur durch die Einheit der Gemeinde entstehen könne; diese könne jedoch nicht durch einen Lehrkonsens entstehen. Becker dachte bei seinem Aufruf allerdings nur an die Menschen, die zur neutestamentlichen Ekklesia gehörten, die also wirklich glaubten. Um diese „sichtbare Einheit“ darzustellen, müssten alle ihre gesonderten „Benennungen aufgeben und sich in einer Organisation (zusam85
Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. 87 Vgl. Becker, Hans: Ist etwa der Christus zerteilt?, in: Handreichung 24 (1939), S. 7 – 11. 88 Vgl. ebd., S. 8 f. Becker bezieht hier Ergebnisse der neutestamentlichen Wissenschaft ein, ohne aber dafür Literaturbelege anzugeben. 89 Ebd., S. 10 f. 86
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menschließen)“. Jedoch bliebe man in diesem neuen Bund von seiner Prägung her ein Baptist oder ein „Freigemeindler“. Die unterschiedlichen Erkenntnisse könnten nur inspirierend wirken. Beide Artikel erinnern an Aussagen Darbys, der ebenfalls die Aufspaltungen in verschiedene Konfessionen ablehnte. Er rief deshalb dazu auf, diese zu verlassen und sich außerhalb dieser allein zum Namen Jesu hin zu versammeln. Diese Konzeption wurde aber von Becker und Kietzell abgelehnt; sie plädierten stattdessen dafür, dass die einzelnen Gruppen sich auflösen sollten, um eine neue Organisation zu bilden. Parallel zu diesen Veröffentlichungen fanden weitere Gespräche zwischen den Freikirchen statt. Vom 17. bis zum 21. April trafen sich zum zweiten Mal Prediger und „Lehrbrüder“ aus den rheinisch-westfälischen Gemeinden der Baptisten, der FeG und des BfC zu einer Gemeinschaftstagung, die in Solingen-Aufderhöhe (diakonische Einrichtung der FeG) stattfand.90 Ungefähr achtzig Teilnehmer hörten Referate von Professor Johannes Schneider (Baptist) über das Wesen und den Aufbau der Gemeinde. Die Anwesenden verabschiedeten auf Initiative des BfC eine Erklärung, in der sie die Bundesleitungen der betreffenden Freikirchen aufforderten, auf eine Vereinigung der drei Bünde zuzugehen; so sollten alle drei Gruppen „unter Wahrung ihres Sondergutes unter einer gemeinsamen Bundesleitung“ mit einem neuen Namen vereinigt werden. Während die Vertreter des BfC und der Baptisten sich einstimmig dafür aussprachen, enthielten sich einige FeG-Vertreter der Stimme, andere stimmten aber dafür.91 Aufschlussreich ist, dass Schmidt ausdrücklich konstatierte, dass zwischen den Brüdern des BfC und des Baptistenbundes „volles Einvernehmen (bestand)“.92 Für den Herbst wurde eine Folgetagung in Wiedenest beschlossen. Vom 18.–21. Mai 1939 fand dann die Bundeskonferenz des BfC statt. Die Thematik von 1938 wurde fortgesetzt: Man beschäftigte sich zum einen mit dem „Verhältnis der Gesamtgemeinde zu den Einzelgemeinden“, zum anderen mit dem „Aufbau der Gemeinde Gottes nach der Schrift“.93 An dieser Tagung nahmen auch wieder Vertreter anderer Gemeindebünde teil. Hinsichtlich der „Vereinigungsbestrebungen“ wurde bekundet, dass jetzt „die Stunde da sei, im Glaubensgehorsam z u r Ta t [Sperrung im Original; A.L.] zu schreiten“.94 Während dieser Konferenz „beauftragt[e]“ der Reichsbrüderrat – die Mitgliederversammlung des BfC95 – „einstimmig“, 90 Vgl. W. Schnepper, An die Prediger der rhein.-westfälischen Baptistengemeinden, Prediger der westdeutschen Freien evangelischen Gemeinden, Lehrbrüder bzw. Ortsbeauftragte des BfC in Westdeutschland, Wuppertal-Barmen, 19. 03. 1939 [ms]), zit. n. Jordy, Brüderbewegung, Bd. 3, S. 207 in Verb. m. Anm. 597. 91 Vgl. Entschließung vom 20. 04. 1939, Anhang zum Kurzbericht (Bundeshaus der Baptisten) für den Monat April 1938. Pickhardt berichtete, dass fast alle „Brüder“ der FeG für die Entschließung waren. 92 Kurzbericht (Bundeshaus) April 1939. 93 Zit. n.: Handreichung 24 (1939), S. 63. 94 Ebd. 95 Der Reichsbrüderrat bestand aus den Bezirksbeauftragten, der BL und weiteren von ihr bestimmten Mitgliedern. Vgl. Liese, Verboten, S. 331 f.
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„Schritte zu unternehmen, die uns dem Ziel des Zusammengehens der Gläubigen näher bringen.“96 Sollten die FeG sich verweigern, sollte dieser Zusammenschluss nur von den Baptisten und dem BfC durchgeführt werden.97 Hans Luckey, der an dieser Tagung teilnahm, zeigte sich beeindruckt von der „Einmütigkeit“ im BfC und konstatierte, dass hier für dessen Einheitsbestreben „wirklich echte innere Gründe“ vorlägen.98 In der Juni-Nummer der „Handreichung“ konkretisierte Fritz von Kietzell zuerst in seinem Beitrag die Leitfrage des Heftes, wo die Gemeinde Gottes sei, indem er fragte, wo denn die Gemeinde sichtbar werde und wo nicht.99 Oder noch genauer: Woran könne man erkennen, ob ein Kreis von Christen diesen Anspruch erheben könnte? Letztlich ging es Kietzell darum, zu definieren, wo die „Grenzen“ eines Kreises von Christen „liegen“, der anders geprägt ist als man selbst und der doch als neutestamentliche Gemeinde anzuerkennen sei. Er wollte damit von der Auffassung wegkommen, nur der eigene Kreis sei wirklich Gemeinde. Kietzell musste zugegeben, dass sich praktisch überall – mehr oder weniger – eine Form von „Exklusivität“ zeige. Es gebe immer noch Leute, die fragten, ob man beispielsweise Gemeinden mit einer anderen Taufauffassung oder einer anderen Abendmahlspraxis als „Gemeinde Gottes“ anerkennen könnte. Oft verbinde man die Klärung dieser Fragen auch mit dem „geistlichen Zustand“ dieser Gemeinde: So würde man in diesem Fall davon sprechen, dass ihr geistliches Niveau geringer sei als das eigene, wobei oft der abwertende Begriff „Lauheit“ benutzt werde.100 Kietzell meinte, derartige Selbstzuschreibungen, wie: man stünde auf einem „höheren Niveau“ als andere Gemeinschaften, seien historisch zu erklären. Die Erweckungsbewegungen, denen man entstamme, seien nicht nur aus theologischen Überlegungen heraus entstanden, sondern hätten sich auch gegen eine „Verflachung der christlichen Umwelt“ gewandt. Da man die ,Kirche im Verfall“ gesehen habe, habe man sich von ihr abgewandt und einen „Überrest“ gebildet und sei so zu einer „außerkirchlichen Gemeinde“ geworden. Letztlich wollte man eine „kirchliche Elitetruppe“ bilden. Alle diese Gruppierungen, die damals entstanden seien, gingen von der Vorstellung aus, dass sich alle diejenigen „kurz über lang“ um diesen Kern herum sammeln würden, die wirklich Glaubende seien. Zentrale Glaubensaussage dieser erwecklichen Gruppen sei der Grundsatz der Einheit aller Christen auf der Grundlage des einen Leibes Christi gewesen. Die weitere Entwicklung habe aber genau in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in die Enge geführt. Letztlich sei der Gedanke, „einen Kern zu bilden“, um den sich dann die Christen sammeln würden, hinter der Absicht zurückgetreten, „geistlicherweise ,unter sich‘ zu sein“, d. h. alles, was vermeintlich geistlich niedriger wäre, „von sei96
H. Becker, Bundesbeauftragter, Sonderrundschreiben: An die Brüder des Reichsbrüderrates im B.f.C., 5. November 1940. 97 Vgl. Luckey, Hans: Der neue Name, in: Hilfsbote 49 (1939), S. 167. 98 Ebd. 99 Vgl. von Kietzell, Fritz: Wo ist Gemeinde Gottes?, in: Handreichung 24 (1939), S. 33 – 37. 100 Ebd., S. 34.
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nem eigenen Kreis fernzuhalten“.101 Deshalb könne ein Zusammenschluss nur gelingen, wenn man die „Selbstgenugsamkeit“ hinter sich lasse und das Unter-sich-Bleiben aufgebe. Der „Kreis anderer Prägung“, auch wenn zu ihm vermeintlich schwache und irrende Menschen gehörten, sei ebenfalls „Gemeinde Gottes“. Wenn es richtig sei, dass Gemeinde dort sei, wo wiedergeborene Menschen sich um Jesus versammelten, dann könne man einem Kreis, der offensichtlich mit Mängeln behaftet sei, diese Grundausrichtung nicht absprechen.102 Hier wird deutlich, dass Kietzell, der früher ein führender Vertreter der GB gewesen war, inzwischen deren Positionen aufgegeben hatte. Unter der Rubrik Ruf der Zeit ging ein Beitrag (die Zeilen dürften ebenfalls von F. v. Kietzell stammen) unter der Überschrift Zusammenschluss der Taufgesinnten? auf einen Artikel Friedrich Heitmüllers ein, der in der Zeitschrift „In Jesu Dienst“ erschienen war und hier auszugsweise wiedergegeben wurde. Darin begrüßte Heitmüller einen Zusammenschluss – auch unter einem einheitlichen Namen – „aller neutestamentlich ausgerichteter Freikirchen“; seines Erachtens wäre es aber bedauerlich, wenn der Zusammenschluss nur die „Taufgesinnten“ umfassen würde. Die Grundlage für die „Einheit des Volkes Gottes“ würde nicht eine bestimmte Taufauffassung darstellen, sondern sei in der Zugehörigkeit zu Jesus Christus begründet. Deshalb gehöre jede Gemeinde „biblisch-gläubiger Christen“ dazu. Das beträfe sowohl die Bischöfliche Methodistenkirche als auch die Evangelische Gemeinschaft, da beide „bewusst eine geschichtliche Form der Gemeinde Jesu“ sein wollten. Deshalb hätten die „Taufgesinnten“ kein „Recht“, diese beiden Kirchen von den Vereinigungsbemühungen auszuschließen. Im Kommentar des Schriftleiters hieß es dann, man habe „von maßgebender baptistischer Seite erfahren“, dass die „Annahme“, die geplante Vereinigung der Freikirchen solle nur die „Taufgesinnten“ umfassen, auf einem „Irrtum“ beruhe. Zwar sei dieser Ausdruck zu Beginn der Diskussionen benutzt worden, allerdings nicht in der von Heitmüller verstandenen Bedeutung. Es wäre besser gewesen, man hätte stattdessen „gemeindemäßig“ gesagt, da man durchaus in Richtung der Ausführungen Heitmüllers denke. Man habe daher nicht die Absicht, beispielsweise an den Grenzen einer bestimmten Taufauffassung Halt zu machen, wenn sich denn andere Optionen zeigten.103 „Gemeindegemäß“ – das war ein Terminus, den die Baptisten schon vorher gebraucht hatten. Damit war man jetzt aber eindeutig von einer engen Deutung der Bezeichnung „Taufgesinnte“ abgerückt. Mit diesem Begriff konnten sich auch die FeG anfreunden. Das alte Problem blieb aber, dass in einem weitgefassten Bund auch weiterhin Baptistengemeinden, neue Mitglieder nur entsprechend ihrem Verständnis aufnehmen würden; damit gäbe es aber weiterhin zwei Arten von Gemeinden.
101
Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 36 f. 103 Der Ruf der Zeit: Zusammenschluss der Taufgesinnten?, in: Handreichung 24 (1939), S. 51 f. 102
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Werner Schnepper, Prediger der FeG Wuppertal-Barmen, versuchte in seinem Beitrag, die Thematik stärker geschichtlich anzugehen. Zuerst lehnte er die des Öfteren vertretene Auffassung ab, die Entstehung der evangelischen Freikirchen sei dem „Liberalismus und Individualismus“ des 19. Jahrhunderts zu verdanken. Denn wenn dies richtig wäre, dann müsste man „das Gericht über unser Vereinskirchenwesen in der Zeit eines neuen völkischen Gemeinschaftserlebnisses anerkennen.“ Schnepper kann sich einer derartigen Einschätzung aber „nicht bedingungslos anschließen“. Richtig sei, dass die „neue Versammlungsfreiheit“ ein Ergebnis der 1848er Revolution gewesen sei. Vielleicht hätte sich diese Freiheit auch dahingehend negativ ausgewirkt, dass sie zweitrangigen, nicht primär aus „dem Geist des Evangeliums“ herrührenden „Vereins- und Gemeinschaftsidealen“ eine Möglichkeit zur Realisierung geboten habe. Aber man sollte darüber nicht vergessen, dass die „Tiefenschau“ hinsichtlich des Charakters der Gemeinde bei Grafe, Darby, Oncken u. a. dem Evangelium entstammte. Für die Generation Schneppers sei es bewegend, dass man damals nicht nur für die Separation der wahren Christen von der offiziellen Kirche und der Welt eingetreten sei, sondern auch „ihre E i n h e i t “ (Sperrung im Original; A.L.) in Gott gesehen und zu realisieren versucht habe. Wenn das so sei, warum sei es dann „(nicht) zur Darstellung […] dieser einigen Gemeinde der Glaubenden […] gekommen“? Eine mögliche Antwort könnte lauten, dass diese, menschliche Überlegungen übersteigende Erkenntnis des einen Leibes Christi nicht in die Breite der damaligen Gruppen eingedrungen sei. Wie sah nun die Klärung dieser Frage für die Zeit Schneppers aus? Ist es möglich, diese verschiedenen Traditionen zu überwinden?104 Er beschrieb dann im Folgenden die Gemeindekonzeption Grafes. Offensichtlich – so Schnepper – vermisste dieser bei seiner Suche nach der biblischen Darstellung der einen Gemeinde sowohl bei den Baptisten als auch bei den GB eine „evangelische Weite“. Grafe war die Einheit der Gemeinde wichtig: nicht nur die Trennung von der Volkskirche, sondern auch die Vereinigung aller Kinder Gottes. Die Einheit der Gemeinde würde im Abendmahl bezeugt werden, hier zeige sich eine theologische Nähe zu den GB. Klar war für Schnepper auch, dass Grafes Gemeindeauffassung „nicht […] aus der Täufertradition zu erklären“ sei, sondern eine Fortschreibung des calvinistischen „Kirchengedankens“ darstellte. Große Freiheit habe es bei ihm in den strittigen Punkten wie Taufe und Abendmahl gegeben. Auf die Frage, wo denn wirklich Gemeinde Gottes sei, habe Grafe geantwortet: da, wo glaubende Menschen an einem Ort „(sich) um den in Wort und Herrenmahl gegenwärtigen Christus […] versammeln“, dort „stellen“ sie den Leib Christi „dar“.105 Einer längeren Passage aus einer Schrift von Rudolf Brockhaus (GB) entnahm Schnepper, dass Brockhaus nur zwei Grundbedingungen für die christliche Gemeinschaft nannte: den Glauben und die Reinheit in Wandel und Lehre. Hier signalisierte Schnepper Zustimmung und schlussfolgerte: Man sollte doch die „eigene Lehren von der Gemeinde […] ernster 104 Schnepper, Werner: Wo sahen unsere Väter Gemeinde Gottes? Aus der Geschichte der Freien evangelischen Gemeinden, in: Handreichung 24 (1939), S. 53 – 59, hier: 53 f. 105 Ebd., S. 57.
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nehmen“.106 Jetzt scheine es so zu sein, dass das, was damals auseinandergegangen sei, wieder zusammenkomme. Allerdings sehe er, Schnepper, eine „Gefahr“ darin, dass man „die Einigung der Gemeinde mehr im Lichte unserer Zeitforderungen“ sehe „als in der Einfalt der Väter vom Wort her“. An diesem Text wird deutlich, dass Schnepper eine kritische Distanz gegenüber den politisch gefärbten Begründungen hinsichtlich der Forderung nach einem Zusammenschluss der Freikirchen bewahrte. Zu vermuten ist, dass sich hier die Prägung durch Karl Barth bemerkbar machte.107 Nach den Beschlüssen von Solingen-Aufderhöhe und Wuppertal-Elberfeld übernahm jetzt der BFeG die Initiative und lud Ende Mai zu einem Gespräch aller fünf in der VEF vertretenen Kirchen und Gemeindebünde ein. In dem Einladungsschreiben an die vier anderen Freikirchen hieß es, dass hinsichtlich der Frage „eines engeren Zusammenschlusses“ der deutschen Freikirchen in der letzten Zeit ein „näheres Zusammenrücken“ dieser Gruppen festzustellen gewesen sei. Es bestehe nun seitens des BFeG der Vorschlag, alles zu versuchen, um dem „große[n] Ziel der inneren Einigung näherzukommen“. Deshalb lade man die Adressaten zu einem Gespräch am 21. Juni in Patmos bei Siegen ein.108 Jakob Lenhard, der den Vorsitz bei der Besprechung übernahm, formulierte als Ziel die „Schaffung eines Bundes der Freikirchen in Deutschland“. Dabei denke man in den FeG an „eine Dachorganisation“, die man aus der VEF entwickeln könne. Unter diesem Dach einer Föderation könnten alle Gemeinden ihre spezifische „Eigenart“ behalten. Die Baptisten lehnten diese Vorstellung ab und präsentierten ihrerseits einen Vorschlag, der vorsah einen „Bund bibel-gläubiger Christen“ zu schaffen. Alle fünf Gruppen müssten sich auflösen und sich zu einem neuen Bund zusammenschließen. Auf diesen neuen Verband sollten dann die Körperschaftsrechte der Bischöflichen Methodistenkirche übergehen. Es sollte eine Gesamtleitung geschaffen werden, der aus jeder Gruppierung maximal fünf Personen angehören sollten. Alles, was trennen könnte, sollte vermieden werden; jede Gruppe könne ihr bisheriges „Sondergut“ weiterpflegen. Da, so die allgemeine kirchenpolitische Einschätzung der Baptisten, der Staat zukünftig an der Evangelischen Kirche als „Volkskirche“ desinteressiert sein werde, würde dieser dem neuen Bund „seine Aufmerksamkeit“ schenken. Man würde damit „die Kirche der Zukunft in Deutschland sein“. Dieser Plan sei eine wirkliche „große Sache“, er erfordere, „alle […] Bedenken“ zurückzustellen.“ 106 Ebd., S. 58. Das bezog sich darauf, dass die GB im Laufe der Geschichte kaum noch Christen aus anderen Gemeinschaften zum Abendmahl zuließen, obwohl ihre Grundprinzipien – so Schnepper – anders lauteten. 107 Vgl. Weyel, Hartmut: Zukunft braucht Herkunft. Lebendige Porträts aus der Geschichte und Vorgeschichte der Freien evangelischen Gemeinden, Bd. II (Geschichte und Theologie der Freien evangelischen Gemeinden 5.5/2), Witten 2010, Artikel zu Werner Schnepper, S. 381 – 389, hier: 386. 108 [Lenhard] an die vier Freikirchen, 30. 05. 1939, in: Archiv Reutlingen, Bestand VEF, (Altbestand Leger/Suptur Stuttgart), im Privatbesitz von K. H. Voigt.
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Dieser umfassende Vorschlag wurden von den Vertretern der anderen Freikirchen abgelehnt: Er sei zu unpräzise; die Existenz von unterschiedlichen Auffassungen zu Taufe und Abendmahl in einem Bund – wie könne dies gehen? Die Vertreter der beiden methodistischen Kirchen verwiesen außerdem auf ihr Eingebundensein in die jeweiligen Weltkirchen; gerade aber dieser Sachverhalt sei ein wesentliches Merkmal ihrer Identität, das sei sicherlich bei den Baptisten nicht so ausgeprägt. Die Vertreter der freien Gemeinden erklärten, dass ihnen dieser Vorschlag zu weit ginge; man sollte zunächst als ersten Schritt ihren Vorschlag bezüglich der VEF als einer Dachorganisation aufgreifen. Die Baptisten lehnten das ab, weil ihrer Auffassung nach die Zeit für derartige Bemühungen „schon vorbei“ sei. Richard Leger, Superindentent der Evangelischen Gemeinschaft, beurteilte die Situation dann folgendermaßen: Es seien zwei „Lager“ entstanden: Auf der einen Seite stünden die beiden methodistischen Kirchen, die Leger als die „kirchliche Gruppe“ bezeichnete; auf der anderen Seite stünde die „independentistische Gruppe“ in Gestalt der Baptisten „unter Assistenz“ des BfC. Zu den einladenden FeG bemerkte Leger: „Der Bund Freier ev. Gemeinden stand in der Mitte mit Assistenz für uns.“ Im weiteren Verlauf der Besprechung entstand der Eindruck, dass die Baptisten und der BfC in ihren Einigungsbemühungen schon große Fortschritte erzielt hätten. Leger merkte kritisch an, dass das Treffen deshalb zustande gekommen sei, weil die FeG sich von den Baptisten und dem BfC in die „Zange“ genommen fühlten: Sie seien unter „Druck“ gesetzt worden, sich zu vereinigen, wollten dies aber unter diesen Bedingungen nicht tun. Leger meinte weiter, die Baptisten und der BfC seien eine „starke Gruppe“. Man könne sich „des Eindrucks nicht erwehren“, dass die beiden Gruppen meinten, „die Stunde der ,Gemeinde‘ im Gegensatz zur ,Kirche‘“ sei „gekommen“. Leger wunderte sich weiter, dass die Baptisten und der BfC so bereitwillig ihre Traditionen aufgeben wollten. Ihre Vorfahren, „besonders in der Täuferbewegung“, hätten dafür ihr Leben riskiert. Man begründe seitens der Baptisten dieses Aufgeben der „Geschichte“ damit, dass die Jugend an ihr nicht mehr interessiert sei. Dem wollte sich Leger aber nicht anschließen. Er kritisierte auch die offensichtliche Geringschätzung der VEF. Ebenfalls beklagte er sich darüber, dass einige Baptisten die Methodisten quasi „examinieren“ wollten bezüglich ihrer Auffassungen über Taufe und Gemeindeverständnis. Er habe den Eindruck, dass die Baptisten versucht hätten, die beiden methodistischen Gruppen in die Nähe der Volkskirchen zu stellen, wogegen sich aber beide verwahrten. Den FeG sei es allerdings mit diesem Gespräch gelungen, sich vor allem von dem von den Baptisten ausgeübten Vereinigungsdruck zu befreien; sie könnten nun nach einer „neue[n] Lösung“ in der Vereinigungsfrage suchen.109 Es gab nun aber Stimmen innerhalb BFeG, die das Agieren seiner Leitung kritisch sahen und die weitere Entwicklung pessimistisch beurteilten. Werner Schnepper 109 Richard Leger, Niederschrift von Gedanken und Reden aus der Zusammenkunft in Geisweid (Patmos) am 21. Juni 1939, in: Archiv Reutlingen, Bestand VEF, (Altbestand Leger/ Suptur Stuttgart) im Privatbesitz von K. H. Voigt.
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(FeG Wuppertal-Barmen) schrieb an Erich Sauer, dass die BL des BFeG der Entschließung der 2. Gemeinschaftstagung in Solingen, die die baldige „Einigung“ der drei Bünde forderte, den „neuen Vorschlag“ eines Bundes der fünf VEF-Kirchen entgegengesetzt habe. Er, Schnepper, sehe aber nicht, dass eine zügige Einigung der „Independenten und Bischöflichen“ möglich sei; er sei deshalb auch gegen die Einladung zu diesem Gespräch in Patmos gewesen, man müsse aber jetzt die begonnenen Verhandlungen abwarten.110 Sein Kollege J. Jansen von der Barmer Baptistengemeinde schrieb, er halte, nachdem er über das Gespräch in Patmos Informationen erhalten habe, wie Schnepper den Fünferbund für nicht realistisch. Aber nach den „bisherigen Verhandlungen“ halte er auch den Dreierbund fast nicht mehr für möglich. Er werde „an der Haltung der freien ev. Gemeinden scheitern“, diese würden aber den Baptisten die „Verantwortung“ dafür zuweisen. Wenn es anders käme, würde das ihn, Jansen, freuen. Allerdings setze dies einen erheblichen Wandel der Gesinnung bei den FeG voraus. Ein Bund mit den FeG in ihrer bisherigen Ausrichtung berge den Keim für künftige Konflikte, die sich schon in den bisherigen Gesprächen gezeigt hätten. Er setze deshalb auf den „Zweibund“ von Baptisten und BfC.111 Hans Becker seinerseits versuchte in einem Papier, das er an die anderen Bundesund Kirchenleitungen verschickte, aus dem Gesprächsergebnis eine Perspektive zu entwickeln, die noch eine Einigung ermöglichen könnte. Nach der Besprechung in Patmos sei klar, dass eine „engere Vereinigung von jeder Gruppe Opfer“ fordere. Wenn man weiterhin auf der organisatorischen Selbständigkeit der einzelnen Gemeinschaften bestehe, verhindere das die Gründung eines neuen Bundes. Zwei Motive sollten jedoch bei allen Beteiligten vorhanden sein: Zum einen sei es die Erfüllung des Wunsches Christi im Hinblick auf die „sichtbare“ Darstellung der Einheit der Gemeinde und zum andern sei es die Absicht, eine „einheitliche Front“ ernsthafter Christen zu bilden. Es sei nun in Patmos die Meinung vertreten worden, dass man, da eine „organisatorische Verschmelzung“ zu schwierig sei, von ihr „Abstand“ nehmen müsse; die einzelnen Freikirchen sollten deshalb bestehen bleiben, aber dafür solle die Kooperation innerhalb der VEF ausgebaut werden. Becker lehnte diese Idee ab; zum einen würde das Agieren auf zwei Leitungsebenen zu einer hohen Arbeitsbelastung der Verantwortlichen führen. Zum andern sah Becker die Gefahr, dass die „Sondergruppen“ einen „Konkurrenzkampf“ betrieben, um ihren Bestand zu wahren. Becker verwies dann auf die politische Entwicklung der letzten Jahre, die die „negative Wirkung der Sonderorganisationen“ – Becker meinte mit diesem Begriff die einzelnen Länder, die mit ihren Strukturen in Konkurrenz zum Reich gestanden hätten – erwiesen habe. Dem Einwand, die „Sonderorganisationen“ seien aus „religiösem Sondergut entstanden“, widersprach Becker mit der Frage, ob diese den „geschichtlichen Wandlungen“ der Gegenwart noch standhielten. Es sei zurecht in Patmos darauf hingewiesen worden, dass „Forderungen von außen“ nicht als Maßstab für innerkirchliche Be110 111
W. Schnepper an Erich Sauer, 20. 07. 1939, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. J. Jansen an Erich Sauer, 27. 07. 1939, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister.
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strebungen zu gelten hätten. Aber „wenn es wahr“ sei, dass „unser Gott der Gott der Geschichte ist“, dann müsse man das „geschichtliche Geschehen“ letztlich als einen Impuls verstehen, um nach „Gottes Reden zu seiner Kirche“ zu fragen. Die freikirchlichen Bewegungen seien – geistesgeschichtlich gesehen – letztlich eine Folge des „Durchbruchs des Individualismus“. Die Väter hätten zu ihrer Zeit das Neue bei der Entstehung der Freikirchen gewagt. Alle Gruppen hätten nun in Patmos den Willen zur Einheit bekundet, dies sei als ein Wirken des Heiligen Geistes zu deuten. Deshalb führe der „Blick in die Zeit“ dazu, jetzt das Notwendige zu tun. Auch darüber, dass angesichts des Angriffs auf die Person Christi „die Sammlung aller“ erforderlich sei, habe Konsens geherrscht. Anhand dieser Standortbestimmung skizzierte Becker dann die mögliche weitere Entwicklung: Alle Gruppen beschließen die Auflösung der konfessionellen Sonderorganisationen und die Bildung einer gemeinsamen Organisation. Diese könnte eine Bezeichnung tragen wie beispielsweise: „Vereinigte evangelische Freikirchen“. Weiter folgten die teilweise schon mehrfach genannten Aufgaben (Vertretung der Bundesgemeinden gegenüber dem Staat, die Durchführung von gemeinsamen Aufgaben u. a.) und die organisatorischen Strukturen (Leitungsgremium und dessen Arbeitsweise u. a.). Auch Becker gestand den einzelnen Gemeinden die „Freiheit“ der „Gestaltung ihres Gemeindelebens“ zu.112 Schriftstücke aus den FeG zeigen, dass nach Patmos in der Bundesleitung weiterhin keine einheitliche Auffassung in der Vereinigungsfrage existierte. Lenhard berichtete ihr über das Gespräch in Patmos aus seiner Perspektive.113 Er hob noch einmal die Position der FeG hervor, die die Bildung einer Dachorganisation der VEFKirchen beinhaltete. Die konfessionellen Eigenarten würden aber bestehen bleiben. Der Vorschlag Beckers hinsichtlich eines gemeinsamen Bundes stellte nach Lenhards Auffassung und die seiner Brüder in der Leitung „keine Grundlage“ für eine mögliche Vereinigung dar. Die Aufgabe der bisherigen Bezeichnungen sei nicht akzeptabel. Lenhard fragte, warum ein Ausbau der VEF nicht möglich sei. Er verglich eine derartige Organisation mit der evangelischen Kirche, die auch aus verschiedenen Landeskirchen bestehe. Im Gegensatz zur ihr handelte es sich bei der VEF aber nur um fünf Kirchen. Lenhard formulierte dann noch einen Aufruf an alle fünf in der VEF vertretenen Freikirchen.114 In ihm hieß es, das Treffen in Patmos habe gezeigt, dass eine Verschmelzung der fünf Freikirchen und Gemeindebünde nicht möglich sei. Er plädiere deshalb noch einmal für die Option: Ausbau der VEF zum Bund deutscher evangelischer Freikirchen. Er wiederholte die schon in Patmos vorgetragenen Merkmale und Aufgaben dieser neuen Organisation. Entscheidend war für Lenhard, dass diese neue Organisation dann alle fünf Freikirchen bei der Regierung vertreten
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[Becker], Niederschrift, 20. 07. 1939, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. Vgl. J. Lenhard an die BL des BFeG, 12. 08. 1939, in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel. 114 J. Lenhard, Aufruf, 12. 08. 1939, in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel. 113
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würde. Zum Schluss erfolgte noch einmal der Vergleich mit dem Aufbau der Evangelischen Kirche. Pickhardt reagierte daraufhin mit einem längeren Schreiben auf die Äußerungen Lenhards.115 Er bekundete noch einmal seine von der Mehrheit der übrigen Bundesleitung abweichende Position. Er plädierte für einen Zusammenschluss in Form einer neuen Organisation mit einer gemeinsamen Leitung. Dabei müssten die FeG nicht ihre Grundsätze aufgeben. In dem Papier von Becker sah er gute Anregungen für die Realisierung. Natürlich wäre es am sinnvollsten, wenn das mit allen fünf Freikirchen möglich wäre; falls das aber nicht ginge, sollte man dann den Zusammenschluss auch zu dritt durchführen; das wäre immer noch besser, als wenn überhaupt nichts geschähe. Den Vorschlag Lenhards bezüglich des Ausbaus der VEF lehnte Pickhardt ab. Voraussetzung für eine derartige innergemeindliche Gestaltungsaufgabe sei aber ihre fundamentale Umwandlung. Das sei aber zu diesem Zeitpunkt nicht durchführbar. Mit diesem Brief Pickhardts werden die beiden Positionen in der BL des BFeG deutlich: Die Mehrheit sprach sich gegen die Auflösung des eigenen Bundes und die Bildung einer Einheitsorganisation aus. Damit hatte sich grundsätzlich seit Ende 1937 nichts geändert; dazugekommen war aber der Vorschlag zur Aufwertung der VEF. Ein gutes Jahr später äußerte sich die Bundesleitung des BFeG noch einmal zur Entwicklung der Einheitsbemühungen seit 1937 bis hin zum Gespräch in Patmos. Hier wurde klar formuliert, dass man keinem Bund angehören wolle, in dem nur diejenigen „als vollwertige Glieder angesehen werden, die als Erwachsene getauft worden sind“. Aus der „Erkenntnis“ heraus, „dass der Boden der Taufgesinnung zu eng“ für die FeG sei, habe man das Gespräch im Kreis der VEF-Kirchen gesucht, um über ein „engeres Zusammenrücken“ zu beraten. Für eine Einheitsorganisation gebe es jedoch noch keine Grundlage. Die in Patmos vereinbarte Fortsetzung der Gespräche sei aber durch die Kriegsereignisse vereitelt worden.116 Dazu kam, dass im Sommer 1939 das Interesse der Methodisten, zumindest der Evangelischen Gemeinschaft, an einer Fortsetzung der Gespräche der fünf Freikirchen offensichtlich nicht mehr sehr ausgeprägt war. So äußerte sich Ernst Pieper, Präsident ihres Kirchenvorstandes,117 bei einer Vorstandssitzung der VEF dahingehend, dass die Vereinigungsgespräche eigentlich „wertlos“ seien. Die Frage nach einer Fortsetzung beantwortete er mit einem zögerlichen Ja.118 Diese zurückhaltende Haltung hatte wohl auch damit zu tun, dass es im Gnadauer Verband Kreise gab, die Kon115 Vgl. E. Pickhardt an Lenhard, 21. 08. 1939, in: Bundesarchiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. 116 Vertrauliche Mitteilungen der Bundesleitung an die Gemeinden, Nr. 15; vgl. dazu auch Weyel, Anspruch, S. 356 f. 117 Vgl. Schuler, Ulrike: Die Evangelische Gemeinschaft. Missionarische Aufbrüche in gesellschaftspolitischen Umbrüchen, Stuttgart 1998, S. 226, Anm. 788. 118 J. Lenhard an verschiedene Personen, in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel.
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takte mit den beiden methodistischen Kirchen aufgenommen hatten, um über ein mögliches Zusammengehen zu sprechen. Auch Vertreter der FeG wurden dazu eingeladen.119 Da die Baptisten allerdings in diese Kontakte nicht involviert waren, riet Lenhard daher den FeG-Vertretern, sich nicht auf konkrete Verhandlungen einzulassen. Man habe seinerzeit einen Bund der Taufgesinnten wegen der Methodisten abgelehnt, jetzt gelte dies auch umgekehrt für eine vereinigte Freikirche ohne Baptisten. Er plädierte deshalb noch einmal für einen Bund der in der VEF vertretenen fünf Freikirchen.120 Nach dem Treffen in Patmos erschien die letzte Ausgabe der „Handreichung“ mit namentlich gekennzeichneten Beiträgen, die sich mit dem Verständnis des 17. Kapitels des Johannes-Evangeliums beschäftigte. So äußerte sich Wiesemann (FeG) kritisch gegenüber einer Deutung von Joh 17, die auf eine organisatorische Einheit von Christen hinweisen würde.121 Heinz Köhler, Leiter der Bibelschule Wiedenest, beschäftigte sich mit dem häufig benutzten Begriff „Sondergut“.122 Er verstand darunter eine biblische Wahrheit, die im Laufe der Zeit zum Mittelpunkt der Lehre und der Gemeindepraxis einer bestimmten freikirchlichen Gruppierung geworden war. So praktizierten beispielsweise die Baptisten die Glaubenstaufe so nachdrücklich, wie kaum eine andere Gruppe. Den beiden methodistischen Kirchen bescheinigte er einen ausgeprägten Missionswillen. Nun würde aber jede Denomination behaupten, sie könne „von ihrem Sondergut“ nicht absehen, da Gott sie auf eine bestimmte „Wahrheit“ verpflichtet habe. Es sei deshalb nicht richtig, von den verschiedenen Gemeinschaften zu verlangen, ihre spezifischen Lehrausprägungen aufzugeben. So müssten die FeG für die Beachtung der christlichen „Weitherzigkeit“ Sorge tragen; oder die „Darbysten“ hätten den Auftrag, die besondere Bedeutung des Abendmahles hervorzuheben. Daher wäre der erste Schritt, sich gegenseitig in seinem Sondergut anzuerkennen.123 Allerdings habe es an diesem Punkt oft eine „Fehlentwicklung“ gegeben: Mit ihren besonderen Erkenntnissen hätten sich die Gruppen eingemauert. Gemeinschaft sei nur dann gewährt worden, wenn alle Lehren einschließlich des „Sondergut[es]“ akzeptiert worden seien. Deshalb sollte man sich bewusst machen, dass die „besondere Wahrheit“, die einem Kreis von Christen anvertraut worden sei, ihm für das „ganze Volk Gottes“ gegeben worden sei. Köhler verdeutlichte das u. a. am Beispiel der Baptisten. Nur weil sie aufgrund ihrer besonderen Tauferkenntnis eigenständige Gemeinden gebildet hätten, wirkten sie mit ihrem Sondergut als „Salz und Licht“ innerhalb der Christenheit. Köhler stellte deshalb folgende These auf: „Wir bedürfen 119
Vgl. dazu Weyel, Anspruch, S. 358 f. Vgl. J. Lenhard an verschiedene Brüder, 14. 08. 1939, in: Archiv Ewersbach, Sammlung Weyel. 121 Vgl. Wiesemann, Heinrich: Um welche Einheit betet Jesus in Johannes 17?, in: Handreichung 24 (1939), S. 65 – 67. 122 Vgl. Köhler, Heinz: Sind Sondergut und Einheit vereinbar?, in: Handreichung 24 (1939), S. 79 – 81. 123 Ebd., S. 80. 120
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daher alle aller Sondergüter, damit die göttliche Lebens- und Gestaltungskraft im Organismus der Gemeinde sich voll entwickeln kann“. Seine Schlussfolgerung lautete deshalb, dass das „Sondergut also die Einheit“ nicht verhindere.124 Einen wichtigen Beitrag veröffentlichte dann Paul Schmidt.125 Er stellte zuerst fest, dass die christliche Gemeinde in ihrer Entstehungszeit eine „organisch-organisatorische Einheit“ gewesen sei. Es sei aber auch historisch nicht zu bestreiten, „dass die erste Einheit zerstört“ worden sei und dieser Sachverhalt wirke sich, trotz des immer wieder beschworenen „ideellen Einsseins“, durchaus negativ aus. Schmidt lehnte deshalb die positive Beurteilung der jetzt eingetretenen Pluralität ab. Denn: Was „organisch“ eine Einheit bilde und „wesensmäßig“ zusammengehöre, müsse „auch nach allen Lebensgesetzen“ nach außen hin sichtbar werden. Man sollte daher zugeben: Die Spaltungen seien als „unnormal“ anzusehen. Nun werde oft behauptet, die verschiedenen Gruppierungen verdankten sich einer geschichtlichen Entstehung, die anzuerkennen sei. Wer aber – so Schmidt weiter – geschichtlich Gewordenes als nicht veränderbar bezeichne, der überschätze geschichtliche Sachverhalte. Schmidt forderte, dass man sich am Urchristentum orientiere: „Nur von dorther“ könne es zu „wertvollen Taten“ kommen, allerdings nicht auf dem Wege von einzelnen Beschlüssen aller betroffenen Gemeinden, sondern Einzelne, die von Gott dazu berufen worden seien, müssten vorangehen.126 Schmidt stellte daraufhin fest, der „Ruf Gottes“, das zusammenzubringen, was zusammengehöre, sei in den letzten Jahren wahrgenommen und beachtet worden. Die Bibel „und das Leben“ zeigten, dass viele Spaltungen existierten, die nicht zur Ehre Gottes beitrügen. Für diese Trennungen gebe es viele Ursachen: So seien vielfach „persönliche Gründe“ oder „zeitgebundene Erkenntnis“ dafür maßgeblich gewesen. Sogar Gruppen, die erkenntnismäßig verwandt und wesensmäßig kaum zu unterscheiden seien, trügen einen besonderen Namen und hätten eine eigene Organisation. Sollte man diese nicht zusammenbringen? Daneben existierten natürlich Gruppen, denen gegenüber es größere Unterschiede gebe, die deshalb auch schwerer zu überbrücken seien. Doch das könne kein Argument dafür sein, nichts zu unternehmen. Deshalb müssten diejenigen „vorangehen“ und den ersten Schritt tun, die am intensivsten den Ruf Gottes gehört hätten und „dazu bereit“ seien. Drei Punkte seien nach Schmidt zu beachten: Man müsse erstens die unterschiedlichen Erkenntnisse respektieren, zweitens müsse ein neuer gemeinsamer Name gefunden werden und drittens benötige die neue Organisation ein „einheitliches Recht im Staat“ und eine „gemeinsame Leitung“. Nach innen habe Pluralität zu gelten, die nur durch direkte Aussagen der Bibel begrenzt werden sollte.127 Schmidt konkretisierte dann diese Überlegungen, indem er ausführte, dass die Gruppen, die sich „ge124
Ebd., S. 81. Vgl. Schmidt, Paul: Die Einheit nach der Schrift und nach dem Leben, in: Handreichung 24 (1939), S. 86 – 90. 126 Ebd., S. 86 f. 127 Ebd., S. 88. 125
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meindemäßig“ entwickelt hätten, „einen ersten beispielgebenden Schritt gehen“ könnten, da sie sich in ihrer Grundausrichtung ähnelten; das „Gemeinsame“ überwiege das Trennende. Das habe sich durchaus in den vergangenen Gesprächen gezeigt. Allerdings bekämen immer wieder sekundäre Fragen wie beispielsweise Ansichten über Institutionen ein zu großes Gewicht. Was unter äußerem Druck keine Rolle spielen würde, erhielte in einer Zeit, die durch die „Freiheit des Glaubens“ gekennzeichnet sei,128 eine zu große Bedeutung. Dem müsse aber das Ziel, die Einheit der Gemeinde darzustellen, entgegengesetzt werden. Davon, ob die „innerlich und äußerlich“ verwandten Gruppen mit dem ersten Schritt begännen, würde es abhängen, ob auch andere Gruppierungen sich dem anschlössen. Dabei werde sich zeigen, „ob geschichtliches Gewordenes“ ohne größere Probleme „überwunden werden“ könne, weil man das große Ziel der Einheit vor Augen habe. Eine besondere Bedeutung komme dem „Sondergut“ zu. Gerade hier zeigten sich Schranken. Schmidt untersuchte im Folgenden diesen Begriff kritisch. Seiner Meinung nach bezeichne dieser eher etwas „geschichtlich“ Entstandenes als eine wirklich aus der Bibel abgeleitete Erkenntnis. „Sondergut“ müsse durch einen biblischen Nachweis legitimiert sein; aber bestimmte Organisationsformen und Bräuche bis hin zu bestimmten Namen, die oft zeitgebunden seien, müssten nicht weiter gepflegt werden. Hier rief Schmidt zu einem kritischen Nachfragen auf. Letztlich stelle sich die Frage, ob sich die großen Mühen überhaupt lohnten. Schmidt beantwortete sie mit einem klaren Ja: Es sei die eindeutige Aussage der Bibel, dass Jesu „Jünger […] eins sein“ sollten, das müsse dargestellt werden.129 Es fällt auf, dass Schmidt nicht nur die Bibel als Referenzrahmen für seine Überlegungen wählte, sondern mehrfach auch vom „Leben“ oder von „Lebensgesetzen“ sprach. Es wird nicht ganz klar, was er genau damit meinte. Ging es um allgemeine Regeln, wie sie sich im normalen Leben vollzögen oder meinte er doch eher das Leben im neuen NS-Staat? Auffällig ist auch die negative Bewertung der Existenz verschiedenen Konfessionen. Hier konnten ihm durchaus Angehörige des BfC zustimmen. Weiter kann man feststellen, dass Schmidt hier genau die gleiche Anschauung von der Bedeutung des Geschichtlichen für die einzelnen Denominationen vertrat, wie Leger sie auch schon in Patmos wahrgenommen hatte. Traditionen, die sich geschichtlich entwickelt hatten, dürften kein Hindernis für den Zusammenschluss der Freikirchen darstellen. Und seine Strategie bezüglich einer Einigung wird auch deutlich: Zuerst sollen sich die mehr gemeindemäßig ausgerichteten Gruppen – der Begriff Taufgesinnte wird jetzt vermieden – zusammenschließen. Ihr würden dann hoffentlich weitere Denominationen folgen. Allerdings sagte er nicht genau, welche Gruppen er unter dem Begriff „gemeindemäßig“ subsumierte: den BfC 128
Diese Aussage Mitte des Jahres 1939 zu tätigen, erstaunt schon. Aber auch die deutsche Delegation auf dem Kongress des baptistischen Weltbundes im Sommer 1939 in Atlanta vertrat die Ansicht, dass man in Deutschland immer noch missionarisch tätig sein könne. Vgl. Strübind, Andrea: Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im „Dritten Reich“, 2., korrigierte u. verb. Aufl., Wuppertal u. a. 1995, S. 282. 129 Schmidt, Die Einheit nach der Schrift, S. 89 f.
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oder auch die FeG? Aber wahrscheinlich meinte er genau letztere, wenn er auf das Problem der Bedeutung von sekundären Fragen hinwies. 3. Die Entstehung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und die Freien evangelischen Gemeinden Für die Freikirchen stellte sich ab September 1939 die Frage, wie es mit den freikirchlichen Periodika weitergehen würde, da jetzt Einschränkungen bezüglich der Auflagenzahl für die kirchliche Presse in Kraft gesetzt wurden. Man entschloss sich, mehrere freikirchliche Zeitschriften zusammenzulegen (Baptisten: Hilfsbote; BfC: Handreichung u. a.) und als VEF eine gemeinsame Zeitschrift herauszugeben. Schriftleiter wurde Hans Luckey, weitere Personen aus den anderen Freikirchen traten in die Redaktion ein. Die neue Zeitschrift hieß „Wort und Werk“, ab August 1940 wurde sie aufgrund einer Namensgleichheit mit einer anderen Zeitschrift in „Wort und Tat“ umbenannt; ihre Adressaten waren hauptsächlich Prediger.130 Auch „Wort und Tat“ sollte das Kennenlernen innerhalb der VEF fördern. Allerdings wurde kontrovers diskutiert, inwieweit auch unterschiedliche Auffassungen der einzelnen Freikirchen, also deren „Sondergut“ behandelt werden sollten. Luckey war nicht gänzlich dagegen, wollten derartige Themen aber behutsam angehen.131 Das Verbot der kirchlichen Presse im Sommer 1941 betraf dann auch „Wort und Tat“.132 Nachdem sich im Verlauf des Jahres 1939 schon eine große Übereinstimmung zwischen den Baptisten und dem BfC gezeigt hatte, begannen beide ab Herbst 1940 mit konkreten Verhandlungen.133 Nachdem man auf einer Sitzung der BL des BfC beschlossen hatte, auf einen Zusammenschluss zuzugehen, suchte Hugo Hartnack daraufhin Jakob Lenhard auf, um die FeG offiziell einzuladen, sich daran zu beteiligen.134 Letzterer brachte diese Frage in die Bundesleitung des BFeG ein, diese entschied sich aber dagegen. In dem Schreiben an die beiden Bünde, in dem man die Ablehnung mitteilte, wurde noch einmal auf den Ausbau der VEF als gewünschte Option hingewiesen.135 Im BFeG gab es hinsichtlich dieser Entscheidung interne Kritik. So sprach Pickhardt davon, dass man „autoritär“ über den Kopf der Gemeinden entschieden und statt „Vereinigung die Isolierung bewusst 130 Vgl. Freikirchentag. Achte Tagung der Vereinigung Evangelischer Freikirchen in Deutschland am 27. November 1940, Druck: Bundes-Verlag, Witten (Ruhr) o.D., Bericht des Vorsitzenden, S. 4 – 9, hier: 7; Bericht über die Monatsschrift „Wort und Tat“, S. 12 – 15. 131 Vgl. dazu den entsprechenden Briefverkehr zwischen Richter und Hartnack (beide BfC) mit Luckey, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. 132 Strübind, Unfreie Freikirche, S. 299. 133 Vgl. hierzu und im Folgenden: Liese, Andreas: „Wir konnten immer das Evangelium verkündigen“, in: KZG/CCH 30/1 (2017), S. 93 – 133. 134 Vgl. J. Lenhard an die BL des BFeG, 05. 11. 1940, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. 135 Vgl. J. Lenhard für die BL des BFeG an die Brüder der Bundesleitungen der Baptisten und des BfC, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt.
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vollzogen“ habe.136 Das ganze Jahr 1941 hindurch wurde diese Frage in den Reihen der FeG kontrovers diskutiert. Es blieb aber bei der Entscheidung der Mehrheit in der BL gegen einen Anschluss an den neu entstandenen Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.137 Aufschlussreich ist hier eine Veröffentlichung von Friedrich Heitmüller, der noch Ende Januar 1941 geschrieben hatte, dass er bis jetzt aus kirchenpolitischen Gründen gegen einen Zusammenschluss gewesen sei.138 Heitmüller führte in seinem Artikel aus, dass die „Zerrissenheit“ innerhalb der christlichen Gemeinde als äußerst notvoll zu bezeichnen sei.139 In der Zeit „des Liberalismus und der Demokratie“ sei das noch akzeptabel gewesen, jetzt aber ginge das nicht mehr. Ganz eindeutig sei es, dass die durch den Heiligen Geist gewirkte Einheit „sichtbar werden“ müsse.140 Das „Aufgespaltensein der Gemeinde“ in verschiedene Gruppierungen widerspreche „sowohl ihrem Wesen als auch dem ausdrücklichen Willen ihres Hauptes“ Christus. Das Einssein sollte bewirken, dass die Welt glauben könne; diese könne aber nur wahrnehmen, was sichtbar sei, und so werde das „evangelistisches Zeugnis“ durch die Spaltungen „in Frage gestellt“. Die Zerrissenheit sei deswegen als ein schuldhaftes Verhalten zu qualifizieren.141 Die Einheit wieder herzustellen, das sei ein schwieriger Weg. Wenn nun kürzlich „freikirchliche Gruppen bei voller Wahrung“ der Autonomie der Ortsgemeinde sich „zu einer äußeren Einheit zusammengeschlossen“ hätten, dann wolle Heitmüller annehmen, „dass das nicht nur aus Zweckmäßigkeit, sondern aus einem neu aufbrechenden Verstehen und Begreifen des Wesens der Gemeinde“ und „im Gehorsam“ gegenüber dem göttlichen Willen geschehen sei. Heitmüller führte weiter aus: „Wir wollen uns darüber […] freuen“ und Gott bitten, dass dem durch das Handeln des Heiligen Geistes bewirkten Beginn „Fortsetzungen geschenkt werden“. Für Heitmüller war klar, dass für eine Vereinigung von Freikirchen nicht etwa gemeinsame „Glaubensbekenntnisse“ eine Grundlage darstellten. „Zu gottgewollten […] Zusammenschlüssen“ könne es „nur zwischen solchen Gruppen kommen, die sich kraft des Vater-Namens Gottes bewahren lassen vor dem Argen (Vers 15 [Joh 17]) und in denen die Herrlichkeit Gottes und Jesu lebendig ist“. Dabei dürften verschiedene Standpunkte in sekundären Fragen von Lehre und Bekenntnis „das Einswerden“ nicht beeinträchtigen, wie beispielsweise unterschiedliche Erkenntnisse bezüglich der Taufe.142 In der Tat war das eine Kehrtwendung, wie 136
hardt. 137
E. Pickhardt an Rudersdorf, 20. 11. 1940, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pick-
Vgl. dazu Weyel, Anspruch, S. 360 – 363. Vgl. F. Heitmüller an Wiesemann, 30. 01. 1941, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. 139 Heitmüller, Friedrich: Auf daß sie alle eins seien! Eine zeitgemäße Betrachtung, in: Wort und Tat 2 (1941), S. 70 – 73. 140 Ebd., S. 70. 141 Ebd., S. 71. 142 Ebd., S. 72. 138
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auch der Schriftleiter Luckey diesen Artikel kommentierte.143 Allerdings konnte Heitmüller die Entscheidung der Leitung des BFeG vom November 1940 nicht korrigieren. Auffällig sind besonders in diesem Artikel die Bezüge zur Ideologie des NSStaates. Abweichend von der Regel, in „Wort und Tat“ keine Gemeindenachrichten zu bringen, veröffentlichte Luckey einen Bericht über den Zusammenschluss von Baptisten und BfC, da es sich hier um ein „Ereignis im freikirchlichen Raum“ handele, das nachwirken würde. Luckey führte aus, dass man den Führern zur Zeit Jesu den Vorwurf gemacht habe, die „Zeichen der Zeit“ nicht erkannt zu haben. Luckey stellte die Frage, ob dies für seine Zeit nicht auch zuträfe. Er fragte weiter: „Sollte eine so gewaltige, die ganze Welt umwandelnde Zeit“ den Christen „nichts zu sagen haben“? Sei es nicht „tatsächlich“ der Auftrag „der gegenwärtigen Stunde“, die zerstreuten Christen zu sammeln, die Gemeinde zu einigen und ein Zeugnis durch „die Einheit des Volkes Gottes“ zu sein? Luckey wolle nur „Fragen stellen“, die jede Glaubensgemeinschaft für sich selbst „beantworten“ müsste. Aber es sei auch klar: Gemeinden müsse nicht die Einsicht beigebracht werden, dass jetzt die Stunde sei, in der man handeln müsste. Im Gegenteil: „Die Gemeinden erwiesen sich als reif“, den „Weg zur größeren Einheit“ zu gehen, obwohl die „Opfer“ nicht leichtfielen; doch das sei kein Gegenargument: Die „heillose Zerrissenheit der Gemeinde“ sei nicht nur gefährlich für deren Existenz, sondern auch ein „Ärgernis im deutschen Volk“. Entscheidend sei jetzt, dass „verantwortliche Männer […] sich ein Herz fassen“ und diesen schweren Prozess der Umsetzung vollziehen müssten. Luckey führte weiter aus, er sähe es ganz „nüchtern“: Der Erfolg der „Erziehungsarbeit des Dritten Reiches am deutschen Menschen“ sei zu konstatieren, der „Triumph der völkischen und militärischen Einheit“ 1940 habe in den „Bann geschlagen“ und gezeigt: „das organische Ganze“ sei stärker als die Summe seiner Teile. Eine Vereinigung vollziehe sich nicht auf der Grundlage von Lehrdiskussionen, sondern könne durch eine „im Vertrauen gewagte[n] Tat“ erreicht werden. Die Losung für die motivierten Gemeinden müsse sein: Gott will, „dass wir alle eins seien“.144 Luckey gab hier eine Einschätzung bezüglich des Jahres 1940 wieder, die viele teilten. Die militärischen Erfolge über Frankreich wurden der Geschlossenheit der „Volksgemeinschaft“ und dem einheitlichen Willen der Wehrmacht zugeschrieben.145 Diese große, letztlich von Gott bewirkte Entwicklung müsste auch Christen in ihrem Handeln antreiben.
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Vgl. H. Luckey an P. Fleisch, 28. 02. 1941, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey. H. Luckey, Eine neue Losung für die Gemeinde Jesus in der Gegenwart? (Rubrik: Bausteine). 145 Thamer, Hans-Ulrich: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 1945, Berlin 1986 (Sonderausgabe 1994), S. 648. 144
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II. Reflexionen Zuerst soll gefragt werden, wie sich die Einigungsbemühungen vor dem Hintergrund der religionspolitischen Akteure im NS-Staat darstellen. Oft wurde in der Vergangenheit behauptet, es habe einen Druck des Staates hinsichtlich einer Vereinigung der Freikirchen gegeben. Schon damals wurde aber vielfach festgestellt, dass dieser nicht existierte.146 Auch die heutige Kenntnis der Quellen lässt keinen politischen Druck erkennen. Das Reichskirchenministerium äußerte sich zwar dahingehend, dass es wünschenswert wäre, wenn die konfessionelle Zersplitterung beseitigt werden würde.147 Aber es hatte keine Möglichkeiten, dieses zu bewirken. Das Agieren der Gestapo fiel unterschiedlich aus. Wie oben dargestellt hatte sie 1937 keine Einwände gegen einen späteren Anschluss des BfC an den Bund der Baptistengemeinden erhoben, aus diesem dürfte dann aber kein „Sammelbecken“ der Freikirchen werden. Den Anschluss der OB an den BfC hatte sie gefördert.148 Im Sicherheitsdienst der SS sprach man sich schon aber 1937 gegen Zusammenschlüsse von Kirchen aus; man wollte die konfessionelle Zersplitterung so belassen. Diese Haltung wurde bestimmend für die NS-Kirchenpolitik.149 Als 1941 der Zusammenschluss von Baptisten und BfC beschlossen wurde, ging man von einer schnellen Genehmigung aus, da das Reichskirchenministerium immer wieder signalisiert hatte, diese würde sofort erfolgen.150 Das Ministerium seinerseits legte für seine Einschätzung offensichtlich die Auskunft der Gestapo von 1937 zugrunde. Wie sich dann zeigte, wurde die Genehmigung aber im September 1941 seitens der Gestapo verweigert. Erst im Herbst 1942 stimmte sie dem zu. Es stellt sich nun die Frage, ob diese auch eine Beteiligung der FeG genehmigt hätte. Aus heutiger Sicht spricht einiges dafür, dass dieses nicht möglich gewesen wäre. Wenn man fragt, welche Gründe man damals für einen angestrebten Zusammenschluss der Glaubensgemeinschaften der VEF benannte, dann kann man auf F. Rockschies verweisen, der in der Sitzung der BL des BfC am 03. 11. 1940 auf diesbezügliche Fragen von Teilnehmern die Antwort gab, dass „Jesus die Einheit erfleht“ habe; außerdem glaube er, „dass die Front stärker“ sein und die „missionarische Kraft“ durch ein Zusammen vergrößert würde.151 Damit sind die drei Argumente genannt worden, die in verschiedenen Modifikationen immer wieder geäußert wurden. Die Bitte Jesu im sog. hohepriesterlichen 146 So beispielsweise E. Lange, Gedanken über den Vorschlag der Baptisten, einen neuen Bund zu bilden, 01. 10. 1937, in: Archiv Wiedenest, Nachlass Bister. 147 Vgl. Strübind, Unfreie Freikirche, S. 218, Fn. 10. 148 Vgl. Liese, Verboten, S. 318 f. 149 Vgl. ebd., S. 77 f. 150 Zum Ganzen vgl. Liese, Wir konnten immer das Evangelium verkündigen, S. 129 – 132. 151 Protokoll zur Sitzung der Bundesleitung des BfC in Dortmund am 1. und 2. 11. 1940 [hier liegt ein Schreibfehler des Protokollanten Wa. Brockhaus vor: Es muss heißen 2. und 3.11.], in: Archiv Wiedenest, Bestand private Sammlung Bister.
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Gebet: „[…] auf dass sie alle eins seien“ (Joh 17,21), stellte den zentralen Bibeltext dar. Er wurde immer wieder zitiert und aufgegriffen. Und man versuchte ihn praktisch umzusetzen, denn der Bitte Jesu wollte man unbedingt nachkommen. Wollten einige Freikirchlicher wie beispielsweise Wiesemann (FeG) diesen Text mehr auf die innere Einheit anwenden, wurde er von vielen (Becker, Schmidt) auf die äußere, sichtbare Einheit bezogen. Die Abspaltung von den evangelischen Territorialkirchen, die sich in mehrere konfessionelle Gruppen ausdifferenziert hatten, wurde auf die Gegenwart bezogen negativ bewertet. Diese Spaltungen wurden jetzt als unbiblisch dargestellt, da die Konfessionsschranken („Zäune“) ein Miteinander der freikirchlichen Christen verhinderten. Dass die einzelnen Freikirchen aus einer besonderen geschichtlichen Situation heraus entstanden waren, wurde nicht bestritten, deren Gründungen wurden vielmehr als mutige Taten bezeichnet, die damals einen Gehorsamsschritt darstellten. Jetzt aber sei das überholt. Es gelte, wenn möglich, diese Aufspaltungen, diese „Zerrissenheit“ zu beseitigen. Besonders nachdrücklich wurde diese Position von Baptisten wie Schmidt und von Angehörigen des BfC wie Becker und Kietzell vertreten. Bisweilen wurde, wie beispielsweise von Hans Becker, argumentiert, dies entspräche genaugenommen den ursprünglichen Intentionen der „Gründungsväter“, in diesem Falle der GB. Dass „geschichtlich-Gewordenes“ überwunden werden müsse, entsprach diesem Denken.152 Bei dem ersten Gespräch zwischen dem BfC – damals nur ehemalige GB – und den OB, war vereinbart worden, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Dieser Umgang mit geschichtlichen Traditionen sollte dann beispielgebend für weitere Vereinigungsgespräche sein. Allerdings war damit ein Verlust der Bedeutung von Geschichte verbunden, dem sich die beiden methodistischen Kirchen nicht anschließen wollten. Da es nur einen Leib Christi gebe, wurde letztlich die Aufspaltung in verschiedene freikirchliche Konfessionen als ein Skandal gesehen, den es zu beenden galt. Dieses Einheitsstreben wurde von vielen Beteiligten mit politischen Ereignissen und gesellschaftlichen Entwicklungen im NS-Staat verknüpft. Das nationale Einigungswerk, das Bestreben im politischen und gesellschaftlichen Bereich alles zusammenzufassen, die Einheit der „Volksgemeinschaft“ und schließlich die außenpolitischen Erfolge, die auch durch die Geschlossenheit der deutschen Nation zustande gekommen waren – das alles beeinflusste das kirchliche Einheitsbestreben. Von diesem Gott, der offensichtlich hinter dem nationalen Aufbruch stand, könne man auch im Bereich der Gemeinde das Wunder der kirchlichen Einigung erwarten. Zwar gab es auch kritische Gegenstimmen gegen diese Argumentation, aber die Mehrheitsmeinung vermischte oft Politisches mit Geistlichem. So wurde Gottes Stunde für das deutsche Volk zur Stunde Gottes bezüglich der Einigung des Gottesvolkes. Die Einheit der Gemeinde sei das, was Gott jetzt wolle: Dem gegenüber hätte alles andere zurückzutreten. Weshalb aber gerade dieses Thema Ende der 1930er 152 So hatte schon Paul Schmidt in seinem Artikel im „Hilfsboten“ im Februar 1937 argumentiert.
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Jahre so drängend wurde, war ein Phänomen, das wohl doch bei vielen mit dem Erleben dieser Zeit zu tun hatte. Die politische Konnotation wurde noch verstärkt, wenn davon gesprochen wurde, dass die verschiedenen Denominationen gut zur Zeit des Liberalismus und Individualismus passten. Da diese beiden gesellschaftlichen Phänomene der Weimarer Republik jetzt durch den Nationalsozialismus in Deutschland überwunden worden seien, leitete sich auch daraus eine Verpflichtung für die Freikirchen ab, sich zusammenzuschließen. Wie aufgezeigt, wurde diesen politischen Bezügen aber auch widersprochen. Allerdings bezogen sich die Protagonisten eines Zusammenschlusses auch auf vielfältige ökumenische Entwicklungen. So wies man u. a. auf die Vereinigung von drei methodistischen Kirchen in den USA hin.153 Luckey schrieb, dass sogar in England, das von einem ganz anderen gesellschaftlichen Klima geprägt sei als Deutschland, sich die Christen zusammenschlössen, um den Herausforderungen gemeinsam begegnen zu können.154 Die damaligen ökumenischen Bestrebungen verstärkten sicherlich auch den Einigungsprozess in Deutschland. Aber die Überwindung der konfessionellen Spaltungen hatte auch eine explizit missionarische Komponente. Das sichtbare Einssein der Jünger Jesu sollte die Menschen vom Glauben überzeugen. Dass so viele dem Evangelium nicht mehr glaubten, wurde als Folge der kirchlichen Zerrissenheit gedeutet. Beklagt wurde, dass Menschen über diese Spaltungen spotteten. Wenn die Gemeinde also deutlicher als eine sichtbare Einheit erfahren werden würde, dann könnte es zu größeren missionarischen Aufbrüchen kommen. Die Menschen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bzw. am Anfang der 1940er Jahre seien nicht an dogmatischen Fragen interessiert. Beeindrucken würde sie vor allem das gelebte Leben Einzelner und von Gemeinschaften. Ein Zusammenschluss von Freikirchen, der die unterschiedlichen Auffassungen als sekundär erscheinen lassen würde, könnte deshalb genaue diese Wirkung erzielen. Da man sich verstärkt der „antichristlichen Bewegung“ (Becker)155 als ein Gegenüber ausgesetzt sah, vertrat man auch die Meinung, eine vereinte Gemeinde könnte dem besser standhalten als kleine Glaubensgemeinschaften. Der von Rockschies und anderen gebrauchte Ausdruck „Front“, der eine eindeutige militärische Konnotation enthielt, sollte den gemeinsamen Widerstand gegen das antichristliche Denken aufzeigen.
153 Vgl. Nachrichten: Teilnahme des Bischofs der Bischöflichen Methodistenkirche, Dr. Melle, an der Vereinigungskonferenz der Methodisten in den USA, in: Handreichung 24 (1939), S. 64. 154 Vgl. Luckey, Hans: Zu den Einigungsbestrebungen unter den Taufgesinnten, in: Hilfsbote 48 (1938), S. 143 f. 155 Richard Leger, Niederschrift von Gedanken und Reden aus der Zusammenkunft in Geisweid (Patmos) am 21. Juni 1939, in: Archiv Reutlingen, Bestand VEF (Altbestand Leger/ Suptur Stuttgart) im Privatbesitz von K. H. Voigt.
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Der Begriff „Front“ muss allerdings auch kirchenpolitisch gedeutet werden. Wiederholt wurde in diesem Beitrag herausgestellt, dass man die Position der Freikirchen gegenüber dem NS-Staat durch eine größere kirchliche Organisation stärken wollte. Je größer diese vereinigte Freikirche ausfallen würde, desto stärker wäre ihr Gewicht. Da die traditionelle Volkskirche – so der Eindruck in den Freikirchen, aber auch in den Landeskirchlichen Gemeinschaften – offensichtlich einen Bedeutungsverlust erlitt und der Staat an ihr sein Interesse verlieren würde, erhoffte man sich in den Freikirchen dadurch eine stärkere Wahrnehmung und Anerkennung seitens des NS-Staates, was eine Aufwertung der freikirchlichen Position zur Folge gehabt hätte.156 Wie und vor allem mit welchem Ziel man allerdings den Einigungsprozess gestalten wollte – da gingen die Vorstellungen auseinander. Schon am Anfang wurde erklärt, dass ein Zusammenschluss nicht auf dem Wege von Lehrgesprächen möglich sein würde. Zuerst einen Konsens in zentralen Inhalten herstellen zu wollen, um dann zu versuchen, einen Zusammenschluss bewirken zu können – dieses Verfahren wurde immer wieder als ein Irrweg bezeichnet.157 In den ersten beiden Gesprächen hatte man sich über bestimmte Lehrfragen ausgetauscht, war aber in den Fragen von Taufe und Gemeindemitgliedschaft zu keinem Konsens gelang. In den weiteren Besprechungen gab es keine Versuche mehr, über Gespräche zu einer Einigung in bestimmten Lehrfragen zu gelangen. Schon gar nicht wollte man anderen die eigenen Ansichten in Lehre und Praxis aufzwingen. Das Ideal war, dass in einer Einheitsorganisation jede Gemeinde gemäß ihrer Prägung existieren könnte. Die Zugehörigkeit zu dem einen Leib Christi sollte das Verbindende sein. Erkenntnisfragen, historischen Traditionen und bestimmten religiösen Gebräuchen sollten nur eine sekundäre Bedeutung zukommen. Die neue Organisation sollte deshalb kein konfessionelles Profil mehr aufweisen. Allerdings musste auch Schmidt zugeben, dass dieses Ziel mit den FeG und dem BfC einfacher zu realisieren wäre, als mit den beiden methodistischen Kirchen. Den Zusammenschluss von Baptisten und BfC praktizierten dann die beiden Gruppen, die sich – zumindest auf der Leitungsebene –von Anfang an nahegestanden hatten. Spätestens im Mai 1939 war es klar, dass beide Bünde sich in einen neuen Bund hinein auflösen wollten. Die Mehrheit der Leitung der FeG war aber von Anfang an reserviert gegenüber einem gemeinsamen Bund und plädierte daher für einen Bund von Freikirchen. Eine Minderheit wäre aber bereit gewesen, in einen neuen Bund einzutreten, da man in theologischen Fragen gegenüber BfC und Baptisten nur wenige Differenzen sah. In der Tat einte Baptisten, FeG und die ehemaligen OB beispielsweise das kongre156 So hatte es die Baptisten in Patmos formuliert. Vgl. auch Strübind, Andrea: Keine dauerhafte, vertretbare Neuordnung – Die Entstehung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) 1941/42 (aus baptistischer Sicht), in: Assmann, Reinhard / Liese, Andreas (Hrsg.), Unser Weg – Gottes Weg? Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (Baptismus-Dokumentation Bd. 5), Hammerbrücke 2015, S. 7 – 38, hier: 24. 157 So Luckey in seinem Bericht in der BL der Baptisten über das Gespräch in Dortmund: „Verhandlungen dürfen unter keinen Umständen auf ein Religionsgespräch hinauslaufen“, Bundesverwaltungssitzung am 24./25. 01. 1938, in: Oncken-Archiv, Nachlass Luckey.
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gationalistische Gemeindeverständnis. Besonders zwischen den GB und FeG existierten, wie weiter oben aufgezeigt, durchaus Gemeinsamkeiten. Offensichtlich gab es aber zwischen Baptisten und FeG auch atmosphärische Störungen,158 und auch zu den Brüdergemeinden gab es – wie dargestellt –Spannungen aufgrund historischer Erfahrungen. Deshalb plädierte die Mehrheit der Verantwortlichen des BFeG für einen Bund der Freikirchen. Obwohl dieser Vorschlag wenig präzise war, hätte man ihn seitens der Baptisten und des BfC stärker ausloten sollen. Weil aber beide Freikirchen unbedingt den neuen Bund wollten, wurde der Vorschlag der FeG nicht weiter diskutiert. Nach 1945 warf man den führenden Personen in den Freikirchen vor, ein zu großes Gewicht im Einigungsprozess gehabt und den Gemeinden zu wenig Mitspracherecht gegeben zu haben. Aber in vielen Voten wurde gerade gefordert, dass Einzelne diesen Einigungsprozess vorantreiben sollten, um die Gemeinden auf diesem Weg mitzunehmen. Dazu waren Leute wie Becker und Schmidt bereit. Dass hier auch der „Führerkult“ des „Dritten Reiches“ einen gewissen Einfluss ausübte, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Als Fazit bleibt: Ab 1937 wurde die Existenz verschiedener freikirchlicher Denominationen radikal in Frage gestellt. Teilweise geschah dies auf einem hohen theologischen Reflexionsniveau. Auch wenn es sich dabei um eine Gemengelage verschiedenster Motive und Begründungen mit einer erschreckenden Nähe zum NSStaat handelte, könnten viele Argumente heute noch als Impulse für ein intensiveres Miteinander der Freikirchen dienen.159 Literaturverzeichnis Baumann, Imanuel: Loyalitätsfragen. Glaubensgemeinschaften der täuferischen Tradition in den staatlichen Neugründungsphasen des 20. Jahrhunderts (Kirche – Konfession – Religion 78), Göttingen 2021. Becker, Hans: Schlusswort, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes, Bericht über die Elberfelder Konferenz des Bundes freikirchlicher Christen (26.–29. Mai 1938), hrsg. v. d. Dönges Verlagsgesellschaft in Dillenburg, o.D., S. 59 – 63. Becker, Hans: Ist etwa der Christus zerteilt?, in: Handreichung 24 (1939), S. 7 – 11. Der Ruf der Zeit: Zusammenschluss der Taufgesinnten?, in: Handreichung 24 (1939), S. 51 f. Hartnack, Hugo: Zum Geleit, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes. Bericht über die Elberfelder Konferenz des Bundes freikirchlicher Christen (26.–29. Mai 1938), hrsg. v. d. Dönges Verlagsgesellschaft in Dillenburg, o.D., S. 5 f. 158
F. Heitmüller an Wiesemann, 30. 01. 1941, in: Archiv Witten, Vereinigungsakte Pickhardt. Heitmüller möchte „die ohnehin schon nicht gerade günstige Atmosphäre“ nicht weiter belasten. 159 D. Marks (Zusammenschluss) beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Freikirchenbünden in Schweden und in Österreich; hier lassen sich manche Parallelen zu den Entwicklungen in Deutschland erkennen.
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Heitmüller, Friedrich: Auf daß sie alle eins seien! Eine zeitgemäße Betrachtung, in: Wort und Tat 2 (1941), S. 70 – 73. Jordy, Gerhard: Die Brüderbewegung in Deutschland, Bd. 3: Die Entwicklung seit 1937, 2. Aufl., Wuppertal 1989. Kietzell, Fritz von: Trennende Schranken, in: Handreichung 24 (1939), S. 1 – 6. Kietzell, Fritz von: Wo ist Gemeinde Gottes?, in: Handreichung 24 (1939), S. 33 – 37. Köhler, Heinz: Die Einheit der Ekklesia in ihrem Gemeinschaftsleben, in: Die Ekklesia des Neuen Testamentes. Bericht über die Elberfelder Konferenz des Bundes freikirchlicher Christen (26.–29. Mai 1938), hrsg. v. d. Dönges Verlagsgesellschaft in Dillenburg, o.D., S. 38 – 42. Köhler, Heinz: Sind Sondergut und Einheit vereinbar?, in: Handreichung 24 (1939), S. 79 – 81. Kretzer, Hartmut: Quellen zum Versammlungsverbot des Jahres 1937 und zur Gründung des BfC. Mit einer historischen Einordnung und Kommentaren des Herausgebers, Neustadt/ Weinstraße 1987. Lange, Ernst: Überwindung der Konfessionen, in: Die Tenne 15 (1937), S. 11 ff. Liese, Andreas: Verboten – geduldet – verfolgt. Die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung, Hammerbrücke 2002. Liese, Andreas: Taufverständnisse in der Brüderbewegung, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinden 12 (2007), S. 272 – 286. Liese, Andreas: „Wir konnten immer das Evangelium verkündigen“, in: Kirchliche Zeitgeschichte 30/1 (2017), S. 93 – 133. Luckey, Hans: Zu den Einigungsbestrebungen unter den Taufgesinnten (Unter dem Pflug), in: Hilfsbote 48 (1938), S. 143 f. Luckey, Hans: Zu den Einigungsbestrebungen unter den Taufgesinnten, in: Hilfsbote 48 (1938), S. 143 f. Luckey, Hans: Der neue Name, in: Hilfsbote 49 (1939), S. 167. Menk, Friedhelm: Die Brüderbewegung im Dritten Reich. Das Verbot der „Christlichen Versammlung“ 1937, Bielefeld 1986. Müller, Ulrich: Die Geschichte der Die Handreichungen, auf: www.bruederbewegung.de. https://www.bruederbewegung.de/themen/zeitschriften/handreichungen.html. Popkes, Wiard: Abendmahl und Gemeinde. Das Abendmahl in biblisch-theologischer Sicht und in evangelisch-freikirchlicher Praxis, 2. Aufl., Wuppertal/Kassel 1983. Sauer, Erich: Gelegenheit zum Sieg, in: Handreichung. Freikirchliche Monatsschrift 24 (1939), S. 14 – 18. Schmidt, Paul: Das Jahr und die Zeit, in: Hilfsbote 47 (1937), S. 25 – 28. Schmidt, Paul: Die Einheit nach der Schrift und nach dem Leben, in: Handreichung 24 (1939), S. 86 – 90. Schmidt, Paul: 15 Jahre Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, in: Junge Mannschaft. Zeitschrift für die Jugend im Bund Ev.-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (August 1956), S. 1 – 17.
Freikirchliche Vereinigungsbemühungen 1937 bis 1941
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Internationale und kirchliche Zeitgeschichte
Theologians under Adolf Hitler and Christians under Donald Trump: Christianity Gone Awry By Robert P. Ericksen Author’s Note: I have long written about overlapping questions of Christian faith and politics, in my case focusing first on Nazi Germany. I also have long admired Andrea Strübind’s work. I was especially pleased several years ago to note her interest in Martin Luther King, Jr., and the American Civil Rights Movement. This is evidenced, for example, in the conference she organized on “Freedom Then, Freedom Now: An Interdisciplinary and Transnational Dialogue on the U.S. American Civil Rights Movement” (as recorded in Kirchliche Zeitgeschichte 33/1, 2020). That work makes me especially pleased to be included in this Festschrift.
I. Prologue In 1971 I applied to the London School of Economics and Political Science, proposing a doctoral dissertation in International History on German Protestant professors of theology during the Nazi era. I had expected to find a German academic milieu in which the politics of Adolf Hitler and his eighth-grade education would be suspect. I also expected to find a Christian milieu in which Adolf Hitler’s extreme lack of Christian behavior and/or respect for Christian moral values would be suspect. I was surprised on both counts. The eventual result became my first book, Theologians under Hitler: Gerhard Kittel, Paul Althaus, and Emanuel Hirsch.1 My expectations in 1971 had been influenced by my youthfulness, and also by my own Lutheran background. I had been raised as the grandson of four immigrants who arrived in the United States and settled in Chicago about 1900, two from Norway and two from Sweden. I was influenced especially by my paternal grandmother. This grandmother had lived for half a century in a Norwegian neighborhood in south Chicago, raising three sons. In her youth in Norway, she had grown up influenced by Hans Nielsen Hauge, who started a small movement in the late 19th century. He encouraged piety and Bible study, along with practical skills for the emerging new Norwegian economy. As a “Haugeaner” in Chicago, my grandmother saw that all three of her sons finished a university education, two of them at St. Olaf College in Minne1 Cf. Ericksen, Robert P.: Theologians under Hitler. Gerhard Kittel, Paul Althaus, and Emanuel Hirsch, New Haven 1985.
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sota. All three then completed their pastoral training at Luther Seminary, St. Paul, Minnesota, and each completed a career of more than fifty years as a Lutheran pastor. In 1945 my Norwegian grandmother left her home in Chicago and joined my family, a bit north of Seattle in the northwest corner of the United States. Widowed by then, she arrived to help raise me, the fourth of five sons. My father, her oldest, was the first of those three Lutheran pastors and the first in need of some child care. She is in my earliest memories as a toddler, washing my face and putting me to bed, and she lived with us throughout most of my childhood. One other set of influences then helped shape me. In the second half of the 1960s, I was exposed to things in America, from flower children questioning middle class values to my generation’s questioning of the Vietnam War. I also learned a little bit in the 1960s about Dietrich Bonhoeffer, another Lutheran, and his opposition to Adolf Hitler. II. Theologians under Hitler My first article, “Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel,” appeared in the Journal of Contemporary History in 1977.2 This showed my realization that something “had gone awry.” It quickly had become clear to me in my doctoral research that famous and successful theologians in the much-admired German university system could also be enthusiasts for the politics and values of Adolf Hitler. Gerhard Kittel was both famous and successful. His fame rested especially on his project, The Theological Dictionary of the New Testament, which is still widely used and often known as “The Kittel.” He also was very successful as an academic, with a long-term chair at Tübingen and a visiting chair in Vienna, along with many publications and much participation in academic organizations.3 Furthermore, Kittel was the son of another famous theologian, Rudolf Kittel, an Old Testament scholar who held an important chair and served as Rector at Leipzig. Rudolf Kittel was most famous for his Biblia Hebraica, a widely praised and still important critical edition of the Jewish Bible, the basis for the Christian Old Testament.4 I quickly discovered that Gerhard Kittel had joined the Nazi Party in 1933 and supported Adolf Hitler from 1933 to 1945. He also participated enthusiastically in Hitler’s signature issue, the fight against a supposed “Jewish menace.” It is difficult 2 Cf. Ericksen, Robert P.: Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), p. 595 – 622. 3 See Schwarz, Karl: “Sie haben […] geholfen, den nationalsozialistischen Einbruch in unsere Kirche abzuwehren. Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien, in: Heil, Uta/Schellenberg, Annette (eds.), Theologie als Streitkultur, Vienna 2021, p. 319 – 339. Note that Schwarz begins his title by quoting a “Persilschein,” a letter Kittel used in his denazification defense in 1945. However, Schwarz concludes that Kittel’s actual stance in Vienna conformed to Nazi expectations. 4 Cf. Kittel, Rudolf: Biblia Hebraica, Leipzig 1906. This is a critical edition of the Hebrew Bible in two volumes, edited by Rudolf Kittel, with a second edition in 1913, and a third, single-volume edition in 1937.
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to know for certain whether Kittel’s own vanity and his hope for fame and success in Adolf Hitler’s Third Reich turned his head. When he was arrested, tried, and imprisoned in 1945, he responded with defense statements that claimed he was not influenced at all by Hitler and his politics. Rather, he tried to explain his Third Reich publications and his active participation in anti-Jewish organizations and conferences as entirely rooted in his Christian faith, in his theological differences with Judaism itself. In our postwar world, however, as we look back on longstanding Christian antisemitism plus egregious Nazi crimes, it is hard to see Kittel as anything but a contributor, rather than any sort of a counterweight to the horrors of Hitler’s Germany. With the arrival of French troops in Tübingen, Kittel immediately was arrested by French occupation authorities and removed from his professorship at Tübingen. The next two years involved various forms of incarceration while he underwent denazification procedures. None of his efforts succeeded in absolving him, whether his solicitation of letters of support from scholars abroad or his own “Meine Verteidigung.” Kittel died in July 1949, at the age of fifty-nine, without ever being allowed to return to Tübingen itself, much less to his position at Tübingen University.5 I have written about the range and bitter nature of Kittel’s work on the “Jewish Question” in various places, beginning with that article in 1977. In his public lecture in Tübingen in May 1933, soon published as “Die Judenfrage,” Kittel described the behavior of Jews as unacceptable and the place of Jews in German life and culture as in need of severe restriction.6 This brutal book came as a surprise to some of Kittel’s friends and admirers outside Germany. However, it quickly secured his entrée into the national, Nazified conversation about Jews in Adolf Hitler’s Germany, and worse was yet to come. In 1935 Walter Frank opened his Institute for the History of the New Germany, intended to be a think tank at which scholars could give intellectual credibility to Nazi ideology. Gerhard Kittel proved to be one of the most avid contributors to that organization, especially its “Research Section on the Jewish Question.” Kittel gave an opening lecture at the first annual conference of that group, soon published in the first edition of Forschungen zur Judenfrage. Over the years, Kittel made seven contributions to the seven annual volumes of that journal, more than any other contributor. In all of this work there is simply no theology. Rather, there is only Kittel’s effort to use large theories and tiny bits of evidence to explain how Jews degenerated from the admirable Jews of the Old Testament to the devious and dangerous Jews of the modern world.7 5 Cf. Ericksen, Theologians under Hitler, p. 28 – 78. For a recent treatment of these issues, see Gailus, Manfred/Vollnhals, Clemens (eds.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und “Judenforscher” Gerhard Kittel, Göttingen 2020, which gives an important presentation of the current assessment of Kittel and his career. 6 Cf. Kittel, Gerhard: Die Judenfrage, Stuttgart 1933, 3rd ed., 1934. 7 See, for example, Ericksen, Robert P.: Complicity in the Holocaust: Churches and Universities in Nazi Germany, Cambridge 2012, p. 132 – 136. See also my Schweigen und Spre-
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Emanuel Hirsch, a professor of theology at Göttingen University, was another figure in my Theologians under Hitler. Hirsch was the most important Kierkegaard scholar in Germany during the 1920s and 1930s. He also was perhaps the most important of these three theologians in his intellectual and theological support of Hitler’s Germany. In the early summer of 1933, for example, he commented on Hitler’s leadership with this enthusiastic bit of praise: “No other Volk in the world has a leading statesman such as ours, who takes Christianity so seriously. On 1 May, when Adolf Hitler closed his great speech with a prayer, the whole world could sense the wonderful sincerity in that.”8 A bit naïve, perhaps? But indicative of Hirsch’s stance. Furthermore, Hirsch as dean of his faculty at Göttingen, worked hard to hinder inroads by the Confessing Church among theology students and within his faculty.9 When some theology students at Göttingen nurtured connections with the Confessing Church, Hirsch as chair tried to control and limit their behavior. Throughout this period, he was a Nazi spy at Göttingen, reporting to the Ministry of Education in Berlin, with recommendations about how best to control and limit the options for any students not on the Deutsche Christen side of the church struggle. He similarly reported on his faculty colleagues, and, when the opportunity arose, he engineered the appointment of a like-minded colleague, Walter Birnbaum. Despite Birnbaum’s lack of a doctorate, much less a Habilitation, Hirsch secured his appointment in the Theological Faculty.10 In 1945 Birnbaum faced the very awkward situation of being in a postwar Theological Faculty that did not want him. He successfully pushed his legal right to remain. However, his attempt still to give lectures was so manifestly unsuccessful that he decided to keep a mailbox in Göttingen but move to Munich. This is where he received his salary and eventually his retirement income, well into his nineties, in both cases as a full professor, but without having to face students or be near the faculty colleagues who loathed his presence.11 When British troops arrived in Göttingen, Hirsch himself had already arranged an early medical retirement. Using his bad eyesight, which he had suffered for years, this protected him from Allied removal. He was able to remain in his large home on the Schillerwiese, while living on a safe retirement income. However, this left Hirsch in a bitter quarrel with his former colleagues and with the postwar university. He was persona non grata, and the newly re-established postwar theological faculty specifically enforced these restrictions. Hirsch lived another twenty-seven years, holding private chen über den ‘Fall Kittel’ nach 1945, in: Gailus/Vollnhals, Christlicher Antisemitismus, as noted above. 8 Hirsch, Emanuel: Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen, Berlin 1933, p. 224, which I cite also in Theologians under Hitler, p. 148. 9 See Ericksen, Robert P.: Die Göttinger Theologische Fakultät im Dritten Reich, in: Becker, Heinrich/Dahms, Hans-Joachim/Wegeler, Cornelia (eds.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, Zweite, erweiterte Ausgabe, Munich 1998, p. 75 – 101. 10 Cf. ibid, p. 77 – 86. 11 Cf. ibid, p. 90 – 94.
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sessions in his home for students of theology willing to attend, but never again setting foot on the university campus.12 Paul Althaus, a third figure in my Theologians under Hitler, was a very prominent and admired member of the Theological Faculty at Erlangen University. He was President of the International Luther Society for thirty years. Althaus was the only one of the three men in my first book who was allowed to return to his career, if only after first being purged from the Theological Faculty at Erlangen. However, he was hardly less enthusiastic for the Hitler state than Gerhard Kittel, or Emanuel Hirsch, or many other like-minded colleagues. In 1934 Althaus described Adolf Hitler as “a gift and miracle of God.”13 He worked closely with Hirsch, combining their theological work with their pro-Nazi politics. One difference with Althaus is that he did seem to lose enthusiasm for Hitler by 1938, no longer writing political tracts in support of Hitler’s regime. He was not removed from his professorship in 1945. Rather, Althaus was one of three professors put in charge of denazification by American occupation forces. By 1947, however, the Americans had second thoughts. They concluded that Erlangen had become too soft and too friendly toward former Nazis, including academics arriving at Erlangen after being forced out elsewhere. Althaus was removed in 1947, his history of enthusiasm for the Nazi regime too apparent to be ignored. In contrast to Gerhard Kittel or Emanuel Hirsch, however, he did resume his place at Erlangen within a year, and he remained a significant figure until his death in 1966.14 After publishing my treatment of Kittel, Althaus and Hirsch in 1985, I continued to work in this field. I joined the editorial board of Kirchliche Zeitgeschichte in 1988, where I met others pursuing similar questions, including Andrea Strübind’s mentor and her precursor as Editor, Gerhard Besier. In that journal and in various other books and articles I continued to work on this theme of Christians and their attitude toward Hitler. It was my early work on Kittel, Althaus and Hirsch that first surprised me, of course, indicating that three important and successful Protestant theologians were loyal Nazis. They were intelligent. They were known and admired abroad for their scholarship. They also professed their personal Christian faith. But they gave their political allegiance to Adolf Hitler, enthusiastically, openly, and – in at least two of these three instances – throughout the twelve years of the Third Reich. I soon came to believe that Kittel, Althaus and Hirsch were the tip of an iceberg, despite what I had learned about Dietrich Bonhoeffer in my teenage years. Even my view of the heroic Confessing Church had to be modified. That group was praised after 1945 for having represented a moral and political opposition to the leadership of Adolf Hitler. A growing body of research, however, including Wolfgang Gerlach’s book on the Confessing Church and antisemitism, changed the narrative.15 It became 12
For these postwar circumstances, see also Theologians under Hitler, p. 191 – 197. Althaus, Paul: Die Deutsche Stunde der Kirche, 3rd ed., Göttingen 1934, p. 5. 14 Cf. Ericksen, Theologians under Hitler, p. 110 – 112. 15 See Gerlach, Wolfgang: And the Witnesses were Silent. The Confessing Church and the Persecution of the Jews, translated and edited by Victoria J. Barnett, Lincoln 2000. 13
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clear that the Church Struggle in Nazi Germany primarily involved theological arguments and questions inside the church, rather than a widespread rejection of the politics of Adolf Hitler. On one occasion in Göttingen in the late 1980s, I was invited to a social gathering of people who had been active in the Confessing Church. In conversation with a small group during that evening, they said to me, “We were all Nazis, of course.” That sort of admission during a relaxed evening was meant to be startling. It is hardly solid evidence, much less an absolute truth. However, it pointed in an important direction. Widespread scholarship since that surprising revelation I heard nearly forty years ago has created a very differentiated understanding of the Confessing Church. It involved a theological conflict between some of the more traditional figures in the German Protestant Church and the Deutsche Christen, the most nazified elements within that church. However, the percentage of clergy and parishioners who actually criticized Hitler and his policies, even in private, was small. The percentage of clergy and parishioners who actually worked underground to rescue Jews or otherwise express their moral condemnation of the regime was smaller yet. I had to learn that members of the Confessing Church did not uniformly see their stance on church politics as any sort of disloyalty to Hitler’s Germany. Even the Barmen Declaration of 1934, the statement on which the Confessing Church was founded, includes these words: “Be not deceived by loose talk, as if we meant to oppose the unity of the German nation!” Furthermore, the topic of Nazi antisemitism did not make it into the Barmen Declaration, nor was there any mention of Jews or their mistreatment.16 Voter analysis regarding Nazi Germany is important here. It has long been established that Christian votes, especially votes cast by Protestant voters in northern Germany, gave Hitler and the Nazi Party the support they needed to come to power on January 30, 1933.17 It also seems clear that Christians in Nazi Germany provided a loyal base of support for the duration. Yes, people like Dietrich Bonhoeffer became Christian activists against the regime. As for Nazi antisemitism, some Christians saw the increasingly harsh plight of Jews in Nazi Germany and tried to help, despite the danger this involved for them. However, an adequate base of Christian support for Adolf Hitler, virtually throughout the Third Reich, seems to be our most accurate assessment of what made the Nazi regime possible. To my eyes, an outsider and decades later, that seems like “Christianity gone awry.” III. Christians under Donald Trump More than four decades after I began finding Christians in Germany who loved Adolf Hitler, I have watched self-described Christians in the United States give their love and support to Donald Trump. I do not claim this to be parallel to Christian 16
See my treatment of this issue in Complicity in the Holocaust, p. 95 – 100. See Ericksen, Robert P.: Devotions, Protestant Voters, and Religious Prejudice. 1930s Germany and Today’s America, in: KZG/CCH 31/2 (2018), p. 427 – 440. 17
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support for Adolf Hitler. Nothing in Donald Trump’s behavior or leadership compares to the level of violence unleashed by Hitler, first on Jews and then on Germany’s European neighbors. However, there is one important parallel: the surprising enthusiasm of Christians for a leader who seems not to be Christian at all. Christians in Germany enthused about Hitler, despite his overwhelming lack of any connection to Christian belief or practice and his overwhelming violation of Christian values in his policies. They put him into power and mostly remained loyal until the end. In the United States, the self-described “Christian vote” secured Donald Trump’s election to the presidency in 2016.18 Furthermore, those voters remain among his staunchest backers, despite his overwhelming lack of any connection to Christian belief or practice and his overwhelming violation of Christian values in his personal behavior. Despite all of this, evangelical Christian voters seem ready to give their support if and when he decides to run for president again in 2024. It must look odd, at least to outsiders, that Donald Trump became the “Christian” candidate in 2016. He never attends church, neither before nor after his election. Rather, he ostentatiously plays golf every Sunday morning. He has been married three times, with lots of extra-marital affairs and ostentatious boasting about them. One month before the election of 2016, the so-called “pussy tape” became known. This involved an interview Trump had given in 2005. Recently married to his third wife, Melania, and on a program called “Access Hollywood,” he bragged enthusiastically about his ability to have sex with any beautiful woman of his choosing. This included his ability and/or his right to kiss them without asking, and even to “grab them by the pussy.” This outrageous and revealing video, coming so close to the election, seemed like it might secure the election of Hillary Clinton, his female opponent. The election proved complicated. Indeed, Hillary Clinton won by three million votes. However, according to the arcane and undemocratic rules of American presidential elections, Trump secured a tiny lead in the Electoral College and ended up in the White House.19 All analyses of that election indicate that it was the Christian vote which put Trump in office. A group of leading figures in the religious right had hesitated just a bit when Trump surprisingly moved toward the Republican nomination in 2016, but they soon gave him their enthusiastic support. This began with the support of a big name, Jerry Falwell, Jr. Falwell’s father, Jerry Falwell, was famous for creating the Moral Majority, a political advocacy group established in 1980. Falwell senior had founded an entire evangelical complex in Virginia, with a big church, a national television audience, and a four-year school, Liberty College. In contrast to other Christian colleges in the United States, and under the leadership of Jerry Falwell, Jr., Liberty University is now a huge and impressive campus that reaches over 100,000 students per year (which includes a very large online contingent). Liberty 18 See Ericksen, Robert P.: Stereotypes, Politics, and Religion in the American Bible Belt, 1960 – 2018, in: KZG/CCH 33/2 (2019), p. 242 – 263. 19 See my description of un-democratic aspects in the American electoral system in ibid.
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University even has established a football team which now competes with traditional powers like the University of Alabama or Notre Dame.20 When Jerry Falwell, Jr., heir to his famous father, endorsed Donald Trump in the 2016 campaign, he brought a large group of evangelical leaders with him. Without this base of Christian support, Trump would not have had a chance to win the presidency, nor would he have a chance to regain the presidency in 2024. Other American presidents have been active Christians. In modern times this included President Eisenhower, a known church-goer. President Jimmy Carter was openly religious, a born-again Christian. He has now spent the forty years since his defeat in 1980 building houses for a charitable group, Habitat for Humanity. He also for decades has taught a weekly Sunday School class in his tiny town of Plains, Georgia.21 Carter’s Christian faith was clear during his one term as president, and it has remained clear in his activities and his public persona ever since. When Jimmy Carter lost his election in 1980 to Ronald Reagan, it significantly rested, ironically, on Reagan’s support from the Moral Majority. This was despite the fact that this ex-Hollywood actor had divorced his first wife to marry another woman. That “moral baggage” was a first for an American president. But Reagan, in contrast to Trump, at least attended church and endorsed most traditional Christian values during his presidency. (It is worth noting, perhaps, that the only two divorced presidents in American history were Ronald Reagan and Donald Trump; and both had been supported by the Moral Majority, a group for which divorce was and is anathema.) By most measures, Donald Trump might be the least “Christian” president in the history of the United States. That judgment is not based just on his lifelong womanizing, or his bragging about his womanizing, or his cheating on his several wives, or his temper, or his flagrant cursing. He also is the first American president who quite literally never attends church. Despite these deficiencies in his Christian persona, Trump’s staunchest base of supporters has always been the Christian right, enthusiastic, born-again Christians, especially in the American South and in rural regions across the United States. It is easy to raise additional questions about the “Christian” nature of Trump’s base of support, and not just the Christian commitment of Trump himself. On the rightwing fringe, for example, we find the Proud Boys, a group of men who participated in the violence of January 6, 2021, an attack and invasion of the U.S. Capitol Building with the goal of overthrowing Joseph Biden’s election. They participated in this crime while carrying Confederate flags – the banner, of course, of the southern slave states that committed treason against the United States, but then lost the 20 See Stack, Megan K.: Can Liberty University Be Saved?, in: The New Yorker (online, April 28, 2022). Stack describes the growth and success of Liberty University, as well as a recent scandal which forced Jerry Falwell, Jr., out of the presidency and left Liberty University in considerable internal conflict. 21 A friend of mine two years ago drove one early morning from Atlanta to Plains, Georgia, in order to get a seat. He then sat with several hundred others as Jimmy Carter taught his weekly Sunday School class.
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Civil War in 1865. Swastikas could also be found in their midst, along with a T-shirt emblazoned with “SMWE,” a neo-Nazi slogan with the secret message, “Six Million Wasn’t Enough.”
IV. The Significance of “Church History” and “Political History” in Today’s America The intermingling of religion and politics has a deep and very long past, possibly extending back to cave dwellers and their ideas on natural and supernatural power. With that reality in mind, it should be no surprise that both Adolf Hitler and Donald Trump used religious support to buttress their political stance. My concern, probably arising from some combination of my childhood in a Lutheran family plus some early idealizing of Dietrich Bonhoeffer, has been the recognition that both Hitler and Trump, despite their remarkably cynical manner and their unacceptable ends, attracted and relied upon Christian supporters. Hitler used and abused both democracy and his base of Christian support to end democracy in 1930s Germany. Then he relied on this support as he ordered the harassment and murder of Jews, while also starting World War II. I do realize that comparing Adolf Hitler and Donald Trump seems extreme. I also realize that my training is in history, not some version of current events. However, the danger of Trump to American democracy has no clear parallel in American history. No other losing candidate in an American presidential election has denied and defied the election result. No other losing presidential candidate has worked so hard to convince his supporters the election was stolen. No other losing presidential candidate has inspired pastors in the Bible Belt of America to devote church services to the argument that his rightful election was stolen.22 As a result of this “stop the steal” campaign, no other losing presidential candidate has found himself this close to replacing democracy with some form of autocracy. The question of autocracy is an important one in the twenty-first century. The collapse of the Soviet Union in the 1990s led to a springtime for democracy in Europe. Several nations within the USSR broke free in the 1990s and began to adopt democratic practices. Even Russia under President Putin followed this trend. Gradually, however, democratically elected leaders in several of those countries changed the rules so that they could defy term limits and otherwise ensure their stay in office. They became experts in how to place limits on a free press and otherwise tighten their rule as autocrats. President Putin in Russia is now the most powerful example of that trend. Donald Trump’s unprecedented claim that the 2020 presidential election was stolen is his first step in a very similar direction. Donald Trump winning the presidency in 2024, along with a Republican Congress and a Republican-appointed 22 See Homans, Charles: The Stolen-Election Falsehood Goes to Church, in: New York Times (April 25, 2022), p. A1 and A15. This extensive article includes this sub-title on p. A15, “Trump’s Falsehoods About the 2020 Vote, Issued from the Pulpit.”
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Supreme Court could bring autocracy to the United States. He already has broken many norms, and he seems willing to break others as needed.23 For the two years since the election of 2020, a majority of voters in the United States has given Democrats control of two of our three branches of government. That includes President Joseph Biden in the White House and a very narrow level of Democratic control in Congress – a small majority in the House of Representatives and a 50/50 split in the Senate (including the right of Vice President Kamala Harris to break a tie vote in certain circumstances). This close vote in the Senate, plus a traditional need for 60 votes to break the impediment of a filibuster, has hampered President Biden’s ability to turn voting success into actual majority power. Furthermore, the Congressional election in 2022 could take away the very narrow advantage Democrats have in the House and their influence in the Senate. Republican success in November 2022 will require only a good result in the former Confederate states of the American south, and also in rural states in the American heartland.24 These states provide a main base for the Moral Majority, the strongest Christian base of Republican votes. These states also play a large role in the odd fact that small rural states often hold the balance in American politics. Consider the Senate, for example. Thirty-five of the fifty states in the United States hold seventy of the one hundred seats in the Senate. That is guaranteed, according to the rule of two senators per state, even though the least populous thirty-five states represent only 14 % of the American population. The Electoral College system also distorts presidential elections, even though much less than the distortions impacting the U.S. Senate.25 As indicated above, both the presidency and Congress presently exaggerate the impact of Republican voters. The third branch of American government, the Supreme Court, also has recently tilted toward the conservative side, culminating in its present unexpected six to three majority of Republican appointees. This is the work of Mitch McConnell, the former and possibly future Majority Leader of the Senate. Even before Trump’s election in 2016, McConnell, from the small state of Kentucky, used his position as Majority Leader to invent a new “tradition.” For an entire year, he thwarted President Barack Obama’s legal right to fill an open seat on the Supreme Court. Contrary to all precedent, McConnell refused for that full year to schedule the Sen23 One example of Trump’s seemingly autocratic sway can be seen in responses to the illegal and violent attempt by a pro-Trump mob invading the U.S. Capitol on Jan. 6, 2021. That mob hoped to force the House to declare Trump the winner, despite his clear loss to Biden in the presidential election. In the immediate aftermath of that criminal act, almost all leading Republicans condemned this mob. Since then, a majority of Republicans in Congress as well as Republicans nationally now endorse rather than condemn Trump’s claim that his election was stolen. 24 I am writing in May 2022, so that readers of the printed version will presumably have access to those results. 25 See further explanation of these numbers and these regional considerations in Ericksen, Stereotypes.
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ate’s constitutional function of voting on Obama’s nomination of Merrick Garland.26 With Trump’s surprise election in 2016, McConnell’s trick paid off and Donald Trump was able in his first months to place the arch-conservative Neil Gorsuch on the Court. Soon another Supreme Court position opened, allowing Trump to make his second nomination. Brett Kavanaugh’s hopes for confirmation were nearly derailed when a woman testified to a drunken sexual assault by Kavanaugh years earlier at a student party. McConnell and Donald Trump rushed the process, limited the investigation, and Kavanaugh joined the Court, though under a cloud which will not easily go away. Finally, with the death of the very liberal Ruth Bader Ginsburg on September 18, 2020, a month and a half before the presidential election in early November, McConnell completely ignored the “rule” he had invented, that a president should not be able to appoint a Supreme Court justice in his or her last year in office. Within eight days President Donald Trump nominated Amy Coney Barrett, a very conservative Catholic. McConnell immediately organized hearings. Within thirty-five days, McConnell’s Republican majority confirmed her nomination and placed her on the court. This set a record for the shortest time before a presidential election in which a Supreme Court opening occurred and a replacement was confirmed. It also proved, of course, that “McConnell’s rule” was nothing but a tactic. The result was that Donald Trump filled three places on the Supreme Court, including one appointment that should have been made by Barack Obama, and one appointment that should have been made by Joe Biden. It turned a potential Supreme Court with a 5 – 4 majority appointed by Democrats to a 6 – 3 majority appointed by Republicans. This is the Supreme Court likely to make crucial decisions on the future of American democracy. In anticipation of the elections of 2022 and 2024, a long trend of broadening and improving the fairness of voting rights in the United States has come under threat. Vote by mail and close access to voting sites help allow people of color and the poor to have a chance to vote (when not allowed to take time off of work, for example). These are likely to be Democrat voters. Republican state legislatures recognize this and are trying to minimize vote-by-mail, create tighter voter registration rules, and/or otherwise tilt voting in their favor. If voting rights issues reach the Supreme Court before the elections of 2022 and 2024, Republicans are likely to be the beneficiary.27
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Christopher Browning, one of the world’s leading Holocaust historians, points to the role of President von Hindenburg in bringing Hitler to power, and then adds, “If the U.S. has someone whom U.S. historians will look back on as the gravedigger of American democracy, it is Mitch McConnell.” See Browning, Christopher: The Suffocation of Democracy, in: The New York Review of Books (Oct. 25, 2018). 27 A precursor to the importance of politics in the Supreme Court can be seen in the tight election of George W. Bush over Al Gore in 2000. Five Justices appointed by Republican presidents stopped the counting of votes in Florida and gave the election to Bush. He thus prevailed by one electoral vote, despite Gore’s 52 % victory in the national popular vote.
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Trump’s version of an attack on democracy, supported by his Republican acolytes, can hardly be compared to Hitler’s. So far, he has been unable to overturn his loss in 2020. However, throughout his six years in the public sphere, Trump has mounted an open attack on democratic norms. He claims his rightful election was stolen, though he has no evidence and his claims in court have been rejected. Playing with the truth has been one of the most consistent features of his public persona. His bold lies and misleading statements while in office were so obvious and numerous that the Washington Post from the beginning of his presidency began keeping a list. In his first year, they found an average of six falsehoods per day, a number which grew to 39 lies per day in his fourth year in office. Their four-year total ended at 30,573 lies.28 In the first weeks after the election of 2020, Republicans in Congress mostly acknowledged the reality that Trump had lost. Since then, figures such as Kevin McCarthy, the leader of Republicans in the House, have buried their early statements and accepted Trump’s fraudulent claims. Polling also shows that a majority of Republicans now believe that Trump’s election somehow was stolen. It is at least possible that Trump’s “Big Lie” about the “Big Steal” could transform American democracy into American autocracy by 2025. V. Epilogue Looking back at the America of my youth, it was a time when Martin Luther King, Jr., a pastor, emerged as more than a pastor. Rather, he became a spokesperson and leader for racial justice. He spoke of the supposed values within the American democratic tradition throughout our history, although these values brutally had been kept from slaves for centuries, and then from people of color after slavery ended. King forced us to acknowledge our struggle to make our words about equality into a reality. He argued that the “arc of history is long, but it bends toward justice.” Then he was murdered by a racist. Then the movement he inspired made huge gains. American history during my lifetime, including the career of Martin Luther King, reveals the ongoing American struggle to make our fine words a reality. This almost seemed to culminate in the two-term presidency of Barack Obama, the first Black American president. Donald Trump rose to the presidency in defiance of that particular “arc of history.” In what we at least tentatively might call the “Trump era,” belief in and acceptance of our fine concepts of democratic values and racial equality is under threat. The coalition that put Donald Trump into office has considerable roots in the American South, the former Confederacy. Though the American South is meant to be Christian, that region also has roots in slavery and in the Civil War, leaving behind anger against the Civil Rights movement, anger against “Black Lives Matter,” even anger against the teaching of historical truths in public schools. In the midst of 28 See Kessler, Glenn/Rizzo, Salvador/Kelly, Meg: Trump’s false or misleading claims total 30,573 over 4 years, in: The Washington Post (Jan. 24, 2021).
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this struggle for a future America, elections in 2022 and 2024 could be crucial. The United States might find a way to resume and refine its place as a leading democracy. It might find a new generation ready to take up the banner of Martin Luther King, Jr., his ideals seemingly ascendant even up to the era of Barack Obama. Or it might not. References Althaus, Paul: Die Deutsche Stunde der Kirche, 3rd ed., Göttingen 1934. Browning, Christopher: The Suffocation of Democracy, in: The New York Review of Books (Oct. 25, 2018). Ericksen, Robert P.: Theologian in the Third Reich. The Case of Gerhard Kittel, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), p. 595 – 622. Ericksen, Robert P.: Theologians under Hitler. Gerhard Kittel, Paul Althaus, and Emanuel Hirsch, New Haven 1985. Ericksen, Robert P.: Die Göttinger Theologische Fakultät im Dritten Reich, in: Becker, Heinrich/Dahms, Hans-Joachim/Wegeler, Cornelia (eds.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, Zweite, erweiterte Ausgabe, Munich 1998, p. 75 – 101. Ericksen, Robert P.: Complicity in the Holocaust. Churches and Universities in Nazi Germany, Cambridge 2012, p. 132 – 136. Ericksen, Robert P.: Devotions, Protestant Voters, and Religious Prejudice. 1930s Germany and Today’s America, in: KZG/CCH 31/2 (2018), p. 427 – 440. Ericksen, Robert P.: Stereotypes, Politics, and Religion in the American Bible Belt, 1960 – 2018, in: KZG/CCH 33/2 (2019), p. 242 – 263. Ericksen, Robert P.: Schweigen und Sprechen über den ‘Fall Kittel’ nach 1945, in: Gailus, Manfred/Vollnhals, Clemens (eds.), Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und “Judenforscher” Gerhard Kittel, Göttingen 2020, p. 19 – 41. Gailus, Manfred/Vollnhals, Clemens (eds.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und “Judenforscher” Gerhard Kittel, Göttingen 2020. Gerlach, Wolfgang: And the Witnesses were Silent. The Confessing Church and the Persecution of the Jews, translated and edited by Victoria J. Barnett, Lincoln 2000. Hirsch, Emanuel: Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen, Berlin 1933. Homans, Charles: The Stolen-Election Falsehood Goes to Church, in: New York Times (April 25, 2022). Kessler, Glenn/Rizzo, Salvador/Kelly, Meg: Trump’s false or misleading claims total 30,573 over 4 years, in: The Washington Post (Jan. 24, 2021). Kittel, Gerhard: Die Judenfrage, Stuttgart 1933, 3rd ed. 1934. Kittel, Rudolf: Biblia Hebraica, Leipzig 1906.
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Schwarz, Karl: “Sie haben […] geholfen, den nationalsozialistischen Einbruch in unsere Kirche abzuwehren.” Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien, in: Heil, Uta/Schellenberg, Annette (eds.), Theologie als Streitkultur, Vienna 2021, p. 319 – 339. Stack, Megan K.: Can Liberty University Be Saved?, in: The New Yorker (online, April 28, 2022).
Lobgesang und Zeitansage. Rudolf Alexander Schröders geistliche Gedichte als Stellungnahme zum „Dritten Reich“ Von Gerhard Ringshausen I. Schröders Dichten in der Zeit des „Dritten Reichs“ Ende 1935 verließ Rudolf Alexander Schröder (1878 – 1962) seine Heimatstadt Bremen und zog nach Bergen im Chiemgau. Wie bei anderen christlichen Dichtern markierte dieser Ortswechsel seinen Weg aus der „verhakenkreuzten“ Welt in die Innere Emigration, den er in der Ballade vom Wandersmann reflektierte.1 Hatte er in Bremen Kontakte zur Bekennenden Kirche (BK), predigte er nun in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern und wurde 1942 zum Lektor in Rosenheim berufen. Damit verband sich eine Veränderung des Adressatenkreises seiner Werke. Sie richteten sich nun nicht mehr an eine durch kleine Auflagen beschränkte politische Öffentlichkeit,2 sondern an die christliche Gemeinde. In der Zwischenkriegszeit hatte er religiöse und christliche Gedichte verfasst, die 1930 in der Sammlung Mitte des Lebens erschienen, aber im „Dritten Reich“ wurde er zum christlichen und kirchlichen Dichter. 1937 veröffentlichte er Ein Lobgesang. Neue Lieder für Kirche und Haus, der zwei Jahre später in stark erweiterter Neuauflage erschien.3
1 Vgl. Schröder, Rudolf Alexander: Die Ballade vom Wandersmann, in: ders., Die Gedichte (Gesammelte Werke, Bd. I), Berlin 1952, S. 433 – 452; zur Interpretation vgl. Ringshausen, Gerhard: Das widerständige Wort. Christliche Autoren gegen das „Dritte Reich“, Berlin 2022, S. 218 ff. Der vorliegende Aufsatz ist im Zusammenhang mit diesem Buch entstanden. Ihm galt das frühe Interesse der Jubilarin, die aus kirchlichen und theologischen Gründen immer wieder das Blickfeld der Kirchlichen Zeitgeschichte erweitert hat. 2 Vgl. Zimmermann, Yvonne: Geschichte, Politik und Poetik im Werk Rudolf Alexander Schröders, Frankfurt a. M. 2016, S. 73 ff. 3 Schröder, Rudolf Alexander: Ein Lobgesang. Neue Lieder für Kirche und Haus, BerlinSteglitz 1937: 63 S.; 2. erw. Aufl. 1939: 144 S.; ders., Kreuzgespräch. Geistliche Gedichte, Berlin-Steglitz 1939: 31 S. Vgl. ders., Dichtung und Dichter der Kirche, Berlin-Steglitz 1936; ders., Johann Heermanns frohe Botschaft. Aus seinen Evangelischen Gesängen ausgewählt und eingeleitet, Berlin-Steglitz 1936; ders., Die Kirche und ihr Lied. Essays, Berlin-Steglitz 1937, und die Würdigung durch Biermann, Matthias: „Das Wort sie sollen lassen stahn …“. Das Kirchenlied im „Kirchenkampf“ der evangelischen Kirche 1933 – 1945, Göttingen 2011, S. 215 – 220.
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Schröders Kirchen- bzw. Gemeindelieder wurden wie solche von Jochen Klepper4 in viele Gesangbücher aufgenommen. Ökumenisch wurde besonders das Glaubenslied Wir glauben Gott im höchsten Thron vielfach rezipiert.5 Bei den evangelischen Gesangbüchern von 1950 und 19946 erscheint bemerkenswert, dass zwei der fünf Lieder 1994 ausgeschieden wurden; O Christenheit, sei hocherfreut mit seinen deutlichen Bezügen auf die Situation der Kirche im Jahre 1936 wurde durch das scheinbar allgemein Angst und Vertrauen benennende Es mag sein, daß alles fällt aus dem gleichen Jahr ersetzt. Hinzugekommen ist das Abendlied von 1942 Abend ward, bald kommt die Nacht, das nach dem Krieg durch Friedrich Samuel Rotenberg und den CVJM Eingang in Liederbücher der christlichen Jugend gefunden hatte.7 Demgegenüber zeigt das Ausscheiden von Der Heiland kam zu seiner Tauf in der Tradition des reformatorischen biblischen Erzählliedes, dass der für Schröder kennzeichnende Anschluss an das Kirchenlied des 16. und 17. Jahrhunderts zurückgetreten ist. Diese Rezeption könnte der neueren Kritik von Literaturwissenschaftlerinnen entgegenkommen, die Schröders und Kleppers Lieder als „religiös inspirierte Erbauungsliteratur“ und „christliche[.] Erbauungslyrik“ bezeichnen.8 Für diese Urteile kann man zwar auf einzelne schwächere Gedichte aus der überquellenden Produktion Schröders verweisen, aber dazu wäre eine ernsthaftere Bemühung um einzelne Werke nötig gewesen. Vor allem bleibt unbedacht, dass damals an nationalsozialistischer „Erbauungslyrik“ kein Mangel herrschte. Beide Dichter erkannten sich nicht nur gegenseitig an, sondern waren überzeugt: „Wir sinds beide der armen Zeit und der ärmeren Kirche schuldig, dass wir unser Licht – einerlei wie es leuchte –, nicht
4 Vgl. Klepper, Jochen: Kyrie. Geistliche Lieder, Berlin-Steglitz 1938: 51 S.; 3. erw. Aufl. 1941: 78 S. 5 Vgl. Evangelische Kirchengesangbuch (EKG), 1950, und Evangelisch-Lutherische Kirchengesangbuch, 1987, Nr. 133; das katholische Gotteslob, 1975, Nr. 276; Evangelische Gesangbuch (EG), 1994, Nr. 184; Gesangbuch der Evangelisch-Reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, 1998, Nr. 270; Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche, 2002, Nr. 305; Feiern und Loben. Gesangbuch des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher und des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, 2003, Nr. 338; Gotteslob, 2013, Nr. 355. 6 Von den 5 Liedern des EKG 1951 aus Schröder, Lobgesang, wurden im EG 1994 drei ausgeschieden: Der Heiland kam zu seiner Tauf (EKG 153), Brich uns, Herr, das Brot (EKG 162, gekürzt); O Christenheit, sei hocherfreut (EKG 225); neu sind: Es mag sein, daß alles fällt (EG 378; in Anhängen stand es bereits 1953 für Württemberg und 1958 für Bayern), und – nicht aus Schröder, Lobgesang – Abend ward, bald kommt die Nacht (EG 487). 7 Vgl. Rothenberg, Friedrich Samuel: Das junge Lied. 80 neue Lieder der Christenheit, Kassel-Wilhelmshöhe 1949; 10. Aufl. 1961. Rothenberg schuf auch 1948 die Melodie, während andere Vertonungen sich nicht durchsetzen konnten. 8 Scheufele, Claudia: Zwischen Konsens und Kritik. Der Eckart-Kreis im Gespräch mit Hans Grimm, in: dies./Kiesel, Helmuth (Hrsg.), Verwischte Grenzen. Schriftstellerkorrespondenzen zwischen Literatur und Politik in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Heidelberg 2013, S. 431; Zimmermann, Geschichte, S. 45.
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unter den Scheffel stellen.“9 Statt diese Selbstverpflichtung zu beachten, entsprechen die Abwertungen mit ihrer Distanz zum christlichen Glauben der Ablehnung, die der Literatur der christlichen Inneren Emigration seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts galt und ihr als Trostliteratur eine Flucht in unpolitische Frömmigkeit vorwarf.10 So urteilte Thomas Althaus noch 2013, dass es bei Schröder „die fällige Kritik des Humanisten an der Barbarei auch deshalb nicht gab, weil Schröder seine literarische Produktion weitgehend auf eine Art von protestantischer Kapuzinerlyrik reduzierte.“11 Diese Kritik zeugt von Unkenntnis des weitgespannten Werkes aus der Zeit des „Dritten Reichs“. Der umfangreichste Teil der weltlichen Werke sind Übersetzungen, welche die Klassiker von Homers Ilias über die römischen Dichter Vergil und Horaz bis zu Shakespeare der Barbarei entgegenstellten. Von neueren Autoren übersetzte Schröder T. S. Eliots Mord im Dom sowie Gedichte von Paul Valéry und dem Niederländer Geerten Gossaert. In Peter Suhrkamp fand er dabei einen Verleger, der ihn schätzte und mit ihm in der kulturbewussten Ablehnung des NS-Regimes übereinstimmte.12 Als entschiedene Stellungnahme Schröders zum Regime ist besonders Die Ballade vom Wandersmann zu nennen. Allerdings verhinderte Suhrkamp 1937, dass zwei besonders eindeutige Gedichte von dem Zyklus in der Neuen Rundschau gedruckt wurden.13 Dass der vollständige Text erst 1947 erscheinen konnte, verweist auf die Herrschaft der Zensur, die auch die Veröffentlichung anderer regimekritischer Gedichte14 nicht zuließ. Den weltlichen Arbeiten stehen die geistlichen gegenüber, die zumeist im EckartVerlag erschienen; seit 1934 gehörte Schröder wie seine Freunde Reinhold Schneider und Otto von Taube zum Kreis um die Zeitschrift Eckart. Dass Schröder Weltliche und Geistliche Gedichte im Rückgriff auf die bis ins 18. Jahrhundert maßgebliche 9 Schröder an Klepper, 22. 02. 1938, in: Briefwechsel zwischen Jochen Klepper und Rudolf Alexander Schröder, in: Scheufele/Kiesel (Hrsg.), Verwischte Grenzen, S. 479. 10 Vgl. Ringshausen, Das widerständige Wort, Kapitel 6. 11 Althaus, Thomas: Gleichung. Das Netz tautologischer Bezüge in Rudolf Alexander Schröders früher Lyrik, in: Koch, Hans-Albrecht (Hrsg.), Rudolf Alexander Schröder (1878 – 1962), Frankfurt a. M. 2013, S. 103 – 128, hier: 103. 12 Nachdem Die Gedichte des Horaz. Oden, Carmen Saeculare, Epoden 1935 bei Phaidon in Wien erschienen waren, verlegte im gleichen Jahr S. Fischer T. S. Eliot, Mord im Dom; nach Ausgaben von Homers Ilias und Odyssee in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß 1940 folgten Schröders Übertragung von Homers Ilias, 1943; Die Aufsätze und Reden, 2 Bände, 1939; Die weltlichen Gedichte, 1940; bei Suhrkamp erschienen der Gedichtzyklus Alten Mannes Sommer 1947; Homers Odyssee 1948, Die geistlichen Gedichte 1949. Zum 75. Geburtstag erschienen Gesammelte Werke in fünf Bänden 1952, zu denen 1958 als 6. Band Corneille/Racine/Molière in deutschen Alexandrinern, 1963 als 7. Band Shakespeare und 1965 als Band 8 Predigten zum Kirchenjahr kamen. 13 Ausgeschieden wurden die Gedichte: Gespenst und gar um Mitternacht, in: Schröder, Gedichte, S. 439 – 445, und: Ich such den Splitter nicht, ebd., S. 445 f. 14 Vgl. besonders in Schröder, Das Buch vom Widerhall (1938), die Gedichte: Fahr wohl!, ebd., S. 459; Wetterliedchen, ebd., S. 460 f.; in ders., Alten Mannes Sommer (1944) die Gedichte: Den Andern, ebd., S. 480 f.; Die Klage, ebd., S. 485 – 487.
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Tradition unterschied, schließt Übergänge nicht aus. So durchdringen sich nicht nur in der „weltlichen“ Ballade vom Wandersmann geistliche und weltliche Dimensionen, biographische und allgemeine Kontexte, Kritik der Barbarei des Regimes, humanistische Stoa-Rezeption und christliche Orientierung.15 Bei den Geistlichen Gedichten gilt Ähnliches besonders für den Zyklus Hier und Da. Die Suche nach Stellungnahmen Schröders zur Zeitgeschichte in seinen Gedichten muss die Bedingungen kritischen Schreibens während des „Dritten Reichs“ beachten. Schröder war sich der damit gegebenen Gefahren durchaus bewusst, da er bereits 1935 ein Redeverbot erhalten hatte und seine Gedichte nur noch im Freundeskreis und bei Lesereisen des Evangelischen Presseverbandes und des Eckart-Kreises in kirchlichem Rahmen vortragen konnte. Abgesehen von der Ballade vom Wandersmann konnte er seine regimekritischen Gedichte nicht veröffentlichen, im Lobgesang finden sich jedoch einzelne Andeutungen. Alle Autoren der Inneren Emigration konnten sich nicht direkt mit der NS-Herrschaft auseinandersetzen, wie sozialistische Schriftsteller im Exil und ab 1960 die Literaturwissenschaft gefordert haben. Daran hinderte sie ihr Verständnis von Literatur, die sie nicht funktional als politische „Waffe“16, sondern als künstlerische Äußerung und Anrede verfassten. Dabei mussten sie die Zensurbehörden beachten, was nur ein Schreiben „zwischen den Zeilen“ erlaubte. Dieser Camouflage entsprach bei sensiblen Zeitgenossen ein „Lesen zwischen den Zeilen“. Sie mussten dazu nicht nur literarisch gebildet sein, sondern im Unterschied zu den Zensoren die Distanz des Autors und seines Werks zum Regime teilen, um in dem scheinbar unanstößigen Text die verdeckte Auseinandersetzung zu erkennen.17 Da die Dichter ihre widerstän15 Vgl. Berger, Kurt: Die Dichtung Rudolf Alexander Schröders, Marburg/L. 1954, S. 314 f. Das gilt auch für Das Buch vom Widerhall von 1938 und Alten Mannes Sommer von 1944. 16 Vgl. Graf, Oskar Maria: Verbrennt mich!, in: Arbeiter-Zeitung (Wien) 12. 05. 1933: „Bücher sind Waffen im großen Befreiungskampf von heute! Bücher sind Pflugscharen für morgen!!“ Zit. verbrannt, verboten – verdrängt? Ausstellung der Stadtbibliothek Worms zum 40. Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, Worms 1973, S. 33; Wolf, Friedrich: Kunst als Waffe (1928), in: Schmidt, Hans Jörg/Tallafuss, Petra (Hrsg.), Totalitarismus und Literatur, Göttingen 2007, S. 61 – 64; Brecht, Bertolt: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1967, S. 222 – 239, hier: 222. Dazu betont Vaßen, Florian: „Literatur unter dem Schafott“. Die antifaschistische Widerstandsliteratur in Deutschland, in: Bremer, Thomas (Hrsg.), Europäische Literatur gegen den Faschismus 1922 – 1945, München 1986, S. 33 – 53, hier: 46, dass bei den Texten des kommunistischen Widerstandes „die appellative und auf Identifikation ausgerichtete Schreibweise […] einer Verbreiterung der Leserschaft im Wege“ stand. „Der Erfolg der illegalen Literatur wird deshalb eher intern, in der Konsolidierung der illegalen Gruppen, in der intensivierenden Verbindung zu Sympathisanten sowie in der demonstrativen öffentlichen Artikulation des Gegenstandpunktes zu sehen sein“. 17 Vgl. zur Hermeneutik des verdeckten Schreibens Ringshausen, Das widerständige Wort, Kapitel 8. Ein schönes Beispiel bietet Barth, Karl: Vorwort, in: ders., Der Christ als Zeuge (Theologische Existenz heute 12), München 1934, S. 3. Da die früheren Hefte der Reihe vor allem wegen Barths Vorworten mit ihren aktuellen Hinweisen „polizeilich beschlagnahmt“ worden seien, sah er sich „vor die Wahl gestellt, entweder überhaupt nichts mehr zu sagen
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dige Intention nicht kennzeichnen konnten, bedeutete eine entsprechende Deutung ein Wagnis, das auch im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht des Schriftstellers stehen konnte. Entsprechend kann ein heutiger Interpret nur ein mögliches Verständnis im Horizont der damaligen Zeit hervorheben. Die widerständigen Autoren wollten die Leser kaum von ihrer Sicht des „Dritten Reichs“ überzeugen, sondern konnten sie nur in ihren vorhandenen Einstellungen bestärken und Ansätze der Kritik unterstützen sowie zum Aushalten mahnen und trösten, indem sie sich als geistige Bundesgenossen zeigten. Sie leiteten zugleich zur kritischen Selbstreflexion an, indem sie die Gefahren verdeutlichten, die von den propagandistischen Verheißungen und der Manipulation der Menschen durch das Regime ausgingen. II. Schröders geistliche Gedichte Von dem umfangreichen Schaffen Schröders zwischen 1934 und der Nachkriegszeit bilden die Gedichte in Ein Lobgesang eine Auswahl. Für alle seine Geistlichen Gedichte gilt jedoch die Unterscheidung, die das Vorwort zum Lobgesang betont: „Lieder ,fürs Haus‘“, welche „in einer stillen Stunde zum Herzen sprechen mögen,“ und „das für die Kirche bestimmte Liedgut“, das „in die Welt der Verkündigung“ gehört.18 Beide Gruppen, die sich besonders durch das lyrische Ich und das Wir der Gemeinde unterscheiden, scheinen von der Herausforderung durch das NSRegime und seine Bedrückung der Kirche weit entfernt. Für die Lieder „fürs Haus“ ist nämlich „mit dem Geheimnis des Anmutenden […] ein Schwebendes, Unverbindliches“ verbunden, das „zwar zu trösten, anzuregen, verwandtes Gefühl durch verwandtes Gefühl zu bestätigen vermag, aber von der verbindlichen und verpflichtenden Aussage, die allem im kirchlichen Raum selbst zur Sprache Gelangenden unverbrüchlich anbefohlen ist, sich je nach Anlaß und Bestimmung in näherer oder weiterer Ferne halten darf.“
Deutlich im Denkhorizont der BK betont Schröder für die kirchliche Verkündigung, dass „sie nicht an zufällige Anlässe anschließt und auf unbestimmte Wirkungen zielt, sondern […] der gehorsamen Bindung an das Wort unterliegt, das Regel, Maß, Grundlage und Inhalt der Kirche und ihrer in aller Mannigfaltigkeit und Ver-
oder aber jene Beziehungen vorläufig nur noch halblaut oder gar nicht mehr sichtbar zu machen. Die Leser werden nun das, was ich noch drucken lassen darf, mit um so größerer Aufmerksamkeit lesen, sie werden sich nun dir nötigen Anmerkungen und Anwendungen […] selber machen müssen.“ Sie werden „bedenken müssen, daß diese Hefte bis auf weiteres hinsichtlich dessen, was man ,Aktualität‘ nennt, einen unsichtbaren Untertitel tragen: ,Zwischen den Zeilen‘.“ Diese Lesefähigkeit setzte er bei seinen Lesern angesichts ihrer theologischen Bildung und des Engagements im Kirchenkampf voraus, während er sie den Überwachungsorganen des NS-Staates nicht zutraute. 18 Schröder, Ein Lobgesang, 2. Aufl. 1939, S. 5 – dort auch das folgende Zitat.
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schiedenheit grundsätzlich einfachen, einheitlichen und einfältigen Botschaft bildet.“19 Dieser Abgrenzung von der jeweiligen Situation entspricht die eher traditionelle Sprache von Kirchenlied und individueller Betrachtung. Trotzdem würdigte Reinhold Schneider die Geistlichen Gedichte als „Zeitgedichte“20. Bereits die Sprachgestalt und die dem Barock und der klassischen Dichtung entlehnte Form des Drucksatzes bedeuteten nämlich eine grundsätzliche Distanz zur Welt und Propaganda des NS-Regimes und sind Ausweis der Inneren Emigration. Dem Anspruch auf totalen Gehorsam entzieht sich die „gehorsame[.] Bindung an das Wort“21, die sich im Glaubenslied äußert. Lutherische Theologie und eigene Glaubenserfahrung ließen R. A. Schröder immer wieder entgegen der NS-Weltanschauung das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders betonen.22 Viele Gedichte konzentrieren sich auf die Grundsituation des Christen zwischen Glaube und Anfechtung, zwischen Gottes Verheißung und Toben der Welt. Die Zeitansage gilt deshalb der Zeit Gottes in Gericht und Gnade. Eingebettet in diesen Rahmen finden sich einzelne Gedichte, welche einen konkreten Zeitbezug vermuten lassen. Frühe Beispiele sind einige Stoßgebete von 1934, von denen eins mit dem traditionellen Gegensatz von Gott und Welt beginnt: „Sprich du mich an, / So schweigt die Welt“.23 Aber die Welt ist so gekennzeichnet, dass im Allgemeinen Zeitspezifisches anklingt: Sprich du mich an, So schweigt die Welt, Die Wunsch und Wahn Auf Worte stellt, Der keines recht Zu keinem stimmt. Sprich, Herr! – Dein Knecht Vernimmt.
Dass die „Welt“ zwischen „Wunsch und Wahn“ schwankt, kann als theologisches Urteil gelten, aber die Betonung bloßer Worte ohne inneren Zusammenhang präzisiert diese Charakterisierung. Hier scheint die Propaganda gemeint zu sein, die in 19
Ebd., S. 5 f. Schröder könnte sich auch darauf berufen, dass die biographische Situierung mancher Kirchenlieder Martin Luthers oder Paul Gerhardts eher zweifelhaft ist. 20 Schneider, Reinhold: Rezension von Rudolf Alexander Schröder, Die geistlichen Gedichte (1949), in: Goebel, Klaus (Hrsg.), Der dunkle Glockenton. Briefwechsel zwischen Reinhold Schneider und Rudolf Alexander Schröder, Passau 2014, S. 106 – 108, hier: 107. 21 Vgl. Barmer Theologische Erklärung, These V. 22 Stewart, David S.: Die wehrhafte Muse: Zu R. A. Schröders politischer Lyrik, in: Arnold, Armin u. a. (Hrsg.), Analecta Helvetica et Germanica. Eine Festschrift zu Ehren von Hermann Boeschenstein, Bonn 1979, S. 323 – 341, bes. 337, verweist darauf, dass gerade die Erkenntnis der eigenen Schuld die politische Wirklichkeit in das geistliche Gedicht hineinnehmen lässt. 23 Schröder, Gedichte, S. 993.
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sich widersprüchlich lügt und ihre Versprechungen je nach Anlass und Zuhörerschaft ändert. Zu denken ist an die Auseinandersetzungen in der NSDAP in der Phase der Konsolidierung ihrer Herrschaft und an die Werbung um unterschiedliche Zielgruppen, aber auch an die inneren Widersprüche bei den Deutschen Christen (DC). Ein Opfer solcher Uneindeutigkeit war auch R. A. Schröder, der zwar schon vor 1933 Hitler und den Nationalsozialismus abgelehnt hatte, aber 1933 zur bedingten Zusammenarbeit bereit war und Bremer Ortsgruppenleiter im NS-Schriftstellerverband wurde. Über die neue, Halt gebende Orientierung am Wort Gottes heißt es in einem anderen Stoßgebet: Er hat’s verheißen durch den Mund Der Väter und Propheten; Er hat’s beschworen durch den Bund, Drein er mit uns getreten. Er sprach: Ich bin der Herr, dein Gott. So sind wir seine Knechte; Wohlan: trotz Satan, Sünd und Tod, Wir stehn auf unserm Rechte.24
Die traditionelle Sprache lässt keinen Zeitbezug erwarten, aber was ist ,unser Recht‘? Zunächst verweist es auf die Zugehörigkeit zum „Bund“, in den Gott „mit uns getreten“ ist. Daraus folgt die Selbstverpflichtung der „Knechte“, der Kirche: „Wir stehn auf unserm Rechte“ gegen seine Infragestellung. Das lässt sich 1934 auf den Kampf der BK gegen die Usurpation durch die DC beziehen. Vielleicht ist sogar speziell die Barmer Bekenntnissynode gemeint. Deutlicher äußerte sich Schröder in späteren Gedichten. Zu eschatologischer Freude ruft das Lied O Christenheit 1936 auf trotz der Angriffe des Toren. Ps 14,1 ist dabei wohl besonders im Blick auf die antichristliche Politik und die neuheidnischen Angriffe aktualisiert: O Christenheit, Sei hocherfreut Heut und aller Stunden. Du beginnst noch kaum den Streit Und hast schon überwunden. Spricht der Tor: „Wo ist dein Gott?“ Der dir täglich Hohn und Spott Ersinnt und dichtet: Halt fröhlich stand: Bald weist die Wand Den Finger, der ihn schwichtet.25 24
Ebd., S. 992. Schröder, Lobgesang, S. 71; bzw. ders., Gedichte, S. 923. Vgl. 1939 Der vierzehnte Psalm, bes. V. 2, ebd., S. 940, den Hinweis auf die Toren „Von Geiz und Missetat besessen, / 25
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Zwar trägt der Christ das „Joch“ des Leidens „um Christi willen“, aber dieser kann und wird die andrängenden „Wasser“ stillen. „Drum unverzagt, / Wer will uns gewinnen?“ Denn „Was Hochmut spricht, / Das dauert nicht.“ Darum endet das Lied: Hab gute Zeit, Steh, Christenheit, Lache, wo sie dräuen. Dein Gewinn heißt Ewigkeit, Der soll dich nicht gereuen. […]
Schröders Mahnung zum Vertrauen auf Gottes Wirken bedeutete keineswegs ein Schwanken im Ungewissen. Vielmehr heißt es 1936 im Anschluss an Eph 6,16 ähnlich wie in vielen Liedern von BK-Pfarrern: „Wir ziehn den Helm der Hoffnung an, / Die Wehr heißt Liebe und Glaube“; denn „Ein wertes Wort macht uns gewiß, / Davor besteht kein Blinder.“26 In der „Hoffnung auf die Seligkeit“ sollen sich die Christen gegenseitig ermuntern und wachsam sein; „und traut auf keinen Frieden.“ Sie haben die Aufgabe des öffentlichen Bekennens: „Von Angesicht zu Angesicht / Soll uns die Welt vernehmen. / Der Bruder, der es noch nicht weiß, / Soll’s lernen, daß wir fassen / Und halten dich [= Christus] um jeden Preis, / Um keinen Preis dich lassen.“27 Mit dem Bruder könnten die Anhänger der DC gemeint sein. 1937 lässt sich der Dank für Bewahrung auf die Erfahrungen des Kirchenkampfs beziehen: Wo die Not am größten war, War das Heil gewaltig: Wir erfuhren’s Jahr um Jahr Hunderttausendfaltig. Jahr um Jahr und Frist um Frist Werden stark die Schwächsten; Wo die Nacht am tiefsten ist, Ist der Tag am nächsten.28
Dieser Gewissheit steht der Realismus entgegen: „Es mag sein, daß Frevel siegt, / Wo der Fromme niederliegt“29. Darum betonen die Lieder mehrfach die Mahnung zur Festigkeit im Streit: „Nur wer sich nicht schrecken läßt, / Darf die Krone tragen.“ Zu dieser Standhaftigkeit gehörte die Einheit der BK, die seit den Beschlüssen der Bekenntnissynode in Dahlem im Oktober 1934 strittig und durch die Einsetzung der Dünkt ihrem Hunger wohlgetan, / Sein Volk zu fressen.“ Das niederdeutsche „schwichten“ bedeutet still machen, zum Schweigen bringen. 26 Ders., Ein wertes Wort, in: ders., Lobgesang, S. 88; bzw. Gedichte, S. 930; zum Titel vgl. 1. Tim 1,15. 27 Ders., Dir nach!, in: ders., Lobgesang, S. 75; bzw. Gedichte, S. 928. 28 Ders., Wir haben seinen Stern gesehen, in: ders., Lobgesang, S. 11; bzw. Gedichte, S. 770. 29 Ders., Es mag sein, in: ders., Lobgesang, S. 66; bzw. Gedichte, S. 925.
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Kirchenausschüsse im Herbst 1935 gefährdet war. Darum bat Schröder zu Anfang des Jahres 1936 Gott: Der uns im Jahr, dem alten, Beim Heiligtum erhalten, Halt gnädig auch im neuen Mit Hulden und mit Treuen Uns unzertrennt Am Zeugnis und am Sakrament.30
Aber die Bekenntnissynode in Bad Oeynhausen führte im Februar zur Spaltung, da sich die lutherischen Kirchen zur Zusammenarbeit mit den Kirchenausschüssen bereit erklärten. Diesen Weg ging auch die bayrische Kirche unter Landesbischof Hans Meiser, zu der Schröder gehörte. Als Zustimmung zu dessen Kurs lässt sich 1936 die Aufforderung Laß gehen! deuten: „Ihr haltet nicht die Bosheit auf, / Ein andrer kommt zu richten.“31 Trotzdem prägte die eschatologische Hochstimmung, wie sie beispielsweise O Christenheit, sei hocherfreut bestimmte, auch 1936 Vertrauen und Hoffnung: Macht dir die Bosheit Grauen, Hält Sorge Sorgenwacht, Blick auf und hab Vertrauen Zu dem, der dich gemacht. Wohl hat in allen Landen Der Kummer Hof und Haus; Stell’s deinem Herrn zu Handen, Der treibt ihn von dir aus. […] Gott mit uns: sprich’s und siehe, Der Würger ist gefällt. Brauchst nicht zu sagen: Fliehe; Er ließ schon Fersengeld. […] Welt ist ein kurz Geschäfte, Was hast du’s lang im Sinn? Zeuch an des Glaubens Kräfte: Der spricht zum Berg: Fall hin. Mag Lüge sich erheben, Sie hat gemeßne Frist: Die Wahrheit und das Leben Sind, wo Gott ewig ist.32 30
Ders., Jahrgebet, in: ders., Gedichte, S. 824. Ders., Laß gehen! in: ders., Lobgesang, S. 64; bzw. Gedichte, S. 926. 32 Ders., Gott mit uns, in: ders., Lobgesang, S. 61, 63; bzw. Gedichte, S. 921 f. Die Überschrift ist nicht im Sinne der nationalen Tradition zu verstehen, sondern Übersetzung von Immanuel; vgl. auch Röm 8,31. 31
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Der Blick auf seine Ewigkeit erlaubt eine getroste Erwartung, die sich in dem Lied Es mag sein fast stoischer Apatheia nähert: „Es mag sein, so soll es sein! / Faß ein Herz und gib dich drein; / Angst und Sorge wird’s nicht wenden.“33 Gleichzeitig gilt aber die Zusage: „Streite, du gewinnst den Streit!“ Dieses Nebeneinander ist bestimmt durch Schröders Verständnis der Geschichte; das verborgene Wirken Gottes (Deus absconditus) ist in Geduld zu ertragen im mutigen Vertrauen auf seine Zuwendung und Rettung in Christus (Deus relevatus). Diese Orientierung zeigt auch 1939 Schröders Botschaft an die Dozenten der durch die Gestapo geschlossenen Theologischen Schule in Bethel, die als Fortführung der bereits bei der Eröffnung 1935 verbotenen Kirchlichen Hochschulen in Wuppertal und Berlin die einzige Alternative der BK zum Theologiestudium an den staatlichen Fakultäten bildete. Seid getrost, es ist sein Frommen; Was Gott gab, hat Gott genommen. Gott hat wohl verborgne Schätze, Draus er’s hundertfalt ersetze. […] Schickt euch, also will’s sein Wille. Lernt Gehorsam in der Stille; Denn der Tag ist niemals ferne, Da die Welt das Wundern lerne, Da sie sieht, Gestorbne leben, Sieht den Schwächsten Kraft gegeben.34
Diese hoffnungsvolle Zustimmung entsprach nicht nur Schröders bayerischer Sicht der kirchlichen Situation, sondern lässt sich mit dem Grundmotiv seines Verständnisses des Christenlebens als Pilgerschaft verbinden.35 Ob sich’s immer finstrer engt, Lasset euch nicht ängsten, Einmal heißt’s: was euch bedrängt, Währte nun am längsten. Fremdling euch und Königs Kinder Hält kein Heim und keine Haft; Ihr nehmt Herberg auf geschwinder Wanderschaft. Geht hindurch und geht hinaus, Ohn euch umzuwenden; Denn das ist nicht euer Haus, Das gemacht mit Händen. 33 Ders., Es mag sein, in: ders., Lobgesang, S. 67; bzw. Gedichte, S. 925, wurde als Ausdruck von „Angst und Vertrauen“ in das Evangelische Gesangbuch (EG, Nr. 378) aufgenommen. 34 Ders., Den Freunden in Bethel 1, in: ders., Gedichte, S. 1011 f. 35 Vgl. Heide-Münnich, Marion: Homo Viator. Zur geistlichen Dichtung Rudolf Alexander Schröders, Frankfurt a. M. 1998.
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Die Verheißung kürzt die Zeiten, Trägt das Kreuz, ihr tragt nicht weit, Seid gewärtig der bereiten Herrlichkeit.36
Der Krieg brachte neue Belastungen für die Menschen und die Kirche, wobei besonders die „konsequente BK“ ins Ghetto geriet und viele der jungen Brüder eingezogen wurden und fielen. Die Kirchenfeindschaft des Regimes fand 1940 in den „13 Punkten“ von Arthur Greiser, dem Reichsstatthalter des Warthegaus, einen deutlichen Ausdruck, aber im April verbot eine Führerweisung weitere Maßnahmen gegen die Kirchen. Trotzdem blieb die Bedrückung. Die Aufforderung: „Seid getrost“, bekam einen neuen Ernst, „Wenn Finsternis euch rings umstellt“ in „unserer Armut […] / In der verworrenen Welt.“37 Weil der „Widersacher geht durchs Land,“ bat Schröder im Herbst 1942 Gott um Hilfe: Sieh, deine Traurigen, o Herr, Sieh deine Traurigen in Gnaden! Sie gehen geschlagen und beladen, Die Last wird täglich mehr und mehr. Sie müssen so viel Herzleid sehn, So viel, sie können’s nicht verstehn, Ja, müssen dran vorübergehn. Schlingt einen der verlorne Pfad, Findt ihm der Nächste keinen Rat. Wer stillt die Not, Wer hemmt die Pein? Ach Herr, ach Gott, Sieh selber drein! […] Manch Zeichen lehrt Uns, was geschieht, Doch keiner hört, Und keiner sieht.38
Trotz der Katastrophe von Stalingrad hofften viele auf Hitler und den „Endsieg“; als „Gottgläubige“ zeigten sie ihre Entfremdung vom christlichen Glauben. Darum beklagte Schröder zu Weihnachten 1943 die Folgen der antichristlichen, neuheidnischen Propaganda: Ist wieder Zeit, die Kerzen brennen; Doch, Herr, dein Volk treibt’s wunderlich, Will seine Stunde nicht erkennen Und feiert Weihnacht ohne dich.
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Schröder, Den Freunden in Bethel 3, in: ders., Gedichte, S. 1014. Ders., Zum Advent (1941), ebd., S. 771 f. 38 Ders., Hier und Da 5, ebd., S. 1037 f. 37
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Gerhard Ringshausen […] Blick her: wir sind von allen Seiten Um deinetwillen hart bedrängt; Schenk uns im Trümmerfall der Zeiten Den Frieden, den die Welt nicht schenkt! Und wird an uns der Mörder schuldig Und tut, danach sein Zorn begehrt, Mach uns auf schmalem Steg geduldig Und mach dein Kreuz uns lieb und wert.39
Es sind zwar nicht viele Gedichte, in denen Schröder die kirchliche Situation anklingen lässt, aber sie begleiten als geistliche Zeitansage mit Bitte, Trost und Klage den Weg der BK und der Gläubigen. Sie sind nicht politisch im Sinne eines Widerstandes, aber mahnen zum Aushalten im geistlichen Widerstehen sowie zur duldenden Annahme der Herausforderung. Die grundlegende Voraussetzung ist dabei, dass Gott die Geschichte bestimmt und im Gebet angerufen werden kann. Auch die Versuchungen des Bösen, des Feindes und Mörders, unterstehen seinem Willen. In diesem Sinne hat Reinhold Schneider betont: „Allein den Betern kann es noch gelingen / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten“40. Wegen dieser Perspektive benannte Schröder nicht direkt die genaueren Zeitumstände und die dafür Verantwortlichen. Vielmehr stehen seine Geistlichen Lieder in kritischer Distanz zum „Dritten Reich“, sind aber zumeist keine Regimekritik. Über diesen Rahmen hinaus ist aber zu bedenken, ob mit dem Bösen und seinen Angriffen und Verfolgungen das NS-Regime gemeint ist. Gemäß dem Lied Gott mit uns41 gilt: Je ärger und je härter Dir Satan zugesetzt, Je lieber und je werter Bist du bei Gott geschätzt. Ward keinem zwar der Proben Verborgner Sinn bekannt, Doch wird den Abend loben, Wer seinen Tag bestand.
Gemäß Gottes verborgenem Wirken in der Geschichte (Deus absconditus) lässt sich zwar das Wirken Satans, die Bedrängnis durch das Regime, nicht erklären, aber seine Herrschaft hat „gemeßne Frist“; der „Würger“ lässt sich mit Hitler verbinden. Zum Jahreswechsel 1935 wandte sich Schröder an die Welt „in dem Winter deiner Schrecken“42. Das Bild der Welt nimmt ihre Deutung im Johannesevangelium 39 Ders., Weihnacht 1943, 2, ebd., S. 809 f. Dass es im Text „dein Zorn“ heißt, dürfte ein Druckfehler sein. 40 Schneider, Reinhold: Lyrik (Gesammelte Werke, Bd. 5), Frankfurt a. M. 1981, S. 54. 41 Schröder, Gott mit uns, in: ders., Lobgesang, S. 42; bzw. Gedichte, S. 921 f. 42 Ders., Welt, dem Wunder wunderbar Gruß und Heil zum neuen Jahr, ebd., S. 768 f.
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und in der Dichtung des 17. Jahrhunderts auf.43 Ihm scheint ein traditioneller Bußruf zu entsprechen, wenn die Ernte der Welt in Umkehrung des Gleichnisses vom vierfachen Acker (Mk 4,3 – 8) im Blick ist: Welt, du herbstest deine Sorgen; Denn die böse Saat war deine, Nicht in Dornen, Sand und Steine, Nein, ins Ackerland geborgen, Schlimmer Samen, Schuld und Rache, Gier und Ingrimm, Haß und Ränke, Daß ihn Gottes Regen tränke, Gottes Sonne keimen mache. Wunder, Welt! Dich wundert heute, Wenn Verderben dich umgrinset, Wenn, wo Geiz die Körner streute, Nun die Armut Ähren zinset?
Aber mit der Welt und der bösen Saat sind Deutschland und die verlogene Selbstdeutung als „Tausendjähriges Reich“ gemeint: Du, du bist es, bist nicht tausend; Jeden jüngsten Tag alleine Stehst du vor dem Richter grausend; Und dein Richter ist der Eine, Der dir sagt: „Hast ausgedichtet, – Nicht Bedauern, nicht verzichten, Nicht Entsagen, nein, Ve r n i c h t e n Heißt das Urteil, das dich richtet.
Das „Dritte Reich“ hat nicht tausend Jahre Zeit bis zum Jüngsten Gericht, sondern steht jeden Tag vor dem Richter, allein verantwortlich für „Schuld und Rache, Gier und Ingrimm, Haß und Ränke“, welche seine Innen- und Außenpolitik charakterisieren. Anders nicht, als in den Feuern, Die verbrennen, was dein eigen, Kannst du, Welt, dein Jahr erneuern Und aus deiner Hölle steigen.
„Welt! Dich rettet kein Bereuen.“ Aber ihr bleibt das Wagnis auf Gottes Gnade, „einsam / Vor dem Richter zu vergehen“, um wieder zu „erstehen“. Darum endet das Gedicht mit der Hoffnung: Glaub, o Welt, und du darfst hoffen, Hoff und glaub, so lernst du lieben.
43 Die Tradition des barocken Kirchenliedes bestimmt das Verständnis der flüchtigen „Welt“, vgl. 1940 ders., Auf dem Heimweg 1 und 12; ebd., S. 1001, 1007 f.
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Gerhard Ringshausen Glaub und hoffe! – Denn im Kleinen – Hoff und liebe! – Denn im Großen Bleibt Gott fromm und wird den Einen, Wird die Vielen nicht verstoßen. Ob du tausenfalt gelitten, Hunderttausendfalt gesündigt, Welt! – Dein Heil steht in der Mitten, Und dein Neu-Jahr bleibt verkündigt!
Dieser Schluss entspricht dem Anfang des Gedichtes: „Welt! Bereite dich zum Neuen“, aber es ist zweifelhaft, ob für Schröder dieser Aufforderung eine Chance der Veränderung entsprach. Vielmehr ist hier mit der Welt die Christenheit angesprochen. Dadurch erscheint das Gedicht doppeldeutig. Diese Ambiguität war eine Eigenart der verdeckten Schreibweise bei Dichtern der Inneren Emigration, um der Zensur zu entgehen. Da aber das Stichwort „tausend“ einen deutlichen Hinweis zum regimekritischen Verständnis gibt, hat Schröder das Gedicht nicht während des „Dritten Reichs“ veröffentlicht. Das gleiche Motiv findet sich 1939 in dem ebenfalls erst 1952 publizierten Gruß an die Freunde in Bethel: Welt mag baun an ihrem Turme; Tausend Jahr verwehn im Sturme Spurlos, da der Dreimal-Eine Ewig bleibt und schirmt das Seine.44
Bei anderen Texten fehlen solche Signale. Ein Beispiel ist das Lied von 1936: Es mag sein, daß alles fällt, Daß die Burgen dieser Welt Um dich her in Trümmer brechen. Halte Du den Glauben fest, Daß dich Gott nicht fallen läßt: Er hält sein Versprechen. Es mag sein, daß Trug und List Eine Weile Meister ist, Wie Gott will, sind Gottes Gaben. Rechte nicht um Mein und Dein; Manches Glück ist auf dem Schein, Laß es Weile haben. Es mag sein, daß Frevel siegt, Wo der Fromme niederliegt; Doch nach jedem Unterliegen Wirst du den Gerechten sehn Lebend aus dem Feuer gehen, Neue Kräfte kriegen. Es mag sein, die Welt ist alt; Missetat und Mißgestalt 44
Vgl. ders., Den Freunden in Bethel 1 (1939), ebd., S. 1012.
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Sind in ihr gemeine Plagen. Schau dir’s an und stehe fest: Nur wer sich nicht schrecken läßt, Darf die Krone tragen. Es mag sein, so soll es sein! Faß ein Herz und gib dich drein. Angst und Sorge wird’s nicht wenden. Streite, du gewinnst den Streit! Deine Zeit und alle Zeit Stehn in Gottes Händen.45
Seit seiner Veröffentlichung 1939 und der Vertonung durch Paul Geilsdorf 1940 wurde der Text in der BK als zeitloses Trostlied und Aufforderung zur Hoffnung verstanden und gelangte seit den fünfziger Jahren in die Gesangbücher.46 Während des „Dritten Reichs“ lag aber eine politische Deutung nahe. Die „Burgen dieser Welt“ können auf die Bauten des „Dritten Reichs“ mit ihrer monströsen Pracht wie die Neue Reichskanzlei und das Reichsparteitagsgelände oder für Leser nach 1939 auf die 1937 begonnene Umgestaltung Berlins in Germania verweisen. Die „Trümmer“ lagen dann während des Krieges durch die Luftangriffe vor aller Augen.47 Aber wie die Bauten das „Dritte Reich“ repräsentieren, ist dieses selbst eine ,Burg dieser Welt‘. Als Gegentext ist dabei mitzuhören: Ein feste Burg ist unser Gott. Diese Deutung bestätigt die 2. Strophe durch die Meisterschaft von „Trug und List“, die auch das „Glück“ des einzelnen zerstört. Dabei könnte besonders an alle gedacht sein, die durch Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 ihre Stellung verloren hatten. Zugleich ließe sich die Relativierung von ,manchem Glück‘ als „Schein“ auf das vom Regime glorifizierte Ende der Arbeitslosigkeit und andere „Erfolge“ beziehen. Als „Frevel“ bezeichnet die 3. Strophe die Eingriffe des Staates in die Kirche, „wo der Fromme niederliegt“. Dies alles „mag“ noch dauern, auch die Erwartung auf ein Ende der NS-Herrschaft ist unsicher. Darum gilt es, immer den Glauben festzuhalten und auf Gott zu vertrauen, da in der Welt „Missetat und Mißgestalt […] gemeine Plagen“ sind. So ist es kein kämpferisches, sondern ein mahnendes Lied: „Es mag sein, so soll es sein! / Faß ein Herz und gib dich drein; / Angst und Sorge wird’s nicht wenden.“ Dagegen bittet in Ein Lobgesang das Gedicht Advent in erstaunlicher Offenheit 1939, dass Gott „den Führer sende, / Der spräch: ,Dies Jahr der Strafen / Und des
45
Ders., Es mag sein, in: ders., Lobgesang, S. 66 f.; bzw. Gedichte, S. 924 f. Vgl. oben, Anm. 6. Im Schweizer Reformierten Gesangbuch (1998, Nr. 697) und im Mennonitischen Gesangbuch (2004, Nr. 432) steht es mit der Melodie Samuel Rothenbergs von 1941. 47 Heinrich Bedford-Strohm deutete das Lied deshalb aus Anlass von Schröders 50. Todestag am 21. 08. 2012 als „Worte eines Unheilspropheten“ (https://landesbischof.bayern-evan gelisch.de/upload/speech/Gedenken_an_Rudolf_Alexander_Schroeder-Beitrag_des_Landesbi schofs(1).pdf [Zugang 10. 03. 2022]. 46
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Gerichts geht schlafen. / Ich komm, euch einzuladen / Ins Neujahr voller Gnaden.‘“48 Aber die Bitte ist durch den Zusammenhang der Adventserwartung gedeckt und zugleich ein Beispiel sekundärer Aktualisierung, da das Gedicht bereits 1921/22 verfasst wurde. In der Kriegszeit lassen die Gedichte nur am Rande die Not und Bedrängnis anklingen. Ein neues Weihnachtslied 1941 lässt an die Verdunklung wegen der Luftangriffe denken: „Geht nun im Finstern jedermann, / Liegt Stadt und Land verdunkelt“49. Deutlicher heißt es ein Jahr später: „Wohl habt ihr Krieg an allen Enden, / Da Volk das Volk um Frevel schilt.“50 Allgemein bleibt jedoch der Hinweis auf „alles was uns bang umficht / im Finstern um uns her. / Zorn und Zank und Trauern / Darf nicht ewig dauern.“51 Aber dann heißt es: O Welt, werd’s endlich innen, Gewahre dein Beginnen Und prüfe deinen Lohn: All was du dir erfochtest, Erwarbest und vermochtest, Ist tot und trägt den Tod davon.52
Diese Aufforderung konnte während der Schlacht um Stalingrad aktuell, im Sinne des Regimes defaitistisch, gedeutet werden, indem die Welt als Nazi-Deutschland verstanden ist. Eine grundsätzliche Abrechnung bietet wenige Monate vorher ein Gedicht in dem Zyklus Hier und Da,53 das bereits das Ende des NS-Regimes ankündigt. In der ersten Strophe ist an die bedrängten Gläubigen zu denken bei der Bitte, dass Gott seine Traurigen gnädig ansehen möge, aber die nächste Strophe zeichnet ihren „Widersacher“ in apokalyptischen Farben: Dein Widersacher geht durchs Land, Nicht mehr bei Nacht, am offnen Tage, Und trägt als Kronen jede Plage, Die du zur Höllenflur verbannt. Wer stark ist, stellt dem Schwachen nach Und weidet sich am letzten Ach Des Bruders, dem er’s Herze brach. Gericht, Gericht! Nun kam die Zeit: Der Feind ist nah, und Gott ist weit. Manch Zeichen lehrt Uns, was geschieht, Und keiner hört, Und keiner sieht. 48
Schröder, Advent, in: ders., Lobgesang, S. 10; bzw. Gedichte, S. 719. Ders., Ein neues Weihnachtslied 1941, in: Gedichte, S. 805. 50 Ders., Adventslied, 3, ebd., S. 776. 51 Ders., Weihnachten 1942, 1, ebd., S. 806. 52 Ders., Weihnachten 1942, 2, ebd., S. 807. 53 Ders., Hier und Da 5, ebd., S. 1037 – 1039. 49
Lobgesang und Zeitansage
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Die Untreu trägt das Kleid der Treu, Die Lüge führt der Wahrheit Waffen, Als ob der Welt, die du geschaffen, Dich nun zum ersten Mal gereu. Gibt jetzt den siebenfachen Kreis, Den Friedensbogen, dein Geheiß Für eine neue Sintflut preis? Es ist so weit; sie bringen schon Der tollen, trunknen Babylon Aus allen Reichen Opfer dar, Die trägt das Zeichen: Unfruchtbar. Wohlan, übt weiter euren Fug, Setzt neuen Trug auf alte Lügen, Laßt den Betrüger sich betrügen, Trug erntet ewig neuen Trug. Tut, was euch Satanas gebot, Droht allem, was euch selber droht; Der Sünde Lohn heißt: Tod um Tod. Ihr zieht schon all am gleichen Joch Und prunkt und prangt und prahlet noch: Des Menschen Blut Des Menschen Ruhm: Haß, Angst und Wut Sein Eigentum. Ist aus mit dir und gar vorbei, Welt, du empfingst das Wort des Lebens; Es scholl vor deinem Ohr vergebens Wie nun Dein Zetern und Geschrei. Dir ward das Licht, du nahmst’s nicht an; Nun ist’s vorbei, die Nacht begann, Die Nacht, da niemand wirken kann. Ach Herr, ach Herr, wir alle sind Ohn dein Erbarmen taub und blind: Gib, daß wir sehn Dein Angesicht, Dein Wort verstehen: Fürcht dich nicht.
Noch kann das Regime mit seiner Stärke wüten, mit Lügen prahlen und der „Betrüger sich betrügen“, aber schon ist sein Ende bereitet. Da hilft kein „Zetern und Geschrei.“ Auch wenn es „keiner hört, / und keiner sieht“, ist sein Tod beschlossen.
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Gerhard Ringshausen Ihr machtet euch mit Knechts Gebärden Zu Herrn und Obersten der Erden; Gewahret nun: die Kraft versagt.54
Ein anderes Gedicht thematisiert deshalb die Propaganda als Selbstbetrug und Blindheit für die Zeichen der Zeit; konkret ist 1942 nach dem Höhepunkt der deutschen Offensive an die Katastrophe von Stalingrad gedacht: Der Winter rückt herein mit Macht, Und ihr frohlockt: nun kam der Mai. Der Zeiger steht auf Mitternacht, Ihr wähnt, daß Mittag sei. Es schallt der Ruf des Weltgerichts, Ihr wittert Siegs-Drommeten-Schall: Euch vor den Füßen gähnt das Nichts, Ihr sagt: es sei das All.55
Angeklagt werden aber nicht nur das NS-Regime und seine Anhänger, sondern auch die Christen; denn „Wir sind in gleicher Furcht und Fahr, / Der Sünde Knecht, der Lüge feil“56. Im Irrtum ist, „Wer spräch: Ich bin allein entschuldet?“ Wie bei anderen Autoren der Inneren Emigration stellte sich bereits während des „Dritten Reichs“ die Schuldfrage,57 welche nach Kriegsende die Diskussion bestimmen sollte. Darum ist die Anklage zugleich Bußruf zur Umkehr, der aber die Nazis nicht erreichte; denn die regimekritischen Geistlichen Gedichte konnten erst 1952 gedruckt werden. 1942 bedeutete zwar einen Wendepunkt im Weltkrieg, aber noch keineswegs das Ende. Die Zahl der Toten in der Heimat und an der Front sollte noch ins Unermessliche steigen, so dass Schröder angesichts der Zerstörungen Weihnachten 1944 fragte: O Herr, wie lang währt dein Gericht? Des letzten Sternes letztes Licht Hat die Welt verlassen. Stadt und Land, Meer und Strand, Berg und Tal traf deine Hand Mit Zorn ohnmaßen. Wann ruht der Eifer, der uns schlug, Wann spräch dein Grimm: Es ist genug Hader, Schuld und Schande? Keiner beut keinem heut 54
Ders., Hier und Da 7, ebd., S. 1041. Ders., Hier und Da 6, ebd., S. 1039. 56 Ebd., S. 1040. 57 Vgl. Ringshausen, Das widerständige Wort, Kapitel 23. Dazu bereits 1935 Schröder, Die Ballade vom Wandersmann, S. 446: Indem er „Im fremden Schandgesicht / die eigne Schand“ sieht, kehrt sich die Ablehnung des Regimes und seiner Gefolgsleute gegen das eigene Versagen durch Anpassung und unausgesprochene Kritik, so dass die „Klage sich selbst verklagt.“ 55
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Wohlgefallen, Fried und Freud; Furcht herrscht im Lande. Wir sind das Volk, wir sind’s gewiß, Das wandelt in der Finsternis; Laß dein Heil erscheinen! Heilig Licht, birg dich nicht, Komm und zeige dein Gesicht Hier, wo wir weinen.58
Diese klagende Bitte um Heil und Frieden hat ihren Grund jedoch nicht in dem gegenwärtigen Leiden, sondern in Gottes Zuwendung: Uns ist im finstren Tale bang, Drum singen wir den Lobgesang: Heiland, heut geboren, Hör die Bitt, nimm uns mit: Christ, wer mit dir litt und stritt, Bleibt unverloren!
Der Schlussvers des Gedichtes verdeutlicht die Bedingung, unter der Schröder nicht nur den Weltkrieg als Gericht deutete, sondern überhaupt kritisch die Herrschaft der Nationalsozialisten thematisierte. Obwohl er entsprechende Texte zumeist nicht veröffentlichen konnte, lehnte er in ihnen deutlich die Barbarei, Macht und Trug ab. Sie sind eine Zeitansage als Anklage des Regimes. Dabei ist die Kritik in den Geistlichen Gedichten zwar nicht so eindeutig wie in der Ballade vom Wandersmann, aber sie sprengt den Rahmen „christlicher Erbauungslyrik“59. Die regimekritischen Äußerungen finden sich innerhalb der Geistlichen Gedichte allerdings nur bei einer relativ kleinen Gruppe. Sie gehen über die Distanz zum Regime hinaus, welche die bewusst christlichen Gedichte zur NS-Ideologie dokumentieren und die sich bei etlichen Texten in der Stellungnahme im Kirchenkampf zeigt. Im Sinne Schröders ist dieser Zusammenhang allerdings nicht gemäß politischen Wünschen auf die Regimekritik zu fokussieren, sondern entsprechend der geistlichen Wertigkeit der Gesichtspunkte zu würdigen. Das bedeutet: Die politische Zeitansage ist begründet in Gottes Zeitansage in Krippe und Kreuz, in Gericht und Gnade. Ihr antwortet der Lobgesang – auch im Leiden. Literaturverzeichnis Althaus, Thomas: Gleichung. Das Netz tautologischer Bezüge in Rudolf Alexander Schröders früher Lyrik, in: Koch, Hans-Albrecht (Hrsg.), Rudolf Alexander Schröder (1878 – 1962), Frankfurt a. M. 2013, S. 103 – 128. Barth, Karl: Vorwort, in: ders., Der Christ als Zeuge (Theologische Existenz heute 12), München 1934. 58 59
Ders., Weihnachten 1944, ebd., S. 810 f. Wie oben, Anm. 8.
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Gerhard Ringshausen
Bedford-Strohm, Heinrich: Gedenken an Rudolf Alexander Schröder 1878 – 1962, Christuskirche Gauting, 21. August 2012, https://landesbischof.bayern-evangelisch.de/upload/speech/Geden ken_an_Rudolf_Alexander_Schroeder-Beitrag_des_Landesbischofs(1).pdf [Zugang 10. 03. 2022]. Berger, Kurt: Die Dichtung Rudolf Alexander Schröders, Marburg/L. 1954. Biermann, Matthias: „Das Wort sie sollen lassen stahn …“. Das Kirchenlied im „Kirchenkampf“ der evangelischen Kirche 1933 – 1945, Göttingen 2011. Brecht, Bertolt: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1967, S. 222 – 239. Graf, Oskar Maria: Verbrennt mich!, in: Arbeiter-Zeitung (Wien) 12. 05. 1933. Heide-Münnich, Marion: Homo Viator. Zur geistlichen Dichtung Rudolf Alexander Schröders, Frankfurt a. M. 1998. Klepper, Jochen: Kyrie. Geistliche Lieder, Berlin-Steglitz 1938; 3. erw. Aufl. 1941. Ringshausen, Gerhard: Das widerständige Wort. Christliche Autoren gegen das „Dritte Reich“, Berlin 2022. Rothenberg, Friedrich Samuel: Das junge Lied. 80 neue Lieder der Christenheit, Kassel-Wilhelmshöhe 1949; 10. Aufl. 1961. Scheufele, Claudia: Zwischen Konsens und Kritik. Der Eckart-Kreis im Gespräch mit Hans Grimm, in: dies./Kiesel, Helmuth (Hrsg.), Verwischte Grenzen. Schriftstellerkorrespondenzen zwischen Literatur und Politik in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Heidelberg 2013, S. 431 – 474. Schneider, Reinhold: Lyrik (Gesammelte Werke, Bd. 5), Frankfurt a. M. 1981. Schneider, Reinhold: Rezension von Rudolf Alexander Schröder, Die geistlichen Gedichte (1949), in: Goebel, Klaus (Hrsg.), Der dunkle Glockenton. Briefwechsel zwischen Reinhold Schneider und Rudolf Alexander Schröder, Passau 2014, S. 106 – 108. Schröder, Rudolf Alexander: Dichtung und Dichter der Kirche, Berlin-Steglitz 1936. Schröder, Rudolf Alexander: Johann Heermanns frohe Botschaft. Aus seinen Evangelischen Gesängen ausgewählt und eingeleitet, Berlin-Steglitz 1936. Schröder, Rudolf Alexander: Die Kirche und ihr Lied. Essays, Berlin-Steglitz 1937. Schröder, Rudolf Alexander: Ein Lobgesang. Neue Lieder für Kirche und Haus, Berlin-Steglitz 1937; 2. erw. Aufl. 1939. Schröder, Rudolf Alexander: Kreuzgespräch. Geistliche Gedichte, Berlin-Steglitz 1939. Schröder, Rudolf Alexander: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Berlin/Frankfurt a. M. 1952. Stewart, David S.: Die wehrhafte Muse: Zu R. A. Schröders politischer Lyrik, in: Arnold, Armin u. a. (Hrsg.), Analecta Helvetica et Germanica. Eine Festschrift zu Ehren von Hermann Boeschenstein, Bonn 1979, S. 323 – 341. Vaßen, Florian: „Literatur unter dem Schafott“. Die antifaschistische Widerstandsliteratur in Deutschland, in: Bremer, Thomas (Hrsg.), Europäische Literatur gegen den Faschismus 1922 – 1945, München 1986, S. 33 – 53.
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verbrannt, verboten – verdrängt? Ausstellung der Stadtbibliothek Worms zum 40. Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, Worms 1973. Wolf, Friedrich: Kunst als Waffe (1928), in: Schmidt, Hans Jörg/Tallafuss, Petra (Hrsg.), Totalitarismus und Literatur, Göttingen 2007, S. 61 – 64. Zimmermann, Yvonne: Geschichte, Politik und Poetik im Werk Rudolf Alexander Schröders, Frankfurt a. M. 2016.
Kirchengeschichte ist immer Zeitgeschichte1 Von Anders Jarlert I. Um das Unsichtbare zu studieren… Für einen Kirchenhistoriker ist es seit langem selbstverständlich, die Gestaltungen der faktischen historischen Ereignisse und Verhältnisse zu studieren. Diese Ereignisse an sich sind jedoch für uns nicht fassbar. Was wir sehen können, sind ihre Spuren in schriftlichen oder mündlichen Quellen sowie in Artefakten verschiedener Art. Die Vergangenheit als solche bleibt unsichtbar. Ein Historiker studiert nicht die Vergangenheit, sondern die Spuren der Vergangenheit, und wird damit Mitschöpfer der Geschichte.2 Das naturwissenschaftliche Prinzip, das Unsichtbare zu studieren, um das Sichtbare zu verstehen, dürfen wir auch so formulieren: „Wenn wir das Sichtbare verstehen möchten, studieren wir das Unsichtbare“. Der Sinn der Geschichte liegt jedoch nicht im Unsichtbaren verborgen. Die Deutung der Geschichte kann erst durch die Geschichtsschreibung formuliert werden, wie Theodor Lessing es schon 1919 in seinem Buch „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ ausgedrückt hat: die Geschichte enthält weder eine versteckte Bedeutung, noch einen kausalen Zusammenhang, sondern erst die Retrospektive der Geschichtsschreibung gibt ihr eine Bedeutung, was von Lessing als „das Sinngeben von nachhinein“ bezeichnet wird.3 Erst im Nachhinein, in der Gegenwart, kann diese Retrospektive verwirklicht werden. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Gegenwart in der Kirchengeschichte viel „länger“ ist, als man sich gewöhnlich vorstellt, weil die Kirchengeschichte nicht auf die jeweilige Momentaufnahme der Ereignisse verkürzt werden kann, und dass die historische Dimension nicht darauf reduzierbar ist, die so genannte Gegenwart zu verstehen. II. Kirchengeschichte ist immer Zeitgeschichte Die Kirchengeschichte ist eine Gegenwartswissenschaft, sie beschäftigt sich mit zeitgenössischer Orientierung. Schon für den Verfasser des Hebräerbriefs gilt, dass 1 Der Beitrag ist eine Bearbeitung meines auf Schwedisch erschienen Artikels: Kyrkohistoriens nu, in: Svensk Teologisk Kvartalskrift 1 (2019), S. 237 – 253. 2 Vgl. Gudmundsson, David: Kyrkohistorisk utbildning och kyrklig förkunnelse. Historiska nedslag från Skåne, Blekinge och Småland under 350 år, in: Svensk Teologisk Kvartalskrift 1 (2019), S. 64. 3 Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919, S. 66.
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Gott „zuletzt in diesen Tagen durch den Sohn zu uns geredet hat“.4 Das meint, dass die Geschichte des Christentums nach einer seiner wichtigsten Aufzeichnungen „zuletzt in diesen Tagen“ stattfindet. Im Vergleich zu Wissenschaften wie Archäologie, Geologie oder Biologie, die Spuren von Jahrmillionen untersuchen, ja, auch im Vergleich zu anderen historischen Wissenschaften, ist die Kirchengeschichte explizit Zeitgeschichte. Damit ist auch gesagt, dass die Gegenwart viel länger andauert, als der Augenblick, den wir als das „Heute“ bezeichnen. Wir müssen also nicht Gefangene der Gegenwart sein, oder wie Papst Johannes Paulus II es gesagt hat: „Aujourd’hui, nous nous sentons souvent prisonniers du présent: comme si l’homme avait perdu la conscience de faire partie d’une histoire qui le précède et qui le suit” („Heute fühlen wir uns oft in der Gegenwart gefangen: als hätte der Mensch das Bewusstsein verloren, Teil einer Geschichte zu sein, die ihm vorausgeht und folgt.“).5 Auf schwedischen Boden schrieb schon Erzbischof Erling Eidem im Jahr 1953 in seinem Passionsbuch über das Wort „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm“ (Joh 13,31), dass dieses „Jetzt“ die Grenzen der Zeit bricht; kein Punkt in einem früheren Verlauf, sondern ein „Jetzt“, das sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart und die Zukunft umfasst.6 III. Vergangene Zukunft Den Gedanken des kirchengeschichtlichen „Jetzt“ können wir mit dem deutschen Historiker Reinhart Koselleck und seinem Konzept der „vergangenen Zukunft“ verbinden. Mit diesem Ausdruck ist die Zukunft gemeint, wie man sie einst sah.7 Die Zukunft früherer Generationen erweist sich in späterer Zeit als vergangene Zukunft. Dieses Konzept hinterfragt ein lineares Zeitverständnis, bei dem das Vergangene und die Zukunft als völlig getrennt gelten. Stattdessen werden sie als Kontinuum verstanden: das Vergangene hat eine Zukunft und die Zukunft hat eine Vergangenheit. „Früher“, „jetzt“ und „dann“ beziehen sich also gegenseitig ein.8 Wenn eine Erzählung damit endet, dass man sagt, „the rest is history“, drückt man damit aus, dass die Fortsetzung schon so bekannt oder selbstverständlich ist, dass man überhaupt nicht darüber sprechen muss. Was aber, wenn sie gerade „vergangene Zukunft“ ist? Wenn sie Geschichte war, jedoch nie Geschichte wurde?
4
Hebr 1,2. Orientale Lumen 8: Apostolic letter Orientale Lumen of the Supreme Pontiff John Paul II to the Bishops, Clergy and Faithful to mark the Centenary of Orientalium Dignitas of Pope Leo XIII, May 2, 1995. 6 Eidem, Erling: Tjänaren. Stilla tankar invid Frälsarens smärtoväg, Stockholm 1953, S. 38 – 39. 7 Vgl. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989, S. 19. 8 Vgl. Jordheim, Helge: Inledning, in: Koselleck, Reinhart: Erfarenhet, tid och historia. Om historiska tiders semantik, Göteborg 2004, S. 12 – 13. 5
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Koselleck formuliert es so; „[…] die Zukunft als mögliches Ende der Welt ist somit als für die Kirche konstitutiv in die Zeit hineingenommen worden, sie liegt nicht in einem linearen Sinne am Ende der Zeit: vielmehr kann das Ende der Zeit nur erfahren werden, weil es immer schon in der Kirche aufgehoben ist. Solange blieb die Geschichte der Kirche die Geschichte des Heils.“9 Koselleck behauptet weiter, dass diese Tradition „durch die Reformation in ihrer inneren Voraussetzung zerstört“10 worden wäre, und die Erfahrung der religiösen Bürgerkriege „offenbar nicht das Jüngste Gericht einleiteten, wenigsten nicht in dem handfesten Sinne, wie es früher erwartet wurde“.11 Jedoch ist es immer noch so im Kirchenjahr. Es misst nicht die Zeit, es geht ihr entgegen. Dieses Jahr kehrt ständig wieder, ist jedoch nicht statisch. Das Kirchenjahr ist vom Osterfest bestimmt und endet immer mit der Wiederkunft Christi und dem Jüngsten Gericht, um dann das neue Jahr mit der Ankunft Christi wieder neu zu beginnen. Einzelne Sonntage des Kalenderjahres können im Blick auf das Osterfest wegfallen oder ergänzt werden, was sich auch auktoritätsgemäß als ein großes kirchengeschichtliches Kalenderproblem in der frühen Kirche darstellt. IV. Entwicklung ist nicht immer Fortschritt Als dominierende Perspektive wurde das Jüngste Gericht als Eschaton der Geschichte mit der erfolgreichen Entwicklung der Aufklärung schließlich abgelöst, manchmal auch in den Kirchen. Diese Veränderung gehört heute selbst zu einer vergangenen Zukunft, wie es etwa der Titel des Buches des CVJM-Sekretärs John Mott aus dem Jahr 1900 nahelegt: „The Evangelization of the World in this Generation“. Hier kann man sogar von einer vergangenen Utopie sprechen, auch wenn sie gelegentlich im Gewand der Erfolgstheologie oder als säkularisierte ekklesiologische Utopie auftaucht. Für viele Menschen scheint heute selbstverständlich, dass Geschichte eine progressive Aufwärtsbewegung beschreibt, die eine kontinuierliche Geschichte des Fortschritts sei, wie Hegel sich die historische Entwicklung vorstellte, und so stoßen wir trotz zweier Weltkriege noch auf verschiedene Arten eines Entwicklungsoptimismus. Wenn Politiker sich über „mittelalterliche Methoden“ in gewissen Ländern echauffieren, scheinen sie – bewusst oder unbewusst – zu vergessen, dass im zwanzigsten Jahrhundert, nicht im Mittelalter, brutalere Methoden entwickelt und gewalttätigere Kriege geführt wurden als in jedem Jahrhundert zuvor, dass es mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte und dass frühere Verfolgungen zu Völkermord und massenhafter Vernichtung ganzer Bevölkerungen ausgeweitet wurden. Wissenschaftliche und technologische Fortschritte haben die Menschheit gewiss weitergebracht, Krankheiten geheilt, Entfernungen verkürzt und Hunger gestillt, aber sie 9
Ebd., S. 22 f. Ebd., S. 23. 11 Ebd., S. 24. 10
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haben auch Schattenseiten generiert, die mit den Stichworten Giftgas und Atombomben, aber auch mit Kinderpornografie und Cyber-Bedrohungen verbunden sind. Die Klimathematik und die Pandemie haben die apokalyptische Zeitperspektive in der Wahrnehmung vieler Menschen wieder in den Vordergrund gerückt. Welches Konzept sollten wir dann anwenden, wenn „Fortschritt“ als historiographische Deutekategorie nicht mehr funktioniert? Koselleck schlägt den Begriff „Beschleunigung“ vor. Wenn die Welt immer schneller wird und die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft immer größer zu werden scheint, ist Beschleunigung ein adäquater Begriff.12 Parallel zum Entwicklungsparadigma blieb die „Ewigkeit“ als eschatologischer Sehnsuchtsort für viele Menschen ein fester Bestandteil der Zukunftsperspektive. Zu sagen, dass damit auch die Ewigkeit der Vergangenheit angehört, wäre wohl ein postmodernes Klischee. Besser ist es, die Frage zu stellen: Welche Bedeutung hat die avisierte Zukunft namens Ewigkeit für die Kirche und die Christen? Wie hat sich ihr Glaube im Alltag gestaltet? Solche Fragen haben Hilding Pleijel (1893@1988) 1942 zur Gründung des Kirchenhistorischen Archivs in Lund („Lunds Universitets kyrkohistoriska arkiv“, LUKA) geführt. Er hatte seine Studenten und Studentinnen durch das Land geschickt, um Interviews mit alten Menschen nach einem Fragebogen mit festen Fragen durchzuführen, der die kirchlichen Gebräuche erfassen sollte. Zu den Antworten auf Pleijels Fragebogen lässt sich wiederum fragen: Wie haben die oft sehr menschlichen Elemente, mit denen wir in der Geschichte der Kirchen konfrontiert werden, die Ewigkeit als Erwartungshorizont berührt?, um mit den Begründungen noch einmal an Reinhart Koselleck anzuknüpfen. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Menschen in der Kirchengeschichte die Ewigkeit sowohl als inneren Erfahrungsraum als auch als Erwartungshorizont in sich trugen, unabhängig davon, ob der äußere Erfahrungsraum Kirche, Kloster oder Konventikel genannt wurde. V. Physische Räume als Erfahrungsräume Es gibt auch andere Erfahrungsräume in der Begegnung von Menschen mit der Kirche. Ein konkreter physischer Raum war etwa die Pfarrkanzlei. In meiner Untersuchung über die Nürnberger Gesetze und ihre Folgen für die Eheschließungen deutscher Staatsangehörige in Schweden 1935@1945 (2006) habe ich gezeigt, wie die Rechtsabteilung im schwedischen Außenministerium am 22. September 1937 ohne politische Beschlüsse oder juristische Prüfungen eine Erklärung eingeführt hatte, nach der die Personen, die sich mit deutschen Staatsangehörigen verheiraten wollten, selbst bezeugen sollten, dass keiner ihrer Großeltern „der jüdischen Rasse oder Religion angehört hat“.
12
Vgl. ebd., S. 369.
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Dabei weise ich auch auf die Geschichte der „Kanzleiseelsorge“ als ein wichtiges, noch weitgehend ungeschriebenes Kapitel der schwedischen kirchlichen Alltagsgeschichte bis 1991 hin. Einige Geistliche betrachteten die Kanzleiarbeit als eine bürgerliche, rechtlich zu vollziehende Aufgabe. Dabei war es für einige von ihnen kein Problem, die nationalsozialistischen Rassegesetze auch bei Hindernisprüfungen auf deutsche Staatsbürger anzuwenden. Andere hatten eine alternative Einstellung zur Kanzleiarbeit. Albert Lysander erzählt vom „alten Pfarrer Böös in Lund“, der sagte, dass „die Kanzlei des Pfarrers wie ein Vorhof zum Himmel sein sollte“ – also ein positiver Erfahrungsraum mit einem damit verbundenen Erwartungshorizont.13 Dann könnte die Folge statt bürokratischem Widerstand eine direkte Hilfe für die Schwachen sein. Im historischen Studium wird die Zeit zum Raum, wie es in Richard Wagners schwer verständlicher Passage in „Parsifal“ heißt: „Zum Raum wird hier die Zeit“. Dass Zeit zum Raum wird, gilt jedoch nicht nur für den Erfahrungsraum. Sogar die „vergangene Zukunft“, also das, was Menschen sich einmal unter ihr vorstellten, wird zu einem Raum ganz eigener Art. Die Kirchengeschichte stellt hier Äquivalente zu dem bereit, was Mathematiker „Raumzeit“ nennen, ein Modell, das Raum und Zeit zu einem einzigen Kontinuum kombiniert. In einem Konferenzbeitrag bei der KZG-Tagung in Luzern 2017 zum Thema „Entsakralisierung und neue ,Sakralisierung‘ von Sakralbauten“ habe ich die folgenden beiden Beispiele hervorgehoben. Die lutherische Vårfrukyrkan in Kortedala in Göteborg wurde 1972 erbaut. Seit 1956 hatte die Gemeinde eine kleine Kirche, Allhelgonakyrkan, die aus gesammelten Spenden errichtet wurde. Vårfrukyrkan wurde von Göteborgs Kirchengemeinden finanziert, sie wurde zu spät gebaut und war von Anfang an zu groß.14 In den frühen 2000er Jahren wurde beschlossen, die große Kirche aufzugeben und stattdessen den älteren Kirchbau zu erweitern. 2007 wurde Vårfrukyrkan desakralisiert und 2008 zur serbisch-orthodoxe St.-Stefan-SekanskiKirche.15 Als solches trägt sie Erinnerungen sowohl aus der älteren serbischen Kapelle in Göteborg als auch aus Serbien, die durch die orthodoxe Liturgie kontinuierlich rekonstruiert werden. Der Raum für diese Erinnerung wurde architektonisch erweitert, indem einige, aber nicht alle Kirchenbänke aus der lutherischen Vergangenheit der Kirche entfernt wurden. Für die Gemeinde Kortedala ist die Kirche dagegen ein Beispiel für eine vergangene Zukunft. Ein weiteres Beispiel ist das Hippodrom in Malmö, entworfen von Theodor Wåhlin (1864@1948). Es wurde 1899 als eines der modernsten Zirkusgebäude der Welt eröffnet und 1922 zu einem Theater mit 1.200 Sitzplätzen umgebaut. Das Hippo13 Vgl. Jarlert, Judisk, S. 132. Erik Böös (1853 – 1912) war Stadtpfarrer in Lund, Hofprediger und Pionier der Diakonie. 14 Vgl. Jarlert, Anders: Göteborgs stifts herdaminne 1620 – 1999 II. Älvsborgs, Nylöse och Hisings kontrakt, Göteborg 2014, S. 237, 240. 15 Vgl. Jarlert, Anders: De-sacralisation and New ,Sacralisation‘ of Religious Buildings, in: Kirchliche Zeitgeschichte 31/2 (2018), S. 395 – 397.
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drom-Theater war Malmös führende Operettenbühne, bis 1944 das damalige Stadttheater eröffnet wurde. Das Gebäude wurde schließlich 1950 in die Elim-Kirche der Pfingstbewegung umgewandelt. Als die Pfingstgemeinde 1992 das Gebäude aufgab, stießen die Abrisspläne sowohl seitens der Altertumsbehörden als auch seitens der öffentlichen Meinung auf Widerstände, woraufhin die Stadt Malmö das Haus kaufte, renovierte und 1994 als Theater wiedereröffnete. Hier kann man im doppelten Sinne von einer verlorenen Zukunft sprechen. Die Elim-Kirche zog um, und es blieben keine Objekte erhalten, als die Gemeinde in die neue Pfingstkirche Europaporten überführt wurde. Die „verlorene“ Zukunft des Theaters wurde jedoch reaktiviert, als das Gebäude wieder zum Theater wurde. Die Geschichte des alten Theaters wurde auf diese Weise wiederbelebt und erhält heute mehr Aufmerksamkeit als während der Elim-Zeit. Geschichte kann ihren Verlauf also ändern, indem wir unser Geschichtsbild ändern.16 Um den Eindruck des Doms von Lund als Schwedens bedeutendstes Beispiel romanischer Architektur zu verstärken, ließ Helgo Zetterwall die mittelalterlichen Domtürme abreißen und neue errichten, die seiner eigenen Vorstellung von einem mittelalterlichen Dom entsprachen, Nur die beiden Westtürme wurden zur „neuen Geschichte“ des Doms, der Rest blieb als vergangene Zukunft bestehen. Der Vorgang spiegelt eher den imaginierten Zukunftstraum des 19. Jahrhunderts vom Mittelalter als das Mittelalter selbst wider. Die Kirchengeschichte lässt sich heute besser in den koexistierenden Spuren unterschiedlicher Epochen und Wirkungen einfangen, wie etwa in der Kombination von Henric Schartau (1757 – 1825) und der mittelalterlichen Kathedrale von Lund. Geschichte und Zukunft können aber auch gleichzeitig verschwinden. So sah es am 15. April 2019 für ein paar Stunden aus, als ob die Kathedrale Notre Dame in Paris abbrennen würde. Erst spät in der Nacht wurde klar, dass die architektonisch dokumentierte Geschichte dieses Bauwerks nicht vorbei war und der Dom noch eine Zukunft haben würde. Die historische Zerstörung kann auch eingefroren werden, während nebenan eine neue Zukunft entsteht. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin ist aus der verlorenen Zukunft eine mutierte Zukunft entstanden. Die Situation dieser Kirche lässt sich in den 2000er Jahren präzise als Konvivenz von Ruine und Neubau mitten im Großstadtverkehr charakterisieren. Niemand ahnte, dass der Platz vor der Kirche am 19. Dezember 2016 Schauplatz eines Terroranschlags werden würde, aber die Tat verlieh dem Ort erneut eine apokalyptische Dimension, die er seit der Zerstörung durch alliierte Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg nicht mehr hatte. Die brennende Stadt ist ein wiederkehrendes Motiv in der kirchlichen Kunst – eine apokalyptische Darstellung und damit auch eine zeitgenössische Darstellung, wie etwa das Jüngste Gericht im Dach der Kirche von Kungälv in West-Schweden, das sein Motiv vermutlich aus dem Brand der eigenen Stadt im Jahr 1676 übernom16
Vgl. Jarlert, De-sacralisation, S. 392 – 393.
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men hat. Der lateinische Text bedeutet: „Sie werden im Feuer aufgelöst werden“ (2Petr. 3,12) und erweitert die Perspektive vom Stadtbrand auf die biblische Vorhersage, dass die Himmelskörper im Feuer aufgelöst werden. VI. Der Schwerpunkt verschiebt sich Ein anderer Erfahrungsraum ist die Musik, die dem aufmerksamen Zuhörer neue Erwartungshorizonte anbietet. Ich denke dabei besonders an Josef Haydns „Schöpfung“ von 1797@1798 mit Texten aus der Bibel und Miltons „Paradise Lost“, wo sich die Kirchengeschichte nun in ungewöhnlicher Weise auf einen einzigen Punkt konzentriert, der in seiner Darstellung von der Schöpfung der Welt den Erwartungshorizont für neue Welten eröffnet. Hier steht nicht mehr der Schöpfer oder das Schöpferwort, sondern die Wirkung des Wortes, also das Licht, im Mittelpunkt. Die Aufklärung war nicht immer atheistisch oder auch nur deistisch, aber sie verlagerte den Schwerpunkt von Offenbarung und Ewigkeit auf die Schöpfung und ihre Mysterien. Gottes schöpferisches Wort wird bei Haydn geflüstert, während das geschaffene Licht geradezu als Erwartungshorizont für den noch unbekannten „Big Bang“ dargestellt wird. Das Beispiel folgt unmittelbar nach der einleitenden Darstellung des Chaos: RAPHAEL Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war ohne Form und leer, und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe. CHOR Und der Geist Gottes Schwebte auf der Fläche der Wasser, Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward LICHT. URIEL Und Gott sah das Licht, dass es gut war, und Gott schied das Licht von der Finsternis.
Der britische Historiker Mark Berry hat dies als „Haydn‘s greatest coup de théâtre“17 beschrieben. VII. Gleichzeitig auf und ab Änderungen können nicht ausschließlich als Verbesserungen identifiziert werden. Im Gegenteil, sie sind Verbesserungen und Verschlechterungen zugleich. Dies scheint das Gesetz der Evolution zu sein, auch innerhalb der christlichen Kirchen. 17 Berry, Mark: Haydn’s Creation and Enlightenmenology, in: Austrian History Yearbook 39 (2008), S. 34.
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Es ist also nicht so, wie die alte Verfallsvorstellung zu behaupten versuchte, dass die Zeit nach der Urkirche, nach der Antike, nach dem Mittelalter oder nach der Reformationszeit einen Verfall oder eine Verschlechterung des Zustandes oder der Möglichkeiten der Kirche bedeutet. Weder Hegels Fortschrittsidee noch die Verfallsidee des Pietismus oder Harnacks lassen sich aufrechterhalten. Angesichts dieser Einseitigkeit präsentierte Karl Holl (1866@1926) 1924 seine Lösung des Problems, indem Niedergang und Aufstieg immer gleichzeitig stattfinden. Im Artikel „Urchristentum und Religionsgeschichte“ behauptet Holl, dass die Geschichte des Christentums nicht in einer sich stetig fortsetzenden Linie verläuft, sondern vielmehr „ein immer sich wiederholender Bruch mit der jüngsten Vergangenheit“ sei. Dann sagt Holl etwas, was vielleicht in unserer Zeit der Rede besonders wert ist: „es scheint mir unbestreitbar, dass das als Verirrung Auftretende doch ungewollt auf Tieferes führen kann, das schließlich die Überwindung oder die Beiseite Schiebung des Irrigen hergeführt“.18 Was er „Trübungen und Verderbnisse“ nennt, wirkt nach Holl „wenigstens als Reizmittel der Entwicklung“.19 Persönlich möchte ich Holls Beobachtung dahingehend erweitern, dass die historische Entwicklung nicht „nach oben oder nach unten“ geht, sondern dass Niedergang und Aufstieg gleichzeitig stattfinden können. Fiktiv hat es Charles Dickens beschrieben in die Einleitung zum „A Tale of Two Cities“ („Eine Geschichte aus zwei Städten“): „It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way – in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only.“20
Vertreter der christlichen Kirchen argumentieren manchmal, als sei alles Gute von den Kirchen gekommen. Als eine Art historische Utopie wird zum Beispiel behauptet, dass die Kirchen immer die Menschenrechte verteidigt hätten, während die Realität eher so ist, wie Katharina Kunter aufgezeigt hat, dass die evangelischen Kirchen erst 1948 und die römisch-katholische Kirche erst durch Papst Johannes XXIII mit der Kritik an der Französischen Revolution brachen und die Menschenrechte als Waffe gegen den atheistischen, kommunistischen Staat richteten.21
18 Holl, Karl: Urchristentum und Religionsgeschichte, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II. Der Osten, Tübingen 1928, S. 31. 19 Holl, Urchristentum, S. 32. 20 Dicken, Charles: A Tale of two Cities, Book the First, Chapter One. 21 Vgl. Kunter, Katharina: Christianity, Human Rights, and Socio-Ethical Reorientations, in: Schjørring, Jens Holger / Hjelm, Norman A. / Ward, Kevin (Hrsg.), History of Global Christianity, Vol. III. History of Christianity in the 20th century, Leiden 2018, S. 128.
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Allerdings bot bereits der markante Begriff lex creationis, das Gesetz der Schöpfung, des Lunder Theologen Gustaf Aulén (1879@1977) aus dem Jahr 1940 eine nachhaltige schöpfungstheologische Motivation für eine christliche Verteidigung von Recht und Menschenrechten. Es waren die Gräuel des Krieges, des Abessinienkrieges und des Zweiten Weltkriegs, die zu den Menschenrechtserklärungen führten. Wenn es am dunkelsten war, sollte gleichzeitig etwas Neues geboren werden. Wenn man versucht zu erklären, wozu Geschichte nützlich ist, hat man dem Verständnis der Geschichte oft einen schlechten Dienst erwiesen. So ist es unter englischsprachigen Politikern eine wiederkehrende Wendung, die Antonius in Shakespeares „The Tempest“ („Der Sturm“) zitiert: „what’s past is prologue“. Dies meint, dass die Geschichte sinnvoll ist, weil sie den Prolog dessen darstellt, was wir heute erleben. Daher ist das Shakespeare-Zitat auch auf dem National Archives Building in Washington D.C. eingraviert. Es ist an sich eine unhistorische Neuinterpretation der Worte Shakespeares. Die Worte beziehen sich bei ihm auf das Vorspiel zur konkreten Situation, nicht auf die Geschichte als solche, was deutlich wird, wenn man den ganzen Satz liest: „And, by that, destined to perform an act, Whereof what’s past is prologue; what to come, In yours and my discharge.“22 Das Punkt ist also vielmehr, dass die zukünftige Geschichte von den Entscheidungen der Menschen abhängt. Dies scheint viel interessanter als die oberflächliche Argumentation, dass wir die Geschichte nur deshalb kennen müssten, um die Gegenwart zu verstehen. Die Geschichte ist nicht nur ein Prolog, sie geht weiter, wird geformt, wird erneut geformt und setzt sich hier und jetzt durch unsere Entscheidungen fort. Sie wird durch die gebotenen Möglichkeiten eingeschränkt oder erweitert. In meiner Arbeit über das innere Leben von Königin Victoria von Schweden (geb. Prinzessin von Baden) habe ich betont, wie die Identifikationen – sowohl soziale Funktionen als auch innere Modelle – zusammen für eine angebotene Identität stehen. Der Einzelne ist in seiner Wahl auf die angebotenen Identitäten beschränkt, unabhängig davon, ob es sich um eine Verbindung zu oder einen Bruch mit früheren Identitäten handelt. Im Fall der Königin sind die Identifikationen identitätsstiftende Elemente, die in einem in vielerlei Hinsicht instabilen Leben über die Zeit stabil geblieben waren.23
VIII. Die Bedeutung des Mündlichen Die mündliche Dimension der Kirchengeschichte bringt es mit sich, nach Aufzeichnungen mündlicher Erzählungen zu suchen. Solche Aufzeichnungen vermitteln ein Einfühlungsvermögen und Traditionsverständnis, das in den offiziellen Quellen nicht mehr auffindbar ist. Andererseits muss man darauf achten, dass die mündliche 22
Shakespeare, William: The Complete Works of William Shakespeare. Comprising his Plays and Poems, Hamlyn House 1958, S. 9 (The Tempest, Act II Scene I). 23 Vgl. Jarlert, Anders: Drottning Victoria – ur ett inre liv. En existentiell biografi, Stockholm 2012, S. 17.
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Überlieferung die Lücken in einem unvollständigen schriftlichen Quellenmaterial nicht füllen kann, sondern durch andere Dimensionen und Perspektiven die historische Situation insgesamt erweitern kann. Das mündliche Material kann also nicht nur illustrieren, sondern die traditionelle Geschichtsschreibung bestätigen, hinterfragen sowie inspirieren.24 Die mündliche Dimension ist gerade für die Kirchengeschichte wichtiger als für die Allgemeingeschichte: Nicht nur die Predigt, sondern auch der Kirchengesang und die Liturgie haben in erster Linie mündlichen Charakter. Es gehört zu den Forschungsfortschritten des letzten halben Jahrhunderts, erkannt zu haben, dass man die Liturgie nicht als eine Art Protokoll oder das Kirchenlied nur als einen gedruckten Text untersuchen kann. Die Liturgie verleiht der Kirchengeschichte ihren einzigartigen Charakter: Alte Texte werden Woche für Woche, Jahr für Jahr kollektiv und mündlich auf eine Weise vorgetragen, die Grundlinien in der Geschichte offenbaren, die nachhaltiger sind als die meisten anderen in unserer Geschichte, und sie in immer neuen Kontexten präsent macht. Dieser mündliche Charakter trägt dazu bei, dass Kirchengeschichte immer Zeitgeschichte ist. IX. Das Unerwartete Zur geistigen Ausrüstung des Kirchenhistorikers gehört eine große Bereitschaft für das Unerwartete, da die erwartete Zukunft manchmal ungewöhnlich „vergangen“ erscheint. Zunächst ein aktuelles Beispiel. Vor 50 Jahren wurde vielerorts über den Einsatz der Gitarre im Gottesdienst diskutiert. Sogar von „Gitarrenschlachten“ war die Rede. Heute ist die Frage irrelevant, nicht etwa, weil die Gitarre als liturgiefähiges Instrument akzeptiert wurde, sondern weil praktisch alle populäre Musik in den Kirchen von Klavier begleitet wird. Niemand insistiert mehr auf dem Gitarrenspiel und niemand reagiert darauf. Eine Frage, die vor weniger als 50 Jahren die Gemüter bewegte, scheint heute unverständlich und vergessen. Das Unerwartete kann auch in die kirchlichen Sitten einbrechen. Lange Zeit befürchtete man in der schwedischen Kirche, dass die areligiösen Beerdigungen den kirchlichen Bestattungsbrauch übernehmen würden. Doch die Entwicklung der letzten Jahre ging in eine ganz andere Richtung. 2017 fanden in der Bestattungskapelle in Malmö 378 standesamtliche Beisetzungen statt, die Zahl der „Direkten“, also Beerdigungen ohne jegliche Zeremonie, lag jedoch bei 462. Darauf folgten die Urnenrituale mit 98, ein neuer Bestattungsbrauch, mit der man das Gesetz bequem umgehen kann, das Beerdigung innerhalb eines Monats vorschreibt.25
24 Vgl. Jarlert, Anders: Muntlig kyrkohistoria som vetenskapligt program och problem, in: Jarlert, Anders / Rubenson, Samuel (Hrsg.), Kyrkohistoria i Lund. Fyra föreläsningar, Lund 2000, S. 46. 25 Vgl. Jarlert, Anders: Begravningsverksamhet och begravningsplatser, in: Malmö stads historia del 9 (imprint).
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Auf welthistorischer Ebene ist ein größeres Gegenstück zum „Unerwarteten“ die Unfähigkeit, die 1930er Jahre anhand ihrer Bedingungen zu lesen. Es wird ständig als Beginn des Zweiten Weltkriegs, als Vorbereitung auf den Holocaust und als Voraussetzung für den Terror gelesen. In den Jahren 1935/36 war jedoch die AbessinienKrise von herausragender Bedeutung, was auch zeigt, dass die Perspektiven nicht immer so eurozentrisch waren, wie oft behauptet wird. Der italienische Angriff auf Abessinien veranlasste Gustaf Aulén, seine einseitige Liebestheologie aufzugeben, um auch das Recht nicht nur als bindendes Gesetz, sondern als positive, theologisch motivierte Kraft zur Bewahrung der Schöpfung zu betonen (lex creationis). Am Silvesterabend 1935 sprach Erzbischof Erling Eidem im Radio: „Das alte Jahr geht blutig unter. Nicht nur für Afrika, wo der Krieg tobt, sondern für unsere ganze Welt. Heute Morgen erhielt ich vom Erzbischof von Äthiopien ein ausführliches Telegramm, in dem mir mitgeteilt wurde, dass italienische Soldaten alle christlichen Kirchengebäude in der Gegend in Brand gesteckt hatten, als die Kampflinie zurückgezogen wurde. […] Aber das verblasst im Vergleich zu der schrecklichen Nachricht, die uns später am Tag errichte, als bekannt wurde, dass ein Krankenwagen des Roten Kreuzes von italienischen Piloten einem mehr oder weniger zerstörerischen Bombardement ausgesetzt worden war. Diese Nachricht erfüllt uns mit Entsetzen und Abscheu.“26
Diese Rede ist in der Universitätsbibliothek Uppsala aufbewahrt, zusammen mit Eidems sämtliche Predigten und Reden, also nicht mit seiner Korrespondenz in dem sehr großen Eidemarchiv im Landesarchiv Uppsala. Dies führt zu neuen Entdeckungen. Es stellt sich etwa heraus, dass Eidems Rede bei Erik Perwes Amtsantritt als schwedischer Pfarrer in Berlin am 11. August 1942 weitgehend identisch ist mit seiner Rede bei Lars Hedbloms Amtsantritt in Bo am 26. April desselben Jahres über Röm 1,16: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen.“ Die plurale Form der deutschen Sprache macht hier einen stärkeren und allgemeineren Eindruck als das Singular im Schwedischen. Mitten im Holocaust wird der Apostel Paulus „der ehemalige jüdische Rabbiner“ genannt. Was im Archipel von Stockholm nur eine historische Notiz war, wurde in Berlin plötzlich virulent. Ein weiteres forschungsmethodisches Beispiel: Vor 20 Jahren konnte niemand ahnen, dass es äußerst schwierig sein würde, einen Fragebogen zum kirchlichen Brauchtum beantwortet zu bekommen, auch weil sich die Verwaltungsgliederung der Kirche vielerorts so schnell geändert hatte, dass es unmöglich schien, nach fünf Jahren adäquate Vergleiche anzustellen. Viele Pfarreien existieren nicht mehr oder sind nicht mehr intakt, auch sind viele kirchliche Mitarbeiter so oft umgezogen, dass es vorkommt, dass sich keiner der Verantwortlichen mehr erinnern kann, wie es vor fünf Jahren gewesen ist. Vielleicht ist es stattdessen an der Zeit, wie Hilding Pleijel in den 1940er Jahren damit anzufangen, „die Alten“ darüber zu befragen, wie es vorher war. Bei ihnen ist Kirchengeschichte ganz anders präsent und beobachtbar als bei denen, die im Sinne Koselleks im Zeitalter der Beschleunigung leben. Viele, auch 26
UUB, E.Eidems arkiv.
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kirchliche Mitarbeiter, werden heute von einer fast abergläubischen Annahme gefangen, sie hätten keine Geschichte oder bräuchten sie nicht, weil sie Gefangene in einer Beschleunigungsspirale seien und daher geradewegs in ihre vergangene Zukunft stürzen. Wer hingegen gewillt ist, mit offenen Augen in die unbekannte Zukunft zu blicken, sollte zuerst die weniger sichtbare Seite der Kirchengeschichte studieren, die immer Zeitgeschichte ist. Literaturverzeichnis Berry, Mark: Haydn’s Creation and Enlightenmenology, in: Austrian History Yearbook 39 (2008), S. 27 – 44. Eidem, Erling: Tjänaren. Stilla tankar invid Frälsarens smärtoväg, Stockholm 1953. Gudmundsson, David: Kyrkohistorisk utbildning och kyrklig förkunnelse. Historiska nedslag från Skåne, Blekinge och Småland under 350 år, in: Svensk Teologisk Kvartalskrift 1 (2019), S. 53 – 65. Holl, Karl: Urchristentum und Religionsgeschichte, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II. Der Osten, Tübingen 1928, S. 1 – 32. Jarlert, Anders: Begravningsverksamhet och begravningsplatser, in: Malmö stads historia del 9 (imprint). Jarlert, Anders: De-sacralisation and New ,Sacralisation‘ of Religious Buildings, in: Kirchliche Zeitgeschichte 31/2 (2018), S. 390 – 397. Jarlert, Anders: Drottning Victoria – ur ett inre liv. En existentiell biografi, Stockholm 2012. Jarlert, Anders: Göteborgs stifts herdaminne 1620 – 1999 II. Älvsborgs, Nylöse och Hisings kontrakt, Göteborg 2014. Jarlert, Anders: Kyrkohistoriens nu, in: Svensk Teologisk Kvartalskrift 1 (2019), S. 237 – 253. Jarlert, Anders: Muntlig kyrkohistoria som vetenskapligt program och problem, in: Jarlert, Anders / Rubenson, Samuel (Hrsg.), Kyrkohistoria i Lund. Fyra föreläsningar, Lund 2000, 39 – 53. Jordheim, Helge: Inledning, in: Koselleck, Reinhart: Erfarenhet, tid och historia. Om historiska tiders semantik, Göteborg 2004, S. 9 – 21. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989. Kunter, Katharina: Christianity, Human Rights, and Socio-Ethical Reorientations, in: Schjørring, Jens Holger / Hjelm, Norman A. / Ward, Kevin (Hrsg.), History of Global Christianity, Vol. III. History of Christianity in the 20th century, Leiden 2018, S. 127 – 146. Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919. Shakespeare, William: The Complete Works of William Shakespeare. Comprising his Plays and Poems, Hamlyn House 1958.
Theologie und Ökumene
Taufe als Bittgebet? Überlegungen zu einem pneumatologischen Verständnis in ökumenischer Absicht Von Ulrike Link-Wieczorek Einleitung: Zur Situation Fortschreitende Säkularisierung verhindert Taufe nicht – diese Erfahrung konnte man schon im sowjetischen Russland machen,1 und offenbar macht man sie auch heute in Ostdeutschland.2 Während vor der Wende Eltern in der DDR durch die Taufe ihrer Kinder auch ein öffentliches Bekenntnis zur Kirche ablegten, scheint heute, wenn ich die Erzählungen von Pfarrinnen und Pfarrern aus Ostdeutschland recht verstanden haben, der Kirchenbezug des Taufaktes nicht mehr unbedingt das einzige Motiv der Eltern zu sein, die ihre Kinder zur Taufe bringen. Möglicherweise in stärkerem Ausmaß ließe sich das auch in Westdeutschland seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beobachten. Hier werden „trotz eines allgemein nachlassenden Kirchenbewusstseins und trotz der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft die Säuglinge noch immer in großer Zahl zur Taufe gebracht und auch getauft“, so der baptistische Theologieprofessor Erich Geldbach 1996 in seinem Büchlein zum Thema „Taufe“.3 Er zitiert freilich gleich den Ratzeburger Domprobst Uwe Steffen, der schon 1988 schrieb: „Es ist mir in den meisten Fällen unmöglich, den Taufeltern […] deutlich zu machen, was der eigentliche Sinn der Taufe ist. Zu weit klaffen die 1 Es gibt es wohl keine offiziellen Zahlen über getaufte Kinder von Mitgliedern der kommunistischen Partei im sowjetischen Russland. Immerhin soll Wladimir Putin von seiner Mutter heimlich zur Taufe getragen worden sein; vgl. Stricker, Gerd: „Gute Früchte der Zusammenarbeit“. Die russisch-orthodoxe Kirche und Präsident Putin, in: Herder Korrespondenz 8 (2005), S. 418 – 423, https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2005/8-2005/gute-fruechte-der-zu sammenarbeit-die-russische-orthodoxe-kirche-und-praesident-putin/ (Zugriff 20. 07. 2022). Vgl. zum Thema auch Konstantinow, Dimitry: Die Kirche in der Sowjetunion nach dem Kriege. Entfaltung und Rückschläge, München 1973, S. 371 – 372. 2 Dieser Beitrag geht ursprünglich auf einen Vortrag zurück, den ich 2005 vor der Gesamtephorenkonferenz der Kirchenprovinz Sachsen auf Burg Bodenstein gehalten habe. Der Anlass war, dass in vielen Gemeinden der Landeskirche Menschen ihre Kinder zur Taufe bringen wollten, obwohl sie als Eltern gar nicht christlich sozialisiert und auch nicht Mitglieder der Kirche waren. Eine steile Vorgabe für einen Beitrag als Dialogangebot an meine hochgeschätzte baptistische Kollegin Andrea Strübind, mit der ich jüngst – außer in Forschungsprojekten an der Universität Oldenburg im selben Institut und außer im Deutschen Ökumenischen Studienausschuss (DÖSTA) – auch jahrelang in einem lutherisch-baptistischen Dialog über die Taufe zusammengearbeitet habe! 3 Vgl. Geldbach, Erich: Taufe (Ökumenische Studienhefte 5), Göttingen 1996, S. 17.
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volkskirchlichen Vorstellungen von Taufe und das, was nach dem Neuen Testament Taufe ist, auseinander.“4 Es ist anzunehmen, dass der Grund, den Geldbach aus einer Basler Untersuchung aus dem Jahr 1968 für das merkwürdige Fortbestehen der Säuglingstaufe zitiert, nicht auf heute zu übertragen ist: Die Sorge um den Fortbestand der Kirche.5 Vielmehr scheint es der Wunsch nach lebensbegleitenden Ritualen zu sein, die von der Kirche am ehesten erwartet werden dürften. Taufe scheint in der säkularisierten Welt als ein Initiationsritus begehrt zu sein, mit dem der Eintritt in eine neue Phase des Familienlebens begangen wird. Der Mainzer Praktische Theologe Kristian Fechtner meint, diesen Wunsch durchaus als einen Anknüpfungspunkt für christliches Taufverständnis nehmen zu können:6 Private, zunächst nicht primär christliche Religiosität und ausdrücklich christliche Motive müssten sich nicht gleich widersprechen. Man muss also als Pfarrerin oder Pfarrer die jungen Eltern nicht gleich nach Hause schicken, die sich an die Kirche wenden, weil sie hier suchen, was sie woanders nicht finden zu können meinen: ein Ritual, mit dem sie zum Ausdruck bringen können, was sie gerade jetzt empfinden. Man wird vermuten dürfen, was das ist: eine urtümliche Dankbarkeit für die Geburt ihres Kindes, für die Errettung aus der dabei stets drohenden Lebensgefahr sowie für die Perspektive, nun in eine gemeinsame Lebenszeit mit dem Kind einzutreten. Trotz steigender Zahlen von Kinder- und Jugendlichen-Taufen auch in den säuglingstaufenden Kirchen bleibt die Säuglingstaufe begehrt. Allerdings findet sie zumeist nicht mehr, wie traditionellerweise, innerhalb der ersten sechs Wochen nach der Geburt statt, sondern in der Regel ca. ein halbes bis ganzes Jahr danach. Das mag durchaus damit zu tun haben, dass es erst ein Weilchen braucht, bis in den jungen Familien so viel Ruhe eingekehrt ist, dass die bewusste Wahrnehmung der eben genannten Empfindungen möglich wird. Fechtner sieht den Grund für den merkwürdigen Sieg der Säuglingstaufe über die Erwachsenentaufe in der Tradition katholischer Kirche und evangelischer Landeskirchen eben in dieser Funktion für die jungen Eltern, denen in dieser Lebensphase nicht selten auch der Sinn für die christliche Rede des Geschenktseins des Lebens, und zwar eines konkreten und durchaus individuellen Menschenlebens, elementar aufgehe.7 Dies aber ist nur die eine Seite der Medaille. Es gibt sie zwar – erstaunlicherweise – noch, die Säuglingstaufe, aber längst darf sie nicht mehr als die Regeltaufe bezeichnet werden. Selbst in dem noch von relativ starker christlicher Bürgerlichkeit 4
Steffen, Uwe: Taufe. Ursprung und Sinn des christlichen Einweihungsritus, Stuttgart 1988, S. 8. 5 Vgl. Hoch, Dorothee: Kindertaufe in der Volkskirche, Zürich 1968; vgl. Geldbach, Taufe, S. 17. 6 Vgl. Fechtner, Kristian: Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – eine Orientierung, Gütersloh 2003, 2. überarb. Auflage (mit neuem Untertitel: Kasualien wahrnehmen und gestalten) Gütersloh 2011, S. 88 – 99. 7 Vgl. Fechtner, ebd. (2. Aufl. 2011), S. 92 – 94, sowie das etwas allgemeiner gehaltene „Leitmotiv“ in der ersten Auflage 2003, S. 82.
Taufe als Bittgebet?
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geprägten Baden-Württemberg gibt es mittlerweile keinen Konfirmand:innenkurs mehr, in dem nicht um die Adventszeit herum mehrere Jungen und Mädchen erst einmal getauft werden, bevor sie ein paar Monate später konfirmiert werden. Im Gespräch mit dem Mennoniten Fernando Enns müssen wir Landeskirchler:innen uns einen leichten spöttischen Unterton gefallen lassen über diese in seinen Augen ver-rückte Trennung von Taufe und antwortendem Glaubensbekenntnis des Täuflings – die Zwischenzeit ist zu kurz, um sinnvoll zu sein, meint er. Man könne bei diesen Konfirmand:innen gleich Taufe und Konfirmation zusammenlegen und eine Gläubigentaufe vollziehen. Die andere Seite der Medaille also ist: Es kann kein Zweifel sein, dass auch der Erwachsenentaufe eine steigende Plausibilität anempfunden wird. Gerade in Zeiten zunehmender auch religiöser Pluralisierung hat es die Säuglingstaufe schwer, sich von dem Beigeschmack eines archaischen, mindestens voraufklärerischen Rituals der Zwangsintegration zu befreien. Nicht wenige Eltern verzichten darum darauf, ihre Kinder taufen zu lassen, weil es ihnen unmittelbar einleuchtet, dass diese sich selbst einmal dazu entscheiden können sollen. In der Ökumene der säuglingstaufenden Kirchen freilich scheint man von solchen Ambivalenzen wenig zur Kenntnis zu nehmen. Hier feiert man vielmehr die neue Einheit der Getauften – der als Säuglinge Getauften: So geschehen am 29. April 2007 im Dom zu Magdeburg, als 11 Kirchen in Deutschland die Vereinbarung der gegenseitigen Anerkennung der Taufe feiernd besiegelten.8 Ökumenischen Bemühungen auf Weltebene folgend, wird damit eine neue Plattform der Einheit gesucht: nicht mehr in das gemeinsame Abendmahl werden alle Hoffnungen gesetzt, sondern in die gemeinsame Taufe.9 Das Ganze hat nur einen Schönheitsfehler: Das „Grundeinverständnis über die Taufe“, das sich hier evangelische, katholische, methodistische und orthodoxe Kirchen gegenseitig versichern, gilt nicht in der gesamten Ökumene: Neben zwei alt-orientalischen Kirchen konnten sich auch die Kirchen der täuferischen Tradition der Anerkennungs-Vereinbarung nicht anschließen. Damit scheint sich das Diktum Edmund Schlinks aus den 1960er Jahren immer noch zu be-
8
Vgl. Wechselseitige Anerkennung der Taufe, Magdeburg 2007 (Magdeburger Tauferklärung), https://www.oekumene-ack.de/fileadmin/user_upload/Themen/Taufanerkennung2007.pdf [Zugriff 20. 07. 2022]. 9 Vgl. Raiser, Konrad: Gegenseitige Anerkennung der Taufe als Weg zu kirchlicher Gemeinschaft. Ein Überblick über die ökumenische Diskussion, in: ÖR 53 (2004), Heft 3, S. 298 – 317. Vgl. das jüngste Dokument der Kommission für „Faith and Order“ im ÖRK zum Thema Kircheneinheit, das auf einer baptismalen Ekklesiologie beruht: What are the Churches saying about the Church? Key Findings and Proposals from the Responses to „The Church: Towards a common Vision“, https://www.oikoumene.org/sites/default/files/2021-06/ What_Are_Churches_Saying_Web.pdf [Zugriff 20. 07. 2022]; vgl. zum Thema auch die katholische Theologin Faber, Eva-Maria: Baptismale Ökumene. Tauftheologische Orientierungen für den ökumenischen Weg, in: Sattler, Dorothea/Wenz, Gunther (Hrsg.), Sakramente ökumenisch feiern. Vorüberlegungen für die Erfüllung einer Hoffnung (FS für Theodor Schneider), Mainz 2005, S. 101 – 123.
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wahrheiten, nach dem die tiefste Differenz der Kirchen im Verständnis der Taufe als göttlicher Tat oder als menschlicher (Glaubens-)Gehorsam bestehe.10 Ich möchte im Folgenden von dieser typisierenden Sicht des Taufgeschehens wegzukommen versuchen. Schon im multilateralen ökumenischen Dialogpapier über „Taufe, Eucharistie und Amt“ aus dem Jahr 1982, dem sog. Lima-Papier des ÖRK, haben sich die Kirchen von der Einsicht leiten lassen, göttliche Gabe und menschliche Glaubens-Antwort müssten eher komplementär einander zugeordnet werden können als in typologischen Alternativen.11 Mein Vorschlag ist daher, das gesamte Taufgeschehen weniger als einen Akt zu begreifen, der sich am Individuum des Täuflings ereignet, sondern als ein kommunales Geschehen mit mehreren Subjekten: Gott, dem Täufling, der Gemeinde und der universalen Kirche in ihrer Katholizität. Dabei werde ich mich auf zwei neuere ökumenische Einsichten beziehen können: Auf den prozessualen Charakter der Taufe bzw. des Glaubenslebens, in das sie einführt, und auf ihre ekklesiale Dimension. Eingebettet in diese Aspekte möchte ich auch ein neues Verständnis der Sakramentalität der Taufe anbieten und von der Taufe als einer Initiation in ein lebenslanges Bittgebet sprechen, dessen sakramentaler Charakter in der Glaubensgewissheit der Erfüllung und dem Umfangensein vom Heiligen Geist bestünde. Auf diesen drei Komponenten beruht schließlich der Vorschlag, Taufkatechese als eine Moderation des Hineinwachsens in das Glaubensleben zu verstehen, das mit einer Einführung in das Christentum nur erst beginnt, aber darin nicht aufgeht. Zu einem gemeinsamen Nachdenken, wie eine solche Taufkatechese in einer entchristlichten Welt entwickelt werden könnte, möchte ich mit all diesem anregen. Zunächst sei begonnen mit einer kurzen Rezeption von Überlegungen zum Taufgeschehen als Initiationsgeschehen in einen neuen Lebenszusammenhang. I. Taufe als Initiation in ein Leben jenseits der Todesfurcht Die ökumenische Theologie operiert schon länger mit dem Verstehensmodell der Taufe als Initiationsgeschehen.12 Es sieht die Taufe in Analogie zu religionswissen10 Vgl. Schlink, Edmund: Die Lehre von der Taufe, Schriften zu Ökumene und Bekenntnis Bd. 3, Kassel 1996, 2. Aufl., hrsg. und mit Einleitung versehen von Peter Zimmerling 2007, S. 140. 11 Das „Lima-Dokument“: Taufe, Eucharistie und Amt. Die Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung, hrsg. von Harding Meyer, Damaskinos Papandreou, Hans Jörg Urban und Lukas Fischer, Bd. 1, Paderborn und Frankfurt a. M. 1983, S. 545 – 585. 12 Das Verständnis von Taufe als Initiationsgeschehen ist schon im Lima-Dokument leitend und hat durch den baptistischen Theologen Paul Fiddes weitgehend Eingang gefunden in freikirchliche Überlegungen, vgl. Fiddes Paul S.: Baptism and the Process of Christian Initiation, in: The Ecumenical Review 54/1 (2002), S. 48 – 65. Vgl. auch das Faith-and-OrderDokument „Becoming a Christian. The Ecumenical Implications of our common Baptism“, hrsg. von Thomas Best und Dagmar Heller, Genf 1999, S. 76; und schließlich sei auf einen
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schaftlich und ethnologisch erforschbaren Riten des Übergangs von einem Lebensstadium in ein anderes, vornehmlich vom Jugendalter ins Erwachsenenalter. Die oben angedeuteten Wünsche nach einem Ritual, das die Lebensveränderung begleitet, die mit der Geburt eines Kindes zu tun hat, wären so gesehen durchaus ein Wunsch nach einem Initiationsritual. Theologisch gesehen ist freilich eine spezifischere Lebensveränderung gemeint, wenn von Taufe als Initiationsritus die Rede ist: Die Taufe wird als Akt der Eingliederung des Täuflings in die christliche Gemeinde, als Initiation in die Gemeinde bzw. in die Kirche verstanden. Eine klassisch-theologische Definition von Taufe wäre durchaus: Mit der Taufe geschieht die Aufnahme des Täuflings in die Gemeinde, und damit faktisch seine „Übereignung an Christus“. In einer der biblischen Diktion angeglichenen Sprache kann man von einem „Herrschaftswechsel“ sprechen, was man nach Möglichkeit dadurch deutlich macht, dass die Taufe im Gemeindegottesdienst stattfindet und nicht in einer gottesdienstlichen Familienfeier. Der Übergang von der alten Herrschaft zur neuen wird in den Taufritualen freilich unterschiedlich deutlich initiiert. Am deutlichsten geschieht das in den Taufakten der altkirchlichen, der orthodoxen Kirchen sowie in der baptistischen Taufe, in denen der Täufling (dreimal) untergetaucht wird. Mitglieder evangelischer Landeskirchen müssten über die Bedeutung des Wassers in der Taufe erst einmal aufgeklärt werden. Der ehemalige Superintendent der Rheinischen Kirche, Rainer Stuhlmann, berichtet diesbezüglich über seinen Konfirmand:innen-Unterricht. Hier hat er das Thema Taufe zu behandeln begonnen, indem er mit den Jungen und Mädchen ins Schwimmbad ging und sie dort sich gegenseitig untertauchen ließ. Anschließend, wenn sie wieder aufgetaucht waren und ordentlich nach Luft geschnappt haben, ließ er sie ihre Erfahrungen beschreiben. „Die Jugendlichen formulierten dann selber, dass es ihnen vorgekommen sei, als hätten sie ,mit dem Tod Bekanntschaft gemacht‘, als seien sie ,mit dem Tod in Berührung gekommen‘ oder als hätten sie ,einen Vorgeschmack des Todes‘ gespürt und dass mit dem ersten Atemzug ,das Leben in mich eingeströmt‘ ist.“13 Deutlich wird in diesem Zitat, wie schnell die Assoziation von Tod und Auferstehung mit der Erfahrung des gänzlichen Untertauchens verbunden ist, und wie elementar das Gefühl der „Wiedergeburt“ durch diese Form des Taufrituals provoziert werden kann. Deutlich wird auch, dass Rituale nicht einfach nur symbolisierende Zeichen zu sein brauchen, die etwas erzählen oder die die Teilnehmer am Ritual etwas ausBeitrag einer studierenden Ökumenikerin verwiesen: Franke, Juliane: Das ökumenische Potenzial des Initiationsgedankens in jüngeren evangelisch-landeskirchlich/baptistischen Dialogen – eine Darstellung, in: ÖR 68 (2019), Heft 4, S. 514 – 526. 13 Stuhlmann, Rainer: Aufbrüche aus einer tief unordentlichen Taufpraxis. Ansätze der Erneuerung in der Volkskirche, in: ÖR 53 (2004), Heft 3, S. 348 – 360, hier: 355. – Kurze Teile dieser Textpassage habe ich einem früher publizierten Beitrag entnommen: Link-Wieczorek, Ulrike: Der Weg des Lebens in der wirksamen Nähe Gottes. Vom sakramentalen Zusammenhang von Taufe und Abendmahl / Eucharistie, in: Bokwa, Ignacy/Jaskóła, Piotr/LinkWieczorek, Ulrike (Hrsg.), Nicht getrennt und nicht geeint. Der ökumenische Diskurs über Abendmahl/Eucharistie in deutsch-polnischer Sicht, Frankfurt a. M. 2006, S. 179 – 206, hier: 181 – 182.
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drücken lassen (wie wenn man sich z. B. eine Rose schenkt), sondern dass Rituale mehr sein können: Einladungen zur Dramatisierung, zum Empfinden, ja zum Erfahren dessen, was ausgedrückt werden soll. Hier liegt die Nahtstelle zum Sakramentsverständnis. Taufe als Herrschaftswechsel in der Aufnahme in die Gemeinde lässt als Ganzkörper-Untertauchen den Übergang von Tod zum Leben buchstäblich erleben. Im orthodoxen Ritus wird das Erleben der Auferstehung fortgesetzt durch die Ganzkörper-Salbung, die Myron-Salbung, das Ankleiden mit dem Taufgewand und theologisch besonders anschaulich weiter erfahren durch die Teilnahme der Täuflinge, die ja auch hier in der Regel Säuglinge sind, an der Eucharistie direkt im Anschluss an die Taufe.14 Man sollte nicht zu schnell sagen, dass den heutigen säkularisierten Menschen Tod und Auferstehung als dramatisierte Erfahrungsangebote fernstünden, weil sie möglicherweise nicht christlich sozialisiert sind. Hätten Tod und Auferstehung Christi so gar nichts mit anthropologisch nachvollziehbaren Erfahrungen zu tun, wären sie wohl kaum auch für Christen plausibel genug, um in der Auferstehungshoffnung ihre Lebensorientierung zu suchen. Hier möchte ich wieder an Fechtners Hinweis auf die lebensweltlich-kulturelle Verankerung der Taufe erinnern.15 Man könnte darüberhinausgehend sagen, gerade die Säuglingstaufe greife eine Art von Urreligiosität auf, nämlich: Sie soll die massive und auch furchterregende Erfahrung des unfassbaren Nebeneinanders von Lebensbedrohung und Lebensentstehung ansprechen, wie sie jeder und jede kennt, der oder die einmal Schwangerschaft und Geburt eines Kindes erlebt oder miterlebt hat. Niemals, so empfinden es doch viele, steht das Leben wieder so sehr auf der Kippe wie hier, und doch ist dies alles so, weil es sich als lebendiges Leben entfalten will. Ich bin sicher, dass die Taufeltern im Zusammenhang mit der Taufe sich diese Erfahrungen, die Ängste und das sich oft erst allmählich einstellende Glücksgefühl über das Gelingen des Lebenskampfes vergegenwärtigen. Und sie mögen es vielleicht sogar in unseren landeskrichlich nur noch rudimentären Elementen von Tauchsymbolik nacherleben – in der Sorge, ob das Kind das Taufgeschehen wohl ohne Ängstigungen wird erleben können. Man kennt doch die merkwürdige Aufregung, die ganze Tauffamilien während der Taufe erfassen kann – sie hat nicht nur damit zu tun, dass hier ein ihnen ungewohnter Akt in der Öffentlichkeit stattfindet. Sie erinnern die Nähe des Todes bei der Geburt und die Erfahrung von Trennung und Verletzung als notwendig zum Leben – möglicherweise werden sie nach einer entsprechenden Thematisierung im Taufgespräch sogar das gesamte Taufritual als eine Dramatisierung von Trennung und Verletzung erleben: Wenn die Eltern das Kind an die Paten übergeben und schließlich Pfarrerin oder Pfarrer den Taufakt mit dem Kind allein vollziehen. Möglicherweise denken sie daran, 14 Aus der Fülle der Literatur vgl. Athanasios Vletsis, den langjährigen DÖSTA-Bruder von Andrea Strübind und mir: Vletsis, Athanasios: Taufe: Ein Sakrament auf der Suche nach seiner Identität? Versuch einer orthodoxen Interpretation, in: ÖR 53 (2004), Heft 3, S. 318 – 336. 15 Vgl. Fechtner, Kirche, 2. Aufl. 2011, S. 91 – 99.
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dass sie auch in der gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind noch öfter notwendige Trennungen und Verletzungen erleben werden, um durch diese Erfahrungen hindurchgehend neue Lebensperspektiven zu empfangen und dem Kind sein eigenes Leben zu ermöglichen.16 Niemand also soll sagen, er oder sie habe noch nie gewünscht, vom Tod in die Auferstehung zu gelangen! Eltern und Paten, ja die ganze Gemeinde wünschen sich das für das zu taufende Kind, vom Tod zum Empfangen des neuen Lebens zu kommen. Die Dramatisierung der Erfahrung des Herrschaftswechsels von Tod zur Auferstehung kann – wird sie erst einmal so verstanden – nicht mehr nur noch als ein Nacherleben erfahrener Gefährdungen des Lebens verstanden werden, auch nicht nur als ermutigende Stärkung für vielleicht in der Zukunft noch kommende, sondern sie kann auf diese Erfahrungen anspielend geradezu zum dramatisierten Bittgebet der gesamten Gemeinde werden: Wir bitten darum, dass Gott dieses neue, junge Leben in die wirksame Gegenwart seiner Auferstehungswirklichkeit aufnehmen möge. Das Taufgeschehen entpuppt sich als von der Gnade Gottes umfasstes Bittgebet. Diesen Gedanken möchte ich gleich noch genauer entfalten. Zuvor aber müssen wir uns noch mit der prozessualen und mit der kommunalen Dimension der Taufe befassen. Wir betreten damit das Gelände der ökumenischen Dialoge. II. Taufe als Weg Es gehört zu den folgenreichsten Weichenstellungen des ökumenischen Dialogs im Lima-Dokument, eine Konvergenz in Richtung auf ein prozessuales Taufverständnis am Horizont erblickt zu haben. „Die Taufe ist nicht nur auf eine augenblickliche Erfahrung bezogen, sondern auf ein lebenslängliches Hineinwachsen in Christus.“17 Schon das 2. Vatikanum hatte im Ökumenismusdekret von der Taufe als Anfang gesprochen (UR 22): „… die Taufe (ist) nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie in ihrem ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens in Christus.“ Das prozessuale Taufverständnis kann die Typologie des Entweder – Oder von Glaube als Gabe und Glaube als Antwort massiv entschärfen, weil es den Glauben selbst als prozessual, also wachsend und reifend, versteht. Die Vorstellung, der Mensch sei zu einem bestimmten Zeitpunkt reif zur Entscheidung, Ja zu sagen zum Angebot des Glaubens im Heiligen Geist, wird durch die prozessuale Dehnung empirisch nachvollziehbarer. Auch das Taufgeschehen selbst, das ja zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum stattfindet, wird durch die enge Verknüpfung mit dem Hineinwachsen in den Glauben „gedehnt“.18 So formu16
Vgl. ebd., S. 96 – 97. Lima-Dokument, Taufe, Nr. 9, S. 552. 18 Michael Haspel plädiert in seinem Beitrag in der Festschrift für Uwe Swarat dafür, die Taufe als ein einmaliges, den Glauben jedoch als ein prozesshaftes Geschehen zu verstehen. Der Taufakt ist ihm ein repräsentierendes Zeichen der „vorgängigen Gnade Gottes“, die „zugleich eine neue Existenz“ eröffnet. Vgl. Haspel, Michael: Einstimmen in die Kommunikation des Evangeliums. Taufe, Glaube, Kirchenmitgliedschaft, in: Claußen, Carsten/Dziewas, Ralf/ 17
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liert auch das bayrische lutherisch-baptistische Dialog-Dokument: Die Taufe „beinhaltet die Annahme als Gotteskind und setzt zugleich den lebenslangen Prozess der Nachfolge frei. Die gültige Zusage Gottes realisiert sich in der glaubenden Aneignung durch den getauften Menschen. Auch diese glaubende Aneignung ist Werk und Wirkung der Zusage Gottes und der Gabe des Heiligen Geistes.“19 Damit aber ist klar, dass auch die Rede von der Einmaligkeit der Taufe nicht auf einer Deskription empirischer Vorgänge beruhen kann. Bekannt ist schon die Aussage Luthers, der alte Adam müsse auch nach der konkreten Taufe immer wieder täglich „ersäufet werden“. Schon Luther hat also die Taufe nicht als ein Geschehen verstanden, in dem der Täufling sozusagen punktuell einmalig das Geschenk des Glaubens empfange. „Vor Formulierungen, die die eigene Mühe des Täuflings betonen, scheut Luther kein bisschen zurück“, so der evangelische Theologe Martin Hailer.20 Er zitiert aus dem Großen Katechismus: „Darum hat ein jeglicher Christ sein Leben lang genug zu lernen und zu üben an der Taufe; denn er hat immerdar zu schaffen, dass er festiglich gläube, was sie zusagt und bringet.“21 Einmalig ist die Taufe wegen ihrer Unwiederholbarkeit, und das wiederum ist sie, weil Gott sein Angebot nicht wiederholen muss, sogar dann, wenn die empfangende Antwort und die eigene Mühe des Täuflings ausbleiben sollten. Fruchtbar wird sie aber erst, wenn es zu dem von ihr angestoßenen Prozess kommt. Der ökumenische Diskurs in der Folge von Lima richtet sich auf diesen Sachverhalt: Vor allem Baptist:innen kritisieren, dass die säuglingstaufenden Kirchen zwar behaupteten, dieser Prozess sei für die Vollendung des Taufgeschehens unverzichtbar, ihn dann aber nicht weiter im Auge behielten und letztlich doch alles schon in den Anfang der sakramenSager, Dirk (Hrsg.), Dogmatik im Dialog (FS für Uwe Swarat), Leipzig 2020, S. 381 – 400, hier: 397. Das Lima-Dokument steht m. E. nicht im Widerspruch zu diesem Verständnis, obwohl es dem Taufakt selbst durchaus eine zeitliche „Dehnung“ zuspricht, indem es ihn in den Prozess des Wachsens des Glaubens einfließen lässt, der jedoch wiederum vom Zuvorgekommensein Gottes umfasst gedacht wird. Für wiederholbar wird die Taufe auch hier nicht gehalten. Vgl. dazu auch Enns, Fernando: Die gegenseitige Anerkennung der Taufe als bleibende ökumenische Herausforderung – Konsens, Divergenzen und Differenzen, in: Enns, Fernando/Hailer, Martin/Link-Wieczorek, Ulrike (Hrsg.), Profilierte Ökumene. Bleibend Wichtiges und jetzt Dringliches (FS für Dietrich Ritschl), Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 84, Frankfurt a. M. 2009, S. 127 – 158, hier: 143: Die gemeinsamen Überlegungen von Lutheranern und Mennoniten im Dialog liefen darauf hinaus, dass die „Bedeutung der Taufe – für den Einzelnen wie für die Gemeinde/Kirche – nicht auf die punktuelle Taufhandlung reduziert werden“ dürfe. 19 Voneinander lernen – miteinander glauben. Konvergenzdokument der bayrischen lutherisch-baptistischen Arbeitsgruppe (BALUBAG) 2009, S. 14; https://www.befg.de/fileadmin/ bgs/media/dokumente/Voneinander-lernen-miteinander-glauben-Konvergenzdokument-derBayerischen-Lutherisch-Baptistischen-Arbeitsgruppe-BALUBAG-2009.PDF [Zugriff 22. 07. 2022]. 20 Hailer, Martin: Taufanerkennung bei bleibend unterschiedlicher Lehre? In: Enns/Hailer/ Link-Wieczorek (Hrsg.), Profilierte Ökumene, S. 159 – 183, hier S. 167; für die ausführlichere Luther-Exegese vgl. ebd., S. 162 – 170. 21 Luther, Martin: Der große Katechismus, in: BSLK, S. 699. Den Hinweis verdanke ich dem o.g. Beitrag von Martin Hailer.
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tal verstandenen bekenntnislosen Taufe vor-verlegen.22 Soll es zu einer Taufanerkennung zwischen Säuglingstaufe und Gläubigentaufe kommen, so ist der Prozess des Wachsens im Glauben ernsthafter in das Taufverständnis zu integrieren. Der baptistische Theologe Paul Fiddes schlägt dafür bekanntlich vor, den sakramentalen Charakter der Taufe auf den ganzen Prozess der Initiation zu beziehen und nicht auf das Ereignis der Taufe zu beschränken. Die Mühe des Täuflings wäre also, so sagt es ja auch das oben zitierte BALUBAG-Dokument, als umfasst von der Gnadenwirkung Gottes zu verstehen. Auch das katholische Modell der Lebensweg-begleitenden Sakramente kann somit als Gestaltung des prozessualen Charakters der Taufe verstanden werden.23 Damit verbunden ist nun die zweite ökumenische Einsicht in der Tauftheologie: ihre ekklesiale Dimension. Die Mühe des Täuflings vollzieht sich nicht im luftleeren Raum zwischen Gott und dem um Glauben Ringenden, sondern in der Gemeinschaft derer, die in den Leib Christi berufen sind. Dazu ausführlicher im folgenden Abschnitt. III. Taufe als kommunales Geschehen Es gehört zur Tradition der westlichen Kirchen, in ihre Theologie der Säuglingstaufe einen starken heilsindividualistischen Akzent einzutragen. Das hat ursprünglich sicher auch mit einem substanzhaften Verständnis von Erbsünde zu tun, das wir heute nicht mehr teilen. Entsprechend gering ist auch heute die Furcht, ein ungetauftes Kind falle der Verdammnis anheim. Die Wiederentdeckung des ekklesialen Aspekts der Taufe in der Ökumene hingegen verhilft dazu, die soteriologische Funktion der Taufe zur Vergebung der Sünden weniger heilsindividualistisch zu verstehen, sondern als ein Geschehen von und in Gemeinschaft. Die katholische Theologin EvaMaria Faber weist darauf hin, dass niemand anders als Calvin die reformierte Tradition angeregt hat, den kommunalen Aspekt der Taufe zu betonen und nur im Gemeindegottesdienst zu taufen.24 Er schreibt in seiner Institutio: „Sooft jemand getauft werden soll, lässt man ihn bei der Versammlung der Gläubigen gegenwärtig sein und stellt ihn Gott dar, wobei die ganze Kirche wie ein Zeuge ihr Augenmerk auf den Vorgang hat und über den Täufling betet. […].“25 22
Vgl. dazu Raiser, Gegenseitige Anerkennung, S. 307 – 309. Vgl. Kappes, Michael: Sakramente im Spiegel der Konfessionen, in: ders./Link-Wieczorek, Ulrike/Pemsel-Maier, Sabine/Schuegraf, Oliver (Hrsg.), Basiswissen Ökumene, Bd. 1: Ökumenische Entwicklungen – Brennpunkte – Praxis, Paderborn/Leipzig 2017, S. 125 – 146, hier: 133. Kappes verweist auf das Trienter Konzil, das „Sakramente als Heilszeichen, als Orte der unmittelbaren Zuwendung Gottes zum gläubigen Menschen an bestimmten krisen- und Wendepunkten seines Lebens“ bezeichne. 24 Faber, Baptismale Ökumene, S. 117 – 118. Spezifisch zur volkskirchlichen Relevanz der Taufe vgl. Haspel, Einstimmen in die Kommunikation, S. 396. 397 – 400. 25 Calvin, Johannes: Unterricht in der christlichen Religion / Institutio christianae religionis, nach der letzten Aufl. übers. und bearb. von Otto Weber, Neukirchen 1955, 5. Aufl. 1988, 23
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Um diesen ekklesialen Aspekt der Taufe soll es in diesem Abschnitt gehen. In ihm lassen sich traditionelle Topoi der Tauftheologie neu miteinander verbinden. Ich denke dabei etwa an den Aspekt der „Übereignung (des Täuflings) an Christus“ sowie an den der Sündenvergebung und damit an die „reinigende Funktion“ der Taufe. Im Grunde ist im vorangehenden Abschnitt schon Wesentliches gesagt worden im Zusammenhang mit dem Herrschaftswechsel und der Anteilhabe an der Auferstehungswirklichkeit Christi. Sündenvergebung erscheint hier als ein Beziehungsgeschehen,26 das in der spezifischen Form des gemeinsamen Unterwegsseins in der Christusgemeinschaft der Gemeinde stattfindet. Nicht zur besonderen moralischen oder kultischen Vollkommenheit führt Sündenvergebung, sondern zur Möglichkeit, sich der Gegenwart Gottes auch in der Erfahrung der Zerbrochenheit des Lebens vergewissern zu dürfen im Leben und Mitleben mit anderen. Insofern ist die Taufe ein Akt der Neukonstitution der Person des Täuflings (Pannenberg).27 Martin Hailer macht darauf aufmerksam, dass Luthers spätere Tauflehre in diesem Sinne gegen sog. schwärmerische Innerlichkeitskonzeptionen andachte. Im Unterschied zur früheren Konzeption war ihm deshalb jetzt die sakramentale Funktion des Wassers wichtig: als Dramatisierung dessen, dass hier etwas von Gott von außen hinzugegeben wird, was nicht schon im Innern der Menschen vorhanden sei.28 Es muss aber wohl gesagt werden, dass Luther dennoch Taufe weitgehend als ein Geschehen zwischen dem Individuum Täufling und Gott ins Auge fasst, in der späteren Tauflehre noch stärker als in der früheren, in der immerhin die Paten noch eine stärkere Funktion hatten. Das hat sicher dazu geführt, dass die heilsindividualistischen Tendenzen abendländischer Tauflehre auch von der lutherischen Reformation noch nicht überwunden wurden. Erst durch die Ökumene des 20. Jahrhunderts lernten auch die lutherischen Kirchen, Taufe als ein Geschehen der gesamten Christusgemeinschaft – konkret der Gemeinde, einschließlich der Tauffamilie –, wahrzunehmen. Das Lima-Dokument zur Taufe versteht es daher als ein „gebrochenes Zeugnis der Kirche“, dass Kirchen auch im Falle einer gegenseitigen Anerkennung der Taufe noch weiter getrennt blieben.29 IV, 15,19, S. 909. Vgl. auch die Genfer Gottesdienstordnung von 1542: „Weil die Taufe eine feierliche Aufnahme in die Kirche ist, soll sie in der Gegenwart der Gemeinde geschehen.“, vgl. Calvin, La forme des pières et chants ecclésiastiques: Ioannis Calvini Opera quae supersund omnia VI, CR 34, S. 185. Beide Zitat-Angaben verdanke ich dem o.g. Aufsatz von Eva-Maria Faber. 26 Man könnte noch hinzufügen, dass sich in diesem Initiationsgeschehen eine ähnliche Aufnahme des Aspektes der Reinigung und der Sündenvergebung vollzieht wie biblisch, wenn die Johannestaufe in der Christustaufe aufgehoben wird. 27 Vgl. Pannenberg, Wolfhart: Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 268. 28 Vgl. Hailer, Taufanerkennung, S. 166. 29 Vgl. Lima-Dokument, Taufe, Abschnitt 6. Vgl. dazu Heller, Dagmar: Die Taufe und die Ökumene. Eine Bilanz der weltweiten Diskussion, in: ÖR 68 (2019), Heft 4, S. 413 – 425, hier: 414.
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Allerdings gab es in der frühen Tauflehre Luthers eine Chance: Noch 1520 erklärte Luther bekanntlich, die Säuglinge würden auf den Glauben und das Bekenntnis der Paten hin getauft.30 Die Funktion von Eltern und Paten kann man hier durchaus als einen empirischen Reflex auf die Erfahrung der Glaubensentwicklung im christlichen Leben überhaupt verstehen, die sich ja nicht isoliert von anderen Menschen vollzieht und durch die die Beziehung des jungen Menschen zur christlichen Weltdeutungsperspektive erst wachsen und gedeihen kann. In einem Verständnis des Taufgottesdienstes als dramatisierter Heilsgeschichte können die Paten als Repräsentanten aller derjenigen gelten, die für den Weg der Glaubensentwicklung des Täuflings bedeutsam werden müssen. Sie dienen insofern auch als Aufforderung an die ganze Gemeinde, sich dieser Aufgabe eines jeden Christenmenschen bewusst zu sein: mitzugehen mit den Mitmenschen in ihrem Ringen um die Gewissheit von Gottes Gegenwart und ihnen in diesem Mitgehen Bruder und Schwester zu sein in dem Prozess, den man Glaubensentwicklung nennen kann – Begleitung zu sein im Hineinwachsen in die Christusperspektive, Ermutigung zum Mitgehen. Es wäre die vornehmliche Aufgabe der Taufkatechese, Orte dieses Mitgehens zu gestalten, der Begegnung und der Kommunikation. Gerade dieser Aspekt der Glaubensentwicklung mag ja auch in vielen Täuferkirchen zu kurz kommen, wenn das Glaubensbekenntnis des Täuflings als punktuell mögliche Entscheidung isoliert vom soziomorphen Umfeld als eine Bedingung missverstanden wird, um die Wirklichkeit der Erneuerung des Lebens im Bund Gottes zu erfahren. Versteht man Taufe in diesem Sinne als Gemeindegeschehen, so wäre auch Taufgedächtnis und die traditionelle Verbindung der Übereignung an Christus als Umkehr und Buße nicht etwas, was ihn/sie allein betrifft. Umkehr und Buße werden Getauften immer wieder zugemutet, wenn sie in Erfahrungen von Trennung und Verletzung durch Tod zum Leben kommen müssen, sei es schuldhaft, sei es als Opfer von Gewalt und an Katastrophen Leidende. Es wird ihnen zugemutet, aber immer auch in Mitverantwortung der Gemeinde bzw. von allen anderen Christenmenschen in der universalen Kirche, die in Aufmerksamkeit auf die Zerbrechlichkeiten des Lebens sich gegenseitig stärken, trösten und ermutigen in der Bitte um die Konkretisierung des Heilswirkens Gottes. Versteht man den Sinn der Sündenvergebung so als eine umkehrende Hinwendung bzw. Ermöglichung eines Lebens in der Gottesbeziehung, so kann auch die „reinigende“ Funktion der Taufe stärker als eine Segenserfahrung wahrgenommen werden: Wenn das eigene Leben, in der Gott-Perspektive wahrgenommen, interpretiert und gestaltet, inmitten seiner Zerbrechlichkeit Gelingendes zeigt, wenn Visionen von Gerechtigkeit Gestalt annehmen, wenn Versöhnung geschieht und Vergebung erfolgt, obwohl all dies doch alles andere als selbstverständlich ist, und wenn dies alles erkennbar wird als Heilswirken Gottes in der Errichtung seines Reiches – 30 Vgl. Luther, Martin: De captivitate Babylonica ecclesiae, in: WA 6, S. 497 – 573, hier: 538,4 – 7. Vgl. Karl–Heinz zur Mühlen zur „fides aliena“ bei Luther: zur Mühlen, Karl–Heinz: Art. Taufe V. Reformationszeit, TRE 32 (2001), S. 703.
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dann kann man das auch sich gegenseitig als eine Konsequenz der Taufe als Geschenk der Anteilhabe an der Gegenwart Christi verstehen lehren. Taufkatechese wäre so verstanden stetige Interpretation und Gestaltung des eigenen Lebens in der Gott-Perspektive – eine Aufgabe, die sich im ökumenischen Miteinander besonders eindrücklich erleben lässt. Die Einsicht der ökumenischen Dialoge,31 Taufe sei als Anfang eines von Gott zugesprochenen Weges zu verstehen, den Christen und Christinnen im Taufakt wiederum miteinander zu gehen sich versprechen, lebt somit letztlich von der Einsicht in die soziomorphe Gestalt des Glaubens und auch der Taufe. Kontroverstheologische Engführungen in ein Entweder–Oder von persönlichem Bekenntnis und angeblich unbeteiligtem Empfangen der Gabe der Taufe können so als abstrakte Typisierungen entlarvt werden. Dazu gehört wohl auch eine Diskussion darüber, ob die Konfirmation in den evangelischen Landeskirchen wirklich als „Abschluss“ des als Initiation in das Glaubensleben verstandenen Taufakt verstanden werden solle oder nicht besser, wie Michael Haspel vorschlägt, als „sowohl ein spiritueller als auch ein wichtiger Passage- bzw. Schwellenritus.“32 Zur Vermeidung dieser Abstraktionen wäre auch die Einsicht in die eschatologische Dimension der Taufe hilfreich. Auch sie lässt sich aus dem ökumenischen Diskurs entnehmen. Schon im Lima-Dokument wird die Taufe mit Eph 2,6 als „Zeichen des Reiches Gottes“ gesehen, als „Teilhabe am Reich Gottes und am Leben der kommenden Welt.“33 Die täuferischen Kirchen verankern in dieser eschatologischen Vision ihr Nachfolge-Engagement – besonders deutlich ist das im „soziomorphen“ Friedensengagement der Mennoniten. Aber man kann auch die katholische Bemühung um eine Ökumene des Lebens,34 die sich bis in Dokumente des 2. Vatikanums zurückverfolgen lässt, im Rahmen eines eschatologischen Taufverständnisses sehen. Es setzt an der Verbundenheit der Getauften durch den gelebten Glauben an35 – an ihrem Unterwegssein in der Gestaltung des Lebens in der Gott-Perspektive. Als solche, als bewusst um Lebensgestaltung in der Christus-Nachfolge ringende und darum bittende, werden sie zum Zeichen des Reiches Gottes. Was ihr Gläubigsein dabei betrifft, darf man dabei ruhig mit Ralf Miggelbrink die „das katholische Denken ins-
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Als Einblick in die jüngere Diskussion vgl. das Themenheft der Ökumenischen Rundschau „Taufverständnisse – kirchentrennend? In: ÖR 68 (2019), Heft 4, insbesondere die ökumenischen Beiträge zu den trilateralen – lutherisch, mennonitisch und römisch-katholischen – Gesprächen über die Taufe 2012 – 2017 von William Henn, Fernando Enns und Friederike Nüssel, S. 441 – 481. 32 Haspel, Einstimmen in die Kommunikation, S. 397. 33 Lima-Dokument, Taufe, Abschnitt 7. Vgl. dazu Enns, Die gegenseitige Anerkennung, S. 138. 34 Vgl. dazu den Tagungsband der Societas Oecumenica: Ökumene des Lebens als Herausforderung der wissenschaftlichen Theologie / Ecumenism of Life as a Challenge for Academic Theology (BÖR 82), Frankfurt a. M. 2008. 35 Vgl. Faber, Baptismale Ökumene, S. 110.
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gesamt durchziehende Wachstumsvorstellung“ hinzudenken:36 Die katholische Theologie versteht den konkreten Taufakt am individuellen Täufling und die Möglichkeit des gottesdienstlichen persönlichen Taufgedächtnisses als ein Angebot Gottes, dieses Wachsen im Glauben und in den Verstehensprozess des Lebens für sein eigenes individuelles Leben zu konkretisieren und existentiell zu vergewissern. Das ist ja wohl überhaupt der Sinn von kirchlichen Sakramenten. Taufe und Gedächtnis des/der Einzelnen werden darin eingebettet in die Gemeinschaft der Kirche und in ihrem eschatologischen Unterwegssein erfahren. Der Glaube des/der Einzelnen ist immer unvollständig, auch wenn er/sie in der Firmung das eigene persönliche Bekenntnis zu sprechen in der Lage ist. Kirche repräsentiert den vollständigen Glauben als Glaube der Kirche als ganzer.37 Hier liegen durchaus ökumenische Differenzen. Es scheint in katholischer Lehre nicht immer deutlich, dass dies keine empirisch-deskriptive Aussage sein kann, sondern eine doxologische: Die Kirche wird in katholischer Sicht verstanden als die Sichtbarkeit der Zusage Gottes, die Bitte der stets unvollständig Glaubenden auf „Hilfe in ihrem Unglauben“ zu erhören.38 Evangelische würden dies nicht gern an der sichtbaren Gestalt der Kirche festmachen wollen, sondern da doch lieber auf die Nicht-Sichtbarkeit der „geglaubten“ im Unterschied zur „erfahrenen“ Kirche (Wolfgang Huber) verweisen.39 Sie könnten aber sehr wohl Taufkatechese (ebenso wie Taufgedächtnis-Feiern) verstehen als eine gemeinschaftlich vorzunehmende stetige Vergewisserung des Angebotes Gottes, die Wirklichkeit in seinem Sinne zu interpretieren und miteinander zu gestalten. Die Taufe eines Säuglings kann dann auch hier im „Vorgriff auf den Glauben, der noch wachsen muss“40 (Ralf Miggelbrink) geschehen. Gibt es freilich für eine Realisierung einer solchen Wachstumsgemein-
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Miggelbrink, Ralf: Katholisches Taufverständnis und Ökumene, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 12 (2007), S. 192 – 201, hier: 194 – 195: „Das geistliche Leben, die liebevolle Beziehung zu Gott, der Glaube also in einem qualifizierten Sinn werden begriffen als in der Lebenszeit von Christinnen und Christen fortwährend sich erweiternde, differenzierende und kräftigende Subjektqualifikation.“ 37 Dies ist evangelischerseits nicht entscheidend anders. Vgl. z. B. Axt-Piscalar, Christine: Die Bedeutung der Taufe für das ganze Leben des Christenmenschen, in: Taufe und Kirchenzugehörigkeit. Zum theologischen Sinn der Taufe, ihrer ekklesiologischen und kirchenrechtlichen Bedeutung. Im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hrsg. von dies. und Claas Cordemann, Leipzig 2017, S. 19 – 45, hier: 21 – 22. Vgl. außerdem zur spezifisch volkskirchlichen Situation Haspel, Einstimmen in die Kommunikation. 38 Vgl. Mk 9,24 und zum gesamten Problem Link-Wieczorek, Ulrike/Swarat, Uwe (Hrsg.): Die Frage nach Gott heute. Ökumenische Impulse zum Gespräch mit dem „Neuen Atheismus“. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA), Leipzig 2017, Teil I: Die Studie, 76 – 77: Glaubensgewissheit und Zweifel. 39 Vgl. Huber, Wolfgang: Kirche, Stuttgart/Berlin 1979, S. 43. Huber verweist hier auf Marsch, Wolf-Dieter: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970, ohne Seitenangabe. 40 Miggelbrink, Katholisches Taufverständnis, S. 198.
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schaft überhaupt keine Chance in der Gegenwart, so wäre es wohl auch evangelischen Pastoren und Pastorinnen anzuraten, auf einen Taufaufschub hinzuwirken.41 Auf der anderen Seite ließe sich mit einem kommunalen Taufverständnis die Praxis in vielen Entbindungskrankenhäusern, frühgeborene Babies, die vielleicht nicht überleben werden, im Kreise von Angehörigen zu taufen, weit eher rechtfertigen als mit einem rein auf das Individuum des Täuflings bezogenen Akt. Denn hier wird deutlich, dass die Taufvergewisserung auch den Eltern und Angehörigen dient, deren Vision eines neuen gemeinsamen Lebens mit dem Neugeborenen zerstört wird. Und vielleicht ist jedes Sakrament und jede Weise der Gottesvergegenwärtigung ja letztlich ein Kampf gegen die drohende Verzweiflung in der Theodiezeefrage. Das Beispiel verdeutlicht auch, inwiefern die Taufe als dramatisiertes Bittgebet verstanden werden kann, in dem die Angehörigen das Baby in Gottes Hände geben und im wahrsten Sinne des Wortes loslassen – so wie unsere Bitten im Gebet in Gottes Willen entlassen und unserer ängstigenden Verfügung gnädig entzogen werden. Kann das nicht tatsächlich eine sinnvolle Beschreibung des Taufgeschehens sein? Ich komme damit zum letzten Abschnitt: IV. Taufe als Bittgebet? Die bisherigen Überlegungen zum prozessualen und kommunalen Charakter des Taufgeschehens stellen uns ein sozial-komplexes Geschehen vor Augen, bei dem die konkret erfahrbare Dimension menschlichen Handelns die des Taufbegehrens, des Taufempfangens und der durchaus aktiven Taufvergewisserung sind, an dem stets mehrere Menschen beteiligt sind und das doch umfangen ist von der vorausgesetzten Priorität des Handelns Gottes. Eben wegen dieser Priorität können Kausalitätsaussagen über eine zeitliche Reihenfolge des Geschehens hier eigentlich nur getroffen werden, wenn sie als Zeichen in ihrer Aussagerichtung auf die Priorität Gottes hin, nicht jedoch als beschreibungsfähiges Verstehen des Geschehens genommen werden. Der Erlanger Systematiker Friedrich Mildenberger hat dies in einem kleinen Aufsatz zum Sakramentsverständnis anhand der Frage, ob Gottes Zeit identisch ist mit der Zeit der Sakramente Feiernden, bearbeitet.42 Seine Antwort ist: nein, wiewohl natürlich die Zeit der Feiernden bezogen ist auf die Zeit Gottes. Die Zeit Gottes (und damit auch sein Handeln) ist uns zugänglich als erzählte Zeit und als solche gibt sie dem Taufhandeln Bedeutung. Darum schlägt Mildenberger einen – ich würde sagen: schweren – Metaphernbegriff vor, um die (gottgeschaffene, U.L.-W.) Verbun41
Vgl. auch ebd., S. 199: „Wo das Hineinwachsen in die volkskirchlich strukturierte Glaubenswelt jedoch nicht mehr gelingt, stellt sich für die katholische Kirche der Gegenwart verschärft die Aufgabe, Erwachsene auf die Taufe vorbereiten zu sollen.“ 42 Vgl. Mildenberger, Friedrich: Das Sakrament als „Metapher“, in: Bernhardt, Reinhold/ Link-Wieczorek, Ulrike (Hrsg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur (FS für Dietrich Ritschl), Göttingen 1999, S. 153 – 163.
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denheit, jedoch Nicht-Identität der Zeiten zu betonen.43 Deswegen ist das Sakrament ein Mysterium.44 Man kann vielleicht sagen, dass das von Mildenberger in ihm eigener Originalität behandelte Problem der eigenartigen Identität von Gottes- und Menschenhandeln der Kern der zwischenkirchlichen Differenzen im Verständnis der Taufe ist. Wenn Luther im Kleinen Katechismus sagt, die Taufe bewirke Sündenvergebung, Erlösung und ewige Seligkeit,45 so fragt sich doch, ob damit nicht doch das eigentlich auch hier steuernde Credo, dass es Gott bzw. Christus und sein Geist sind, die dies alles bewirken, verdunkelt wird. Dasselbe Problem mag freilich auch entstehen, wenn die Wirksamkeit der Taufe vom Bekenntnis des Getauften abhängig zu sein scheint. Mildenbergers Idee setzt an diesem Problem an. Wir kennen aber diese Eigentümlichkeit von Kausalitätsaussagen im Reden von Gott eigentlich schon lange bevor wir über die Taufe nachgedacht haben: Wir kennen sie schon aus dem Gebet.46 Gerade diese Form des menschlichen Handelns scheint zunächst klar trennbar zu sein vom Handeln Gottes – menschliches Worte-Richten an Gott. Mensch spricht, Gott hört und erhört. So einfach? So einfach eben nicht. Denn auch im Gebet hat Gott selbst seinen Geist mit ins Spiel gebracht – er gibt angeblich, so Röm 8,26, sogar die Worte, mit denen wir beten. Weder also ist das Sakrament der Taufe als Gabe Gottes ohne Empfangens-Aktivität der Getauften zu denken – das wurde im prozessualen und kommunalen Aspekt deutlich –, noch ist das Gebet einfach als eine Form der Antwort der Gläubigen zu verstehen, die losgelöst zu sehen wäre vom schon vorauslaufenden Zusprechen Gottes.47 Das Bekenntnis des Glaubens als Bedingung für die Taufe zu verstehen ist keine Alternative zu ihrem Verständnis als Gabe Gottes, und so ist auch die Bitte um die Taufe, die wir im Taufbe43
Mildenberger will „die Richtung des traditionellen Denkens“ umkehren, und das heißt: „Darum spreche ich vom Sakrament als ,Metapher‘. Die ,res‘ des Sakraments ist die Feier, das diese res in ihrer Bedeutung kennzeichnende ,signum‘ ist die erzählte Gotteszeit. Das Schwebende der metaphorischen Prädikation ist dabei charakteristisch: der präzidierte Sachverhalt ist und ist zugleich nicht das, was der metaphorische Ausdruck bedeutet. Der Getaufte (sic) ist und ist nicht Christus; er ist und ist nicht durch die Taufe begraben. […]“, ebd., S. 162. Vgl. zum Thema auch Faber, Eva-Maria: Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt 2002, S. 55 – 59: „Kap. 4: Die Zeitdimension des Sakraments“. 44 Zum Begriff vgl. Kappes, Sakramente, S. 126 – 127. 45 Vgl. Luther, Martin: Kleiner Katechismus, in: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, hrsg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD vom Lutherischen Kirchenamt, bearb. von Horst Pöhlmann, Gütersloh 1986, 3. erw. Auflage 1991, S. 572 – 578, hier bes. 573, Abschnitt 555, vgl. dazu AxtPiscalar, Die Bedeutung der Taufe, S. 39. 46 Vgl. zum Folgenden auch meinen Beitrag: Link-Wieczorek, Ulrike: Zu dem sprechen wir? Gedanken zum Gebetsverständnis heute, in: Link-Wieczorek/Swarat, Die Frage nach Gott heute, S. 386 – 409. Ich danke meiner langjährigen DÖSTA-Gefährtin Dorothea Sattler, die mich „nicht nachlassend in der Hoffnung“ zum Verfassen dieses Beitrages ermutigt hat! 47 Vgl. dazu den Abschnitt im Studiendokument des DÖSTA „Gebet als Vergewisserung des Zuvorgekommenseins Gottes“, einschließlich der dazugehörenden Anm. 70, die den Begriff „Zuvorgekommensein Gottes“ erläutert, in: Link-Wieczorek/Swarat (Hrsg.), Die Frage nach Gott heute, S. 86 – 88.
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gehren ja konkret hören und die wir im Taufakt dramatisieren, nicht loszulösen von ihrem Empfang – auch wenn wir dies jeweils empirisch in einer bestimmten zeitlichen Abfolge zu erfahren scheinen. Vor allem sehe ich keinen einleuchtenden theologischen Grund, das Bekenntnis des Glaubens oder die Entscheidung zur Taufe gegenüber der Bitte um Anteilhabe an der Auferstehungswirklichkeit Christi zu privilegieren, wenn wir vom menschlichen Handlungsaspekt der Taufe sprechen wollen. Und das sollten wir tun in einer vornehmlich entchristlichten Welt, in der das komplexe Ineinander von göttlichem und menschlichem Handeln des Sakramentsbegriffs nicht mehr oder noch nicht unmissverständlich entschlüsselt wird. Ein Bittgebet wird gesprochen in der Gewissheit der Erhörung der Bitte in der Treue Gottes zu seiner Verheißung, aber auch in der Gewissheit, dass Gott selbst die Weise der Erhörung allein bestimmt.48 Die Taufe können wir in diesem Sinn als von Gott erwählten Ort der Zusicherung dieser Bitte verstehen – insofern Sakrament – doch ohne dass wir die Zusicherung damit im Griff hätten. Mit Ralf Miggelbrink kann man die Rolle der Paten und Patinnen im Taufakt insofern nicht nur als sichtbare Repräsentation (Ulrike Link-Wieczorek) der Kirche als ganzer, sondern ganz konkret als „begründete Hoffnung“ auf eine christliche Sozialisation sehen.49 Sie sind also Teil des dramatisierten Bittgebetes, in dessen Rahmen nicht nur die Säuglings-Taufe im „Vorgriff auf den Glauben, der noch wachsen muss“ stattfindet.50 In diesem Zusammenhang wäre auch die herausgehobene Rolle der Epiklese im Sakramentenleben der orthodoxen Kirche zu betonen.51 Wäre der Bittgebetscharakter wenigstens als ein tragendes Element im Taufverständnis bewusst, so wäre die Taufe weniger in Gefahr, als eine „zuhandene Habe“ (Gunther Wenz)52 des individuellen Täuflings missverstanden zu werden. Sie vollzieht sich in der Epiklese des Heiligen Geistes durch die gesamte Gemeinde. Der Gedanke hat den Charme, dass wir als Subjekt der Taufe weder allein den Täufling, noch allein Gott denken müssen. Die katholische Theologin Veronika Hoffmann hat in ihren Forschungen zur Theologie der Gabe vorgeschlagen, den Eindruck der Symmetrie in den Redeweisen von der Wechselseitigkeit von Gott und Mensch aufzuheben, indem man die Symmetrie eingetaucht sieht in eine sie umfassende Umarmung Gottes in der „Logik der Überfülle“ (Paul Ricoeur), in der erst die 48
Gedanken in diese Richtung finden sich schon in Schlink, Die Lehre von der Taufe, S. 132 – 133: „Indem die Kirche Kinder tauft, vertraut sie darauf, daß (sic) die Gebete, mit denen die Kinder zur Taufe herzugebracht werden und von denen ihr Heranwachsen umgeben sein wird, von Gott erhört werden. […]. Ganz unzweifelhaft aber ist es der Wille Gottes, seinen Heiligen Geist zu geben, wo auch immer darum gebetet wird. So dürfen Täufer, die Eltern und Paten mitsamt der Gemeinde im Vertrauen auf die Erlösung auf die Erhörung Gott ohne Unterlaß darum bitten, daß er den Täufling zur Buße und zum Glauben erwecke.“ 49 Vgl. Miggelbrink, Katholisches Taufverständnis, S. 197 – 198. 50 Ebd., S. 198. 51 Vgl. Kappes, Sakramente, S. 134 sowie Vletsis, Taufe, S. 325 – 326. 52 Wenz, Gunther: Einführung in die evangelische Sakramentenlehre, Darmstadt 1988, S. 209.
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„menschliche ,zweite‘ Gabe“ stattfinden kann, die von der nie zum Versiegen zu bringenden Überfülle Gottes ermöglicht wird. In der Gabe-Terminologie wäre das die Vorstellung eines von Gottes Gabe-Initiative umfassten Gabentausch-Geschehens zwischen Gott und Mensch sowie Mensch und Mensch. Auch die katholische Rede von der Mitwirkung im Gnadengeschehen der Rechtfertigung – wie auch die Tradition der Theologie der Heiligung im Methodismus sowie der Synergie in der Orthodoxie! – wäre so gegenüber einer schlichten, schnell in Bedingungsverhältnisse auslaufenden Symmetrievorstellung verständlicher.53 Bezüglich der Taufe erinnert dieser Vorschlag an die von Karl Barth vorgeschlagene Unterscheidung von Geisttaufe und Wassertaufe.54 Die Taufe wird als ein Geschehen der gesamten Gemeinde in Gottes Gegenwart sichtbar; alle haben auf je spezifische Weise in einer je spezifischen Perspektive Anteil an der Dramatisierung und am Erbitten von Gottes Gegenwart, das in christlicher Sicht durch die Dynamik Gottes selbst als eine solche entsteht – so wie der Heilige Geist der/dem Betenden erst die Worte gibt (Röm 8,26). Und alle, eben nicht nur der Täufling allein, werden sie Anteil haben am Empfangen des neuen Lebens aus der Gegenwart Gottes, das ihnen erneut wirksam gewiss werden mag, wenn sie dem Täufling zugesprochen wird. Darum ist jede Taufe gleichzeitig Taufgedächtnis. Alle gemeinsam hoffen sie doch, dass das so getaufte Kind oder der getaufte Erwachsene mit ihnen zusammen aus der neuen Wirklichkeit Gottes leben können werden. Die Aufforderung zu Buße und Umkehr, wie sie in traditioneller Tauftheologie eine große Rolle spielen, können nun als Ermutigung und Vergewisserung der Verantwortung aller für jedes einzelne Leben in der Gemeinschaft verstanden werden. Das ist nichts anderes als ein Leben, das auf die Verheißung Gottes, auf sein Versprechen, setzt, die nämlich darauf drängt, gelebte Hoffnung zu werden. Der katholische Theologe Jürgen Werbick hat dies in einem Festvortrag zum 60jährigen Bestehen des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses „Mitverantwortung für das Gute“ genannt.55
53 Hoffmann, Veronika: Rechtfertigung als Gabe der Anerkennung, in ÖR 60 (2011), Heft 2, S. 160 – 177, hier: 173; 174 – 175. 54 Vgl. dazu die referierende und reflektierende Darstellung bei Kerner, Wolfram: Gläubigentaufe und Säuglingstaufe. Studie zur Taufe und gegenseitigen Taufanerkennung in der neueren evangelischen Theologie, Norderstedt (Books on Demand) 2004, S. 87 – 116. 55 Werbick, Jürgen: Hoffnung für diese Welt auf eine neue Welt. Individuelle und/oder kosmische Eschatologie, in: Swarat, Uwe/Söding, Thomas (Hrsg.), Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch (Quaestiones Disputatiae 157), Freiburg 2013, S. 191 – 208, hier: 202. Vgl. auch meine Replik und Weiterführung seines Gedankens, an die ich hier anknüpfe: Link-Wieczorek, Ulrike: Vom Werden des Heils. Eine Replik auf Jürgen Werbick, in: ebd., S. 209 – 226, hier: 212 – 213.
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V. Resümee Das Verständnis von Taufe als Bittgebet ermöglicht, Taufe im Rahmen menschlicher Möglichkeiten des Mühens um die Vergewisserung von Gottes geschenkter Gegenwart zu sehen, in der Erfahrungen der Zerbrechlichkeit des Lebens in die Auferstehungswirklichkeit der Gottesbeziehung hineingetragen werden. Der kommunale Aspekt sieht dabei das Individuum des Täuflings verbunden mit der für-bittenden Gemeinde bzw. der universalen Kirche. Taufe als kommunales Geschehen innerhalb der Gemeinde verbindet mehrere Aspekte des Taufgeschehens miteinander: den Empfang der Gabe der wirksamen Gegenwart Gottes, ihre kommunale Gestalt in der Eingliederung in den Leib Christi und ihren prozessualen Charakter, weshalb die Gemeinschaft der Gläubigen in all ihren konkreten Manifestationen lebenslanger Ort der Taufe bleibt. Ich plädiere also für ein Taufverständnis, das das Taufgeschehen als Annahme der Einladung Gottes versteht, sich mit den übrigen Gott-Suchenden auf den Weg zu machen, auf die Auferstehungswirklichkeit Christi im eigenen Leben zu setzen. Sie ist insgesamt in den großen Rahmen der Eschatologie zu setzen und hat damit Anteil an der Beschreibung Eva-Maria Fabers für alle Sakramente: Sie sind „nicht Versuche, sich aus der noch unerlösten Welt schon in einen separaten Heilsbereich zurückzuziehen, sondern Stärkung, sich aus einer lebendigen christlichen Hoffnung heraus in dieser unerlösten Welt zu engagieren.“56 Dabei ist das Sich-Aufmachen nicht einfach als eine vom Wirken Gottes unabhängig gedachte menschliche Entscheidung allein, sondern bereits selbst als gelungenes Erwählungs-Wirken Gottes zu verstehen. Man könnte sagen: Karl Barths Verständnis der „Wassertaufe“ als Glaubens-Antwort sowie das Beharren der Erwachsenentaufenden Kirchen auf der Glaubensentscheidung können pneumatologisch vertieft erkannt werden als Taten Gottes. Und genau das passiert im Dialog der Europäischen Baptisten und Leuenberger Kirchengemeinschaft.57 Schon 1988 hatte der Lutheraner Gunther Wenz in seiner „Einführung in die evangelische Sakramentenlehre“ das Lima-Dokument rezipiert und auf den faktischen theologischen Erkenntnisgewinn hingewiesen, den man haben kann, wenn Säuglings- und Erwachsenentaufe beide in einer Kirchengemeinschaft praktiziert werden, wenn die Taufe also nicht in der Ausschließlichkeit der Typologie von „Gottes Handeln“ und „menschlichem Handeln“ verstanden wird: „Die Taufe von Kindern hält dem, welcher als Erwachsener die Taufe begehrt, vor Augen, dass auch er ,ohn all sein Verdienst und Würdigkeit‘ und in diesem Sinne durchaus als ein Kind die Taufe empfängt. Die Taufe von Erwachsenen aber erinnert jenen, der als Kind die
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Faber, Einführung in die katholische Sakramentenlehre, S. 59. Vgl. Der Anfang des christlichen Lebens und das Wesen der Kirche. Dialog Leuenberger Kirchengemeinschaft in Europa (GEKE) und Europäischer Baptistischer Föderation (EBF) (Leuenberger Texte 9), Frankfurt a. M. 2005, Kap. II, Taufverständnis, Abschnitt 1: Glaube. 57
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Taufe empfangen hat, daran, dass er auf bewussten Glauben hin getauft worden ist, die Gabe der Taufe hingegen verkannt wird, wenn man sie als zuhandene Habe missversteht.“58
Wo passieren diese Einsichten, die Wenz in der Folge des Lima-Dokumentes beschreibt? Doch wohl in allererster Linie während der Tauffeier im Gemeindegottesdienst, in dem beide Taufformen stattfinden und den unterschiedlich getaufte Gläubige zusammen feiern. Innerhalb eines Verständnisses von Taufe als gott-initiiertem Geschehen kann man dies als eine spezifische Wirkweise des Heiligen Geistes sehen, der die gesamte Gemeinde in das Taufgeschehen hineinzieht und den Prozess des Glaubens, sich an Gott und seine Geschichte mit den Menschen zu binden, regelrecht in Schwingung hält. Dazu gehört auch die Bitte der Gemeinde und der am Taufakt Beteiligten, Gott möge sein Versprechen der Aufnahme in seine begleitende Gegenwart auch jetzt wieder konkret erfüllen. Eine Bitte, die von der Erfüllung ausgeht, weil sie bereits eine von Gottes Versprechen ermöglichte Bitte ist. In diesem Sinne schlage ich vor, den Zusammenhang von Glaube und Taufe bescheidener und realistischer zu sehen. Das würde heißen: Eltern können für ihre Kinder wünschen, dass sie der Nähe Gottes gewiss sein können – sogar dann, wenn sie sich selbst ihrer nicht gewiss sind und/oder wenn sie selbst nicht die Taufe begehren können, weil ihnen selbst eine Erahnung eines Prozesses des Hineinwachsens verwehrt geblieben ist. Auch christliche Eltern leben ja nicht in einer permanenten Gewissheit der Nähe Gottes, sondern in einem Auf und Ab von Gottesgewissheit und Zweifel. Für die Praxis der Kirchen wird es entscheidend sein, wie es ihnen gelingt, das Angebot des Hinweinwachsens und des gemeinsamen Unterwegsseins im konkreten Einzelfall zu realisieren. Es wäre vor allem zu überlegen, wie die Funktion der Gemeinde in ihrer Taufverantwortung gestärkt werden könnte. Die Ephor:innen in Sachsen haben hier eine Gelegenheit zur Gemeindekatechese gesehen.
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Von der Systemrelevanz des Regelbruchs Warum Dissens wahrhaft katholisch ist und die Zukunft der Katholischen Kirche von der Wiederentdeckung dieser Wahrheit abhängt Von Johanna Rahner I. ,Brauchbare Illegalität‘: Einsichten aus der Organisationssoziologie „Organisationen brauchen Regeln, um berechenbar zu sein, zur situativen Anpassung[…] sind aber auch Regelbrüche nötig“1 – mit diesem kurzen Satz könnte man die Notwendigkeit von Pluralität, von Dissens, ja Nonkonformismus in den Kirchen aus organisationstheoretischer Perspektive zusammenfassen. In seinem Buch ,Brauchbare Illegalität‘ entwickelt und begründet Stefan Kühl die Idee dieses notwendigen Regelbruchs: „Organisationen müssen […] einerseits die Wirksamkeit des formalen Regelwerks sicherstellen, sind aber andererseits darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder zum Wohle der Organisation immer wieder von Regeln abweichen und Anweisungen ignorieren. Denn formale Regeln sind häufig zu rigide, um für jede Situation angemessen zu sein, und verlangen deswegen von der Organisation die Bereitschaft, Abweichungen zu dulden, durch die aber die Existenz der formalen Ordnung nicht grundlegend in Frage gestellt werden darf. In der Wissenschaft wird die für die Organisation funktionalen Regelabweichungen als ,brauchbare Illegalität‘ bezeichnet“2.
Unter „brauchbarer Illegalität“ versteht Kühl „nicht nur ein Verhalten bezeichnet, das gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch ein Verhalten, das formale Erwartungen in Organisationen – also die Gesetze der Organisation – verletzt“3. Freilich, so Kühl weiter, hängt genau davon in bestimmten Situationen die Funktionsund damit Überlebensfähigkeit von Organisationen ab: „Die Möglichkeit der Verletzung der formalen Ordnung ist geradezu Bedingung der Funktionsfähigkeit von Organisationen in einer widersprüchlichen Umwelt“.4 Es mag zunächst befremdlich erscheinen, über Kirche und Glaube in organisationssoziologischer Perspektive nachzudenken, indes lohnt sich ein ,Außenblick‘ da1 Kühl, Stefan: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen, Frankfurt/New York 2020, S. 2. 2 Ebd., S. 13. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 47.
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durch, dass er in der Regel dazu geeignet ist, gewohnte Sichtweisen auf ,allzu Bekanntes‘ zu irritieren und gerade dadurch Neues zum Vorschein zu bringen. So sind wir es innerhalb des ökumenischen Diskurses und mit ihm in der Ekklesiologie gewohnt, Prozesse der Pluralisierung, des Dissenses, gar des ,Regelbruchs‘ mit einem gewissen Argwohn zu betrachten, insbesondere dort, wo all dies zu Abgrenzungen und Spaltungen führt. Das im Gefolge der Reformation als Epochenbruch einsetzende Zeitalter der Konfessionalisierung wird in der Regel unter diesen Vorzeichen wahrgenommen und das zu Recht, zeigt die Konfessionalisierung doch durch Dynamiken von apologetischer Selbstverteidigung, identitätsstiftender Exklusion oder gar politischer Instrumentalisierung auf den ersten Blick ein grundlegend destruktives Potential. Der Versuch, all das auch als ,um der Sache willen‘ notwendige ,Regelabweichungen‘ zu verstehen, irritiert, erlaubt indes eine differenziertere Sicht auf das Phänomen von Pluralität und Diversität innerhalb und zwischen den christlichen Konfessionen und seine Auswirkungen. „Auffällig ist […], wie regelmäßig die Regeln in Organisationen gebrochen werden. Die Regelabweichungen sind so stark in der Organisation verankert, dass Organisationsmitglieder informale Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind zentraler Teil der Kultur von Organisationen. Bei aller üblichen Skandalisierung von Regelbrüchen und Gesetzesverstößen ist die Einsicht in die Funktionalität der Regelabweichung in Organisationen in der Praxis weit verbreitet. Wer es nicht glaubt, probiere in einer Art Krisenexperiment aus, über mehrere Tage bis ins Detail nur genau das zu tun, was von der Organisation vorgeschrieben ist“5.
Was wäre, wenn dieser Satz auch für die Glaubensgemeinschaft der Kirche gerade in ihren institutionellen Ausprägungen gelten würde? Und das insbesondere dann, wenn Glaube und Kirche durch sich verändernde Kontexte ,unter (Veränderungs-) Druck‘ geraten? „Wenn es stimmt, dass die Erwartungen an Organisationen volatiler, unsicherer, komplexer und ambiguer werden, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass formale Strukturen nicht geeignet sind, um auf diese Anforderungen zu reagieren. Organisationen geraten immer mehr in ein unauflösbares Spannungsfeld. Einerseits muss die Formalstruktur einer Organisation hohe Konsistenzanforderungen erfüllen, weil sich ansonsten das Verhalten der Mitglieder nicht ausrichten ließe. Andererseits lassen diese schnell wechselnden und widersprüchlichen Anforderungen es kaum noch zu, dass eine Organisation von einem klar definierten Zweck aus formal durchprogrammiert werden kann“6.
Diese Driften, insofern sie sich auch für die christlichen Konfessionen organisationssoziologisch und damit institutionell und strukturell tatsächlich als unvermeidlich erweisen, führen in ekklesiologischer Perspektive zu einer doppelten Konsequenz: Zum einen zwingen sie zu einem veränderten Blick auf die Konfessionsgeschichte, zum anderen nötigen sie dazu, die eigenen konfessionellen Identitätsprozesse, samt der damit stets verbundenen konfessionalistischen Driften, (selbst-) 5 6
Ebd., S. 14. Ebd., S. 46.
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kritisch in den Blick zu nehmen. Aus der Fülle möglicher Anwendungsfragen soll im Folgenden die jüngere Geschichte der Katholischen Kirche näher in den Blick genommen werden. II. Ambiguitätsintoleranz: Von der Stilllegung der Pluralität des Katholischen 1. ,Tribal Ecclesiology‘ und die ,Invention of Tradition‘ Ein Blick in die Geschichte der Katholischen Kirche nach der Reformation macht bereits auf das Entscheidende aufmerksam: Die Konkurrenz der Konfessionen im gleichen geographischen Raum zwingt dazu, das Eigene exklusiv zu bestimmen, es zu normieren und zu uniformieren7. Die Pluralität im Eigenen, wie es zum Beispiel noch gute Tradition in der mittelalterlichen Kirche war, wird im konfessionellen Zeitalter zu einer Einheitsidentität und -ideologie reduziert. Konfessionelle Identität wird zur Gruppenidentität, das kirchliche Selbstverständnis definiert sich als ,tribal ecclesiology‘8, die keine Binnendifferenzierung mehr zuzulassen wagt bzw. ein autoritativ streng reguliertes, doktrinär monolithisches Einheitsverständnis nach innen wie nach außen forciert. Die Entwicklungen des 19. Jh. innerhalb der Katholischen Kirche sind ein beredtes Beispiel dafür. Blickt man auf diese Geschichte der Katholischen Kirche, legt sich die Diagnose nahe, dass im 19. Jh. eine systemische ,Häresie der Verdrängung‘9 sichtbar und wirksam geworden ist, die die Katholische Kirche bis heute epistemologisch so grundiert, dass ihrem ,langen Schatten‘ kaum zu entkommen ist.10 Denn wie kein anderes Jahrhundert hat gerade das ,lange 19. Jahrhundert‘ die katholische Kirche, ihre Strukturen, ihren Habitus und ihre Denkform von Grund
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Wer sich einmal die intellektuelle Vielfalt und das breite Spektrum der mittelalterlichscholastischen Rechtfertigungs- und Gnadentraktate ansieht, wird erkennen, welchen Verlust die allein abgrenzende Option des Trienter Konzils und in dessen Gefolge die theologische Verengung der Gegenreformation für das katholische Gnaden- und Rechtfertigungsverständnis bedeutete, von der Pluralität ekklesiologischer Konzeptionen ganz zu schweigen. Vieles, was für die Theologen des Mittelalters an Pluralität kirchlicher Strukturen wie theologischer Positionen selbstverständlich und an vielfältigen liturgischen Formen möglich war, ist durch den nachtridentischen Uniformitätszwang schlicht von der katholischen Weltbühne verschwunden, zum Schaden der Identität des Katholizismus! 8 Vgl. Haight, Roger: Christian Community in History, Vol. II: Comparative Ecclesiology, New York/London 2005, Vol. III: Ecclesial Existence, New York/London 2008, S. 3 – 5. 9 In Analogie zu Karl Rahners Diktum von der ,Häresie der Vergesslichkeit‘ – „Es gibt so etwas wie die Häresie der Vergesslichkeit, des Nichtbeachtens, des Aufsichberuhenlassens, die auch innerhalb der Kirche selbst in einem recht erheblichen Ausmaße möglich ist“ (Rahner, Karl: Sakramentale Grundlegung des Laienstandes in der Kirche, in: Sämtliche Werke 18, Freiburg 2003, S. 376); hier wird aber das aktive Moment des Verdrängens, Ausschließens, Indizierens in den Vordergrund gestellt. 10 Vgl. z. B. den signifikanten Titel von Neuner, Peter: Der lange Schatten des I. Vatikanums. Wie das Konzil die Kirche noch heute blockiert, Freiburg 2019.
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auf geprägt. Dieses Jahrhundert erscheint aus heutiger Perspektive als Schlüsselepoche. Die Idee einer stets gleichbleibenden, zu wahrenden ,Tradition‘, d. h. die Idee der Unveränderlichkeit von Kirche und Lehre – das ,semper idem‘ als entscheidendem, katholischen Identitätsmarker – hat ihren historischen Ankerpunkt in einer ideologischen Selbststilisierung der Katholischen Kirche des 19. Jh., die man selbst wiederum als Modernisierungsprozess und damit als Innovation bezeichnen kann.11 Sie ist eine Re-Aktion auf die als Gefährdung empfundenen (Um-)Brucherfahrungen der Moderne (Französische Revolution, Säkularisierung, Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Rechtsprinzipien [Religions-, Glaubens-, Gewissensfreiheit, Demokratie und ihre bürgerlichen Grundrechte]; demographische Umwälzungen des Industriezeitalters) und ist daher als eine zugleich moderne-affine wie modernitätsfeindliche Neukonstruktion des Katholischen zu verstehen. Diese Selbststilisierung zeichnet sich durch eine als programmatisch behauptete Innovationsintoleranz bzw. Innovationsverweigerung aus. Ein ausgeprägter, aufklärungsfeindlicher, ahistorischer ,Anti-Modernismus‘ wird zum selbstgewählten Markenzeichen der Katholischen Kirche. Dazu erfindet die Katholische Kirche des 19. Jh. in Abwehr einer „als modernistisch empfundenen Theorie von einer Dogmengeschichte“12 auf verschiedensten Felder eine ,feste‘, immer gleichbleibende und eindeutige ,Tradition‘ als Konstruktionsund Selektionsprozess, die letztlich nur dazu dient, sich gegen die Kontingenzerfahrungen der eigenen Lehre und Struktur abzuschotten und so deren Störungspotential wie auch das Mehrdeutigkeitspotential eines Plurals gar unterschiedlicher ,Traditionen‘ zu eliminieren. Die Katholische Kirche steht unter einem Vereindeutigungszwang und entwickelt eine ausgeprägte Ambiguitäts-Intoleranz. Für diesen Zweck wird in einem „papalistisch übersteigerten Traditionsverständnis die maßgebliche Autorität aus der Vergangenheit […] in die Gegenwart verlagert […]: ,la traditione sono io‘ (Pius IX.).“13 So etablierte sich z. B. ein ,tridentinischer Katholizismus‘ als Leitkultur, „auf dem zwar Trient draufstand, in dem aber der Papst drin war“14. Dabei handelt es sich um „eine der kühnsten Neuerungen“, die mit allen Grundprinzipien der klassischen Traditionsbildung und des klassischen Traditionsverständnisses bricht,15 die sie zugleich aber als die eigentliche Tradition (invention of tradition) dar11 Vgl. dazu Seewald, Michael: Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg 2019, bes. S. 49 – 66. 12 Vgl. Essen, Georg: Die Geschichte, die aus der Wahrheit kommt. Reflexionen zu einer innerkirchlichen Kultur der Innovationstoleranz, in: Damberg, Wilhelm/Sellmann, Matthias (Hrsg.), Die Theologie und ,das Neue‘. Perspektiven zum kreativen Zusammenhang von Innovation und Tradition, Freiburg 2015, S.176 Fn 11. 13 Ebd. 14 Wolf, Hubert: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020, S. 187. 15 Vgl. Rahner, Karl/Lehmann, Karl: Geschichtlichkeit der Vermittlung, in: SW Bd. 22/1a, Freiburg 2013, S. 112 im Rekurs auf Gerhard Ebelings Kritik am katholischen Verständnis
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stellt und so letztlich eine ideologiedurchtränkte Konstruktion von Tradition unter der ,Fassade eines Konservativismus‘, letztlich ,Geschichtspolitik‘ betreibt.16 Freiheit, Pluralität, Geschichtlichkeit oder gar Veränderlichkeit werden zu Abund Ausgrenzungsbegriffen gegenüber einer dem Eindeutigen, ja Identitären zugeneigten katholischen Selbstdefinition und einer sie flankierenden, d. h. mit immer neuen Ideen apologetisch absichernden Theologie. Überlieferung/Tradition stilisiert sich als ewig-unveränderliches depositum des ein für alle Mal Geoffenbarten, das nur noch von der zuständigen Autorität des Lehramts expliziert werden muss, und im Konfliktfall um der Eindeutigkeit willen von ebendiesem höchsten Lehramt mit der ihr allein zukommenden potestas autoritativ entschieden und unfehlbar festgelegt werden kann. 2. Die ,Neu-Erfindung‘ des Katholischen17 und die Desavouierung wissenschaftlicher Theologie Vieles, was auf den ersten Blick anmutet wie eine unverrückbare Grundsignatur des immer schon Katholischen (und sich daher häufig auch gerne mit dem Nimbus einer auf Ewigkeit ausgelegten, göttlich legitimierten Sakralinstitution umgibt) ist das Ergebnis dieser historischen Entwicklung, samt ihrer menschlichen, mitunter allzu-menschlichen Einflussnahmen. Und allzu Vieles aus dieser Kategorie war und ist eben nicht schon ,immer so‘, sondern entspringt letztlich einer apologetischen Grundhaltung,18 die zwar seit dem 16. Jh. konfessionell aufgeladen ist, aber – auch aufgrund der bewusst konfessionalistisch enggeführten (Re-)Inszenierungen – erst im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert durch eine sich explizit als „kompromisslosen Abwehrkampf gegen die Moderne“19 definierende katholische Selbststilisierung jene strukturelle Veränderungsdynamik in Gang setzt, deren Ergebnisse bis
von Dogmengeschichte: „Der modernistische, allgemeingeschichtliche Entwicklungsgedanke wurde übertrumpft durch den kirchengeschichtlichen Entwicklungsgedanken. Indem dieser kirchengeschichtliche Entwicklungsgedanke verkoppelt wurde mit der Unfehlbarkeitserklärung des Papstes, fand das Problem des Verhältnisses von Offenbarung und Geschichte eine grandiose Lösung. Der Traditionsbegriff wurde völlig gemeistert durch den papalistischen Kirchenbegriff, die maßgebende Autorität aus der Vergangenheit verlagert in die Gegenwart […]. Aus dem uminterpretierten Traditionsbegriff ist die prinzipielle Emanzipation von der Geschichte geworden“. 16 Seewald, Reform, S. 66. 17 Vgl. den Untertitel von Wolf, Der Unfehlbare. 18 Michael Seewald spricht hier anschaulich vom ,Bedrohungsnarrativ‘ (vgl. Seewald, Michael: Der Papst als Souverän und die Kirche als Gemeinschaft. Zur dogmatischen Weiterentwicklung des Ersten Vatikanischen Konzils, in: Knop Julia/Seewald Michael (Hrsg.), Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, S. 208, 210). 19 Wolf, Hubert: Plusquam ancilla theologiae. Was die Kirchengeschichte zu aktuellen Reformdebatten beitragen kann, in: ET Studies 10/1 (2019), S. 33.
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heute sichtbar sind, denn der Katholizismus, wie wir ihn heute kennen, ist eine ,Erfindung‘ eben dieses Jahrhunderts.20 Im Gegensatz zur nach außen hin gepflegten Selbststilisierung (,semper idem‘) ist diese Konstruktion des Katholischen selbst aber als ein – so Michael Seewald – als Tradition getarnter Innovationsversuch, als eine „Modernisierungserscheinung“, eine „im strategischen Sinne modernitätssensible Konstruktion des Lehrens“ zu verstehen,21 die „das Ziel hatte, die Lehre der Kirche in Form einer dogmatischen Lehre darzustellen, das heißt, sie entscheidungsförmig und autoritätssanktioniert vorzutragen“22, und somit das strukturelle Gesamtgefüge von Kirche ebenso verändert wie ihr doktrinäres Selbstverständnis. Denn in der Folge haben wir es mit einer Verrechtlichung der Theologie zu tun, die an die Stelle der Bezeugung der Wahrheit tritt. Das Dogma wird als ,entscheidungsförmige Darstellung kirchlicher Lehre‘ verstanden und das Lehramt der Kirche ist durch eine juridische anstelle einer epistemischen Autorität gekennzeichnet, d. h., äußerer Gehorsam und hierarchisch organisierte Machtstrukturen treten an die Stelle von innerer Einsicht, argumentativer Absicherung und Begründungsleistung, der vernünftigen Durchdringung und kognitiven Hilfeleistung.23 Diese Entwicklungen verabschieden die eigentlich ,typisch katholische‘ Fähigkeit zur Ambivalenz und die sie bisher auszeichnende Ambiguitätstoleranz (Exklusivpartikel [solus/sola] waren eigentlich nie katholisch, sondern immer das ,et … et‘) auf allen Ebenen. Sie legen die einer solchen Ambiguitätstoleranz zugrundeliegende Fähigkeit zur Selbstkritik ebenso still wie eine auf die Einsicht in die eigene Lernfähigkeit beruhende Bereitschaft zur Autokorrektur, und zeichnen sich daher durch eine mangelnde Fehlertoleranz aus.24 Sie sichern das Ganze durch eine monarchischständische Ordnung ab, die zugleich als Sakralinstitution theologisch überhöht wird. „Das Lehramt […] versteht seinen Dienst am Glauben vor allem als Abwehr eines als bedrohlich wahrgenommenen Weltzustands […] Das Volk Gottes ist beständig ,von Verirrungen und Glaubensschwäche‘ bedroht, die das Lehramt aufgrund des privilegierten, göttlichen Beistandes, der ihm zuteil wird, nicht affizieren, Aus diesem Grund vermag das Lehramt, das sich in der Endgültigkeit des Heilswerkes Christi gegründet sieht, den Glauben objektiv, ursprünglich und irrtumsfrei in Gestalt von Propositionen vorzulegen.“25
20 Vgl. Wolf, Hubert: Die Erfindung des Katholizismus? Vom Nutzen und Nachteil des historiographischen Konzepts der ,invention of tradition‘ für die katholische Kirchengeschichtsschreibung, in: Krips, Katharina/Mokry, Stephan/Unterburger, Klaus (Hrsg.), Aufbruch in der Zeit. Kirchenreform und europäischer Katholizismus (Münchener Kirchenhistorische Studien. Neue Folge 10), Stuttgart 2020, S. 37 – 50. 21 Seewald, Reform, S. 49. 22 Ebd., S. 49 f. 23 Vgl. ebd., S. 67 ff. 24 Vgl. ebd., S. 72. 25 Ebd., S. 73.
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Dabei erweist sich gerade die autoritäre Stilllegung des Kritikpotentials der wissenschaftlichen Theologie, legitimiert durch die seit den 1830er Jahren zunehmenden Indizierungsverfahren und die Manipulation dieser Verfahren durch eine immer stärker dominierende theologische Schulrichtung, spätestens seit dem Breve ,Tuas libenter‘ Pius‘ IX. 1863, dann kirchenamtlich noch forciert, als fatal. Hier wird das „Konstrukt des ordentlichen Lehramts“26 dazu eingesetzt „um in die theorieund Methodenfreiheit der Theologie eingreifen zu können“27. So werden „die kreativen Freiräume [zugestellt], in denen die Theologie – und sei es […] im Modus eines risky thinking – ihre Problemlösungskompetenz ungehindert und innovativ entfalten kann“28. Das bleibt weder wissenssoziologisch noch akademisch folgenlos.29 Noch nachhaltiger erweist sich aber die gleichfalls damit verbundene, wiederum im Stil der ,invention of tradition‘ als angeblich ,alte Tradition‘ vorgebrachte,30 theologische Innovation, dass das Lehramt selbst „zum theologischen Akteur“ wird.31 Zu der damit verbundenen „Eigenlogik gehört, dass es die authentische Interpretation der verbindlichen Glaubenslehren seiner Doktrinalgewalt unterstellt. Die traditionelle Differenz zwischen Lehramt und Theologie entfällt nun auch in dem Sinne, dass das Lehramt sich anmaßt, selbst über die theologische Kompetenz der Glaubensinterpretation zu verfügen. Die Hermetik ist perfekt!“32. Denn das Lehramt bedarf der Theologie eigentlich nicht mehr: Es „betreibt seine eigene Theologie, pflegt seinen eigenen Umgang mit der Tradition und ist weithin immun gegenüber wissenschaftlich generierten Forschungsresultaten der Theologie.“33 Flankiert wird das Ganze durch zunehmend auch institutionell dominierende, an der Mittelalterverklärung der Romantik orientierte, supranaturalistisch-extrinsezistisch imprägnierte und einem thomistischen Integralismus frönende Neuscholastik – in ihrer strukturell-kurialen Monopolisierung lehramtlich nachhaltig gefördert –, die den Glauben und seine Traditionen in die ehernen Formeln eines geschichtsenthobenen, autoritativ abgesicherten Lehrsystems eines unveränderlichen, ewig gleichen depositum fidei gießt. Durch die interpretatorischen Filter der Neuscholastik wird inhaltlicher Dissens wie struktureller Regelbruch abgewertet, verdächtigt und 26 Zum Hintergrund vgl. Wolf, Hubert: Joseph Kleutgen, das Breve Tuas libenter (1865) und die Folgen für die Katholische Theologie, in: Bischof, Franz Xaver/Essen, Georg (Hrsg.), Theologie, kirchliches Lehramt und öffentliche Meinung. Die Münchner Gelehrtenversammlung von 1863 und ihre Folgen, Stuttgart 2015, S. 49 – 70. 27 Essen, Georg: ,Löscht den Geist nicht aus!‘ (1Thess 5,19). Die Kirchengeschichte als rückwärtsgewandte Prophetie, in: ET Studies 10/2 (2019), S. 313. 28 Ebd., S. 303. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Wolf, Joseph Kleutgen, S. 51. Nur „das feierliche Lehramt von Papst und Konzilien gehörte zur unumstrittenen Tradition der Kirche, das ordentliche Lehramt dagegen war eine ,Erfindung‘ von Tuas libenter. Bis dahin war von so etwas in römischen Dokumenten nie die Rede gewesen“ (ebd., S. 52). 31 Essen, ,Löscht den Geist nicht aus!‘, S. 313. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 315.
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– immer häufiger – auch indiziert. Sie schwingt sich zur ,Wächterin der Orthodoxie‘ auf; jeder Ansatz von Pluralität im Inneren, jeder Hauch von Veränderung wird nun als Gefährdung dieser ,wahrhaft katholischen‘ und ,immer gleichen‘ Identität verstanden, die gerade angesichts der sogenannten ,Zerfallserscheinungen‘ der zeitgenössischen Gesellschaft gestärkt und bewahrt werden muss und daher einzig auf Ausund Abgrenzung Andersdenkender setzen kann. Katholischer Nonkonformismus wird als die ,Wurzel allen Übels‘ auf allen Ebenen aufs Bitterste bekämpft. Das ist wiederum ein Grund, wieso das Lehramt und seine theologische Speerspitze, eine gut vernetzte Gruppe der jesuitischen Vertreter der Neuscholastik (insbesondere in Rom),34 seit den 1830er Jahren die strikte Monopolisierung einer bestimmten Schultradition samt Denunziation und Ausmerzung möglicher theologischer Alternativen ebenso aktiv wie rigoros betreiben.35 Das Instrument der (in der Regel bestimmte Positionen, die dem ,System‘ widersprechen, verurteilenden) Lehrenzyklika wird ausgebaut und die inflationären Indexverfahren wie ein sich zunehmend ausgeweitetes Denunziationssystem verändern das kirchenpolitische und theologische Klima nachhaltig und schädigen (nicht nur) die katholische Theologie.36 Je länger, je deutlicher wird indes spätestens seit den 1920er Jahren und verstärkt im Gefolge des II. Weltkriegs die zunehmende Dysfunktionalität eines solchen ,Systems‘ des Katholischen, sowohl in theologischer wie in institutioneller Hinsicht. Ohne einen grundlegenden System- d. h. Denkformwechsel kommt man aus den selbstverschuldeten Aporien nicht mehr heraus. 3. Von der Notwenigkeit der Wiederentdeckung des ,wahrhaft Katholischen‘ Das 19. Jh. hinterlässt für die Katholische Kirche nicht nur die Aufgabe, die verdrängten Alternativen wiederzuentdecken und so zu ihrem Recht kommen zu lassen, es wirft zugleich die Frage auf, wie ideologieanfällig und im Letzten aporetisch das etablierte System samt seiner epistemologischen Hermetik eigentlich ist. Das gilt insbesondere für eine kritische Sichtung jener Elemente, die im 19. Jh. bewusst ver34 Man stützt und instrumentalisiert sich gegenseitig (vgl. Bischof, Franz Xaver: Katholische Theologie zwischen Lagerbildung, Neuorientierung und Wissenschaftspathos des 19. Jahrhunderts. Döllingers Rede über Vergangenheit und Gegenwart der katholischen Theologie, in: ders./Essen, Georg (Hrsg.), Theologie, kirchliches Lehramt und öffentliche Meinung. Die Münchner Gelehrtenversammlung von 1863 und ihre Folgen, Stuttgart 2015, S. 37). 35 Vgl. bes. Wolf, Hubert (Hrsg.): Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1814 – 1917. Von Herman H. Schwedt unter Mitarbeit von Tobias Lagatz, 2 Bde. (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814 – 1917), Paderborn 2005; ders., Römische Bücherverbote. Edition der Bande von Inquisition und Indexkongregation 1814 – 1917. Auf der Basis von Vorarbeiten von Herman H. Schwedt bearbeitet von Judith Schepers und Dominik Burkard (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814 – 1917), Paderborn 2005; Unterburger, Klaus: Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste? Pius XI., die Apostolische Konstitution ,Deus scientiarum Dominus‘ und die Reform der Universitätstheologie, Freiburg 2010. 36 Vgl. Bischof, Katholische Theologie, S. 37 f.
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ändert bzw. neu konzipiert worden sind und in deutlicher Spannung zu den geschichtlich etablierten Kriterien katholischer Tradition stehen, denn post festum sehen wir heute, dass dieser Versuch letztlich gescheitert ist und erkennen auch, warum er gescheitert ist. Wir entdecken zugleich, was dieser Versuch gekostet hat und heute noch kostet. Daraus ergibt sich zugleich die Aufgabe einer notwendigen, kritischen ,relecture‘ all dieser Entwicklungen. Wie jedoch kann es gelingen, nonkonformistisches Denken, Pluralität und Dissens in ein System wiedereinzuführen, das eine ambiguitätsintolerante Uniformität als Identitätsmarker etabliert und institutionell abgesichert hat? Wenn in diesem Kontext ,Umkehr‘ keine Floskel für theologische Sonntagsreden sein soll, wird klar, dass „die […] Sprache der Umkehr […] unübersehbar auch die Momente des Bruches und des Sich-Distanzierens in Absage und Abkehr [enthält]. Dem entspricht die Wirklichkeit der Umkehr, die einen Einschnitt in einer (Lebens-)Geschichte darstellt und dazu führt, dass – schematisierend gezeichnet – eine Zeit ,vorher‘ und eine Zeit ,nachher‘ deutlich unterschieden werden kann“37. Kurz: Es geht nicht nur um oberflächliche Schönheitsreparaturen, sondern um einen substantiellen Umbau; eine grundlegende Neuorientierung des Ganzen. Dafür steht im identitätsgeschichtlichen Narrativ der Katholischen Kirche das Zweite Vatikanische Konzil. Den Konzilsvätern des Zweiten Vatikanischen Konzils war bewusst, dass es sich um eine notwenige und grundlegende Abkehr vom Alten zugunsten eines Neuen handelt. Auch wenn das Alte damit nicht einfach falsch ist, begründet das Neue sich in der Einsicht, dass veränderte Zeiten andere Antworten erwarten dürfen. Aggiornamento und ressourcement lauten die beiden Zauberworte des Konzils. Damit nimmt das Konzil gerade die eigene Geschichte ernst, indem es aus den Erfahrungen dieser Geschichte heraus die Dinge eben nicht einfach ,beim Alten‘ belassen kann, sondern fruchtbar weiterdenkt. Aus der Orientierung am Ursprung selbst gewinnen die konziliaren Reformimpulse ihre Dynamik. Diese Neuorientierung entscheidet letztlich über die Frage: Wie viel Kontinuität kann sein und wie viel Bruch muss sein, um sich in einer sich verändernden Welt wirklich treu bleiben zu können? Der australische Theologe Ormond Rush spricht hier zu Recht von der Unterscheidung von Makro- und Mikrozäsuren bzw. -brüchen,38 die hinsichtlich ihres Grundcharakters wie ihrer historischen Einordnung zu differenzieren sind. Solche ,Brüche‘ des Konzils kommen aber nicht aus der Not des Missbrauchs heraus, „they are, rather, a form of rapprochement between church and the existing order in the world“39. Diese ,pastorale Grundintention‘ des Konzils ist nicht einfach nur 37 Faber, Eva-Maria: Umkehr und Veränderungsbereitschaft als konstitutive Elemente des ökumenischen Weges, in: Stimmen der Zeit 230 (2012), S. 725. 38 Vgl. dazu auch Rush, Ormond: Still Interpretating Vatican II. Some Hermeneutical Principles, New York 2004, S. 22 ff.; zu den konkreten Beispielen vgl. O’Malley, John W.: The ,Hermeneutic of Reform‘, passim; ders., Vatican II: Did Anything Happen? In: TS 67 (2006), bes. S. 9 ff. 39 O’Malley, ,Hermeneutic of Reform‘, S. 538.
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eine Frage des (Sprach-)Stils,40 sondern sie hat grundlegende hermeneutische Konsequenzen. Dazu gehört auch und gerade die Perspektive des Vorangehens – weit über den einfachen ,Fortschritt im Verständnis der Glaubenslehre‘ hinaus! Denn die Aufmerksamkeit gegenüber einer sich verändernden Welt und ihren neuen Fragen erfordert neue Antworten. Die aber sind ohne neue Einsichten und ohne eine wirkliche Veränderung nicht möglich. Das Zweite Vatikanische Konzil zielt, so Roman Siebenrock, auf eine „grundlegende und durch alle, die Kirche sind, bewusst angenommene und zu vollziehende Wandlung aller Institutionen und Vollzüge, damit die Kirche fähig wird, das Evangelium in einer neuen Epoche der Menschheit noch verkünden zu können“41. Das impliziert zunächst die Notwendigkeit einer kritischen Revision der eigenen Tradition im Sinne einer notwendigen Kontextualisierung und damit ,Relativierung‘; hier: die Aufdeckung der Kontingenz der lehramtlichen Stellungnahmen des 19. Jh. im engen und verengenden Lebenskontext der europäischen (!) Geistes- und Kulturgeschichte. Hinzu kommt die notwendige Öffnung auf Lernprozesse der Kirche angesichts der ,Zeichen der Zeit‘. In ihrer eigenen Identitätsbestimmung erweist sich die Kirche hier als auf das ,Andere ihrer selbst‘ (andere Konfessionen, andere Religionen, die ,Gesellschaft‘, die ,Welt‘) im Sinne eines Korrektivs wie einer Orientierungsquelle angewiesen. Denn Kirche zeigt sich – das Grundprinzip der abduktiven Methode der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes – notwendig als lernende Kirche. Strukturell und organisationssoziologisch lernt sie gerade aus den ,demokratischen Lektionen‘ der Moderne, und die aktuellen Diskussionen um Reformen bzw. Reformfähigkeit der Katholischen Kirche zeigen, dass diese Prozesse bis heute nicht abgeschlossen sind. Dass dabei gerade die unterschiedlichen Teile der Weltkirche mit unterschiedlichen Erfahrungen aus einem unterschiedlichen Lebenskontext zu einem entscheidenden Orientierungspunkt werden, 40 Das freilich auch; vgl. dazu bes. O’Malley, Vatican II, S. 21 ff.; O’Malley bezeichnet die Sprachform als ,epideitic‘: „The epideictic genre is a form of the art of persuasion and thus of reconciliation. While it raises appreciation, it creates or fosters among those it addresses a realization that they all share (or should share) the same ideals and need to work together to achieve them. This genre reminds people of what they have in common rather than what might divide them, and the reminder motivates them to cooperate in enterprises for the common good, to work for a common cause. […] In order to persuade, persuaders need to establish an identity between themselves and their audience and to make them understand that they share the same concerns. […] The form prompts and enhances congruent content. It should come as no surprise that reconciliation has been one of the perennial themes of the epideictic genre“ (ebd. 26). Vgl. auch ebd., S. 27 – 29, die eindrucksvolle Analyse der Wortwahl des Konzils, mit dem Ergebnis: „…from commands to invitations, from laws to ideals, from threats to persuasion, from coercion to conscience, from monologue to conversation, from ruling to serving, from withdrawn to integrated, from vertical and top-down to horizontal, from exclusion to inclusion, from hostility to friendship, from static to changing, from passive acceptance to active engagement, from prescriptive to principled, from defined to open-ended, from behavior-modification to conversion of heart, from the dictates of law to the dictates of conscience, from external conformity to the joyful pursuit of holiness“ (ebd., S. 29). 41 Zitiert nach: Ruh, Ulrich: Mutige Weichenstellung. Ein theologischer Blick auf das II. Vatikanische Konzil, in: HerKorr 66 (2012), S. 562 f.
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indem sie die Notwendigkeit einer Kontextualisierung des Glaubens und der Lehre einfordern, wird als die entscheidende Wende des Konzils wahrgenommen, das sich damit als Konzil einer polyzentrischen Weltkirche erfährt und bestimmt.42 Die Katholische Kirche als polyzentrische Weltkirche entdeckt dabei die theologiegeschichtlichen Alternativen wieder, erweitert das Spektrum der Möglichkeiten und eröffnet so Wege der Selbstkritik und Autokorrektur. So sind es am Ende gerade diese weltkirchlichen ,Alternativen‘, die Pluralitätserfahrungen ermöglichen und eine zunehmende Ambiguitäts- und damit Innovationstoleranz eröffnen und das hermetische System eines uniformen Katholizismus von innen her aufsprengen. III. ,Brauchbare Illegalität‘ auf katholisch: Binnenpluralisierung und Nonkonformismus 1. Binnenpluralisierung „In der Tat nehmen die jungen Kirchen, verwurzelt in Christus, gebaut auf das Fundament der Apostel, nach Art der Heilsordnung der Fleischwerdung in diesen wunderbaren Tausch alle Schätze der Völker hinein, die Christus zum Erbe gegeben sind. Aus Brauchtum und Tradition ihrer Völker, aus Weisheit und Wissen, aus Kunststil und Fertigkeit entlehnen sie alles, was beitragen kann, die Ehre des Schöpfers zu preisen, die Gnade des Erlösers zu verherrlichen, das Christenleben recht zu gestalten.“ (AG 22)
Mit diesen Worten beginnt jene Passage des Missionsdekrets des II. Vatikanischen Konzils Ad Gentes, deren Potenzial bis heute ungeahnte Sprengkraft für das Selbstverständnis der Katholischen Kirche entwickelt und gerade angesichts der Herausforderung der späten Moderne noch lange nicht ausgeschöpft ist. Das hier vorausgesetzte Prinzip der Akkommodation oder Inkulturation – wie wir heute sagen würden – fordert das nachhaltig ein, was wir als Voraussetzung für das Bewusstwerden der Weltkirche im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils bezeichnen können. Christoph Theobald, deutscher Jesuit und in Frankreich lebender und arbeitender Theologe, gilt dies gar als der entscheidende Schlüssel zum Verständnis des Konzils. Diese Bewertung geht in eins mit jener öffentlichen Wahrnehmung des Konzils als Ereignis der Weltgeschichte, in dessen Wirkungshorizont wir alle bis heute stehen. 42 In konsequenter Weise führt Papst Franziskus diese Dynamik des Konzils fort: „Man darf nicht meinen, die Verkündigung des Evangeliums müsse immer mit bestimmten festen Formeln oder mit genauen Worten übermittelt werden, die einen absolut unveränderlichen Inhalt ausdrücken. Sie wird in so verschiedenen Formen weitergegeben, dass es unmöglich wäre, sie zu beschreiben oder aufzulisten“ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, Nr. 129). „Es würde der Logik der Inkarnation nicht gerecht, an ein monokulturelles und eintöniges Christentum zu denken. […] Darum kann man bei der Evangelisierung neuer Kulturen oder solcher, die die christliche Verkündigung noch nicht aufgenommen haben, darauf verzichten, zusammen mit dem Angebot des Evangeliums eine bestimmte Kulturform durchsetzen zu wollen, so schön und alt sie auch sein mag. Die Botschaft, die wir verkünden, weist immer irgendeine kulturelle Einkleidung vor, doch manchmal verfallen wir in der Kirche der selbstgefälligen Sakralisierung der eigenen Kultur“ (ebd. Nr. 117).
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Was bedeutet nun dieses ,Bewusstwerden‘ der Weltkirche? Wohl nicht zu Unrecht hat Franz-Xaver Kaufmann einmal die katholische Kirche als ältesten ,global-player‘ bezeichnet. Denn sie hat sich von Anfang an „unabhängig von territorialen Grenzen [definiert] und mit einem weltweiten Auftrag verstanden.“43 In diesem Sinn ist der Geist des Evangeliums immer ein ,Geist der Universalisierung‘.44 Indes zeigt gerade die Zweideutigkeit der Missionsgeschichte der Kirche die innere Doppeldeutigkeit dieses ,Hangs‘ zur Universalisierung auf: Die weltweite Mission der Kirche war über Jahrhunderte hinweg so verstanden worden, dass sie – so Karl Rahner – „das Tun einer Exportfirma war, die eine europäische Religion ohne eigentlich diese Ware verändern zu wollen, in alle Welt exportierte wie ihre sonstige sich überlegen haltende Kultur und Zivilisation“45. Darum haben auch die Worte Benedikts XVI. 2006 in Brasilien, als er davon sprach, dass die Völker Südamerikas von einer inneren Sehnsucht nach dem Christusereignis geprägt waren, angesichts der gewaltsamen Missionierungsgeschichte gerade dieses Kontinents zu Recht Aufsehen erregt und auch Widerspruch erfahren. Doch steckt wie immer in solchen Worten auch ein Körnchen Wahrheit. Denn dort, wo das Christentum sich wirklich inkulturiert hat und dabei das Vorhandene nicht vernichtet, sondern zur Vollendung bringt (frei nach dem Grundprinzip katholischer Gnadenlehre: ,Gratia praesupponit naturam, non destruit sed perficit‘ – die Gnade unterstützt die Natur, sie zerstört sie nicht, sondern sie vollendet sie), kann es auch als jene befreiende Botschaft erfahren werden, auf die alle Menschen in ihrem Innersten schon immer ausgerichtet sind. Dennoch ist zugleich einzugestehen, dass die Katholische Kirche lange, vielleicht allzu lange gezögert hat, den damit notwendig verbundenen Perspektivenwechsel wirklich zu vollziehen. ,Katholizität’ bestimmt sich angesichts dieser Dynamik nicht mehr vom Gedanken der Uniformität her, sondern von der Idee einer Gemeinschaft von Verschiedenen. Das hatte indes schon das Konzil so wahrgenommen: „Kraft dieser Katholizität bringen die einzelnen Teile ihre eigenen Gaben den übrigen Teilen und der ganzen Kirche hinzu, so daß das Ganze und die einzelnen Teile zunehmen aus allen, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken“ (LG 13). Dies öffnet den Raum für die Wahrnehmung und Wertschätzung von Verschiedenheit innerhalb dieser einen katholischen Kirche, wie dies gerade das Ökumenismusdekret im Blick auf die anderen Konfessionen nachdrücklich betont: „Alle in der Kirche sollen unter Wahrung der Einheit im Notwendigen je nach der Aufgabe eines jeden in den verschiedenen Formen des geistlichen Lebens und der äußeren Lebensgestaltung, in der Verschiedenheit der liturgischen Riten sowie der theologischen Ausarbeitung der Offenbarungswahrheit die gebührende Freiheit walten lassen, in allem aber die 43 Kaufmann, Franz Xaver: Globalisierung und Christentum, in: Hünermann, Peter (Hrsg.), Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung, Paderborn 1998, S. 21. 44 Vgl. Guggenberger, Wilhelm: Universale Kirche und neue Weltordnung, in: ZkTh 120 (1998), S. 421. 45 Rahner, Karl: Über eine theologische Grundinterpretation des II. Vatikanischen Konzils, in: Sämtliche Werke 21/1, Freiburg 2013, S. 971.
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Liebe üben. Auf diese Weise werden sie die wahre Katholizität und Apostolizität der Kirche immer vollständiger zum Ausdruck bringen.“ (UR 4,5).
Von ihrem innersten Wesen her definiert sich die Katholische Kirche daher als Gemeinschaft, die die Vielfalt wertschätzt, weil sie das Unterscheidende vom Gemeinsamen her verstehen lehrt (vgl. GS 92). Pluralität und Ambiguität werden als Chance begriffen; ein produktiver Umgang mit Mehrdeutigkeiten eröffnet den Spielraum für Veränderungen. Timothy Radcliffe, ehemaliger Ordensmeister der Dominikaner, hat die beiden exemplarischen Reaktionsweisen auf die damit verbundenen Herausforderung einmal recht treffend beschrieben. Er mag politische Zuweisungen wie liberal und konservativ, progressiv und traditionalistisch nicht, daher spricht er lieber in Anspielung auf zwei nachkonziliar gegründete Zeitschriften von Communio- und Concilium-Katholiken. Die einen konzentrieren sich lieber auf das Eigene und setzen in ihrer Identität lieber auf Abgrenzung, auf das Unterscheidend-Katholische; die anderen möchten am liebsten die ganze Welt umarmen und wissen am Ende selbst nicht mehr so genau, was eigentlich noch katholisch ist. Ihre beiden Grunddynamiken stehen, so Radcliffe, in einer unaufgebbaren und unaufhebbaren Spannung zueinander, dennoch gehören sie zur einer römisch-katholischen Kirche. Denn ,Römisch‘ steht dabei für die Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Partikularität, ihrer Begrenztheit, für die Suche nach und die Bindung an die eigene, althergebrachte, aber auch geschlossene Identität, die dazu dient, Sicherheit zu verschaffen – kurz: für die Zentrale. ,Katholisch‘ aber steht für die stets notwendige Bereitschaft zur Öffnung, zur Überwindung dieser Partikularität hin zu einer legitimen, umfassenden Pluralität, für eine Dynamik in die Peripherie und für das stets notwendige Ringen mit einer Identität, die vielleicht allzu selbstgefällig in sich ruht und bei sich bleibt. Beide Seiten haben ihr Recht und sie gehören zu der einen Römisch-Katholischen Kirche. Die eigentliche Gefahr für die Katholische Kirche liegt in der Folge nicht in einer Pluralisierung nach innen, sondern in der Unfähigkeit, mit den daraus entstehenden Ambivalenzen angemessen umzugehen, und in der Neigung, sich stattdessen zumindest in ihren institutionell prägenden Einheiten auf eine, allenfalls noch strategisch agierende Diskursverweigerung zurückzuziehen. Dagegen gilt es, eine Binnenvielfalt wiederzuentdecken, die das Eigene nicht als monolithischen Block versteht, sondern als plurales Spektrum an Einstellungen und Positionen zu respektieren gewohnt ist, denen man von vornherein die Legitimität zu- und nicht abspricht. Damit aber wäre einer Mentalität entgegenzutreten, die seit der Reformation als ,typisch katholisch‘ zu gelten hatte, und es wären strukturelle und institutionelle Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Blicken wir mit dieser Perspektive auf die Katholische Kirche und ihre Strukturen, fällt sofort auf, dass notwendige strukturelle Transformationsprozesse, wie sie z. B. der Wiederentdeckung des Subsidiaritätsprinzips zur Stärkung der Eigenrechte der Ortskirche entsprächen, oder die die Einrichtung institutioneller Repräsentationsorgane mit Entscheidungsbefugnis zu ihrer synodalen Ausübung konkret werden ließen, nach dem zweiten Vatikanischen Konzil ein
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Desiderat sind und bleiben. Die aktuellen Verwerfungen und Spannungen sind ein beredtes Beispiel dafür, wie herausfordernd die damit verbundenen Veränderungsprozesse sind. 2. Nonkonformismus Die Geschichte der römisch-katholischen Kirche war immer eine Geschichte der Selbstwerdung im Angesicht des Anderen. Ob das nun in der christlichen Antike die Philosophie Platons, der Stoa, im Mittelalter die Philosophie eines Aristoteles oder – mit einer kleinen Zeitverzögerung – Ethik und Freiheitsverständnis der aufgeklärten Neuzeit und Moderne waren – die stets neu zu bewältigende Herausforderung für die Kirche lag immer darin, die Ressourcen der Welt, in der man lebte, positiv und kreativ zu nutzen; sich auf sie einzulassen und in ein fruchtbares Miteinander umzusetzen. Man war stets von der Bereitschaft geprägt, auch von anderen zu lernen. Das Bestimmungsverhältnis von Kirche und Welt ist ein dialogisches, ein Geben und Nehmen. Denn die Wahrheit des Evangeliums ist keine weltlose Wahrheit, sondern eine Wahrheit in und für die Welt, die hier zeichenhaft auch erfahrbar werden kann. Aus dieser doppelten Ortsbestimmung des Eigenen im Anderen und des Anderen im Eigenen und einer damit notwendig verbundenen Zeitgeistigkeit und Weltlichkeit kommt die Katholische Kirche also nie heraus. Nicht ohne Grund war und ist das ,et … et‘, das ,sowohl … als auch‘ eine in der katholischen Identität tief verwurzelte Wahrheit. Gerade weil die ekklesiale Identitätsbestimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils von einer binnenkirchlichen Perspektive in die einer Außensicht wechselt, und eine rein binnenkirchliche und binnenkonfessionelle Identitätssuche und -findung fürderhin ausgeschlossen ist, hat an die Stelle der im 19. Jahrhundert gepflegten Verfallsnarrative und der Strategie ekklesialer Selbstimmunisierung die Notwendigkeit des Dialog und die Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Denken zu treten. Eine neue kirchliche Identität muss ihre Kriteriologie auch aus einer positiv anknüpfenden „missio ad mundum und damit einer wanderfreudigen Geh-hin-Pastoral im Geist der Bettelorden“46 wiedergewinnen, um gerade daraus auch Wissen und Orientierung für eine Veränderung von Kirche zu gewinnen. In der späten Moderne ist diese Aufgabe zwar komplexer geworden, kann und darf aber nicht einfach abgebrochen werden. Dennoch gibt es aktuell solche Versuche innerhalb der Katholischen Kirche. Dabei steht der Marsch ins intellektuelle wie gesellschaftliche Ghetto als Menetekel an der Wand. In gesellschaftspolitischer Hinsicht kommt darin aber auch eine grundlegende Skepsis gegenüber den demokratischen Lektionen der Moderne zum Ausdruck, wie sie sich heutzutage auch in den populistisch imprägnierten, postliberalen und identitären politischen Bewegungen und Strömungen findet. Man sollte indes die Gefahr, die in dieser Haltung steckt, nicht unterschätzen, denn es ist nichts anderes 46 Vgl. dazu Bauer, Christian: Konzilsentwürfe im Widerstreit. Joseph Ratzinger und M.-Dominique Chenu, in: diakonia 43 (2012), S. 55 – 58.
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als der Versuch, eine grundlegende Demokratieverachtung in die katholische DNA einzuschreiben. Das aber wäre schlicht das Ende der Katholischen Kirche als Kirche in der Welt von heute und der unaufhaltsame Weg ins Ghetto. Mancher aus dieser Ecke vertritt sogar schon offen das Ideal der ,Kirche des Hl. Restes‘, der Kirche der ,wahren und überzeugten Katholikinnen und Katholiken‘. Diese Idee war indes nie katholisch, sondern sie entspricht nichts weniger als der Selbstaufgabe des Katholischen. Heute wirklich ,katholisch‘ und damit an der Zeit wäre hingegen ein ,out of the box thinking‘, ein katholischer Nonkonformismus. Hilfreich dazu ist eine kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Denken anstelle von Verfallsnarrativen und ekklesialer Selbstimmunisierung. Pflege der Zeitgenossenschaft und Dialogfähigkeit beschreiben damit das für die Reform der Kirche Notwendige, um gerade daraus auch Wissen und Orientierung für die Reform zu gewinnen und so einer, schon latent bis pathologisch gewordenen, kognitiven Dissonanz zwischen Kirchenerfahrungen und Welterfahrung entgegenzusteuern. Selbstverständlich schöpft die Kirche für die anstehenden Veränderungsprozesse die entscheidende Kriteriologie zunächst aus ihrer theologischen und damit ihr eigenen, inneren Bestimmung. Freilich darf, ja muss damit gerechnet werden, dass mitunter gerade das ,Außen‘ in Gestalt der Fremdprophetie für das Eigene sinnerschließend werden kann. Dies gilt auch und gerade für die Begriffe von Freiheit und Demokratie als Grundsignaturen der Moderne. Nicht nur, weil die einzelnen Glieder der Kirche immer ,Bürgerinnen zweier Welten‘ sind, sondern gerade weil das Zweite Vatikanische Konzil selbst im Bekenntnis zur Religionsfreiheit, der Neukonstellation des Offenbarungsverständnisses wie der pneumatologischen Revision des Kirchenverständnisses die zentrale Kategorie der Personenwürde neu entdeckt, gehören die Grundprinzipien des modernen demokratischen Staatsgefüges nunmehr zum theologischen Kerngeschäft. Wenn aber zugleich gilt, dass sich Kirche immer in kritischem, aber anschlussfähigem Dialog mit der sie umgebenden und durchdringenden ,Welt‘ bewegt und verändert hat,47 dann bedeutet dies, dass Selbstverständnis und strukturelles Gefüge der Kirche auch stets entlang der geschichtlichen Entwicklungen verlaufen. Dialogbereitschaft bedeutet nicht nur Lernbereitschaft, sondern auch den ,Mut‘ zu einem auch strukturell wirksam werdenden „Antagonismus in der Kirche, zu einem echten Pluralismus der Charismen, der Aufgaben und Funktionen“48. ,Checks and Balances‘ heißt das magische soziologische Zauberwort, damit wirklich gilt: „Das Normale und Ordentliche in der Kirche muss die kollektive und dialogische Wahrheitsfindung sein“.49 47 Vgl. dazu auch: Wenzel, Knut: Partizipation und Dialog in der Kirche, in: HeimbachSteins, Marianne u. a. (Hrsg.), Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. Argumente zum Memorandum, Freiburg 2011, S. 146 – 155. 48 Rahner, Karl: Löscht den Geist nicht aus!, in: Sämtliche Werke 21/1, Freiburg 2013, S. 31. 49 Kasper, Walter: Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule, Freiburg/Basel/ Wien 1962, S. 65.
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Wer sich aber darauf einlässt, dem muss klar sein: Eine feste Einheits-Identität der Katholischen Kirche zerrinnt unter der Hand, bzw. sie muss stets neu errungen werden. Hüten wir uns vor der Illusion, dass das ein ungefährlicher Weg sei und dass er gar noch attraktiver wäre, als die selbstgewisse und gesicherte Identität der verblüffungsresistenten, erschütterungsfreien, und darum harmlos-ungefährlichen Katechismusantworten. Letztere freilich wäre nur die Illusion einer Rückkehr in eine ,Heimat‘ der Katholischen Kirche, die niemals existierte. Der Streit um die Identität des Katholischen ist im Augenblick voll entbrannt. Und er muss ausgetragen werden. Denn derartige Konflikte sind „überlebenswichtig, weil die widersprüchlichen Anforderungen aus der Umwelt innerhalb der Organisation von unterschiedlichen Einheiten mit jeweils eigenen lokalen Rationalitäten vertreten werden. Erst durch Konflikte wird die Organisation überhaupt sensibel für Widersprüchlichkeiten und Veränderungen in ihrer Umwelt“50. Für die Katholische Kirche geht es dabei aber um nichts weniger als die Demokratie- und Modernefähigkeit und damit um ihre Zukunftsfähigkeit überhaupt. Literaturverzeichnis Bauer, Christian: Konzilsentwürfe im Widerstreit. Joseph Ratzinger und M.-Dominique Chenu, in: diakonia 43 (2012), S. 55 – 58. Bischof, Franz Xaver: Katholische Theologie zwischen Lagerbildung, Neuorientierung und Wissenschaftspathos des 19. Jahrhunderts. Döllingers Rede über Vergangenheit und Gegenwart der katholischen Theologie, in: ders./Essen, Georg (Hrsg.), Theologie, kirchliches Lehramt und öffentliche Meinung. Die Münchner Gelehrtenversammlung von 1863 und ihre Folgen, Stuttgart 2015, S. 35 – 47. Essen, Georg: Die Geschichte, die aus der Wahrheit kommt. Reflexionen zu einer innerkirchlichen Kultur der Innovationstoleranz, in: Damberg, Wilhelm/Sellmann, Matthias (Hrsg.), Die Theologie und ,das Neue‘. Perspektiven zum kreativen Zusammenhang von Innovation und Tradition, Freiburg 2015, S. 169 – 196. Essen, Georg: ,Löscht den Geist nicht aus!‘ (1Thess 5,19). Die Kirchengeschichte als rückwärtsgewandte Prophetie, in: ET Studies 10/2 (2019), S. 297 – 318. Faber, Eva-Maria: Umkehr und Veränderungsbereitschaft als konstitutive Elemente des ökumenischen Weges, in: Stimmen der Zeit 230 (2012), S. 723 – 734. Guggenberger, Wilhelm: Universale Kirche und neue Weltordnung, in: ZkTh 120 (1998), S. 420 – 423. Haight, Roger: Christian Community in History, Vol. II: Comparative Ecclesiology, New York/ London 2005, Vol. III: Ecclesial Existence, New York/London 2008. Horst, Ulrich: Päpstliche Unfehlbarkeit wider konziliare Superiorität? Studien zur Geschichte eines (ekklesiologischen) Antagonismus vom 15. bis zum 19. Jahrhundert (Konziliengeschichte. Reihe B: Untersuchungen), Paderborn 2016. 50
Kühl, Brauchbare Illegalität, S. 237.
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Kasper, Walter: Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule, Freiburg/Basel/Wien 1962. Kaufmann, Franz Xaver: Globalisierung und Christentum, in: Hünermann, Peter (Hrsg.), Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung, Paderborn 1998, S. 15 – 30. Kühl, Stefan: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen, Frankfurt/New York 2020. Neuner, Peter: Der lange Schatten des I. Vatikanums. Wie das Konzil die Kirche noch heute blockiert, Freiburg 2019. O’Malley, John W.: Vatican II: Did Anything Happen? In: TS 67 (2006) S. 3 – 33. O’Malley, John W.: The ‘Hermeneutic of Reform’. A Historical Analysis, in: TS 73 (2012), S. 517 – 546. Papst Franziskus: Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, VApS 194, 2. Auflage, Bonn 1013. Rahner, Karl: Sakramentale Grundlegung des Laienstandes in der Kirche, in: Sämtliche Werke 18, Freiburg 2003, S. 376 – 391. Rahner, Karl: Löscht den Geist nicht aus!, in: Sämtliche Werke 21/1, Freiburg 2013, S. 23 – 33. Rahner, Karl: Über eine theologische Grundinterpretation des II. Vatikanischen Konzils, in: Sämtliche Werke 21/1, Freiburg 2013, S. 970 – 981. Rahner, Karl/Lehmann, Karl: Geschichtlichkeit der Vermittlung, in: Sämtliche Werke 22/1a, Freiburg 2013, S. 109 – 116. Ruh, Ulrich: Mutige Weichenstellung. Ein theologischer Blick auf das II. Vatikanische Konzil, in: HerKorr 66 (2012), S. 560 – 564. Rush, Ormond: Still Interpretating Vatican II. Some Hermeneutical Principles, New York 2004. Seewald, Michael: Der Papst als Souverän und die Kirche als Gemeinschaft. Zur dogmatischen Weiterentwicklung des Ersten Vatikanischen Konzils, in: Knop Julia/Seewald Michael (Hrsg.), Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, S. 196 – 216. Seewald, Michael: Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg 2019. Unterburger, Klaus: Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste? Pius XI., die Apostolische Konstitution ,Deus scientiarum Dominus‘ und die Reform der Universitätstheologie, Freiburg 2010. Wenzel, Knut: Partizipation und Dialog in der Kirche, in: Heimbach-Steins, Marianne u. a. (Hrsg.), Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. Argumente zum Memorandum, Freiburg 2011, S. 146 – 155. Wolf, Hubert: Römische Bücherverbote. Edition der Bande von Inquisition und Indexkongregation 1814 – 1917. Auf der Basis von Vorarbeiten von Herman H. Schwedt bearbeitet von Judith Schepers und Dominik Burkard (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814 – 1917), Paderborn 2005.
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Wolf, Hubert (Hrsg.): Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1814 – 1917. Von Herman H. Schwedt unter Mitarbeit von Tobias Lagatz, 2 Bde. (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814 – 1917), Paderborn 2005. Wolf, Hubert: Joseph Kleutgen, das Breve Tuas libenter (1865) und die Folgen für die Katholische Theologie, in: Xaver, Franz/Essen, Georg (Hrsg.), Theologie, kirchliches Lehramt und öffentliche Meinung. Die Münchner Gelehrtenversammlung von 1863 und ihre Folgen, Stuttgart 2015, S. 49 – 70. Wolf, Hubert: Plusquam ancilla theologiae. Was die Kirchengeschichte zu aktuellen Reformdebatten beitragen kann, in: ET Studies 10/1 (2019), S. 23 – 43. Wolf, Hubert: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020. Wolf, Hubert: Die Erfindung des Katholizismus? Vom Nutzen und Nachteil des historiographischen Konzepts der ,invention of tradition‘ für die katholische Kirchengeschichtsschreibung, in: Krips, Katharina/Mokry, Stephan/Unterburger, Klaus (Hrsg.), Aufbruch in der Zeit. Kirchenreform und europäischer Katholizismus (Münchener Kirchenhistorische Studien. Neue Folge 10), Stuttgart 2020, S. 37 – 50.
Das ökumenische Potenzial des Gedächtnisses am Beispiel von 500 Jahre Täuferbewegung Von Verena Hammes I. Erinnerung und Gedächtnis – Verhältnis und Abgrenzung „In hominibus non solum est memoria, sed reminiscentia“ – „Im Menschen ist nicht allein Gedächtnis, sondern Erinnerung“1, so sagte Thomas von Aquin einmal. Im deutschen alltäglichen Sprachgebrauch gehen die beiden Begriffe Erinnerung und Gedächtnis durchaus Hand in Hand, sie werden im Duden sogar unter bestimmten inhaltlichen Konnotationen als Synonyme begriffen. Die Kulturwissenschaft und allen voran die Gedächtnis- und Erinnerungskoryphäen Jan und Aleida Assmann, denen die Gedächtnisforschung vor allem im Hinblick auf die kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Erinnerungen viel zu verdanken hat, unterscheiden jedoch sehr deutlich zwischen beiden Begriffen.2 Während die Erinnerung vor allem individuell bestimmt wird und insbesondere das Nachdenken und den Austausch über persönliche Erinnerungen und Erfahrungen meint, ist auf der anderen Seite der Gedächtnisbegriff kollektiver bestimmt. Das kollektive Gedächtnis einer Gruppe schafft ein „Wir-Gefühl“, es hält das Vergangene wach, z. B. durch Rituale oder Traditionen, auch über Generationen tradierte Erzählungen gehören hierzu. Auch Thomas von Aquin hat wohl eine deutliche Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen vorgenommen. 1. Erinnerungen Verbleiben wir aber in einem ersten Schritt bei der Erinnerung, aus dem einfachen Grund, dass dieser Artikel Teil einer Festschrift ist, die zu einem ganz besonderen Festtag eines ganz besonderen Menschen erscheint. Und Jubiläen sind, ob nun kollektiv oder persönlich begangen, Zeitpunkte im Leben, an denen zum einen zurück und zum anderen nach vorn geblickt wird. Daher darf ich an dieser Stelle ein paar
1 Thomas von Aquin: Quaestio disputatae de anima (Untersuchung über die Seele) Art. 13, conclusio. 2 Vgl. u. a. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 4. Aufl., München 2009; Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölscher, Tonio (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9 – 19.
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persönliche Erinnerungen an die Jubilarin meinem kurzen Beitrag voranstellen und diese gleichzeitig mit meiner Standortbestimmung verknüpfen. Ich habe lange überlegt, an welcher Stelle ich dem Namen Andrea Strübind zum ersten Mal begegnet bin. Wahrscheinlich kenne ich sie schon länger als sie mich. Als römisch-katholische Christin und Studentin der Theologie war es mir von Anfang an ein Anliegen, in meinem theologischen Denken ökumenisch ausgerichtet zu sein. Zugegebenermaßen war das in erster Linie auf die evangelisch-landeskirchliche Seite bezogen, aber nach und nach kamen auch weitere kirchliche Traditionen in mein Blickfeld, wie die Orthodoxie und die Freikirchen. Erste Berührungen mit einer täuferischen Tradition hatte ich in meiner Heimatstadt, in deren dortiger ACK die ansässige Baptistengemeinde Mitglied war. Mittlerweile musste sie aufgrund fehlender Mitglieder ihre Türen leider schließen, aber mein Interesse an täuferischer Theologie war geweckt. Wahrscheinlich war es in diesem Zusammenhang der Erstinformation, dass ich über den Namen Andrea Strübind gestolpert bin. Denn, wenn wir ehrlich sind, man kommt bei der Beschäftigung mit täuferischen Themen nicht an ihr und ihren Werken vorbei. Ich habe lange meine Erinnerungen befragt, wann das erste persönliche Treffen stattfand und vermute, dass es wohl auf dem Katholikentag in Münster 2018 gewesen sein muss, als ein Rückblick auf das Reformationsjahr 2017 als Podiumsveranstaltung stattfand. Ich, die kleine Anwältin des Publikums, war wirklich beeindruckt, wie sich Andrea Strübind auf dem Podium mit dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, und dem damaligen Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, behauptete und sehr deutlich werden ließ, dass bei allen ökumenisch-bilateralen Projekten im Jahr 2017 die Freikirchen – und insbesondere die Kirchen der täuferischen Tradition, die ihre Wurzeln in der Reformationszeit haben – oftmals vergessen (wieder so eine erinnerungskulturelle Dimension) worden waren. Ein intensiverer Austausch ergab sich dann aber erst wieder ein Jahr später durch den Deutschen Ökumenischen Studienausschuss (DÖSTA) der ACK, deren Geschäftsführung man immer mit der Geschäftsführung der ACK übernimmt und in der Zusammenarbeit im Steuerungskreis „500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025“. Hier habe ich Andrea Strübind als sehr geschichtsbewusste, aber nicht geschichtsverhaftete Person kennengelernt, deren Ziel es ist, die täuferisch-baptistischen Merkmale zwar zu profilieren, aber nie in einem Gegeneinander, sondern sie vielmehr als Gabe zu sehen, die andere christliche Traditionen beschenken kann und auch in der Offenheit, sich von anderen Traditionen beschenken lassen zu dürfen. Das ist eine ökumenische Gabe, die sehr selten und dennoch unabdingbar für ein Miteinander ohne Konkurrenz ist, sondern sich auf einem gemeinsamen Weg sieht. In diesen Erinnerungen bin ich dankbar für all das, was ich von Andrea Strübind lernen durfte, und freue mich auf viele weitere ökumenische Projekte, Gespräche und Begegnungen.
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2. Gedächtnis „Magna vis est memoriae, nescio quid horrendum, deus meus, profunda et infinita multiplicitas“ – „Groß ist die Macht des Gedächtnisses. Welch schauerlich Geheimnis, mein Gott, welch tiefe, uferlose Fülle!“3 So rief schon der Kirchenvater Augustinus angesichts der Komplexität des menschlichen und gesellschaftlichen Gedächtnisses aus. Aus den oben genannten Beobachtungen heraus nähern wir uns nun in einem zweiten Schritt dem Begriff des Gedächtnisses, also jenes kollektiven Gedächtnisses, das die Erinnerung eines Volkes oder einer Gesellschaft bündelt und wachhält. Vordenker dieser kollektiven Gedächtnistheorie war der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs, der im Konzentrationslager von Buchenwald den Tod fand.4 Halbwachs geht vor allem von den sozialpsychologischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft aus, auf die sich die individuellen Erinnerungen als Bezugsrahmen stützen können. Die individuellen Erinnerungen erhalten somit eine Einordnung in das kollektive Gedächtnis. Dabei werden auch solche Erinnerungen Teil des Gedächtnisses, die nicht vom Individuum selbst erlebt wurden, sondern ihm lediglich passiv durch das Kollektiv zugekommen sind. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Änderungen der Rahmenbedingungen im Kleinen und im Großen erhebliche Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis einer ganzen Gruppe haben können. Während aber das kollektive Gedächtnis nach Halbwachs personell, zeitlich und räumlich gebunden ist, ist das Konzept des historischen Bewusstseins durch wissenschaftliche Erkenntnisse und Forschungen gebildet und an die Verschriftlichung bzw. Archivierung der Erinnerung gebunden. Während das kollektive Gedächtnis durch seine Einbettung in die Rahmenbedingungen eine Rangfolge der Erinnerungen nach ihrer Bedeutsamkeit für die entsprechende Gruppe vornimmt, sind im historischen Bewusstsein alle Erinnerungen dem Rang und der Bedeutung nach gleich. Daher bietet sich für die Betrachtung einer historischen Begebenheit und deren Kristallisation zu einem Jubiläumsanlass auch die Sichtweise des historischen Bewusstseins an. II. Jubiläen – Kristallisationspunkt des historischen Bewusstseins Seit Menschengedenken werden Jubiläen, Jahres- oder Gedenktage gefeiert. Das „Jobeljahr“ (Lev 25,10) im Alten Testament wurde als Form der Schuldvergebung begangen. In der Kirche entwickelte sich erst spät, im Jahr 1300, eine Form des Erlassjahres, als Papst Bonifatius VIII. einen besonderen vollkommenen Ablass ausrief und somit die Tradition des Heiligen Jahres, die heute noch in der römisch-katholi3 Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmücke (insel taschenbuch 1002), Frankfurt a. M. 1987, X / 17,26. 4 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Soziologische Texte 34), Berlin/Neuwied 1966.
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schen Kirche begangen wird, etablierte. Ein Jubiläum oder ein Fest aktualisiert das darin Begangene, es wird durch die Erinnerung neu vergegenwärtigt und damit zu einem Symbol der Selbstidentifikation. 1. Form und Funktion von Jubiläen „Gedenkjahre holen Geschichte in die Gegenwart und bieten einen Anlass, sich der eigenen Identität zu vergewissern.“5 Jubiläen sind Kristallisationspunkte der Geschichte und haben zugleich den Anspruch, gegenwartsrelevant zu sein, demnach nicht der Erinnerung verhaftet zu bleiben, sondern diese vielmehr im Licht der Gegenwart zu gestalten. Ohne hier näher auf die Wortverwandtschaft zwischen dem Subjekt „Jubiläum“ und dem Verb „jubilieren“ eingehen oder die biblischen und kirchenamtlichen Entwicklungen des Begriffs nachzeichnen zu können, ist es vielmehr relevant, dass sich im Festcharakter eines Jubiläums der Mensch seines Selbst und seiner Identität vergewissert und dies anlässlich der Erinnerung an ein Geschehen tut, das ihn in seinem Selbstbewusstsein geprägt hat. Das können individuelle Anlässe oder kollektive Gedenktage sein, bei denen sich eine größere Gruppe ihres Ursprungs und ihrer Gemeinschaft in der Gegenwart vergewissert. Das Jubiläum unterbricht den Alltag. Gleichzeitig wird die profane Zeitrechnung außer Kraft gesetzt, Vergangenheit und Gegenwart fallen in eins, um die Zukunft zu gestalten. 2. Mangelnde Gedächtniskultur im Baptismus „Mit dem mangelnden Geschichtsbewusstsein korreliert das Fehlen einer Memorial- oder Gedenkkultur. Besondere Orte baptistischen Gedenkens sind kaum vorhanden bzw. werden nicht für die kollektive Erinnerung genutzt. Jubiläen verstreichen oft ohne große Kenntnisnahme. Die christliche Tradition lässt sich jedoch nicht nur in Texten nachweisen, sondern hat auch in ,Stein‘ Gestalt gewonnen. Die Kirchbauten, im baptistischen Sprachgebrauch oftmals als ,Gemeindezentren‘ bezeichnet, sind bis auf wenige Ausnahmen keine traditionsreichen Gebäude, sondern in erster Linie funktional auf die Bedürfnisse der Gemeinde ausgerichtet.“6
Dies konstatierte Andrea Strübind im Jahr 2007, als es darum ging, im DÖSTA in ökumenischer Weise auf die Terminologie und Hermeneutik des Traditionsbegriffes zu blicken. Bei der Beschäftigung mit den unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Stellenwert von Tradition in den unterschiedlichen Konfessionen fällt auf, dass – anders als z. B. meine eigene Kirche – der Baptismus weniger traditionsbewusst, vielleicht auch weniger „traditionsbesessen“ ist. Der täuferische Partner, die mennoni5
von Schlachta, Astrid: Innehalten, reflektieren, sich aufmachen. Gedenkjahre, ihre Symbole und ihre Botschaften, in: 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.), gewagt! mündig leben, Frankfurt a. M. 2020, S. 16 – 17, hier: 17. 6 Strübind, Andrea: Tradition aus baptistischer Sicht, in: Oberdorfer, Bernd/Swarat, Uwe (Hrsg.), Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 89), Frankfurt a. M. 2010, S. 153 – 164, hier: 157.
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tische Tradition, hingegen kennt durchaus die historischen Jubiläen als Selbstinszenierung und Selbstvergewisserung in der Geschichte. Es gab einige Feiern im 19. Jahrhundert zu Ehren Menno Simons. Diese waren aber nicht unumstritten: „Einerseits sahen viele in der gemeinsamen Erinnerung an Menno Simons und der Einrichtung einer Stiftung die Möglichkeit, die Einheit unter den Mennoniten vorantreiben zu können. […] Kritische Gegenstimmen, die aufs Grundsätzliche zielten, ließen nicht lange auf sich warten.“7 So fand eine lebhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der eigenen Identität statt.8 Als baptistische Kirchenhistorikerin mag dies für Andrea Strübind nicht immer so einfach sein, wenn dieses „mangelnde Geschichtsbewusstsein“ es erschwert, Anlässe und Möglichkeiten zu schaffen, sich mit der eigenen Geschichte, Genese und Entstehung auseinanderzusetzen. Dennoch konnte sie in ihrer Dissertation nachweisen, dass zumindest das hundertjährige Jubiläum des Baptismus 1934 begangen wurde und die Feierlichkeiten „nicht nur eine durch die intensive Beschäftigung mit der eigenen Geschichte hervorgerufene Festigung der konfessionellen Identität, sondern auch eine überraschende öffentliche Anerkennung durch Staat und Presse mit sich“9 brachten. Wenn auch in schwierigen und unruhigen Zeiten gefeiert, so zeigte die damalige Jubiläumsinszenierung doch, dass der Baptismus nicht so geschichtsvergessen ist, wie er es bisweilen zu sein schien. Das Jubiläumsjahr 2025 dürfte aber in seiner umfangreichen und intensiven Vorbereitung einmalig sein für die baptistische Erinnerungskultur. Dieses Jubiläum schafft die Möglichkeit, zusammen mit der fünfjährigen Vorbereitungszeit und den dazugehörigen Themenjahren, zurückzublicken, ohne in der Geschichte stecken zu bleiben. Andrea Strübind hat durch ihr Wirken und ihre theologische Arbeit selbst zu einer Memorialkultur im Baptismus beigetragen, indem sie Entwicklungen nachgezeichnet, einzelne baptistische Personen und Einstellungen in bestimmten Zeiten der Geschichte untersucht und unaufgearbeitete Quellen entdeckt, analysiert und ausgewertet hat. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte wurde der Baptismus durch Strübinds Einfluss geschichtsbewusster.
7 von Schlachta, Astrid: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2020, S. 362. 8 Man denke in diesem Zusammenhang auch an den Märtyrerspiegel, der einen besonderen Schwerpunkt auf die Martyrien der Täufer legt. 9 Strübind, Andrea: Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im ,Dritten Reich‘ (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 1), Neukirchen-Vluyn 1991, S. 140.
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3. Freikirchen: Die vergessenen Stimmen im Reformationsjubiläum 2017 „Memoria retinetur oblivio“ – „also im Gedächtnis bleibt auch das Vergessen“10. Wieder hat der Kirchenvater Augustinus einen erinnerungskulturellen Zusammenhang zwischen zwei Dimensionen der Erinnerung beschrieben: dieses Mal jenen zwischen Gedächtnis und Vergessen. Letztlich kann man hier feststellen, dass das Vergessen eigentlich immer ein Nicht-Erinnern ist, somit also im innersten Kern auf die Erinnerung und das Gedächtnis bezogen bleibt. Aber wie untersucht man etwas, das eigentlich gar nicht mehr da ist? Aus diesem Grund war die Dimension des Vergessens lange Zeit aus der Gedächtnisforschung verschwunden. Während die Erinnerung lange Zeit positiv besetzt war, war es beim Vergessen ganz anders: beide Kategorien wurden recht lange als Gegensätze gedeutet und wahrgenommen.11 Das Gedenken an 500 Jahre Täuferbewegung versteht sich auch in einer Kontinuität zum kirchlich groß gefeierten Reformationsjubiläum im Jahr 2017, bei dem an den 500. Jahrestag des vermeintlichen Thesenanschlags von Martin Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg erinnert wurde.12 Trotz ihrer Verwurzelung in der Reformation führten die Freikirchen und eben auch die täuferischen Traditionen in diesem Jahr ein Schattendasein und wurden wenig bis gar nicht in die Jubiläumsfeierlichkeiten einbezogen. Wenn das Täuferjubiläum in diesem Zusammenhang steht, muss zunächst der Blick zurückgehen auf das Jahr 2017. Wie kommt es nun dazu, dass die täuferischen bzw. freikirchlichen Stimmen im Allgemeinen als die vergessenen Stimmen des Reformationsjubiläums 2017 klassifiziert werden können? Die Freikirchen hatten ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Reformationsjubiläum. Es ist „Erbe“ und „Ärgernis“ zugleich, wie Andrea Strübind in einem Vorausblick auf die Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers im Jahr 1517 festhält.13 Auf der einen Seite verstehen sich die täuferischen Kirchen als Kinder der Reformation und Kirchen mit reformatorischen Wurzeln, andererseits können sich die „dissentierenden protestantischen Bewegungen, vor allem das Täufertum, die durch katholische wie auch durch reformatorische Obrigkeiten seit dem 16. Jahrhundert verfolgt und ausnahmslos marginalisiert wurden,
10 Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmücke (insel taschenbuch 1002), Frankfurt a. M. 1987, X / 16,24. 11 Vgl. Assmann, Aleida: Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften, Frankfurter Vorträge), 2. Aufl., Göttingen 2016 und Weinrich, Harald: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens (Beck’sche Reihe 1633), München 2005. 12 Vgl. Hammes, Verena: Erinnerung gestalten. Zur Etablierung einer ökumenischen Gedächtniskultur am Beispiel der Reformationsmemoria 1517 – 2017 (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 81), Paderborn 2019. 13 Vgl. Strübind, Andrea: Erbe und Ärgernis. Was gibt es für die Kirchen aus täuferischen und nonkonformistischen Traditionen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 zu feiern?, in: Spangenberg, Volker (Hrsg.), Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht (Kirche – Konfession – Religion 59), Göttingen 2013, S. 71 – 87.
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[…] nicht ungebrochen in die Schar der ,Jubilierenden‘ einreihen“14. Eine Einbindung der freikirchlichen Tradition in das Reformationsjubiläum 2017 könne dann nur mithilfe eines Gedächtnisspagats geschehen, der einerseits das Erbe der Reformation, wie es die Freikirchen bewahrt haben, „und den besonderen Beitrag dieser Traditionen im Gesamtbild der Reformation würdige“, andererseits aber „die Schattenseite der religiösen Konflikte wie der Gewalterfahrungen ebenfalls“15 bedenke. Trotz des Briefes der Vereinigung Evangelischer Freikirchen an den damaligen Vorsitzenden des Rates der EKD mit der Bereitschaft, das Reformationsjubiläum mitzugestalten, hat Andrea Strübind nüchtern bis enttäuscht auf die ökumenischen Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum 2017 zurückgeblickt: „Beim gemeinsamen Rückblick auf die Geschichte der Konfessionen seit dem 16. Jahrhundert – mit ihren Konflikten, Kontroversthemen, aber auch Erneuerungspotenzialen – kamen die anderen ,Kirchen der Reformation‘ erst gar nicht in den Blick. Der weltweit verzweigte Protestantismus, der sich bis in die Gegenwart als Aneignungsprozess der reformatorischen Botschaft in unterschiedlichen Kontexten, Regionen und Zeiten versteht, bleibt unberücksichtigt.“16
Der Schwerpunkt des ökumenischen Gedenkens lag im bilateralen Zusammenspiel zwischen evangelisch-landeskirchlicher und römisch-katholischer Tradition, sodass die Beteiligung hierzulande kleiner Kirchen kaum Beachtung fand, auch wenn diese ein notwendiges Korrektiv vor „falschem Heldengedenken und einer Belanglosigkeit im Bekennen und Leben des evangelischen Glaubens“17 darstellen – auch über das Reformationsjubiläum 2017 hinaus. Mit dem zunehmenden Interesse der Gedächtnisforschung an dem Phänomen des Vergessens wachsen auch die analytischen und systematischen Beschäftigungen mit dem, was eigentlich nicht mehr da ist. Aleida Assmann, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung, hat es sich nicht nehmen lassen, auch Formen des Vergessens zu klassifizieren, die sie in eine neutrale, negative und positive Kategorie unterteilt. Es ist nicht schwer zu beurteilen, welche Form des Vergessens bei der Nichtbeachtung der freikirchlichen und täuferischen Sichtweise beim Reformationsjubiläum zur Anwendung kam. Da wohl weder eine negative, d. h. der Versuch einer Auslöschung aus der Geschichte, noch eine positive, d. h. die Erleichterung des Gedächtnisses, zugrunde lagen, kommt wohl nur die neutrale Kategorie infrage, näherhin das selektive Vergessen. Dieses tritt ein, wenn Erinnerungen nicht mehr in den Strukturen des Miteinanders eingebettet oder verortet werden können, oder, wie 14
Strübind, Erbe und Ärgernis, S. 72. Ebd. 16 Strübind, Andrea: Glaube und Gewissensfreiheit. Eine freikirchliche Sicht, in: Söding, Thomas/Oberdorfer, Bernd (Hrsg.), Kontroverse Freiheit. Die Impulse der Ökumene (Quaestiones Disputatae 284), S. 55 – 80, hier: 61. 17 Fleischmann-Bisten, Walter: Ausgegrenzt, eingeladen und lernfähig. Beobachtungen zur Situation zwischen dem landeskirchlichen und freikirchlichen Protestantismus in Deutschland im Kontext des Reformationsjubiläums 2017, in: Ökumenische Rundschau 66 (3/2017), S. 310 – 324, hier: 324. 15
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es der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs, benennt: „Das Vergessen erklärt sich aus dem Verschwinden dieser Rahmen oder eines Teiles derselben, entweder weil unsere Aufmerksamkeit nicht in der Lage war, sich auf sie zu fixieren, oder weil sie anderswohin gerichtet war.“18 In diesem Falle lag der Fokus der ökumenischen Feierlichkeiten insbesondere auf den bilateralen Beziehungen von den Landeskirchen zur römisch-katholischen Kirche, die Aufmerksamkeit war auf die mitgliederäquivalente Partnerin gerichtet. 4. Spuren von Erinnerung im Projekt „500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025“ Das Projekt „500 Jahre Täuferbewegung“19 ist ein Projekt des Gedächtnisses sondergleichen. Davon geben die bereits erschienenen drei Themenhefte Zeugnis.20 Nicht nur kommen darin Historikerinnen und Historiker zu Wort, die Themenhefte bestechen auch durch ihre Gegenwartsrelevanz und ihren pädagogischen Ansatz, die Geschichte für heute lebende Menschen greifbarer und nahbarer zu machen. Und sie sind ein Schatz voller erinnerungsbezogener Quellen und Beiträge. Da werden täuferische Schlüsselfiguren genauso dargestellt wie Erinnerungsorte der Täuferbewegung, die durch das Projekt „Täuferspuren“21 in die Gegenwart transportiert und damit verdichtet werden.22 Geschichten werden erzählt, aufgearbeitet und so in die Gegenwart gesetzt, entweder durch Unterrichtsmaterial, durch Literaturhinweise oder durch die liturgische Einfügung in gottesdienstliche Zusammenhänge. Darüber hinaus zeigen sich in diesem Projekt verschiedene neue erinnerungskulturelle Aufbrüche. Zunächst ist es ein von Mennoniten und Baptisten vorbereitetes Projekt. Zwar soll es auch schon 1925, zum 400-jährigen Täuferjubiläum, Bestrebungen von mennonitischer Seite gegeben haben, gemeinsam mit den Baptisten eine Gedenkschrift herauszugeben, diese scheint aber aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten nicht realisiert worden zu sein.23 Weiterhin hatte es im baptistisch-mennonitischen Verhältnis einige positive und negative Vorkommnisse gegeben, die nahelegen, dass die Beziehung als „sehr wechselvoll“ charakterisiert werden kann: „Und 18
Halbwachs, Gedächtnis, S. 368. Vgl. www.taeuferbewegung2025.de [Zugriff 29. 4. 2022]. 20 Vgl. 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.): gewagt! mündig leben; 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.): gewagt! gemeinsam leben; 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.): gewagt! konsequent leben. 21 Vgl. www.taueferspuren.de [Zugriff 29. 4. 2022]. 22 Zum Konzept der Erinnerungsorte ist das siebenbändige Sammelwerk des Historikers Pierre Nora grundlegend geworden: vgl. Nora, Pierre (Hrsg.): Les lieux de mémoire, 7 Bände, Paris 1984 – 1992. Aus seinem Vorhaben, Erinnerungsorte für Frankreich, die zur Identitätsstabilisierung der Nation beitragen, zu inventarisieren, wurde eine fundierte Überlegung zu Orten der Erinnerungen und des Gedächtnisses, die nicht so sehr topographisch angelegt sind, sondern ideell, wie z. B. eine Schweigeminute. 23 Vgl. von Schlachta: Innehalten, S. 16 – 17, hier: 17. 19
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nicht frei von Konkurrenzdenken, das selbst vor dem historischen Erbe nicht Halt machte.“24 Nun ist es 100 Jahre später gelungen, dass sich Baptisten und Mennoniten zusammen auf den Weg machen, um an ihre gemeinsamen Wurzeln zu erinnern und in ökumenischer Verbundenheit zu reflektieren, welche Impulse aus der täuferischen Bewegung in der Gegenwart eine Rolle spielen. Selbstverständlich gab es auch in der Zwischenzeit vielfältige Kontakte und theologische Dialoge, die hier nicht verschwiegen werden sollen.25 Aber nicht nur in baptistisch-mennonitischer Verbundenheit werden das Täufergedenken 2025 und der Weg darauf zu gestaltet, sondern in noch größerer ökumenischer Weggemeinschaft. Das unterscheidet die Gestaltung der Gedenkkultur in ganz entscheidender Weise von den bisherigen Feierlichkeiten und – auch das gehört zur Wahrheit hinzu – von den Reformationsfeierlichkeiten. Die Themenhefte enthalten Beiträge von Personen aus anderen konfessionellen und kulturellen Hintergründen, sie möchten zeigen, welche Impulse für alle Christinnen und Christen weltweit fruchtbar gemacht werden können. Aber damit gehen die Verantwortlichen auch ein hohes Risiko ein: Gedenkkulturen in einer konfessionell weitestgehend abgeschlossenen Blase zu feiern, ist dann unumgänglich, wenn die gepflegten Gedächtnistraditionen unverändert bestehen bleiben sollen, sie der eigenen Identitätsvergewisserung, der Legendenbildung, der Legitimation und der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls dienen. Sobald aber die Entscheidung getroffen wird, die Vorbereitungen eines Jubiläums auch auf solche Akteure hin zu öffnen, die vermutlich andere Gedächtnistraditionen pflegen und andere kollektive Erinnerungen haben, können sich daraus Dynamiken entwickeln, die zur Destabilisierung, vielleicht sogar zur Dekonstruktion der vertrauten Erinnerungen führen. Aber in der Gefahr liegt wie so oft auch eine Chance, die eingefahrenen und eingefärbten Gedächtnistraditionen zu verändern, neue zu etablieren und so geheilter auf manche schmerzende Wunde der Vergangenheit zu schauen. Indem andere Sichtweisen einbezogen werden können, haben die Erinnerungen die Möglichkeiten, sich zu verändern: „Was in der Vergangenheit geschehen ist, kann nicht geändert werden. Was jedoch von der Vergangenheit erinnert wird und wie das geschieht, kann sich im Lauf der Zeit tatsächlich verändern. Erinnerung macht die Vergangenheit gegenwärtig. Während die Vergangenheit selbst unveränderlich ist, ist die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart veränderlich. Mit Blick auf 2017 [das Reformationsjubiläum, Anm. d. Verf.] geht es nicht darum, eine andere Geschichte zu erzählen, sondern darum, diese Geschichte anders zu erzählen.“26 24
von Schlachta, Astrid: Mennoniten und Baptisten – vergessene und wechselvolle Episoden einer gemeinsamen Geschichte, in: 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.), gewagt! gemeinsam leben, Frankfurt a. M. 2021, S. 16 – 17, hier: 17. 25 So z. B. der Dialog zwischen dem Baptistischen Weltbund und der Weltkonferenz der Mennoniten von 1989 – 1992, dokumentiert in: Enns, Fernando (Hrsg.): Heilung der Erinnerungen – befreit zur gemeinsamen Zukunft. Mennoniten im Dialog, Frankfurt a. M./Paderborn 2008, S. 241 – 282. 26 Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit, 2. Aufl., Leipzig/Paderborn 2013, S. 16.
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Was damals für das Reformationsjubiläum galt, gilt auch in Bezug auf das ökumenische Zugehen auf das Gedenkjahr der Täuferbewegung. Je gemeinsamer die Geschichte betrachtet wird, umso einfacher ist der Weg in eine ökumenisch gestaltete Zukunft. Daher hat das Projekt „500 Jahre Täuferbewegung“ das ökumenische Potenzial einer Etablierung einer ökumenischen Gedächtniskultur im Blick auf die Täuferbewegung und ihre Entwicklungen in den letzten 500 Jahren. III. Ausblick: Das ökumenische Potenzial der Erinnerung „Die Geschichtsschreibung der täuferischen Gruppen war lange sehr konfessionell ausgerichtet und intentional. Der Blick zurück geschah mit einer normativen Ausrichtung. Das Vorbild der Vorfahren wurde zum Ideal und im heilsgeschichtlichen Plan Gottes gaben die Autoren – ab dem 19. Jahrhundert auch Autorinnen – den Täufern stets einen prominenten Platz.“27
So hatte der nach innen gerichtete Blick auf die Täufer durchaus immer eine selektive Wahrnehmung der Geschichte zur Folge. Von den anderen Seiten war der Blick auf die Täufer des 16. Jahrhunderts lange von Polemik und Diffamierung geprägt.28 Unterschiedliche Gedächtnistraditionen bahnten sich ihren Weg durch die Jahrhunderte. Diese im ökumenischen Licht aufzuarbeiten, ist eine der großen Chancen des Jubiläums im Jahr 2025. Um dieses Potenzial ausschöpfen zu können, sind in erster Linie sechs Instrumente hilfreich: 1. „Gedenkfeiern haben nur dann einen Wert, wenn die Beteiligten wechselseitig voreinander Rechenschaft ablegen und ihre Verantwortung füreinander wahrnehmen.“29 Dieses Zitat des ehemaligen Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen, Olav Fykse Tveit, bezogen auf das Reformationsgedenken, gilt auch für das Täufergedenken: Im gegenseitigen Zuhören und einander Wahrnehmen können die unterschiedlichen Gedächtnistraditionen in eine gemeinsame, ökumenisch verantwortete Gedächtniskultur übertragen werden. In der Wahrnehmung, dass die eigene Sichtweise eben auch nur eine Dimension des Ganzen darstellt, und im Bewusstsein, dass sie nicht die einzige und schon gar nicht die einzig wahre ist, können das Bewusstsein und die Verantwortung füreinander wachsen. Das Täuferjubiläum nimmt diesen Auftrag durch die stringente Verortung der Jubiläumsfeierlichkeiten im ökumenischen Kontext wahr und ernst. 2. Jubiläen sind immer Ausnahmezustände, und das wird auch 2025 nicht anders sein. Diese erhöhte Aufmerksamkeit sollte sich die ökumenische Welt zunutze machen, indem sie die noch unaufgearbeiteten theologischen Streitpunkte 27
von Schlachta, Täufer, S. 349. Vgl. ebd., S. 353. 29 Tveit, Olav Fykse: Das Reformationsjubiläum – ein ökumenisches Ereignis, in: Catholica 71 (2017), S. 171 – 182, hier: 171. 28
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unter einer anderen Hermeneutik, der des gewachsenen Miteinanders und der bereits spürbaren Einheit, in den Blick nimmt. Dazu gehört in ganz besonderer Weise die Frage nach der Taufe mit ihren ökumenischen Implikationen und eine Hoffnung, in dem bestehenden Desiderat der unvollendeten Diskussion über die wechselseitige Taufanerkennung eventuell weitere Schritte nach vorne zu gehen. Möglicherweise kann ein jubiläumsbezogener Perspektivwechsel hier weitere Türen öffnen. 3. Wichtig wäre neben dieser theologischen Ebene auch die Verankerung einer neuen Art der Gedächtniskultur in den Gemeinden mit der Frage nach der Relevanz für die Gegenwart. Daher sollten konkrete Projekte auf verschiedenen Ebenen dazu dienen, auf einer emotionalen Ebene viele Menschen in ein ökumenisches Täufergedenken hineinzunehmen, das auch einem erneuten Nachdenken über die eigene (konfessionelle) Geschichte Rechnung trägt. 4. Jubiläen haben eine Strahlkraft in die Gesellschaft. Christinnen und Christen können es sich in dieser Gesellschaft nicht mehr erlauben, isoliert und voneinander abgegrenzt zu leben. Der Sendungsauftrag gilt nicht einer Konfession allein, sondern allen Kirchen. Ein gemeinsames Auftreten in der Öffentlichkeit könnte auch noch einmal sehr deutlich machen, welche Entwicklungen die Gesellschaft der Täuferbewegung zu verdanken hat. Damit wird die Aufmerksamkeit nach innen und nach außen gestärkt sowie ein weiterer Beitrag zu einer ökumenischen Gedächtniskultur geleistet. 5. Erinnerungen sind ortsgebunden. Welche Kraft die bisher schon identifizierten Erinnerungsorte an die Täuferbewegung haben, zeigt das Projekt „Täuferspuren“. Erinnerungsorte zu schaffen, kann hilfreich sein, um die ökumenische Gedächtniskultur auch nachhaltig nach dem Jahr 2025 lebendig zu halten. Es geht aber nicht nur um die topographischen Orte: Es wäre daher zu überlegen, ob der bei der Eröffnung zum Täufergedenken verwendete Pilgerstab ein solches ökumenisches Zeichen sein könnte, das als ökumenischer Erinnerungsort quasi einen gemeinsamen Zugang zum Täufergedenken ermöglicht und wachhält. 6. Der Erfolg von ökumenischen Jubiläen und Gedenkfeiern hängt nicht so sehr an den Planungen und den Veranstaltungen. Er wird entscheidend mitgeprägt von Vertrauen; Vertrauen zueinander und Vertrauen auf Gott, wie Andrea Strübind konstatiert: „Die Täuferbewegungen erinnern uns aber in erster Linie an eine Haltung. In den vielen Umbrüchen und Aufbrüchen, in den Leidens- und Konfliktgeschichten zählten nicht die originelle Idee oder die alternative Lebensform, sondern das Vertrauen auf den im Glauben immer nahen Gott. Gerade diese in Leid und Konflikt bewährten Glaubenserfahrungen sind wohl das wichtigste Erbe der Täuferbewegung, das gerade in unsicheren Zeiten nichts von seiner Bedeutung verloren hat.“30 Es geht um ein Vertrauen auf Gott und Vertrauen unter30 Strübind, Andrea: Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025, in: 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.), gewagt! mündig leben, Frankfurt a. M. 2020, S. 14 – 15, hier: 15.
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einander und ineinander, dass der Partner nicht nach seinem eigenen Vorteil sucht, sondern gemeinsam auf dem Weg ist, um Gottes Auftrag nach der Einheit seiner Jüngerinnen und Jünger zu erfüllen. Mit dem Vertrauen auf Gott und dem Vertrauen zueinander kann das Täuferjubiläum als das ökumenischste, offenste und gesellschaftlich relevanteste in die Geschichte eingehen. Das Gedenken an die erste Glaubenstaufe in Zürich im Jahr 1525 wird im Jahr 2025 nicht nur die täuferischen Kirchen, sondern die gesamte ökumenische „Familie“ beschäftigen. Dass dies in dieser ökumenischen Breite so möglich werden kann, dass Schätze untereinander geteilt werden, statt einander zu beneiden, und dass Vertrauen wächst, daran hat Andrea Strübind einen erheblichen Anteil. Und dazu sind wir alle, die wir in der Ökumene engagiert sind, ihr zu großem Dank verpflichtet. Ich persönlich freue mich auf dieses Ereignis und werde alles Mögliche dafür tun, dass die weiteren Mitgliedskirchen der ACK daran teilhaben. Meinen erinnerungskulturellen Beitrag möchte ich mit Sätzen aus der Charta Oecumenica schließen, die Selbstverpflichtungen der europäischen Kirchen enthalten, an die im Jahr 2025 besonders zu erinnern sein wird: „Im Geiste des Evangeliums müssen wir gemeinsam die Geschichte der christlichen Kirchen aufarbeiten, die durch viele gute Erfahrungen, aber auch durch Spaltungen, Verfeindungen und sogar durch kriegerische Auseinandersetzungen geprägt ist.“31 Und: „Wir verpflichten uns, auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen; [wir verpflichten uns,] die Rechte von Minderheiten zu verteidigen und zu helfen, Missverständnisse und Vorurteile zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen in unseren Ländern abzubauen.“32
Literaturverzeichnis 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.): gewagt! mündig leben, Frankfurt a. M. 2020. 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.): gewagt! gemeinsam leben, Frankfurt a. M. 2021. 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.): gewagt! konsequent leben, Frankfurt a. M. 2022. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 4. Aufl., München 2009. Assmann, Aleida: Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften, Frankfurter Vorträge), 2. Aufl., Göttingen 2016. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölscher, Tonio (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9 – 19. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 31 Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, 2001, zitiert nach: www.charta-oecumenica.de [Zugriff 29. 4. 2022], Abschnitt 3. 32 Charta Oecumenica, Abschnitt 4.
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Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmücke (insel taschenbuch 1002), Frankfurt a. M. 1987. Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, 2001, zitiert nach: www.charta-oecumenica.de [Zugriff 29. 04. 2022]. Enns, Fernando (Hrsg.): Heilung der Erinnerungen – befreit zur gemeinsamen Zukunft. Mennoniten im Dialog, Frankfurt a. M./Paderborn 2008, S. 241 – 282. Fleischmann-Bisten, Walter: Ausgegrenzt, eingeladen und lernfähig. Beobachtungen zur Situation zwischen dem landeskirchlichen und freikirchlichen Protestantismus in Deutschland im Kontext des Reformationsjubiläums 2017, in: Ökumenische Rundschau 66 (3/2017), S. 310 – 324. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Soziologische Texte 34), Berlin/Neuwied 1966. Hammes, Verena: Erinnerung gestalten. Zur Etablierung einer ökumenischen Gedächtniskultur am Beispiel der Reformationsmemoria 1517 – 2017 (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 81), Paderborn 2019. Nora, Pierre (Hrsg.): Les lieux de mémoire, 7 Bände, Paris 1984 – 1992. Schlachta, Astrid von: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2020. Schlachta, Astrid von: Innehalten, reflektieren, sich aufmachen. Gedenkjahre, ihre Symbole und ihre Botschaften, in: 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.), gewagt! mündig leben, Frankfurt a. M. 2020, S. 16 – 17. Schlachta, Astrid von: Mennoniten und Baptisten. Vergessene und wechselvolle Episoden einer gemeinsamen Geschichte, in: 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.), gewagt! gemeinsam leben, Frankfurt a. M. 2021, S. 16 – 17. Strübind, Andrea: Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im ,Dritten Reich‘ (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 1), Neukirchen-Vluyn 1991. Strübind, Andrea: Tradition aus baptistischer Sicht, in: Oberdorfer; Bernd/Swarat, Uwe (Hrsg.), Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 89), Frankfurt a. M. 2010, S. 153 – 164. Strübind, Andrea: Erbe und Ärgernis. Was gibt es für die Kirchen aus täuferischen und nonkonformistischen Traditionen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 zu feiern?, in: Spangenberg, Volker (Hrsg.), Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht (Kirche – Konfession – Religion 59), Göttingen 2013, S. 71 – 87. Strübind, Andrea: Glaube und Gewissensfreiheit. Eine freikirchliche Sicht, in: Söding, Thomas/Oberdorfer, Bernd (Hrsg.), Kontroverse Freiheit. Die Impulse der Ökumene (Quaestiones Disputatae 284), Freiburg i. Br. 2017, S. 55 – 80. Strübind, Andrea: Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525 – 2025, in: 500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V. (Hrsg.), gewagt! mündig leben, Frankfurt a. M. 2020, S. 14 – 15. Tveit, Olav Fykse: Das Reformationsjubiläum – ein ökumenisches Ereignis, in: Catholica 71 (2017), S. 171 – 182.
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Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit, 2. Aufl., Leipzig/Paderborn 2013. Weinrich, Harald: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens (Beck’sche Reihe 1633), München 2005.
Begum Sumru Der märchenhafte Aufstieg einer islamischen Tänzerin zur einzigen katholischen Herrscherin in Indien Von Gudrun Löwner Etwa zwei Drittel aller indischen Christen (laut Zensus 2011 sind 2,3 % der Bevölkerung Christen) gehören der katholischen Kirche an, das sind circa 18 Millionen Menschen. Genau kann man es nicht sagen, da zahlreiche Christen eine Doppelmitgliedschaft haben, sowohl in einer der etablierten Kirchen wie der katholischen als auch in einer der neueren charismatischen Pfingstkirchen, die allenthalben wie Pilze aus dem Boden sprießen. Die Christen leben nicht gleichmäßig über das Land verteilt, sondern sind vor allem in Südindien, in Kerala und Tamil Nadu, in dem einst portugiesischen Goa und in den nordöstlichen Staaten wie Mizoram, Nagaland, Arunachal Pradesh etc. anzutreffen. In Nordindien sind es weniger als 0,5 % der Bevölkerung. Bei diesen wenigen Christen ist es umso erstaunlicher, dass die meisten Kirchengeschichten Indiens den Aufstieg, die Konversion und die etwa fünfzigjährige Herrschaft der einzigen katholischen Herrscherin in Indien einfach ignorieren. Es scheint, dass die Kirchengeschichtsschreibung sich der Herkunft dieser wichtigen Glaubenszeugin schämt und sie aus viktorianischer Prüderie totschweigt, von neueren Ausnahmen abgesehen.1 Der deutsche Jesuit Severin Noti widmete jedoch ihr und ihrem wahrscheinlich deutschen Lebensgefährten Walter Reinhardt bereits im Jahre 1902 einen ganzen Band.2 Während die katholische Kirche und die Christen insgesamt sie offiziell lieber vergessen wollten, fand ihr Bollywood-reifes Leben jedoch viel Interesse bei Hindi-Filmemachern und Autoren und Autorinnen im 20. Jahrhundert.3 1 Vgl. Fernando, Leonard/Gisbert-Sauch, George: Christianity in India, New Delhi 2004, S. 222; Sharma, Raj Bahadur: History of Christian Missions. North Indian Perspective, 2. Aufl., New Delhi 2005, S. 52 – 58; Thomas, P.: Christians and Christianity in India and Pakistan (1954), London and New York 2020, S. 126 – 146. 2 Vgl. Noti, Severin: Das Fürstentum Sardhana, Geschichte eines deutschen Abenteurers und einer indischen Herrscherin mit 42 Abbildungen, Freiburg im Breisgau 1906. 3 Vgl. Chatterjee, Veera: All that is ended, New Delhi 1979; Lal, John: Begam Samru. Fading Portrait in a Gilded Frame, 2. Aufl., New Delhi 2012; Sharma: Preethi: Begum Samru. Her Life and Legacy, Delhi 2009. Larneuil, Michael: Begum Samru of Sardhana, Übersetzung aus dem Französischen, New Delhi 2011; Keay, Julia: Farzana. The Tempestuous Life and Times of Begum Sumru, Delhi 2013; Sharma, Partap: Begum Sumroo. A play in three acts, 2. Aufl., New Delhi 2007; Shamsuddin: The Loves of Begum Sumroo, Delhi 1967.
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Gudrun Löwner
Abb. 1: Porträt Begum Samru von Jivan Ram, Wasserfarbe auf Papier mit goldenem Rahmen, ca. 1830, Copyright Victoria and Albert Museum.
Bereits zu ihren Lebzeiten war Begum Sumru eine Legende, und jede englische Lady von Rang wollte sie in Nordindien besuchen und kennenlernen oder auf eine ihrer berühmten Feiern eingeladen werden. Lady Nugent erwähnt Begum Sumru in ihrem Tagebuch.4 Ann Deane beschreibt sie so: „Her features are still handsome, although she is now advanced in years. She is a small woman delicately formed, with beautiful hazel eyes; a nose somewhat inclined to the aquiline, a complexion very little darker than an Italian, with the finest turned hand and arm I ever beheld. Zophanay5, the painter when he saw her, pronounced it a perfect model. She is uni-
4 Vgl. Cohen, Ashley L.: Lady Nugent’s East India Journal, hrsg. mit Einführung von A. L. Cohen, New Delhi 2014, S. 216. 5 Johann Zoffany (1733 – 1810) ist ein deutscher Maler, der von 1783 – 1789 in Indien als berühmter Porträtmaler tätig war. Wahrscheinlich hat er Begum Sumru porträtiert, aber das Bild ist nicht mehr vorhanden, während es viele andere von ihr gibt.
Begum Sumru
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versally attentive and polite. A graceful dignity accompanies her most trivial actions; she can be even fascinating when she has any point to carry.“6
Außerdem war sie für ihre Großzügigkeit bekannt. Wie damals und bis heute in Indien auf Hochzeiten üblich ist, entlässt man Gäste nicht ohne ein Geschenk. Begum Sumru verschenkte an europäische Besucherinnen handgestickte Kaschmirschals, die sie auch selbst sehr liebte, sowie Seide oder Schmuckstücke. Der Wert jedes Geschenks entsprach damals etwa 15 – 25 g Gold.7 Lassen Sie uns das Leben dieser außergewöhnlichen Frau im 18. Jahrhundert in Nordindien genauer betrachten. I. Der Aufstieg einer islamischen Tänzerin Die Herkunft von Farzana, wie Begum Sumru früher hieß, liegt im Dunkeln. Da ihre Vergangenheit als Nautchtänzerin8 bekannt und für sie in ihrer neuen Position sowieso kompromittierend war, hatte sie keinerlei Interesse, selbst etwas über ihre frühe Vergangenheit zu veröffentlichen. Bekannt ist, dass Farzana als Teil einer Tanztruppe, eines Kothas9, im Chauri Bazaar in Delhi ins Rampenlicht trat. Dort trafen sich wohlhabende Inder und Europäer, die aber nicht wohlhabend genug waren, um eine Tanztruppe exklusiv zu sich nach Hause zu bestellen. Gefiel ihnen nach der Tanzdarbietung eine Tänzerin besonders gut, so konnten sie gegen entsprechende Bezahlung an die Besitzerin des Etablissements, meist ein älteres, hoch angesehenes früheres nautch girl, die Tänzerin für eine Nacht „mieten“. Es gab verschiedene Ebenen solcher Kothas. Zu den besseren zu gehören, war voller Prestige, und den höchsten Rang nahmen die deredar tawaifs ein, die für sich in Anspruch nahmen, dass sie vom Hof der Mogulherrscher abstammten.10 Traditionellerweise wurden die Töchter der nautch girls ab dem Alter von fünf Jahren als Sängerinnen und Tänzerinnen umfangreich ausgebildet und übernahmen den Beruf der Mutter. In Armut geratene Müt6
Zit. nach: Thomas, Christians and Christianity, S. 144. Vgl. ebd., S. 145. 8 Nautch („Tanz“) bezeichnet die säkulare Variante des Tempeltanzes, die von muslimischen und hinduistischen Frauen zum Vergnügen eines meist wohlhabenden Publikums in speziellen Häusern, Kothas genannt und auf Einladung in Schlössern und Privathäusern dargeboten wurden. 9 Kothas waren Animierbetriebe auf verschiedenen Ebenen, am besten vergleichbar mit den japanischen Geisha Etablissements. Im 18. und 19. Jahrhundert waren die hochrangingen Kothas sehr respektiert, ebenso ihre nautch girls und Musikanten, die gutes Geld verdienten. Kein indischer Aristokrat würde eine Einladung geben für Europäer und Europäerinnen sowie Inder und Inderinnen ohne eine Nautch-Gruppe dazu einzuladen. Lediglich Missionare hielten sich von solchen Veranstaltungen, die oft der Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens waren, fern oder wurden gar nicht erst eingeladen. Die Tänzerinnen waren völlig bekleidet mit kostbaren Stoffen und glitzernden Juwelen, echten und unechten. 10 Dera heißt Zelt. Das heißt, diese hochgeschätzten Tänzerinnen gingen mit ihren Patronen auf die Jagd, aber begleiteten sie auch auf Feldzügen, während die legalen Ehefrauen im Harem unter Purdah zu Hause blieben. Vgl. Neville, Pran: Nautch Girls of the Raj, Gurugram 2009, S. 68. 7
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ter verkauften als Witwen oder verstoßene Ehefrauen ihre Mädchen an Kothas, die einen Preis ja nach Schönheit des Mädchens zahlten. In den Zeiten des Krieges und Umbruchs im 18. Jahrhundert verkauften auch verarmte Eltern die Jungfernschaft ihrer Tochter an Kothas, die dafür gut bezahlten. Häufig wird die Herkunft von Farzana mit einer Mutter verknüpft, die selbst einmal Nautch-Tänzerin in Delhi gewesen sein soll, bis Asad Khan sich in sie verliebte, sie freikaufte und in seinen Harem aufnahm. Asad Khan war wohl ein Adeliger Saiyid arabischer Herkunft und lebte in Kutuna, etwa 80 Kilometer von Delhi entfernt. Bei seinem Tod um 1760 soll der Stiefsohn die Konkubine mit ihrer Tochter völlig mittellos verstoßen haben, die sich dann auf den Weg nach Delhi machte, um in ihrem früheren Kotha Zuflucht zu suchen. Dort soll die Mutter verstorben sein oder hat ihre Tochter an das Kotha verkauft.11 Anderen Berichten zu folge soll sie aus Kaschmir stammen, wo viele nautch girls herkamen, die eine so helle Hautfarbe hatten wie Farzana.12 Unbestritten ist, dass um das Jahr 1765 oder etwas später Farzana mit etwa fünfzehn Jahren der funkelnde Brilliant der Tanztruppe ihres Kotha war. Eines Tages kündigte sich der damals in Nordindien bekannte und gefürchtete Abenteurer, Söldnergeneral von einer Truppe von etwa 3000 – 3900 indischen Soldaten und etwa 100 europäischen Offizieren, Walter Reinhardt in diesem Kotha als Besucher an, um sich und einige seiner europäischen Offiziere zu unterhalten. Der ca. 30 Jahre ältere Söldnerführer verliebte sich in die etwa 15jährige Farzana und kaufte sie der Besitzerin des Kotha ab, sicherlich für eine hohe Summe von Goldmünzen, denn sie hatte eine große Zukunft als Tänzerin vor sich. Reinhardt hatte damals bereits einen Sohn, Louis Balthasar, mit einer anderen indischen Frau, Barri Bibi, aber das war nichts Außergewöhnliches. Der britische Resident in Delhi, Sir David Ochterlony hatte noch Anfang des 19. Jahrhunderts 13 Konkubinen, auch Bibis genannt, die jeden Abend in aller Öffentlichkeit in Delhi einen Ausritt auf ihren Elefanten machten.13 Farzana wurde von da an gemäß den meisten Quellen als „Ehefrau“ betrachtet. Reinhardt’s Söldnertruppe nannte sie „Sumru ki Begum“, Frau von Sumru, gemäß dem Beinamen, den Reinhardt hatte (vom Französischen Sombre, der Düstere), „a name that pleased her so much that, although she never formally married her lugubrious lover, she would use for the rest of her life.“14 Niemand hätte damals einen katholischen Christen mit einer Muslimin verheiraten können, und keiner der beiden konvertierte zu Lebzeiten. Trotzdem waren solche binationalen Lebensgemeinschaften, die religiöse und kulturelle Unterschiede überwanden, an der Tagesordnung und hielten lange, denn nur wenige europäische Frauen wagten sich im 18. Jahrhundert nach Indien.
11
Vgl. Lall, Begam Samru, S. XVIII. Vgl. Thomas: Christians and Christianity, S. 128. 13 Vgl. Gupta, Archana Garodia: The Women who ruled India, Gurugram 2019, S. 223. 14 Keay, Farzana, S. 65. 12
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II. Walter Balthazar Reinhardt Begum Sumru oder Samru und ihren Lebenspartner verband der Wunsch, schon zu Lebzeiten über ihre Vergangenheit den Schleier des Vergessens zu werfen. Walter Balthazar Reinhardt (1725 – 1778), wegen seiner dunklen Vergangenheit Sumru genannt, stammt aus dem deutschsprachigen Raum, woher genau ist ungewiss. Der europäische Abenteurer war entweder der Sohn eines Fleischers, Bauern oder ähnliches und kam auf einem Schiff nach Indien, wo er das Kriegshandwerk erlernte. Er kam entweder aus Deutschland, Schweiz, Österreich oder Lothringen und schaffte es, in fernen Landen vom Analphabeten zum Landbesitzer mit einem jährlichen Einkommen von 600.000 Rupies (heute etwa 6 Millionen englische £) aufzusteigen. Gemäß Sleeman, der sorgfältig recherchierte, soll Reinhardt aus Salzburg in Österreich gekommen sein und sich der französischen Armee in Indien angeschlossen haben.15 Danach hat er eine Privatarmee mit etwa 4000 indischen Soldaten und 100 europäischen Offizieren aufgebaut, die er diszipliniert und erfolgreich in den Kampf führte für denjenigen, der Unterstützung im Krieg brauchte und gut bezahlte. Der letzte in einer langen Reihe von Auftraggebern für die Söldnerarmee war der Mogulherrscher Shah Alam selbst. Durch geschicktes Taktieren, an dem Begum Sumru stark beteiligt war, gelang es ihm als Bezahlung für sich und seine Söldnertruppe ein gutes Jagir auszuhandeln. Dieses Lehen, bestehend aus Land und Dörfern auf 800 Quadratmeilen in der Nähe von Meerut und den daraus resultierenden Steuern, war mehr als genug für ein Leben in Frieden. Begum Sumru übernahm sofort den Bau ihres ersten Palastes in Sardhana, in der Nähe der Basilika, die sie später bauen ließ und widmete sich mit viel Elan der Verbesserung der Landwirtschaft, der Bewässerung und der Lebensbedingungen der Bauern.16 1777 wurde Reinhardt die höchste Ehre zu Teil, als er zum Gouverneur von Agra ernannt wurde. Dies geschah sehr zum Ärger der Engländer, die ihn hassten, weil er zwischen 60 – 200 britische Zivilisten getötet hatte; eine Tat, die ihm später viele schlaflose Nächte einbrachte. 1769 unterstütze Reinhard finanziell den Jesuitenvater Wendell nachhaltig beim Wiederaufbau der Jesuitenkirche in Agra, die aus dem Jahre 1598 stammt. 1778 starb Walter Reinhardt in Agra nicht im Krieg, sondern im Bett an einer verschleppten Grippe/Lungenentzündung. Sterbend rief er seinen Sohn zu sich und vermachte ihm seine Truppe. Von Begum und ihrer Anwesenheit bei dem sterbenden Lebensgefährten wissen wir nichts. Wir wissen aber, dass er nicht beichtete, bevor er verstarb, obwohl er ein gläubiger Katholik war.17 Nach seinem Tod wurde er im Garten des Gouverneurspalastes in ungeweihter Erde beigesetzt. Dies erstaunt sehr oder in gewisser Weise auch nicht. Es scheint, dass trotz aller Spenden der in 15 Vgl. Sleemann, William Henry: Rambles and Recollections of an Indian Official, Bd. 2, London 1844, nachgedruckt New Delhi 1998, S. 378. 16 Vgl. Keay, Farzana, S. 86. 17 Vgl. Lal, Begam Samru, S. 22.
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,Sünde lebende‘ Reinhard nicht würdig war, auf dem alten nahegelegenen, bis heute existierenden und benutzten katholischen Friedhof beigesetzt zu werden.18 Der Mogulherrscher Akbar (1542 – 1605) hatte bereits das Land für den Friedhof (Padros Santos) den Jesuiten geschenkt, damit dort christliche Ausländer an seinem Hof, besonders Armenier bestattet werden konnten. III. Der Aufstieg von Begum Sumru Nun endet die Geschichte der beiden hier nicht. Begum Sumru versank nicht im Vergessen, sondern setzte ihren kometenhaften Aufstieg fort. Die Söldnertruppe Reinhardts verweigerte seinem Sohn die Gefolgschaft und forderte, dass Begum Sumru die Oberherrschaft über die Truppe übernehmen sollte. Und tatsächlich gelang es ihr, die sich durch das Begleiten von Reinhardt in die Schlachten und ihre Intelligenz militärisches Wissen angeeignet hatte, die zusammengewürfelte Einheit zu führen und die Zustimmung von dem Mogulherrscher Shah Alam zu erlangen. Das Land, das Reinhardt von dem Mogulherrscher zugesprochen bekommen hatte, war in der Regel nicht vererbbar. Begum Sumru hatte aber schon bald Gelegenheit, den Herrscher in Delhi militärisch erfolgreich zu unterstützen, sodass er ihr aus Dankbarkeit die Dörfer bei Sardhana beließ und später sogar noch erweiterte. Für ihre militärische Hilfe bekam sie Titel verliehen wie „Stütze des Königreichs“ oder „Geliebte Tochter des Herrschers“ und erhielt weiteres Land in Badschapur, südwestlich von Delhi.19 Sie rettet dem Herrscher Shah Alam mit ihren Truppen das Leben. Als Dank dafür erhielt sie später zusätzlich einen Garten direkt gegenüber seinem eigenen Palast, dem Red Fort (Rotes Fort) in Old Delhi. Darauf errichtete die statusbewusste Begum Sumru ihren Palast in neoklassischem Stil, ungefähr ein Siebtel der Größe des Palastes von Shah Alam. Noch heute bestehen Teile des Palastes in Alt Delhi, aber er ist nicht mehr wiederzuerkennen aufgrund einer dort errichteten Bank und einem Großmarkt für elektrische Waren und Zubehör. Wahrscheinlich hat ihn ihr italienischer Architekt, Major Antonio Reghelini20 erbaut. Dafür spricht der Stil einer sehr großzügigen Villa mit einer geräumigen Freitreppe in den Garten, sowie eine von Säulen getragene Veranda. Zahlreiche Quellen berichten von den rauschenden Festen, die die Begum dort gab, besonders im Alter, als sie sich unter die Oberhoheit der Briten begeben hatte.
18 Vgl. Severin, Das Fürstentum Sardhana, S. 64. Noti weiß nichts davon, dass Reinhardt umgebettet wurde. Er geht davon aus, dass Reinhardt von Anfang an auf dem Padros Santos Friedhof beerdigt wurde. 19 Vgl. Amaladass, Anand/Löwner, Gudrun: Christian Themes in Indian Art from the Mogul Times till Today, Delhi 2012, S. 99. 20 Vgl. Eimen, Alisa: Reading Place through Patronage, in: Ruggles, D. Fairchil (Hrsg.), Woman’s Eye, Woman’s Hand. Making Art and Architecture in Modern India, New Delhi 2014, S. 23 – 24 with drawings from the palace.
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IV. Begum Sumru wird Johanna: Ihre Konversion Drei Jahre nach dem Tod von Walter Reinhardt entschied sich Begum Sumru, vom Islam zum katholischen Glauben zu konvertieren. Sie beschloss, sich von dem Karmelitermönch Gregorio in Agra in eben jener Kirche, für die ihr Lebensgefährte Walter Reinhardt viel Geld gespendet hat, am 7. Mai 1781 taufen zu lassen. Die Gründe für ihren Übertritt sind unbekannt und können nur vermutet werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel die Umbettung des toten Walter Reinhardt aus dem Gartengrab in Agra in die geweihte Erde des etablierten katholischen Friedhofs in Agra, wo ihm „seine Frau“ – wie sie sich sah, – ein Grabmal im muslimischen Stil mit einer Kuppel errichten ließ, ähnlich einem in der Nähe gelegenen Grab für Jesuiten, die in Indien verstorben waren. Es erscheint plausibel, dass in Zeiten, in denen Himmel und Hölle in Christentum und Islam eine wichtige Rolle spielten und Reinhardt sich immer wieder von den von ihm getöteten britischen Zivilisten in Patna verfolgt sah, Begum Sumru etwas für sein Seelenheil tun wollte. Gleichzeitig konnte sie sich auch besser als seine Witwe präsentieren, wenn sie mit ihm die Religion teilte. Da zahlreiche Europäer und Europäerinnen an ihrem Hof aus Italien, Portugal und Spanien kamen, war ihr zumindest das katholische Christentum in seinen Ritualen und Festen bekannt. Da sie im täglichen Leben Persisch sprach, die Sprache der Aristokraten im damaligen Nordindien, kann sie nur rudimentär etwas über die christliche Lehre erfahren haben. Wenn sie den Briten einen Gefallen hätte tun wollen, dann hätte sie protestantisch werden müssen. Also warum wurde sie katholisch? Es liegt nahe zu vermuten, dass sie einen geheimen Deal mit dem Karmelitermönch geschlossen hatte. Nach dem Schema: Ich konvertiere zu Deiner Religion und dann beerdigt ihr „meinen Mann“ auf eurem Friedhof.21 So könnte man die Konversion von Begum Sumru als Liebesbeweis für Walter Reinhardt werten. Ihr islamischer Gönner in Delhi, Shah Alam, war sicherlich nicht begeistert von diesem Schritt gewesen, denn der Islam sieht für Abtrünnige sogar die Todesstrafe vor. Trotzdem brauchte er sie und war dankbar, dass sie ihre Unterstützung für den islamischen Herrscher fortsetzte. 1788 machte ihr der Rohilla-Anführer Ghulam Quadir trotz ihrer Konversion zum Christentum einen Heiratsantrag und versuchte sie dazu zu überreden, mit ihm Shah Alam gefangen zu nehmen. Das lehnte sie ohne Zögern ab. Ihre Loyalität blieb dem muslimischen Herrscher und auch seinem Sohn vorbehalten. Äußerlich änderte sich nicht viel im Leben von Johanna, nachdem sie sich hatte taufen lassen. Aber möglicherweise hatte sie das Versprechen abgelegt, eine Kirche zu bauen? Vielleicht wollte sie Gott/Allah danken, dass er sie bisher geführt hatte? An ihrem Lebensstil änderte sich äußerlich nichts. Sie blieb ihrer geliebten Wasserpfeife treu und wechselte von einem Moment zum anderen in ihre jeweilige Identität. „She represented herself alternately a Muslim noblewoman, a Catholic aristocrat, a 21
Vgl. Lal, Begam Samru, S. 28 – 31.
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pious Christian aristocrat, a pious Christian and patron, benefactor and benevolent ruler to the people of Sardhana.“22 Obwohl sie nur 4 1/2 Fuß (ca. 1,37 m) groß war, wurde sie hoch geachtet und respektiert. Sleeman schreibt: „She adopted the European models of intercourse, appearing in public on an elephant, in a carriage and occasionally on horseback, with her head covered and dining at table with gentlemen […] but in no situation did she lose sight of her dignity.“23 Was die Ausübung ihrer neuen Religiosität angeht, so schrieb Pater Adeodatus später nach Rom: „It is true that this princess is a Christian because she has been baptized, but to all intends and purposes she is still a true Muhamedan. It is believed that in all her life she approached the Sacrament of Confession only once.“24 Wenn die katholischen Missionare mehr äußerliche Frömmigkeit erwartet hatten, als Johanna praktizierte, so müssen sie doch überwältigt gewesen sein von ihrer Bautätigkeit, die sie in einem wahren ökumenischen Geist ausübte, der allerdings von der katholischen Kirche damals gar nicht geschätzt wurde. V. Begum Sumrus persönliches Leben Man kann sich vorstellen, dass mehrere ihrer europäischen Offiziere sie als schöne reiche Witwe ohne Erben gerne geheiratet hätten. Der irische Offizier George Thomas war Analphabet, und obwohl sie im Allgemeinen viel Vertrauen in seine militärischen Fähigkeiten hatte, entwickelte sie kein Interesse an ihm als Heiratskandidaten. 1790 jedoch trat bei ihr in der Armee der schneidige französische Offizier Le Vassoult seinen Dienst an. Er war charmant, gebildet, wahrscheinlich ein adeliger Flüchtling, und die etwa 40-jährige Begum Sumru verliebte sich in ihren Offizier, sehr zum Ärger anderer Offiziere. Jeder riet ihr dringend von der Affäre ab, aber sie ging noch einen Schritt weiter. In einer geheimen katholischen Zeremonie heiratete Begum den Adeligen Le Vassoult 1793 mit zwei Offizieren als Trauzeugen. Diese Liebesheirat endete fast mit dem Verlust ihres Landes und ihrem Tod. Aber der verschmähte irische Offizier George Thomas rettete sie vor der Revolte des Stiefsohns, der ihre Heirat nutzen wollte, um sich endlich in Sardhana selbst an die Macht zu bringen. Ein Selbstmordpakt zwischen Begum Sumru und ihrem Ehemann auf der Flucht führte dazu, dass er sich umbrachte, als er annahm, sie sei tot. In Wirklichkeit aber war sie nur verwundet und mit der Hilfe von Offizier Thomas und der MarathaFührer, die er anheuerte, wurde Begum Sumru wieder Herrin in Sardhana. Danach ist nichts mehr über weitere Ehen bekannt.25
22 Gosh, Durba: Sex and the Family in Colonial India. The Making of an Empire, Cambridge 2006, S. 155. 23 Sleemann, Rambles, S. 288. 24 Zit. nach Lall, Begam Samru, S. 32; Sharma, History of Christian Mission, S. 55. 25 Vgl. Lall, Begam Samru, S. 42 – 45.
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VI. Der Bau der St. Mary’s Kirche in Sardhana Die katholische Herrscherin wusste, dass es ihre Aufgabe war zu bauen, zu repräsentieren und zu spenden. Sie unterhielt mindestens Residenzen in fünf Städten: Khirwa, Sardhana, Jalalabad, Meerut und zwei in Delhi.26 Um 1809 begann sie mit dem Kirchenbau in Sardhana, der 1822 beendet werden konnte. 1829 wurde die Kirche mit einem Stein in Latein und in Persisch eingeweiht, woran man wieder ihre beiden Identitäten sieht. Der lateinische Grundstein lautet übersetzt: „To God most good and great, the most illustrious Lady Joanna ruler over Sardhana raised (this church) from its foundations at her own expense, and dedicated under the title and patronage of the virgin Mary, the Mother of God, in the year of Our Lord, 1822.“27 Die persische Inschrift unterscheidet sich leicht. Maria fehlt, stattdessen wird Christus in Übereinstimmung mit den muslimischen Traditionen erwähnt und ihr Name wird als „Zebunissa“ angegeben. Mit Recht kann man sagen, dass Begum stolz auf ihre wunderschöne Kirche war. 1834 schicke sie fünf Lithographien an den Papst, die ihre Kirche darstellten und schrieb: „I am proud to say it is said to be the finest without any exception in India“28. Die Kosten wurden mit 400.000 Rs beziffert, etwa weniger als das Jahreseinkommen von Walter Reinhard, als er starb. Wie für ihre Paläste bevorzugte sie auch für ihre Kirche den neoklassischen kolonialen Stil. Dass sie dieses und andere Bauprojekte durchführte, als sie schon relativ alt war, zeigt, dass sie, die selber ohne leibliche Kinder war, durch ihre Bautätigkeit in Erinnerung bleiben wollte, was auch geschah. Die Kirche, war kurzzeitig Bischofssitz, verlor aber diesen Rang nach ihrem Tod. Heute ist sie eine Basilika und die größte Kirche in Nordindien. Sie hat Ähnlichkeiten mit zwei Kirchen in Kolkata (Kalkutta), der St. John’s Kirche (1784 – 1787) und der St. Andrew’s Kirche (1815). Die Kirche hat in der Mitte eine große Kuppel, die rechts und links von kleineren Kuppeln flankiert wird. Daneben erheben sich majestätisch zwei Kirchtürme. Der Innenraum folgt dem Grundriss eines lateinischen Kreuzes, und Fußboden ist mit schwarz-weißem Marmor belegt. Besonders ins Auge fällt der Altar, bei dem man sich gut vorstellen kann, dass er die Idee der Begum selbst war. Er besteht aus weißem Marmor aus Jaipur und ist geschmückt mit dekorativen floralen Einlegearbeiten mit Halbedelsteinen wie Malachit, Lapislazuli etc. Das Modell hierfür war sicherlich das Taj Mahal in Agra. Die Technik wird bis heute von sehr wohlhabenden Personen benutzt für die Herstellung von Tischen und in Jaintempeln. „Thus, inside and out, the church stands as a testament both to the Begum’s piety as well as her impressive stature as caretaker of her estate.“29 Es gibt nur ein einziges Dokument, das sie selbst durch ihren Hofschreiber hat schreiben lassen. Darin steht in blumenhaftem Persisch: 26
Vgl. Eimen, Reading Place through Patronage, S. 20. Ebd., S. 28. 28 Keegan, W.: Sardhana and its Begam, Agra 1932, S. 5. 29 Eimen, Reading Place through Patronage, S. 30 – 31. 27
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Abb. 2: St. Mary’s Basilika, Sardhana, Nordindien – Bild: Gudrun Löwner. „For every faith she built a house of prayer, Mosques, temples, churches, they are everywhere. And everything she built with loving care And beautiful for those who worshipped there. She built with coloured stones a Christian shrine, And it was painted in an azure shade A work of art and, and by hand was made […].30
Der zweite Höhepunkt der Basilika ist das Grab der Begum Sumru und ihres Erben. Der von ihr als Enkel adoptierte David Dyce befolgte ihr Testament bis zum letzten Buchstaben. Er ließ das wunderschöne Grabmal aus Marmor in Italien von Adamo Tadolini anfertigen. Es zeigt die Begum als Spitze des Grabmals und darunter diverse Szenen aus ihrem Leben. Hier ist auch ihr persönlicher Berater Rae Singh dargestellt, der Urgroßvater von Motilal Nehru. Man sieht auch den goldenen Abendmahlskelch, den sie der Kirche schenkte. Bis zum heutigen Tag gibt es jedes Jahr zwei große Wallfahrten zu dieser Kirche. Die eine ist von der katholischen Kirche sehr akzeptiert und hat Maria zum Ziel, die auf einem Kissen thront wie Begum Sumru und ein goldenes Kollier trägt in Form von Mangoblättern – dabei handelt es sich um befürwortete Indigenisierung. Die zweite Wallfahrt wird am liebsten totge30 Shreeve, Nicholas: The History of Zeb-u-nssa: The Begum Samru of Sardhana, Crossbush 1994, Zeilen 747 – 752, Manuskript heißt auf Persisch Zeb-ul Tawarikh (Ornament of History) heute in der Bibliothek in Tonk, Rajasthan mit Miniaturen u. a. ein inkulturierter Jesus in orangefarbenem Gewand.
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schwiegen, ist aber sehr umfangreich. Im indischen Islam wallfahren die Gläubigen zu den Gräbern von heiligen Männern und Frauen, an deren Todestag, Urs genannt. Genau das geschieht auch hier. Viele Muslime aus der Gegend bringen ihre Wünsche an ihrem Urs nach Sardhana und schmücken die Basilika mit Blumen. Denn das Leben von Begum Sumru lag in einer Zeit, in der Identitäten nicht scharf begrenzt waren, und so konnte sie sich ihre neue Identität schaffen. Ihr Aufstieg war phänomenal, aber das Übernehmen von Anderem (from „the other“) und der signifikante kulturelle Austausch war eher die Norm als etwas Außergewöhnliches, wie man z. B. in der Begegnung der Jesuiten mit der Mogulkultur an Akbars Hof und der daraus entstandenen Kunst sieht.
VII. Der Nachlass der Begum Sumru Bevor Begum Sumru im Alter von etwa 86 Jahren starb, hat sie ein umfangreiches Testament verfasst und darin viele karitative Organisationen bedacht sowie den Unterhalt ihrer Kirche sichergestellt. Im Sinne der katholischen Kirche war sie nicht streng gläubig, und einer der führenden katholischen Geistlichen, der Apostolische Vikar Pizzoni in Agra wollte sie vor ihrem Tod exkommunizieren, da sie aktiv die Protestanten mit finanziellen Mitteln unterstützte und selbst einen baptistischen Missionar namens Chamberlain anstellte und ihm in der Nähe ihres Palastes in Chandi Chowk für die Baptisten-Mission eine Kirche bauen ließ.31 Er verzichtete auf die Exkommunion mit Rücksicht auf die christliche Gemeinde in Sardhana, wozu damals etwa 800 – 1000 Gläubige zählten. Noti spricht sogar von 2000 katholischen Christen, sowie etwa 750.000 Einwohnern mit 955 Dörfern.32 Obwohl die katholische Kirche auf allen Ebenen in dem Testament bedacht wurde, zeigt das Testament die Willensstärke der Begum, die sich selbst mit Recht als Herrscherin von Menschen unterschiedlicher Glaubensformen verstand und sie deswegen auch gegen den Willen der Katholiken bedachte, die der Ansicht waren, nur ihre eigene Glaubensform sei allein selig machend. Begum Sumru war ihrer Zeit weit voraus als eine Christin, die sich in ihrem neuen Glauben auf das Wesentliche konzentrierte, nämlich die Nächstenliebe, und sich dabei fern hielt von den kleinkarierten Auseinandersetzungen des konfessionellen Zeitalters, als in Indien christliche „Kämpfe“ ausgetragen wurden zwischen den Konfessionen, die für indische Christen völlig irrelevant waren und sind. Für sie war die Ökumene, das Gemeinsame im Christentum entscheidend, nicht das Trennende. Wir wissen nicht zu welcher Form von Islam sie gehörte, aber können vermuten, dass die bhakti Frömmigkeit für sie wichtig war, wie dies für viele indische Muslime bis zum heutigen Tag gilt. Sie war eine prophetische christliche Missionarin mit einer Botschaft, die bis heute gültig ist. Sie liebte ihre Untertanen, verbesserte deren Einkommen und Lebensqualität und steigerte dabei gleichzeitig ihr eigenes Einkommen. Sie richtete 31 32
Vgl. Sharma, History of Christian Mission, S. 52 – 55. Vgl. Severin, Das Fürstentum Sardhana, S. 102.
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Schulen ein und auch ein Priesterseminar, welches aber nicht genügend Kandidaten hatte. Sie erließ gerechte Steuern und strich sie bei Unwettern. Es ist an der Zeit, sich ihrer zu erinnern als eine starke einheimische Säule des indischen Christentums in Nordindien. Nach ihrem Tod fiel ihr Land an die Briten, so wie es damals üblich war. Viele ihrer ausländischen Angestellten sind auf dem von ihr eingerichteten katholischen Friedhof in Sardhana in beeindruckenden Grabmälern beigesetzt, die bis heute besucht werden können. Aber ihren privaten Reichtum konnte sie frei verteilen. Auszüge aus dem Testament: a) Church of St, Mary at Sardhana. The interest of one lakh of sonat rupees was earmarked for the use and purpose of keeping the church in proper repair and of paying to the officiating bishop or priest of the said church. The residue was to be paid to the needy persons resident at Sardhana. The Fund provided an annual income of Rs. 4000. b) St. John’s College Sardhana. The interest on a lakh of sonat rupees was allocated for the support of the Roman Catholic College in the town of Sardhana started for training of native Christians as Catholic missionaries. The annual income of the fund also came to Rs. 4000 […] c) Catholic Chapel in Meerut. The interest of 12,500 sicca with an annual income of rs. 520 was set apart for necessary repairs […] d) Roman Catholic Church in Agra. The interest on 28,700 sicca (annual income being Rs. 1200) was donated for spending on the maintenance […]. e) Roman Catholic Churches in Calcutta, Bombay and Madras received together one lakh of sonat rupees […].33
Sie vermachte nicht nur große Beträge als Stiftungen für katholische Kirchen, sondern auch für die anglikanischen Kirchen in Merut und in Kalkutta, wohin sie durch den anglikanischen Bischof Reginald Heber gute Verbindungen hatte. Sie hinterließ auch Stiftungen für Hindus und Muslime und schickte Spenden zum Papst nach Rom und nach Israel für die dortigen Christen. Und alles, was sie nicht in Stiftungen vererbte, ging an einen jungen Mann, den sie als Enkel adoptierte, der leider damit nicht glücklich wurde, aber das ist eine weitere Geschichte. Begum Johanna Sumru verdient es, erinnert zu werden als einzige katholische Herrscherin Indiens, als Missionarin einer neuen ökumenischen Form von Christentum, als Wohltäterin der Armen und der Kirche, als Bauherrin der bis heute bemerkenswerten Marienwallfahrtskirche in Nordindien, und zwar nicht trotz ihrer umstrittenen Herkunft, sondern gerade deswegen, weil dies ihren Aufstieg und ihr Engagement umso bemerkenswerter erscheinen lässt.
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Sharma, History of Christian Mission, S. 54.
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Literaturverzeichnis Amaladass, Anand/Löwner, Gudrun: Christian Themes in Indian Art from the Mogul Times till Today, Delhi 2012. Chatterjee, Veera: All that is ended, New Delhi 1979. Cohen, Ashley L.: Lady Nugent’s East India Journal, hrsg. mit Einführung von A. L. Cohen, New Delhi 2014. Eimen, Alisa: Reading Place through Patronage, in: Ruggles, D. Fairchild (Hrsg.), Woman’s Eye, Woman’s Hand. Making Art and Architecture in Modern India, New Delhi 2014, S. 12 – 40. Fernando, Leonard/Gisbert-Sauch, George: Christianity in India, New Delhi 2004. Gosh, Durba: Sex and the Family in Colonial India. The Making of an Empire, Cambridge 2006. Gupta, Archana Garodia: The Women who ruled India, Gurugram 2019. Keay, Julia: Farzana. The Tempestuous Life and Times of Begum Sumru, Delhi 2013. Keegan, W.: Sardhana and its Begam, Agra 1932. Lal, John: Begam Samru. Fading Portrait in a Gilded Frame, 2. Aufl., New Delhi 2012. Larneuil, Michael: Begum Samru of Sardhana, Übersetzung aus dem Französischen, New Delhi 2011. Neville, Pran: Nautch Girls of the Raj, Gurugram 2009. Noti, Severin: Das Fürstentum Sardhana, Geschichte eines deutschen Abenteurers und einer indischen Herrscherin mit 42 Abbildungen, Freiburg im Breisgau 1906. Shamsuddin: The Loves of Begum Sumroo, Delhi 1967. Sharma, Partap: Begum Sumroo. A play in three acts, 2. Aufl., New Delhi 2007. Sharma, Raj Bahadur: History of Christian Missions. North Indian Perspective, 2. Aufl., New Delhi 2005. Sharma: Preethi: Begum Samru. Her Life and Legacy, Delhi 2009. Shreeve, Nicholas: The History of Zeb-u-nssa: The Begum Samru of Sardhana, Crossbush 1994. Sleemann, William Henry: Rambles and Recollections of an Indian Official, Bd. 2, London 1844, nachgedruckt New Delhi 1998. Thomas, P.: Christians and Christianity in India and Pakistan (1954), London/New York 2020.
Ökumenische Begleitung in konfessionellen Reformprozessen Der römisch-katholische „Synodale Weg“ und die christliche Weltkirche Von Dorothea Sattler I. Wahl der Thematik und Skizze des Vorhabens Welche ökumenisch-theologische Bedeutung hat es, wenn an Reformprozessen innerhalb einer Konfessionsgemeinschaft Kirchenmitglieder anderer christlichen Traditionen teilhaben? Diese Frage stelle ich im Kontext der vorliegenden Publikation nicht ohne Hintergrund: Andrea Strübind hat sich einladen lassen, als baptistische Christin in einem römisch-katholischen Reformgeschehen mitzuwirken, der in der deutschen Kirche als „Synodaler Weg“1 bezeichnet wird und im größeren Zusammenhang des weltweiten römisch-katholischen „Synodalen Prozesses“2 steht, zu dem Papst Franziskus eingeladen hat. Die kirchenhistorische Expertise von Andrea Strübind ist im Forum III des „Synodalen Wegs“, das zum Thema „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ arbeitet, sehr willkommen. Andrea Strübind formuliert Entwürfe zu Textteilen der zu erstellenden Dokumente, argumentiert bei den Beratungen, nimmt an Abstimmungen im Forum III teil und ist mit Rederecht zu den Synodalversammlungen eingeladen. Meine Überlegungen hier sind eine kleine Dankesgabe für dieses Engagement. Zugleich bin ich gewiss, dass Andrea Strübind es wertschätzt, wenn ich die Fragestellung grundsätzlich aufnehme und ihre Rolle im aktuellen Geschehen nicht im Detail beschreibe. Die gewählte Thematik steht im größeren Zusammenhang von Überlegungen zu wünschenswerten Formen ökumenischer Sensibilität bei der Ausrichtung der eigenen Konfessionalität entlang der Leitlinien des einen christlichen Evangeliums: In welchem Verhältnis stehen auf Dauer gestellte, institutionalisierte Formen der theologischen Beratung unter Delegierten aller Kirchen zu den Weisen der Kommunikation über Themen des christlichen Glaubens in der eigenen kirchlichen Gemeinschaft? Welche Wirkung hat die Anwesenheit von Mitgliedern anderer Kirchen in konfessionellen Gremien? Wer wählt die Gäste nach welchen Gesichtspunkten 1
Umfassende Auskünfte zum gesamten „Synodalen Weg“ sowie links zu den Dokumenten hält folgende Internet-Adresse bereit: www.synodalerweg.de. 2 Ständig aktualisierte Berichte zum weltweiten „Synodalen Prozess“ finden sich unter www.katholisch.de.
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aus? Welche Möglichkeiten der Mitwirkung an Reformprozessen erhalten Beraterinnen und Berater aus anderen Kirchen? Sollte es nicht die Regel sein, dass es zumindest Beobachter und Beobachterinnen aus der Ökumene bei wichtigen konfessionellen Versammlungen gibt? Sollte es Ordnungen dazu geben? Welche Grenzen der Belastbarkeit sind diesbezüglich auch angesichts von personellen und finanziellen Ressourcen zu bedenken? Vieles spricht dafür, dass es in formaler wie auch in inhaltlicher Hinsicht im Sinne der letzten Generalversammlung des römisch-katholischen Episkopats auf dem 2. Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) ist, eine Partizipation von Vertreterinnen und Vertretern anderer Kirchen bei den eigenen Beratungen zu ermöglichen. Erstmals nahmen bei diesem Konzil Beobachter nicht- römisch-katholischer Konfession an den Plenarsitzungen teil.3 Die Konzilsdokumente fordern dazu auf, die eigene katholische Lehre Mitgliedern anderer Kirchen in einer Sprache darzulegen, die für sie verständlich ist.4 Der für die römisch-katholischen Theologinnen und Theologen, die in ökumenischen Dialogen tätig sind, formulierte Anspruch, „Geist und Sinnesart“5 der Geschwister zu kennen, lässt sich in Wechselperspektive als eigene Bereitschaft verstehen, auch den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern im Blick auf die Römisch-katholische Kirche „eine bessere Kenntnis der Lehre und der Geschichte, des geistlichen und liturgischen Lebens, der religiösen Psychologie und Kultur“6 zu ermöglichen. Gewiss bezieht sich die Einschätzung der Konzilsväter, hinsichtlich der wachsenden Vertrautheit miteinander seien „gemeinsame Zusammenkünfte, besonders zur Behandlung theologischer Fragen, sehr dienlich, bei denen ein jeder mit dem anderen auf der Ebene der Gleichheit spricht (,par cum pari agat‘)“7, primär auf vereinbarte ökumenische Dialoge. Die Grundhaltung der Offenheit für Transparenz im Miteinander lässt sich jedoch auch auf das Geschehen der Partizipation an konfessionellen Reformprozessen übertragen. Im Folgenden möchte ich im bemessenen Rahmen Überlegungen zu der Frage anstellen, was sich verändert, wenn Reformprozesse in einer christlichen kirchlichen Tradition von Menschen aus anderen Konfessionsgemeinschaften begleitet werden. Ich wähle den Begriff „Begleitung“ nicht nur deshalb, weil er auf metaphorischer Ebene zum Geschehen eines „Weges“ passt; er signalisiert auch die Möglichkeit der Einnahme einer kritisch-interessierten Distanz zu denen, die sich auf Reform3 Vgl. Washington, Christopher Thomas: The Participation of Non-Catholic Christian Observers, Guests and Fraternal Delegates at the Second Vatican Council and the Synods of Bishops. A Theological Analysis (Roma Editrice Pontificia Università Gregoriana / Serie teologia 213), Rom 2015. 4 Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus „Unitatis Redintegratio“ (UR), Nr. 11. Die in deutscher Sprache autorisierten Dokumente des 2. Vatikanischen Konzils sind leicht zugänglich in: Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert (Hrsg.): Kleines Konzilskompendium, Freiburg/Basel/Wien 1966 (zahlreiche Neuauflagen unverändert). 5 Ebd., UR 9. 6 Ebd. 7 Ebd.
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wegen befinden. Allerdings ist eine „Begleitung“ mehr als ein „Gehen nebeneinander“. Letztlich sind christgläubige Menschen immer auf einem Weg mit dem Evangelium in der Zeit in die Ewigkeit. Mein Beitrag hat zwei Hauptteile: Ich informiere zunächst über die Geschichte, die Themen und die Verfahrensweisen auf dem „Synodalen Weg“ (Abschnitt II.); dabei gehe ich auch auf die Frage ein, welche Formen ökumenischer Partizipation dabei bestehen und welche ökumenische Rezeption dieses römisch-katholische Geschehen nachhaltig erfährt. Ich nehme sodann exemplarisch die Thematik auf, bei der Andrea Strübind auf dem „Synodalen Weg“ besonders engagiert ist: Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche (Abschnitt III.); ich frage nach der Bedeutung der ökumenischen Erfahrungen bei der konfessionellen Reflexion dieser Thematik. Am Ende formuliere ich einige allgemeine Gedanken zur verändernden Wirksamkeit ökumenischer Begleitung in den allen Kirchen beständig aufgetragenen Reformprozessen (Abschnitt IV.). II. Der „Synodale Weg“ der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland und weltweit In der weltweiten Christenheit mit ihrer pluralen Gestalt vieler Denominationen im jeweiligen lokalen Kontext wird der „Synodale Weg“ der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland kaum bekannt sein. In der universalen Ökumenischen Bewegung finden eher Initiativen von Päpsten Aufmerksamkeit. Das Wirken des derzeitigen Papstes Franziskus wird in der Ökumene vor allem unter dem Aspekt seiner Option für die Armen,8 seines Engagements für die Bewahrung der Schöpfung9 sowie seiner Bereitschaft, Schuldphänomene auf persönlicher wie institutioneller Ebene in der Römisch-katholischen Kirche zu beklagen, rezipiert. Fragen der Reform der römisch-katholischen Institution in ihrer amtlichen Gestalt sind in weiten Kreisen der Christenheit weniger von Interesse. Es bedarf einer spezifischen ökumenischen Motivation, um sich intensiver mit der Thematik zu befassen, auf welchen Wegen Annäherungen bei der Suche nach der sichtbaren Einheit der Kirchen zu erreichen sein könnten. Im Folgenden möchte ich die Konzeption des „Synodalen Wegs“ darstellen, eigens beschreiben, in welcher Weise eine Partizipation von Mitgliedern anderer Kirchen geschieht, sowie an einzelne Kommentierungen des Vorgangs mit Stimmen aus der Ökumene erinnern.
8
Vgl. Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM des Heiligen Vaters Papst Franziskus über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (24. November 2013). Deutsche Übersetzung: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 194, Bonn 2013. 9 Vgl. Enzyklika LAUDATO SI von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus (24. Mai 2015). Deutsche Übersetzung: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 202, Bonn 2015.
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1. Geschichte und Gestaltung des „Synodalen Wegs“10 Bei der Frühjahrsvollversammlung der deutschen Bischöfe in Lingen 2019 wurde vom damaligen Vorsitzenden Kardinal Reinhard Marx ein „Synodaler Weg“ angekündigt. Dies geschah unter dem Eindruck der Ergebnisse einer im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) von empirisch arbeitenden Instituten in Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) erstellten wissenschaftlichen Studie, die die strukturell begründeten Begünstigungen der sexualisierten Gewalt und des geistlichen Missbrauchs aufdeckte.11 Mit der Bekanntgabe des „Synodalen Wegs“ nach einem entsprechenden Beschluss der DBK noch in Lingen 2019 erfolgte eine Einladung an den damaligen Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, an diesem Reformprozess mitzuwirken. Die Beratungen im ZdK stellten die Zustimmung unter den Vorbehalt, dass ohne eine Behandlung der Thematik „Frau und Amt“ eine Mitarbeit auf dem „Synodalen Weg“ nicht möglich ist. Zur Geschichte des „Synodalen Wegs“ gehört somit die Erinnerung daran, dass das Forum „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“, bei dem Andrea Strübind mitwirkt, vom ZdK als Bedingung für seine Teilhabe an dem Reformprozess der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland erstritten worden ist. Im weltweiten Katholizismus ist die institutionalisierte Organisation eines Gremiums von Laien im ZdK, dessen Gründung mit den Anfängen der deutschen Demokratiebewegung, der institutionellen Rezeption der katholischen Soziallehre sowie der Formierung des katholischen Verbandswesens seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Verbindung steht,12 einzigartig. Aus drei Gruppierungen besteht das ZdK heute: aus Vertreterinnen und Vertretern der katholischen Verbände und der Diözesanräte sowie aus Einzelpersönlichkeiten in Politik, Sport, Kunst, Medien und Wissenschaft. Nach einer bemerkenswert kurzen Vorbereitungszeit mit der Erstellung von Satzung und Geschäftsordnung wurde der „Synodale Weg“ am 1. Advent 2019 feierlich eröffnet. Seitdem arbeiten vier Foren mit jeweils ca. 30 Mitgliedern unter der Leitung von zwei Vorsitzenden (aus den Reihen der DBK und des ZdK) zu folgenden Themen: „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ (Forum I); „Priesterliche Existenz heute“ (Forum II); 10 Vgl. eine frühe Veröffentlichung mit vielen Stimmen von Synodalen: Labudda, Michaela/Leitschuh, Marcus (Hrsg.): Synodaler Weg – Letzte Chance? Standpunkte zur Zukunft der katholischen Kirche, Paderborn 2020. Kritische Stimmen sind gesammelt in: Binninger, Christoph u. a. (Hrsg.): „Was er euch sagt, das tut!“ Kritische Beleuchtung des Synodalen Weges, Regensburg 2021. 11 Die MHG-Studie mit dem Titel „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ ist auf der homepage der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht: www.dbk.de. Am Forschungsprojekt beteiligt waren: Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim; Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg; Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg; Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug, Universität Gießen. 12 Vgl. Aschmann, Birgit: Die Stunde der Laien? 150 Jahre Zentralkomitee der deutschen Katholiken, in: Herder Korrespondenz 72 (2018) H. 11, S. 21 – 25.
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„Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ (Forum III); „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“ (Forum IV). Jedes Forum bereitet einen „Grundtext“ und fünf „Handlungstexte“ mit Beschlussvorlagen vor. Eine Präambel sowie ein „Orientierungstext“ zu hermeneutischen Fragen gehen der Erörterung von Einzelfragen voraus. Beratungen und Beschlussfassungen erfolgen an fünf Terminen in den Jahren 2020 bis 2023 in Synodalversammlungen (ca. 230 Personen). Bedingt durch die Covid 19-Pandemie gab es Verzögerungen in den Beratungsprozessen. Als Fehler erkannt wurde, dass die von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen erst ab der 2. Synodalversammlung mit eigener Stimme am „Synodalen Weg“ offiziell teilnehmen. Im Detail wäre nun aus der Perspektive einer der beiden Vorsitzenden des Forums III viel zu berichten. Auf einzelne Schwierigkeiten komme ich später zu sprechen. Wichtig ist mir, dass der „Synodale Weg“ sich als ein geistliches Geschehen versteht, bei dem Respekt vor widerstreitenden Positionierungen erwartet wird. Bewusst hat die DBK zusammen mit dem ZdK nicht die im römisch-katholischen Kirchenrecht vorgesehene Form eines Partikularkonzils13 gewählt, sondern eine im Ergebnis nicht verbindliche Gestalt der Beratungen bevorzugt, die offen bleibt für weltkirchliche Entwicklungen. Form und Inhalt des „Synodalen Wegs“ sind innerhalb der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland und weltweit nach meiner Wahrnehmung stärker umstritten als in der ökumenischen Rezeption dieses Ereignisses. 2. Formen ökumenischer Partizipation Von Beginn des „Synodalen Weges“ an hat das für die Einladung zu den Synodalversammlungen und für deren Tagesordnung verantwortliche „Erweiterte Präsidium“ (Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der DBK; Präsident/in sowie ein/e Vizepräsident/in des ZdK zusammen mit den jeweils beiden Vorsitzenden der vier Foren) nicht nur römisch-katholische Gäste aus anderen Ländern um Beobachtung und Stellungnahme gebeten, sondern diesen Dienst auch von Vertreterinnen und Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Orthodoxen Bischofskonferenz sowie der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland erbeten. Die entsprechenden Beiträge stehen auf der Tagesordnung der Synodalversammlungen und sind – wie im Übrigen der gesamte Verlauf der Beratungen – über live-stream für alle Interessierten online zugänglich. Eine Mitarbeit in den vier Foren von Christgläubigen aus anderen Konfessionen ist mir nur im Blick auf das Forum III mit Andrea Strübind bekannt; ich überschaue 13 Vgl. Vatikan (Hrsg): Codex Iuris Canonici (CIC) – Codex des Kanonischen Rechtes aus dem Jahr 1983, bes. Can. 439 – 446, in: https://www.vatican.va/archive/cod-iuris-canonici/cic_ index_ge.html [Zugriff: 26. 08. 2022]. Die Wahl einer eigenen Kommunikationsstruktur jenseits der kirchenrechtlichen Regeln wird auch kritisch Kommentiert: Lüdecke, Norbert: Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Darmstadt 2021. Andere Bischofskonferenzen – beispielsweise jene in Australien – haben sich für ein Partikularkonzil als Reformweg entschieden.
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gewiss nicht alle Kirchenzugehörigkeiten von allen Mitgliedern der Synodalversammlung und von allen Beraterinnen und Beratern in den vier Foren. Es spricht manches dafür anzunehmen, dass durch eine personelle Präsenz von Menschen anderer Konfession die Aufmerksamkeit auf die ökumenische Relevanz der besprochenen Themen wächst. Zugleich sind angesichts der nur geringen Zeit, in der Vertreterinnen und Vertreter aus der Ökumene im Plenum der Synodalversammlung sprechen können, die Möglichkeiten gering, Einfluss auf die Beratungen zu nehmen. Immerhin geschieht der römisch-katholische Reformprozess in Anwesenheit von Menschen anderer Konfession. In informellen Zwischengesprächen und auch bei erbetenen Redebeiträgen während der Synodalversammlungen wird deutlich, dass in vielen Themenbereichen keine konfessionellen Differenzen (mehr) bestehen, vielmehr die Kontroversen jeweils innerhalb der Kirchen gegeben sind, und die Versuchung zur Polarisierung der Meinungen in jeder Kirche groß ist. Zu denken gibt, dass zu allen Themenbereichen des „Synodalen Wegs“ auch ökumenische Dokumente vorliegen, in denen kontroverse Positionen bereits reflektiert werden – beispielsweise im Hinblick auf die in der ökumenischen Weltgemeinschaft seit Jahrzehnten virulenten Fragen der Ethik,14 der Ämterlehren15 oder der theologischen Hermeneutik insbesondere bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Schrift und Tradition.16 Im Orientierungstext des „Synodalen Wegs“ und in den Grundtexten der vier Foren kommen Überlegungen zur theologischen Erkenntnislehre explizit zur Darstellung.17 Meine Wahrnehmung ist, dass die in den ökumenischen Gesprächen virulenten Fragen und die in den kirchenamtlichen Dialogen gewonnenen Erkenntnisse auf dem „Synodalen Weg“ leider bisher nicht explizit thematisiert worden sind. Dazu gibt es zunächst gute Gründe – vor allem das Erforder-
14 Wijlens, Myriam/Shmaliy, Vladimir (Hrsg.): Churches and Moral Discernment, Vol. 1: Learning from Traditions, Faith and Order Paper No. 228, Genf 2020; Wijlens, Myriam/ Shmaliy, Vladimir/Sinn, Simone: Churches and Moral Discernment, Vol. 2: Learning from History, Faith and Order Paper No. 229, Genf 2021. 15 Vgl. beispielsweise die Zusammenfassung der Ergebnisse einer langjährigen Studienarbeit des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen zum Themenkreis „Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge“, die in einem „Abschließenden Bericht“ präsentiert werden: Sattler, Dorothea/Wenz, Gunther (Hrsg.): Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Bd. III: Verständigungen und Differenzen, Freiburg/Göttingen 2008, S. 167 – 267. 16 Vgl. Sattler, Dorothea: Die Kirchen unter Gottes Wort. Schriftverständnis und Schriftgebrauch als Thema ökumenischer Dokumente, in: Schneider, Theodor/Wenz, Gunther (Hrsg.), Verbindliches Zeugnis, Bd. III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch, Freiburg/ Göttingen 1998, S. 13 – 42; vgl. im thematischen Zusammenhang auch: Mehlhausen, Joachim: Evangelische Synoden und kirchliche Lehre. Der Schriftgebrauch bei synodalen Lehrentscheidungen, in: ebd., S. 221 – 246; Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Abschließender Bericht, in: ebd., S. 288 – 389. 17 Der jeweils aktuelle Stand der Beratungen der Textdokumente ist über www.synodaler weg.de öffentlich einsehbar.
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nis, innerhalb der eigenen Konfession zu einer Einmütigkeit zu finden, die weitere Wege miteinander ermöglicht. Die Frage, wie es angesichts der bestehenden Kontroversen innerhalb der jeweils eigenen konfessionellen Kirchentradition dennoch gelingen könnte, in Gemeinschaft zu verbleiben, bewegt nicht nur die Römisch-katholische Kirche gegenwärtig. Dabei fällt auf, dass auch in anderen Kirchen dieselben Themenbereiche ein Potenzial zur Spaltung in sich tragen, die auch auf dem „Synodalen Weg“ in Deutschland besprochen werden: vorab die Frage nach der Rolle von Frauen in leitenden Diensten und Ämtern in der Kirche sowie die Frage nach der Möglichkeit der Segnung von Lebenspartnerschaften von Menschen jenseits der heterosexuellen und binären Geschlechterordnungen. Viele Kirchen bemühen sich darum, in synodalen Versammlungen Erkenntnisse zu gewinnen. Es gibt somit einen reichhaltigen Erfahrungsschatz in der Ökumene im Blick auf die Bedeutung von Synoden. Der Vorsitzende der Ökumene-Kommission der DBK, Bischof Gerhard Feige von Magdeburg, hat die Mitgliedskirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) vor dem Hintergrund des „Synodalen Wegs“ dazu eingeladen, ihre Tradition von Synodalität zu beschreiben, um in einen multilateralen ökumenischen Austausch über diese Thematik zu kommen. Auch auf weltkirchlicher Ebene ist in der Zeit der Vorbereitung der römisch-katholischen Bischofssynode zum Thema Synodalität im Herbst 2023 durch entsprechende Initiativen des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen der Blick auch auf die weltweite christliche Ökumene gerichtet. Im Juli 2022 fand in Taizé eine Tagung zur Frage der ökumenischen Bedeutung des Synodalen Prozesses der Römisch-katholischen Kirche statt. 3. Ökumenische Kommentierungen Es ist angesichts der vielen ökumenischen Gremien in Deutschland und insbesondere auch angesichts der engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Konfession naheliegend, dass der „Synodale Weg“ hohe Aufmerksamkeit auch außerhalb der Römisch-katholischen Kirche erfährt: Wir erzählen einander in der Ökumenischen Bewegung, was uns jeweils gerade bewegt. Theologische Zeitschriften planen Themenhefte.18 Stimmen von außen sind willkommen bei Gastkommentaren. Neben diesen persönlichen und formalen Gesichtspunkten leitet gewiss auch ein inhaltliches Interesse dazu an, den Reformprozess in der Römisch-katholischen Kirche im Hinblick auf die dabei gewonnenen neuen Möglichkeiten zur Annäherung auf der Suche nach der sichtbaren Einheit der Kirchen zu reflektieren. Ich kann an dieser Stelle nur einen beispielhaften Einblick in die literarisch erfassbaren Beiträge aus der Ökumene zum „Synodalen Weg“ geben. Es gibt eine lange und gute Tradition der Beobachtung von Vorgängen in der Römisch-katholischen Kirche aus der Sicht evangelischer Institutionen oder von Perso18 Vgl. das Themenheft „Synodalität“, hrsg. vom Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, 73 (2022), H. 2.
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nen in kirchenleitender Position.19 Der evangelische Beobachter der EKD, Oberkirchenrat Johannes Wischmeyer, zieht nach drei von fünf Synodalversammlungen eine eher kritische Zwischenbilanz und macht trotz aller Anerkenntnis der Reformbemühungen auf die verbleibenden Unterschiede insbesondere im Amtsverständnis aufmerksam.20 Positiver gestimmt sind einzelne Äußerungen aus der Orthodoxie.21 Das römisch-katholische Ringen um das rechte Verständnis von Synodalität hat in anderen Kirchen die Frage (wieder) virulent werden lassen, wie die eigenen Erfahrungen bei der Suche nach der Wahrheit auf Wegen gemeinschaftlicher Entscheidungsfindung sind.22 Es ist auch im römisch-katholischen Interesse, nach den Erfahrungen mit Synodalität in den anderen Kirchen zu fragen.23 Die ökumenische Verbundenheit leider auch in der Not der schmerzlichen Aufarbeitung der Formen sexualisierter Gewalt wird in einzelnen Kommentierungen der römisch-katholischen Reformbewegungen von hierfür sensiblen evangelischen Menschen zugestanden. Diese Einsicht wird zum Anlass, den „Synodalen Weg“ als eine Form der Auseinandersetzung mit dieser Thematik zu begrüßen.24 Nach meiner Wahrnehmung findet die Frage nach der (neuen) Rolle von Frauen in der Römisch-katholischen Kirche bei den ökumenischen Kommentierungen des Synodalen Wegs besondere Aufmerksamkeit. Die evangelische Positionierung wird vom langjährig tätigen Vorsitzenden des Rats der EKD, Heinrich Bedford19 Vgl. Bräuer, Martin: Ökumenischer Lagebericht 2021 Catholica, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 73 (2022), H. 1, S. 2 – 9, besonders 3 – 7; ders.: Auf dem Weg zur synodalen Kirche – ein Blick auf den katholischen Prozess von außen, in: Una Sancta 75 (2020), H. 2, S. 94 – 103; „Es der katholischen Kirche leichter machen“. Ein Gespräch mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm, in: Herder Korrespondenz 74 (2020), H. 9, S. 16 – 20; Kirchenpräsident Volker Jung, Bereit, sich zu verändern. Aus dem Bericht für die Kirchensynode der EKHN am 20. Mai, in: KNA. Ökumenische Information. Nachrichten und Hintergründe aus der Christlichen Ökumene und dem Dialog der Religionen, 2022, Nr. 27 (5. Juli 2022), Dokumentation, S. I–VIII, besonders III; „In unserem Fach kann man neurotisch werden“. Interview mit dem Kirchenhistoriker und Leibniz-Preisträger Thomas Kaufmann, in: Herder Korrespondenz 74 (2020), H. 3, S. 19 – 23. 20 Vgl. Wischmeyer, Johannes: Katholisch im besten Sinn. Der Synodale Weg – eine evangelische Sicht, in: KNA. Ökumenische Information. Nachrichten und Hintergründe aus der Christlichen Ökumene und dem Dialog der Religionen, 2022, Nr. 9 (1. März 2022), Dokumentation, S. I–III. 21 Vgl. Gstrein, Heinz: Synodaler Weg führt zusammen. Orthodoxe Stimmen zur Kollegialisierung der katholischen Kirche, in: KNA. Ökumenische Information. Nachrichten und Hintergründe aus der Christlichen Ökumene und dem Dialog der Religionen, 2022, Nr. 19 (10. Mai 2022), Dokumentation, S. 9 f. 22 Vgl. Schilberg, Arno: „Gemeinsame Wege“. Synoden in der evangelischen Kirche, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 66 (2021), S. 42 – 59. 23 Vgl. Szymanowski, Björn: Evangelische Synodalität. Wegweiser oder Warnschild für den Synodalen Weg? Resonanzen aus der katholischen Pastoraltheologie, in: Praktische Theologie 56 (2021). H. 3, S. 145 – 150. 24 Vgl. „Aufarbeitung bleibt ganz vorn auf der Agenda“. Ein Gespräch mit der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, in: Herder Korrespondenz 75(2021). H. 9, S. 17 – 21; Springhart, Heike: Im Takt der Zeit ticken, in: Herder Korrespondenz 76 (2022), H. 4, S. 6.
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Strohm, erinnert: „Auch wenn wir als Protestanten in dieser Sache einen eigenen schmerzhaften Lernprozess hatten, sagen wir heute ganz klar: Männer und Frauen können das ordinierte Amt innehaben. Wir haben damit inzwischen beste Erfahrungen gemacht.“25 Es ist auf dem „Synodalen Weg“ für römisch-katholische Christinnen und Christen von sehr hoher Bedeutung, um die Geschichte der Frauenordination in den evangelischen, anglikanischen, freikirchlichen und altkatholischen Traditionen zu wissen. III. Das Forum III: „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ Im Kontext dieser Festschrift, die in ökumenischen Kreisen Rezeption erfahren wird, erscheint es mir angemessen, zunächst die Strukturen der Tätigkeiten in den Foren des „Synodalen Wegs“ kurz vorzustellen und mich erst dann auf die Inhalte zu beziehen, die es in ökumenisch-theologischer Perspektive zu reflektieren gilt. 1. Strukturen der Tätigkeit im Forum III des „Synodalen Wegs“ Jedes der vier Foren des „Synodalen Wegs“ in Deutschland hat gegenwärtig ca. 30 bis 35 Mitglieder. Die personelle Zusammensetzung der Foren wurde in einem komplexen Verfahren mit Benennungen von Personen aus Sicht der DBK und des ZdK bestimmt. In der ersten Synodalversammlung wurden zu den vorgesehenen Personen zusätzlich weitere fünf Mitglieder aus der Synodalversammlung zur Mitarbeit in jedem Forum gewählt. Von Beginn an erschien es wichtig, alle Stimmen aus der Römisch-katholischen Kirche zu repräsentieren. Dies kann bei dem gewählten Vorgehen nur näherungsweise geschehen. Seit der 2. Synodalversammlung arbeiten auch Delegierte aus dem Rat der Betroffenen von sexualisierter Gewalt in den Synodalversammlungen und auch in den Foren mit. In jedem Forum ist ein Grundtext zur Abstimmung in der Synodalversammlung vorzulegen – ohne Optionen auf der Handlungsebene, wohl aber in gedanklicher Vorbereitung auf solche. Zugleich können die Foren jeweils – nach letztem Stand – fünf Handlungstexte in die Synodalversammlung einbringen, mit denen Optionen im Sinne von Beschlussvorlagen zu verbinden sind. Alle Texte der Foren werden in einer ersten und in einer zweiten Lesung in die Synodalversammlung eingebracht. Bei der zweiten Lesung ist es im Blick auf die Beschlussfassung erforderlich, dass neben der Zweidrittel-Mehrheit aller Synodalen auch eine solche der anwesenden Bischöfe sowie (auf Antrag) der anwesenden Frauen erreicht werden muss.
25
„Es der katholischen Kirche leichter machen“, S. 19.
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2. Inhaltliche Aspekte in den Texten im Forum III In dem in 2. Lesung zur Beratung in der 4. Synodalversammlung im September 2022 vorliegenden Grundtext des Forum III werden wichtige Anliegen miteinander verbunden: Erstens Zeitansagen angesichts der Erschütterung über Formen der sexualisierten Gewalt auch Frauen gegenüber sowie angesichts kritischer Anfragen an geschlechteranthropologische Typologien in Teilen der römisch-katholischen Lehrverkündigung; zweitens Erinnerungen an biblische Zeugnisse, historische Entwicklungen und systematisch-theologische Argumente, die seit Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Theologie von Männern und Frauen in die Argumentation eingebracht worden sind; drittens Perspektiven auf dem Weg in die Zukunft einer Kirche, in der die auf der Heilsebene von Paulus überlieferte Aussage, in Christus gebe es nicht mehr „Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich“ (Gal 3,28), auch auf der Ebene der sakramentalen Wahrnehmung eingelöst wird: Die in der Taufe begründete Sendung zur Repräsentanz Jesu Christi in der Welt ist allen Menschen jeden Geschlechts aufgetragen. Diese Sendung geschieht in der Diakonie, in der Liturgie und im Zeugnis der Verkündigung des Evangeliums. Diese drei Grunddienste der Kirche sind wechselweise eng miteinander verbunden. In jedem Bereich stellt sich die Frage, aus welchen Gründen die Möglichkeit der Partizipation für Frauen nicht bestehen sollte. Folgende Überzeugungen teilt die Mehrheit der Mitglieder im Forum III: (1) Der Frage, was Gottes Wille in unserer Thematik sein könnte, müssen sich alle Synodalen stellen; der theologischen Argumentation ist diese Herausforderung vertraut. (2) Angesichts der zu wünschenden Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi durch getaufte Menschen in seiner Nachfolge muss der Ausschluss von Menschen aufgrund geschlechteranthropologischer Kriterien plausibel begründet sein. Die Frage ist, ob dies in den vorliegenden römisch-katholischen Lehrdokumenten26 bereits geschehen ist, und welchen Anspruch der Verbindlichkeit diese erheben können. (3) Die Teilhabe auch von Frauen am Dienst der Verkündigung des Evangeliums ist biblisch überliefert. (4) Eine Unterscheidung zwischen Diakonat und den weiteren Formen des sakramentalen Amtes ist historisch nachweisbar. (5) Die Frage nach der Christus-Repräsentation ist von der Frage nach der natürlichen Ähnlichkeit mit einem Mann zu unterscheiden. (6) Alle Argumentationen sind in einem weltkirchlichen Kontext mit entsprechender theologischer Kenntnis zu besprechen. (7) In der Verantwortung der deutschen, bischöflich geleiteten Ortskirchen liegt es, im Rahmen der kirchenrechtlich gegebenen Vorgaben Schritte im eigenen Verantwortungsbereich zu gehen und Wege der Verständigung im weltkirchlichen Kontext zu suchen. Die Mehrheit im Forum III auf dem „Synodalen Weg“ möchte theologische Argumente in einen im Ergebnis offenen, weltweiten synodalen Gesprächsprozess in 26 Vgl. die Dokumentation der beiden relevanten lehramtlichen Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ (Johannes Paul II 1994) und „Inter Insigniores“ (Kongregation für die Glaubenslehre 1976), in der Schriftenreihe der Deutschen Bischofskonferenz: Verlautbarungen des Apostolisches Stuhls, Nr. 117, Bonn 1994.
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der Römisch-katholischen Kirche einbringen. Drei Einwände werden (auch von Mitgliedern im Forum) dagegen erhoben, konkret: (1) Wer noch argumentiert, ist ungehorsam. Die Meinung der Päpste steht fest, Lehrschreiben liegen vor. Angemessen ist nur noch der Gehorsam. (2) Wer noch argumentiert, verliert Zeit. Es bedarf stattdessen der strikten Forderung in der Rede, der deutlichen Ansage von Konsequenzen, der Drohung mit einer Austrittswelle von Frauen. (3) Wer noch unter Verwendung des Begriffs „Frau“ argumentiert, missachtet jene Menschen, die angesichts ihrer eigenen Erfahrung für eine Infragestellung binärer Unterscheidungen zwischen Frau und Mann in der Geschlechteranthropologie eintreten. Es ist nicht leicht, angesichts dieser Anfragen von grundlegender Bedeutung weiterhin auf der Unverzichtbarkeit theologischer Argumentation zu beharren. Es kommt hinzu, dass angesichts der Polarisierungen der Meinungen innerhalb der Zunft der Theologie der Eindruck entsteht, jede Erkenntnis sei so sehr von Vorentscheidungen geleitet, dass keine verlässliche Weisung bei der Auslegung der Heiligen Schriften und der Deutung der Traditionszeugnisse mehr zu erwarten ist. Was kann die Theologie in unserem Zusammenhang wirklich leisten? Es ist von hoher Bedeutung, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen konfessionellen Denominationen weiterhin auf die langfristige Wirkungsgeschichte der geduldigen theologischen Argumentation vertrauen. Tätigkeiten in ökumenischen Gremien schulen diesbezüglich sehr. 3. Ökumenisch-theologische Kontexte der Beratungen im Forum III Es gibt gut Gründe anzunehmen, dass ohne den von Andrea Strübind mitgestalteten ökumenischen Kongress zum Thema „Frauen in kirchlichen Ämtern“27, der am Ende des Jahres 2017 in Osnabrück stattfand, die Frage der Frauenordination in der Römisch-katholischen Kirche in Deutschland nicht jene Aufmerksamkeit erreicht hätte, die sie seitdem hat. Insbesondere eine der Osnabrücker Thesen ist in der Rezeption in den Gremien des ZdK vielfach mit Wertschätzung wahrgenommen worden: „Nicht der Zugang von Frauen zu den kirchlichen Diensten und Ämtern ist begründungspflichtig, sondern deren Ausschluss.“28 Die Veränderung der Perspektive war wichtig: Frauen sind nicht mehr Bittstellerinnen, sie treten angesichts der biblisch überlieferten Zeugnisse von der Verkündigung der Osterbotschaft durch die Frauen der ersten Tage auch heute selbstbewusst auf. Die Frage nach der angemessenen Autorität in der Situation der Entscheidung ist gestellt. Darf es sein, dass die Betroffenen – die Frauen – prinzipiell von den Prozessen ausgeschlossen sind, bei denen über ihr mögliches Amt beraten wird?
27
Vgl. den Tagungsband: Eckholt, Margit/Link-Wieczorek, Ulrike/Sattler, Dorothea/Strübind, Andrea (Hrsg.): Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg/Göttingen 2018. 28 Ebd., S. 470.
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Andrea Strübind hat beim Osnabrücker Kongress einen sehr wichtigen Beitrag zum Verständnis der historischen Prozesse in den Kirchen reformatorischer Prägung bei der Anerkennung der Berufung auch von Frauen, in kirchlichen Diensten und Ämtern tätig zu sein, geleistet.29 Im Grundtext des Forum III, der im September 2022 in der 2. Lesung zur Beratung ansteht, gibt es Ausführungen zu ökumenischen Erfahrungen bei der Teilhabe von Frauen am ordinierten Amt.30 Im Blick auf das Diakonat der Frau wird im Grundtext an die Geschichte dieses Amtes in der östlichen Christenheit bis heute erinnert. Es ist für Frauen in der Römisch-katholischen Kirche schmerzlich und tröstlich zugleich, um die langen Wege zu wissen, die in anderen Konfessionen auf dem Weg zu ihrer Partizipation an allen kirchlichen Diensten und Ämtern zu gehen waren. In der Konkretion unterscheiden sich die Diskussionen im ökumenischen Vergleich kaum. Es stellt sich unter dem Primat der Schrift in der Lehrerkenntnis immerzu die Frage, welche Bedeutung die Nachzeichnung der Genese der Dienste und Ämter im Blick auf deren Anspruch auf Geltung hat. Wie gehen Theologinnen und Theologen damit um, dass innerhalb des Kanons des Neuen Testaments eine Entwicklung von der anfänglichen paulinischen Ordnung nach Charismen hin zu ersten Formen des dreigliedrigen Amtes in den Pastoralbriefen zu verzeichnen ist? Auch in den lutherischen, anglikanischen und altkatholischen Kirchen gab und gibt es aufgrund geschlechteranthropologischer Positionen, die (aus eigener Sicht biblisch begründet) stärker differenzhermeneutisch argumentieren, Vorbehalte gegen den Dienst von Frauen in der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums. Auch in anderen Konfessionen sind kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Hintergründe für Vorbehalte gegen die Ordination von Frauen im weltweiten Kontext bekannt. Es ist hilfreich, von all dem in der Ökumene zu hören und daraus zu lernen. Auch jenseits der Römisch-katholischen Kirche sind noch immer synodale Wege bei der Formung und der Rezeption von Neuerungen im Gefüge der Institution zu gehen. IV. Fazit: Synodalität weltkirchlich ökumenisch einüben In der Außenperspektive werden die im inneren Bereich der römisch-katholischen Glaubensgemeinschaft besprochenen Kontroversen angesichts der sozialen Herausforderungen in der Gegenwart der Welt wenig Bedeutung haben. Anfragen werden gestellt: Lohnt es sich, im Detail über Strukturen in einer kirchlichen Gemeinschaft nachzudenken? Sollte sich der Blick nicht eher auf die wahren Probleme in der Nähe und in der Ferne richten: Menschen hungern und dürsten; es ist Krieg an vielen Orten der Erde; die Lebensgrundlagen für künftige Generationen sind bedroht; Ausgrenzungen aus rassistischen Motiven finden statt; die sozialen Spannungen stellen die 29 Vgl. Strübind, Andrea: „Ich habe euch kein Frauengeschwätz geschrieben, sondern das Wort Gottes als ein Glied der Christlichen Kirche“. Frauen in kirchlichen Ämtern – eine historische Spurensuche, in: ebd., 160 – 185. 30 Der für die 2. Lesung vorgesehene Grundtext des Forum III „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ ist über www.synodalerweg.de zugänglich.
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Weltgesellschaft vor Zerreißproben. Es ist wichtig, auf dem „Synodalen Weg“ die Erinnerung an die hier nur anzudeutenden Herausforderungen wach zu halten. Die Anwesenheit internationaler und ökumenischer Gäste bei den Synodalversammlungen nötigt – im guten Sinn – zu einer Konzentration auf wesentliche Aspekte des christlichen Glaubens. In vielen Beiträgen insbesondere von Stimmen, die dem „Synodalen Weg“ gegenüber kritisch eingestellt sind, wird vor einem Alleingang der Kirche in Deutschland unter Missachtung der weltkirchlichen Zusammenhänge gewarnt. Diesem Anliegen möchte ich im Grundansatz sehr gerne zustimmen und zugleich fragen: Wer ist eigentlich „die Weltkirche“? Es ist im römisch-katholischen Kontext sehr nahe liegend, in diesem Zusammenhang an den Papst, den Bischof von Rom, und seine Entscheidungsbefugnisse zu denken; kuriale Institutionen in Rom sehen sich im Hinblick auf die Ausübung des Dienstamtes des Papstes in Verantwortung für die Bewahrung der Tradition. Aus Sicht des 2. Vatikanischen Konzils ist bei dem Begriff der Weltkirche jedoch zunächst an die Gemeinschaft der vom Heiligen Geist erfüllten Christinnen und Christen zu denken: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1Joh 2,20.27) kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie ,von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert.“31 Wäre es in diesem Zusammenhang nicht angemessen, mit dem Begriff der „Weltkirche“ nicht nur die römisch-katholischen Gläubigen zu erfassen, sondern alle, die an Jesus Christus glauben? Die Bedeutung des christlichen Glaubens wird im weltkirchlichen Kontext insbesondere an theologischen Ausbildungsstätten bedacht, die in vielen Ländern in ökumenischer Gemeinschaft verantwortet werden. Andrea Strübind hat sich bei der Erstellung des Grundtexts und bei einzelnen Handlungstexten im Forum III zum Thema „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ mit ihrer Expertise eingebracht. Ihre Anwesenheit hat die Gespräche verändert. Die Begegnung mit einer Frau, die in ihrer kirchlichen Tradition eine Veränderung der Lehrtradition leibhaftig erfahren hat, macht Mut.
31 2. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ (LG), Nr. 12, in: https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html [Zugriff: 26. 08. 2022]. Der Begriff und die Bedeutung des unverirrlich urteilenden, infalliblen „sensus fidelium“, des Glaubenssinns der Gläubigen, ist im Anschluss an das 2. Vatikanische Konzil vielfach bedacht worden: Vgl. Söding, Thomas (Hrsg.): Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission, Freiburg/Basel/Wien 2016.
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Kosmischer Realismus Marilynne Robinson als Gesprächspartnerin einer reformierten Theologie der Natur Von Dominik Gautier Marilynne Robinson zählt mit ihren Romanen Housekeeping (1980), Gilead (2004), Home (2008), Lila (2014) und Jack (2020) sowie ihren Essaybänden zur Kultur- und Christentumsgeschichte zu den einflussreichsten Schriftstellerinnen der USA.1 Als reformierte Denkerin setzt sie sich in ihrem Werk, vor allem auch in ihren Romanen, ausführlich mit den Wirkungen des reformierten Protestantismus auf die US-amerikanische Geschichte und Gesellschaft auseinander und weist hierbei verbreitete Klischees eines starren Calvinismus zurück. Dagegen akzentuiert sie das liberale Erbe des Calvinismus, das für sie sowohl in Literatur, sozialer Reform und dem Einsatz für die mehr-als-menschliche Natur zum Ausdruck gekommen ist. Zentral für Robinsons Verständnis des reformierten Protestantismus ist, dass sie Johannes Calvins Theologie als politisch-ästhetisches Projekt begreift, das sowohl darauf zielt, die Welt als „Theater der Herrlichkeit Gottes“2 (theatrum gloriae dei) wahrzunehmen als auch die Welt hin zu mehr Gerechtigkeit zu gestalten. Ich möchte mich in diesem Beitrag auf die Frage beschränken, inwiefern in Robinsons Werk eine Vision reformierter Theologie und Frömmigkeit aufscheint, die das Mensch-Natur-Verhältnis reflektiert und die mehr-als-menschliche Natur wertschätzt. Robinson selbst nennt diesen der Natur zugewandten Ansatz „kosmischen Realismus“3 (cosmic realism) und verortet ihn in der Tradition der Schöpfungstheologie Calvins. Mit meinem Beitrag möchte ich zeigen, dass diese in der deutschspra-
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Vgl. Marilynne Robinsons Romane: Housekeeping, New York 1980; Gilead, New York 2004; Home, New York 2008; Lila, New York 2014; Jack, New York 2020; Marilynne Robinsons Essays: Mother Country, New York 1989; The Death of Adam. Essays on Modern Thought, New York 1998; Absence of Mind. The Dispelling of Inwardness from the Modern Myth of the Self, New Haven 2010; When I Was a Child I Read Books. Essays, New York 2012; The Givenness of Things. Essays, New York 2015; What Are We Doing Here? Essays, New York 2018. 2 Calvin, Johannes: De aeterna Dei predestinatione [1552], Calvini Opera 8, 294. 3 Cep, Casey: Marilynne Robinson’s Essential American Stories [2020], auf: The New Yorker, https://bit.ly/3yTLvW6 [Zugriff 11. 07. 2022].
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chigen Theologie bisher nicht wahrgenommene Schriftstellerin4 eine wichtige Gesprächspartnerin für eine kritische Theologie der Natur sein kann, an der im Zeitalter der Klimakrise, des Artensterbens, des Anthropozäns dringend weitergearbeitet werden muss. In einem ersten Schritt widme ich mich hierzu der für Robinson wichtigen Schöpfungslehre Calvins, die auch als eine theologische Ästhetik der Natur verstanden werden kann. Im zweiten Schritt beleuchte ich, wie Robinson ihren kosmischen Realismus in der von Calvins Naturästhetik beeinflussten Literatur- und Christentumsgeschichte der USA verortet, bevor ich dann in einem dritten Schritt auf Robinsons Roman Gilead eingehe. Anhand ausgewählter Textstellen des Romans zeige ich auf, wie Robinson hierin durch ihren Charakter, den kongregationalistischen Pfarrer John Ames, eine Schöpfungstheologie entfaltet, die auf die theologische Wertschätzung der Natur zielt und hiermit verbunden auch das Rassismusproblem der US-amerikanischen Gesellschaft angeht. Robinson wird gerade mit dieser Verknüpfung von Naturwertschätzung und Rassismuskritik zu einer wichtigen Gesprächspartnerin reformierter Theologie, die sowohl zur Achtung vor der mehr-als-menschlichen Natur beitragen als auch im Blick haben sollte, dass mit dem Rekurs auf „Natur“ rassistische Ordnungen gerechtfertigt wurden und werden. I. Johannes Calvins theologische Ästhetik der Natur Um sich Robinsons Werk anzunähern, ist zunächst ein Blick auf Calvins theologische Ästhetik der Natur notwendig. Das erste Buch von Calvins Unterricht in der christlichen Religion, seiner Institutio Christianae Religionis, ist mit folgendem Satz überschrieben: „Aus der Erschaffung und der fortdauernden Regierung der Welt strahlt uns eine Kunde von Gott entgegen.“5 Weiter heißt es hier unter anderem: „Gott hat sich derart im ganzen Bau der Welt offenbart und tut es noch heute, daß die Menschen ihre Augen gar nicht aufmachen können, ohne ihn notwendig zu erblicken.“6 Bemerkenswert an diesen schöpfungstheologischen Aussagen Calvins ist zunächst ihre Theozentrik: Calvin betont, dass die Welt ihre Erhaltung nicht sich selbst, sondern in jedem Moment Gott zu verdanken hat.7
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In den USA hat die theologische Rezeption mit diesem Sammelband angefangen: Larsen, Timothy/Johnson, Keith L. (Hrsg.): Balm in Gilead. A Theological Dialogue with Marilynne Robinson, Downers Grove 2019. 5 Calvin, Johannes: Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis [1559], übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, I, 5. 6 Calvin, Institutio, I,5,1. 7 Vgl. Schreiner, Susan E.: Art. Schöpfung, in: Selderhuis, Hermann J. (Hrsg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, S. 262 – 270, hier: 267. Vgl. insgesamt auch: Schreiner, Susan E.: The Theater of His Glory. Nature and the Natural Order in the Thought of John Calvin, Durham 1991.
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Dieser Fokus auf Gott führt in Calvins Theologie aber nicht zur Geringschätzung der Welt, sondern regt eine ästhetische Hinwendung zur Welt an. Diese ästhetische Zielrichtung seines Denkens spitzt sich in seiner Charakterisierung der Welt als „Theater der Herrlichkeit Gottes“ zu und zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein Werk: „Diesen Grundsatz gilt es festzuhalten: Gott […] hat die ganze Welt zu dem Ziel erschaffen, dass sie Schauplatz (theatrum) seiner Herrlichkeit sein sollte.“8 In seiner Auslegung des Schöpfungspsalms 104 legt Calvin mithilfe der ästhetischen Metapher des Kunstwerks aus, dass die Schönheit Gottes in der Natur wahrnehmbar ist: „[Gott malt uns] im Kunstwerk [der Schöpfung] […] ein lebendiges Bild der Weisheit, Macht und Güte Gottes vor Augen und ermuntert uns damit, Gott zu loben.“9 Außerdem verwendet er die ästhetische Metapher des Spiegels, um weiter zu erläutern, dass die Natur in ihrem Vergehen und Neuentstehen Gottes kontinuierliches Schöpfungswirken reflektiert: „Das also ist das Ziel des Ganzen: Wenn wir die Welt Tag für Tag dahinschwinden und wieder neu erstehen sehen, so leuchtet uns in diesem Spiegel Gottes Leben schaffende Kraft entgegen.“10 Aufgrund seiner Sünde ist der Mensch allerdings nicht von sich aus in der Lage, in der Natur den Verweis auf Gott wahrzunehmen. Calvin spricht daher davon, dass dem Menschen „die Fackeln im Gebäu der Welt, bestellt zur Verherrlichung des Schöpfers […] vergebens [leuchten].“11 Als sündige Menschen können sie die Natur also nicht in ihrem Verweischarakter, als „leuchtende Fackeln“ wahrnehmen, sondern sind hierfür auf die Hilfe Gottes angewiesen. Dies mindert aber nicht die prinzipiell ästhetische Zielrichtung der Schöpfungstheologie Calvins, denn durch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus wird der Mensch nach Calvin dazu befähigt, die Welt als das „Theater der Herrlichkeit Gottes“ und sich selbst als Teil dieses Schauspiels wahrzunehmen.12 Hierbei dient die Schrift als Quelle: „Wer zu Gott, dem Schöpfer, gelangen will, der muß die Schrift zum Leiter und Lehrer haben.“13 In seiner Auslegung des Schöpfungspsalms 104 erläutert Calvin entsprechend, dass das „Schauspiel der gesamten Natur“ nur dann „zu wirklichen Fortschritten verhelfen“ werde, wenn Menschen „mit den Augen des Glaubens jene geistliche Herrlichkeit erblicken“, deren Abbild sich in der Welt sichtbar zeige.14 An diesen Gedankengängen wird deutlich, dass Calvin keine natürliche Theologie formuliert, nach der Menschen durch Naturbeobachtung zu einer Erkenntnis Gottes kommen. Sehr wohl aber können sie, wie Georg Plasger betont, Gottes Zuwendung, die sich in Jesus Christus offenbart, auch in der Natur wiedererkennen: 8
Calvin, CO 8,294. Calvin, Johannes: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, Calvin-Studienausgabe 6, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 279. 10 Ebd., S. 311. 11 Vgl. Calvin, Institutio, I,5,14. 12 Vgl. Schreiner, Art. Schöpfung, S. 269. 13 Calvin, Institutio, I,6. 14 Calvin, Psalmenkommentar, S. 283. 9
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„Calvin bleibt also nicht stehen bei der negativen Aussage, dass wir Gottes Wirken in der Welt nicht erkennen können. Vielmehr fällt ausgehend von der Erlösung […] ein neues Licht in die Schöpfung hinein – und jetzt beginnt sie zu leuchten für die, die Augen haben, das zu sehen. Für erleuchtete Augen ist die Schöpfung ein theatrum gloriae dei.“15
Die Calvinforschung hat herausgestellt, dass diese Ausrichtung auf die Natur in der trinitarischen, vor allem pneumatologischen Ausrichtung der Schöpfungslehre Calvins begründet ist.16 Gott bleibe nicht bei sich, sondern teile sich durch Gottes Geist in der Natur mit. Zum Verständnis dieser Selbstmitteilung Gottes in der Natur wird das sogenannte Extra Calvinisticum, das vor allem für Calvins Abendmahlslehre kennzeichnend ist, wichtig.17 Hiernach ist Gottes Wort auch außerhalb (extra) von Jesus Christus, nämlich in der von Gott geschaffenen Welt wahrnehmbar. Dass sich Gottes Geist in der Natur mitteilt, findet für Calvin biblischen Anhalt in Psalm 104,30: „Denn Gott lässt den Atem, der bei ihm seine Wohnstätte hat, ausgehen, wohin er nur will, und sobald er ihn aussendet, wird alles geschaffen.“18 Hierbei ist allerdings festzuhalten, dass Gottes Geist zwar die ganze Schöpfung durchwirkt, aber nicht in ihr aufgeht, denn seine „Wohnstätte“, wie Calvin sagt, hat Gottes Geist wiederum außerhalb (extra) der Schöpfung bei Gott. Im Genfer Katechismus in der Fassung von 1542 spricht Calvin daher von Gottes Geist als einer Kraft, die in allen Kreaturen wirkt, aber doch immer bei Gott bleibt.19 Calvin vermeidet also, die Natur in all ihrer Ambivalenz mit Gott zu identifizieren. Im Gegenteil findet sich bei ihm auch der Blick auf die Bedrohlichkeit der Natur, die er in seiner Genesisauslegung (Gen 3,17) auf den Sündenfall zurückführt: „Vor dem Fall war die Welt ein wunderschöner, lieblicher Spiegel göttlicher Huld, väterlicher Fürsorge gegen den Menschen. Jetzt schauen wir in allen Elementen unser Verderben. Und wenn auch noch jetzt die Erde voll ist der Güte des Herrn, so lassen sich doch Zeichen genug davon erkennen, daß sie sich in schrecklicher Weise von uns entfremdet hat.“20
Erlösung verspricht für Calvin nicht die Natur selbst, sondern die im Glauben erfahrene Fürsorge Gottes.21 Diese Glaubenshaltung führt nun aber nicht zur Weltflucht und einer Dämonisierung der Natur. Vielmehr betont Calvin, dass Gottes Für15
Plasger, Georg: Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen 2008, S. 43. Vgl. Link, Christian: Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, Gütersloh 1991, S. 126 – 133. 17 Vgl. ebd. S. 132. 18 Calvin, Psalmenkommentar, S. 309. 19 Vgl. Genfer Katechismus [1542], Frage 19, in: Niesel, Wilhelm (Hrsg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, Bd. 5, München 1938, S. 7 – 9; Link, Schöpfung, S. 131. 20 Calvin, Johannes: Genesisauslegung, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Bd. 1, hrsg. v. Otto Weber, Neukirchen 1956, S. 59. 21 Diesen Realismus betont auch Susan E. Schreiner mit Blick auf Calvins Distanz zum aristotelisch-deistischen Ansatz: Schreiner, Theater, S. 32: „Calvin’s world was simply too dangerous a place to leave it to secondary causation. It needed God.“ 16
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sorge dort, wo Gottes Geist wirksam ist, in der Natur wiedererkannt werden kann. Calvin versteht dies als einen Trost der Gott spiegelnden Natur, der Menschen zur Lebensgestaltung in und mit der Welt befähigt.22 In diesem Sinn findet sich bei Calvin sogar eine (mit großer Vorsicht) formulierte Würdigung von Senecas pantheistischer Auffassung: „Man kann auch in rechter Gesinnung sagen, die ,Natur‘ sei Gott – wenn es nur aus einem frommen Herzen kommt.“23 Es ist diese theologische Naturästhetik Calvins, die Robinsons Werk maßgeblich beeinflusste und die sie in ihren Romanen und Essays weiterentwickelt hat. II. Kosmischer Realismus: Wirkungen reformierter Naturästhetik im Werk Marilynne Robinsons Marilynne Robinson wuchs im kleinen Ort Sandpoint in Idaho auf, wo sie gelernt habe, Gott in der Natur zu spüren, „in the pooled creeks where tender new trees rose up from drowned logs; in the curious basalt columns that seemed like ancient temples; and in the lake, nearly fifty miles long and almost twelve hundred feet deep, cold and dark, like mystery itself.“24
Vielleicht hat diese frühe Sensibilität für die Natur Robinson dabei geholfen, die theologische Naturwahrnehmung als einen zentralen Aspekt der reformierten Tradition zu entdecken und zu betonen. Robinson wehrt sich gegen die verbreitete Verzeichnung Calvins als einem religiösen Tyrannen und versteht ihn dagegen als Menschen der Renaissance und des Humanismus. Calvins Theologie versteht sie entgegen ihrer moralistischen Interpretation als eine Wahrnehmungslehre, die darauf zielt, Gottes Schönheit in der Schöpfung auf die Spur zu kommen: „Calvin is very much a Renaissance humanist in his appreciation of everything wonderful in the human creature. […] And Calvin sets us in a universe of wonders and splendors, which we excel. If this is how creation is to be understood, as a vast and continuous effusion of wisdom and beauty, then it seems trivial to imagine God weighing our merits and demerits as we would weigh them. […] Given that beauty is, for Calvin, the signature of the divine in creation, that the aesthetic should be an aspect of human nature that reveals our affinity to God simply follows“.25
In dieser ästhetischen Ausrichtung der Theologie Calvins ist für Robinson ein Grund zu sehen, weshalb sich die US-amerikanische reformierte Strömung vielfach der Naturwahrnehmung gewidmet hat. Zu dieser Tradition zählt sie vor allem den Theologen Jonathan Edwards, aber auch Schriftsteller wie Herman Melville, 22
Vgl. Plasger, Theologie, S. 48 – 49. Calvin, Institutio, I,5,5. 24 Cep, American Stories. 25 Robinson, Marilynne: Saving Calvin from Clichés. An Interview with Marilynne Robinson [2017], auf: Commonweal, https://bit.ly/3aF98sm [Zugriff 11. 07. 2022]. Vgl. auch Robinson, Marguerite de Navarre, in: Robinson, Death of Adam, S. 174 – 206; Robinson, Marguerite de Navarre, Part II, in: Robinson, Death of Adam, S. 207 – 226. 23
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Ralph Waldo Emerson oder Henry David Thoreau, die sich kritisch mit der reformierten Tradition auseinandergesetzt, alle aber die Naturreflexion beibehalten haben. Bevor ich in diesem Kapitel den Blick auf Robinsons eigenes Werk richte, betrachte ich, inwiefern sie diese theologisch-literarische Tradition beeinflusst hat. Es ist Jonathan Edwards’ Theologie, die sie neben Calvins Theologie als wesentlichen Bezugspunkt ihres eigenen Denkens herausstellt. Auch seine Theologie nimmt sie in ihrer ästhetischen Zielrichtung wahr, da in der Mitte von Edwards’ Denken die Schönheit Gottes stehe. Eine Fußnote in seinem bekannten Text The Great Christian Doctrine of Original Sin Defended (1758) über die theologische Bedeutung des Mondlichts habe ihre religiöse Perspektive auf die Welt geformt. Aus dem Mondlicht, so Edwards, spreche die Schöpfertreue Gottes.26 Diesen Gedanken, der in Kontinuität zu Calvins Ästhetik der Natur steht, beschreibt Robinson als Befreiung, weil hiermit die in enger Beziehung zu Gott stehende Welt als unendlich bedeutungsvoll wahrgenommen werden könne.27 Zugleich hebt sie das sozialpolitische Erbe des mit Edwards verbundenen Puritanismus hervor. Dieses zeichne sich nicht vorrangig durch religiöse Kontrolle, sondern durch radikale politische Reform aus, womit der Puritanismus eine liberale theologische Tradition begründet habe, die Glauben und den Einsatz für eine gerechte Gesellschaftsordnung zusammenhalte. Diese Tradition sei sowohl im Kampf gegen die Sklaverei, zum Beispiel in Gestalt von Harriet Beecher Stowe und ihrem Roman Uncle Tom’s Cabin (1852) als auch in der Bürgerrechtsbewegung, die Robinson in Anlehnung an die mit Edwards verbundene Erweckungsbewegung auch als eine Erweckungsbewegung beschreibt, wirksam geworden.28 Die in der reformierten Tradition angelegte ästhetische Hinwendung zur Welt sieht sie vor allem in der Literatur des 19. Jahrhunderts weiterwirken, auch wenn sich viele Literaturschaffende äußerst kritisch mit dieser auseinandersetzten. Besondere Bedeutung besitzt für sie vor diesem Hintergrund Herman Melvilles Roman Moby-Dick (1851), in dem dieser auf Grundlage teils eigener Erfahrungen die berühmte Geschichte des Walfangschiffes Pequod entfaltet und diese mit ausufernden Naturbeschreibungen sowie religiösen und religionskritischen Reflexionen verknüpft.29 Auch in Ralph Waldo Emersons und in Henry David Thoreaus Naturrefle26 Vgl. Edwards, Jonathan: The Great Christian Doctrine of Original Sin Defended, Boston 1758, S. 344: „The lucid colour or brightness of the moon, as we look steadfastly upon it, seems to be a permanent thing, as though it were perfectly the same brightness continued. But indeed it is an effect produced every moment. It ceases, and is renewed, in each successive point of time; and so becomes altogether a new effect at each instant; and no one thing that belongs to it, is numerically the same that existed in the preceding moment.“ 27 Vgl. Robinson, Mind, Conscience, Soul, in: Robinson, What Are We Doing Here?, S. 183 – 204. 28 Vgl. Beecher Stowe, Harriet: Uncle Tom’s Cabin. Or, Life Among the Lowly, Cleveland 1852; Robinson, McGuffey and the Abolitionists, in: Robinson, Death of Adam, S. 126 – 149: Robinson, Awakening, in: Robinson, The Givenness of Things, S. 92 – 107. 29 Vgl. Melville, Herman: Moby-Dick. Or, The Whale, New York 1851.
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xionen sieht sie ihre gedanklichen Gesprächspartner in ihrer Hinwendung zu einer ausdrucksstarken Welt.30 So kann die folgende unscheinbare, aber gehaltvolle Äußerung Thoreaus auch für das Werk Robinsons geltend gemacht werden. In Walden (1854), in dem er sein Experiment dokumentiert, bei dem er sich auf Zeit in eine Hütte in den Wäldern zurückzog, hält Thoreau fest: „I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach […].“31 Diese von der reformierten Theologie beeinflusste Tradition schreibt Robinson mit ihrem Werk eigenständig fort. In ihrem ersten Roman Housekeeping stellt die Wildnis, vor allem der See des fiktiven Ortes Fingerbone in Idaho, für die Erzählerin Ruth ein zentrales Gegenüber dar. Hiermit ist eine deutliche Parallele zu Thoreau hergestellt, der seine Reflexionen über ein gerechtes Leben anhand der Beobachtungen des Walden-Sees und der den See umgebenden Wildnis entfaltete. Durch intensive Bezugnahme auf die Natur verarbeitet die Protagonistin Ruth die Trauer um den Tod ihrer Mutter, die sich mit ihrem Auto in den See stürzte und findet zu der Entscheidung, ihrer Tante Sylvie in ein nomadisches Leben als Wanderarbeiterin zu folgen. Im Roman befragt Robinson eindrücklich die oft binär gedachte Differenz zwischen Natur und Kultur: Das Haus, in dem Ruth mit ihrer Schwester Lucille unter Obhut ihrer Tante Sylvie lebt, wird von Tag zu Tag mehr von der Natur, von Fledermäusen und Vögeln, eingenommen. Nachdem Lucille sich für ein respektables Leben entscheidet und fortan bei ihrer Lehrerin lebt, wohnen Ruth und Sylvie weiterhin im Haus, das nach und nach von Laub gefüllt und durch den See geflutet wird. Als deutlich wird, dass die Dorfgemeinschaft versucht, Ruth von Sylvie zu trennen und in respektable Versorgung zu geben, entschließen sich Ruth und Sylvie dazu, ihr Haus in Brand zu setzen und in die Wildnis zu fliehen. Der Roman wird zurecht als ökologischer Roman interpretiert, der die Zentrierung auf den Menschen befragt und der Rolle der mehr-als-menschlichen Natur literarische Beachtung schenkt, ja sie damit zu Wort kommen lässt. Zugleich ist aber Robinsons eigener Beitrag darin zu sehen, dass sie in der Natur nicht einen schlichten Zufluchtsort erkennt und diese zur Antwortgeberin in Fragen der Lebensgestaltung überhöht, wie es vielleicht bei Emerson und Thoreau geschehen ist. Vielmehr, so legt die Lektüre des Romans nahe, konfrontiert die Natur uns mit mehr und mehr Fragen, je intensiver wir uns ihr zuwenden. So entscheidet sich Ruth letztlich für ein nomadisches Leben, freier von den Restriktionen der Zivilisation, weniger abgegrenzt von der nicht-menschlichen Natur. Damit ist für sie aber nicht schon Erlösung erlangt, denn die Aufgabe angemessener Lebensgestaltung nach dem Ende einer scheinbar sicheren Zivilisation beginnt hiermit erst.32 30 Vgl. Emerson, Ralph Waldo: Nature, Boston 1836; Thoreau, Henry David: Walden; Or, Life in the Woods, Boston 1854. 31 Thoreau, Walden, S. 98. 32 Vgl. Bergthaller, Hannes: Like a Ship to be Tossed. Emersonian Environmentalism and Marilynne Robinson’s Housekeeping, in: Beckett, Ian/Gifford, Terry (Hrsg.), Culture, Creativity and Environment. New Environmentalist Criticism, Leiden 2007, S. 75 – 97.
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In ihrem politischen Essay Mother Country (1989) stellte Robinson sich einer solchen Herausforderung. Der Text ist eine scharfe Auseinandersetzung mit der britischen Atompolitik am Beispiel der Atomkraftanlage Sellafield, in deren Nähe Menschen aufgrund nuklearer Belastung durch den im Meer entsorgten Atommüll schwer erkrankten. Robinson warf der britischen Öffentlichkeit, einschließlich der Umweltorganisationen Greenpeace und Friends of the Earth, vor, diesen Skandal zu vertuschen und die profitgeleitete Preisgabe menschlicher Gesundheit und die industrielle Zerstörung der Erde mitzutragen. „I am angry to the depths of my soul that the earth has been so injured […]“33, schreibt Robinson und fordert den scharfen Blick auf die Realität dieser verletzen Erde: „[…] [T]here is a real world, that is really dying, and we had better think about that. My greatest hope, which is a very slender one, is that we will at last find the courage to make ourselves rational and morally autonomous adults, secure enough in the faith that life is good and to be preserved, to recognize the grosser forms of evil and name them and confront them.“34
Diese in ihren Romanen und Essays entwickelte Perspektive auf die Welt, die – wie ich hier zu zeigen versuche – auch als eine reformierte Perspektive auf die Welt verstanden werden kann, bezeichnet Robinson selbst als kosmischen Realismus (cosmic realism). Casey Cep schreibt: „This is Robinson’s entire cosmology: the world is self-evidently miraculous, but only rarely do we pay it the attention it deserves. Robinson calls her style of writing cosmic realism, a patient chronicling of the astonishing nature of existence.“35
Der kosmische Realismus, so möchte ich hinzufügen, beruht auch auf der auf Calvin zurückgehenden Einsicht, dass die Welt unendlich aussagekräftig ist, weil sich in ihr die Schöpfertreue Gottes, aber auch die Erlösungsbedürftigkeit der Welt spiegeln. Dies bedeutet für Robinson allerdings keinesfalls, dass die höchst komplexe Welt in religiöser Weise vereindeutigt werden darf. Im Gegenteil ist hiermit die Forderung verknüpft, der Welt alle naturwissenschaftliche, literarische oder religiöse Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die ihr gebührt – und hierbei auch nicht ihre Abgründigkeit auszublenden. Nicht nur in Housekeeping, sondern auch in ihrem bekanntesten Roman Gilead finden sich daher genaue Beschreibungen von Landschaften wie die der US-amerikanischen Prärie, die so durch Robinson literarische Wertschätzung erfahren. Casey Cep beschreibt Robinsons Schreiben daher auch als einen schöpfungstheologisch getragenen Vorgang. Sie macht die Welt als wertzuschätzende Schöpfung Gottes sichtbar: „Her attentiveness to creation at every level is what makes her fiction so convincing: she sees everything, including us.“36 Robinson selbst erklärt: „I believe that all literature is acknowledgment.“37 33
Robinson, Mother Country, S. 31. Ebd., S. 236. 35 Cep, American Stories. 36 Ebd. 34
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Auch Laura Tanner deutet Robinsons Werk in diese Richtung und versteht ihre Arbeiten als Würdigung des Alltäglichen, indem Robinson Alltagstätigkeiten wie der des Kaffeezubereitens literarische Bedeutung zukommen lässt. Sowohl in ihren Naturreflexionen als auch in ihren Schilderungen des Alltags vermeidet Robinson allerdings Vereinfachungen. So wie sie die Natur – wie in Housekeeping gezeigt – nicht zur Antwortgeberin hinsichtlich unserer Lebensfragen verklärt, verkompliziert sie auch die Schilderung des Alltäglichen, indem sie das Herausfordernde des Alltags literarisch sichtbar macht, wenn sie sich zum Beispiel dem Alltag durch Rassismus belasteter zwischenmenschlicher Beziehungen widmet.38 Gerade Robinsons Hinwendung zum Alltäglichen lässt sich aus meiner Sicht in der Tradition reformierter Frömmigkeit verorten, zielt diese doch auf eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die konkrete Lebensgestaltung und eine Heiligung des Alltags. Zugleich bedenkt Robinson, theologisch gedacht, auch die Wirkmacht der Sünde, die sich in der Gefallenheit der Natur sowie in der Zerrüttung menschlicher Beziehungen zeigen kann, ohne jedoch einen positiven Weltzugang preiszugeben, der im Glauben daran gründet, dass diese Welt von Gott geschaffen ist. III. Schöpfung glauben: Naturwahrnehmung und Rassismus in Marilynne Robinsons Roman Gilead Robinsons bekanntester Roman ist Gilead, dessen erzählerisches Universum mit Home, Lila und Jack stetig erweitert wurde. Der Roman, für den die Autorin den renommierten Pulitzerpreis erhielt, ist als Briefroman konzipiert und besteht aus Briefen des kongregationalistischen Pfarrers John Ames an seinen siebenjährigen Sohn. Ames schreibt seine Briefe im Jahr 1956, die als Vermächtnis an seinen Sohn gedacht sind, da Ames, der an einer Herzschwäche leidet, seinen Sohn nicht mehr aufwachsen sehen wird. Ames ist in dritter Generation reformierter Pfarrer, seine Gedankenwelt ist von Johannes Calvin, Jonathan Edwards und Karl Barth beeinflusst, über die er sich in seinen Briefen äußert. Er reflektiert ausführlich die Prärielandschaft Iowas und die mit dem Bürgerkrieg verknüpfte Geschichte seiner Familie und die Geschichte des fiktiven Ortes Gilead. Gilead ist dem historischen Ort Tabor, Iowa nachempfunden, der von Gegnerinnen der Sklaverei gegründet wurde. 1956, ein Jahr nach dem Busboykott in Montgomery, Alabama und dem Beginn der Bürgerrechtsbewegung, sieht Ames sich zerrissen zwischen dem Erbe seines Großvaters und Vaters. Der Großvater zog als Feldgeistlicher in den Bürgerkrieg, nachdem ihm Christus in Ketten erschienen war. Sein Vater hingegen brach mit diesem Erbe und verschrieb sich einem pazifistischen Ansatz, woraufhin der Großvater ihm die Hinnahme weiterhin bestehender Ungerechtigkeit vorwarf.
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Ebd. Vgl. Tanner, Laura E.: The Elusive Everyday in the Fiction of Marilynne Robinson, Oxford 2021, S. 1 – 28. 38
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Robinson präsentiert in Gilead eine reformierte ästhetisch-politische Frömmigkeit, die aus ihrem Protagonisten Ames spricht – und die, wie ich zeigen möchte, das Potenzial besitzt, Naturbewahrung und Rassismuskritik zusammenzudenken. Mit Andrew Bower Latz möchte ich hervorheben, dass in Gilead mit der Schilderung dieser Frömmigkeit eine gelebte Schöpfungstheologie begegnet, die hilft, Abstraktionen in der Schöpfungstheologie abzubauen.39 Zugleich denke ich aber, dass Robinson über eine Illustration von Schöpfungstheologie hinausgeht und in ihrem Roman eine eigene schöpfungstheologische Stimme entwickelt, die es zu hören gilt. Zunächst ist festzuhalten, dass Robinson Ames’ Perspektive auf die Welt als von Calvins theologischer Ästhetik geprägte Wahrnehmungsweise darstellt. Dies wird besonders deutlich anhand einer Textstelle, in der Ames sich auf Calvins Verwendung der ästhetischen Metapher des Theaters bezieht. Hiernach müssten sich Menschen in der Kunst des Schauspiels üben, das sie vor Gott – zu Gottes Freude – aufführten. Robinson bahnt hiermit ein alternatives Verständnis reformierter Frömmigkeit an, das nicht in das Bild eines starren Glaubens- und Lebenssystems passt, mit dem der Calvinismus oft verbunden wird. Zugleich ist dieser ästhetische Zugang zur Welt nicht mit einem Überspielen ihrer Gebrochenheit verbunden, verweist Ames doch darauf, dass sich Gott in komplexer Weise am Schauspiel der Welt erfreue, wie man sich an der Existenz eines Kindes erfreue, das einem ein Stachel im Herzen (thorn in your heart) sei: „Calvin says somewhere that each of us is an actor on a stage and God is the audience. That metaphor has always interested me, because it makes us artists of our behavior, and the reaction of God to us might be thought of as aesthetic rather than morally judgmental in the ordinary sense. How well do we understand our role? With how much assurance do we perform it? I suppose Calvin’s God was a Frenchman, just as mine is a Middle Westerner of New England extraction. Well, we all bring such slight to bear on these great matters as we can. I do like Calvin’s image, though, because it suggests how God might actually enjoy us. I believe we think about that far too little. It would be a way into understanding essential things, since presumably the world exists for God’s enjoyment, not in any simple sense, of course, but as you enjoy the being of a child even when he is in every way a thorn in your heart.“40
In Ames’ Briefen spiegelt sich, so lässt sich hier anschließen, Robinsons kosmischer Realismus, der mit Calvins theologischer Ästhetik davon ausgeht, dass die Welt Gottes Schönheit widerspiegeln kann und so größte Wertschätzung erfahren sollte. „This is an interesting planet“, schreibt Robinsons Charakter Ames. „It deserves
39 Vgl. Latz, Andrew Brower: Creation in the Fiction of Marilynne Robinson, in: Literature and Theology 3 (2011), S. 283 – 296, hier: 284: „Through Ames the reader sees a doctrine of creation lived out, whereas even when theological texts try to emphasise the practical nature of the doctrine – such as talking about experiencing life as a gift, or balancing transcendence and immanence, or holding together creation and redemption – they still remain at a level of abstraction. In the novel these things are displayed, worked out; there is some flesh on the formal bones.“ 40 Robinson, Gilead, S. 141 – 142.
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all the attention you can give it.“41 Diese Sicht auf die Welt ist mit der Herausforderung einer nicht-endenden Einübung in den Glauben verbunden. In folgenden Worten, die auf Calvins Worte in der Institutio42 zurückgehen, äußert Ames diese Einsicht: „Wherever you turn your eyes the whole world can shine like transfiguration. You don’t have to bring a thing to it except a little willingness to see. Only, who could have the courage to see it?“43
Diese Wertschätzung für die Welt kommt konkret in einer Textstelle zum Ausdruck, in der er über Eichenbäume in der Prärielandschaft Gileads nachdenkt. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod bedeutet für Ames nicht die Entsagung von der Welt, wie auch in der reformierten Tradition manchmal angenommen wird, sondern eine Transformation der Welt, einschließlich der von Ames bewunderten Eichenbäume, die seiner Ansicht nach in einer neuen Welt nicht vergessen sein werden: „I have lived my life on the prairie and a line of oak trees can still astonish me. I feel sometimes as if I were a child who opens its eyes on the world once and sees amazing things it will never know any names for and then has to close its eyes again. I know this is all mere apparition compared to what awaits us, but it is only lovelier for that. There is a human beauty in it. And I can’t believe that, when we have all been changed and put on incorruptibility, we will forget our fantastic condition of mortality and impermanence, the great bright dream of procreating and perishing that meant the whole world to us. […] Because I don’t imagine any reality putting this one in the shade entirely, and I think piety forbids me to try.“44
In einem weiteren Abschnitt erinnert sich Ames, dass er einmal gemeinsam mit Freundinnen und Freunden einen Wurf Katzen zu taufen versuchte. Er schildert zwar seine Zweifel daran, ob es theologisch angemessen sei, eine Katze zu taufen, aber die Tatsache, dass er diese Erinnerung in seinen Briefen teilt, ist instruktiv für Ames’ Wahrnehmung der Welt als Gottes Schöpfung. Der Segen Gottes, der nach Ames’ zurückhaltendem, reformiertem Verständnis in der Taufe in Erinnerung gerufen wird, ist nicht allein auf den Menschen zentriert, sondern er gilt auch der mehrals-menschlichen Natur. Durch Robinsons literarische Schilderung dieses Segenshandelns werden die Leserinnen für diese wertschätzende Sicht auf die Welt als Schöpfung Gottes sensibilisiert: „We were very pious children from pious households in a fairly pious town, and this affected our behavior considerably. Once, we baptized a litter of cats. They were dusty little barn cats 41
A.a.O, S. 32. Vgl. Calvin, Institutio, I,5,1: „[…] [W]ohin man die Augen blicken läßt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären!“ 43 Robinson, Gilead, S. 280. 44 Ebd., S. 64 – 65. R. Michael Allen führt in seiner Einführung in die reformierte Theologie genau diese Stelle aus Gilead an, um eine Kontinuität von Schöpfung und Erlösung für die reformierte Theologie herauszustellen. Allen, R. Michael: Reformed Theology, London 2010, S. 163: „Grace perfects, rather than destroys, nature.“ 42
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just steady on their legs, the kind of waifish creatures that live their anonymous lives keeping the mice down and have no interest in humans at all, except to avoid them. But the animals all seem to start out sociable, so we were always pleased to find new kittens prowling out of whatever cranny their mother had tried to hide them in, as ready to play as we were. It occurred to one of the girls to swaddle them up in a doll’s dress – there was only one dress, which was just as well since the cats could hardly tolerate a moment in it and would have to have been unswaddled as soon as they were christened in any case. I myself moistened their brows, repeating the full Trinitarian formula. Their grim old crooked-tailed mother found us baptizing away by the creek and began carrying her babies off by the napes of their necks, one and then another. We lost track of which was which, but we were fairly sure that some of the creatures had been borne away still in the darkness of paganism, and that worried us a good deal. So finally I asked my father in the most offhand way imaginable what exactly would happen to a cat if one were to, say, baptize it. He replied that the Sacraments must always be treated and regarded with the greatest respect. That wasn’t really an answer to my question. We did respect the Sacraments, but we thought the whole world of those cats. I got his meaning though, and I did no more baptizing until I was ordained. […] I still remember how those warm little brows felt under the palm of my hand. Everyone has petted a cat, but to touch one like that, with the pure intention of blessing it, is a very different thing. It stays in the mind. For years we would wonder what, from a cosmic viewpoint, we had done to them. It still seems to me to be a real question. There is a reality in blessing, which I take baptism to be, primarily. It doesn’t enhance sacredness, but it acknowledges it, and there is a power in that. I have felt it pass through me, so to speak. The sensation is of really knowing a creature, I mean really feeling its mysterious life and your own mysterious life at the same time.“45
In Gilead begegnet in John Ames also ein gelebter Schöpfungsglaube, der in der mehr-als-menschlichen Natur, etwa in der Dürre der Prärie, die Schöpfertreue Gottes widergespiegelt sieht. Die Herausforderung, vor die sich Ames gestellt sieht, besteht allerdings auch darin, einen konkreten Menschen – nämlich Jack – als Gottes Geschöpf anzuerkennen. Jack ist der Sohn von Ames’ engstem Freund Robert Boughton, dem presbyterianischen Pfarrer des Ortes. Jack stiehlt, trinkt, hinterfragt alle theologischen Auffassungen der Pfarrer Ames und Boughton – und überließ ein Kind, das er als Jugendlicher mit einer jungen Frau bekam, der Verwahrlosung, bis es letztlich starb. Obwohl sein Vater Robert Boughton immer wieder die Beziehung zu ihm sucht, ja ihm vergibt, kann Ames dies nicht tun. Als Jack schließlich nach Gilead zurückkehrt, stellt er Ames’ Schöpfungsglauben vor eine große Herausforderung. Jack hat einen Sohn mit Della, einer Frau aus Memphis. Er kommt allein nach Gilead, um in Erfahrung zu bringen, ob es der Ort mit seinen abolitionistischen Wurzeln und den Gesetzen Iowas, die die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen nicht verbieten, ernst nimmt. Jack prüft also, ob er mit Della und ihrem gemeinsamen Sohn in Gilead leben könnte. In vielen Briefen des Romans ringt Ames mit dieser historischen Herausforderung, die Jack mit nach Gilead bringt. Zwar ist er am Ende in der Lage, Jack als Geschöpf Gottes anzuerkennen und ihn zu segnen, aber nicht imstande dazu, ihm mit Della und ihrem gemeinsamen Sohn einen Zufluchtsort in Gilead zu 45
Robinson, Gilead, S. 25 – 26.
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schaffen. Literarisch bringt Robinson diese Spannung darin zum Ausdruck, dass Ames den enttäuschten Jack erst an der Bushaltestelle segnet, kurz vor seiner Abfahrt aus Gilead. Der Roman endet mit einem durch diesen Umstand beeinträchtigen Schöpfungsglauben, der einsehen muss, dass der Ort Gilead durch den rassistischen Zustand der Welt nicht für alle ein Ort der Zugehörigkeit ist und gerade deshalb im Widerspruch zur biblisch-schöpfungstheologischen Intention steht. Nachdem Jack abgefahren ist, begibt sich Ames in seine Kirche und denkt über Gilead nach: „I made it as far as the church, and went inside and rested there for a long time. I believed I saw in young Boughton’s [Jack’s] face, as we walked along, a sense of irony at having invested hope in this sad old place, and also the cost to him of relinquishing it. And I knew what hope it was. It was just that kind the place was meant to encourage, that a harmless life could be lived here unmolested. ,There shall yet old men and old women dwell in the streets of Jerusalem, and every man with his staff in his hand for every age. And the streets of the city shall be full of boys and girls playing in the streets thereof.‘ That is prophecy, a vision of the prophet Zechariah. He says it will be marvelous in the eyes of the people, and so it might well be to people almost anywhere in this sad world. To play catch of an evening, to smell the river, to hear the train pass. These little towns were once the bold ramparts meant to shelter just such peace.“46
Robinson präsentiert ihren Leserinnen damit eine gelebte Schöpfungstheologie, die eine Wertschätzung der nicht-menschlichen Natur ermöglicht, aber auch ihr eigenes Scheitern bedenkt – angesichts der Tatsache, dass es für Jack, Della und ihren Sohn, also nicht für alle möglich ist, die Schönheit eines Flusses wahrzunehmen (to smell the river), von der Ames im obigen Zitat erzählt. Entgegen einer gängigen Rezeption des Romans, in der durchaus zurecht die beruhigend-seelsorgerliche Seite von Ames’ Briefen hervorgehoben wird, ist es doch auch dieser beunruhigende Aspekt an Robinsons Roman, der instruktiv ist. So gelesen, bietet Robinsons – in Gilead erzählte – Schöpfungstheologie für mich Anschlusspotenzial an den Diskurs über den Zusammenhang von Naturbewahrung und Rassismuskritik. Die ökologische Bewegung beginnt erst langsam, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen, die in den USA sowie in Deutschland häufig auch mit rassistischen Ansprüchen weißer Überlegenheit verbunden gewesen ist. So konnten überzeugte Naturschützer auch Eugeniker sein, die durch rassistische Politik den Bestand der weißen „Rasse“ sichern wollten.47 Die Beleuchtung des Zusammenhangs von Naturzerstörung und Rassismus bleibt bis heute meist marginal, vielleicht auch aufgrund dieses Erbes weißer Dominanz. Gerade eine reformierte Schöpfungstheologie, der es um eine wertschätzende Wahrnehmung der Natur sowie um die gerechte
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Ebd., S. 276 – 277. Vgl. Purdy, Jedediah: Environmentalism’s Racist History [2015], auf: The New Yorker, https://bit.ly/2v2ZrOS [Zugriff 11. Juli 2022]. Vgl. insgesamt Purdy, Jedediah: After Nature. A Politics for the Anthropocene, Cambridge 2015. 47
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Gestaltung der Welt geht, müsste diese doppelte Herausforderung von Naturzerstörung und Rassismus als Aufgabe annehmen. Als zeitgeschichtliches Beispiel kann das Engagement der von der reformierten Tradition geprägten United Church of Christ in den USA gelten, der auch Robinson angehört. In den 1980er Jahren war es deren Racial Justice Commission, die in einer Studie auf den Umstand hinwies, dass es vor allem Schwarze Menschen sind, die den Folgen der Naturzerstörung in den USA ausgesetzt sind. In der hierdurch angestoßenen Diskussion etablierte sich der Begriff des Umweltrassismus (environmental racism), um diesen Problemzusammenhang zu beschreiben sowie der Begriff der Umweltgerechtigkeit (environmental justice), um eine Perspektive zu entwickeln, die sowohl Gerechtigkeit für die Natur als auch für von Rassismus betroffene Menschen im Blick hat.48 Marilynne Robinsons Werk regt dazu an, die reformierte Tradition zu befragen und in Denkern wie Calvin oder Thoreau Gesprächspartner einer natursensiblen Theologie zu entdecken. Besonders Robinsons eigene Stimme – ihr in Gilead begegnender kosmischer Realismus – birgt das Potential, eine theologische Sensibilität für die mehr-als-menschliche Natur und eine kritische Nachdenklichkeit angesichts rassistischer Ausschlüsse in Geschichte und Gegenwart einzuüben. Literaturverzeichnis Robinson, Marilynne: Housekeeping, New York 1980. Robinson, Marilynne: Mother Country, New York 1989. Robinson, Marilynne: The Death of Adam. Essays on Modern Thought, New York 1998. Robinson, Marilynne: Gilead, New York 2004. Robinson, Marilynne: Home, New York 2008. Robinson, Marilynne: Absence of Mind. The Dispelling of Inwardness from the Modern Myth of the Self, New Haven 2010. Robinson, Marilynne: When I Was a Child I Read Books. Essays, New York 2012. Robinson, Marilynne: Lila, New York 2014. Robinson, Marilynne: The Givenness of Things. Essays, New York 2015. Robinson, Marilynne: What Are We Doing Here? Essays, New York 2018. Robinson, Marilynne: Jack, New York 2020. Robinson, Marilynne: Saving Calvin from Clichés. An Interview with Marilynne Robinson [2017], auf: Commonweal, https://bit.ly/3aF98sm [Zugriff 11. 07. 2022]. 48 Vgl. United Church of Christ Commission for Racial Justice: Toxic Wastes and Race in the United States: A National Report on the Racial and Socioeconomic Characteristics of Communities with Hazardous Waste Sites, New York 1987.
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* Allen, R. Michael: Reformed Theology, London 2010. Beecher Stowe, Harriet: Uncle Tom’s Cabin. Or, Life Among the Lowly, Cleveland 1852. Bergthaller, Hannes: Like a Ship to be Tossed. Emersonian Environmentalism and Marilynne Robinson’s Housekeeping, in: Beckett, Ian/Gifford, Terry (Hrsg.), Culture, Creativity and Environment. New Environmentalist Criticism, Leiden 2007, S. 75 – 97. Calvin, Johannes: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, Calvin-Studienausgabe 6, Neukirchen-Vluyn 2008. Calvin, Johannes: De aeterna Dei predestinatione [1552], Calvini Opera 8. Calvin, Johannes: Genesisauslegung, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Bd. 1, hrsg. v. Otto Weber, Neukirchen 1956. Calvin, Johannes: Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis [1559], übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. Cep, Casey: Marilynne Robinson’s Essential American Stories [2020], auf: The New Yorker, https://bit.ly/3yTLvW6 [Zugriff 11. 07. 2022]. Edwards, Jonathan: The Great Christian Doctrine of Original Sin Defended, Boston 1758. Emerson, Ralph Waldo: Nature, Boston 1836. Larsen, Timothy/Johnson, Keith L. (Hrsg.): Balm in Gilead. A Theological Dialogue with Marilynne Robinson, Downers Grove 2019. Latz, Andrew Brower: Creation in the Fiction of Marilynne Robinson, in: Literature and Theology 3 (2011), S. 283 – 296. Link, Christian: Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, Gütersloh 1991. Melville, Herman: Moby-Dick. Or, The Whale, New York 1851. Niesel, Wilhelm (Hrsg.): Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, Bd. 5, München 1938. Plasger, Georg: Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen 2008. Purdy, Jedediah: After Nature. A Politics for the Anthropocene, Cambridge 2015. Purdy, Jedediah: Environmentalism’s Racist History [2015], auf: The New Yorker, https://bit.ly/ 2v2ZrOS [Zugriff 11. Juli 2022]. Schreiner, Susan E.: Art. Schöpfung, in: Selderhuis, Hermann J. (Hrsg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, S. 262 – 270. Schreiner, Susan E.: The Theater of His Glory. Nature and the Natural Order in the Thought of John Calvin, Durham 1991. Tanner, Laura E.: The Elusive Everyday in the Fiction of Marilynne Robinson, Oxford 2021. Thoreau, Henry David: Walden; Or, Life in the Woods, Boston 1854.
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United Church of Christ Commission for Racial Justice: Toxic Wastes and Race in the United States. A National Report on the Racial and Socioeconomic Characteristics of Communities with Hazardous Waste Sites, New York 1987.
Judentum und jüdische Studien
Apostaten, Rebellen, Götzendiener Jeshajahu Leibowitz’ Deutung des Christentums Von Matthias Morgenstern Jeshajahu Leibowitz (1903 – 1994), der langjährige Ordinarius für organische Chemie und Neurophysiologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Gastprofessor für Judaistik in Haifa, war in Israel vor allem durch seine Tätigkeit als Chefredakteur der Hebräischen Enzyklopädie bekannt. Da er während seines Deutschlandaufenthaltes in den 1920er Jahren einen Doktortitel in Philosophie erworben, als Biochemiker an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Akademie von 1926 bis 1929 gearbeitet und anschließend in der Schweiz ein Medizinstudium absolviert hatte, auch auf den Gebieten der Wissenschaftsgeschichte und Philosophie publizierte und zudem ein praktizierender orthodoxer Jude war, galt er als eine Art Universalgelehrter. Für die Hebräische Enzyklopädie schrieb er selbst einige Hauptartikel wie die über „Chemie“ und „Leben“1, über den Kusari, das Hauptwerk des mittelalterlichen jüdischen Philosophen Jehuda Halevi (ca. 1074 – 1141), sowie den Artikel „Jesus von Nazareth“.2 Populär (und gefürchtet) waren seine pointierten, häufig auch äußerst polemischen Stellungnahmen zu Problemen des Nahostkonflikts und zu gesellschaftsund religionspolitischen Fragen. Im Zusammenhang mit seiner unerbittlichen Kritik an der Religionspolitik von Premierminister David Ben-Gurion (1886 – 1973) forderte er seit 1959 die Trennung von Staat und Religion in Israel. 1962 trat er einem Komitee bei, das den Nahen Osten zur kernwaffenfreien Zone erklären wollte. Nach 1967 forderte er Israels Rückzug aus den im Sechs-Tage-Krieg besetzten Gebieten, um die Herrschaft über die Palästinenser und die Bedrohung des einerseits jüdischen, andererseits demokratischen Charakters des eigenen Staates zu beenden. Leibowitz hatte keine rabbinische Ausbildung erhalten; dennoch erstreckten sich die ihm zugestandenen Kompetenzen auch auf das Gebiet weltanschaulich-religiöser und lebenspraktischer Probleme. Mit Hilfe seiner meist populärwissenschaftlichen Vorträge wurde er seinen Gesprächspartnern zum geradezu seelsorgerlichen Ratge-
1 Vgl. Encyclopaedia ha-ivrit (= EH) XVII, S. 359 – 366 (A==;/Leben); EH XX, S. 727 – 790 (8=B=?/Chemie). 2 EH XIX, S. 199 – 202 (Jehuda Ha-Levis Kusari); EH XX, S. 412 – 432 (=LJ9D8 9M=/Jeshu ha-nozri); vgl. ferner Leibowitz, Jeshajahu: Gespräche über Gott und die Welt mit Michael Shahar, Frankfurt 1990, S. 188 – 190.
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ber.3 Die apodiktische, häufig auf das Äußerste zuspitzende Art, in der Leibowitz sich äußerte, löste – in Zustimmung und Widerspruch – heftige Reaktionen aus. In Zeitungsartikeln und Rundfunkvorträgen nahm er, oft völlig unerwartet, zu in der Öffentlichkeit diskutierten Fragen Stellung. Ausgangspunkt unseres Versuchs, Leibowitz’ Stellungnahmen zum Christentum nachzuzeichnen,4 ist seine Kontroverse mit dem Jerusalemer Religionswissenschaftler und Spezialisten für das Neue Testament David Flusser (1917 – 2000) anlässlich des Eichmann-Prozesses zu Beginn der 1960er Jahre (I.). Beobachtungen zu Leibowitz’ Äußerungen zum Thema der Apostasie, des Abfalls vom Judentum (II.), und zu den Noachiden, einer Bewegung, die versucht, auf biblisch-rabbinischer Grundlage einen Weg für Nichtjuden zum Gott Israels zu finden, schließen sich an (III.). Am Ende stehen der Versuch einer Einordnung des Urteils, das Leibowitz dem Christentum gegenüber abgibt, in das Gesamt seiner Religionsphilosophie (IV.) sowie abschließende Reflexionen zu einer möglichen christlichen Antwort (V.). I. Jeshajahu Leibowitz und David Flusser Der „Fall Adolf Eichmann“ – der ehemalige deutsche SS Obersturmbannführer war im Mai 1960 in Buenos Aires von israelischen Agenten verhaftet und nach Israel entführt worden – fand ein breites Echo in den internationalen Medien und wurde von der israelischen Öffentlichkeit mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Als dem deutschen Kriegsverbrecher, der die Verantwortung für den millionenfachen Mord an Juden trug und später zum Tod durch den Strang verurteilt wurde, im Frühjahr 1961 vor dem Jerusalemer Bezirksgericht der Prozess gemacht wurde, kam es zu intensiven Diskussionen über den Sinn dieses Prozesses in israelischen Zeitungen. Leibowitz mischte sich in die Debatte ein und forderte in einem offenen Brief die Freilassung des Verbrechers. Dieser sei nur ein kleines „Rädchen im Getriebe“ und „Produkt“ einer zweitausendjährigen judenfeindlichen Erziehung gewesen, die dem Christentum anzulasten sei.5 In diesem Zusammenhang kam es zu einem Briefwechsel mit David Flusser über die Bewertung des Christentums aus jüdischer Sicht. Leibowitz nahm das Gespräch auf, als er bei seinem Sohn Uri, der in dieser Zeit bei Flusser studierte, am Abend des Wochenfestes ein Heft mit Notizen über dessen Vorle3 Vgl. I wanted to ask you, Prof. Leibowitz. Letters to and from Yeshayahu Leibowitz (hebr.), hrsg. von Miron Ofran u. a., Jerusalem 1999 (zitiert als: Leibowitz, Letters). 4 An anderen Religionen, namentlich denen des Fernen Ostens, war Leibowitz nach eigenen Worten nur am Rande interessiert, „als Kuriosum“; Leibowitz, Gespräche, S. 79. Was den Islam anbelangt, so sah Leibowitz ihn vornehmlich durch die Brille des Maimonides (ebd., S. 77 – 79). Sein gelegentlich geäußertes Bedauern, nicht Arabisch gelernt zu haben, war nicht in einem Interesse an Koranstudien oder an islamischer Theologie und Geschichte begründet, sondern hing mit seiner Orientierung an Maimonides zusammen, dessen Schriften in arabischer Sprache er nicht im Original lesen konnte. 5 Zu diesem Prozess, den Leibowitz als „Fehlhandlung“ bezeichnete, vgl. Leibowitz, Gespräche, S. 101.
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sungen gesehen hatte. Am 5. Mai 1961 schrieb er an Flusser. Nach der Anrede („lieber Rabbi David“) lesen wir: „Ich konnte nur einen Blick auf die erste Seite werfen, aber das reizt mich schon sehr, mit Dir eine Diskussion anzufangen. Wenn Du Lust dazu hast, können wir in Deinem Seminar darüber diskutieren. Sicherlich werden Deine Studenten großes Vergnügen daran haben. Diese Thesen möchte ich Deinen Grundlagen-Definitionen gegenüberstellen: 1) Du definierst das Christentum als eine Sekte, die aus dem Judentum herausgewachsen ist und Prinzipien des Heidentums in sich aufgenommen hat. Meine Definition lautet demgegenüber: Das Christentum wuchs aus dem hellenistischen Heidentum des Mittleren Ostens heraus, indem es Symbole, Begriffe und Konzepte verwendete, die dem Judentum entliehen waren. 2) Du betonst den monotheistischen Charakter des Christentums. Ich stelle demgegenüber fest: Trotz des von ihm in Anspruch genommenen Monotheismus gelang es dem Christentum (mit Ausnahme der unitarischen Splittergruppen im späteren Christentum) nicht, sich von seinem götzendienerischen Erbe zu befreien und zu einem Monotheismus zu gelangen. Es interessiert mich, Deine Antwort zu hören. In Freundschaft Jeshajahu“6
In den folgenden Wochen entwickelte sich ein Gespräch zwischen beiden Gelehrten, das nach einem Zeitungsartikel Flussers in der Jerusalem Post vom 21. Juni 1961 in scharfe Polemik mündete. Flusser bezog sich in seinem Text auf den EichmannProzess und gab seiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass der Angeklagte es abgelehnt hatte, seinen Eid über dem Neuen Testament zu sprechen, sondern sich stattdessen in allgemeiner Form auf Gott bezog. „Juden wie Christen haben gleichermaßen erkannt“, schrieb Flusser, „dass die Quellen des Christentums im Judentum liegen, und Maimonides schrieb auch, dass das Christentum die gute Nachricht unseres Gottes bis zu den fernen Inseln getragen hat.7 Deshalb, wegen der starken Verbindung zwischen dem Judentum und dem Christentum, wäre es dem jüdischen Volk als blasphemischer Missbrauch und Beleidigung erschienen, wenn Eichmann sich auf das Buch hätte vereidigen lassen, das das Königtum Gottes verkündigt.“8
Leibowitz reagierte noch am gleichen Tag. In einem Brief „an den lieben Flusser“ sprach er von seiner „Trauer“ angesichts dieser Worte und protestierte dagegen, dass dessen Text das „Gräuel der Verwüstung“ (AB9MB8 I9K=M) des Christentums9 mit „un6
Leibowitz, Letters, S. 381. Vgl. Maimonides, Hilchot Melachim 11, 4. 8 Leibowitz, Letters, S. 382. Zu Flussers Darstellung des Christentums vgl. Flusser, David: Das Christentum, eine jüdische Religion, München 1990. 9 Vgl. Dan 9,27; 11,31; 12,11 sowie 1Makk 1,51; Mt 24,15 f.; Mk 13,14. Leibowitz’ Sprachgebrauch spielt auf den von dem hellenistischen König Antiochus IV. Epiphanes (ca. 215 – 164 v. Chr.) im Jerusalemer Tempel errichteten Altar bzw. an den von ihm inaugu7
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serem Vater im Himmel“ identifiziert habe. Er warf dem Kollegen vor, den mittelalterlichen Philosophen, der von Jesu Werk als dem „größten Hindernis“ gesprochen hatte, verkürzt und irreführend zitiert zu haben. Jesus habe eine Vertauschung der Tora veranlasst10 und den größten Teil der Welt in die Irre geführt,11 so dass sie nun einen anderen Gott als den Gott Israels verehrten. „Maimonides stelle faktisch fest, dass ,Christen Götzendiener sind‘ und dass alle jüdischen Rechtsbestimmungen, die Götzendiener betreffen, auf sie anzuwenden sind.“12 Leibowitz fügte hinzu, Flusser habe kein Recht, Maimonides als Gewährsmann für die von ihm behaupteten engen Beziehungen von Judentum und Christentum anzuführen. Vor der Aufforderung an den Adressaten, seine Aussage zu widerrufen („kehre um, Rabbi David“), hielt Leibowitz es noch für zweckdienlich zu erwähnen, „dass wir das Christentum drei Mal an jedem Tag verfluchen.“13 Diese Zeilen überraschen im Hinblick auf die Selbstsicherheit, den polemischen Ton und die moralische Entrüstung, mit der Leibowitz seinem Kollegen – die Beschäftigung mit dem Christentum war ja dessen akademisches Spezialgebiet! – entgegentritt.14 Auch inhaltlich ist der Brief befremdlich: Seine Berufung auf Maimonides, dem zufolge das Christentum halachisch als Götzendienst einzustufen ist, konnte keinen Kenner überraschen – aber Leibowitz hätte unter den jüdischen Weirierten Opferdienst an, den er mit dem Christentum vergleicht. Beide Phänomene gelten ihm aus jüdischer Sicht als in gleicher Weise illegitim und verabscheuenswert. 10 Leibowitz’ Wendung 8L9N8 G=@;8@…AL6 8:9 erinnert an den neunten Artikel im maimonidianischen Glaubensbekenntnis, der von der Unveränderlichkeit der Tora handelt (NH@9;B =8N 4@ 8L9N8); A=LM= N@HN. Die täglichen Gebete der Israeliten nebst deutscher Übersetzung, 6. Aufl., Rödelheim 1884, S. 162. 11 Über die Anklage im Talmud hinaus, der zufolge Jesus Teile des jüdischen Volkes in die Irre führte, wird hier der Vorwurf erhoben, Jesus habe viele Nichtjuden „verführt“. Das – nach Leibowitz apologetische – Argument, Jesu Verurteilung und Hinrichtung sei den Römern und nicht den damaligen jüdischen Autoritäten anzulasten, scheint Leibowitz abzulehnen (Gespräche, S. 78). Zu den strafrechtlichen Vorwürfen, die nach dem Talmud zu Recht die Verurteilung und Hinrichtung Jesu nach sich zogen, vgl. Schäfer, Peter: Jesus im Talmud, Tübingen 2007, S. 129 – 152. Zum Prozess Jesu aus der rechtsgeschichtlichen Perspektive eines zeitgenössischen israelischen Juristen vgl. Cohn, Chaim: Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, Frankfurt am Main 1997. Cohn macht am Ende seines Buches zu Recht darauf aufmerksam, wie problematisch es ist, historische Fragen, die mit dem Prozess gegen Jesus zu tun haben, im Kontext gegenwärtiger jüdisch-christlicher Beziehungen zu thematisieren. 12 Leibowitz, Letters, S. 383. 13 Ebd., S. 384. Ein polemischer Seitenhieb auf Flusser findet sich auch in Leibowitz’ Aufsatz NHN9MB8 N=LJ9D N=798=8 NML9B8, in: HaAretz (Herbst 1968), wieder abgedruckt in: Ders., Judaism, Human Values and the Jewish State (hebr.), Cambridge/Mass., London 1992, S. 327 – 333, hier: 333. 14 In einem Brief vom 10. 12. 1986 gibt Leibowitz die Quellen seines Urteils bei Maimonides an (Mischne Tora, Hilchot Avoda Zara 9, 4); nach Maimonides ist der Islam demgegenüber nicht als Götzendienst einzustufen; andererseits ist es verboten, Muslime am Torastudium teilnehmen zu lassen, da Muslime den Juden den Vorwurf machten, sie hätten die Tora gefälscht. Christen ist demgegenüber nach Maimonides die Teilnahme am Torastudium erlaubt. Zum Thema des Christentums als Götzendienst vgl. auch Leibowitz, Gespräche, S. 77.
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sen des Mittelalters neben Maimonides auch die von dem provençalischen Gelehrten des vierzehnten Jahrhunderts Menachem Ha-Meiri vertretene mildere Position anführen können, demzufolge die gegenwärtigen Christen religionsrechtlich nicht als Götzendiener einzustufen seien.15 Vor allem aber war das Christentum, das Leibowitz’ mittelalterlichem Gewährsmann gegenüberstand, von dem Phänomen, das der Erforscher des Urchristentums und des Neuen Testaments vor Augen hatte, um mehr als ein Jahrtausend geschieden. Ob die birkat ha-minim im Achtzehngebet – den sogenannten „Ketzersegen“ hatte Leibowitz mit seiner letzten Aussage offenbar im Blick – sich in seinem Entstehungskontext auf Anhänger Jesu von Nazareth bezieht, wobei in diesem Fall natürlich Juden- und nicht Heidenchristen gemeint waren, war und ist in der Forschung schließlich durchaus umstritten.16 Maimonides dachte demgegenüber mit seinem Urteil natürlich an Christen „aus den Weltvölkern“ und nicht an Judenchristen.
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Zur Position Ha-Meiris, die freilich den Nachteil hat, im jüdisch-orthodoxen Diskurs wenig rezipiert zu sein, vgl. Novak, David: The Image of the Non-Jew in Judaism: A Historical and Constructive Study of the Noahide Laws, New York 1983/2011, S. 195 – 198 sowie Ben Johanan, Karma: Nezid Adashim. Tefisot hadadijot shel nozrim wihudim be-idan hapijjus [A Pottage of Lentils. Mutual Perceptions of Christians and Jews in the Age of Reconciliation], Tel Aviv 2020, S. 178 – 180. Israel Jacob Yuval spielt in seiner Besprechung der Studie Ben Johanans möglicherweise auf das oben zitierte Diktum Leibowitzens an: Israel J. Yuval, „We Curse Christianity Three Times a Day“. Can Jews and Christians Truly Reconcile, in: HaAretz, 14. 08. 2020. Eine historisch-theologische Einordnung des maimonidianischen Verdikts gegenüber dem Christentum findet sich bei Schreiner, Stefan: Irrtum, Torheit oder falsche Religion. Christentum und Islam nach dem Urteil Moshe b. Maimons, in: Frankfurter Jüdische Beiträge 32 (2005 [erschienen 2006]), S. 23 – 52. Vgl. auch ders., „Ein Zerstörer des Judentums…?“ Mose ben Maimon über den historischen Jesus, in: Tamer, George (Hrsg.), The Trias of Maimonides/Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic and Ancient Culture of Knowledge/Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, Berlin/New York 2005, S. 323 – 345. 16 Zum älteren Konsens, der einen Bezug dieses Textes auf das Christentum verneint, vgl.: Stemberger, Günter: Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, München 1979, S. 200 (= vollständig bearbeitete und aktualisierte Auflage München 2009, S. 203); Ydit, Meir: Art. Birkat Ha-Minim, in: Encyclopaedia Judaica IV, Jerusalem 1971, col. 1035 f.; Nulman, Macy: The Encyclopedia of Jewish Prayer. Ashkenazic and Sephardic Rites, Northvale N.J. 1996, S. 354: „The text underwent various changes, modifications, and corrections due to the Medieval Christian censor who, without foundation, considered the prayer a malediction directed against Christians.“ In jüngerer Zeit, in der eine Reihe von Forschern vermehrt direkte oder auch indirekte Einflüsse des Christentums auf das entstehende rabbinische Judentum wahrnimmt, bricht sich eine differenziertere Betrachtung Bahn. Vgl. dazu Boyarin, Daniel: Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004, S. 70 f. Vgl. auch Hirsch, Jean: Regard talmudique sur la tradition chrétienne, Paris 2007, S. 45 – 48. Nach Hirsch wurde dieses Gebet ursprünglich gegen judenchristliche Gruppen konzipiert, im Laufe der Zeit aber so umformuliert, dass es heute keine Polemik gegen das Christentum enthält, sondern gegen die „ennemis de Dieu, au sein même du judaïsme“ gerichtet ist (ebd., S. 47). – Vor diesem Hintergrund hätte doch auch von Leibowitz aus gesehen die Frage eine Prüfung verdient, ob möglicherweise bestimmte Handlungen für Juden halachisch als Götzendienst gelten, die aus halachischer Perspektive Nicht-Juden erlaubt sind.
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Von diesem Problem zu unterscheiden ist in jedem Fall aber die Frage, ob und inwieweit jüdische Beter späterer Zeiten – das von Leibowitz in Anspruch genommene Wir – bei der Textrezitation faktisch an das Christentum dachten und heute an es denken. Offen bleibt darüber hinaus die Frage, ob das von Leibowitz apostrophierte Verständnis des „Ketzersegens“ vereinbar ist mit der Interpretation, die er jüdischen Gebeten sonst gibt.17 Ein weiterer problematischer Gesichtspunkt ist, dass Leibowitz, unterstellen wir ihm nicht, historisch naiv zu sein, sich demonstrativ unbeeindruckt zeigt von der Tatsache, dass die Behauptung, Christen würden von Juden in ihren Gebeten verflucht, seit dem Mittelalter regelmäßig in judenfeindlichen Texten und Verleumdungen zu finden ist und Pogrome sowie die Vernichtung jüdischer Bücher und Schriften nach sich zog.18 Unabhängig von der Frage, ob seine Interpretation der Stelle im jüdischen Gebetbuch richtig ist, hätte Leibowitz demnach ein Interesse daran haben können, mit seiner Deutung diskret umzugehen. Als ausgesprochener Polemiker lehnte er aber jede Apologetik ab – ein für Leibowitz geradezu programmatischer Zug seines Denkens, der im Übrigen auch für andere Philosophen im Raum der deutsch-jüdisch geprägten modernen Neoorthodoxie charakteristisch ist. Wie Isaac Breuer (1883 – 1946), den man in mancher Hinsicht als seinen Vorgänger bezeichnen kann, scheute Leibowitz sich nicht, Themen und Sachverhalte anzusprechen, die im Zeitalter des Dialogs von anderen lieber schamhaft verschwiegen werden.19
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In seinen Vorträgen über die Sprüche der Väter beschreibt Leibowitz das jüdische Ritualgebet, dessen bedeutendster Teil das Achtzehngebet ist, als „Institution“, deren Sinn es ist, dem „Gottesdienst des Menschen, der das Joch des Himmels auf sich nimmt“, Ausdruck zu geben (Leibowitz, Jeshajahu: Vorträge über die Sprüche der Väter, Obertshausen 1984, S. 79). Der Sinn des Gebetes besteht demnach jedenfalls nicht darin, „zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“ – man möchte interpretieren: etwa des Bedürfnisses der Abgrenzung vom Christentum – beizutragen (ebd., S. 78). Das Verständnis des synagogalen Gebets ganz unter der Perspektive der „Ergriffenheit des Stehens vor Gott“ und der „Pflicht, Gott zu dienen“ (ebd., S. 83), scheint jedenfalls nicht leicht vereinbar zu sein mit Leibowitzens Bemühung, den Gebetstext seinem Streit mit Flusser dienstbar zu machen. 18 Zu Martin Luther, der diesen Vorwurf in seiner judenfeindlichen Spätschrift Von den Juden und ihren Lügen (1543) erhob und sich dabei auf das Aleinu-Gebet sowie Vorstellungen von einer zahlenmystisch gedeuteten hebräischen Form des Jesusnamens („Jeschu“) bezog, vgl. Morgenstern, Matthias (Hrsg.): Martin Luther. Von den Juden und ihren Lügen, Berlin 2017, S. 176 – 178, 277 und 284. Der Reformator stützte sich dabei auf die Schrift des getauften Juden Antonius Margaritha Der gantz jüdisch glaub (1530). 19 Vgl. Morgenstern, Matthias: Isaac Breuer und das Problem jüdischer Apologetik, in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 76/4 (2018), S. 92 – 104. Breuer wird bei Leibowitz an einigen Stellen erwähnt; vgl. Leibowitz, Letters, S. 488 f.; Leibowitz, Gespräche, S. 67. Um das Verhältnis der Philosophie Breuers zu der von Leibowitz geht es auch in dem Aufsatz, den Johanan Silman zu dem von Asa Kasher und Ja’aqov Levinger zu Ehren von Leibowitz zusammengestellten Sefer Jeschajahu Leibowitz beisteuerte (9N968 @F A=LB4B I59K, Tel Aviv 5737/1977): Motivim qantiani’im be-heguto shel Leibowitz (Kantianische Motive im Denken von Leibowitz), S. 47 – 55.˙ Vgl. Cohen, Jeremy: The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaca 1982.
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II. Apostaten All dies sind Erwägungen, die weg von der in der Korrespondenz eigentlich intendierten Erörterung des „Falles“ Eichmann – überflüssig zu erwähnen, dass dieser natürlich kein „Judenchrist“ war! – führen. Für den Autor ist die Behandlung des Christentums aber eng mit der Frage des Umgangs mit „abtrünnigen“ Juden verbunden, die an Jesus als den Messias glauben: Ohne Umschweife verwendet Leibowitz zu ihrer Bezeichnung den im Hebräischen abschätzig gemeinten Begriff meshummadim, Apostaten. Sachliche und terminologische Differenzierungen, wie sie an dieser Stelle eigentlich notwendig wären, spielen für ihn keine Rolle: Geht es um zum Christentum „übergetretene“ Juden, die ihr Judentum hinter sich lassen wollen? Oder um getaufte Juden, die sich – innerhalb ihrer Kirche – bewusst als Judenchristen bezeichnen und zu ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel bekennen? Oder sind „messianische Juden“ gemeint, die die Konversion zum Christentum für sich ausschließen und ihren Jesusglauben stattdessen (in welcher Form auch immer) in ihre jüdische Lebenspraxis integrieren wollen? Leibowitz betrachtet diese in unterschiedlichen historischen Kontexten entstandenen Phänomene, die doch möglicherweise eine unterschiedliche Würdigung und Beurteilung verdient hätten, nur unter dem einheitlichen Gesichtspunkt der Verurteilung des Abfalls vom Judentum. Selbst eine so akademisch-abwägend formulierte (und offenbar ganz und gar nicht religiös-konfessorisch gemeinte) Wertschätzung der historischen Person Jesu von Nazareth, wie sie ihm aus der Feder seines Jerusalemer Kollegen entgegenkommt, scheint für Leibowitz unter das Verdikt zu fallen.20 Unter diesen Umständen rückt sein Christentumsbild ganz in den Schatten seines Urteils über die Apostasie: Das Christentum wird definiert als kontradiktorische Verneinung des Judentums. In dieser Hinsicht führt Leibowitz ein Zitat aus Karl Barths Kirchlicher Dogmatik an, dem zufolge das jüdische Volk für Christen nach ihrem traditionellen Verständnis eine irreale Erscheinung sei, eine „ontologische Unmöglichkeit, eine Wunde, ja eine Lücke, im Leib Christi, die schlechterdings unerträglich“ und nur dazu da sei, das Christentum zu verführen und zu verunglimpfen.21 Al20 Gefragt werden müsste, ob Fälle wie die der jüdischen Konvertiten Nicolas Donin, Pablo Christiani und Johannes Pfefferkorn, die im 13. und 16. Jahrhundert (im Pariser Talmudprozess, in der berühmten Disputation von Barcelona und im Judenbücherstreit Johannes Reuchlins) als Denunzianten auftraten und der päpstlichen Inquisition zuarbeiteten, aus der Sicht des jüdischen Religionsgesetzes nicht anders zu beurteilen wären als getaufte Juden des 19. und Judenchristen des 20. Jahrhunderts. Falls nach Leibowitz eine solche differenzierende Betrachtung abzulehnen ist, hätte eine Begründung seiner Argumentation jedenfalls gutgetan. Zu den jüdischen Konvertiten im Mittelalter vgl. Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaca 1982, 65 f. und 103 f. 21 Leibowitz, Jeshajahu: Judentum, jüdisches Volk und der Staat Israel (hebr.), Tel Aviv 1975, S. 332. Das Zitat findet sich in: Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik IV/1, Zürich 1953, S. 749. Der zweite Teil des obigen Relativsatzes (außerhalb der Anführungszeichen) ist Leibowitzens (Barths Formulierung verschärfende) Paraphrase. Zur Auseinandersetzung mit den Ausführungen Barths in der evangelischen Theologie vgl. Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie: Israel im Denken Karl Barths,
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lein unter der Voraussetzung der engen Zusammengehörigkeit beider Religionen – in seiner Replik auf Barth definiert Leibowitz das Judentum spiegelbildlich geradezu als kontradiktorische Verneinung des Christentums – wird die „tiefe Verachtung“ verständlich, die der Jerusalemer Gelehrte nach eigenen Worten für das Christentum überhaupt und im Allgemeinen hegte.22 Nur in diesem Falle passt die Anklage, das Christentum habe die Tora und die Mizwot „im Namen des Judentums“23 aufgehoben – Nichtjuden sind den Gesetzen vom Sinai nach jüdischem Verständnis ja ohnehin nicht unterworfen. In der Edition der hebräischen Briefe Leibowitz’ steht die Auswahl seiner Texte, die sich mit der Apostasie befassen, daher mit sachlichem Recht unmittelbar im Anschluss an die thematischen Briefe zum Christentum. Aufgenommen wurde in diesen Abschnitt die Frage einer Briefschreiberin vom 4. November 1987, die Hal Lindsays evangelikalen Bestseller „Alter Planet Erde wohin?“24 gelesen hatte und wissen wollte, ob die messianischen Weissagungen der Hebräischen Bibel als in Jesus erfüllt betrachtet werden könnten. Leibowitz antwortete betont kurz – ohne Schalomgruß und
München 1967. Zu Barths Israellehre in der Kirchlichen Dogmatik vgl. ebd., S. 101 – 360; zur Auseinandersetzung mit dem von Leibowitz zitierten Satz vgl. ebd., S. 358. Leibowitz zitiert Marquardts Schlussfolgerung: „Hier spürt man eine verborgene Verbindung zwischen dem Paulinismus und Auschwitz“ (Leibowitz, Gespräche, S. 73). – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Paulusdeutung Marquardts und Leibowitz’ (genannt werden könnten auch jüdische Exegeten, die ihr mutmaßlich widersprechen würden) muss an dieser Stelle unterbleiben; immerhin ist der hier vorgetragenen Vorstellung im Hinblick auf das traditionelle christliche Judentumsbild die im Abendland jahrhundertelang vorherrschende (auf Augustinus zurückgehende) Lehre gegenüberzustellen, der zufolge die (nicht an Jesus gläubigen) Juden durchaus eine positive Aufgabe hatten. Der Sinn ihrer Existenz war nicht die Verunglimpfung des Christentums – Juden sollten durch ihr bloßes Dasein vielmehr (freilich wider Willen) Zeugen des Evangeliums sein. Sofern sie nicht an Jesus glaubten, sollten sie den biblischen Geboten durchaus weiter gehorchen, es gab also christlicherseits keine Aufforderung an die Juden, den mosaischen Geboten gegenüber ungehorsam zu sein. Judenfeindliche Anklagen mit Bezug auf die Gebotspraxis bezogen sich häufig gerade darauf, dass die Juden die Observanz der ursprünglichen Sinaigebote aufgegeben hätten und stattdessen nachbiblisch-rabbinische Regeln befolgten, so Luther in seiner judenfeindlichen Schmähschrift Von den Juden und ihren Lügen, dort z. B. mit Blick auf die Beschneidungspraxis (Morgenstern, Luther, S. 21 – 42). Zur Judentumstheologie bei Augustinus vgl. Cohen, The Friars, S. 14 f. Die Judentumstheologie Augustins (die Luther in seinen antijüdischen Spätschriften aufgab) ist natürlich mit guten Gründen ebenfalls als judenfeindlich zu kennzeichnen, aber sie ist doch weit entfernt davon, die Existenz der Juden als eine „ontologische Unmöglichkeit“ zu bezeichnen. 22 Leibowitz, Gespräche, S. 76. 23 Ebd., S. 77. Immerhin unterscheidet Leibowitz in seinem Brief vom 01. 05. 1975 (Leibowitz, Letters, S. 390) zwischen „koscheren“ und „nicht-koscheren Gojim“ – Rufeisen gehört zur letzteren Kategorie. 24 Lindsey, Hal (Harold Lee)/Carlson, Carole C.: The Late Great Planet Earth, Grand Rapids 1970; (Deutsche Übersetzung: Alter Planet Erde wohin? Im Vorfeld des dritten Weltkrieges, Wetzlar 1972).
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ohne Höflichkeitsformel am Ende25 –, ihre Worte erweckten „den Verdacht, dass Sie eine Apostatin sind“, er sei aber „nicht bereit, mit Apostaten zu diskutieren“.26 Es folgt der Abdruck eines Briefes vom 1. Mai 1975, in dem Leibowitz einen Freund mit scharfen Worten tadelt, weil dieser eine öffentliche Diskussion mit dem römisch-katholischen Ordenspriester Daniel Rufeisen (1922 – 1998) an der Universität Haifa anberaumt hatte. Rufeisen, in einem jüdischen Elternhaus in Polen geboren, war während der Shoah Christ geworden und kam 1959 im Auftrag seines Ordens nach Israel, um dort als Seelsorger zu wirken. Unter Berufung auf das israelische Rückkehrgesetz beantragte er die israelische Staatsbürgerschaft und die Registrierung als Jude in seinem Personalausweis; dies wurde ihm vom Jerusalemer Obersten Gericht aber verwehrt, da der Angehörige einer anderen Religion nicht zugleich Jude sein könne. Erst nach einer längeren öffentlich geführten Debatte erhielt er mit Verweis auf seine Verdienste für das jüdische Volk während der Zeit des Holocaust die israelische Staatsbürgerschaft. Leibowitz’ Urteil seinem Haifaer Universitätskollegen gegenüber ist eindeutig: „Wie kannst du dich selbst erniedrigen – und zugleich die Ehre des jüdischen Volkes und des Judentums antasten –, indem du mit einem Apostaten diskutierst, mit einem verachtenswerten Menschen, einem Zerstörer des Bundes, einem Schänder des Gottesnamens, einem Flucher und Beleidiger? Dies ist umso schwerwiegender, wenn es vor jungen Leuten geschieht, die die Bedeutung [eines solchen Gesprächs] nicht kennen und nicht verstehen.“27
Weder die besonderen Bedingungen, unter denen Rufeisen sich hatte taufen lassen, noch die Umstände seiner Wirksamkeit unter der deutschen Besatzung in Polen – da er als vollkommen assimilierter Jude perfekt Deutsch sprach, konnte er sich als Volksdeutscher ausgeben und rettete so 1942 etwa 300 Juden vor der Deportation und Ermordung – können Leibowitz’ Urteil abmildern.28 Als strukturell in gewisser Hinsicht vergleichbar kann Leibowitz’ Stellungnahme zum in den 1980er Jahren in Israel vieldiskutierten „Fall Va’anunu“ gelten. Auch hier war eine Spannung zwischen dem religiös-halachischen Verdikt und seiner sonstigen Beurteilung des „Falles“ und seiner politischen Umstände zu konstatieren. Der 1954 in Marrakesch geborene israelische Techniker Mordechai Va’anunu, der im Juli 1986 während eines Australienaufenthaltes zur anglikanischen Kirche übergetreten war, hatte kurz darauf der britischen Zeitung Sunday Times Fotos übergeben, die er verbotenerweise in der israelischen Atomanlage in Dimona, seiner früheren Arbeitsstätte, geschossen hatte. Nachdem es der israelischen Agentin „Sidney“ am 30. Septem25 Halachische Regeln zum Schalomgruß finden sich im Schulchan Aruch, Jore Dea, 385; vgl. auch Raschi zu bGittin 61a zum Verbot, Gesetzesübertreter bei ihrem Vorhaben der Gesetzesübertretung zu unterstützen, während sie noch dabei sind, ihre Übertretung zu begehen (8L5F8 NFM5 8L=5F =L59F =7= K9:=; zum Stichwort L95N 4@). 26 Leibowitz, Letters, S. 388. 27 Leibowitz, Letters, S. 390. 28 Anschließend schloss Rufeisen sich den jüdischen Partisanen an; vgl. dazu Corbach, Dieter: Daniel Oswald Rufeisen, der Mann aus der Löwengrube, Köln 2002, S. 112 – 115.
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ber 1986 gelungen war, Va’anunu zu überreden, mit ihr von London nach Rom zu fliegen, wurde er in Italien vom Mossad entführt, in Israel vor Gericht gestellt und zu einer achtzehnjährigen Haftstrafe verurteilt.29 Auf die Frage, warum er ihn damals heftig angegriffen habe, antwortete Leibowitz später: „Nur aus einem einzigen Grund. Er hat seinen jüdischen Glauben verleugnet und ist Christ geworden. In meinen Augen verdient jeder Jude, der von seiner Religion abfällt, getadelt zu werden. Andererseits habe ich seinen politischen Schritt hoch eingeschätzt. Sehen Sie doch die Heuchelei der israelischen Behörden: Einerseits halten sie Va’anunu im Gefängnis fest, andererseits fordern sie von der amerikanischen Administration, den israelischen Spion Jonathan Pollard zu begnadigen. Noch schlimmer, sie beklagen sich über die Haftbedingungen Pollards und sehen in der Isolation, in der er gehalten wird, etwas Böses. Das hält sie aber nicht davon ab, Va’anunu unter Bedingungen totaler Isolation festzuhalten.“30
Im Anschluss bestätigte Leibowitz, er würde sich „sehr freuen, wenn Va’anunu aus der Haft freikäme.“ Er sei sogar bereit, eine Petition mit zu unterschreiben, in der dazu aufgefordert wird, ihn freizulassen, obgleich er normalerweise von Unterschriftenlisten „nicht viel halte“ und sich nicht dafür interessierte. III. Noachiden Die stark emotional gefärbten Aussagen bei Leibowitz stehen in eigentümlichem Kontrast zu seiner Behauptung, das Christentum sei für Juden grundsätzlich uninteressant, da es für das Judentum gewissermaßen überhaupt nicht existiere. In seinen Gesprächen mit dem israelischen Journalisten Michael Shashar verweist der Jerusalemer Gelehrte diesbezüglich auf den französischen Hugenotten Aimé Pallière (1868 – 1949), der sich im Laufe seines Lebens dem Judentum immer mehr annäherte und sich im Hinblick auf eine mögliche Konversion schließlich an den italienischen Rabbiner Elia Benamozegh (1823 – 1900) wandte.31 Benamozegh habe ihm aber den Rat gegeben, er könne, statt zu konvertieren, „sich dem Judentum durch eine Institution anschließen, die es einst gegeben habe, und die man ,Ger Toschav‘ […] nannte.“ Als solcher „Beisasse“ (Einwohner ohne Bürgerrecht) könne man „bestimmte Gebote des Judentums übernehmen“, die sieben noachidischen Gebote – „und am jüdischen Glauben festhalten, ohne zum Judentum überzutreten.“32 Der entscheiden29
Vgl. den hebräischen Wikipedia-Artikel https://he.wikipedia.org/wiki/%D7%9E%D7% A8%D7%93%D7%9B%D7%99_%D7%95%D7%90%D7%A0%D7%95%D7%A0%D7%95 [Zugriff 30. 05. 2022]. 30 Algazy, Joseph: La mauvaise conscience d’Israrl. Entretiens, Paris 1994, S. 152 (zitiert ¨ bersetzung in: https://www.haaretz.co.il/opinions/letters/2004-03-28/ nach einer hebra¨ischen U ty-article/0000017f-e250-d568-ad7f-f37b1a190000 [Zugriff 29. 05. 2022]. 31 Zu Benamozegh vgl. Morgenstern, Matthias: Eine talmudische Ethik für die Menschheit? Die noachidischen Gebote und das Problem eines jüdischen Verständnisses des Naturrechts, in: Ders., Schriften zur deutsch-jüdischen Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze, Berlin 2021, S. 212 – 233, hier: 217; sowie Novak, The Image, S. 203 – 205. 32 Leibowitz, Gespräche, S. 73.
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de Punkt für Benamozegh ist, dass das real existierende Christentum nicht als annehmbare historische Ausprägung des Noachismus in Frage kommt. Nach ihm hat die Entwicklung des Christentums durch die Aufnahme heidnischen Gedankenguts und heidnischer Praktiken vielmehr den Noachismus unmöglich gemacht. Die Rückkehr zum ursprünglichen reinen Monotheismus sei für Heidenchristen und andere Nichtjuden daher die einzige Möglichkeit, dem Götzendienst aus dem Weg zu gehen. Pallière, der später als Theoretiker des Noachismus bekannt wurde, schildert als sein Schlüsselerlebnis den Besuch einer Synagoge am Versöhnungstag. Die Einsicht, die Pallière anlässlich dieses Besuches gewann, wird von Leibowitz zustimmend geschildert: „Und da – so erzählt er – fuhr ihm plötzlich wie ein Blitz die Idee durch den Kopf, daß sich am Versöhnungstag der Juden durch das Erscheinen Jesu nichts geändert hat. Das ist richtig! Einerseits ist das Erscheinen Jesu das größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit – die Inkarnation Gottes in einem Menschen, im jüdischen Volk und unter ausdrücklicher Beziehung auf das Judentum, die Tora und die Propheten. Andererseits zeigt sich, daß für das reale Judentum – das heißt für jene Juden, die am Versöhnungstag in ihrer Synagoge beten – dieses Ereignis gewissermaßen nicht stattgefunden hat. Es gibt noch nicht einmal eine Verneinung des Christentums innerhalb des Judentums. Das Christentum existiert einfach nicht. Das ist selbstverständlich richtig und wundervoll. Der Ritus des Jom Kippur bleibt genau der gleiche Ritus, ohne Änderung eines Buchstabens, mit oder ohne Jesu Erscheinen.“33
An dieser Schilderung aus Leibowitz’ Feder irritiert nicht nur der Enthusiasmus, der schlecht zu seiner zuvor vorgetragenen Versicherung passt, dass Juden das Christentum überhaupt nichts angehe.34 Auch die Tatsachenbehauptung, dass die jüdische Liturgie über die Jahrhunderte hinweg durch das Christentum unbeeinflusst geblieben sei, ist in der judaistischen Forschung der letzten Jahre anhand vieler Beispiele widerlegt worden.35 Leibowitz’ Sicht der Diastase von Judentum und Christentum irritiert aber vor allem im Hinblick auf eine unübersehbare Spannung zu seinen eigenen religionsphilosophischen Grundannahmen.
33 Ebd., S. 74 (dort mit der Falschschreibung „Aimé Payllee“); zur Schilderung von Pallières Synagogenbesuch am Jom Kippur, der wahrscheinlich im Herbst 1887 stattfand, vgl. Fontana, Raniero: Aimé Pallière. Un „cristiano“ a servizio di Israele, Milano 2001, S. 18; Pallière, Aimé: The Unknown Sanctuary. A Pilgrimage from Rome to Israel, übers. von Louis Waterman Wise, New York 1928, S. 17 f. 34 Vgl. Leibowitz, Gespräche, S. 73. 35 Vgl. Yuval, Israel: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen, Göttingen 2007. Zur Wahrnehmung und zur Entwicklung des Jom KippurRituals zwischen Juden und Christen in nachbiblischer Zeit vgl. Stökl Ben-Ezra, Daniel: The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from the Second Temple to the Fifth Century (WUNT 163), Tübingen 2003.
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IV. Leibowitz’ Sicht des Christentums und seine Religionsphilosophie Die Religionsphilosophie des Jerusalemer Gelehrten lässt sich in dem Satz zusammenfassen, dass das Judentum nicht nur seinen Ausdruck in der Erfüllung der religiösen Gebote finde, sondern das Tragen des „Joches der Mizwot“ oder die „Halacha selbst“ sei. Diese Formel ist insofern reduktionistisch gemeint, als Leibowitz mit ihr nicht nur mystische Spekulationen abwehrt, sondern sich auch von jeder philosophisch-theologischen Dogmatik abwendet. Über religiös-dogmatische Fragen hätten jüdische Denker sich über die Jahrhunderte hinweg nicht einigen können, während im Hinblick auf die Notwendigkeit der von der Halacha geforderten Praxis bis zum Beginn der Neuzeit immer Einigkeit bestanden habe. Leibowitz reduziert das Judentum demnach auf das, was in ihm praktiziert, nicht auf das, was in ihm geglaubt wird; das entspricht einer Zurückführung aller biblischen Texte auf ein uniformes wertorientiertes „Kerygma“, das das Stehen des Menschen vor Gott zum Inhalt hat, mitsamt der Pflicht, ihm durch die Erfüllung der offenbarten Gebote zu dienen.36 Für Leibowitz folgt hieraus auch eine grundsätzliche Verneinung jeder Historiosophie, die die durch die Halacha geforderte Entscheidung zur Erfüllung der Mizwot durch historische Fakten oder das Aufzeigen geschichtlicher Entwicklungslinien („Heilsgeschichte“) stützen könnte. Zvi Kurzweil paraphrasiert das hier vorliegende Verständnis der Bibel so: „The narrative of the Bible, the historical background depicted therein, the whole framework of facts, occurrences, and their chronological sequence are, in the view of Leibowitz, elements of minor significance, and their accuracy or inaccuracy in the light of modern research of extrabiblical sources is irrelevant. The Tora’s purpose is not to teach history to mankind.“37
Im Sinne des Verlusts der religiösen „Wertigkeit“ der biblischen Geschichte ist die Tora für ihn weder im natur- noch im geschichtswissenschaftlichen Sinne Träger verwertbarer Informationen: Für Leibowitz ist die Sprache der Schrift die Sprache des religiösen Glaubens, und das unter ihrem vergänglichen Kleid verborgene Wesentliche ist von dem „in Menschenzungen“ mitgeteilten sprachlichen Ausdruck zu unterscheiden, der, worauf Maimonides immer wieder bestanden habe, göttliche Dinge prinzipiell nicht adäquat zum Ausdruck bringen könne.38 36 Vgl. Leibowitz, Jeshajahu: Judaism, Jewish People and State of Israel, Tel Aviv 1976, S. 357. 37 Kurzweil, Zvi: The Modern Impulse of Traditional Judaism, Hoboken 5747 (1984/85), S. 53. Vgl. dazu Morgenstern, Matthias: Jüdisch-orthodoxe Wege zur Bibelkritik, in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 56 (2000), S. 178 – 192; 234 – 250 (= Schriften zur deutsch-jüdischen Orthodoxie, Berlin 2021, S. 234 – 265). Zu Leibowitz‘ Stellung zur Bibelkritik vgl. ebd., 245 – 248. 38 Vgl. Leibowitz, Judaism, S. 341. Leibowitz beruft sich neben Maimonides auf den mittelalterlichen Exegeten Rashi, der in seinem Torakommentar (zu Gen 1, 1 und Ex 12, 2) beispielsweise den Schöpfungsglauben nicht als notwendige Voraussetzung jüdischer Existenz bezeichnet habe. Die Bibelkritiker seien mit ihrer Analyse des sensus literalis der bibli-
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Wer in der „Sprache der Schrift“, also der Hebräischen Bibel, allerdings verborgene Linien findet, die zu Jesus von Nazareth führen, fällt bei Leibowitz unter das Verdikt. Mag das „real existierende Judentum“ nach Leibowitz, „wie es sich in der Gottesverehrung, das heißt, der Halacha, verwirklicht“, seinem Wesen nach „a-historisch“ sein39 – mit Blick auf das Christentum lässt Leibowitz sich die Außer-Acht-Setzung historischer Zusammenhänge verboten sein.40 Denn wenn zwischen dem Judentum selbst und im Judentum empirisch vorfindlichen Meinungen unterschieden wird, ist nicht recht erfindlich, warum der Glaube an Jesus mit dem Judentum grundsätzlich unvereinbar sein sollte, sofern er eine bloße, nach Leibowitz freilich „falsche“, „Meinung“ ist, aber mit einer fortgesetzten korrekten halachisch orientierten Religionspraxis verbunden bleibt. Der religiöse Dezisionismus, der in dieser Philosophie als Reaktion auf den geistesgeschichtlichen Relativismus erscheint, wie er u. a. in der modernen (in Israel auch religionspolitisch aktuellen) Debatte über die Definition des Judentums zum Ausdruck kommt, lässt im Hinblick auf das Christentum keinerlei Flexibilität zu. Was in anderer Hinsicht den Umgang mit den Aporien der Moderne erlaubt, die Konzentration auf das im Hinblick auf seine Gesetzesobservanz empirisch feststellbare Judentum, schlägt hier in einem mit unübertroffener Härte formulierten Urteil zu Buche – einem Urteil, dessen moralischer Impetus im Übrigen auch der von Leibowitz immer wieder hervorgehobenen Trennung von Ethik und Religion widerspricht.41 Diese Konstellation ist auch insofern bemerkenswert, als die hier vorgestellte Religionsphilosophie in mancherlei Hinsicht Parallelen zu theologischen Entwürfen im Bereich der christlichen Theologie des 20. Jahrhunderts aufweist. Wenn Leibowitz im Gefolge des maimonidianischen Rationalismus den Tatbestand des Götzendienstes als eine Art erkenntnistheoretische Grenzüberschreitung definiert – „Der Glaube, der auf meinem Wissen von Gott gegründet ist, ist nichts anderes als Götzendienst“42 – so klingt das wie eine Variation des Mythologieverständnisses Rudolf Bultmanns (1884 – 1976). Wie der Marburger christliche Neutestamentler kritisiert der Jerusalemer Philosoph menschliche Versuche, das Jenseitige zum Diesseitigen zu objektivieren. In existentialistischer Manier fordert er den Verzicht auf alle objektivierenden Sicherungen der gegenüber der Tora geforderten Gehorsams-Entscheidung. Sein philosophisches Konzept gibt keine Auskunft über die Gründe, warum der vorfindliche Religionskodex für die Tora Gottes zu halten ist. Die erkenntnisschen Texte daher möglicherweise im Recht. In religiöser Hinsicht sei die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel allerdings bedeutungslos. 39 Leibowitz, Jeshajahu: Faith, History, and Values (hebr.), Jerusalem 1982, S. 163. 40 Leibowitz ist hier aber insofern konsequent, als er der talmudischen Maxime folgt, die jede Schriftauslegung, die nicht der Halacha folgt, verbietet; vgl. dazu Morgenstern, Matthias: Halachische Schriftauslegung. Auf der Suche nach einer jüdischen Mitte der Schrift, in: ZThK 103 (2006), S. 26 – 48. 41 Vgl. Kurzweil, The Modern Impulse, S. 56 f. 42 Leibowitz, Gespräche, S. 290.
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und theologiekritischen Aspekte seiner Religionsphilosophie begründet Leibowitz auch mit der philosophischen Distinktion zwischen dem „Ding an sich“ und dem „Ding als Vorstellung“, die er unter Berufung auf Karl Popper und mit Argumenten der naturwissenschaftlich-physiologischen Anthropologie und Psychologie43 plausibel macht und anschließend auf die rechtsphilosophische Unterscheidung zwischen Sollen und Sein überträgt: Aus dem, was ist, lassen sich keine Aussagen darüber ableiten, was sein soll. Diese Distinktion schließt jede Korrelation zwischen der Welt des auf das Sein bezogenen Wissens (dazu gehört die bunte Welt der Religionen) und der Welt der auf das Sollen bezogenen Werte aus.44 In dieser Übereinstimmung gründet die Wahrnehmung einer (vom Protagonisten freilich wortreich bestrittenen) Nähe zwischen Leibowitz und der christlichen Existenzphilosophie (Kierkegaard)45 und der dialektischen Theologie Karl Barths.46 Zvi Kurzweil verweist in seiner kurzen Darstellung der Philosophie Leibowitz’ darüber hinaus auf Erich Schaeders Theozentrische Theologie (Leipzig 1909) und vergleicht Leibowitz mit dem protestantischen Lutherforscher Karl Holl (1866 – 1926), dessen Texte, jedenfalls teilweise, dem historischen Umfeld der dialektischen Theologie zugerechnet werden können.47 Auch in anderer Hinsicht rückt Leibowitz’ Empörung über das Christentum dieses in gewisser Hinsicht und paradoxerweise näher an das Judentum heran: Es sind ja jüdische Apostaten – nicht im Hinblick auf die Pflicht zur Toraobservanz unbelastete Heiden –, die aus Sicht des traditionellen Judentums die scharfe Distanzierung erfordern. Obwohl Leibowitz die „jüdische Herkunft“ des Christentums energisch bestreitet, rückt in seiner Perspektive aber das gesamte Christentum in den Dunstkreis des für ihn illegitimen Judenchristentums. Ausschlaggebend ist für ihn weder, dass „die Christen sich an den Juden vergangen haben“48, noch bestimmte christliche Glaubenslehren wie die Trinitätslehre, die Leibowitz natürlich für abwegig hält, die diesbezüglich aber nicht den Ausschlag geben. Sein Urteil gründet allein auf der von ihm wahrgenommenen christlichen „Aufhebung der Tora und der Mizwot im Namen des Judentums“.49 Leibowitz bleibt hier keine andere Wahl, als dem Postulat der Tradition zu folgen, die das Bekenntnis zum Nazarener eben halachisch verboten hat.50 Es handelt sich hier um eine Konsequenz, die im System Leibowitz’ freilich einer petitio principii gleichkommt und im Grunde die Inkonsequenz ist, die Daniel Boyarin zum 43 Vgl. Leibowitz, Jeshajahu: Body and Mind. The Psycho-Physical Problem (hebr.), Tel Aviv 1982. 44 Leibowitz, Jeshajahu: Conversations on Science and Values (hebr.) Tel Aviv 1985. 45 Zu Kierkegaard vgl. Kurzweil, The Modern Impulse, S. 59 f. und Leibowitz, Gespräche, S. 80; Leibowitz, Letters, S. 384 f. 46 Zu Barth vgl. auch Leibowitz, Gespräche, S. 71 f. 47 Vgl. Kurzweil, The Modern Impulse, S. 59. 48 Leibowitz, Gespräche, S. 76. 49 Ebd., S. 77. 50 Vgl. Morgenstern, Matthias: Halacha und Judenmission. Erwägungen zur christlichen Judenmission aus der Sicht des jüdischen Religionsgesetzes, in: Theologische Beiträge 31/4 (2000), S. 186 – 191.
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Ausgangspunkt seines Nachdenkens über die Theologie des Talmuds gemacht hat. Einerseits bleibt „ein Israelit, auch wenn er sündigt (etwa im Falle der Apostasie), Israelit“ (bSanh 44a) – ein Konzept, mit dem die Rabbinen dem im römischen Reich zur Herrschaft gekommenen Religionsbegriff entgegentraten. Andererseits sollte eben dieses Prinzip des Nicht-Austreten-Könnens für den Fall eines Bekenntnisses von Juden zu Jesus von Nazareth als ihrem Messias nicht gelten. Mit der unbezweifelbaren Tatsache, ,,dass es bis auf den heutigen Tag Christen gibt, die Juden sind, oder, vielleicht besser ausgedrückt, Juden, die Christen sind“51, vermag Leibowitz mit seinem Instrumentarium nicht zurechtzukommen. Eben dieses Unvermögen scheint ihm auch die Möglichkeit verstellt zu haben, im Bereich seiner religionsphilosophischen Theorie (in der Praxis konnte der Umgang mit ihm für Christen, die ihn „zu nehmen“ wussten, nach allem, was man weiß, durchaus angenehm sein) einen konstruktiven Zugang zum Christentum zu finden. V. Kann es eine christliche Antwort an Leibowitz geben? An einer christlichen Antwort auf seine Religionsphilosophie einschließlich der auf das Christentum bezogenen Schlussfolgerungen war Leibowitz offenbar nicht so uninteressiert, wie er es seiner Selbstbekundung zufolge hätte sein sollen – schließlich hat er (die Jubilarin erinnert sich lebhaft daran, auch der Autor dieser Zeilen kann es bezeugen) seine Sicht der Dinge immer wieder gern vor christlichen Theologiestudenten in Jerusalem vorgetragen. Wie könnte also eine christliche Erwiderung auf Leibowitzens Vorwurf aussehen, das Christentum sei Götzendienst? Das Eingehen auf den empfohlenen Ausweg des Noachismus dürfte für eine ernsthafte Reaktion nicht in Frage kommen.52 Dagegen sprechen bereits die Bedenken, die der Berliner jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn (1729 – 1786) trug, der einmal erwog, seinen christlichen Freunden die Annahme der sieben noachidischen Gebote zu empfehlen: In seiner Korrespondenz mit dem Altonaer Rabbiner Jakob Emden (1697 – 1776) erhielt er aber die Auskunft, dass die Angehörigen der Weltvölker nach jüdisch-orthodoxer Auffassung zur Annahme dieser Gebote verpflichtet sind, weil sie in der Tora, dem Gesetz Moses geschrieben sind, andernfalls, d. h. wenn sie diese Gebote aus einem anderen Grund, etwa in Folge eines Vernunftschlusses, annehmen, sollen sie nicht als „Fromme der Weltvölker“ gelten.53 Auch David Novak warnt in diesem Zusammenhang vor einer triumphalistischen Attitüde und fragt, wie das Judentum von der nichtjüdischen Menschheit erwarten könne, den „Jewish point 51
Boyarin, Daniel: Dying for God, Stanford 1999, S. 319. Den Versuch einer Annäherung an das Judentum im Hinblick auf das Konzept des Noachismus versucht Müller, Klaus: Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum, 2. Aufl., Berlin 1998. Zu einer Auseinandersetzung mit dem Noachismus aus Sicht der christlichen Theologie mit Bezug auf inhaltliche Fragen ist hier nicht der Ort. 53 Vgl. die Nachzeichnung dieser Debatte am Ende des 18. Jahrhunderts bei Morgenstern, Eine talmudische Ethik, S. 217 f. 52
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of view“ – gemeint ist die Lehre von den noachidischen Geboten im Talmud – zu übernehmen.54 Entscheidend dürfte aber sein, dass die historische Untersuchung der Vorstellung der noachidischen Gebote, wie sie in den rabbinischen Texten vorliegt, zu dem Ergebnis geführt hat, dass dieses Konzept, ungeachtet aller historischen Vorstufen, eine jüdische Reaktion auf das Christentum im dritten und vierten Jahrhundert war – ein Entwurf, der Menschen nicht an das Judentum heranführen, sondern der Grenzen setzen wollte. Die noachidische Lehre war in dieser Situation eine Hilfe, die jüdisch-christliche Rivalität aus jüdischer Perspektive zu begreifen und einzuhegen. Die Tatsache, dass es einerseits einen jüdischen Proselytismus gab, das Judentum aber andererseits hinter dem Universalismus der Kirche zurückblieb und keine ausgeprägte „Missionstheologie“ vorweisen konnte, machte die noachidischen Gebote sinnvoll und notwendig.55 Soll man, um Leibowitz’ dunkles Christentumsbild zu kontextualisieren, darauf verweisen, dass er – wenn er z. B. das Verhalten des israelischen Militärs in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes kritisiert und im Hinblick auf die Praxis militanter Siedlergruppen von „Juden-Nazis“ spricht, oder wenn er die Kabbala als jüdischen Götzendienst bezeichnet – auch im Hinblick auf Phänomene im Bereich des Judentums hart urteilen konnte?56 Oder wäre – eine andere Möglichkeit – Leibowitzens Philosophie in ihrer biographischen Entwicklung darzustellen, um auf diesem Wege das Apodiktisch-Scharfe aufzubrechen und ein differenzierteres Christentumsverständnis freizulegen? Zvi Kurzweil hat darauf hingewiesen, dass der Entwurf 54
Novak, The Image, S. XIV. Vgl. Simon, Marcel: Verus Israel. A Study of the relations between Christians and Jews in the Roman Empire, Oxford 1986, S. 392 sowie Morgenstern, Eine talmudische Ethik, S. 224 – 233; dort werden die Noachidischen Gebote im Anschluss an David Novak als border concept analysiert. 56 Vgl. Leibowitz, Gespräche, S. 100 f.: „Wir verhalten uns schon so in den von uns besetzten Gebieten, der West-Bank, dem Gazastreifen und im Libanon, wie sich die Nazis in den von ihnen besetzten Gebieten in der Tschechoslowakei und im Westen verhalten haben. Wir haben keine Vernichtungslager wie die Nazis im Osten errichtet, aber das schreckliche an der Sache ist, daß wir auf diese Tatsache hinweisen müssen, um zwischen uns und den Nazis zu unterscheiden.“ Die Kabbala bezeichnete Leibowitz als „Eindringen der Welt des Götzendienstes in die Welt des Judentums“ (Leibowitz, Letters, S. 259). Ein anderes Beispiel: Auf die Frage, ob er am Unabhängigkeitstag Israels die „Festtagsgebete“ spreche, antwortete Leibowitz, es errege in ihm „geradezu eine Abscheu, jeden Shabbat – nicht nur am Unabhängigkeitstag – das Gebet für das Wohl des Staates zu hören“, weil es sich bei diesem Gebet um eine „nicht zum Gottesdienst, sondern zur Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse“ entstandene Erfindung handele (Leibowitz, Gespräche, S. 24 f.). – Bezeichnend für die Kritik, die Leibowitz in der israelischen Öffentlichkeit entgegenschlug, ist vielleicht die Stellungnahme Mordechai Shalevs, des Vaters der auch im deutschsprachigen Raum bekannten Romanautorin Zeruya Shalev. Shalev beschreibt Leibowitz als einen „Menschen mit einem intellektuell reichen und tiefen Leben, dessen Widersprüche, für sich genommen, ein Grund sein können, ihn wertzuschätzen und zu ehren.“ Das gilt nach Shalev aber „nicht für die Art und Weise“, wie Leibowitz mit seinen Widersprüchen umging. „Leibowitz lief vor seinen eigenen Widersprüchen davon und hängte sie anderen an.“ Shalev, Mordechai: Shalev oder Leibowitz – wer hat Recht? In: HaAretz, 24. 03. 2000. 55
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des Jerusalemer Gelehrten im historischen Rückblick nicht so monolithisch dasteht, wie es die Veröffentlichungen in der Spätphase seines Lebens und Wirkens glauben machen wollen.57 Am fruchtbarsten erscheint mir, auf die Idolatrie-Diagnose eine theologische Antwort zu finden. In diesem Sinne wäre auf Luthers Erklärung zum Glaubensbekenntnis zu verweisen, demzufolge – dies betrifft ja alle Menschen! – nur der Heilige Geist zur Erkenntnis Christi führen kann.58 In der Perspektive des christlichen Glaubens sind demnach alle Menschen von Natur aus Götzendiener: Der Idolatrievorwurf wäre in dieser Perspektive überhaupt nicht als „Beleidigung“ zu verstehen. Von einem Religionsphilosophen, der außerhalb des christlichen Glaubens steht, wäre dann ohnehin kein anderes Urteil zu erwarten. Im Übrigen gilt, dass der christliche Glaube, wie jede menschliche Erscheinung, immer pervertierte Formen der Idolatrie annehmen kann. Darauf hat gerade Luther immer wieder hingewiesen (und mit seinen unsäglichen Judenschriften am Ende seines Lebens auch selbst ein Beispiel dafür gegeben). Diese theologische Erklärung fügte sich gut zu dem von Leibowitz immer wieder gern angeführten Vers Gen 6,5: „Die Bosheit des Menschen auf Erden, und alles Dichten und Trachten ihres Herzens ist nur böse immerdar.“59 Die von einigen Autoren behauptete (von Leibowitz freilich bestrittene) Nähe seiner Philosophie zu Traditionen des modernen Protestantismus und der Dialektischen Theologie könnte sich so als sinnvoll erweisen. Wie auch immer eine christliche Antwort auf Leibowitz ausfallen mag: Vorrangig scheint mir ein kritischer Umgang mit seiner Neigung zur Essentialisierung zu sein, nicht nur im Hinblick auf das Judentum, sondern auch hinsichtlich des Christentums. Was Leibowitzens ebenso prägnante wie reduktionistische Definition des Judentums anbelangt, so ist – bei allen Vorteilen und Nachteilen dieser Definition und ungeachtet aller Einwände, die aus judaistischer Perspektive zu erheben sind – überflüssig zu betonen, dass jede relevante theologische Stellungnahme in dieser Sache selbstverständlich eine innerjüdische Angelegenheit ist. In der Kompetenz von Christen liegt es demgegenüber, der Essentialisierung ihres Glaubens zu widersprechen. Wenn das Christentum auf die Verneinung dessen reduziert wird, was Leibowitz im Judentum am Wichtigsten ist, das Joch der Gebote, liegt im Grunde das Spiegelbild einer unkundigen und letztlich judenfeindlichen Essentialisierung des Judentums unter 57
Vgl. Kurzweil, The Modern Impulse, S. 48. Vgl. Luthers Kleinen Katechismus, in: Martin Luther, Werke. Kritische Ausgabe (Weimarer Ausgabe) Bd. 30/1, Weimar 1910, S. 250 (zum dritten Glaubensartikel): „Ich glaub das jch nicht ausz eygner vernufft noch krafft an jesum Christ meynen herre glaube oder zu jm kumen kann.“ Vgl. auch Luthers Erklärung der Idolatrie im Großen Katechismus (zum ersten Gebot), ebd., S. 133: „Ein Gott heisset das, dazu man sich versehen sol alles guten und zuflucht haben ynn allen noeten. Also das einen Gott haben nichts anderes ist denn yhm von hertzen trawen und gleuben, wie ich offt gesagt habe, das alleine das trawem und gleuben des hertzens machet beide Gott und abeGott.“ 59 Vgl. die Erklärung Leibowitz’ zum Tora-Wochenabschnitt Noach, http://leibowitz.co.il/ leibarticles.asp?id=77 [Zugriff am 31. 05. 2022]. 58
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Christen vor: Juden hätten diejenige Religion, die Jesus von Nazareth ablehnt. Es gehört zu den vornehmsten Errungenschaften des jüdisch-christlichen Dialogs, in dieser Hinsicht den Blick geweitet und Kontakte, Gespräche und Begegnungen ermöglicht zu haben, bei denen der Andere in seiner ganzen historischen lebendigen Wirklichkeit zur Geltung kommt: Wie es absurd ist, das Judentum, das in seiner zweitausendjährigen nachbiblischen Geschichte eine reiche Entwicklung erlebt und dabei immer wieder auch Metamorphosen durchlaufen hat, auf die Verneinung des Nazareners zu reduzieren, so ist es abwegig, das Christentum ausschließlich von der Ablehnung der (auch noch rabbinisch verstandenen) Toragebote her zu definieren. Kommt man von der Begegnung mit Leibowitz her, wird man neuere, verständnisvolle, jüdisch-orthodoxe Erklärungen zum Christentum besonders schätzen.60 Von allen – mehr oder weniger guten – Möglichkeiten einer Replik auf Leibowitz abgesehen, erscheint die Beschäftigung mit seiner Religionsphilosophie aus christlicher Perspektive als gute Einübung in eine Disziplin, deren Beherrschung in pluralen und multireligiösen Gesellschaften, die sich zudem die Diversität auf die Fahne geschrieben haben, immer dringlicher wird: die friedfertige Eristik. Anders ausgedrückt: der respektvolle Umgang mit dem Anderen. Literaturverzeichnis Ahrens, Jehoschua/Blickle, Karl-Hermann/Heil, Johannes/Bollag, David u. a.: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 2017. Algazy, Joseph: La mauvaise conscience d’Israrl. Entretiens, Paris 1994, S. 152 (zitiert nach ¨ bersetzung in: https://www.haaretz.co.il/opinions/letters/2004-03-28/tyeiner hebra¨ischen U article/0000017f-e250-d568-ad7f-f37b1a190000 [Zugriff 29. 05. 2022]). Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik IV/1, Zürich 1953. Baumel, Moshe: Die Neu-Pharisäer. Ein Bildungsideal für das Rabbinat der Einheitsgemeinde nach den halachischen Gutachten und Reden von David Zwi Hoffmann (Texte und Studien zur deutsch-jüdischen Orthodoxie 9), Münster 2020. Ben Johanan, Karma: Nezid Adashim. Tefisot hadadiyot shel nozrim wihudim be-idan hapijjus [A Pottage of Lentils. Mutual Perceptions of Christians and Jews in the Age of Reconciliation], Tel Aviv 2020. 60
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„Ich hoffe, dass Sie mit mir darin übereinstimmen werden, dass der christliche Glaube nur solange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt“ Die Anfänge des christlich-jüdischen Dialogs in der Evangelischen Kirche nach 19451 Von Kim Strübind I. Asymmetrie des Dialogs? Ich beginne mit zwei Zitaten zur Asymmetrie des christlich-jüdischen Dialogs, auf den man stößt, gerade wenn man sich diesem Dialog mit den besten Absichten nähert. Das erste stammt von Peter von der Osten-Sacken (1940 – 2022), meinem2 vor Kurzem verstorbenem neutestamentlichen Lehrer an der ehemaligen Kirchlichen Hochschule Berlin:3 „Dem christlich-jüdischen Dialog kann man sich als Christ relativ leicht entziehen, dem christlich-jüdischen Verhältnis nicht. Es ist einfach mit dem Christsein gegeben.“4 Das erscheint plausibel. Das Christentum steht historisch 1 Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag am 30. Mai 2022 im Leo-Trepp-Lehrhaus der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg. Er ist in einigen Teilen auch meinem Beitrag in der Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 24 (2019), S. 54 – 76, entlehnt, unter dem Titel: Evangelische Perspektiven und Wegmarken zum christlich-jüdischen Dialog. 2 Ich darf sagen: „unserem“ verehrten Lehrer, zumal diese Aussage auch für die Jubilarin uneingeschränkt gilt. Wir fanden in Peter von der Osten-Sacken einen begeisternden, im Neuen Testament wie im rabbinischen Judentum beheimateten Gelehrten, einen brillanten Exegeten und freundlichen Förderer unseres akademischen Wegs. Er eröffnete uns den Weg für ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem (1984 – 1985) und machte uns mit der exegetischen Heuristik des christlich-jüdischen Dialogs vertraut. Einen berührenden Nachruf des am 28. 06. 2022 Verstorbenen hat einer seiner Schüler, Ricklef Münnich verfasst. Vgl. Münnich, Ricklef: Trauer, in: https://news.ahavta.com/issues/ahavta-basic-trauer1252001?via=twitter-card&client=DesktopWeb&element=issue-card [Zugriff 15. 08. 2022]. 3 Die Kirchliche Hochschule Berlin wurde im Rahmen der akademischen Zusammenlegung nach der Wende 1989 in die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin integriert (1992). 4 Von der Osten-Sacken, Peter: Zum gegenwärtigen Stand des jüdisch-christlichen Dialogs und seinen Perspektiven, in: Kampling, Rainer/Weinrich, Michael (Hrsg.), Dabru emet – redet Wahrheit, Gütersloh 2003, S. 206 – 218, hier: 206. – Ohne diesen akribisch an den Texten arbeitenden Neutestamentler und Kenner des rabbinischen Judentums wäre der christlichjüdische Dialog in Deutschland nicht dort, wo er heute ist. Er gehörte u. a. zu den Initiatoren des von der EKD geförderten „Studienjahres in Israel“ und war langjähriger Leiter des von Günther Harder gegründeten Instituts Kirche und Judentum in Berlin. Für seine Verdienste
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zweifellos auf den Schultern des Judentums, es ist genetisch ein „jüdisches Gewächs“ der Religionsgeschichte und kann sich nur unter dem Verlust seiner Identität von seiner Gründungsmatrix befreien. Leo Baeck verwies zurecht darauf, dass das Christentum seine Wahrheit einzig im Blick auf seine jüdischen Ursprünge formulieren könne, und warnte 1938 eindringlich vor einer „Entjudaisierung des Christentums“.5 Der jüdische Religionswissenschaftler Zwi Werblowski hat die ganz andere Sicht des Judentums auf das Christentum wie folgt beschrieben: „Im Dialog zwischen dem Christen […] und dem Juden […] stößt der Christ auf den Juden als einen notwendigen Aspekt seiner Konfrontation mit sich selbst […]. Das Judentum ist Teil seines Selbstverständnisses. Wenn er mit seinem Christentum ernst macht, stößt er auch […] auf die jüdische Dimension, mit der er sich auseinandersetzen muss. Der Jude, der sein eigenes Judentum konfrontiert, stößt nicht essentialiter auf das Christentum. Wohl stößt er […] auf das Christentum, weil das Christentum oft als feindliche Umwelt auf ihn gestoßen ist […]. Dem Wesen nach ist der Christ für den Juden einfach Mitmensch, so wie auch der Hindu und der Buddhist. Der Jude kann, ohne seiner jüdischen Integrität Abbruch zu tun, in seinem Judentum leben und sich dabei genauso wenig theoretisch um den Christen kümmern wie um den Hindu oder Eskimo, ohne dabei aufzuhören, authentischer Jude zu sein.“6
Diese Asymmetrie mache, so Werblowski weiter, den Dialog keinesfalls unmöglich, doch schaffe es eine Asymmetrie. Besteht also auf christlicher Seite eine innere Notwendigkeit, sich mit dem Judentum zu befassen, weil – wie der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt – „nicht du die Wurzel, sondern die Wurzel dich trägt“ (Röm 11,18), so fehlt auf der anderen, jüdischen Seite jene Essenzialität und reduziert das Interesse, um es etwas salopp zu formulieren, auf eine Nice-to-have-Relation, sofern der Dialog für das Judentum theologisch nicht gänzlich irrelevant7 erscheint. Für das Christentum ist die Verhältnisbestimmung zum Judentum als seiner Mutterreligion dagegen konstitutiv, was sich bereits darin zeigt, dass die ersten Christen Juden waren, die sich unzweifelhaft als Teil des jüdischen Volkes verstanden und aus diesem Grund manchmal leidenschaftlich für die religiöse Einheit von christusgläubigen Juden und Nichtjuden unter dem gemeinsamen Dach der überlieferten Re-
erhielt er u. a. die Buber-Rosenzweig-Medaille (2005) und den Moses-Mendelssohn-Preis des Berliner Senats (2016). 5 Vgl. Baeck, Leo: Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, in: ders., Werke, Bd. 4: Aus drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte (hrsg. von Friedlander, Albert H. u. a.), Gütersloh 2000, S. 403 – 447, hier: 446. Vgl. dazu auch Wiese, Christian: Unterwegs zu einer historisch fundierten, theologisch achtsamen Dialogizität: Perspektiven zum christlich-jüdischen Dialog, in: Münz, Christoph/ Sirsch, Rudolf W. (Hrsg.), Über Grenzen hinweg zu neuer Gemeinschaft. Bilanz und Perspektiven des christlich-jüdischen Gesprächs (Forum Christen und Juden 23), Münster/Berlin 2021, S. 203 f. 6 Werblowski, Zwi: Tora als Gnade, in: Kairos 15 (1973), S. 156 – 163, hier: 156. 7 Vgl. dazu den von Matthias Morgenstern verfassten Beitrag über Jeshajahu Leibowitz’ Deutung des Christentums in diesem Band (s. o.).
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ligion eintraten, wie etwa Paulus.8 Das Neue Testament ist zudem eine antike Schriftensammlung jüdischer Autoren, die sich allerdings nicht in das im frühen Mittelalter normativ gewordene rabbinische Judentum einpassen ließen, weil für sie die ToraObservanz nicht das Kontinuum der Heilsgeschichte darstellte. Wäre der missionarische Erfolg des Christentums nicht so überwältigend gewesen, könnte man im Blick auf das Christentum bis heute religionssoziologisch von einer „jüdischen Sekte“ (David Flusser) sprechen. Das Judentum ist dagegen für die eigene religiöse Ortsbestimmung nicht auf das Gespräch mit dem Christentum angewiesen – weder positiv im Sinne einer historischen Abhängigkeit, noch negativ im Sinne der Abgrenzung, auch wenn die Ansicht, das Christentum habe für die Entwicklung des rabbinischen Denkens keinerlei Bedeutung gehabt, historisch durchaus fragwürdig ist.9 Gegen die behauptete Asymmetrie lassen sich freilich Einwände geltend machen. Etwa der, dass das Christentum ausdrücklich behauptet, Jesus von Nazareth sei gerade der „jüdische“ Messias, was sich bereits im Titularnamen „Jesus Christus“ widerspiegelt, der eine Mischung aus einem Eigennamen und und einem Hoheitstitel darstellt (Wqist|r = ;=MB „Messias“).10 Die Bezeichnung „Jeschu ha-Maschiach“ geht nicht auf „heidnische“ Anmaßung oder eine Enteignung der Messiasprädikation durch Nichtjuden zurück. Der Titel war außerhalb des Judentums unbekannt und in den Weiten des Römischen Reichs erklärungsbedürftig. Es waren also Juden, die in Jesus den Messias Israels erkannten. Das Judentum kann sich schwerlich durch Nichtbefassung diesem jüdisch-christlichen Anspruch entziehen und ist zumindest genötigt, ihn abzulehnen, was ja auch in den halachischen Texten der Mischna und etwa durch Maimonides erfolgte, die beide das Christentum als „Götzendienst“ bezeichneten.11 Das mag aus jüdischer Sicht für Hindus, Inuit oder animistische Religionen auf dasselbe hinauslaufen, ist aber eben doch etwas anderes, zumal das Verhältnis von Mutter- und Tochterreligion auch von jüdischer Seite schwerlich zu bestreiten ist. Zudem verdient festgehalten zu werden, dass niemand unter den Autoren des Neuen Testaments „die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen“. Zwar stand die noch junge messianische Bewegung mit bestimmten jüdischen Strömungen in Konflikt oder in einem zumindest kritischen Dialog, was aber auch für andere jüdische Gruppen gilt. Die Gründung einer eigenen Religion war den neutestamentlichen Autoren jedoch fremd und wäre ihnen absurd erschienen. Paulus kämpfte leidenschaftlich 8
Vgl. Berger, Klaus: Paulus, 3. Aufl., München 2003, S. 31 – 35. Ich verweise dazu noch einmal auf den Beitrag von Matthias Morgenstern in dieser Festschrift. 10 Vgl. Lang, Bernhard, Art. Messias/Christus, in: NBL II, S. 781 – 786. 11 Vgl. Maier, Johann: Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, 2. Aufl., Darmstadt 1992; Schäfer, Peter: Jesus im Talmud, 3. Aufl., Tübingen 2017; Schreiner, Stefan: „Ein Zerstörer des Judentums …?“ Mose ben Maimon über den historischen Jesus, in: Tamer, Georges (Hrsg.), The Trias of Maimonides / Die Trias des Maimonides, Berlin/New York 2005, S. 323 – 334. 9
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darum, die Christusgläubigen unter den Juden und Nichtjuden als legitimen Teil Israels, ja als deren messianische Vorhut zu verstehen (Röm 9 – 11). Der vermutlich von einem Paulusschüler verfasste Epheserbrief hält ein eindringliches Plädoyer dafür, dass Gott durch Jesus Christus und den Glauben an ihn die Grenze zwischen Israel und den Nichtjuden aufgehoben habe (Eph 2,11 – 22). Es scheint mir wichtig, diese Gesichtspunkte im Blick zu behalten, wenn die gewiss nicht bestreitbare Asymmetrie des Verhältnisses von jüdischer und christlicher Religion in den Blick gerät. Dass das Urchristentum prinzipiell eine judenfeindlich oder das Judentum verachtende Bewegung gewesen sei, wird man bei näherem Hinsehen gerade nicht sagen können – im Gegenteil. Die Behauptung einer Asymmetrie kann sich daher nicht auf eine prinzipiell denkbare Indifferenz gegenüber dem Christentum berufen und es anderen Religionen gleichstellen. Die Pflicht zum Dialog entsteht aus dem Ringen um ein gemeinsames Erbe und dessen Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, begründet in der Auslegung der gemeinsamen Heiligen Schrift, die in Talmud und Midrasch sowie im Neuen Testament religionsgeschichtlich einen zweifachen Ausgang nahm. II. Die unterschiedlichen Phasen des Dialogs nach 1945 Der schwierige, durch die Schoah vorbelastete Dialog zwischen Juden und Christen nach 1945 lässt sich geschichtlich in mindestens vier Phasen oder Etappen unterteilen.12 Die erste Phase von 1945 – 1960 war von der Frage nach dem Bekennen der Schuld oder der Mitschuld an der NS-Diktatur und der Schoah bestimmt. Dies reicht von eher vagen und allgemeinen Formulierungen bis hin zur konkreten Benennung einer Mitschuld der Kirchen am Versagen gegenüber den Judenchristen und dem Judentum insgesamt. Die zweite Phase des Dialogs setzte 1961 ein, als der Deutsche Evangelische Kirchentag das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem Judentum aufgriff und über eine neu implementierte und von da an ständig tagende „Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden“ das neu entfachte Gespräch zu einer Dauereinrichtung der Kirchentage machte. Diese Arbeitsgemeinschaft hat die wesentlichen Impulse für drei EKDStudien generiert, die zwischen 1975 und 2000 verfasst wurden.13 Erstmals wurde in diesem Zusammenhang der Antijudaismus in der christlichen Theologie öffentlich thematisiert und zugleich das Judentum nach seinem eigenen Selbstverständnis befragt und darin ernstgenommen. Das Judentum wurde damit von einem theologischen „Objekt“ christlichen Nachdenkens zu einem theologischen Gesprächspartner auf Augenhöhe. 12
Vgl. Schröder, Bernd: Unverhofftes wurde möglich, Mögliches steht noch aus, in: Münz/ Sirsch, Grenzen, S. 223 – 245, hier: 224 – 231. 13 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Christen und Juden I–III. Die Studien der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975 – 2000, Gütersloh 2002.
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Die dritte Phase setzte 1980 mit dem theologischen Paukenschlag des Beschlusses der Rheinischen Synode „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“14 ein, die einen eigenen jüdischen Heilsweg neben dem christlichen anerkannte und sich zugleich von jeder Form der Judenmission verabschiedete. Die christliche Theologie wurde dabei aufgefordert, antijüdische Denkmuster in ihrer theologischen Überlieferung und kirchlichen Praxis zu überwinden. Dieser Beschluss hat eine beispiellose Bewegung innerhalb der Landeskirchen der EKD in Gang gebracht, die noch nicht abgeschlossen ist.15 Es lässt sich darüber hinaus eine vierte Phase dieses Dialogs benennen (ab 1991), auch wenn deren historische Konturen unschärfer sind.16 Die Ende der 60er-Jahre einsetzende Kritik an der Palästinenserpolitik des Staates Israel und die bedrängende Situation des palästinensischen Volks hat einen, wenn auch noch schwach ausgeprägten, interreligiösen Trialog ins Leben gerufen. Einerseits hat die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik die Frage nach dem Zusammenhang von Land und Volk um eine politisch zu verstehende Israel-kritische Dimension ergänzt, die freilich immer wieder in einen neuen politischen Antijudaismus umzuschlagen droht, wie die weltweite Kampagne „Boykott, Desinvestition und Sanktionen für Palästina“ (BDS) zeigt.17 Andererseits erfolgte in dieser Zeit durch das Kontingentflüchtlingsgesetz von 1990 eine beachtliche Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland (und Israel). Ende der achtziger Jahre lebten etwa 30.000 Gemeindemitglieder in Deutschland, gegenwärtig sind es etwa 100.000, von denen 90 % aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion stammten.18 Durch die anstei-
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Abgedruckt in: Henricks, Hans-Hermann/Rendtorff, Rolf: Die Kirchen und das Judentum, Bd. 1. Dokumente von 1945 – 1985, Dokument E.III.29: Synode der evangelischen Kirche im Rheinland: Synodalbeschluß „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11. Januar 1980, Gütersloh/Paderborn 2001, S. 593 – 596. 15 Vgl. Schmidt, Johann Michael: Israel in synodalen Erklärungen und Kirchenordnungen, in: EvTh 61 (2001), S. 282 – 289; Hüllstrung, Wolfgang/Löhr, Hermut: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Gegenwärtige Perspektiven zum rheinischen Synodalbeschluss ,Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden‘ von 1980 (Studien zur Kirche und Israel, NF 16), Leipzig 2022. 16 Vgl. Schröder, Unverhofftes, S. 228 f. 17 Vgl. Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen Deutschland (BDS): http://bds-kampa gne.de/ [Zugriff 16. 08. 2020]. Die vom Deutschen Bundestag als antisemitisch verurteilte Bewegung verfügt weltweit über Unterstützung vor allem im linken Spektrum des Kulturbereichs. Dieser ist auch ein Resonanzboden für die jüngsten und in einer langen Kette stehenden antisemitischen Ausfälle des Präsidenten Palästinas, Mahmud Abbas bei seinem Deutschlandbesuch am 16. 08. 2022, der Israel einen 50-fachen Holocaust an den Palästinensern vorwarf. Die Wogen der Empörung schlugen weltweit hoch, Abbas musste zurückrudern, wobei man Olaf Scholz vorwarf, verspätet reagiert zu haben. Vgl. Handelsblatt vom 17. 08. 2022 https://www.handelsblatt.com/politik/international/palaestinenserpraesident-nach-holocausteklat-abbas-versucht-zu-beschwichtigen-union-kritisiert-scholz/28604858.html [Zugriff 19. 08. 2022]. 18 Vgl. Schröder, Unverhofftes, S. 229.
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gende Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine erhöht sich dieser Anteil derzeit beträchtlich. Dieser Schub an jüdischer Zuwanderung erzwingt eine zunehmende Pluralisierung des jüdischen Lebens, das sich aufgrund der kulturellen Prägungen der Zugewanderten nicht mehr durch die klassische Unterteilung von Orthodoxen, Liberalen und Konservativen abbilden lässt. III. Anfänge und erste Phase des Dialogs (1945 – 1960) Dass das Jahr des Kriegsendes eine Zäsur für das christlich-jüdische Verhältnis in Deutschland markierte, bedarf keiner näheren Begründung. Fast vergessen waren damals die zaghaften Ansätze eines Dialogs, der sich etwa 1933 im Stuttgarter Lehrhaus zwischen dem Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt aus Bonn und dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber angebahnt hatte. Es handelt sich nach Christoph Hinz um das „letzte große Ereignis jüdisch-christlicher Begegnung“ vor der Schoah.19 Dieser Dialog brachte die Unterschiede des „Glaubenswissens“, aber auch manche der vorangegangenen religionsgeschichtlichen Arbeit geschuldete Gemeinsamkeit zur Sprache.20 Buber zog damals ein Fazit, das die Differenzen auf den Punkt brachte: „Die Kirche steht auf dem Glauben an das Gekommensein Christi, als die der Menschheit durch Gott zuteil gewordene Erlösung. Wir, Israel, vermögen das nicht zu glauben. Wir spüren die Unerlöstheit der Welt.“21 Er sah nur einen Ausweg aus dieser Dissonanz mit seinem christlichen Gegenüber: „Unter Anerkennung der Grundverschiedenheit können wir uns in rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, […] dienen wir getrennt und doch miteinander“ und stellte anschließend die Frage:„Kann es zwischen der Kirche, die um kein Amt für Israel weiß, und Israel, das um sein Amt weiß, einen echten Dialog geben?“22 Ernst Lohmeyer, wie Karl Ludwig Schmidt Neutestamentler (in Greifswald), wandte sich im August 1933 mit einem Brief an Buber und grenzte sich darin scharf von den antisemitischen Thesen seines Kollegen Gerhard Kittel in dessen Schrift „Zur Judenfrage“ im Jahr 1933 ab.23 Lohmeyer bekundete in seinem Schreiben Entsetzen und Scham darüber, dass theologische Kollegen so dächten wie Kittel. Gegen 19
Vgl. Hinz, Christoph: Entdeckung der Juden als Brüder und Zeugen. Stationen und Fragestellungen im christlich-jüdischen Dialog seit 1945 (Teil 1), in: BThZ 4 (1987), S. 170 – 196, hier: 173. 20 Vgl. auch Kraus, Wolfgang: Neues Testament und christlich-jüdisches Gespräch, in: Kriener, Katja/Schröder, Bernd (Hrsg.), Lernen auf Zukunft hin. Einsichten des christlichjüdischen Gesprächs – 25 Jahre Studium in Israel, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 71 – 84, hier: 71 f. 21 Buber, Martin: Zwiegespräch mit Karl Ludwig Schmidt (1933), zit. nach: Hinz, Entdeckung I, S. 174. 22 Ebd. 23 Vgl. Kittel, Gerhard: Die Judenfrage, Stuttgart 1933 (mehrere Auflagen, u. a. mit zwei Beilagen: Antwort an Martin Buber; sowie: Kirche und Judenchristen.
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die sich abzeichnenden ideologischen Verfestigungen der eigenen Kirche mahnte er diese zu tätiger Hilfe für die Juden und verwies darauf, dass sich der Dialog in Zeiten der Verfolgung durch die Diakonie der Kirche auszuweisen und zu bewähren habe. Theologisch hielt er geradezu axiomatisch fest: „Ich hoffe, dass Sie mit mir darin übereinstimmen werden, dass der christliche Glaube nur solange christlich ist, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt“.24 Das waren die letzten Spuren christlich-jüdischer Gesprächsbemühungen in Deutschland, die durch die NS-Diktatur und die Gleichschaltung der meisten Landeskirchen ein abruptes Ende fanden. Bis auf vereinzelte Zwischenrufe, wie dem Dietrich Bonhoeffers, und einiger Interventionen zugunsten von Judenchristen waren Juden auf sich selbst gestellt.25 Die erste Phase mit Dialogansätzen lässt sich auf die Jahre 1945 – 1960 datieren. Sie ist vom Bekennen der Schuld oder zumindest einer Mitschuld an der NS-Diktatur bestimmt. Die Erklärungen reichen von eher vagen und allgemeinen Formulierungen bis hin zur konkreten Benennung der eigenen Verantwortung für das Versagen gegenüber dem NS-Staat. Es war allen Beteiligten klar, dass ein künftiges Gespräch mit Vertretern des Judentums ohne eine solche Erklärung unmöglich sein würde. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte freilich zunächst kein Umdenken auf Seiten der evangelischen Kirchen mit sich, die in der Zeit der NS-Diktatur weitgehend durch völkisches Gedankengut kontaminiert waren und längst bestehende antisemitische Stereotype vertieft hatten. Die Fortsetzung der Sprachlosigkeit der evangelischen Kirchen gegenüber dem Judentum zeigte sich 1945 durch die von den Alliierten und dem im Aufbau befindlichen Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf zur Bedingung für dringend benötigte Hilfslieferungen eingeforderte „Stuttgarter Erklärung“ (auch Stuttgarter Schulderklärung genannt) vom 19. 10. 1945.26 Sie war innerhalb der sich konstituierenden EKD und ihren Gliedkirchen äußerst umstritten, weil man von kirchlicher Seite jede Form von Kollektivschuld um jeden Preis verhindern wollte, was dazu führte, dass man es bei einer kurzen und vagen Formulierung beließ. Die in der Folgezeit umstrittenste Passage lautete: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“27
Danach richtete sich der Blick schon wieder nach vorne und nach innen. Es gehe nun vor allem darum, sich von „glaubensfremden Einflüssen zu reinigen“. Das Ju24
Zit. nach: Hinz, Entdeckung I, S. 175. Vgl. Krumwiede, Hans-Walter: Dietrich Bonhoeffers Kampf gegen die Judenvernichtung durch den Nationalsozialismus, in: KZG/CCH 13 (2000), S. 59 – 91. 26 Vgl. dazu Besier, Gerhard/Sauter, Gerhard: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985. 27 Der Text der Stuttgarter Erklärung ist auf der Seite der EKD abgedruckt: https://www. ekd.de/Stuttgarter-Schulderklaerung-11298.htm [Zugriff 16. 08. 2022]. 25
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dentum und die Schoah wurden in dieser Erklärung mit keiner Silbe erwähnt. „Das eigene Versagen besteht darin, nicht ,mehr‘ getan zu haben, jedoch nicht Grundsätzliches unterlassen zu haben.“28 Selbst diese windige Erklärung, die ausschließlich spirituelle Defizite benannte, ging vielen Kirchenverantwortlichen bereits zu weit und stieß aufgrund ihrer Pauschalität innerkirchlich auf erhebliche Widerstände.29 Die Defizite dieser Schulderklärung, die den Weg für Hilfslieferungen an die Kirchen dann tatsächlich freimachte, wurden schnell erkannt und vor allem an der klerikalen Basis heftig kritisiert. In den Jahren bis 1952 kam es zu weiteren Schulderklärungen, die dieses Defizit beheben sollten. Die erste offizielle Stellungnahme einer deutschen Landeskirche nach Kriegsende, die das Verhältnis von Christen und Juden thematisierte, verfasste der Oberkirchenrat der Oldenburgischen Kirche und datiert auf den 6. Dezember 1947. Dieses Schreiben an die Pfarrämter spricht von Israels „einzigartiger Stellung in der Heilsgeschichte“, verweist zugleich aber auch auf das „göttliche Gericht“, das Israel aufgrund seiner Verwerfung des Messias getroffen habe und bleibt damit noch ganz im Schema der tradierten Vorstellung einer Verwerfung Israels.30 Einige Monat zuvor, im Oktober 1945 und nur wenige Tage nach der Stuttgarter Erklärung, hatte die Landessynode der Oldenburgischen Kirche ihre Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus eingestanden und dabei auch die Juden erwähnt: „Wir haben es zugelassen, dass denen, die auch unsere Nächsten waren, politisch Missliebige und Juden, Gut und Brot genommen wurde, und haben wohl selbst daran teilgehabt.“31 Das zuvor erwähnte Anschreiben des Oberkirchenrats an die Gemeinden vom 6. Dezember 1947 hatte diese Mitschuld bisher nur den Judenchristen gegenüber erwähnt, die man im Stich gelassen habe. 1946 verfasste die „Kirchlichtheologische Sozietät“, ein Zusammenschluss von Pfarrern der Bekennenden Kirche in Württemberg, eine „Erklärung über die Gemeinschaft an dem Leibe Christi“. Diese später weithin vergessene Erklärung griff die Stuttgarter Erklärung auf und konkretisierte die Schuld: „Wir sind mutlos und tatenlos zurückgewichen, als die Glieder des Volkes Israel unter uns entehrt, beraubt, gepeinigt und getötet worden sind. Wir ließen den Ausschluss der Mitchristen, die nach dem Fleisch aus Israel stammen, von den Ämtern der Kirche, ja sogar die kirchliche Verweigerung der Taufe von Juden geschehen. […]. Wir haben indirekt dem Rassedünkel Vorschub geleistet durch die Ausstellung zahlloser Nachweise der arischen Abstammung und taten so dem Dienst am Wort der Frohen Botschaft für alle Welt Abbruch. […] Wir bekennen unsere Schuld vor all denen, die unschuldig leiden mussten, vor allen denen, die ungewarnt Gottes Gebote mit verkehrtem Willen zertreten haben und vor allen denen, die
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Rudnik, Ursula: Auf dem langen Weg zum Haus des Nachbarn. Positionen der evangelischen Kirche im christlich-jüdischen Gespräch seit 1945 und ihre Verortung in der Theologie, Hannover 2004, S. 15. 29 Nachweise und Beispiele bei Besier/Sauter, Schuld. 30 Vgl. Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 538 – 540. 31 Vgl. ebd., S. 538 – 540.
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heute mehr als wir selber die furchtbare Last aller Folgen des gemeinsamen Irrwegs zu tragen haben.“32
In dieser Erklärung wird zugleich das kirchliche Unrecht an Christen jüdischer Herkunft deutlich benannt, die man ihrer Ämter und der Rechte des geistlichen Standes beraubt hatte (etwa durch den sog. Arierparagraphen). Ursula Rudnick bilanzierte das Ergebnis dieser Erklärung mit den Worten: „Das Versagen der Kirche gegenüber Juden erscheint als Versagen der Kirche gegenüber ihrem Auftrag – ein Gedanke, der hier zum ersten Mal ausgesprochen wird und der erst Jahre später im theologischen Denken an Bedeutung gewinnt.“33 In der Folgezeit erfolgten ähnliche Erklärungen aus den unterschiedlichen Landeskirchen, etwa aus Sachsen. Das Votum zur Schuld am jüdischen Volk vom 17. und 18. April 1948 war die erste synodale Erklärung zum Verhältnis von Kirche und Judentum nach 1945 und geht in eine ähnliche Richtung wie die württembergische Erklärung von 1946.34 Mit markanten Worten werden die Verbrechen an den Juden als der „grausamste Versuch zur gewaltsamen Ausrottung des Judentums, den die Weltgeschichte kennt,“ benannt, nicht ohne einschränkend hinzuzufügen, dass diese lediglich „im Namen des deutschen Volkes“35 begangen worden seien. Die aktive Mitbeteiligung eben dieses Volkes und die Schuld der Kirche wurde aus einer eher distanzierten Perspektive betrachtet und die konkrete Mitschuld lediglich auf das Verhältnis zu den Judenchristen eingestanden, die man sich selbst überlassen habe. Wie tief antijüdische Ressentiments die Kirchen auch nach dem Ende des Nationalsozialismus immer noch prägten, zeigt das berüchtigte Wort des Bruderrates der EKD vom 8. April 1948,36 das einerseits das Defizit der Stuttgarter Erklärung zu beheben versuchte, andererseits damit vollkommen scheiterte und gerade in katastrophale antijüdische Stereotype zurückfiel. Zwar benennt es eine Mitschuld an der Ermordung der Juden, spricht aber zugleich davon, dass Israel, indem es den Messias gekreuzigt habe, seine Erwählung und Bestimmung verworfen habe. Unverhohlen wird dabei eine Substitutionstheorie perpetuiert: „Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, aus Juden und Heiden, übergegangen […]. Dass Gottes Gericht in der Verwerfung bis heute nachfolgt, ist Zeichen seiner Langmut“.37 Dieses Gericht sei als „stete Warnung Gottes an seine Gemeinde“ zu verstehen. „Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht“ (ebd.). 32
Ebd., S. 531. Rudnick, Weg, S. 18. 34 Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 544 f. 35 Ebd., S. 544. 36 Vgl. ebd., S. 540 – 544. 37 Ebd., S. 542.
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Diese skandalöse Erklärung hat innerkirchlich entsetzte Reaktionen hervorgerufen. Sie ignorierte, was die nach dem Krieg gegründete und ökumenisch zusammengesetzte International Conference of Christians and Jews schon im Jahr zuvor (1947) in Seelisberg in der Schweiz theologisch denunziert und abschließend in zehn Thesen als „Ansprache an die Kirchen“ formuliert hatte.38 Deren Postulate antizipierten den christlich-jüdischen Dialog in den kommenden Jahrzehnten, was aber in Deutschland zunächst kaum auf Resonanz stieß.39 In Seelisberg hatte ein international und ökumenisch zusammengesetztes Gremium jüdischer und christlicher Theologen und Historiker auf der Emergency Conference on Antisemitism allen gängigen antijüdischen Stereotypen der Kirchen eine Absage erteilt und an die Verwurzelung des Christentums im Judentum erinnert.40 Eine wichtige Korrektur gegenüber dem Wort des Bruderrats der EKD vollzog die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Weißensee vom 23.–27. April 1950. Sie unternahm einen ersten Schritt zur Überwindung der konventionellen kirchlichen Antisemitismen und hielt an der bleibenden Erwählung Israels fest: „Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist. […] Wir sprechen es aus, dass wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist. […] Wir bitten alle Christen, sich von jedem Antisemitismus loszusagen […] und den Juden und Judenchristen in brüderlichem Geist zu begegnen.“41
Das Motto der EKD-Synode lautete: „Was kann die Kirche für den Frieden tun?“,42 wobei ein Wort zum Judentum eigentlich gar nicht vorgesehen war. Unter den Synodalen hatte sich im Verlauf der Tagung und angesichts antisemitischer Ausschreitungen in der Öffentlichkeit (Friedhofsschändungen) jedoch die Ansicht durchgesetzt, dass einem Wort zum Frieden zunächst ein Wort zur Judenfrage vorangestellt werden müsse. Diese Weißenseer Erklärung bedeutete insofern eine Wende, als die Vertreterinnen und Vertreter der evangelischen Landeskirchen ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden erstmals öffentlich und entschlossen bekannten und diese nicht nur auf das Versagen ge38 Als Ergebnis einer Tagung des Ökumenischen Flüchtlingsdienstes in Oxford 1946 wurde ein Jahr später der „Internationale Rat der Juden und Christen“ gegründet, ein Kreis jüdischer und christlicher Theologen und Historiker, der sich 1947 im schweizerischen Seelisberg traf. Vgl. International Council of Christians and Jews: Reports and Recommendations of the International Conference of Christians & Jews, Seelisberg 1947, Genf 1947; dazu: Ahrens, Jehoschua: Gemeinsam gegen Antisemitismus – Die Konferenz von Seelisberg (1947) revisited: Die Entstehung des institutionellen jüdisch-christlichen Dialogs in der Schweiz und in Kontinentaleuropa, Münster 2020. 39 Die Thesen sind im Anhang dieses Beitrags abgedruckt. 40 Die Konferenz tagte vom 30.06.–05. 08. 1947. In mehreren Vorträgen wurden die Ursachen des christlichen Antisemitismus analysiert und durch die „Seelisberger Thesen“ abgeschlossen. 41 Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 549. 42 Vgl. Rudnik, Weg, S. 26 – 28.
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genüber Judenchristen reduzierten. Ursula Rudnik fasst die Bedeutung der Synode so zusammen: „Trotz der geäußerten Kritik ist das Dokument von erheblicher Bedeutung, da in ihm das wichtigste kirchenleitende Gremium der protestantischen Kirchen in Deutschland zum ersten Mal die Schuld gegenüber Juden eingesteht und einen neuen Tenor anschlägt: zur Sprache kommen die Schuld, die Verurteilung des Antisemitismus, die Aufforderung zu konkretem Handeln, nämlich der Pflege unbetreuter jüdischer Friedhöfe, und eine theologisch positiv gefasste Äußerung über das Judentum. Auch wenn spätere Erklärungen diese Punkte deutlicher benennen und weiterentwickeln, sind hier bereits im Kern wesentliche Elemente nachfolgender Erklärungen vorhanden.“43
Schulderklärungen und ein Festhalten an der bleibenden Erwählung Israels, die eine über Jahrhunderte zementierte Verwerfungstheorie ersetzte, sind freilich noch kein Dialog. Aber sie bilden eine notwendige Voraussetzung dafür. In den Folgejahren entstanden in Deutschland erste, zunächst dezentral und regional organisierte Kreise und Netzwerke, die eine Neugestaltung des Verhältnisses von Kirche und Judentum anstrebten. Sie reagierten damit auch auf Klagen aus jüdischen Gemeinden über eine neue Welle des Antisemitismus in Deutschland, wie die Schändung jüdischer Friedhöfe und Drohungen gegen jüdische Gemeinden 1947.44 Zu dieser Zeit organisierten sich dezentral in einzelnen Großstädten die ersten „Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ (GCJZ) – zunächst in München, dann in Wiesbaden Frankfurt, Stuttgart und Berlin –, die 1949 einen Koordinierungsrat nach US-amerikanischem Vorbild ins Leben riefen, dessen Ziele anfänglich etwas diffus und auch politisch eher allgemein gefasst waren. Der Koordinierungsrat wollte durch den bilateralen Dialog vor allem auch einen Beitrag zur demokratischen Erziehung der Gesellschaft leisten und ganz allgemein Vorbehalten beim Aufbau einer neuen demokratischen Welt entgegentreten.45 Erst nach und nach trat dann seitens des Koordinierungsrats das theologische Profil des christlich-jüdischen Dialogs hervor, was auch von Leo Beck aus London maßgebliche Unterstützung erfuhr: „Sie soll nicht einander bekehren, aber sie sollen zusammenarbeiten. […] Erst die Zusammenarbeit zeigt den Weg im Glauben, dem eigenen und dem des anderen“.46 Der Koordinierungsrat trug in der Folgezeit maßgeblich dazu bei, dass die für ihre Zeit revolutionären Seelisberger Thesen auch in Deutschland diskutiert wurden. Ihm ist auch zu verdanken, dass er erste pädagogische Impulse für eine Neubewertung des Judentums in den Blick nahm und den Antisemitismus im Pfarramt und in den Schulen bekämpfte. Hier ist besonders die Tätigkeit des Pfarrers und späteren Vorsitzenden Adolf Freudenberg zu erwähnen, der immer wieder die synthetischen Aspekte von Theologie, Recht und Pädagogik für die 43
Ebd., S. 28. Vgl. Sirsch, Rudolf W.: Zur Geschichte des deutschen Koordinierungsrates, in: Münz/ Sirsch, Grenzen, S. 12 – 14. 45 Vgl. ebd. 46 Zit. nach Sirsch, Koordinierungsrat, S. 14. 44
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Bekämpfung des Antisemitismus hervorhob. Dabei war für ihn die Anerkennung der Schuld der Kirchen eine notwendige Voraussetzung: „Erst von einem eindeutigen Bekenntnis der Schuld und zur Notwendigkeit eines Gesprächs der Christen mit den Juden über christliche Irrwege ausgehend, kann man Gemeinsamkeiten und vor allem Zusammenarbeit entdecken.“47 Der Deutsche Koordinierungsrat vertritt heute etwa 80 lokale „Gesellschaften“ und setzt sich aus jüdischen und christlichen Vertretern und Vertreterinnen unter einer jüdischen, katholischen und evangelischen Präsidentschaft zusammen. Er richtet seit 1952 alljährlich und landesweit die thematisch orientierte „Woche der Brüderlichkeit“ (WdB) aus, die auch vom Zentralrat der Juden unterstützt wird. Der Zentralrat verband sein Engagement mit der Hoffnung, dass die „Woche der Brüderlichkeit die Tore zu einer lichtvolleren Zukunft“ öffnen möge, in der die Gleichheit aller Menschen und Völker vor Gott ihren Ausdruck finde.48 Die WdB feierte 2022 ihr 70jähriges Jubiläum und implementiert in ihrer Geschichte christlich-jüdische Themen und die Bekämpfung des Antisemitismus auf breiter Front nicht nur in die Kirche, sondern in einer möglichst breiten Öffentlichkeit. Leo Beck schrieb über ihre Gründung 1952: „Judentum und Christentum können heute so manches einander geben: das Christentum kann den Blick für den Universalismus des Horizonts immer neu schärfen, das Judentum den Sinn für das unerfüllte der Geschichte immer neu wecken.“49 Zum ersten Mal wurde die WdB, die einem US-amerikanischen Vorbild folgte,50 allerdings bereits 1951 von der „dienstältesten“ Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in München als eine dezentrale Veranstaltung ausgerichtet. Seit 1968 vergibt der Koordinierungsrat im Rahmen der WdB die Buber-RosenzweigMedaille, deren Schirmherr der amtierende Bundespräsident ist, an verdiente Persönlichkeiten des christlich-jüdischen Dialogs und hat sich zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Lebens entwickelt. Was die öffentliche Wirkung in kulturelle (d. h. nicht nur in kirchliche) Milieus im Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis betrifft, gibt es in Deutschland keine vergleichbare Organisation. IV. Die zweite Dialogphase: Der Kirchentag 1961 und die erste EKD-Studie „Juden und Christen“ 1975 In den Folgejahren entstanden eine Reihe von Initiativen und Arbeitskreisen, die für eine Verbesserung des Verhältnisses von Juden und Christen eintraten. So etwa 47
Zit. nach ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 18. 49 Baeck, Leo: Freiheit durch Zusammenarbeit, in: Sonderausgabe der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland (1952), S. 1. 50 Vorbild war die „World Brotherhood“, ein Zusammenschluss unterschiedlicher Vereinigungen mit dem Ziel einer christlich-jüdischen Zusammenarbeit, vgl. Sirsch, Koordinierungsrat, S. 17. 48
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der „Deutsche Evangelische Ausschuß für Dienst an Israel“, der ab 1948 jährliche Studienseminare durchführte. Von großer Bedeutung war der Aufruf der EKD-Synode von 1958 unter der Überschrift „Wir bitten um Frieden“, den 79 von 120 Synodalen unterzeichneten. Er führte zur Gründung der Organisation „Aktion Versöhnungszeichen“, die sich später in „Aktion Sühnezeichen“51 umbenannte und der theologischen Erneuerung der Kirche eine diakonische Aktion an die Seite stellte. Die sich entwickelnde Bereitschaft zur Umkehr sollte auch durch sichtbare soziale Projekte unter den Opfern vor allem in Israel unterstrichen werden. Im Raum der theologischen Wissenschaft führte der christlich-jüdische Dialog gleichwohl immer noch ein Schattendasein und galt lange Zeit als „exotisch“ und randständig. Dies gilt unbeschadet des an der Kirchlichen Hochschule in Berlin von Günther Harder 1960 gegründete Instituts für Kirche und Judentum, das Peter von der Osten Sacken 1974 als Ordinarius für Neues Testament übernahm und das durch besondere Tagungen, wie etwa die „Sommeruniversität“, durch die regelmäßig stattfindende „Jüdische Sozietät“ und theologische Publikationsreihen den Dialog in die deutsche akademische Welt trug.52 Durch die Verbindung mit der Evangelischen Akademie in Arnoldshain entstand 1978 in Kooperation mit Gleichgesinnten wie dem Heidelberger Alttestamentler Rolf Rendtorff und dem Leiter der Evangelischen Akademie in Arnoldshain, Martin Stöhr, das nun seit 50 Jahren bestehende Projekt „Studium in Israel“, das jedes Jahr nach einem Auswahlverfahren ca. 15 Theologiestudierende zum Studium der Judaistik an die Hebräische Universität nach Jerusalem mit dem Ziel entsendet, das Judentum, seine akademischen Wurzeln und seine religiösen Praxis aus erster Hand kennenzulernen.53
51 Später erweitert zu „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ (ASF). Zur Entstehung und Geschichte vgl. Legerer, Anton: Tatort: Versöhnung. Aktion Sühnezeichen in der BRD und in der DDR und Gedenkdienst in Österreich, Leipzig 2011; Jeromin, Ute: Sommerlager-Geschichten. Erinnerungen mehrerer Generationen an die erlebnisreiche Zeit mit Aktion Sühnezeichen, Leipzig. 2014; Rabe, Karl-Klaus: Umkehr in die Zukunft. Die Arbeit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Bornheim-Merten 1983. 52 Vgl. von der Osten Sacken, Peter: Perspektiven und Ziele im christlich-jüdischen Verhältnis. Am Beispiel der Geschichte des Instituts Kirche und Judentum in Berlin (1960 – 2010), in: Witte, Markus/Pilger, Tanja (Hrsg.), Mazel tov. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Christentum und Judentum. Festschrift anlässlich des 50. Geburtstages des Instituts Kirche und Judentum (Studien zur Kirche und Israel, NF 1), Leipzig 2012, S. 331 – 372. 53 Vgl. dazu den im Auftrag des Arbeitskreises herausgegebenen Sammelband: Kriener, Katja/Schröder, Bernd (Hrsg.): Lernen auf Zukunft hin. Einsichten des christlich-jüdischen Gesprächs – 25 Jahre Studium in Israel, Neukirchen-Vluyn 2005. Der Sammelband enthält zahlreiche Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten des Dialogs und seinen Anfängen. Für das Programm „Studium in Israel“ ist vor allem das vierte Kapitel interessant, in dem das Programm vorgestellt und genetisch verortet wird. Vgl. Kriener, Katja: Das Programm „Studium in Israel“, ebd., S. 245 – 249; Stöhr, Martin: Kleine Geschichte einer theologischen Initiative I – in Deutschland, ebd., S. 252 – 266; Krupp, Michael, Kleine Geschichte einer theologischen Initiative II – in Jerusalem. Ein persönlicher Rückblick, ebd., S. 267 – 278. – Eine aktuelle Darstellung und Auswertung in: Schröder, Bernd: „Studium in Israel. Ein theologisches Stu-
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Eine der entscheidenden Dialog-Etappen begann mit dem Kirchentag 1961 in Berlin.54 Dort wurde die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag55 gegründet, in dem von christlicher Seite unter anderem Helmut Gollwitzer, Eberhard Bethge, Günther Harder, Hans-Joachim Kraus, später dann auch Martin Stöhr, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Rolf Rendtorff und Peter von der Osten-Sacken mitarbeiteten. Seit 1971 ergab sich auch eine ständige Zusammenarbeit mit katholischen Theologinnen und Theologen, so vor allem mit Gertrud Luckner, der Herausgeberin der Freiburger Rundbriefe. Auf jüdischer Seite sind Robert Raphael Geis, Ludwig Ehrlich, Shalom Ben-Chorin sowie Albert Friedlander, Nathan Peter Levinson und Edna Brocke zu nennen. Diese Arbeitsgruppe sprach erstmals von einem „Dialog“ und vermied dabei den im Blick auf das Judentum kontaminierten Begriff der „Mission“ im Rahmen der eigenen Standortbestimmung. Die Besonderheit dieser Neubesinnung lag darin, dass erstmals vor einer breiten Öffentlichkeit Jüdinnen und Juden ein theologisches Gespräch auf Augenhöhe mit christlichen Theologinnen und Theologen führten, an der Planung der Kirchentagsveranstaltung mitwirkten und eigene Bibelarbeiten vor einem überwiegend christlichen Publikum hielten.56 Emblematisch erscheint das damalige Motto: „Der ungekündigte Bund“, mit dem der Berichtband überschrieben war. Ausgangspunkt der Arbeitsgemeinschaft war von christlicher Seite Karl Barths – nicht unproblematische – Lehre von der „zweifachen Gestalt der Gemeinde“, die Israel und Kirche aneinanderbinde.57 Der ständig tagenden Arbeitsgemeinschaft ist es zu verdanken, dass coram publico antijudaistische Vorstellungen wie der Vorwurf des „Gottesmordes“, die zementierten Sündenbocktheorien und das angebliche Fluchschicksal der Juden einer kritischen sowohl exegetischen wie auch systematischen Revision unterzogen wurden. Unter Berufung auf Röm 11,2 hielt man fest, dass Israel keineswegs verworfen oder durch die Gemeinde des Neuen Bundes ersetzt worden sei, wie es die kirchliche Substitutionstheorie jahrhundertelang behauptet hatte. Der Bund mit Israel sei „ungekündigt“, was die Christenheit zur Kenntnis zu nehmen habe. Immer stärker wurde dabei das Selbstverständnis des Judentums respektiert und führte zu einer Revision problematischer christlicher Vorstellungen von Altem und Neuem Bund, zur Denunzierung des Klischees einer vermeintlich „jüdischen Werkgerechtigkeit“ und des negativ besetzten Pharisäerbildes (1963). dienjahr der Hebräischen Universität Jerusalem.“ Geschichte – Profil – Ertrag, in: Münz/ Sirsch, Grenzen, S. 341 – 356. 54 Vgl. Stöhr, Martin: Ökumene, Christlich-Jüdische Gesellschaften, Akademien und Kirchentag. Zu den Anfängen des jüdisch-christlichen Dialogs, in: EvTh 61 (2001), S. 290 – 301. 55 Vgl. Kammerer, Gabriele: „In die Haare, in die Arme“. 40 Jahre Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, Gütersloh 2001. 56 Vgl. Hinz, Entdeckung I, S. 179. 57 Zur Israellehre Kar Barths gibt es zahleiche Publikationen. Zu den neueren Untersuchungen vgl. den Sammelband: Plasger, Georg (Hg.) Israel und die Kirche bei Karl Barth (ZDTh 1), 2017, S. 1 – 65; Sippel, Stefanie: Die große Unmöglichkeit. Karl Barths Abweisung einer Judenmission (Forschungen zur Reformierten Theologie 10), Göttingen 2020, bes. S. 29 – 45.123 – 160.
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Diese Korrekturen wurden 1980 von der Katholischen Bischofskonferenz in ein theologisch ausgearbeitetes kirchenamtliches Dokument der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) übernommen.58 Insgesamt lässt sich feststellen, dass der auf der Arbeitsgemeinschaft breit eröffnete Dialog für die kommenden Jahrzehnte entscheidende Anstöße für das christlichjüdische Gespräch in Deutschland lieferte. Nicht nur hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern im Blick auf die Gegenwart wurde bereits 1961 von der Arbeitsgruppenleitung festgehalten: „Jesus wird verraten, wenn Glieder des jüdischen Volkes, in dem er zur Welt kam, als Juden missachtet werden. Jede Form von Judenfeindschaft ist Gottlosigkeit und führt zur Selbstvernichtung.“59 1965 wurde von der AG Juden und Christen auch die Forderung nach einer „Revision von Lehrplänen und Schulbüchern“ erhoben, um die oft verzeichnenden Darstellungen des Judentums zu beenden. Anlässlich des Ökumenischen Pfingsttreffens 1971 formuliert die Arbeitsgemeinschaft vier grundlegende Forderungen an die Kirchenleitungen:60 1. Ökumenische Begegnungen blieben solange unvollständig, solange nicht auch das Judentum einbezogen werde. Denn der christliche Glaube sei ohne jüdische Wurzeln ein falscher, unbiblischer Glaube. 2. Unterricht, Gottesdienst, Erwachsenenbildung und theologische Ausbildung hätten das Selbstverständnis des Judentums authentisch zu Wort kommen zu lassen. 3. Juden und Christen verbinde das gemeinsame Zeugnis im Eintreten für Gerechtigkeit und Menschenwürde und der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Dieses gemeinsame Zeugnis werde durch eine Fortsetzung der Judenmission in Frage gestellt. 4. Die Konsequenz einer ökumenischen Zusammenarbeit von Juden und Christen verwirkliche sich in einer kritischen Solidarität mit dem Staat Israel und seinen Menschen und habe sich im politischen Engagement für Frieden im Nahen Osten für alle Menschen zu bewähren. Der Deutsche Evangelische Kirchentag ließ 1973 einen biblischen Text erstmals im gemeinsamen exegetischen Gespräch von Juden und Christen auslegen, was bis heute einen festen Platz in der Programmgestaltung der Kirchentage hat und von kirchlichen Bildungseinrichtungen übernommen wurde.61 Daraus entwickelten sich später auch gemeinsam gestaltete Gottesdienste. Die Ergebnisse der AG waren ausschlaggebend für die (erste) EKD-Studie „Christen und Juden“ von 1975, der später noch zwei weitere Studien folgten.62 58
Vgl. Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 260 – 280. Ebd., S. 554. 60 Vgl. Rudnick, Weg, S. 33 f. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Christen und Juden I–III. 59
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Diese für die Kirchengemeinden als Orientierungshilfe verfasste Schrift, an deren 20 Seiten sieben Jahre (!) lang gearbeitet wurde,63 bestand aus drei Teilen. Sie befasste sich zunächst mit den „gemeinsamen Wurzeln“ von Judentum und Christentum, danach mit dem „Auseinandergehen der Wege“, wobei Differenzen zwischen Judentum und Christentum benannt wurden, und mündete in den Abschnitt „Juden und Christen heute“. Dabei wurde auch die Existenz des Staates Israel und die Vielfalt jüdischen Lebens in der Diaspora aufgegriffen. Rolf Rendtorff hat den knappen Text dieser EKD-Studie durch das von ihm herausgegebene „Arbeitsbuch Christen und Juden“ später näher erläutert, was die Studie auch im (nicht-)akademischen Bereich populärer machte.64 In der EKD-Studie wird die Schoah als fester Bezugspunkt für das christlich-jüdische Verhältnis in Deutschland genannt: „Die Christen in Deutschland können und dürfen nicht vergessen, welche Verbrechen im Namen des deutschen Volkes an den Juden begangen worden sind, und treten darum für neue Beziehungen zu allen Juden ein.“65 Die schärfste Kontroverse löste der letzte Punkt der Studie „Begegnung und Zeugnis“ aus, der die Frage nach dem Recht einer christlichen Mission unter Juden aufgriff. Da sich die Vertretungen der EKD-Kirchen an dieser Stelle nicht einigen konnten, blieb die Frage offen. „Bei der Begegnung von Christen und Juden geht es darum, die Unterschiede im Bekenntnis zu dem einen Gott für das wechselseitige Zeugnis fruchtbar zu machen. Für die Christen bedarf die Frage, wie sie ihr Zeugnis gegenüber den Juden vertreten, ständig neuer Überlegung.“66 Wenige Abschnitte später wird allerdings darauf verwiesen, „[…] dass Mission und Dialog zwei Dimensionen des einen christlichen Zeugnisses sind.“67 Angesichts der existenziellen Bedrohung, die Jüdinnen und Juden mit dem Begriff und der Vorstellung von christlicher Mission verbinden, ist dies sicherlich der problematischste und am wenigsten einsichtige Teil der ersten EKD-Studie. Dieser Sachverhalt wird im Text zwar durchaus angesprochen, aber letztlich offengelassen: „Nicht nur der Begriff ,Mission‘, sondern auch der Begriff ,Dialog‘ ist für Juden als Beschreibung des christlichen Zeugnisses belastet.“68 Gleichwohl verrät der Text nicht, von welcher Tragweite diese Belastungen tatsächlich sind und inwiefern gerade vom Begriff „Mission“ eine grundsätzliche Gefährdung jedes Dialogs mit dem Judentum ausgeht. Im Rahmen des eigenen missionarischen Zeugnisses erwies sich dabei die Aufforderung an das Judentum, den mit ihm verbundenen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit ebenfalls in das christlich-jüdische Gespräch einzubringen, als nicht hilfreich, 63
Vgl. Rudnick, Weg, S. 34. Vgl. Rendtorff, Rolf: Arbeitsbuch Christen und Juden, Gütersloh 1978. 65 Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 575. 66 Ebd., S. 576. 67 Ebd., S. 578. 68 Ebd. Beim Begriff „Dialog“ werden auf jüdischer Seite Erinnerungen an die aufgezwungenen Disputationen im Mittelalter wach, deren Ergebnis freilich in malam partem Judaeorum von Beginn an feststand. Einen Überblick bietet Wardenburg, Jaques u. a., Art. Religionsgespräche, in: TRE 28 (1997), S. 631 – 681. 64
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weil dabei die Asymmetrie des Verhältnisses von Judentum und Christentum nicht hinreichend berücksichtigt wird (s. o.). Das Judentum zeigt kein Interesse an einer „Missionierung“ unter Christen oder Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften und ist für das eigene Selbstverständnis auch nicht zwingend auf den Dialog mit dem Christentum angewiesen (s. o.). Für das Judentum kann ein Gespräch mit Christinnen und Christen daher auch nicht unter dem Vorzeichen „Dialog und Mission“, und erst recht nicht unter der Prämisse „Mission als Dialog“ geführt werden. Vielmehr gilt für die Bedingungen dieses Dialogs die Alternative „Mission“ oder „Dialog“. Mit ihr ist die conditio sine qua non eines weiterführenden Gesprächs mit dem Judentum benannt. V. Die dritte Dialogphase: Die Synodalerklärung der Rheinischen Kirche (1980) und ihre Folgegeschichte Am 11. Januar 1980 verabschiedete die Synode der Rheinischen Kirche den Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“.69 Mit dieser kirchlichen Erklärung erreichte der christlich-jüdische Dialog erstmals auch den Bereich der akademischen Theologie in seiner Breite und führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Bonner und der Heidelberger Fakultät. Zudem wurde der Dialog in Deutschland nun auch von kirchenleitenden Organen in anderen Landeskirchen, allen voran den Synoden, rezipiert.70 Ausgangspunkt war der Versuch, eine Christologie und Soteriologie zu entwerfen, die nicht gegen das Judentum gerichtet oder in dieser Weise verstanden werden konnte. Das biblische Motto des Rheinischen Synodalbeschlusses stammt aus Röm 11,18b und ist dem ganzen Text vorangestellt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Erkenntnisleitend werden vier Gesichtspunkte genannt, die zur Abfassung des Dokuments führten: „1. Die Erkenntnis christlicher Mitverantwortung und Schuld an dem Holocaust, der Verfemung, Verfolgung und Ermordung der Juden im Dritten Reich. 2. Neue biblische Einsichten über die bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung Israels (z. B. Röm 9 – 11), die im Zusammenhang mit dem Kirchenkampf gewonnen worden sind. 3. Die Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind […]. 4. Die Bereitschaft von Juden zur Begegnung, gemeinsamem Lernen und Zusammenarbeit trotz des Holocaust.“71 69
Vgl. Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 593 – 596. Einen Überblick über den derzeitigen Stand synodaler Erklärungen, die in einigen Landeskirchen zu einer Änderung der Kirchenordnung führten, bietet Schmidt, Israel, S. 282 – 289; zur Rezeption des Rheinischen Synodalbeschlusses vgl. Hüllstrung/Löhr, Wurzel. 71 Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 594. 70
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Insgesamt werden damit vier theologische Aspekte als Abfassungsgründe genannt: Ein Schuldbekenntnis, die exegetische Hermeneutik, die historisch-politische Situation und die jüdische Dialogbereitschaft. Der Kern dieser Erklärung besteht aus acht Grundsätzen, die aufgrund ihrer Diktion den Charakter einer die Kirche bindenden Erklärung bzw. eines kirchlichen Bekenntnisses annehmen. Als Bindeglied des Dialogs werden das Alte Testament, die jüdische Herkunft Jesu Christi, die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes und der bei Juden und Christen erkennbare ethische Auftrag benannt, der sich „dem Handeln Gottes in Israel und dem Handeln Gottes in Jesus Christus“ verdanke. An dieser Erklärung entzündete sich bald nach ihrer Verabschiedung durch die Synode heftige Kritik, am vehementesten durch die Stellungnahme von 13 Professoren der Theologischen Fakultät in Bonn.72 Der am häufigsten zitierte und am stärksten kritisierte Satz ist das Bekenntnis zum Staat Israel als „Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk“.73 Dies könne als leichtfertige theologische Geschichtsdeutung verstanden werden, denn wenn ein Staat in religiösen Kategorien beschrieben werde, unterliege dies immer dem Ideologieverdacht. Gerade diese Sakralisierung des Staates sei ja einer der Kritikpunkte der Bekennenden Kirche an der „Glaubensbewegung Deutscher Christen“ in der NS-Zeit gewesen. Nun seien ihre Nachfolger dabei, denselben Fehler unter umgekehrten Vorzeichen zu begehen. Und wäre der Untergang oder die Nichtexistenz des Staates Israel folglich als „Zeichen der Untreue Gottes“ gegenüber seinem Volk zu deuten? Würde ein solche Feststellung in letzter Konsequenz nicht dazu führen, auch den Holocaust anhand der Kategorien der Treue oder Untreue Gottes zu bewerten? Umstritten blieb auch, inwiefern „Jesus Christus, der Jude, der Messias Israels“74 ist, wie es in der Erklärung heißt. Es ergebe sich die Frage, ob damit nur dessen Ursprung oder auch seine Bestimmung gemeint sei; ist Jesus Christus der Messias aus Israel oder auch für Israel? Auch der Artikel zur Absage an jede Form der Judenmission in Abs. 6 des Synodalbeschlusses führte zu heftigen Reaktionen. Dort heißt es: „Wir glauben, dass Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, dass die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann.“75 Dieser Abschnitt ist missverständlich und klärungsbedürftig, weil er sowohl als Absage an die Judenmission als auch gerade als deren Begründung verstanden und damit gegen die 72 Vgl. Rudnick, Weg, S. 44 ff.; Erwägungen zur kirchlichen Handreichung des Verhältnisses von Christen und Juden, in: epd 42 (1980), S. 16 f; Honecker, Martin: Ein gemeinsames Glaubensbekenntnis für Christen und Juden? Einige vorläufige Bemerkungen, in: KuD 27 (1981), S. 198 – 216; Hübner, Hans: „Der Messias Israels“ und der Christus des Neuen Testaments, in: KuD 27 (1981), S. 217 – 240. 73 Hendrix/Rendtorff, Dokumente I, 594; vgl. Kriener, Katja: 60 Jahre Staat Israel – Ein Zeichen der Treue Gottes!? Die Evangelische Kirche im Rheinland im Ringen um ihre Aussagen zum Staat Israel, in KZG/CCH 21 (2008), S. 22 – 38. 74 Vgl. Hübner, Messias. 75 Henrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 595.
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Intention der Verfasser ausgelegt werden kann. Im Hintergrund stand die von Berthold Klappert, einem der maßgeblichen Väter der Synodalerklärung, vorgebrachte und Franz Rosenzweig entlehnte These, dass Israel und die Völker auf zwei unterschiedlichen Heilswegen unterwegs in das gemeinsame „Vaterhaus Gottes“ seien, weshalb sich eine Mission unter Juden erübrige. Auch diese Einstellung wirft freilich Probleme auf, denn wo fände sich im Neuen Testament dafür ein Anhaltspunkt? Zumal sich die von Paulus avisierte endzeitliche Rettung ganz Israels für den Apostel eben nicht ohne, sondern durch die Erkenntnis Christi ereignen soll.76 Die jüdischen Dialogpartner haben den Synodalbeschluss dagegen weitgehend begrüßt. Mit ihr war der Substitutionslehre deutlich widersprochen und eine antijüdische Auslegung des Neuen Testaments abgelehnt worden. Zugleich wurde als gemeinsames Ziel von Christen und Juden der ethische Aspekt der Weltverantwortung und die Bekämpfung des Antisemitismus in den Blick genommen, was jüdischen Anliegen ebenfalls entgegenkam. Zur Wirkungsgeschichte dieser Erklärung gehört eine in den Folgejahren intensiv einsetzende Debatte auch in allen übrigen Landeskirchen.77 Bis auf eine – die Lippische – Landeskirche haben alle Landeskirchen im Gefolge entsprechende Stellungnahmen abgegeben, und 13 von 19 Landeskirchen haben sogar ihr Grundordnungen und Kirchenverfassungen verändert.78 Antijüdische Elemente wurden beseitigt, die jüdischen Wurzeln des Christentums betont und wertschätzende Formulierungen im Blick auf das Judentum in Rechtstexte und Lebensordnungen aufgenommen. 1991 verfasste der Rat der EKD die Studie „Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum“.79 Sie zeichnet zunächst den Weg des Dialogs seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach und bilanziert den gegenwärtigen Diskussionsstand. Im letzten Teil werden die noch ausstehenden Aufgaben für das christlich-jüdische Gespräch benannt. Als ungeklärte theologische Fragen werden dabei christologische und ekklesiologische Problemfelder aufgeführt (u. a. Bedeutung der Messianität Jesu, Vorstellungen vom Volk Gottes). Insbesondere werden von christlicher Seite tradierte antijüdische Stereotype revidiert wie etwa der Vorwurf, das Judentum sei „gesetzlich“ oder glaube an einen vom christlichen Got76
Vgl. Röm 11,11 – 32. Vgl. Kraus, Wolfgang: Der Rheinische Synodalbeschluss und seine Auswirkungen innerhalb der Gliedkirchen der EKD, in: Kriener, Katja/Schmidt, Johann M. (Hrsg.), „… um seines Namens willen. Christen und Juden vor dem einen Gott Israels, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 12 – 25; Müller, Klaus: Christlich-jüdischer Dialog und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland, in: Deeg, Alexander u. a. (Hrsg.), Dialogische Theologie. Beiträge zum Gespräch zwischen Juden und Christen und zur Bedeutung rabbinischer Theologie (Studien zu Kirche und Israel, NF 14), S.49 – 69. Weitere Literatur s. o. Anm. 70. 78 Vgl. Schröder, Unverhofftes, 233 f. 79 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum, Gütersloh 1991; abgedruckt in: Kirchenamt der EKD, Christen und Juden I–III, S. 53 – 111. 77
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tesverständnis abweichenden, „strafenden Gott“, der von dem im Neuen Testament verkündeten Vater Jesu Christi zu unterscheiden sei. Im letzten Teil der Studie werden Predigt und Unterricht angesprochen, in denen sich die gewonnenen Ergebnisse zu bewähren hätten. Aussagen über das Judentum sollten sachgerecht formuliert werden, „so dass ein im Gottesdienst anwesender jüdischer Hörer sich darin wiedererkennen könnte.“80 Eine diffamierende und das Judentum herabsetzenden Redeweise sollte damit verhindert, zumindest aber erschwert werden. Dieses Kriterium gelte auch dann, „wenn kein Jude gegenwärtig ist“.81 Die EKD-Studie wurde vor allem von jüdischer Seite ausdrücklich begrüßt und von Micha Brumlik als „revolutionäres Dokument“ bezeichnet.82 Im März 2000 legte die EKD ihre dritte Studie vor.83 Der Untertitel lautet: „Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum“. Sie versteht sich als eine Vertiefung der bisherigen Erkenntnisse und bietet einen Überblick über die Erklärungen einzelner Landeskirchen und die Auswirkungen des Dialogs auf das derzeitige christlichjüdische Verhältnis. Insbesondere die Vorstellung vom „Bund Gottes“ mit Israel wird dabei eingehender untersucht. Die Vorstellung des Rheinischen Synodalbeschlusses, dass die Völkerwelt durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit Israel hineingenommen sei, beurteilt die Studie kritisch, weil dies den Verdacht nähre, Israels Verständnis des Bundes mit Gott könne dabei christlich vereinnahmt werden. Hinsichtlich des im Neuen Testament zur Sprache kommenden „Neuen Bundes“ gelangt man zu dem einigermaßen sophistischen Schluss, „[…] dass aus dem Bund mit Israel schließlich das Heil für die Völker erwächst, ohne dass diese einen eigenen Bund bekommen oder direkt in die Bundessetzungen Israels einbezogen werden“.84 Sei der Bund für Israel eine ekklesiologische Größe, so stelle er für die Gemeinde des Neuen Bundes eine christologische Größe dar. Der neue Bund meine aber keine Institution (wie die Kirche85), sondern die Verbundenheit der Christen mit dem Gott Israels, die durch Christus vermittelt und hergestellt werde. Der dabei konstruierte Gegensatz zwischen Christologie und Ekklesiologie ist aus meiner Sicht problematisch und geht am Wesen der gemeinten Sache vorbei, weil Ekklesiologie und Christologie im Neuen Testament keine streng voneinander zu unterscheidenden Größen 80
Kirchenamt der EKD, Christen und Juden II, S. 58. Ebd., 105. 82 Vgl. Brumlik, Micha: „Ein revolutionäres Dokument“, in: epd/evangelische Information 1 (1992), S. 33. 83 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Christen und Juden III. Schritte zur Erneuerung im Verhältnis zum Judentum, Gütersloh 2000 (auch abgedruckt in: ders., Christen und Juden I–III, S. 113 – 214). 84 Ebd. S. 40. 85 Auch hier wird der Doppelaspekt von Kirche als Institution und als pneumatologische Größe ignoriert bzw. einseitig aufgelöst, was als Spannungsfeld in der evangelischen Dogmatik stets betont wird. Dies ist noch unverständlicher, wenn man bedenkt, dass dies in einem protestantischen Dokument steht, wo man doch nach den Bekenntnisschriften auf der ecclesia invisibilis besteht! 81
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sind.86 Ekklesiologie ist im Neuen Testament – darin ist Ernst Käsemann Recht zu geben – stets „angewandte Christologie“. Trotz dieser exegetischen Defizite ist es das Verdienst der dritten EKD-Studie, dass sie versucht, jede Form der Substitution Israels durch die Kirche auszuschließen. Eine klare Stellung bezieht die Studie hinsichtlich des anhaltenden Streits um die christliche Judenmission. „Judenmission […] gehört heute nicht mehr zu den von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihren Gliedkirchen betriebenen oder gar geförderten Arbeitsfeldern.“87 Neutestamentlich wird dies damit begründet, dass bereits in der Zeit der urchristlichen Mission jüdische Menschen sich mehrheitlich dem Glauben an Jesus Christus verschlossen hätten. Von Paulus sei zu lernen, dass diese Verweigerung andererseits den Nichtjuden den Weg zum Heil in Christus geöffnet habe. „Dies zu respektieren und darin das Handeln Gottes zu sehen, sollte auch heute für das Verhältnis der Heidenchristen angesichts der Gegenwart Israels bestimmend sein.“88 Aufgrund der neutestamentlichen Aussagen über Gottes unverbrüchliche Treue zu seinem Volk Israel und seiner bleibenden Erwählung sei dessen Heil gewiss. Daraus „[…] ergibt sich für uns die notwendige Folgerung, dass Juden keineswegs im Status der Heilsferne und Heillosigkeit stehen.“89 Aufgrund der Schoah und der christlichen Mitschuld verfüge die Kirche zudem über keine eigene Vollmacht mehr zur Judenmission. In praktischer Hinsicht wird die Feier gemeinsamer Gottesdienste begrüßt, wobei die Verschiedenheit beider Religionen respektvoll gewahrt werden solle. Der christliche Gottesdienst sei jedenfalls gut beraten, die Nähe von Christen und Juden transparent zu machen. Am Ende der Studie wird deutlich, dass der Prozess des christlichjüdischen Dialogs noch nicht zu Ende, sondern immer noch auf dem Weg ist. Jenseits der akademischen Auseinandersetzung und der Veranstaltungen von Akademien und Kirchentagen bedürfe es dazu einer Begegnung mit Jüdinnen und Juden vor Ort, die durch kein Studium ersetzbar sei. VI. Die vierte Phase: Weiterungen und praktische Konsequenzen Diese Sicht der hier dargestellten Entwicklungen ist von katholischer Seite durch die eigene Dialoggeschichte zu ergänzen. Bezüglich des aktuellen Stands des römisch-katholischen Dialogs mit dem Judentum verweise ich auf den Aufsatz von
86
Der Kern ekklesiologischer Aussagen, insbesondere bei Paulus, besteht ja gerade in der Interdependenz von Christologie und Ekklesiologie als deren „Verlängerung“. Vgl. u. a. Berger, Paulus, S. 49 – 51. 87 EKD, Christen und Juden III, S. 54. 88 Ebd., S. 61. 89 Ebd., S. 62.
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Hans Hermann Henrix in der Zeitschrift Kirchliche Zeitgeschichte.90 Allein schon das Konzilsdokument „Nostra Aetate“ des Zweiten Vaticanums mit seiner Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen und insbesondere zum Judentum von 1965 verdiente hinsichtlich seiner komplexen Entstehungs- und anhaltenden Wirkungsgeschichte eine eigene Würdigung.91 Dieses bedeutungsschwere und vielfach rezipierte Konzilsdokument stellt jedenfalls für den aktuellen katholisch-jüdischen Dialog immer noch die kirchenrechtliche Grundlage dar.92 Wichtige katholische Bekenntnisse zum Dialog mit dem Judentum stellen zudem die Erklärung der Synode der katholischen Bistümer 1975 in Würzburg und die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz 1980 „Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum“ dar,93 in der etwa die jüdische Freude an der Tora als Ausdruck der Gnade Gottes verstanden und eine historische Würdigung der Pharisäer vorgenommen wird. Clemens Thoma94 und Franz Mussner95 etwa haben mit ihren exegetischen und systematischen Überlegungen diesen Dialog im deutschsprachigen Raum kenntnisreich gefördert. Erhebliche Bedeutung für den katholisch-jüdischen Dialog kommt dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken zu, das analog zum Deutschen Evangelischen Kirchentag den „Gesprächskreis Juden und Christen“ als eine Dauereinrichtung schuf, der 1978 „Theologische Schwerpunkte des christlich-jüdischen Gesprächs“ verabschiedete.96 Die großen Gesten Johannes Pauls II. haben den Weg für den weiteren Dialog der römisch-katholischen Kirche mit dem Judentum vorgezeichnet. Dazu zählt auch die 1993 vollzogene volle völkerrechtliche Anerkennung Israels durch den Vatikan. So mag man die Irritationen um die von Benedikt XVI. verfasste „Karfreitagsfürbitte“ (2008) als eine ökumenische Ungeschicklichkeit betrachten, die jedoch keine grund90 Henrix, Hans Hermann: Von der Konzilserklärung „Nostra Aetate“ zum Pontifikat Benedikts XVI. Entwicklungen im Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und Staat Israel, in: KZG 21 (2008), S. 39 – 65. 91 Vgl. Gottschlich, Maximilian: Nostra aetate – Die gescheiterte Revolution, in: ders., Unerlöste Schatten. Die Christen und der neue Antisemitismus, Paderborn 2015, S. 25 – 66; Renz, Andreas: Die katholische Kirche und der interreligiöse Dialog. 50 Jahre „Nostra aetate“. Vorgeschichte, Kommentar, Rezeption, Stuttgart 2014; Henrix, Hans Hermann: Nostra Aetate. Ein zukunftsweisender Konzilstext, Einhard 2006; Zenger, Erich: Nostra Aetate. Der notwendige Streit um die Anerkennung des Judentums in der katholischen Kirche, in: Ginzel, Günther Bernd/Fessler, Günter (Hrsg.), Die Kirchen und die Juden. Versuch einer Bilanz, Gerlingen 1999, S. 49 – 81. 92 Ökumenische Dokumente zum christlich-jüdischen Dialog zwischen 1945 – 2000 finden sich in Edition von Henrix, Hans Hermann/Rendtorff, Rolf (Hrsg.): Die Kirchen und das Judentum, Bd. I: Dokumente von 1945 – 1985, Paderborn/Gütersloh 32001; Henrix, Hans Hermann/Krause, Wolfgang (Hrsg.): Bd. II: Dokumente von 1986 – 2000, Paderborn/Gütersloh 2001. 93 Vgl. Hendrix/Rendtorff, Dokumente I, S. 26 – 280. 94 Vgl. Thoma, Clemens: Christliche Theologie des Judentums. Aschaffenburg 1978; ders., Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994. 95 Vgl. etwa Mussner, Franz: Traktat über die Juden, München 1979. 96 Vgl. dazu Hinz, Entdeckung I, S. 170 – 196, hier: 182 f.
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sätzliche Wende der katholischen Bemühungen um eine Verständigung mit dem Judentum darstellten.97 Anlässlich seines Besuchs im KZ in Auschwitz im Jahr 2006 hatte Benedikt XVI. jedenfalls seinen Willen zur Fortsetzung der theologischen Annäherung an das Judentum zum Ausdruck gebracht, auch wenn ihm die Sensibilität seines Vorgängers in diesen Fragen fehlte.98 Im protestantischen Bereich seien weitere Projekte benannt, die es mit einer konkreten Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse zu tun haben. Insgesamt zeige sich als Resultat der bisherigen Dialogs nach Bernd Schröder: „Über das Lehren ,in Israels Gegenwart‘ hinaus geht es auch um ein Lernen ,von Israels Gegenwart‘“,99 ein Schritt, der genetisch in den drei EKD-Studien vollzogen worden sei. Die EKD-Dekade zum Reformationsjubiläum 2017 hat sich, wenn auch von ökumenischen Aporien geprägt, zumal die in Deutschland kleineren Kirchen wieder einmal weitgehend vergessen wurden,100 davor gehütet, das Bild Martin Luthers in allzu unwirklichen und idealistischen Farben leuchten zu lassen und sich durchaus die historische Entmythologisierung des Reformators zugemutet. Dies betrifft insbesondere seine schrecklichen Invektiven gegen das Judentum.101 Dies fand neben vielen thematischen Veranstaltungen zu den dunklen Seiten des Reformators auch in der Kundgebung der EKD-Synode vom 11. November 2015 ihren Widerhall. So heißt es da: „Luthers Sicht des Judentums und seine Schmähungen gegen Juden stehen nach unserem heutigen Verständnis im Widerspruch zum Glauben an den einen Gott, der sich in dem Juden Jesus offenbart hat. Sein Urteil über Israel entspricht demnach nicht den biblischen Aussagen zu Gottes Bundestreue gegenüber seinem Volk und zur bleibenden Erwählung Israels.“102
Die Synode stellte sich darüber hinaus zu den ekklesiologischen Neubesinnungen, die in den drei Denkschriften der EKD vollzogen wurden und fordert eine Berück97 Eine Welle der Empörung zog sich auch durch die Medien. Vgl. Goertz, Hajo: Beten für das Seelenheil der Juden (09. 04. 2009), in: https://www.deutschlandfunk.de/beten-fuer-das-see lenheil-der-juden-100.html [Zugriff 18. 08. 2022]; Heinz, Hanspeter: Eine neue Karfreitagsbitte im alten Geist. So darf die Kirche nicht beten!, in: Herder Korrespondenz (5/2008), S. 228 – 231, online abrufbar: https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2008/5-2008/so-darf-diekirche-nicht-beten-eine-neue-karfreitagsfuerbitte-im-alten-geist/ [Zugriff 18. 08. 2022]. 98 An dieser Stelle ist an die Irritationen zu erinnern, die Papst Benedikt XVI. im Zusammenhang der Rehabilitierung der Piusbruderschaft und des Schoah-Leugners Bischof Williamson im Januar 2009 auslöste, in dessen Gefolge der zögerlich agierende Pontifex eine wenig glückliche Figur machte. 99 Schröder, Unverhofftes, S. 235. 100 Darauf macht auch Verena Hammes mit ihrem Beitrag in diesem Band aufmerksam. 101 Die Literatur ist auch hier unübersehbar. Ich habe mich selbst einmal an einer kurzen Darstellung des kirchlichen und theologischen Antisemitismus versucht. Vgl. Strübind, Kim: Etappen der „Vergegnung“. Christentum und Antisemitismus, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 3 (1998), S. 161 – 191 (bes. 171 – 178). Luthers schlimmste antisemitische Hetzschrift wurde neu herausgegeben und kommentiert von Morgenstern, Matthias: Martin Luther. Von den Juden und ihren Lügen, Berlin 2016. 102 Zit. nach Schröder, Unverhofftes, S. 233.
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sichtigung für alle Bereiche der Rede und des Unterrichts über das Judentum. Zu den neuen Entwicklungen gehört auch die Einrichtung einer Stiftungsprofessur durch die EKD am Institut für Kirche und Judentum der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Denomination für Geschichte und Gegenwart des jüdisch-christlichen Verhältnisses – der Lehrstuhl wird seit 2020 von der jüdischen Historikerin Karma ben Jochanan verwaltet –, um die weitergehende akademische Forschung sicherzustellen.103 Darüber hinaus ist auch die von der EKD initiierte Perikopenreform zu erwähnen, die 2018 in Kraft trat und in der die Zahl alttestamentlicher Predigttexte von einem Sechstel auf ein Drittel angehoben wurde.104 Auch bisher kaum berücksichtigte Textarten wurden dabei aufgenommen, was der Vielfalt des alttestamentlichen Zeugnisses besser Rechnung trägt. Neue Arbeitshilfen, wie die seit 15 Jahren herausgegebenen „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“ sind als Hilfen für die Pfarrerschaft gedacht. Zwar wurden und werden auch Lehrpläne und Schulbücher verstärkt in den Blick genommen, allerdings zeigt sich hier noch kein einheitliches Konzept. Gerade im Bereich der Elementarisierung dessen, was Schülerinnen und Schülern von christlicher Seite als „jüdisch“ beigebracht bzw. angeboten wird, zeigen sich nicht unbeträchtliche Spannungen und anhaltende Missverständnisse bzw. immer noch latente Stereotype.105 Lässt sich nach diesen Entwicklungen und neugewonnenen Perspektiven so etwas wie ein Fazit ziehen? Bernd Schröder nennt Entwicklungslinien, die noch auf eine künftige Weiterentwicklung warten.106 Dazu gehören eine weitere Reform des Theologiestudiums (weshalb sind Kenntnisse des Judentums noch kein elementarer Bestand des Examens?); zwischen Lehramt und Pfarrberuf sowie aller an der Erziehung von Kindern Mitwirkenden (in der Kirche, z. B. in der Jugendarbeit) bestünden nach wie vor erhebliche Differenzen in der Ausbildung, was das Judentum betreffe. Zu Vieles bewege sich derzeit noch im Rahmen kontingenter Erfahrungen und sei abhängig von einzelnen Personen und Zufallskonstellationen; es zeige sich darüber hinaus immer noch ein Mangel an vitalen Begegnungen mit dem Judentum und seinen Vertretern. „Kurzum: Es besteht eine deutliche Asymmetrie zwischen kirchlichem Selbstverständnis und theologischer Ausbildung.“107 Zudem vermisse man seit Jahren einen neuen systematisch-theologischen Entwurf des christlichen-jüdischen Gesprächs,108 der vor einer Selbstbezogenheit der Kirche bewahren
103
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 235. 105 Dies habe ich selbst einmal als Fachberater für ein religionspädagogisches Lehrbuch des Klett-Verlage erfahren. Vgl. auch Schröder, Unverhofftes, S. 235 f. 106 Vgl. ebd., S. 240 – 243. 107 Vgl. ebd., S. 240. 108 Vgl. Kurth, Christina/Schmid, Peter (Hrsg.): Das christlich-jüdische Gespräch. Standortbestimmungen, Stuttgart 2000. 104
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könne,109 während die Exegese weitgehend ihre Hausaufgaben gemacht habe. Als Desiderat ist vor allem zu nennen, dass der Dialog noch „sichtbarer“ werden muss, was etwa durch regelmäßigen Austausch auf der Gemeindeebene oder Schulbesuche in Synagogen sichergestellt werden kann, damit die angesprochenen Themen im Umfeld eines wieder wachsenden und multiplen Antisemitismus kein akademisches oder nur kirchenpolitisches Sujet bleiben. Ich schließe, wie ich begonnen habe: mit der Erinnerung an meinen/unseren Lehrer Peter von der Osten Sacken. In seiner Besinnung110 über das christlich-jüdische Verhältnis anlässlich des 25jährigen Jubiläums von „Studium in Israel“ 2003 plädierte er unter Berufung auf den Neutestamentler und schwedischen Bischof Krister Stendahl für eine „Entflechtung“ beider Religionen, die dazu beitrage, „den anderen in seiner Ganzheit wahrzunehmen“.111 Was ist gemeint? Der Dialog könnte durch die Entflechtung an Freiheit gewinnen und seine kritische Spannung verlieren, da er nicht daran gebunden ist, „sich miteinander [zu] verständigen, aber dennoch einander [zu] verstehen“.112 Mit einem schönen Gleichnis beschreibt von der Osten Sacken, wie dies aussehen könnte: „Wollte man die entfalteten Grundlinien in ein Bild passen, so könnte man dialogbereite Christen und Juden mit zwei Gruppen vergleichen, die auf beiden Seiten eines breiten Stromes dahinziehen. Seine Wasser werden gespeist von den gemeinsamen biblischen Traditionen und von der gemeinsamen Geschichte mit ihren manchmal verheißungsvollen Seiten und mit ihrem Elend […]. So werden beide Gruppen durch den Strom zugleich verbunden und getrennt. Beide haben sich entschieden, künftig in Sichtweite auf den Ufern weiterzugehen und sich nicht aus den Augen zu verlieren. Manchmal, in seltenen Augenblicken, treffen sie sich auf einer der Brücken, die sie in Abständen über den Fluss schlagen, um für eine Weile gemeinsam zu lernen, gelegentlich auch zu streiten oder zusammen die Lieder zu singen, die sie miteinander teilen.“113
Anhang: Die Seelisberger Thesen von 1947 1.
Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und das Neue Testament zu uns allen spricht.
2.
Es ist hervorzuheben, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israels geboren wurde, und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst.
3.
Es ist hervorzuheben, dass die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren. 109
Vgl. Schröder, Unverhofftes, S. 241 f. Vgl. von der Osten-Sacken, Peter: Das Geheimnis des anderen, in: Kriener/Schröder, Lernen, S. 7 – 24. 111 Vgl. ebd., S. 7. 112 Ebd., S. 14, unter Berufung auf Martin Buber. 113 Ebd., S. 22 f. 110
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4.
Es ist hervorzuheben, dass das höchste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme.
5.
Es ist zu vermeiden, dass das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen.
6.
Es ist zu vermeiden, das Wort „Juden“ in der ausschließlichen Bedeutung „Feinde Jesu“ zu gebrauchen oder auch die Worte „die Feinde Jesu“, um damit das ganze jüdische Volk zu bezeichnen.
7.
Es ist zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Tatsächlich waren es nicht alle Juden, welche den Tod Jesu gefordert haben. Nicht die Juden allein sind dafür verantwortlich, denn das Kreuz, das uns alle rettet, offenbart uns, dass Christus für unser aller Sünden gestorben ist. Es ist allen christlichen Eltern und Lehrern die schwere Verantwortung vor Augen zu stellen, die sie übernehmen, wenn sie die Passionsgeschichte in einer oberflächlichen Art darstellen. Dadurch laufen sie Gefahr, eine Abneigung in das Bewusstsein ihrer Kinder oder Zuhörer zu pflanzen, sei es gewollt oder ungewollt. Aus psychologischen Gründen kann in einem einfachen Gemüt, das durch leidenschaftliche Liebe und Mitgefühl zum gekreuzigten Erlöser bewegt wird, der natürliche Abscheu gegen die Verfolger Jesu sich leicht in einen unterschiedslosen Hass gegen alle Juden aller Zeiten, auch gegen diejenigen unserer Zeit, verwandeln.
8.
Es ist zu vermeiden, dass die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ behandelt wird, ohne daran zu erinnern, dass dieser Schrei die Worte unseres Herrn nicht aufzuwiegen vermag: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, Worte, die unendlich mehr Gewicht haben.
9.
Es ist zu vermeiden, dass der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei.
10. Es ist zu vermeiden, die Tatsache unerwähnt zu lassen, dass die ersten Mitglieder der Kirche Juden waren.
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Kim Strübind
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Grußwort der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg anlässlich des 60. Geburtstags von Andrea Strübind Von Elisabeth Schlesinger Dank der Initiative von Prof. Dr. Andrea Strübind als Vorsitzender der „Interkulturellen Jüdischen Studien“ an der Oldenburger Uni und der langjährigen Gründungsvorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg, Sara-Ruth Schumann, besteht seit dem Jahr 2011 eine Kooperation zwischen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg im Rahmen des Leo Trepp-Lehrhauses. Aus dieser für beide Seiten fruchtbaren Zusammenarbeit entstand eine seither bestehende Vortragsreihe, die sich unter jeweils übergreifenden Jahresthemen mit jährlich etwa zwölf öffentlichen Veranstaltungen auf anspruchsvollem Niveau vornehmlich mit dem jüdisch-christlichen Dialog befasst. Die Bildung von Lehramts-Studierenden als späteren „Multiplikatoren“ sowie der interessierten Stadtöffentlichkeit war und ist dabei das gemeinsame Ziel beider Partner. Dazu werden Referentinnen und Referenten eingeladen, die zu religionsgeschichtlichen, theologischen und auch politischen Aspekten im Rahmen des universitären, schulischen und gesellschaftlichen Bildungsauftrages Stellung nehmen. Seit 2018 hat die Fakultät IV für Human- und Gesellschaftswissenschaften unter Leitung von Frau Strübind eine neustrukturierte Arbeitsgruppe „Transkulturelle interreligiöse Studien“ begründet, die entsprechend dem aktuellen gesellschaftlichen Bedarf neben den jüdischen und christlichen nun auch islamischen Studien und Formen einer erweiterten interreligiösen Bildung in den Fokus nimmt. Dies spiegelt sich auch in den Vortragsreihen des Leo Trepp-Lehrhauses wider. Das Judentum misst dem Lernen traditionell seit jeher einen sehr großen Stellenwert zu. Anliegen der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg als einem Teil der Jüdischen Gemeinschaft Deutschlands ist es dabei, durch Bildung einem wiederaufkeimenden Antisemitismus präventiv entgegenzuwirken und den interreligiösen Dialog mit Respekt und Aufmerksamkeit für die beteiligten Partner zu fördern. Wir schätzen Frau Strübind für diese gemeinschaftlichen Anliegen als eine kluge, warmherzige, wohlwollende und umsichtige Kooperationspartnerin. Die Jüdische Gemeinde zu Oldenburg ist ihr für ihre kompetente Mitwirkung in der Planungsphase für die 2013 durch die Stadt Oldenburg erfolgte Errichtung eines zentralen Mahnmals für die 175 namentlich erwähnten, ermordeten jüdischen NS-Opfer in Olden-
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Elisabeth Schlesinger
burg zu Dank verpflichtet. In Kooperation mit der Stadt Oldenburg sowie verschiedenen Arbeitskreisen, Initiativen und Oldenburger Bürgern wurde eine Gedenkwand vor dem Oldenburger Kulturzentrum PFL in der Peterstrasse errichtet, gegenüber dem Standort der 1938 zerstörten Vorkriegs-Synagoge Oldenburgs. Mit wissenschaftlicher und menschlicher Kompetenz hat Frau Strübind die nicht einfache Vorbereitungszeit für dieses zentrale Mahnmal begleitet. Inzwischen wird durch bürgerschaftliches Engagement die Mahnwand ergänzt, durch im Stadtgebiet verteilte und an ehemaligen Wohn- und Wirkungsstätten jüdischer Opfer der NS-Gewaltherrschaft errichtete, würdevolle „Erinnerungszeichen auf Augenhöhe“. In den Jahren 2021 und 2022 fand das bundesweite Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ statt. In Oldenburg konnte durch eine Kooperation der Stadt Oldenburg, der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg die erfolgreiche und gut besuchte Ausstellung „Chai – Jüdisches Leben in Oldenburg“ im Oldenburger Schloss realisiert werden. Dank der Beiträge der „Jüdischen Studien“ an der Oldenburger Universität unter der Federführung von Frau Strübind konnte die spezifische Geschichte des Judentums in Oldenburg in einen größeren geographischen, politischen und geschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Als Jüdische Gemeinde zu Oldenburg haben wir mit der Professorin für Kirchengeschichte und Historische Theologie eine loyale und kluge Kooperationspartnerin und Wegbegleiterin. Wir wünschen ihr weiterhin Erfolg und G“ttes Segen „bis 120 Johr“!
Über die Grenze(n)
Grenzen und Grenzgänger in der Frühen Neuzeit – transregionale und interdisziplinäre Perspektiven Von Raingard Esser „Borders are back!“ so beginnt Steffen Mau seine Analyse der „Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“.1 Nicht nur das unerwartete Grenzregiment nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020, sondern auch die Migrationspolitik der letzten Jahre haben die Vision einer „grenzenlosen Gesellschaft“, die die akademischen Diskurse der 1990er Jahren prägten, nachhaltig in Frage gestellt. Dass diese Vision zudem ein sehr einseitig auf westliche Eliten zugespitztes Bild von Mobilität widerspiegelt, gehört ebenfalls zu den Resultaten von Maus Studien. Zeitgenössische Debatten über Grenzmanagement fokussieren nach wie vor auf die Herausforderungen nationalstaatlicher und globaler Regime. Dabei wird die Rolle von Grenzregionen und deren Bewohnern in Kooperation oder in Konfrontation mit nationalen Regierungen aber auch im transregionalen Austausch oft übersehen. Das ist besonders verwunderlich angesichts der Tatsache, dass 40 % der heutigen EU-Regionen Grenzregionen sind, in denen mehr als 30 % der gesamten EU-Bevölkerung leben. Etwa 2 Millionen Grenzgänger pendeln jeden Tag zu ihren Arbeitsplätzen in einem anderen EU-Land.2 Gerade diesem wichtigen Thema hat sich Andrea Strübind in den letzten Jahren in einer Reihe grenz- und disziplinüberschreitender Kollaborationen gewidmet. Hierbei liegt der Fokus auf der Grenzregion, in dem sich auch Strübinds akademische Wirkungsstätte, die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, befindet. Die Region Ostfriesland und der Nordwesten des Bundeslandes Niedersachsen und ihre vielfältigen Verbindungen zu den niederländischen Provinzen Groningen, Drenthe und Overijssel stehen im Zentrum der transregionalen und transdisziplinären Forschungsinitiativen Strübinds und ihrer internationalen Partner. Wichtig war und ist ihr hierbei auch immer die Übersetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen für ein breiteres Publikum. Ausgangspunkt für diese Beschäftigung mit der Grenzregion waren die vielfältigen Impulse für die Reformations- und Frühneuzeit-Forschung, die durch das Reformationsjubiläum 2017 und die damit verknüpfte Luther-Dekade ausgelöst wurden. 1
Mau, Steffen: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021. 2 Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/europa/zusammenarbeit-staaten/-/ 210002 [Zugriff 26. 07. 2022].
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Raingard Esser
Nicht zuletzt das Großprojekt „Freiheitsraum Reformation“, das federführend von der Universität Oldenburg initiiert wurde und an dem Strübind maßgeblich beteiligt war, hat durch seine Veranstaltungen und wissenschaftlichen Beiträge den Fokus auf die Spezifik der Reformation im deutschen Nordwesten gerichtet.3 Hierbei wurden nicht nur die grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten von Entwicklungen in den Grenzregionen der Niederlande und des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ betont, sondern auch alte Vorurteile der jeweiligen konfessionellen Lager kritisch unter die Lupe genommen. Das zusammen mit Kolleg*innen und Studierenden der Universität Groningen und öffentlichen Partnern auf beiden Seiten der Grenze im Jahr 2017 durchgeführte Ausstellungsprojekt „Trans(Re)formation“ ist ein Beispiel für diese Neuinterpretation traditioneller Standpunkte.4 An drei lokalen Grenzorten – dem niederländischen Museum Klooster Ter Apel, der Klosterstätte Ihlow und der Johannes à Lasco Bibliothek in Emden wurde die Rolle der Klöster als Bremser oder Motoren der Reformation diskutiert und anhand zeitgenössischer Dokumente und Materialien einem breiteren Publikum vorgestellt. Die Reformation galt über Jahrhunderte als Beginn der Neuzeit und damit als Anbruch einer neuen Epoche. Zwischen der Neuzeit und dem Mittelalter wurde eine tiefe Zäsur markiert, die aus unterschiedlichen Motiven – humanistisch, aufklärerisch oder konfessionell – als identitätsstiftend verortet und vereinnahmt wurde. Mit der Reformation verbanden sich in Deutschland vor allem im 19. Jahrhundert nationale Mythen, in denen Luther etwa zum Vater der deutschen Nation stilisiert wurde.5 Die Reformation in ihrer calvinistischen Ausprägung wurde in den Niederlanden eng verknüpft mit dem sogenannten „Freiheitskampf“ gegen die spanische Krone, der sich, in Deutschland nicht zuletzt durch Friedrich Schillers „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ von 1788, zum nationalen Gründungsmythos verdichtete.6 Ideengeschichtlich stand die Reformation in Deutschland für ihren besonderen Beitrag zur Entwicklung der neuzeitlichen Geistesgeschichte. Der Protestantismus, gerade auch in seiner calvinistischen Variante, wurde aus unterschiedlichen Motiven
3
Vgl. www.freiheitsraumreformation.de [Zugriff 26. 07. 2022]. Das Projekt wurde von EDR INTERREG großzügig gefördert. In Zusammenarbeit mit der Stichting Oude Groninger Kerken wurde eine begleitende Broschüre mit Informationen zu den Ausstellungen und mit zwei touristischen Routen zu ehemaligen Klosterstätten im Grenzgebiet von Groningen und Ostfriesland erstellt. (Trans[Re]formatie = Trans[Re}formation: kloosters en kerken als broedplaatsen voor vernieuwing? = Klöster und Kirchen als Orte der Erneuerung? Mit Beiträgen von Andrea Strübind, Raingard Esser, Gerben de Vries u. a., 2017). 5 Die Zahl der Publikationen, die aus Anlass des Reformationsjubiläums die Erinnerungskultur um die Figur Martin Luthers beleuchteten, ist unüberschaubar. Genannt sei hier deshalb nur beispielhaft: Schilling, Heinz (Hrsg.): Der Reformator Martin Luther 2017, Berlin/Boston 2014. 6 Vgl. Schiller, Friedrich: Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, Bd. 1, Leipzig 1788, Bd. 2, Leipzig 1801. 4
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und Positionen heraus als Wegbereiter der Moderne gefeiert.7 Heute werden Geschichtsdeutungen, in denen das 16. Jahrhundert ein erstes Zeitalter der Moderne gewesen sei, kritisch hinterfragt, weil sie oftmals als ideologische Konstrukte entlarvt wurden. Der Übergang vom Mittelalter zur Reformation und zu den kulturellen Verhältnissen des 16. Jahrhunderts stellt sich für die Mehrzahl der Forschenden als fließendes Kontinuum und langer Prozess der Transformation der diversen mentalen, religiösen, machtpolitischen, sozialen und privaten Lebenswelten dar. Diesem Prozess widmete sich das oben erwähnte Ausstellungsprojekt „Trans(Re)formation“.8 In traditionellen Deutungen der Reformation – vor allem in der konfessionell bestimmten Kirchengeschichtsschreibung – verbanden sich mit der Klosterthematik ausschließlich die Leitmotive: Reformatorische Kritik am Ordenswesen, Klosterflucht und Säkularisierung. Das Projekt arbeitete analog zum skizzierten Fragehorizont „quer“ zu dieser traditionellen Deutung. Klöster wurden als Orte der Bildung und Spiritualität wahrgenommen, die zur Reformation beigetragen, und sie nicht ausgebremst haben. Sie konnten als transitorische Räume präsentiert werden, wobei ein Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von Reformhumanismus, Devotio Moderna und Reformation lag, der ganz besonders im Grenzraum des deutschen Nordwestens und des niederländischen Nordostens sichtbar war. Ein wichtiges Beispiel für diese grenzüberschreitenden Entwicklungen ist etwa die Ausstrahlung der intellektuellen Debatten, die im Zisterzienserkloster Aduard im Groninger Hinterland in dieser Zeit geführt wurden.9 Wichtige Repräsentanten und Multiplikatoren des Reformhumanistischen Denkens waren oft Grenzgänger, wie der spätere reformierte Prediger Albert Hardenberg (1510 – 1574), der in seiner Jugend in Aduard ausgebildet worden war, dann über Umwege nach Italien schließlich unter anderem in Emden ansässig und theologisch tätig wurde; oder der Konvertit Menso Alting (1541 – 1612) aus Eelde bei Groningen, der seine Priesterausbildung in Köln abbrach, um in Heidelberg Reformierte Theologie zu studieren, und der zu einem der einflussreichsten Prediger Emdens aufstieg.10 Die Betonung von Traditionslinien anstelle von Brüchen hat sich auch in weiteren Forschungsfeldern der Kirchen- und Konfessionsgeschichte durchgesetzt. Hierbei werden nicht nur die geistesgeschichtlichen Linien des christlichen Denkens, sondern auch deren Ausdruck im materiellen Raum und in den Objekten spirituellen 7
Wegweisend waren hier die Arbeiten des Soziologen Max Weber. Ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Archive für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904, 1905. Vgl. auch: Strübind, Andrea: Max Weber und Ernst Troeltsch. Ihre These vom Zusammenhang zwischen religiösem Nonkonformismus und Moderne, Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 21 (2016), S. 77 – 103. 8 Vgl. http://freiheitsraumreformation.de/65581.html [Zugriff 26. 07. 2022]. 9 Akkerman, Fokke/Vanderjagt, Arjo: Northern Humanism in European Context, 1469 – 1625. From the ,Adwert Academy‘ to Ubbo Emmius, Leiden 1999. 10 Vgl. Akkerman, Fokke/Vanderjagt, Arjo: Northern Humanism in European Context, 1469 – 1625; Voß, Klaas-Dieter/Jahn, Wolfgang (Hrsg.): Menso Alting und seine Zeit: Glaubensstreit – Freiheit – Bürgerstolz, Oldenburg 2012.
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Handelns untersucht.11 Auch für diesen Fragekomplex ist es die Grenzregion des Nordwestens, und gerade die Grafschaft Ostfriesland mit ihrer plurikonfessionellen Politik, die den Austausch und die Entwicklung neuer konfessioneller Strömungen und ihren materiellen Manifestationen möglich machte. Hierzu hat Jacolien Wubs vor kurzem eine wichtige Studie aus kunst- und kulturgeschichtlicher Perspektive vorgelegt, die Kontinuitätslinien und Neuinterpretationen des Kirchenraums und seines Dekorationsprogramms in Auseinandersetzung mit der reformierten Theologie und ihren Prämissen für den Umgang mit Bild und Wort ausleuchtet.12 Im Folgenden möchte ich im Anschluss an diese Überlegungen Tendenzen der Grenzforschung in einem weiten Spektrum vorstellen. Hierbei lege ich den Schwerpunkt auf drei Forschungskomplexe, die gegenwärtig für die Frühneuzeitforschung von besonderer Bedeutung sind, aber darüberhinaus epochen- und disziplinübergreifend eine Rolle spielen: 1. Das Zusammenspiel von Grenzen, Gesetzgebung und juridischen Konzepten von Souveränität und Territorialität, 2. die Untersuchung van Alltagspraktiken im Ungang mit Grenzen und 3. der Zusammenhang von Grenzen und Mobilität.13 Angereichert wird dieses Panorama durch Fallbeispiele, die sich gerade mit der Grenzregion des Heiligen Römischen Reiches und den Niederlanden beschäftigen. Die vorliegenden Überlegungen münden schließlich in der Präsentation eines neuen grenz- und disziplinüberschreitenden Forschungsprojekts, das in Kooperation mit Andrea Strübind im Februar 2022 begonnen werden konnte. Grundlegend für ein Verständnis (nicht nur) frühneuzeitlicher Grenzen ist, dass es weniger die geographischen Grenzziehungen mit Grenzsteinen und Schlagbäumen sind, die für das Grenzmanagement eines Landes und deren Bewohner ausschlaggebend waren, sondern vielmehr die vielfältigen, an ein jeweiliges Territorium, sei es weltlich oder geistlich, geknüpften Rechte, Privilegien und Freiheiten. Diese erwiesen sich für die Frühe Neuzeit, und hier besonders für die komplexen politischen Szenarien des Heiligen Römischen Reiches und der Niederlande, als vielschichtig, überlappend und porös.14
11
Vgl. hierzu Esser, Raingard/Strübind, Andrea (Hrsg.): Between the Altar and the Pulpit. The (New?) Materiality of the Spirituality, Entangled Religions 7 (2018), S. 2 – 13. 12 Vgl. Wubs, Jacolien: To Proclaim, To Instruct and to Discipline. The Visuality of Texts in Calvinist Churches in the Dutch Republic (unveröffentlichte Dissertation, Universität Groningen 2021), besonders Kapitel 4. 13 Eine breitere interdisziplinäre und epochenübergreifende Diskussion zu neueren Ansätzen in der Grenzforschung bietet: Conklin Akbari, Suzanne et. al.: AHR Conversation. Walls, Borders, and Boundaries in World History, in: The American Historical Review 122/5 (2017), S. 1501 – 1553. 14 Vgl. grundlegend hierzu: Benton, Lauren: A Search for Sovereignty. Law and Geography in European Empires, 1400 – 1900, Cambridge/New York 2010. Vgl. auch: Ellis, Steven/ Esser, Raingard (Hrsg.): Frontiers and the Writing of History, 1500 – 1850. The Formation of Europe, Bd. 1, Hannover 2006; Esser, Raingard/Ellis, Steven (Hrsg.): Frontiers and Border Regions in Early Modern Europe. The Formation of Europe, Bd. 7, Hannover 2013.
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Auf diesen Beobachtungen basiert die erste, hier näher zu beleuchtende Forschungsrichtung in Bezug auf frühneuzeitliche Grenzen, nämlich ihre Interpretation auf dem Hintergrund von Konzepten wie Souveränität, Territorialität und Recht. Daneben spielen in den letzten Jahren besonders zwei weitere Forschungsperspektiven eine wichtige Rolle. Praxeologische Zugänge zu einem Verständnis von Grenzen und deren Management auf der Ebene der Alltagsgeschichte komplementieren nun die bisher häufig auf der Analyse normativer, obrigkeitlicher Texte beruhenden traditionellen frühneuzeitlichen Grenzstudien. Nicht zuletzt aus aktuellem Anlass kooperiert die Grenzforschung in den letzten Jahren auch verstärkt mit Migrations- und Mobilitätsstudien und untersucht die Mechanismen, die grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen erschweren oder erleichtern. Mobilität, Pluralität und Zusammenleben in Migrationsgesellschaften im Zusammenhang mit Grenzräumen, Kontaktzonen und grenzüberschreitenden Netzwerken stehen im Fokus wichtiger neuerer Forschungsunternehmungen.15 Der zweite genannte Zugang zu Grenzstudien, also der praxeologische Ansatz, hat auch der politik- und rechtsgeschichtlichen Forschungsrichtung neue wichtige Impulse gegeben. Hierbei geht es nicht länger nur um die Interpretation zeitgenössischer gelehrter Traktate und Dekrete von Juristen und Politikberatern, sondern um Verhandlungsstrategien vor Ort und die Diskursfelder, denen sich die Grenzbewohner verschiedener politischer und sozialer Schichten – Bauern und Dorfbewohner ebenso wie Regionalbeamte und Repräsentanten territorialer und kirchlicher Machthaber – bedienten. Wegweisend für diesen Zugang vor Ort sind nach wie vor die Studien von Tamar Herzog, deren Monographie „Frontiers of Possession“ das bis dahin dominierende Verständnis von frühneuzeitlichen Machtverhältnissen von ,Zentrum‘ und ,Peripherie‘ gleichsam auf den Kopf gestellt hat.16 Es waren oft gerade diese Grenzbewohner, so ihre Argumentation, die die territorialen Autoritäten diesseits und jenseits der Grenze zum Handeln zwangen, indem sie etwa bei lokalen Grenzkonflikten über Landnutzung und Weiderechte die entsprechenden lokalen und regionalen gerichtlichen Institutionen anzurufen wussten und sich durch gezielt gerichtete Petitionen in diesen Organen Gehör verschafften. Diese Beobachtungen, die Herzog aus ihren Studien zum frühneuzeitlichen Spanien und dessen Weltreich ableitet, gelten vielleicht in noch stärkerem Maße für die Grenzregionen des Heiligen Römischen Reiches und der Niederlande, deren politische und soziale Ordnungen zudem von den zahlreichen Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts immer wieder erschüttert wurden. Besonders in Kriegszeiten spielten die Passierscheine und sogenannten Sauvegarde-Briefe, die die Bewohner bestimmter Gebiete vor feindlichen Übergriffen schützen sollten, eine wichtige Rolle. Charakteristisch für frühneuzeitliche Erbregime gerade in Territorien des Hei15 Vgl. hierzu etwa das Forschungsprogramm „Mobilität und Zugehörigkeit“ des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz: https://www.ieg-mainz.de/forschung/forschungspro gramm/mobilitaet-und-zugehoerigkeit [Zugriff 26. 07. 2022]. 16 Vgl. Herzog, Tamar: Frontiers of Possession, Spain and Portugal in Europe and the Americas, Cambridge MA/London 2015.
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ligen Römischen Reiches war zudem die Praxis der dynastischen Erbteilung auf territorialer und der Erbhofteilung auf lokaler Ebene.17 Damit gehörten nicht nur kriegsbedingte territoriale Neuordnungen, sondern auch dynastische Machtwechsel und Rivalitäten zur Alltagspolitik (nicht nur) im Heiligen Römischen Reich. Diese Praxis bekam durch die Reformation und die im Anschluss daran einsetzende Konfessionalisierung eine besondere Brisanz, wie nicht zuletzt die wechselnde Konfessionspolitik und die unterschiedlichen konfessionellen, und damit auch politischen Strategien der verschiedenen Zweige des Ostfriesischen Grafenhauses in 16. und 17. Jahrhundert zeigen.18 Der durch Tamar Herzogs Studie angeregte Fokus auf Grenzgesellschaften und deren Strategien des Managements von Grenzen wurde unter anderem von der Arbeitsgruppe „Transregional History“ der Universität Leuven aufgegriffen.19 Hier haben sich die angeschlossenen Forscher besonders mit den Gestaltungsmöglichkeiten transregionaler adeliger Familien beschäftigt, und etwa das Heiratsverhalten und andere Strategien zur Statuserhöhung des eigenen Hauses untersucht.20 Gerade in Bezug auf die transregionalen Familien des oft übersehenen mittleren und kleineren Adels im niederländisch-deutschen Grenzgebiet fehlt es allerdings noch an neueren Studien zu so interessanten Familien wie den von Hoensbroechs und den von Schaesbergs im Obergeldrischen Raum, den Scheles mit Besitzungen in Overijssel und im Münsterland und der Familie van Rechteren, die ebenfalls in Overijssel ihren Stammsitz hatte.21 17
Vgl. beispielsweise Romaniello, Matthew/Lipp, Charles (Hrsg.): Contested Spaces of Nobility in Early Modern Europe, London 2016. Vgl. auch: Müller, Mario/Spieß, Karl-Heinz/ Tresp, Uwe (Hrsg.): Erbeinungen und Erbverbrüderungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: generationsübergreifende Verträge und Strategien im europäischen Vergleich, Berlin 2014. 18 Übergreifend zu den Beziehungen zwischen den Niederlanden und der Grafschaft Ostfriesland, sowie den wechselvollen, nicht selten turbulenten Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Grafenfamilie ist immer noch: Foken, Jens: Im Schatten der Niederlande. Die politisch-konfessionellen Beziehungen zwischen Ostfriesland und dem niederländischen Raum vom späten Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Hamburg 2006. 19 Vgl. http://transregionalhistory.eu [Zugriff 26. 07. 2022]. 20 Vgl. beispielsweise de Ridder, Bram/Soen, Violet: Transregional History. New Perspectives on Early Modern Borders and Borderlands in the Low Countries and the Habsburg World, in: Ridder, Bram/Soen, Violet/Thomas, Werner/Verreyken, Sophie (Hrsg.), Transregional Territories. Crossing Borders in the Early Modern Low Countries and Beyond, Turnhout 2020, S. 3 – 9. Vgl. auch Jonson, Christopher u. a. (Hrsg.): Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond. Experiences Since the Middle Ages, New York 2011. 21 Vgl. hierzu: Moerman, Daniel: Nobles at the Frontier. Noble Politics and Diplomacy along the Border Regions of the Low Countries and the Holy Roman Empire During the Eighty and Thirty Years’ Wars. A Transregional Approach (unveröffentlichte Masterarbeit, Universität Groningen 2020); Esser, Raingard/Moerman, Daniel: „Was bis daher gepassiert solt vergessen und vergeben sein“. Cross-border Nobleman Sweder Schele’s (1569 – 1639) Accounts of Army Commanders during the Dutch Revolt and Thirty Years’ War, in: Fagel, Raymond/Francés, Leonor Álvarez/Belmonte, Beatrice Santiago (Hrsg.), Early Modern War
Grenzen und Grenzgänger in der Frühen Neuzeit
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Der Fokus auf grenzüberschreitende Familienstrategien, bei denen die Mitglieder ambitionierter regionaler Dynastien strategisch die Interessen ihres Hauses den jeweiligen politischen Gegebenheiten und Möglichkeiten in transregionaler Perspektive beförderten, sollte allerdings nicht den Blick auf das Trennende von Grenzen verwischen. Das gilt sowohl auf der bereits erwähnten Makroebene der eben nicht grenzenlosen Globalisierung, sondern auch für transregionale Studien. Hier hat in den letzten Jahren ebenfalls ein Umdenken stattgefunden, das nicht länger von der relativen Durchlässigkeit der Grenze und der Existenz einer von ihren Bewohnern selbst gestalteten Grenzregion ausgeht, die den Grenzgang gleichsam als Alltagsgeschäft ohne besondere Maßregeln erscheinen lässt.22 Die territorialen Eigenheiten im rechtlichen, ökonomischen und nicht zuletzt konfessionellen Profil eines Territoriums im Vergleich mit seinen Nachbarn verlangten von der Grenzgesellschaft Verständnis im Umgang mit dem jeweiligen Nachbarn und den politischen, rechtlichen und konfessionellen Normen und Gesetzen ihrer Region. Die vielen lang- und kurzfristigen Grenzüberschreitungen von frühneuzeitlichen Grenzgängern fanden auf dem Hintergrund dieser Kenntnisse und der Abwägung der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Chancen und Möglichkeiten diesseits und jenseits der Grenze statt. Nicht die Abwesenheit von Grenzen, sondern ihr Verständnis und die damit verbundenen Implikationen erlaubten die grenzüberschreitende Mobilität in Grenzregionen.23 Auf dieser Prämisse basiert auch der zweite Forschungsschwerpunkt der letzten Jahre, also die praxeologische Analyse von Grenzmanagement und dessen juridischen und administrativen Instrumenten. Zu nennen sind hier etwa die Studien von Luca Scholz und Andreas Rutz, die sich der Problematik durch den geographischen Fokus auf das Heilige Römische Reich in epochenübergreifender Perspektive widmen.24 Bei Andreas Rutz stehen die Praxis des Grenzziehens, die in der Frühen Neuzeit dafür zur Verfügung stehenden Instrumente und die mit ihrer Anwendung betrauten Fachleute im Mittelpunkt der Analyse. In Anschluss an die Forschungen Narratives and the Revolt in the Low Countries, Manchester 2020, S. 169 – 201; Esser, Raingard: Upper Guelders Four Points of the Compass. Historiography and Transregional Families in a Contested Border Region between the Empire, the Spanish Monarchy, and the Dutch Republic, in: de Ridder, Bram u. a. (Hrsg.), Transregional Territories, S. 23 – 42. 22 Vgl. Esser, Raingard/Ellis, Steven: Introduction, in: dies. (Hrsg.), Frontiers and Border Regions, S. 7 – 18. Vgl. auch in diesem Band: Groundwater, Anna: Renewing the AngloScottish Frontier. Reassessing Early Modern Frontier Societies, S. 19 – 38. 23 Bereits 2003 hat Ad Knotter auf die ökonomischen Vorteile von Grenzen, etwa im Zusammenhang mit unterschiedlichen Preis- und Lohnniveaus hingewiesen, und diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Grenzen und Möglichkeiten unter dem Stichwort ,Border Paradox‘ ausgeleuchtet. Vgl. hierzu Knotter, Ad: The border paradox. Uneven development, crossborder mobility and the comparative history of the Euregio Meuse-Rhine, Fédéralisme Régionalisme [En ligne], Volume 3: 2002 – 2003 – Mobilité et identités dans l’Eurégio MeuseRhin, URL: https://popups.uliege.be/1374-3864/index.php?id=237 [Zugriff 26. 07. 2022]. 24 Vgl. Scholz, Luca: Borders and the Freedom of Movement in the Holy Roman Empire, Oxford 2020; Rutz, Andreas: Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich, Köln/Weimar/Wien 2018.
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von Achim Landwehr zu dem sich wandelnden Konzept vom „Grenzen finden“ zum „Grenzen machen“ studiert Rutz etwa die Zunahme der Produktion von Landkarten und der darin verzeichneten Grenzen vom Ende des Mittelalters und im Verlauf der Frühen Neuzeit.25 Dabei verdeutlicht er die zunehmende Einschreibung von Grenzen in den Raum, mit der das neu entstehende Fachpersonal der ausgebildeten Landvermesser betraut wurde. Die Expertise dieser zumeist von der territorialen Obrigkeit eingesetzten Berufsgruppe komplementierte zunächst das tradierte Alltagswissen von Landbesitzern und Bauern um die Grenzen ihrer jeweiligen Gebiete, ersetzte allerdings im Laufe der Zeit die Autorität des auf Gewohnheit und Tradition basierenden Augenzeugenwissens über Grenzen. Dass dieser Prozess erst allmählich die Autorität einer Wissensweise durch die andere ersetzte, macht ein Beispiel aus der Chronik des Roermonder Stadtsyndikus Jan van Ryckenroy aus dem Jahr 1615 deutlich. Anlass einer Neubestimmung der Grenzen zwischen der Stadt Roermond und der benachbarten Herrlichkeit Dalenbroek, beide in der niederländischen Grenzregion Obergeldern (der heutigen niederländischen Provinz Limburg), war die Klage der Dalenbroeker Herren gegen den von Roermond angestellten Landvermesser und seine Arbeit. Die Dalenbroeker Delegation sah hier fehlerhafte Berechnungen zuungunsten ihres Territoriums. Als Konfliktlösungsmechanismen wurde eine gemeinsame Wanderung entlang der traditionellen und akzeptierten Grenzen beider Territorien von den jeweiligen Amtsträgern durchgeführt, deren Resultate mit einem gemeinsamen Festmahl bestätigt wurden.26 Der Autoritätswechsel von Beobachtung und Tradition zu mathematisch und geometrisch berechneter Grenzziehung veränderte auch die Autorität natürlicher Grenzen, wie etwa Flussläufe, Bergkuppen oder markante Bäume und Steine, die zunehmend durch Schlagbäume, Marksteine und Befestigungswälle ergänzt und schließlich verdrängt wurden. Dieser Prozess ist nicht nur eine Signatur der wachsenden Territorialstaatlichkeit im Heiligen Römischen Reich wie sie Rutz konstatiert, sondern findet sich auch in anderen europäischen Ländern. Andy Wood hat ihn etwa eindringlich in seiner ausgezeichneten Studie „The Memory of the People“ für das frühneuzeitliche England beschrieben.27 Rutz’ Forschungen zur Territorialisierung des Heiligen Römischen Reiches mit den aus der Antike wiederentdeckten Mitteln der Kartographie und den Instrumenten einer scheinbar akkuraten, objektiv messbaren Wissenschaft, werden ergänzt durch Luca Scholz’ Untersuchungen zu den Praktiken der Grenzziehung durch Rituale wie Geleitprozessionen, deren Choreographie an den Grenzen zwischen Territorien und anderen jurisdiktionellen Einheiten orientiert war.28 Scholz’ Studie erweitert zudem 25 Vgl. Landwehr, Achim: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570 – 1750, Paderborn 2007. 26 Vgl. Nettesheim, Friedrich (Hrsg.): Kroniek der Stad Roermond van 1562 – 1638 [vermutlich von Jan Ryckenroy], Roermond 1876, S. 302 – 303. 27 Vgl. Wood, Andy: The Memory of the People: Custom and Popular Senses of the Past in Early Modern England, Cambridge 2013. 28 Vgl. Scholz, Borders.
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den Blick auf die Genese von Grenzen zwischen fiskalen Rechtsbereichen, die zunächst durch Grenzorte, nicht Grenzlinien geregelt wurde. Grenzstationen und Grenzfesten hatten zunächst fiskalische Aufgaben, wie das Eintreiben von Passierzöllen, und nicht die Regulierung von Mobilität und Migration. Wirtschaftshistoriker*innen sprechen hier seit längerem von der allmählichen Transformation von Passierzöllen und Verkehrslinienzöllen zu Grenz- und Gebietszöllen, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog.29 Das vielleicht beeindruckendste Beispiel für diese Konzeption von Grenzbefestigungen, die sich an ökonomischen, aber nicht an territorialen Gegebenheiten orientierte, ist das Projekt der Fossa Eugenia, auch bekannt als Fossa Sanctae Mariae in der umstrittenen niederländischen Grenzregion Obergeldern, deren Bewohner unter den militärischen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts besonders zu leiden hatten. Als Resultat der nordniederländischen Besetzung der Schelde während des Achtzigjährigen Krieges (1568 – 1648) und ihrer Besteuerung (nicht, wie oft angenommen der Schließung) des Scheldehandels als der bis dahin wichtigsten Schlagader des internationalen Warenverkehrs der südlichen Niederlande, ließen sich die südniederländischen Landesfürsten, die Erzherzöge Albert und Clara Isabella Eugenia, auf das überdimemensionierte und überambitionierte Projekt eines Kanalsystems ein, das Rhein und Maas verbinden sollte, um damit den vom nördlichen Gegner eingezogenen Scheldezoll zu umgehen. Hierzu hatten sie unter Federführung des genuesischen Bankiers und Oberbefehlshabers der südniederländischen Truppen, Ambrogio Spinola, ein internationales Konsortium von Geldgebern von diesseits und jenseits der Grenze gewinnen können, die das Prestigeprojekt in seiner ersten Phase ab 1625 finanziell unterstützten.30 Das Unternehmen wurde mit großer Außenwirkung begonnen, allerdings bereits am Ende der 1620er Jahre wieder eingestellt. Angesichts der erfolgreichen Gegenoffensiven des nordniederländischen Heeres zogen sich die internationalen Geldgeber zurück. Bis heute ist unklar, wieviel von den Kanalarbeiten überhaupt durchgeführt wurden. Die Landtagsakten der Region Obergeldern, in dem der erste Abschnitt des Kanalprojektes begonnen wurde, verzeichnen noch über mehr als 30 Jahre nach dem abgebrochenen Unternehmen die Petitionen der lokalen Bevölkerung an die spanische Landesregierung in Brüssel für finanzielle Kompensation für die Felder und Gebäude, die für die Kanalarbeiten formell angekauft, aber schein-
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Eine detaillierte Studie zu den sich wandelnden Konzeptionen bietet Stolz, Otto: Zur Entwicklungsgeschichte des Zollwesens innerhalb des alten deutschen Reiches, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41/1 (1954), S. 1 – 41, hier: 26 – 31. Vgl. außerdem: Komlosy, Andrea: Ein Land – viele Grenzen. Waren- und Reiseverkehr zwischen den österreichischen und den böhmischen Ländern (1740 – 1918), in: dies./Bu˚ zˇ ek, Václav/ Svátek, Frantisˇek (Hrsg.), Kulturen an der Grenze: Waldviertel, Weinviertel, Südböhmen, Südmähren, Wien 1995, S. 59 – 72. 30 Vgl. zu dem Projekt: Zijlstra, Roel: Troebele betrekkingen. Grens, scheepvaart en waterstaatskwesties in de Nederlanden tot 1800, Hilversum 2017, S. 441 ff.; Schröder, Lina: Der Rhein-(Maas-)Schelde-Kanal als geplante Infrastrukturzelle von 1946 – 1985, Münster 2017, S. 85 ff.
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bar nie bezahlt worden waren.31 Dennoch wurde und blieb der ambitionierte Plan einer Verteidigungslinie von 22 kleineren und 2 größeren Befestigungsanlagen entlang des projektierten Kanals eine visuelle Signatur von Obergeldern. In den kartographischen Projekten des 17. Jahrhunderts blieb die lange Linie von größtenteils imaginierten Befestigungsanlagen ein durchgängiger Teil der Bildinformation, die eben nicht die Grenzlinie des umstrittenen Territoriums markierte, sondern sich gleichsam wie eine Narbe von der östlichen Grenze Obergelderns zum Erzbistum Köln mit der Festung Rheinberg als dem Startpunkt der Kanallinie bis zum wirtschaftlichen Herz der Region, der Festungs- und Handelsstadt Venlo, erstreckte.32 Die Grenzpolitik in der umstrittenen Grenzregion Obergeldern erlaubt zudem auch wichtige Einblicke in eine andere Form des Grenzmanagements vor Ort, nämlich der Praxis des Ausstellens und des Gebrauchs von Sauvegarde-Briefen, von sogenannten Licenten und von Pässen. Die Anfragen für die Ausstellung von Sauvegarde-Dokumenten für den jeweiligen Grenzübertritt und dessen gegenseitige Anerkennung sind omnipräsent in den Landtagsakten und anderen juristischen Dokumenten in Obergeldern. Sie erlaubten grenzüberschreitenden Verkehr in einer Region, deren mittelalterliche politische Einheit, das Herzogtum Geldern, durch den Achtzigjährigen Krieg in einen größeren, den nördlichen Niederlanden zugehörigen Raum mit den Teilprovinzen Nijmegen, Arnhem und Zutphen, und den bereits mehrfach erwähnten kleineren südlichen Teil Obergeldern mit der Haupstadt Roermond geteilt wurde, dessen politische Zukunft aber lange Zeit offen geblieben war. Landbesitz der führenden geldrischen Familien war häufig über diese neue politische Grenze verteilt. Aufgrund der unsicheren rechtlichen Lage des Territoriums, die weder im Zwölfjährigen Waffenstillstand (1609 – 1621), noch in den Westfälischen Verträgen (1648) abschließend geklärt wurde, unterhielten Familien enge Kontakte zu ihren Mitgliedern im jeweils anderen Landesteil und hielten an ihren dortigen Besitztiteln fest. Gerade die Unsicherheit einer abschließenden territorialen Regelung für dieses Gebiet erklärt die immer wieder geäußerten Anfragen zu einer rechtlichen und fiskalen Gleichbehandlung diesseits und jenseits der Grenze, und die Praxis der gegenseitigen Ausstellung von Schutzbriefen.33 Dies galt beispielsweise auch für die 31 Siehe beispielsweise: Sivré, Jean Baptiste (Hrsg.): Inventaris van het Oud Archief der Gemeente Roermond, Bd. 3, Roermond 1870, Eintrag 7. Juni 1646, S. 93 – 94 und Eintrag 16. März 1649, S. 183. 32 Vgl. beispielsweise Faulte, Michel: Le vray pourtraict du nouveau canal commencé par le commandement de la sérénissime princesse Isabelle Clara Eugenia gouvernante des PaysBas, Paris 1627; Hondius, Hendrik: Fossa Eugeniana que a Rheno ad Mosam duci coepta est, Amsterdam 1635. Vgl. auch Fossa Sancta Mariæ, quæ et Eugeniana dicitur vulgo De Nieuwe Grift, in: Blaeu, Willem und Johannes (Hrsg.), Theatrum Orbis Terrarum, sive Atlas Novus in quo Tabulæ et Descriptiones Omnium Regionum, Editæ a Guiljel et Ioanne Blaeu, Amsterdam 1645. 33 Vgl. Sivré, Jean Baptiste (Hrsg.): Inventaris van het Oud Archief der Gemeente Roermond, Bd. 2, Roermond 1869, 1621 – 1624. Briefwisseling tusschen de staten van het Zutfensche kwartier en het Overkwartier met betrekking tot het verkrijgen van wederzijdsche sauvegarde brieven.
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Tolerierung von Vertretern des jeweils anderen konfessionellen Lagers. 1626 erbat etwa der neuberufene reformierte Prediger im katholisch geprägten und katholisch regierten Obergeldern eine Verlängerung des seinem Vorgänger ausgestellten Schutzbriefes, den die Erzherzöge im Kontext der Friedensverhandlungen des Zwölfjährigen Waffenstillstands bewilligt hatten. Erzherzogin Clara Isabella Eugenia akzeptierte diese Verlängerung unter der Bedingung, dass die Vertreter der katholischen Kirche in den drei nördlichen, offiziell reformierten Teilprovinzen Gelderns von denselben Schutzmaßnahmen profitieren konnten.34 Nach dem Fiasko des Kanalprojekts unterstützte sie Initiativen in Obergeldern für die Ausstellung von Sauvegarde-Briefen für die Durchführung von Reparaturarbeiten im von den nördlichen Niederlanden besetzten Maas-Ufer, das als eine der wichtigsten Handelsrouten für die Region funktionierte.35 Um diesen Handel zu regulieren, wurde zudem eine Vielzahl von sogenannten Licenten ausgestellt, die die wirtschaftlichen Aktivitäten im jeweiligen Feindesland regulierten. Auch hier bieten die Roermonder Stadtakten und die Obergelderner Landtagsakten wichtige Einblicke in die Alltagspraxis für grenzüberschreitende ökonomische Transaktionen in Kriegs- und Krisenzeiten.36 Aus den Sauvegarde-Briefen entwickelte sich im Lauf des Achtzigjährigen Krieges die Praxis von Pässen, die allmählich die mehr anlassgerichteten Sauvegardes ersetzten. Bram de Ridder hat diesen Prozess für das Grenzmanagement in den Niederlanden en detail nachgezeichnet.37 Der aktuelle Quellenbestand dieser Gebrauchsdokumente, die im Laufe des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden von handgeschriebenen Schriftstücken zu Vordrucken mutierten, bei denen nur noch die Personaldaten eingetragen werden mussten, ist naturgemäß prekär. De Ridder hat bei seinen Recherchen zur Praxis der Passausstellung in den spanischen Niederlanden während des Achtzigjährigen Krieges allerdings nicht weniger als 26 Bände mit Passregistern in den Staatlichen Archiven in Brüssel identifiziert, die von einer großen Anzahl über andere südniederländische Archive verstreuten Registerbände komplementiert werden. José Javier Ruiz Ibáñez hat diese Dokumente vor einigen Jahren als „resource of the weak“ bezeichnet.38 In der Tat lag es letztendlich in
Orig. en minute, in omslag 13 N0 12. (S. 201), 1622 – 1623. Briefwisseling tusschen de staten van liet Overkwartier en die van het kwartier van Nijmegen over het bekomen van wederzijdsche sauvegarde brieven, over executiën wegens contributiën, over retorsien en vorderingen door gemutineerden. Minuten en orig. in omslag 13 N0 2. (S. 201). 34 Vgl. Sivré (Hrsg.), Inventaris, Bd. 2, Eintrag 28 Januar 1626, S. 243. 35 Vgl. Sivré (Hrsg.), Inventaris, Bd. 3, Eintrag 1628, S. 124. 36 Vgl. beispielsweise: Sivré (Hrsg.), Inventaris, Bd. 2, Eintrag vom 31. Mai 1622, S. 207; ebd., Eintrag vom 1. Dezember 1632, S. 42. 37 Vgl. de Ridder, Bram: Border Management during the Eighty Years’ War, in: ders. u. a. (Hrsg.), Transregional Territories, S. 183 – 208. 38 Vgl. Ruiz Ibáñez, José Javier: La guere, les princes, et les paysans. Les pratiques de neutralisation et de sauvegarde dans les Pays-Bas et du nord de royaume de France, in: Chanet, Jean-François/Windler, Christian (Hrsg.), Les ressources des faibles. Neutralités,
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der Macht der jeweiligen politischen und militärischen Befehlshaber, ob sie die Sauvegarde-Briefe und Pässe anerkannten oder nicht. Dennoch machen etwa die Aufzeichnungen des Edelmanns Sweder Schele, der wiederholt zwischen seinen Besitzungen im niederländischen Overijssel und im Münsterland hin und her pendelte, deutlich, wie wichtig diese Papiere im Navigieren zwischen den Kriegsparteien waren.39 In seinem umfangreichen und faszinierende Stammbuch berichtet Schele wiederholt von seinen Strategien, um die mächtigsten Befehlshaber seiner kriegsgeschüttelten Region zum Ausstellen dieser Schutzbriefe zu überreden, und dafür auch entsprechend zu bezahlen. In einem lateinischen Eintrag für das Jahr 1634 hielt er fest: „Et abundans cautela non nocet.“, dass man niemals zu viele dieser Dokumente haben konnte.40 Gleichzeitig muss er allerdings auch nicht selten zugeben, dass die erworbenen Schutzbriefe nicht akzeptiert und einfach ignoriert wurden und es trotz der Dokumente zu Plünderungen, Brandschatzungen und Gewalttaten kam.41 Weder Pässe noch Schutzbriefe regelten die konfessionelle Praxis des sogenannten Auslaufens als einer obrigkeitlichen Strategie, um mögliche konfessionelle Unvereinbarkeiten und Spannungen gleichsam durch den Grenzübertritt zu entschärfen. Benjamin Kaplan hat dieses Phänomen aus konfessions- und kulturgeschichtlicher Perspektive für die Region im heutigen sogenannten Dreiländereck zwischen den Niederlanden, Belgien und Deutschland aus alltagsgeschichtlicher Perspektive ausgeleuchtet.42 Kaplan argumentiert zu recht, dass die Praxis des Auslaufens die von den Obrigkeiten gewünschte konfessionelle Homogenität in ihrem eigenen Territorium fördern konnte, wenn den Anhängern der jeweils anderen Konfession das Ausüben ihres Glaubens jenseits der (konfessionellen) Grenze zugestanden wurde. Kam es dennoch zu konfessionellen Konflikten, so war nicht die Praxis an sich Stein des Anstoßes, sondern deren allzu öffentliche Zurschaustellung, die als Provokation empfunden wurde. Dass diese obrigkeitliche Strategie des Auslagerns konfessioneller Konflikte durch die Praxis des Auslaufens nicht immer aufging, beschreibt Kaplan anhand eines faszinierenden Gerichtsfalles um die Entführung eines Kindes aus der reformierten Gemeinde des niederländischen Grenzstädtchen Vaals durch die katholische Tante des Jungen aus dem katholischen Würselen in der Herrschaft der Reichsstadt Aachen im Jahr 1760. Die umfangreichen Gerichtsakten, die Kaplan auswerten konnte, offenbaren das komplizierte Geflecht lokaler und regionaler Alltagsbeziesauvegardes, accommodements en temps de guerre (XVIe–XVIIIe siècle), Rennes 2009, S. 187 – 204. 39 Das Stammbuch umfasst Eintragungen der Jahre 1591 bis 1631 und besteht aus drei Teilen in zwei Büchern. Die beiden Bände werden gegenwärtig in unterschiedlichen Archiven aufbewahrt: Bd. 1 befindet sich im Staatsarchiv Osnabrück (Dep. 38b. Nr. 1000), Bd. 2 ist im Historisch Centrum Overijssel deponiert (Dep. Huisarchief Almelo.Inv. Nr 3680). 40 Die Chronik des Sweder Schele, Bd. 2, S. 872. 41 Vgl. ebd., S. 905 – 906. 42 Vgl. Kaplan, Benjamin J.: Religious Encounters in the borderlands of early modern Europe. The case of Vaals, in: Dutch Crossing 37/1 (2013), S. 4 – 19.
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hungen, bei denen sich wirtschaftliche und konfessionelle Motive für gegenseitige Angriffe und Beschuldigungen nicht selten miteinander vermischten.43 Es liegt in der Natur dieser Praxis, dass das Auslaufen meistens in Konfliktfällen aktenkundig wurde, während das tägliche Management konfessionell motivierter Grenzpendelei wenig Anlass zur Dokumentation gab und sich gleichsam unter dem Radar obrigkeitlicher Aufmerksamkeit abspielte. Aktenkundige Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Auslaufen demonstrieren wiederum die Kenntnisse und Fähigkeiten selbst einfacher Dorfbewohner im Umgang mit den Herrschaften der Territorialregierungen diesseits und jenseits der Grenze.44 Daniel Moerman hat einen solchen Fall für das Dorf Aldekerk an der Grenze zwischen Obergeldern, der von der Familien der Oranier regierten Grafschaft Moers und dem Prinzbistum Köln nachgezeichnet.45 Charakteristisch für den Rechtsfall, bei dem die beschuldigten Calvinisten wegen versuchter Bekehrung ihrer Knechte und Mägde über die Grenze ausgewiesen werden sollten, und der sich über die 1620er Jahre hinzog und an verschiedenen Gerichtshöfen diesseits und jenseits der Grenze ausgetragen wurde, ist die Verwicklung von wirtschaftlichen, konfessionellen und politischen Aspekten. Bemerkenswert ist auch hier das Geschick der beteiligten Dorfbewohner, die jeweiligen weltlichen und religiösen Jurisdiktionen zu ihren Gunsten gegeneinander auszuspielen und eine scheinbar sehr lokale konfessionelle Kontroverse mit den internationalen militärischen Konflikten der Zeit zu verbinden. Luca Scholz situiert seine Studien zu den Sauvegarde-Briefen und Passierscheinen im Kontext des dritten hier zu besprechenden Forschungsstrangs, dem Zusammenhang zwischen Grenzmanagement und Mobilität. Er konzentriert sich besonders auf die Migration über längere Distanzen und weniger auf die Grenzgängerei, die bislang im Fokus der vorliegenden Betrachtungen stand. Aus dieser Perspektive und auf der Grundlage des weiter oben angesprochenen Fehlens frühneuzeitlicher Grenzlinien im Gegensatz zu Grenzstationen und -städten konstatiert er einen geringen Einfluss von diesen auf Migrationsströme.46 Dieselbe Nuancierung zwischen 43 Vgl. Kaplan, Benjamin J.: Cunegonde’s Kidnapping. A Story of Religious Conflict in the Age of Enlightenment, New Haven/Yale 2014. 44 Martin Dinges hat hierfür bereits vor einigen Jahren den Begriff der Justiznutzung geprägt und aufgezeigt, dass auch die sogenannten einfachen Leute in der Frühen Neuzeit rechtliche Instrumente zu benutzen wussten, um ihre Anliegen vorzubringen und durchzusetzen. Vgl. Dinges, Martin: Justiznutzung und soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Blauert, Andreas/Schwerhoff, Gerd (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2001, S. 503 – 544. Vgl. auch: van der Heijden, Manon/Vermeesch, Griet: The Uses of Justice in Global Perspective, 1600 – 1900, in: dies. u. a. (Hrsg.), The Uses of Justice in Global Perspective, 1600 – 1900, London/New York 2019. 45 Vgl. Moerman, Nobles, S. 85 – 100. 46 Vgl. Scholz, Borders, S. 230. Scholz’ Studie hat allerdings auch Kritik hervorgerufen. So wirft ihm Axel Gotthard etwa vor, die Rolle der unzähligen Rechtstexte, die von Beamten an und für die Territorialherrscher des Heiligen Römischen Reiches geschrieben wurden, für das Verständnis von Grenzlinien zu unterschätzen, und zudem die vielleicht charakteristischste Grenzziehung der Zeit, nämlich durch die konfessionelle Spaltung Europas außer Acht zu lassen. Vgl. Gotthard, Axel: Rez. zu Luca Scholz, Borders and Freedom of Movement in the
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Grenzgängerei und Migration über größere Abstände und längere Zeiträume nimmt auch Jovan Pesalij in seiner Studie zur Militärgrenze des frühneuzeitlichen Habsburgerreiches und dem Osmanischen Reich vor.47 Damit untersucht er einen Grenztypus, der in der Frühneuzeitforschung eng mit dieser Region verbunden war und der im allgemeinen als Sonderfall der Grenzziehung des frühneuzeitlichen Europa angesehen wird.48 Pesalj interessiert sich besonders für die Periode nach dem Vertrag von Karlowitz von 1699, mit dem das Ende der von den Habsburgern wahrgenommenen permanenten militärischen Bedrohung durch das Osmanische Reich eingeläutet wurde. Der enge Riegel von Militärforts und Grenzbefestigungen, die diese Grenze charakterisierte, verlor damit seinen ursprünglichen Sinn. Er wurde aber dennoch aufrechterhalten und als cordon sanitaire gegen das Eindringen ansteckender Krankheiten aus dem Osten uminterpretiert. Diese Lesart verhüllte allerdings die eigentliche Aufgabe dieses engmaschigen Grenzregiments, nämlich die Kontrolle von Migration und Mobilität von und nach beiden Seiten der Grenzbefestigungen. Richtlinien und administrative Verfahren für dieses Monitoring wurden von beiden Parteien aufgestellt und gegenseitig anerkannt. Hierbei ging es weniger um den Grenzübergang per se, sondern vielmehr um die Selektion von wünschenswerten und weniger wünschenswerten Migrantengruppen. Die Alltagsmigration von diesseits und jenseits der Grenze fand demgegenüber weiterhin ungestört statt und bewegte sich im Bereich dessen, was heute als „Grüne Grenze“ bezeichnet wird. Pesalijs detaillierte Studie zeigt auf, dass weniger die Routine der Grenzkontrolle, die durch den engen Gürtel der Grenzfestungen gewährleistet werden konnte, sondern vielmehr die Rechte, Privilegien und Zusammengehörigkeiten von bestimmten Migrationstypen, wie etwa Kaufleuten, die Migrationsentscheidung von diesseits und jenseits der Grenze beeinflusste. In diesem Sinne ergänzt seine Untersuchung die bereits angesprochenen Beobachtungen von Steffen Mau, dass nicht der Grenzübertritt als solcher den Selektionsprozess von Migration regelte, sondern dass diese Entscheidungen durch die sozialen und wirtschaftlichen Regime diesseits und jenseits der Grenze bestimmt wurden. Schließlich sei noch auf die Studien verwiesen, die sich besonders mit der multikonfessionellen Gemengelage in Grenzregionen beschäftigt haben. Hierzu gehören etwa die Arbeiten von Jesse Spohnholz und Mirjam van Veen. Gerade in den multiHoly Roman Empire, Oxford 2020, in: Bulletin of the German Historical Institute London 43/ 1 (2021), S. 108 – 113. 47 Vgl. Pesalj, Jovan: Monitoring Migrations. The Habsburg-Ottoman Border in the Eighteenth Century (unveröffentliche Dissertation, Universität Leiden 2019). 48 Einen guten Überblick über die Historiographie der Militärgrenze bietet: O‘Reilly, William: Border, Buffer and Bulwark. The Historiography of the Military Frontier 1521 – 1881, in: Ellis, Steven/Esser, Raingard (Hrsg.), Frontiers and the Writing of History, 1500 – 1850, The Formation of Europe, Bd.1, Hannover 2006, S. 229 – 244. Für Steven Ellis fällt auch die anglo-schottische und die anglo-irische Grenze der Frühen Neuzeit unter diese besondere Kategorie. Vgl. Ellis, Steven G.: Defending English Ground. War and Peace in Meath and Northumberland, 1460 – 1542, Oxford 2015.
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konfessionellen Szenarien des Rheinlandes, in dem sich viele niederländische Exulanten niederließen, sehen sie den Nährboden nicht etwa für einen militanten Konfessionalismus, sondern für moderate und moderierte Formen des Zusammenlebens. Diese Rheinlandgemeinden fungierten vielmehr als multikonfessionelle Laboratorien für das Aushandeln von Differenz und Zugehörigkeit.49 Violet Soen lenkt ebenfalls den Blick auf Grenzräume, wie sie etwa die Kirchenprovinz Cambrai darstellt, die als Schmelztiegel für konfessionelle Vorstellungen und Praktiken unterschiedlicher regionaler Provenienz wirkten. Anhand der Geschichte der Universitäten von Douai und Reims untersucht sie die wechselseitige Beeinflussung von katholischen Studenten aus England, den Niederlanden und Frankreich im Hinblick auf deren konfessionelle und intellektuelle Entwicklung und Ausrichtung.50 Dieses Panorama verschiedener Zugänge zu einem Verständnis von Grenzmanagement aus alltagsgeschichtlicher Perspektive und für die Region des Nordwestens (Ostfriesland/Groningen) steht auch im Mittelpunkt des Forschungsprojektes „Grenzgänger“, das von Andrea Strübind mit Kolleg*innen von der Universität Groningen 2022 initiiert wurde. Gefragt wird auch hier nach den juridischen, territorialen Diskursen zur Grenzziehung vor Ort, nach den Instrumenten der Grenzziehung und deren Praxis, nach dem Migrationsregiment der Grenzgängerei und der Rolle der Grenzregion als multikonfessionellem Laboratorium auf der methodologischen und theoretischen Schablone der Transregional Studies und in einer Longue Durée Perspektive.51 Zudem steht die Rolle der niederländischen Sprache in Ostfriesland im Mittelpunkt einer der geplanten Teilstudien des Projektes. Die Region eignet sich für eine solche Studie in besonderer Weise. Einige Beispiele können einen Ein-
49 Vgl. das mittlerweile abgeschlossene Forschungsprojekt: Rhineland Exiles and the Religious Landscape of the Dutch Republic, c.1550 – 1618 (https://labs.wsu.edu/religiousexiles/ [Zugriff 26. 07. 2022]) und die Publikationen von Jesse Spohnholz: ders.: The Tactics of Toleration. A Refugee Community in the Age of Religious Wars, Newark 2011; ders.: Exile Experiences and the Transformation of Religious Cultures in the Sixteenth Century. Wesel, London, Emden, and Frankenthal, in: Journal of Early Modern Christianity 6 (2019), S. 43 – 67; van Veen, Mirjam/Spohnholz, Jesse: Calvinists vs. Libertines. A New Look at Religious Exile and the Origins of ,Dutch’ Tolerance, in: van den Brink, Gijsbert/Höpfl, Harro (Hrsg.), Calvinism and the Making of the European Mind, Leiden/Boston 2014, S. 76 – 99; van Veen, Mirjam: Dirck Volckertsz Coornhert. Exile and Religious Coexistence, in: Spohnholz, Jesse/ Waite, Gary (Hrsg.), Exile and Religious Identity, London 2014, S. 67 – 80. 50 Vgl. Soen, Violet: Containing Students and Scholars within Borders? The Foundations of Universities in Reims and Douai and Transregional Transfers in Early Modern Catholicism, in: dies. u. a. (Hrsg.), Transregional Reformations. Crossing Borders in Early Modern Europe, Göttingen 2019, S. 267 – 294. Vgl. auch: Soen, Violet: Exile Encounters and Cross-Border Mobility in Early Modern Borderlands. The Ecclesiastical Province of Cambrai as a Transregional Node (1559 – 1600), in: Belgeo, Revue Belge de geographie 2 (2015), Les frontières européennes, sources d’innovation/European borders as sources of innovation, S. 1 – 15. 51 Zu Theorie und Methodologie der Transregionalen Studien vgl.: de Ridder/Soen, Transregional History, S. 13 – 19 und Middell, Matthias: Transregional Studies. A new Approach to Global Processes, in: ders. (Hrsg.), The Routledge Handbook of Transregional Studies, New York 2019, S. 1 – 16.
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blick in das breite Repertoire transregionaler Forschungsansätze geben, die in den nächsten Jahren durch das Grenzgänger-Forscherteam bearbeitet werden wird. Gerade die geographische Unabgeschlossenheit des Gebiets entlang der DollartBucht bietet sich etwa für eine Untersuchung des Grenzmanagements vor Ort an. Die Landgewinnung des sogenannten Bunderneulands im südlichen Teil der Bucht durch niederländische Deichingenieure im Jahr 1605 und die sich daran anschließenden juristischen Konflikte über Pachteinnahmen und Landnutzung, die sich zwischen Graf Enno III. von Ostfriesland, der das Projekt in Auftrag gegeben hatten, der Stadt Groningen, den Generalstaaten und den niederländischen Bewohnern des Bunderneulandes bis in die 1620er Jahre hinzogen, geben einen Einblick in die unterschiedlichen Ebenen des frühneuzeitlichen „Grenzen-Machens“. Diese reichen von der bereits konstatierten Rolle von Kartographen und Landvermessern über die juristischen Argumente, die die betroffenen Parteien gegeneinander ins Feld führten, und die – gerade weil es sich um neu gewonnenes Land handelte – nicht auf traditionelle Grenzvereinbahrungen zurückgreifen konnten. Schließlich erlaubt eine Mikrostudie der Bewohner dieses neuen Landes weitere Einblicke in Migrationsgesellschaften und deren Verankerungen zu beiden Seiten der Grenze. Die bereits konstatierte konfessionelle Pluriformität Ostfrieslands und deren Einfluss auf Migrationsbewegungen gehören ebenfalls zu den wichtigsten Forschungsfeldern des Projektes. Pluriformität kann einerseits als Chance zur Auseinandersetzung, andererseits als Konkurrenzsituation aufgefasst werden, wobei sich die jeweiligen interkonfessionellen Partner sowohl gegenseitig intellektuell stimulieren, aber auch in Abgrenzung zueinander stärker profilieren müssen. Gerade dieser letzte Aspekt der Profilbildung war in Ostfriesland auch mit politischen Positionierungen verbunden. Hierbei ging es nicht nur um die Gegenüberstellung von (Emder) Stadtrepublikanismus und Landesherrschaft, sondern auch um den Machtkampf regionaler Partikularmächte, der bekannten ostfriesischen Häuptlinge, sowie kleinerer Fürstenhöfe, wie etwa die Herrschaft in Jever mit dem Grafenhaus. Als besondere Signatur der Konfessionalisierung in Ostfriesland kommt der starke Einfluss von Exulantengruppen aus den Niederlanden hinzu. Die Anziehungskraft, die Ostfriesland gerade auf Anhänger radikal-reformatorischer Vorstellungen ausübte, war eine direkte Folge der kirchenpolitischen Situation der Grafschaft, die sich über lange Zeit auch wegen der außenpolitisch schwierigen Lage durch die ordnungspolitische Indifferenz innerhalb des Grafenhauses gerade unter Graf Enno II (1504 – 1540) ergab. Die als liberal und tolerant gekennzeichnete Lage erlaubte es zudem weiten Teilen der Bevölkerung, sich nicht genau zu positionieren, und sich auch als mögliche Anhänger einer neuen Lehre nicht durch eine Mitgliedschaft festlegen zu müssen. Gerade diese praktizierte konfessionelle Flexibilität spiegelt sich häufig in den Konsistorialakten der Emder Reformierten Gemeinde.52 52 In den letzten Jahren sind die Konzepte Interkonfessionalität, Transkonfessionalität und Konfessionelle Indifferenz in der Forschung intensiv diskutiert worden. Hierbei spielte auch das ostfriesische konfessionelle Szenario eine wichtige Rolle. Vgl. beispielsweise: von Grey-
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Während die Emder Kirchengemeinschaften in den letzten Jahren hinreichend untersucht wurden, gibt es keine neueren Studien zu den anderen Exulantengemeinden in Ostfriesland, etwa in Leer oder Norden.53 Hinzu kommt, dass sich die Forschungen zur Emder Gemeinde sehr stark auf die Anfangsphase der Niederländereinwanderung mit ihren intellektuellen Leitfiguren wie Johannes à Lasco konzentriert und damit auf die große Anzahl Flamen und Brabanter in der Stadt, die sich nicht selten über den Umweg über London, Sandwich und Norwich aber auch via Friesland in Emden niederließen. Sie hatten nicht unbedingt die Absicht, dauerhaft in Ostfriesland zu bleiben und unterhielten weiterverzweigte Netzwerke mit Glaubens- und Berufsgenossen in England und anderswo. In den Emder Stadtakten werden sie als „Angli“ geführt.54 Sie teilten sich in je eine Gruppe niederländisch-sprachiger und französisch-sprachiger Mitglieder. Auf der anderen Seite kamen Niederländer aus der weiteren und unmittelbaren Nachbarschaft nach Emden und anderen Städten Ostfrieslands. In Emden wurden sie, soweit sie dem reformierten Glauben nahestanden, in die einheimische Reformierte Kirche aufgenommen und lassen sich in den Kirchenratsprotokollen wiederfinden.55 Neben Holländern verzeichnen die Emder Kirchenratsprotokolle und die ab 1567 eingerichteten und nach „nationen“ eingeteilten Fremdendiakonien Groninger, Friesen und Migranten aus Drenthe.56 Beide Gruppen, die Süd- und Nordniederländer müssen nicht unbedingt als Solidargemeinschaft verstanden werden. Viele der flämischen Reformierten der ersten Stunde wurden im Norden mit Misstrauen beobachtet. Lange Zeit standen sie erz, Kaspar u. a. (Hrsg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003, und darin: Gorochowina, Nicole: Grenzen der Konfessionalisierung. Dissidententum und Konfessionelle Indifferenz im Ostfriesland des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 48 – 72. 53 Zur Emder Gemeinde vgl. Pettegree, Andrew: Emden and the Dutch Revolt. Exile and the Development of Reformed Protestantism, Oxford 1992; Becker, Judith: Gemeindeordnung und Kirchenzucht. Johannes à Lascos Kirchenordnung für London (1555) und die reformierte Konfessionsbildung, Leiden 2007; Voß, Klaas-Dieter: „Wie eine Lilie unter Dornen …“. Theologische, historische und genealogische Aspekte der Wanderbewegungen flandrischer Buchdruckerfamilien im 16. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), … doch die Welt nicht Heimat mir? Beiträge zu sechs Jahrhunderten Migrationsgeschichte in Ostfriesland und den benachbarten Niederlanden, Norden 2013, S. 9 – 50. 54 Voß, Wie eine Lilie, S. 32, Anm. 86, 89. 55 Diese Inkorporation in die bestehende Reformierte Gemeinde ist ungewöhnlich im Vergleich zu anderen niederländischen Exulantengemeinden in deutschen Territorien, die sich in der Regel unabhängig von der lokalen Bevölkerung organisierten. Sie ist ein weiteres Indiz für die engen kulturellen Bindungen im Deutsch-Niederländischen Grenzgebiet. 56 Aufgrund des starken Zuwachses an Flüchtlingen organisierte der Emder Kirchenrat die Armenversorgung entlang regionaler Zugehörigkeiten und setzte vier Diakoniegruppen ein. Sie waren jeweils für Flüchtlinge aus Holland, Brabant, Friesland und Groningen zuständig. Vgl. Schilling, Heinz/Schreiber, Klaus-Dieter: Die Emder Kirchenratsprotokolle der reformierten Gemeinde Emden, 1557 – 1620, 2 Bände, Köln/Wien 1989, Bd. 1, S. 278; van Toorenenbergen, Johannes J.: Stukken betreffende de Diaconie der vreemdelingen te Emden 1560 – 1576, Utrecht 1876, S. 14, 17 – 18, 22, 27, 35 – 39, 45 – 47.
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unter dem Verdacht der Radikalität, die auch mit einem Angriff auf die gesellschaftliche Ordnung einherging. Hier waren die kurzlebigen militanten Stadtrepubliken Gent und Antwerpen als warnendes Beispiel in Erinnerung geblieben. Viele dieser Südniederländer tendierten wiederum gerade in die gegenteilige Richtung, nämlich eher zu einem gemäßigten, erasmianischen Protestantismus, mit dem sie in der eingesessenen Emder Kirchengemeinde nicht selten aneckten. Auch die bereits in den 1530er Jahren verstärkt einwandernden Mennoniten und deren Auseinandersetzungen vor allem mit den Reformierten Kirchen fallen unter diese Gruppe der Exulantenkirchen. Auch hier formierte sich in Auseinandersetzung mit theologischen Fragen –Abendmahl und andere Sakramente – eine stärkere Profilbildung gerade der deutsch-reformierten Gemeinde.57 Die weitere Geschichte dieser Migranten nach dem Ende der Reformationszeit liegt noch weitgehend im Dunkeln und soll im Rahmen des „Grenzgänger“-Projektes weiter ausgeleuchtet werden. Dazu gehört auch die Untersuchung der niederländischen Sprache, die bis in das 19. Jahrhundert ein Vehikel der reformierten Glaubensvermittlung und des Schulunterrichts blieb. In welchen Milieus das Niederländische als dominate Sprache weitergeführt wurden, wann und warum sie dann verschwand, wird weitere Auskunft geben über die kulturellen Verpflechtungen zwischen Menschen und Ideen in diesem besonderen Grenzraum. Die Region kann zudem nicht isoliert von der europäischen Politik betrachtet werden. Stand Ostfriesland lange Zeit „im Schatten der Niederlande“, wie Jens Foken es formulierte, wurden die Dominanz der Generalstaaten in den Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Vormacht der Preußischen Regierung ausgetauscht.58 Wie die Grenzbewohner auf diese Politikwechsel reagierten und sich arrangierten, erlaubt weitere Einblicke in die Strategien von lokalen Akteuren im Ungang mit politischem Wandel und wechselnden nationalen Regimen. Die Untersuchungen dieser Palette wichtiger Aspekte der Lebenswelten in der Grenzregion und deren Management im Alltag reagiert damit auf den Appell nach mehr grenzüberschreitender Forschung, wie sie Andrea Strübind bereits seit vielen Jahren einfordert und praktiziert. Es ist zu hoffen, dass die Ergebnisse dieser Studien das wechselseitige Verständnis für das Gemeinsame und das Besondere der niederländischen und deutschen Grenzgesellschaften befördern.
57 Vgl. hierzu beispielsweise Voß, Klaas-Dieter: Das Emder Religionsgespräch von 1578. Zur Genese des gedruckten Protokolls sowie Beobachtungen zum theologischen Profil der flämischen Mennoniten (= Arbeiten zur Theologie- und Kirchengeschichte Bd. 50), Leipzig 2018. 58 Vgl. Foken, Im Schatten der Niederlande.
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Overcoming Barriers An Interdisciplinary Collaboration in a Transatlantic Research Network on the Black Freedom Struggle By Nicole Hirschfelder and Jana Weiß Overcoming barriers in both, a geographical and a scholarly sense was (and arguably remains) one of the main challenges, that we, an interdisciplinary and international group of researchers, set for ourselves when we decided to examine the U.S.American Civil Rights Movement from both sides of the Atlantic. The initial idea to collaborate originated during an inspiring panel discussion on Martin Luther King, Jr. in Hannover in early 2018, sponsored by the Volkswagen Foundation which had invited a cross-disciplinary line of speakers: cultural studies scholar Nicole Hirschfelder, historian Jana Weiß, and one of the few German theologians to work on the Black freedom struggle, Andrea Strübind. Fast forward to the summer of 2022:1 Funded by the German Research Foundation (DFG), we have built a larger network and begun establishing bridges between Germany and the U.S., various disciplines and perspectives as well as different eras, from the Civil Rights Movement until today. The network “Bridging the Black Freedom Struggle: U.S.-American and German Perspectives” brings together fourteen scholars of Theology, History, Political Sciences, American and German Studies to work on the Black freedom struggle from a decidedly transatlantic perspective. We decided to focus on East and West Germany and the U.S., as this not only underscores the significance of that era for German history and culture as well as for the current social and political moment, but also allows us to take a fresh look at this crucial time in history. The aim of our network is twofold: first, to revisit selected aspects of the history and historiography with a focus on the commemorative culture of the Black freedom struggle. In doing so, we conceptualize the work toward Black liberation not just as a (bygone) protest movement but as a larger, on-going social movement at the nexus between history, cultural studies, and theology. Second, to highlight its continuing relevance both in the U.S. and in Europe. Hence, we seek to uncover the historical and current socio-cultural readings of Blackness and whiteness, as the persistence of 1 After organizing a second joint panel at the Katholikentag in Münster 2018, we decided to intensify and enlarge our cooperation with a conference in Oldenburg in 2019 to which we invited several other scholars. This workshop was a great success and resulted in a joint publication of a special issue of the Contemporary Church History (KZG/CCH 33/1) in 2020.
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white supremacy and (unmarked) whiteness necessitates the continuation of the Black freedom struggle to this day. Within our network, we strive for critical (self-)reflection on whiteness and view our diversity regarding gender, race, and class as a contribution to anti-racist, anti-sexist, and less discriminatory academic practice. Overall, the number of scholars who focus on the long Civil Rights Movement through the lens of East, West and unified German history and culture remains rather limited. Thus, our network adds to the predominantly English-speaking discourse, not just in terms of German language skills but mainly in terms of further contributing to the debates that have shaped the (reception of the) Black freedom struggle outside the U.S. and place these within a transatlantic dialogue and context. In doing so, network members assume a double role when ‘bridging’ the gap over the Atlantic, i. e. “as mediators of scholarly discussions and trends on both sides of the ocean”2 and as bearers of their respective country’s perspective without privileging a homogenous narrative. At the same time, scholarship on the U.S.-American Civil Rights Movement has become ever more differentiated over the last 20 years – chronologically, thematically, and geographically. Especially Jacquelyn Dowd Hall’s seminal essay of 2005 has influenced the work across the disciplines calling for the study of the long Civil Rights Movement that started before and went beyond the “classical” Martin Luther King, Jr.-period. In response, Steven F. Lawson rightfully pointed out six years later that the Civil Rights Movement “must be viewed as historically distinct from other aspects of the black freedom struggle that preceded it”.3 Accordingly, while acknowledging different phases, the network conceptualizes the Black freedom struggle in broader and longer terms and in particular focuses on the period ‘after King’. Our interdisciplinary approach thus also includes the Black Power Movement and addresses current issues in relation to the Black community, such as the Black Lives Matter movement. Taking up Dowd Hall’s call to reassess the continuities and changes of the African-American freedom struggle, Stephen Tuck highlights the proliferation of African-American protest during the 1970s and Jeanne Theoharis, in her award winning book A More Beautiful and Terrible History: The Uses and Misuses of Civil Rights History, dismantles the romantic memorialization and whitewashed narrative of the Civil Rights Movement by underscoring its precedents, diversity, and disruptive2 Depkat, Volker: Introduction: American History/ies in Germany. Assessments, Transformations, Perspectives, in: Amerikastudien/American Studies 54/3 (2009), p. 339. 3 Lawson, Steven: The Long Origins of the Short Civil Rights Movement, 1954 – 1968, in: Dittmer, John/McGuire, Danielle L. (eds.), Freedom Rights. New Perspectives on the Civil Rights Movement, Lexington/KY 2011, p. 12. See also Dowd Hall, Jacquelyn: The Long Civil Rights Movement and the Political Uses of the Past, in: The Journal of American History 91/4 (2005), p. 1233 – 1263; Arnesen, Eric: Reconsidering the ‘Long Civil Rights Movement’, in: Historically Speaking 10/2 (2009), p. 31 – 34.
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ness.4 Closely related, numerous scholars such as Dayo F. Gore and Ashley Farmer have analyzed the role of Black women5 and fiction writers have also grappled with the aspects of agency and space that Dowd Hall raised by using different literary forms: Kekla Magoon’s The Rock and the River deals with questions of violence and pacifism in the lives of ‘ordinary’ activists and their families and Jacqueline Woodson in Brown Girl Dreaming employs anecdotes written in verse to reflect on her youth during the Civil Rights Movement.6 Moreover, the “Black Church”, a unique institution, in which an oppressed minority was able to become organized and evolve despite oppression, has also received more nuanced attention. From a theological perspective, Charles Marsh has shown how questions of faith were crucial for Civil Rights activism on both sides of the racial divide.7 In the U.S., the Church assumed a key role as the framework for almost all of the Black community’s activities. Gary Dorrien uncovers the long-neglected tradition of the Black Social Gospel arguing for an acknowledgement of the religious vision that lies behind large parts of the past and the ongoing fight for racial justice.8 In turn, how Christian, Jewish, and Muslim faith traditions dealt with the Civil Rights Movement has been tackled by several authors such as Cheryl Lynn Greenberg who explores the Black-Jewish alliances in 20th century USA.9 Surprisingly, in Germany, this discourse has been only taken up by few theologians. With regard to the field of German Theology and Church History the study of the long Civil Rights Movement can be considered almost an ‘untold story’. As 4 Cf. Tuck, Stephen: “We Are Taking up Where the Movement of the 1960s Left off”. The Proliferation and Power of African-American Protest during the 1970s, in: Journal of Contemporary History 43/4 (2008), p. 637 – 654; Theoharis, Jeanne: A More Beautiful and Terrible History. The Uses and Misuses of Civil Rights History, New York/NY 2018. See also the anthology by McGuire, Danielle L./Dittmer, John (eds.): Freedom Rights. New Perspectives on the Civil Rights Movement, Lexington/KY 2011. 5 Cf. Gore, Dayo F.: Radicalism at the Crossroads. African American Women Activists in the Cold War, New York/NY 2016; Farmer, Ashley: Remaking Black Power. How Black Women Transformed an Era, Chapel Hill/NC 2019. 6 Cf. Magoon, Kekla: The Rock and the River, New York/NY 2009; Woodson, Jacqueline: Brown Girl Dreaming, New York/NY 2014. Furthermore, in 2013, the late speaker at the March on Washington for Jobs and Freedom, John Lewis, co-published the trilogy March, an autobiographical graphic novel on several milestones of the Civil Rights Movement (Lewis, John et al.: March. Vol. 1 – 3, Marietta/GA 2013). 7 Cf. Marsh, Charles: God’s Long Summer. Stories of Faith and Civil Rights, Princeton/NJ 2008. 8 Cf. Dorrien, Gary: The New Abolition: W.E.B. Du Bois and the Black Social Gospel, New Haven/CT 2015; idem, Breaking White Supremacy. Martin Luther King and the Black Social Gospel, New Haven/CT 2018. 9 Cf. Greenberg, Cheryl L.: Troubling the Waters. Black-Jewish Relations in the American Century, Princeton/NJ: Princeton University Press 2010. See also Dollinger, Marc: Black Power, Jewish Politics. Reinventing the Alliance in the 1960s, Waltham/MA 2018; Felber, Garret: Those Who Know Don’t Say. The Nation of Islam, the Black Freedom Movement, and the Carceral State, Chapel Hill/NC 2020.
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mentioned above, Andrea Strübind, together with Michael Haspel and Eske Wollrad, is one of the few theologians dealing with the Black freedom struggle.10 So far, research into contemporary church history predominantly concentrated on the period of the Nazi dictatorship,11 meaning that the Civil Rights Movement has – to this date – not gained a particularly high level of significance. Likewise, the subject of racism is yet to gain any noteworthy attention. The network closes this research gap and looks at the special roots of this Eurocentric perspective in German scholarship, with a particular focus on theology. At the same time, the network enables us to link the comparatively weak theological historiography to the rich(er) record of research by German scholars in the fields of American Studies and History. Recent studies by a younger generation of Germany-based historians as well as literary and cultural studies scholars testify to a lively discourse that has contributed and benefitted from U.S. debates. For instance, in her dissertation Rebecca Brückmann examines white supremacist women active in segregationist grassroots activism in the South from the late 1940s to the late 1960s and Martin Lüthe has recently started his project “Critical Whiteness in Contemporary African American Media Networks”.12 Similarly, the scholarly and activist work of, for example, Peggy Piesche and Natasha A. Kelly has been central to the German and international discourse by devel10 Cf. Strübind, Andrea: Martin Luther King und die “Black Church” als Trägerin der Bürgerrechtsbewegung, in: KZG/CCH 17/2 (2004), p. 500 – 518; ead., Martin Luther King als “Global Icon”? Zur Rezeptionsgeschichte der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und ihrer Erinnerungskultur, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 23 (2018), p. 259 – 278. Haspel conceptualizes churches as agents of social transformation by comparing their role for the opposition in the GDR and the function of Black churches in the CRM (Haspel, Michael: Politischer Protestantismus und gesellschaftliche Transformation. Ein Vergleich der evangelischen Kirchen in der DDR und der schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA, Tübingen 1997). Wollrad highlights the importance of intersectional sensibilities regarding race, gender, and sexuality for constructing a critical feminist theology in the German context (Wollrad, Eske: Wildniserfahrung. Womanistische Herausforderung und eine Antwort aus Weißer feministischer Perspektive, Gütersloh 1999). 11 Cf. Kaiser, Jochen C.: Forschungsaufgaben im Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte nach 1945, in: Mitteillungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 20 (2002), p. 27 – 42; Blaschke, Olaf: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration, in: Theologie Geschichte Beiheft 2 (2010), p. 63 – 88. 12 Brückmann, Rebecca: Massive Resistance and Southern Womanhood. White Women, Class, and Segregationist Resistance, Athens/GA 2021; cf. Lüthe, Martin: Traveling Cultures in the Here. There, and Now of a New Black Atlantic, in: Kelleter, Frank/Starre, Alexander (eds.), Projecting American Studies, Heidelberg 2018, p. 109 – 117. Lüthe is also a member of the African Atlantic Research Group that examines the socio-cultural lives of post-World War II African immigrants to the U.S. (https://www.africanatlantic.org). Their work stands in a longer tradition of German scholarship (see i.a. the works of Waldschmidt-Nelson, Britta: From Protest to Politics. Schwarze Frauen in der Bürgerrechtsbewegung und im Kongress der Vereinigten Staaten, Frankfurt a. M. 1998; ead. et al. [eds.]: Staging a Dream. Untold Stories and Transatlantic Legacies of the March on Washington, Washington/DC 2015 and the works of Manfred Berg; Sabine Broeck; Christa Buschendorf; Eva Boesenberg; see also footnote 24).
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oping and advancing critiques from postcolonial, feminist, and critical whiteness studies.13 Non-academic activist work still tends to be underrepresented in German academic discussions on the Black freedom struggle. Our network highlights the relevance of (local) activists who Tiffany N. Florvil has persuasively called “quotidian intellectuals” in her recent study on (female) Black German activism.14 In addition to exploring the link between research and activism, our network aims to further transnationalize the field by shedding light on the different transnational perspectives on the Black freedom struggle.15 The network is thus situated within the blossoming research field of transnational history that emphasizes mobilities, agencies and its local adaptations.16 In the last decades, scholars have widened their perspective beyond the (U.S.-American) nation state and scholars of African American history were among the first to utilize a transnational approach (long before the term was coined) – initially in particular through works on the Atlantic slave system and since the mid-2000s also with regard to the Civil Rights Movement, laying open “the numerous links between African American activists and the [B]lack Diaspora during a time period that has been called a global rebellion against white supremacy”.17 Analyzing the transatlantic scope of the Black freedom struggle certainly entails a transnational perspective. U.S. scholars tend to only use English language (re)sources which makes it nearly impossible to look beyond national and ethnic borders. Our network’s strength lies in the ‘translation’ of these histories and languages. Hence, as German scholars we cultivate our perspective as outsiders, i. e. as non-American historians of U.S. history, and keep on, as Simon Wendt already called for in 2009, “transnationalizing” the history of race and racism, in this case beyond a mere comparison of U.S. and Germany towards an analysis of relational aspects and exchanges
13 Cf. Arndt, Susan et al. (eds.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2009; Piesche, Peggy (ed.): Euer Schweigen schützt Euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, Berlin 2012; Kelly, Natasha A. (ed.): Sisters & Souls. Inspirationen von May Ayim, Berlin 2015, ead., Afrokultur. ‘der raum zwischen gestern und morgen’, Münster 2018. 14 Cf. Florvil, Tiffany N.: Mobilizing Black Germany. Afro-German Women and the Making of a Transnational Movement, Champaign/IL 2020, p. 6. 15 On the call to transnationalize American Studies cf. the anthology of the DFG network “The Futures of (European) American Studies” (Christ, Birte et al. [eds.]: American Studies/ Shifting Gears, Heidelberg 2010). 16 Cf. Bayly, C. A. et al.: AHR Conversation. On Transnational History, in: The American Historical Review 111/5 (2006), p. 1441 – 1464; Tyrrell, Ian: Reflection on the Transnational Turn in United States History. Theory and Practice, in: Journal of Global History 4/3 (2009), p. 453 – 474. 17 Bungert, Heike/Wendt, Simon: Transnationalizing American Studies. Historians’ Perspectives, in: Christ et al., American Studies, p. 100. See for instance the works by Brion Davis; Rosenberg; Gaines; Slate (ed.); Blain.
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through multi-archival research.18 Given that Germany was not a unified state prior to 1871 and divided in East and West between 1949 and 1990 a better term would probably be ‘transregionalize’, a perspective inspired by post-colonial and migration studies beyond the nation-state for regional and local similarities and differences. Since Paul Gilroy’s groundbreaking 1993 study The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, scholars have turned to what he calls the “rhizomorphic, fractural structure of the transcultural, international formation [of] the Black Atlantic” to analyze transnational communities and identities.19 However, while the presence of Africans in Europe predates that of the first enslaved people in Virginia, Europe presents itself “a colorblind continent in which difference is marked along lines of nationality”, as Fatima El-Tayeb argues “Ethnicized Others are routinely ascribed a position outside the nation, allowing the permanent externalization and thus silencing of a debate on the legacy of racism and colonialism”.20 By building upon the rich literature on the Black Atlantic, our network acknowledges that there is no singular reading of the Black Diaspora. Since we do not want to oversimplify the Black Diaspora, we follow Michelle M. Wright’s concept of “spacetime” that depicts Blackness not as fixed but as constantly evolving, operating “as a construct (implicitly or explicitly defined as a shared set of physical and behavioral characteristics) and as phenomenological (imagined through individual perceptions in various ways depending on the context)”.21 As analytical tools the “Black Atlantic” and “Black Diaspora” must be measured against specific national/regional contexts and their historical circumstances.22 After all, Gilroy’s conceptualization does not quite fit Germany, as Black Germans do not have the collective experience of the Middle Passage in their family history. Accordingly, our network explores the nuances on how the German past – beginning with colonialism up until the recent arrival of refugees and migrants in 2015 – has influenced our understanding and perception of the Black freedom struggle.23 In doing so, our network ties in with the growing scholarship of the last decade that has 18 Cf. Wendt, Simon: Transnational Perspectives on the History of Racism in North America, in: Amerikastudien/American Studies 54/3 (2009), esp. p. 467, 475 – 476. 19 Cf. Gilroy, Paul: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, Cambridge/ MA 1993, p. 4. 20 El-Tayeb, Fatima: European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis/MN 2011, p. 14. See also Clark Hine, Darlene et al. (eds.): Black Europe and the African Diaspora, Champaign/IL 2009. 21 Wright, Michelle M.: The Physics of Blackness. Beyond the Middle Passage Epistemology, Minneapolis/MN 2015, p. 4. 22 On the changing meanings of Blackness in the context of globalization cf. Clarke, Kamari/Thomas, Deborah A. (eds.): Globalization and Race. Transformations in the Cultural Production of Blackness, Durham 2006. 23 Walter Sauer made a similar observation regarding Austria (Sauer, Walter: Reflexion zur afrikanischen Diaspora in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geisteswissenschaften 17/4 [2006], p. 149 – 154).
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focused on Germany’s entanglement with the Black Diaspora from the Middle Ages to colonialism, to the National Socialist regime, to occupation as well as to modernday West and East Germany.24 Linguistic, institutional, and cultural factors shape scholarly writing.25 In particular, Germany’s record of colonialism and fascism has transformed and continues to shape our understanding and perspective of race and racism. Above all, both, the translation of the term ‘race’ and its historical and cultural associations are highly disputed, which complicates, and in some cases even inhibits conversations about the topic. Manfred Berg, Pail Schor, and Isabel Soto argue that because of the “insoluble association with Nazi ideology, the very idea of race appears too contaminated for a semantic resurrection” emphasizing that its “German” biological connota24 Beginning in the 12th century, Africans crossed the Mediterranean (cf. Honeck, Mischa et al. [eds.]: Blacks and Germans, German Blacks. Germany and the Black Diaspora, 1250 – 1914, New York/NY 2016). On colonial encounters cf. Friedrichsmeyer, Sara et al. (eds.): The Imperialist Imagination: German Colonialism and Its Legacy, Ann Arbor/MI 1998; BechhausGerst, Marianne/Klein-Arendt, Reinhard: AfrikanerInnen in Deutschland und schwarze Deutsche. Geschichte und Gegenwart, Münster 2004; Paul, Heike: Kulturkontakt und Racial Presences. Afro-Amerikaner und die deutsche Amerika-Literatur, 1815 – 1914, Heidelberg 2005; on the NS-regime cf. Scheck, Raffael: Hitler’s African Victims. The German Army Massacres of 1940, New York/NY 2006; Diedrich, Maria: Black ‘Others’? African-Americans and Black Germans in the Third Reich, in: Lennox, Sara (ed.), Remapping Black Germany, Amherst/MA 2016, p. 135 – 148; on occupation cf. Schroer, Timothy: Recasting Race after World War II. Germans and African-Americans in American-Occupied Germany, Boulder/CO 2007; Höhn, Maria/Klimke, Martin: A Breath of Freedom: The Civil Rights Struggle, AfricanAmerican GIs, and Germany, New York/NY 2010; on West Germany cf. Ege, Moritz: Schwarz werden. “Afro-Amerikanophilie” in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld 2007; Ortlepp, Anke/Greene, Larry (eds.): Germans and African-Americans. Two Centuries of Exchange, Jackson/MS 2011; Waldschmidt-Nelson, Britta: “We Shall Overcome”. The Impact of the African American Freedom Struggle on Race Relations and Social Protest in Germany after World War II, in: Kosc, Grzegorz et al. (eds.), The Transatlantic Sixties. Europe and the United States in the Counterculture Decade, Bielefeld 2013, p. 66 – 97; Kraft, Marion: Kinder der Befreiung. Transatlantische Erfahrungen und Perspektiven Schwarzer Deutscher der Nachkriegsgeneration, Münster 2015; Broeck, Sabine: Internationalizing African-American Studies, too: White (West-) German Responses to the Civil Rights Movement, in: Desmond, Jane/Dominguez, Virginia (eds.), Global Perspectives on the United States. Pro-Americanism, Anti-Americanism, and the Discourses Between, Champaign/IL 2017, p. 31 – 45; Gerund, Katharina: Transatlantic Cultural Exchange: African-American Women’s Art and Activism in West Germany, Bielefeld 2013; on East Germany cf. Hagen, Katharina M.: Ambivalence and Desire in the East German “Free Angela Davis” Campaign, in: Slobodian, Quinn (ed.), Comrades of Color. East Germany in the Cold War World, New York/NY 2015, p. 157 – 187; Schubert, Maria: We Shall Overcome. Die DDR und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, Paderborn 2018; Lorenz, Sophie: „Schwarze Schwester Angela” – Die DDR und Angela Davis. Kalter Krieg, Rassismus und Black Power 1965 – 1975, Münster 2020. 25 Location has made significant differences to patterns of U.S. historical writing outside of the U.S. Cf. Meyer, Sabine: Transcending Intellectual Nationalism. Teaching U.S. History in German Universities, in: The Journal of American History 96/4 (2010), p. 1094 – 1099 and Barreyre, Nicolas et al. (eds.): Historians Across Borders. Writing American History in a Global Age, Oakland/CA 2014.
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tion does not correspond with the cultural-social meaning in the U.S.26 In contrast, Maria Alexopoulou provokingly calls this a “conscious act of ignorance” benefitting “those defining the discourses”.27 In German academia, People of Color have been the objects, but rarely the subjects of research. Those of us in the network who are white and German-born, are aware of their position and thus seek to maintain critical (self-)reflection concerning (different kinds of) diversity as a crucial on-going process within our collaboration. We strive to be both attentive to and acknowledge white hegemony of Western academia, i. e. reflect on racialized hierarchies, practices, privileges, and power dynamics, and attempt to (further) ‘decolonize’ academic practice through the inclusion of various voices as much as possible.28 As Tiffany N. Florvil and Vanessa Plumly have emphasized in their 2018 anthology Rethinking Black German Studies, we should look beyond the “ivory tower, itself a colonizing concept.”29 Hence, we will also share our research with the general public in the hope to overcome yet another barrier. 26
Berg, Manfred et al.: The Weight of Words. Writing about Race in the United States and Europe, in: The American Historical Review 119/3 (2014), p. 807. Please note that ‘race’ also carries different meanings and connotations in other countries such as Britain, France, and Spain (cf. Barreyre, Nicolas et al.: Straddling Intellectual Worlds. Positionality and the Writing of American History, in: idem et al. [eds.], Historians, p. 84 – 86). 27 Alexopoulou, Maria: ‘Ausländer’ – a Racialized Concept? ‘Race’ as an Analytical Concept in Contemporary German Immigration History, in: Arghavan, Mahmoud et al. (eds.), Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany, Bielefeld 2019, p. 46 – 47. Furthermore, recent discussions on eliminating the German word “Rasse” from Germany’s Basic Constitutional Law and activists’ efforts to visualize the presence of Black Germans statistically through the Afrozensus demonstrate the high relevance of discussions on race and racism in Germany (cf. Köhler, Michael: Hendrik Cramer vs. Uwe Volkmann: “Rasse” raus? Eine Grundgesetz-Debatte, in: Deutschlandfunk [06/20/2020], https://www.deutschlandfunk.de/hendrik-cremer-vsuwe-volkmann-rasse-raus-eine-grundgesetz.2927.de.html?dram:article_id=478960 [last accessed 06/18/2020]; https://afrozensus.de [last accessed 06/18/2020]). 28 This decolonizing process to diversify the academic field is to be understood in relation to the canon of primary sources as well as to dismantle the “Eurocentric epistemic canon” (Mbembe, Achille: Decolonizing Knowledge and the Question of the Archive [2015], https:// wiser.wits.ac.za/system/files/Achille%20Mbembe%20-%20Decolonizing%20Knowledge% 20and%20the%20Question%20of%20the%20Archive.pdf [last accessed 09/07/2022], p. 9). On the university as a structurally, culturally, and epistemologically “white space” cf. Anderson, Benedict: The White Space, in: Sociology of Race and Ethnicity 1/1 (2015), p. 10 – 21; with regard to Germany cf. Arghavan, Mahmoud et al. (eds.): Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany, Bielefeld 2019. 29 Florvil, Tiffany N./Plumly, Vanessa D. (eds.): Rethinking Black German Studies. Approaches, Interventions and Histories, Bern 2018, p. 4. Their anthology is a long overdue update of the 1991 landmark volume by Ayim, May et al. (eds.): Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1991. See also Nghi Ha, Kein et al. (eds.): Re/visionen: Postkoloniale Perspektiven von People of Color of Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007; Aitken, Robbie/Rosenhaft, Eve: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1890 – 1960, Cambridge 2013.
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The title of our network, “Bridging the Black Freedom Struggle” thus not merely refers to multiple aspects of our transatlantic research interest, but also extends beyond academia as we strive to connect theory and history with practice, today, and the future. In the end, it is our hope that the network will testify to an “Entgrenzung” in academia, between Black and white scholars across the Transatlantic that leads to new perspectives on supposedly already well-known research areas as well as finding new relationships and entanglements. References Aitken, Robbie/Rosenhaft, Eve: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1890 – 1960, Cambridge 2013. Alexopoulou, Maria: ‘Ausländer’ – a Racialized Concept? ‘Race’ as an Analytical Concept in Contemporary German Immigration History, in: Arghavan, Mahmoud et al. (eds.), Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany, Bielefeld 2019, p. 45 – 67. Anderson, Benedict: The White Space, in: Sociology of Race and Ethnicity 1/1 (2015), p. 10 – 21. Arghavan, Mahmoud et al. (eds.): Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany, Bielefeld 2019. Arndt, Susan et al. (eds.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2009. Arnesen, Eric: Reconsidering the ‘Long Civil Rights Movement’, in: Historically Speaking 10/ 2 (2009), p. 31 – 34. Ayim, May et al. (eds.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1991. Barreyre, Nicolas et al. (eds.): Historians Across Borders. Writing American History in a Global Age, Oakland/CA 2014. Barreyre, Nicolas et al.: Straddling Intellectual Worlds. Positionality and the Writing of American History, in: idem et al. (eds.), Historians, p. 75 – 94. Bayly, C. A. et al.: AHR Conversation. On Transnational History, in: The American Historical Review 111/5 (2006), p. 1441 – 1464. Bechhaus-Gerst, Marianne/Klein-Arendt, Reinhard: AfrikanerInnen in Deutschland und schwarze Deutsche. Geschichte und Gegenwart, Münster 2004. Berg, Manfred: Lynchjustiz in den USA, Hamburg 2014. Berg, Manfred et al.: The Weight of Words. Writing about Race in the United States and Europe, in: The American Historical Review 119/3 (2014), p. 800 – 808. Blain, Keisha: Set the World on Fire. Black Nationalist Women and the Global Struggle for Freedom, Philadelphia/PA 2018. Blaschke, Olaf: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration, in: Theologie Geschichte Beiheft 2 (2010), p. 63 – 88.
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Boesenberg, Eva: Censoring the Body. Rape and Voice in Alice Walker’s The Color Purple, in: Hornung, Alfred/Doerries, Reinhard R./Hoffmann, Gerhard (eds.), Democracy and the Arts in the United States, München 1996, p. 301 – 309. Brion Davis, David: Looking at Slavery from Broader Perspectives, in: American Historical Review 105/2 (2000), p. 452 – 466. Broeck, Sabine: Internationalizing African-American Studies, too: White (West-) German Responses to the Civil Rights Movement, in: Desmond, Jane/Dominguez, Virginia (eds.), Global Perspectives on the United States. Pro-Americanism, Anti-Americanism, and the Discourses Between, Champaign/IL 2017, p. 31 – 45. Brückmann, Rebecca: Massive Resistance and Southern Womanhood. White Women, Class, and Segregationist Resistance, Athens/GA 2021. Bungert, Heike/Wendt, Simon: Transnationalizing American Studies. Historians’ Perspectives, in: Christ et al., American Studies, p. 89 – 116. Buschendorf, Christa: Power Relations in Black Lives. Reading African American Literature and Culture with Bourdieu and Elias, Münster 2017. Christ, Birte et al. (eds.): American Studies/Shifting Gears, Heidelberg 2010. Clark Hine, Darlene et al. (eds.): Black Europe and the African Diaspora, Champaign/IL 2009. Clarke, Kamari/Thomas, Deborah A. (eds.): Globalization and Race. Transformations in the Cultural Production of Blackness, Durham 2006. Depkat, Volker: Introduction: American History/ies in Germany. Assessments, Transformations, Perspectives, in: Amerikastudien/American Studies 54/3 (2009), p. 337 – 343. Diedrich, Maria: Black ‘Others’? African-Americans and Black Germans in the Third Reich, in: Lennox, Sara (ed.), Remapping Black Germany, Amherst/MA 2016, p. 135 – 148. Dollinger, Marc: Black Power, Jewish Politics. Reinventing the Alliance in the 1960s, Waltham/ MA 2018. Dorrien, Gary: The New Abolition. W.E.B. Du Bois and the Black Social Gospel, New Haven/ CT 2015. Dorrien, Gary: Breaking White Supremacy. Martin Luther King and the Black Social Gospel, New Haven/CT 2018. Dowd Hall, Jacquelyn: The Long Civil Rights Movement and the Political Uses of the Past, in: The Journal of American History 91/4 (2005), p. 1233 – 1263. Ege, Moritz: Schwarz werden. “Afro-Amerikanophilie” in den 1960er und 1970er Jahren, Bielefeld 2007. El-Tayeb, Fatima: European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe, Minneapolis/ MN 2011. Farmer, Ashley: Remaking Black Power. How Black Women Transformed an Era, Chapel Hill/ NC 2019. Felber, Garret: Those Who Know Don’t Say. The Nation of Islam, the Black Freedom Movement, and the Carceral State, Chapel Hill/NC 2020.
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Essays
Politische und religiöse Impulse für das Einheitsstreben wie für Trennungsbewegungen innerhalb des Christentums – von Konstantin bis zur Russisch-Orthodoxen Kirche der Gegenwart Von Gerhard Besier I. Im Spannungsverhältnis von Vielfalt und Einheit: Christentum und Politik in den ersten drei Jahrhunderten Die Anfänge des Christentums deuten – in mehrfacher Hinsicht – gar nicht daraufhin, dass eine neue, einheitliche Weltreligion im Entstehen begriffen war. Denn nicht etwa in Rom oder einer anderen größeren Stadt bildeten sich die ersten Gemeinden, sondern in einigen kleinen Dörfchen im nördlichen Palästina. Die einzige Ausnahme war Jerusalem – aus römischer Perspektive allerdings auch nur eine Provinzhauptstadt an der Peripherie des Römischen Reiches. In den ersten Jahren bildete Jerusalem den ideellen und geographischen Mittelpunkt der jungen Gemeinschaft, denn hier erwarteten Jesu Anhänger dessen baldige Wiederkunft. Es war Paulus, der von hier aus das jüdisch bestimmte Christentum in die ganze bewohnte „heidnische“ Welt trug. In einer Art Umkehrbewegung sammelte er in seinen Missionsgemeinden Gelder für die Armen in der Jerusalemer Urgemeinde. Erst nach den jüdischen Aufständen von 70 und 132 – 135 n. Chr. und der Zerstörung Jerusalems verlor die Stadt ihre ideelle Bedeutung für die Christenheit. Als eine Folge dieser Entwicklung stiegen nun die römischen Metropolen Antiochia, Rom und Alexandria zu den neuen Zentren des Christentums auf. Daneben spielten auch Gemeinden wie Ephesus und Smyrna eine Rolle, die Paulus von Tarsus auf seinen drei Missionsreisen gegründet hatte. Letztlich war es der „Heidenapostel“ Paulus, der ganz bewusst die zunächst dörflich beheimatete religiöse Bewegung in die große weite Welt trug. Mit ihrem Siegeszug in den römischen Metropolen wandelte sich auch die Gestalt dieser Religion – soziologisch wie kulturell. Sie erfasste – im Vergleich zu ihrem ländlichen Ursprung – nun breitere soziale Schichten und profitierte von dem Bildungsniveau und den kulturellen Einrichtungen der römischen Städte. Vor diesem Hintergrund konnten Spannungen und Streitigkeiten mit den judenchristlichen Gemeinden in Palästina nicht ausbleiben. Insofern lag in den paulinischen Missionsaktivitäten bereits ein früher Spaltpilz. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob man nur Christ werden könne, wenn man zuvor Jude – als Mann beschnitten – war oder ob es auch ohne Beschneidung einen direkten Weg zu Christus gebe. Im Falle einer Bejahung der jüdischen Voraussetzung wäre das Christentum
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nicht über den Status einer jüdischen Sekte hinausgekommen. Die judenchristliche Position in diesem Konflikt vertraten Petrus, der leseunkundige Jesusjünger und Menschenfischer, und Jakobus, der Bruder Jesu. Beide standen der Jerusalemer Urgemeinde vor. Die ersten judenchristlichen Gemeinden hielten sich noch stark an die jüdischen Riten; sie missionierten nur unter Juden, pflegten das Abendmahl nur mit Gleichgesinnten, hielten die Speisevorschriften der Thora ein und pochten – als Voraussetzung für die Taufe – auf eine Beschneidung der männlichen Konvertiten. Eigentlich verstanden sie die Jesus-Religion als eine Reformbewegung innerhalb des Judentums. Auf der anderen Seite stand Paulus, ein hochgebildeter römischer Bürger jüdischer Herkunft, der – obwohl er Jesus zu Lebzeiten nicht begegnet war – den Anspruch erhob, in einer Begegnung mit dem erhöhten Jesus in Damaskus persönlich bekehrt worden zu sein. In diesem Konflikt zwischen aramäisch geprägten Judenchristen und den griechisch sprechenden, hellenistisch geprägten „Heidenchristen“ lag ein Zwiespalt zwischen dem „Geist“ der neuen Religion und der althergebrachten Tradition, den manche Wissenschaftler als die zwei Seiten des Christentums interpretieren – eine Wegscheide, auf die man zahlreiche spätere Abspaltungen, nicht zuletzt die Reformation, zurückführen könne. Aber im Jahr 48/49 n. Chr., bei einer Art Gipfeltreffen in Jerusalem, gelang Paulus noch einmal ein Kompromiss, der die Spaltung verhinderte. Nach der Darstellung des Paulus habe er die Traditionalisten mit dem Argument überzeugen können, nicht die Umsetzung des jüdischen Gesetzes mache die Christen gerecht, sondern der Glaube an die frohe Botschaft von Jesus Christus – das Gebot der Liebe. „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2Kor 3,6). Der Kompromiss bestand darin, dass die Judenchristen ihren Thoraglauben beibehielten, die Heidenchristen in ihrem christlichen Glauben ohne Umweg über das Judentum anerkannt wurden und der jüdisch geprägten Urgemeinde Kollekten zukommen ließen. Jakobus, der die Führung der Urgemeinde von Petrus, der nun seinerseits ausgedehnte Missionsreisen unternahm, übernommen hatte, fasste den theologischen Kompromiss dahin zusammen, dass man die Heiden, die sich zu Gott bekehrt hätten, nicht beschweren solle (vgl. Apg 15,1 – 35). Da die heidenchristlichen Gemeinden schneller wuchsen als die jüdischen Urgemeinden, entfernte sich das Christentum immer stärker von seinen jüdischen Wurzeln. Allerdings flammte der Konflikt zwischen jüdischen und hellenistischen Strömungen immer wieder auf. Ende des 2. Jahrhunderts bestimmten beispielsweise in Antiochia, der drittgrößten Stadt des Römischen Reiches, die gebildeten Stadtchristen das Bild der Christiani (Apg 11,26), wie sie damals genannt wurden. Ihr Bischof Theophilus betonte seine klassische Bildung und erwies dem Kaiser die Ehre, indem er für ihn betete. Jedenfalls zeigen die Anfänge des Christentums, dass nebeneinander unterschiedliche Auslegungen des Christusbekenntnisses bestanden und dass die christliche Mission in diesen Wettbewerb einbezogen war. Dabei scheint Petrus, auf den,
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Mt 16,18 zufolge, Jesus Christus seine Gemeinde bauen wollte, eine eher regionale Bedeutung besessen zu haben. Keinesfalls erscheint er in der Überlieferung als das unbestrittene Oberhaupt des Christentums, als das ihn das Papsttum verstehen will. In dem frühen „Laboratorium des Christentums“1 suchte man zu begreifen, was durch Jesus Christus neu in die Welt getreten war und wie diese Person eigentlich zu verstehen sei. Erst spätere dogmatische Klärungsprozesse führten dann in heftigen Auseinandersetzungen zur Verurteilung einiger Interpretationen dessen, was im frühen Christentum noch als tolerable Variante erschien. Um ihre Sicht der Dinge durchzusetzen, verfolgten die führenden Persönlichkeiten der christlichen Gemeinden unterschiedliche Legitimationsstrategien. Zunächst einmal verlieh die Zugehörigkeit zu dem von Jesus wahrscheinlich selbst konstituierten Zwölferkreis eine hohe Autorität, dem sich die Leitungskollegien – die Presbyter – kaum entziehen konnte. Aber bereits Paulus, der dieses Privileg nicht besaß, konnte sich mit seinem Anspruch, von Jesus Christus selbst berufener Apostel zu sein, durchsetzen. Ein anderer Gesichtspunkt, der anscheinend eine wichtige Rolle spielte, war das Verwandtschaftsverhältnis zu Jesus, wie das Beispiel des Herrenbruders Jakobus zeigt. In der Auseinandersetzung um eine einheitliche Glaubenslinie und in Abgrenzung gegen andere entwickelte sich dann im syrisch-kleinasiatischen Raum das Bischofsamt. Ignatius von Antiochien (gest. 108 n. Chr.) gehörte zu den frühen Vertretern dieses Typus, der die Einheit des Glaubens gewährleisten sollte. Um diese Bischöfe zu legitimieren, bediente man sich der Konstruktion der Amtsübertragung – derart, dass sich der Bischof als letztes Glied auf eine Kette von Amtsträgern berufen konnte, die einen apostolischen Ursprung besaß. Vor allem im überhitzten Schmelztiegel der Metropole, aber auch anderswo konnten sich einseitige Lehrbildungen entwickeln, die den heterogenen Bestand der christlichen Überlieferung im Sinne einer klaren Linie reinigen wollten. Zu den auffälligsten Persönlichkeiten gehörte Markion (gest. ca. 160 n. Chr.) – ein wohlhabender Händler, der die Überzeugung vertrat, dass die Schriften des Alten Testaments mit der christlichen Heilsbotschaft unvereinbar seien. So sei der Schöpfergott der Genesis allenfalls ein Handlanger des Himmlischen Vaters der Evangelien; Jesus habe lediglich Menschengestalt angenommen, sei aber nicht fleischlich geboren, gestorben und auferstanden. Auf der Grundlage des Lukasevangeliums und einigen, von „judaisierenden“ Tendenzen gereinigten Paulusbriefen machte er sich daran, seine eigene Theologie festzuschreiben. 144 n Chr. brach die Kirche mit ihm. Aber Markions Überzeugungen sensibilisierten die entstehende Kirche für notwendige Klärungsprozesse. Ferner beschleunigte er mit seinen Bestrebungen den Kanonisierungsprozess des Neuen Testaments, der Ende des 2. Jahrhunderts abgeschlossen war. Eine andere innerkirchliche Reformbewegung, der Montanismus, der in den 50er oder 70er Jahren des 2. Jahrhunderts entstand, trug ebenfalls zur Beschleunigung des 1 Markschies, Christoph: Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, 3. Auflage, München 2016, S. 13 – 51.
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Verkirchlichungsprozesses bei. In Phrygien, der am stärksten christianisierten Provinz Kleinasiens, trat ein Prophet namens Montanus auf, der seine Anhänger lehrte, dass Christus noch vor ihrem Tod wiederkehren und das irdische Weltreich errichten werde. Die Prophetinnen Prisca und Maximilla verkündeten, dass Montanus der in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums verheißene „Tröster“ sei. Mit Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit sollten sich die Gläubigen auf das unmittelbar bevorstehende dritte Zeitalter vorbereiten. Der Enthusiasmus dieser Bewegung, „ein letztes Aufflackern der urchristlichen Ekstase“2, musste mit dem Ausbleiben der Naherwartung in sich zusammenfallen. Die zunehmend als Institution auftretende Kirche trat dieser überregionalen, als häretisch begriffenen Bewegung in Gestalt von Bischofsynoden entgegen, die Exkommunikationen vollzogen. Manche Kirchenhistoriker sehen in diesem Prozess einen „gewaltigen Sprung im Bewusstsein der Einheit“3. Mitte des 3. Jahrhunderts kam es unter Kaiser Decius (249 – 251) zu den bis dahin schwersten Wellen der Christenverfolgung. Unter dem Druck des Staates, als Loyalitätsbeweis den römischen Göttern zu opfern, lenkten Hunderte, vielleicht Tausende ein, um an die entsprechende Bescheinigung zu kommen. Damit begingen sie eine Todsünde. Wiederum fiel den Bischöfen die schwere Entscheidung zu, was mit den Sündern geschehen sollte. In Rom und Karthago wurde exemplarisch entschieden, dass der Abfall vom rechten Glauben eine schwere Sünde sei und der harten Buße bedürfe. Allerdings sollte den Abgefallenen in Todesgefahr die Möglichkeit der Rekonziliation eingeräumt werden. Damit, dass die Bischöfe sich anschickten, zwischen Sünder und Gott zu vermitteln, wuchs ihr Amt nicht nur zur religiösen Instanz empor. Mit ihrer Entscheidung, im Angesicht des Todes den Sünder wieder in ihrer Mitte aufzunehmen, bereiteten die Bischöfe mit ihrem Kompromiss auch den Weg hin zur Volkskirche. Dadurch lösten sie Abspaltungen auf Seiten jener aus, die keine Abmilderung unvergebbarer Sünden dulden wollten und – wie Novatian in Rom – eine „Kirche der Reinen“ begründeten. Innerhalb der Kirche blieb die Frage kontrovers, ob ein Ketzer erneut getauft werden müsse oder ob es genüge, ihm die Hand aufzulegen. Die letztgenannte Position vertrat Stephan I. (254 – 257), der Bischof von Rom. Cyprian, der Bischof von Karthago (gest. 258) hielt dagegen an der Wiedertaufe fest. Stephans Position sollte sich später in der katholischen Kirche durchsetzen. In der Kontroverse hat er sich vielleicht als erster darauf berufen, dass er das Petrus-Amt innehabe. Aber zu seiner Zeit reichte das Traditionsargument für eine Entscheidung zu seinen Gunsten noch nicht aus, so dass beide Verfahren – die römische wie die afrikanische – nebeneinander gehandhabt wurden.
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Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen, 10. Auflage, Göttingen 2011, S. 51. 3 Leppin, Volker: Geschichte der christlichen Kirchen. Von den Aposteln bis heute, München 2010, S. 18.
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Noch blieb die Frage strittig, ob dem Bischof von Rom ein besonderes Gewicht zukommen sollte. Irenäus von Lyon (gest. um 200) vertrat unter Hinweis auf die gewichtige „Ursprungsautorität“ der Apostel Petrus und Paulus die Auffassung, dass Rom ein singulärer Hort der Rechtgläubigkeit sei. Cyprian von Karthago dagegen sah die Gesamtheit der Bischöfe in der legitimen Nachfolge des petrinischen „Felsenamts“, nicht allein den Bischof von Rom. Er sprach förmlich von der „Lehre der Kirche“ und war der Überzeugung, dass außerhalb dieser Kirche kein Heil sei. Allerdings bildeten sich in den meisten Provinzen kirchliche Vororte heraus, so genannte Patriarchate, was der Hierarchisierung innerhalb der kirchlichen Amtsträger einen gewissen Vorschub leistete. Jedenfalls bildete sich im 3. Jahrhundert eine straffe Organisation mit klaren Zuständigkeiten heraus, die der Kirche ihre institutionelle Gestalt gab. Auch wenn die Bischöfe dieser Zeit noch prinzipiell gleichgeordnet waren und es noch keine zentrale Organisation und kein einziges kirchliches Oberhaupt gab, kann man doch sagen, dass im 3. Jahrhundert Vorentscheidungen getroffen worden waren, die Rom einen gewissen Vorrang einräumten. Nicht nur, dass Rom das kulturelle, politische und wirtschaftliche Zentrum des Reichs bildete. Seit dem 2. Jahrhundert hatte auch die christliche Gemeinde der Stadt mit der Pflege eines Rom-Mythos begonnen, der im Wesentlichen darauf fußte, dass die beiden größten Apostel der Kirche – Petrus und Paulus – hier gelebt hatten und als Märtyrer gestorben waren. II. Die Politik Roms auf dem Weg zur einheitlichen Reichskirche An der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert hatte die christliche Kirche eine solche Festigkeit erreicht, dass die staatlichen Maßnahmen gegen diese Religion – im Vergleich zum Aufwand der Verfolgungen – keinen nennenswerten Erfolg brachten. Dieser Einsicht folgend, erließ der zuständige Senior des Kaiserkollegiums, Galerius (305 – 311), am 30. April 311 ein Toleranzedikt, das den Christen die Ausübung ihrer Religion gestattete. 313 vereinbarten der neue Herrscher des Ostens, Licinius, und Konstantin (306 – 337) in Mailand uneingeschränkte Religionsfreiheit auch für Christen. Einschränkende Gesetze wurden aufgehoben und konfiszierter Besitz zurückerstattet. 318 erkannte Konstantin die bischöfliche Gerichtsbarkeit neben der staatlichen an, 321 regelte er gesetzlich die Einhaltung des Sonntags. 326 verbot er schließlich häretischen kirchlichen Gruppen ihre Zusammenkünfte und beschlagnahmte die dazu genutzten Häuser. Sein Sohn Konstantius II. (327 – 360) ging in seiner Religionspolitik deutlich weiter, indem er bei Strafe die heidnischen Opfer untersagte und die paganen Tempel schließen ließ. Theodosius I. (379 – 394) schließlich erklärte im Februar 380 das Christentum in einer bestimmten theologischen Ausprägung zur Staatsreligion und Andersgläubige für Ketzer, deren Versammlungsstätten nicht als Kirchen bezeichnet werden dürften. Trotz dieser tiefgreifenden rechtlichen Veränderungen in der Stellung des Christentums gab es zahlreiche Kontinuitäten in der Kirchenordnung, der Hierarchie, der
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Gestalt der Liturgie, der Theologie und Ethik, die eine strikte Zweiteilung des antiken Christentums in eine vor- und eine nachkonstantinische Kirche kaum rechtfertigen. Schließlich ist auch zu betonen, dass der neue juristische Status der Kirche nicht mit einem „Sieg“ des Christentums über die paganen Religionen gleichgesetzt werden kann. Vielmehr leistete die pagane Beamtenschaft bei der Umsetzung der neuen Rechtslage passiven Widerstand, und vielerorts gingen auch Kaiser Kompromisse ein, weil sie sich um die Steuermoral der Bürger sorgten. Endlich bleibt festzuhalten, dass die Motive der römischen Herrscher für die gewährte Religionsfreiheit vor allem in machtpolitischem Kalkül zu suchen waren – auch und gerade dann, wenn es um theologische Fragen ging. Konstantin suchte im Zuge der Neuordnung des Reiches die starke organisatorische Kraft des Christentums seinen Plänen nutzbar zu machen. Dazu benötigte er eine einheitliche, nicht eine durch innerkirchliche Streitigkeiten und äußere Bedrängnis gefährdete Kirche. Als Ergebnis der Verfolgungen unter Kaiser Diokletian (284 – 305) hatte sich – vergleichbar den Novatianern des 3. Jahrhunderts – in Nordafrika mit den Donatisten eine Gegenkirche gebildet, als deren Maßstab das unbedingte Festhalten am reinen Glauben auch in Zeiten der Verfolgung galt. In diesem „donatistischen“ Streit nahm Konstantin im Jahr 313 massiv Partei für die althergebrachte Kirche und ging später sogar gegen die Ketzer militärisch vor. Auch in einen anderen erbitterten theologischen Streit griff Konstantin ein, weil er der Auffassung war, dass der Vorfall die mühsam errungene Einheit des Reiches gefährden könnte. Der alexandrinische Presbyter Arius (gest. 336) hatte die Überzeugung vertreten, Jesus Christus sei nicht als Gottheit anzusehen, sondern als Geschöpf. Um die Einheit und den Frieden in der Kirche wiederherzustellen, berief der Kaiser im Juni 325 ein Reichskonzil nach Nizäa ein, das als Erstes Ökumenisches Konzil der Kirche gilt. Im Ergebnis dieses Konzils wurde ein Glaubensbekenntnis formuliert, das die Göttlichkeit Jesu Christi unterstrich und damit Arius’ Position eine klare Absage erteilte. Bald darauf brachen zwar wieder theologische Streitigkeiten aus. Aber der Kaiser feierte mit den Bischöfen das Nizänum als Krönung seines zwanzigjährigen Regierungsjubiläums. Im Zweiten Ökumenischen Konzil in Konstantinopel 381 wurde das Nizänum insofern fortgeschrieben als auch der Heilige Geist als die Gestalt bezeichnet wurde, in der Gott bei den Gläubigen immer wieder neu präsent wird. Dieses nunmehr trinitarische Dogma definierte Gott als ein Wesen mit drei Personen, die sich durch bestimmte Eigentümlichkeiten, besondere Merkmale und eine je eigene Existenzweise voneinander unterschieden. Damit war eingelöst, was Kaiser Theodosius I. (379 – 395) im Jahr zuvor in einem Edikt an „alle Völker“ des Reiches erklärt hatte – dass das Christentum in der dogmatischen Form gelten sollte, die die Bischöfe von Rom und Alexandrien, Damaskus und Petrus, festgelegt hätten. Einige Kirchenhistoriker sehen darin den Beginn einer „Staatsreligion“4, andere sagen, dass das 4
Z. B. Moeller, Geschichte des Christentums, S. 82.
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Edikt vom 28. Februar 380 nur an die Bevölkerung der Residenz Konstantinopel gerichtet und nicht gleichbedeutend mit der Etablierung einer reichsweiten Staatskirche gewesen sei (z. B. Volker Leppin). Überdies zeichnete sich trotz der Einigung schon in Konstantinopel ein Auseinanderfallen der Kirche entlang der Reichsteile und Sprachgrenzen in den griechischen Osten und den lateinischen Westen ab. Jedenfalls orientierte sich die christliche Kirche bei ihrer Strukturbildung in vielfacher Hinsicht an den Provinzen des römischen Staates. Das galt vor allem auch für die Metropolitanstruktur und die besondere Bedeutung der Bischofssitze von Rom, Alexandria und Antiochien. Neben diesen spielten am Ende der Alten Kirche auch die Patriarchate von Konstantinopel (seit 381) und Jerusalem (seit 451) eine besondere Rolle. Besonders im Osten konkurrierten die Patriarchate miteinander und kämpften um Einfluss. Trotz ihrer nunmehr privilegierten Stellung im Reich war die christliche Kirche im späten 3. und frühen 4. Jahrhundert keineswegs unangefochten. Unter den nichtchristlichen Bewegungen der Zeit ragten der Neuplatonismus und Manichäismus hervor, die mit ihrer dualistischen Gesamtanschauung der Welt viele Menschen ansprachen, überzeugten und deren Sehnsucht, zum Einen zu gelangen, zu stillen vermochten. Der wohl aus Ägypten stammende Plotin (gest. 270 n. Chr.) lehrte auf der Grundlage der enorm einflussreichen Tradition des griechischen Philosophen Platon (427 – 347 v. Chr.) und dessen Schüler Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) den konsequenten Aufstieg der Seele zur Schau des „Einen“, in dem die Inbegriffe des Guten, Richtigen und Weisen zusammenträfen. Dieser bei aller logischen Strenge bis ins Meditative überhöhte „Neuplatonismus“ faszinierte nicht nur seine zeitgenössischen Anhänger, sondern wirkte sich auch auf die christliche Lehre und Bibeldeutung aus, die ihn so mittelbar rezipierte. Spuren dieser neuplatonischen Tradition sind im christlichen Denken bis in die Renaissance und darüber hinaus nachweisbar. Eine das Christentum ernstlich herausfordernde, ebenfalls neue Religion war der in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts in Persien entstandene Manichäismus. Seit der Wende zum 4. Jahrhundert trat diese auf den Propheten Mani (gest. 277) zurückgehende Religion einen Siegeszug durch das Römische Reich an, denn sie traf anscheinend das Lebensgefühl der Menschen. Beim Manichäismus handelt es sich um ein komplexes Erlösungssystem, das christliche, zoroastrische und buddhistische Elemente miteinander verband und vom kosmischen Kampf zwischen Licht und Finsternis von Ewigkeit her erzählte. Der Mensch gehört sowohl zur Licht- als auch zur Finsternis-Welt. Wenn es ihm gelingt, die Licht-Anteile in sich zu vermehren und durch strenge, asketische Reinheitsübungen den satanischen Finsternis-Anteil in sich zurückzudrängen, kann er seine Fleischeshülle sprengen. Der Lichtgott steht ihm in diesem Kampf durch heilige Boten bei. Zu diesen Boten zählen – neben den alttestamentlichen Patriarchen – Buddha, Zarathustra, Jesus und Paulus. Aber nicht Jesus, sondern Mani wird als der höchste und endgültige Gottesgesandte verstanden.
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Beide philosophisch-religiöse Bewegungen zeigen die Bedrohung des Christentums durch konkurrierende Welt- und Sinnerklärungen. Während der Manichäismus sich durch seine Radikalität gegenüber dem lebensnäheren Christentum auf die Dauer nicht behaupten konnte, wirkte der Neuplatonismus auf das christliche Denken ein, das ihn teilweise absorbierte. Um die Einheit der christlichen Kirche zu erhalten, begegnet uns hier erstmals ein Phänomen, das sich bis heute bei regionalen Christentümern beobachten lässt: Das Christentum nahm in durchaus synkretistischer Manier kulturelle Elemente aus den Missionsgebieten auf und „taufte“ sie. So kompromissbereit man sich auf dieser kulturellen Ebene auch zeigte: die innerkirchliche Rivalität zwischen den Patriarchaten sollte über theologische Differenzen umso härter geführt werden. Nach der Entscheidung über das Trinitätsdogma drängte sich den Theologen die schon im 2. Jahrhundert aufgebrochene Frage auf, wie die Vereinigung des Gottes Christus mit dem geschichtlichen Mann Jesus zu denken sei. Dabei spielten nicht zuletzt auch die patriarchalen Machtansprüche eine wichtige Rolle. Während man in Alexandrien die Göttlichkeit Jesu Christi stark betonte, weil diese letztlich der Heiligung des Menschen diente, betonte man in Antiochien die dauerhafte Zweiheit der Naturen Jesu Christi und machte damit die Menschlichkeit Gottes stark. Als der aus antiochenischer Tradition stammende Nestorius (gest. 451) 428 den Patriarchen-Stuhl in Konstantinopel, seit 330 die neue Reichshauptstadt, bestieg, wandte er sich strikt gegen die Bezeichnung Mariens als „Gottesgebärerin“ und hielt „Christusgebärerin“ für die angemessene Ausdrucksweise. Kyrill (gest. 444), der Patriarch von Alexandrien, stand dagegen ganz für die Betonung der Göttlichkeit Jesu Christi. Kaiser Theodosius II. (401 – 450) berief zur Lösung der Streitfrage ein Reichskonzil ein, das als Drittes Ökumenisches Konzil von Ephesus 431 in die Dogmengeschichte einging. Während sich dort beide Parteien gegenseitig verdammten, ließ sich der Kaiser dazu bewegen, beide Konzilsentscheidungen zu ratifizieren und die Häupter beider Parteien gefangen zu setzen. Kyrill gelang es jedoch, aus dem Gefängnis zu fliehen und mit den Antiochenern eine Kompromissformel zu verabschieden. Kyrills Nachfolger, Dioskur (gest. 454), ließ 449 einen extremen Vertreter der alexandrinischen Denkschule – Eutyches in Konstantinopel (gest. nach 454) – für rechtgläubig erklären. Demgegenüber entwarf Leo I. der Große (440 – 461) von Rom in einem Lehrbrief ein theologisches Konzept, wonach Christus eine einzige Person sei, die aber aus zwei Naturen bestehe – beide Naturen seien unversehrt und unverändert und wirkten jeweils in Gemeinschaft der anderen das ihr gemäße Werk Christi. Auf dieser Grundlage wurde auf dem Vierten Ökumenischen Konzil in Chalcedon 451 der Streit entschieden: Christus werde „in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkannt“. Trotz der mühsam erreichten Einigung wurde das Konzil von Chalcedon – aus politischen wie theologischen Gründen – nicht dauerhaft von allen christlichen Kirchen rezipiert. Die ostsyrische Kirche war bereits zu Lebzeiten von Nestorius selbständig, was an der Rivalität zwischen dem Römischen und dem Neupersischen
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Reich lag. Die ostsyrische Kirche stellte in dem zoroastrisch geprägten Perserreich eine Minderheit dar. Darum musste sie, um überleben zu können, auf Distanz zu Rom gehen. Auf der Synode von Markabta 424 in der sassanidischen Reichshauptstadt Seleuka-Ktesiphon wurde die Unabhängigkeit des obersten Kirchenführers der ostsyrischen Kirche, des Katholikos, von den Patriarchen des Römischen Reiches erklärt. Noch im 5. Jahrhundert nahm der Katholikos den Titel eines Patriarchen an. Der politischen Trennung folgte die theologische: Auf der Synode von Beth Lappat bekannte sich die ostsyrische Kirche zur antiochenischen Christologie und vollzog damit den Bruch mit Rom. Weitere Besonderheiten waren der etwas anders zusammengesetzte biblische Kanon und die Ablehnung der radikalen augustinischen Erbsündenlehre. Infolge beträchtlicher Missionserfolge bis nach Indien und China erzielte diese Kirche zeitweilig eine Ausdehnung, die das Christentum des Abendlandes bei weitem übertraf. Mit der Teilung des armenischen Reiches, die um 387 einen Großteil des Gebiets unter persische Oberhoheit brachte, vollzog auch die armenische Kirche eine theologische wie politische Ablösung von Rom. Zwar rezipierte sie noch das Konzil von Ephesus in seiner antinestorianischen Version, machte sich aber die Ergebnisse von Chalcedon nicht mehr zu Eigen. Schließlich favorisierte sie die extreme Ein-Naturen-Lehre des Julian von Halikanassos (gest. ca. 527) und entfernte sich damit und mit ihrem Anschluss an eine sich immer mehr verselbständigende armenische Kultur theologisch immer weiter von Rom. Auch die westsyrische Kirche war zunächst von der Theologie der einen Natur Christi geprägt. Ein 482 vom oströmischen Kaiser Zenon (474 – 491) erlassenes Edikt, das Henotikon, wollte die theologischen Streitigkeiten zwischen den orthodoxen Anhängern der Beschlüsse des ökumenischen Konzils von Chalcedon (451) und den Monophysiten beenden, indem es die Einheit Christi scharf einprägte. Da die Kompromissformeln des Henotikons die Monophysiten zwar einigermaßen beruhigen, nicht aber wirklich zufriedenstellen konnten, während sie gleichzeitig den erbitterten Widerstand des Bischofs von Rom provozierten, scheiterte der kaiserliche Ansatz, das Reich religiös zu einen – so wie alle anderen entsprechenden Versuche während der übrigen Spätantike auch. Stattdessen führte der Erlass des Henotikons nur binnen kurzem zum sogenannten akakianischen Schisma zwischen dem römischen Bischof Felix III. (483 – 492) und dem Patriarchen von Konstantinopel, Akakios (gest. 489). Erst nachdem Justin (518 – 627) das Henotikon zurücknahm, endete das Schisma. Der neuerliche Schwenk der kaiserlichen Kirchenpolitik mit dem Herrschaftsantritt Kaiser Justinians I. (527 – 565) führte nun zur Vertreibung all jener, die das Henotikon beherzigt hatten. Justinian I. neigte wieder zur Ein-Naturen-Christologie, die er nach seiner neu erlangten Herrschaft auch über Rom im Fünften Ökumenischen Konzil von Konstantinopel 553 durchsetzte. Unter Justinian wurde auch Jakob Baradaeus (gest. 578) Bischof von Edessa, der in Ägypten und Syrien eine Gegenkirche aufbaute. In Westsyrien gelangte diese mit dem Patriarchat von Sergios von Antiochien im
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Jahr 538 als „Jakobitische Kirche“ zur Selbständigkeit. Auch die ägyptische Kirche der Kopten gewann gegenüber den Vertretern der kaiserlichen Religionspolitik, den chalcedonensischen Melkiten, an Eigenständigkeit. Beide Kirchen entwickelten sich unter den muslimischen Oberherren zu tolerierten, eng mit den staatlichen Behörden kooperierenden Nationalkirchen, verloren jedoch im Laufe der Jahrhunderte gegenüber der vorherrschenden Religion des Islam stark an Gewicht und waren auch allerlei Bedrückungen – bis hin zu Verfolgungen – ausgeliefert. Die größte Tochterkirche der koptischen Kirche, die äthiopische Kirche, wurde erst im 20. Jahrhundert von der koptischen Kirche unabhängig und arbeitete eng mit Kaiser Haile Selassie (1892 – 1975) zusammen. Bis heute ist die äthiopische Kirche die größte der orientalischen Nationalkirchen. Das bedeutendste Missionsunternehmen der byzantinischen Kirche war – neben der Gewinnung des gesamten Balkans für das Christentum – die Bekehrung der Russen. Anders als die römische Mission gewährten die Byzantiner den neuen Kirchengebieten rasch jurisdiktionelle Selbständigkeit und überwanden seit 863 die Sprachhürde, indem sie eine spezifisch slawische Kirchen- und Schriftsprache mit eigenem Alphabet entwickelten. So empfingen sie mit dem Christentum eine eigene Sprachkultur. Die ersten bedeutenden Übertritte in den riesigen Weiten Russlands gab es im südlichen Zentrum des Reiches, Kiew, in der Mitte des 10. Jahrhunderts. Im Jahr 988/89 veranlasste der Großfürst Wladimir (gest. 1015) eine Massentaufe seines Volkes im Dnjepr. III. Das Auseinanderfallen des Römischen Reiches und die Trennung des Christentums in Ost und West Lange vor der offiziellen Spaltung des Christentums in Ost und West hatte es seit dem 5. Jahrhundert eine politisch wie theologisch motivierte Auseinanderentwicklung gegeben. Während im lateinischen Westen immer mehr Gebiete an die einbrechenden Germanen verlorengingen und die römische Staatlichkeit zunehmend verfiel, bis das Imperium 476 schließlich unterging, konnte sich der Osten von den Eroberern wieder weitgehend befreien und sich des Partherreiches erwehren. Trotz der Kriege gegen die Perser seit Anfang des 7. Jahrhunderts und seit 632 gegen den Islam konnte die griechische Antike im byzantinischen Reich – deutlich reduziert und gewandelt – überleben. Seit 330 residierten in Konstantinopel Kaiser und Patriarch nebeneinander, während der römische Bischof in seiner Stadt mit keinem weltlichen Oberherrn die Macht teilen musste. Unter Kaiser Justinian (527 – 565) gelangte das byzantinische Herrschaftssystem zu seiner klassischen Ausformung. Der Kaiser trug als Diener Gottes die bereits vorchristliche Bezeichnung des Heilandes (Sotér). Aufgrund der Weihen, die er erhielt, standen ihm auch im sakralen Bereich bestimmte Sonderrechte zu, und er verfügte kraft seines Amtes über den Heiligen Geist. Von daher erschien der irdische Herr des
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Reiches als Oberhaupt von Kirche und Welt zugleich, zumal ihm auch kirchliche Funktionen zufielen. Dieses Reich wurde als Abbild des Reiches Gottes gedacht, als der heilige, messianische, orthodoxe Ort auf Erden schlechthin. Wenn dieses Reich Krieg führte, dann im Namen des Höheren, was aus dem Krieg sofort einen heiligen machte. Von diesem Verständnis her konnte es keine Rivalität zwischen Kaiser und Patriarch geben. Vielmehr herrschten beide in vollkommener Symphonie und Harmonie über das in Ewigkeit im Reich zusammengeschlossene heilige Volk Gottes. Die Lehrüberlieferungen der Kirche, zusammengefasst im Codex Justiniani, galten als unfehlbar heilig und überzeitlich stabil. Von daher erschien das Altbewährte gegenüber dem Gegenwärtigen und Zukünftigen als das grundsätzlich Höhere und Heiligere. Darum konnte das in sich abgeschlossene Zeitalter der Kirchenväter theologisch auch nicht mehr überboten werden. Den nachfolgenden Theologen blieb nur die Aufgabe des Sammelns, Bewahrens und Wachhaltens der großen Tradition. Daher ist den Ostkirchen die Rationalität des abendländischen Mittelalters und das geschichtliche Denken der Neuzeit fremd geblieben. Aus westlicher Perspektive handelt es sich bei dem Denken der Ostkirche um eine auf die Antike fixierte Fiktion, die zur geistigen Erstarrung geführt habe. Als kanonisch gelten in den Ostkirchen die sieben ökumenischen Konzile. Das Sechste Ökumenische Konzil 680/81 beschloss – erst nachdem das Byzantinische Reich Syrien und Ägypten verloren hatte, war das möglich – eine Eingrenzung der Ein-Naturen-Christologie, indem die Lehre von den zwei Willen in Christus (Mt 26,39) für orthodox erklärt wurde. Auf dem 2. Konzil von Nicäa 787, dem siebten und letzten ökumenischen Konzil, wurde der so genannte Bilderstreit entschieden, wonach zwischen der Anbetung Gottes und der Verehrung seines Bildes differenziert wurde. Im Bild erscheint nur das Abbild, das nur in einem Analogieverhältnis zum Abgebildeten steht und nicht mit diesem identisch ist. Allerdings kann der Fromme mithilfe des Abbildes zum Urbild emporsteigen. Diese Entscheidung des 2. Konzils von Nicäa 787 machte die orthodoxe Kirche zu einer Kirche des Bildes. Im Westen gingen in den Araberstürmen die Provinzen Nordafrika und Spanien so gut wie verloren, der Schwerpunkt des politischen Geschehens verlagerte sich aus dem Mittelmeerraum in das Gebiet nördlich der Alpen. 476 stürzten germanische Stämme den letzten Kaiser Westroms. Diese Stämme hatten sich auf dem Boden des alten Römischen Reiches konstituiert und dieses Reich gestützt, bevor sie es übernahmen. Anders als im Osten des Reiches hatten die Eroberer keine religiöse Mission, sondern begegneten dem Christentum, mit dem sie auf verschiedene Weise in Berührung kamen, meist nicht auf feindselige Weise. Vielmehr öffneten sie sich kulturell und religiös ihren romanischen Untertanen. 337 wurde der unter den Goten aufgewachsene Wulfila (gest. 383) zum Bischof geweiht und mit der Mission unter den Goten beauftragt. Ähnlich wie in den orientalischen Nationalkirchen übersetzte er die Bibel in die Sprache der zu Missionierenden und entwickelte eine eigene Schriftsprache. Wohl unter dem Einfluss arianischen
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Denkens – der Presbyter Arius (gest. 336) hatte betont, dass Christus ein Geschöpf geblieben und keine Einheit mit Gott gebildet habe, sondern diesem nur ähnlich gewesen sei –, das zu Wulfilas Zeit durch die kaiserliche Regierung favorisiert worden war, lehrte der gotische Missionar, dass Christus ein dem Vater untergeordneter nicht-göttlicher Diener gewesen sei. Wulfilas theologische wie missionarische Anstrengungen zeitigten einen immensen Erfolg: Nicht nur die West- und Ostgoten, sondern auch die Wandalen übernahmen das Christentum in dieser Form und unterschieden sich mit ihrer „häretischen“ Unterordnungstheologie von der alteingesessenen „katholischen“ Bevölkerung. Bei keinem anderen germanischen Volk wie den Angelsachsen konnte der neue Glaube derart rasch Wurzeln schlagen. Von Irland aus, wo das Christentum schon seit dem 4. Jahrhundert allgemein verbreitet war, konnte sich das Christentum nach Angelsachsen ausbreiten und gelangte schon früh, im 8. Jahrhundert, mit vollkommen christlichen Lebensformen und gelehrten Studien zu großartiger kultureller Blüte. Mit dem Zerfall des weströmischen Kaiserreiches in germanische Nationalstaaten zerfiel auch die Reichskirche in mehrere germanische Landeskirchen mit zum Teil unterschiedlichen Bekenntnisakzentuierungen. Die Synoden der Landeskirchen unterstanden den weltlichen Herrschern und dienten diesen als Instrumente königlicher Politik. Das so genannte Eigenkirchenwesen – Grundbesitzer ließen Kirchen bauen und stellten Kleriker an – schwächte den bischöflichen Einfluss auf die Besetzung der Pfarrstellen und überließ die Geistlichen den Machtansprüchen des Adels. Bei der Gründung und Dotierung von Klöstern und bei der Besetzung von Bischofsstühlen spielten die Grundherren eine ähnlich dominante Rolle. Diese Entwicklung führte nicht nur zu einer tiefen Kluft zwischen Priestern und Laien, sondern auch dazu, dass die Kirche zu einem Teil des „feudalen“ Systems wurde, indem es zur Zweiteilung des Klerus kam: die höheren Kirchenämter blieben dem Adel vorbehalten, während die Geistlichkeit auf dem Lande – die römische Stadtkultur war untergegangen – für Sakramentsspendung, Seelsorge und Predigt zuständig waren. Bei dem Stamm der Franken unter dem Merowinger Chlodwig (gest. 511) verlief die Christianisierung so, dass die fränkischen Oberen vermutlich 498 einen kollektiven Götterwechsel vollzogen, wobei ihre Untertanen ihnen wie selbstverständlich folgten. Zuvor hatte Chlodwig den Christengott auf die Probe gestellt, indem er ihn um Beistand gegen die Alemannen gebeten hatte. In der Interpretation der Franken hatte sich dieser Gott als der prinzipiell Überlegene gezeigt, indem er dem Stamm gegen die Feinde zum Sieg verholfen hatte. Die Version, in der die Franken das Christentum übernahmen, entsprach ganz dem „katholischen“ Glauben, was – mit dem Wechsel vom Fränkischen ins Sprechlatein – die Integration der romanischen Restbevölkerung in die neue Gesellschaft deutlich beförderte. Als ein Wegbereiter der fränkischen Großmachtgeschichte kann der angelsächsische Missionar Winfrith-Bonifatius (gest. 754) gelten, der die Christianisierung des fränkischen Reiches zu Ende geführt und mit der inneren Einigung der westlichen
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Kirche begonnen hatte. Neben dem Aufbau einer Kirchenorganisation im Westen brachten er und viele seiner Landsleute die angelsächsische Petrusverehrung und deren Übertragung auf Petri Nachfolger, die Päpste, ins Fränkische Reich. Nachdem die Franken sich zur führenden Nation unter den Germanen entwickelt hatten, schlossen sich nach und nach bis zum Ende des 6. Jahrhunderts auch die anderen germanischen Stämme dem katholischen Glauben an. Die katholische Kirche hatte sich am Ende der Antike zu einer religiösen, kulturellen und auch politischen Großmacht entwickelt, deren Zuständigkeit und Leistungsfähigkeit in allen Lebensbereichen für ganz selbstverständlich gehalten wurde. Als Abschluss dieser Entwicklung kann man das Concilium Germanicum von 742 sehen. Auf dieser ersten großen Kirchensynode des neuen Reiches wurde der Papst als Oberbischof, nämlich als Gesandter des Heiligen Petrus, bezeichnet und damit die Reichskirche faktisch dem Heiligen Stuhl unterstellt. Die bis dahin ungebundene fränkische Kirche wurde so Teil der Papstkirche. Ihren ersten Höhepunkt hatte diese staatliche und kirchliche Entwicklung unter den neuen Bedingungen im Westen mit den Pippiniden oder Karolingern erreicht. Als die Franken sich entschlossen, Pippin III. (714 – 768) zum König zu krönen, leistete ihnen Papst Zacharias (741 – 752) seine Unterstützung. Die Kooperation führte zu einer engeren Verbindung zwischen dem neuen Herrscher und dem angestammten kirchlichen Oberhaupt. Pippin überließ Papst Stephan II. (715 – 757) größere italienische Landstriche (Pippinsche Schenkung) und sicherte der Kirche von Rom den Schutz des Königs zu. Damit hatte sich Pippin bereits die traditionelle Rolle des Kaisers angemaßt und trat in Konkurrenz zum byzantinischen Kaiser. Papst Leo III. (795 – 816) vollendete die neue Allianz von weltlicher und kirchlicher Herrschaft, indem er Pippins Sohn, Karl den Großen (742 – 814), zum Kaiser krönte und ihm durch die päpstliche Salbung eine ehrwürdige Legitimität aus der römischen Tradition verlieh. Im Ergebnis gab es wieder zwei Kaiser mit zwei unterschiedlichen kirchlichen Räumen. Der Papst verfügte nunmehr über eine eigene souveräne Landesherrschaft, und der neue Schutzherr schien weit genug entfernt, um in die Kirche hineinregieren zu können. Aber Kaiser Karl war durchaus an der Klärung religiöser Fragen interessiert und sorgte für eine Synode in Frankfurt 794, die sich gegen die Lösung der Bilder-Frage auf dem siebten Ökumenischen Konzil von Nicäa 787 stellte. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis der Papst die Konzilsentscheidung im Westen durchsetzte. Weiterhin stellte sich Karl hinter das Filioque im Glaubensbekenntnis – die Vorstellung, dass der Heilige Geist von Vater und Sohn ausgehe. Diese Fassung – sie geht auf Augustinus‘ (354 – 430) Trinitätslehre vom inneren Leben der Gottheit zurück – setzte sich im lateinischen Westen allmählich als Glaubenswahrheit durch und unterschied sich somit bleibend von der byzantinischen. Lange schon war die kirchliche Einheit zwischen West und Ost brüchig geworden. Immer wieder kam es zwischen Rom und Byzanz zu Auseinandersetzungen, bei denen oft genug Machtfragen und Einflussbereiche eine wichtige Rolle spielten –
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etwa der Streit, ob die Mission in Bulgarien und im slawischen Raum von Rom oder Byzanz ausgehen solle. Auf kurze Versöhnungen folgten neue Verwerfungen, die auch durch theologische Kontroversen ausgelöst wurden. Neben dem Filioque protestierte Byzanz gegen den Gebrauch des ungesäuerten Brotes (Azymen) in der westlichen Messe. Da der Eucharistiegottesdienst in der orthodoxen Tradition eine zentrale Stellung einnimmt, hatte diese Frage weitreichende Konsequenzen: Wenn der Gebrauch der Azymen nach byzantinischer Auffassung Häresie war, musste die Abendmahlsgemeinschaft enden und die Exkommunikation vollzogen werden. Genau dies trat unter dem Reformpapst Leo IX. (gest. 1054) ein. Dieser sandte im Sommer 1054 eine Delegation unter Leitung von Kardinal Humbert von Silva Candida (gest. 1061) – vormals Mönch des cluniazensisch orientierten lothringischen Klosters Moyenmoutier – zu Verhandlungen nach Konstantinopel. Zur Debatte standen das Filioque, der römische Primatsanspruch und der Gebrauch der Azymen. Nachdem die Verhandlungen gescheitert waren, hinterlegte Humbert auf dem Altar der Hagia Sophia eine Bulle, in der er die Exkommunikation über Patriarch Kerullarios (gest. 1059) und seiner Anhänger aussprach. Daraufhin verurteilte Kerullarios seinerseits die römischen Legaten, die bereits zwei Tage zuvor abgereist waren; eine byzantinische Synode antwortete mit dem Anathema über den Papst. Das Schisma vom 16. Juli 1054 wurde durch weitere Ereignisse vertieft, die sich ins kollektive Gedächtnis der byzantinischen Bevölkerung einbrannten – etwa die Zerstörung Konstantinopels durch das Kreuzfahrerheer 1204, die Errichtung eines lateinischen Kaisertums in Byzanz (bis 1261) und die Eingliederung der ostkirchlichen Hierarchie in die römische. Spätere Unionsverhandlungen der mittelalterlichen Kirche mit Vertretern des östlichen Christentums scheiterten an der mangelnden Akzeptanz auf Seiten der byzantinischen Bevölkerung. Der Briefwechsel zwischen evangelischen Theologen aus Tübingen und dem Patriarchen von Konstantinopel über Glaube und Kirche (1573 – 1581) scheiterte ebenfalls an dem Filioque und dem Vorwurf der Orthodoxen, dass die Evangelischen zahlreiche Neuerungen eingeführt hätten. Erst im 20. Jahrhundert haben der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der Vatikan und die griechisch-orthodoxe Kirche wieder den ökumenischen Konsens miteinander gesucht und bemühten sich, die über Jahrhunderte gewachsenen Unterschiede zu überbrücken. Das Patriarchat von Konstantinopel gab 1920 mit einer Enzyklika „An die Kirchen Christi überall“ den Anstoß zum Engagement der orthodoxen Kirchen in der modernen ökumenischen Bewegung. In dem Schreiben wurde zu einem „Bund der Kirchen“ aufgerufen, der sich für diakonisch-karitative Zusammenarbeit und theologischen Dialog einsetzen sollte. Das Ökumenische Patriarchat ist Gründungsmitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen. Seit 1955 bzw. 1962 gibt es einen ständigen Vertreter des Ökumenischen Patriarchats sowie der Russischen Orthodoxen Kirche im ÖRK. Anfang Januar 1964 kam es in Jerusalem zu einer Zusammenkunft zwischen dem Patriarchen Athinagoras und Papst Paul VI. (gest. 1978). Eine der wichtigsten Gesten
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dieses Treffens war, dass der Papst Athinagoras (gest. 1972) die Kopfreliquie des Apostels Andreas zurückgab, die zuvor eine der vier Hauptreliquien in den vier Pfeilern des Petersdoms gewesen war und die die Kreuzfahrer 1204 in Konstantinopel geraubt hatten. Ende Juli 1967 besuchte Papst Paul VI. den ökumenischen Patriarchen, der diesen Besuch Ende Oktober 1967 erwiderte. Diese Zusammentreffen führten dazu, dass die Römisch-katholische Kirche und der ökumenische Patriarch von Konstantinopel in Vertretung der orthodoxen Kirchen die gegenseitigen Exkommunikationen aus dem Jahr 1054 aus dem Gedächtnis der Kirche strichen. IV. Moskau als das „Dritte Rom“ (1453 – 2018) Zum Teil in Konkurrenz mit der römischen Mission gelang es Byzanz, den gesamten Balkan für das Christentum zu gewinnen. Mit ihrer Mission nach Norden machte die byzantinische Kirche die großen Verluste, die sie durch die Arabereinfälle im Nahen Osten erlitten hatte, im 9. und 10. Jahrhundert mehr als wett. Im Unterschied zu den Lateinern gewährten die Byzantiner den neuen Kirchengebieten rasch jurisdiktionelle Selbständigkeit und lösten das Problem unterschiedlicher Sprachen durch eine spezifisch slawische Kirchen- und Schriftsprache mit eigenem Alphabet, die von den Brüdern Konstantin (gest. 869, später Kyrill) und Methodius (gest. 885) entwickelt wurde. Die Bibel, Schriften der Kirchenväter und die Liturgie wurden in diese Sprache übersetzt. Das bedeutendste byzantinische Missionsunternehmen aber war die Bekehrung des russischen Raums. Mit der Kiewer Rus war in diesem Gebiet ein mittelalterliches Großreich entstanden, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus angesehen wird. Durch den hauptsächlich auf Konstantinopel ausgerichteten Handel kam es, trotz anfänglicher Eroberungsversuche seitens der Rus, zu engen Kontakten mit Byzanz, die zur christlichen Missionierung und schließlich im Jahre 988 in der Herrschaftszeit Wladimirs des Heiligen (gest. 1015) zum Übertritt der Rus zum orthodoxen Glauben führten. Die Taufe des Großfürsten Wladimir war vor allem als diplomatischer Schachzug zu verstehen. Ziel war die Verbindung mit dem byzantinischen Kaiserhaus. Kaiser Basileios II. (985 – 1025) benötigte militärisch-politische Unterstützung gegen die Bulgaren – den gemeinsamen Feind Wladimirs und des oströmischen Kaisers. Wladimir schickte ein Heer von 6000 Rus nach Konstantinopel. Außerdem übte er durch Angriffe auf das byzantinische Chersonesos auf der Krim Druck auf den Kaiser aus. Schließlich willigte Basileios in die Allianz ein – unter der Bedingung, dass sich Wladimir taufen lasse, wollte er ihm für die militärische Unterstützung und zur Besiegelung des Bundes seine Schwester Anna zur Frau geben. Wladimir reiste auf die Krim ins byzantinische Chersonensos und ließ sich dort 988 persönlich taufen. Noch im selben Jahr 988 ließ er die heidnischen Götzen in Kiew in den Dnepr werfen und ordnete die „Taufe der Rus“ im Dnepr an. Diese Massentaufe gilt als der symbolische Beginn des russisch-orthodoxen Christentums. Damit gehörte das russische Gebiet
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kirchenpolitisch zu Konstantinopel. Die konfessionellen Grenzen zwischen Rom und Byzanz verliefen an den Ost- bzw. Südostgrenzen von Polen-Litauen, Tschechien, der Slowakei, Kroatien und Slowenien. In Russland, Belarus, der Ukraine sowie auf dem Balkan hatte sich das orthodoxe Christentum durchgesetzt. Kiew fiel 1240 den Mongolenstürmen zum Opfer, Moskau wuchs zum neuen russischen Machtzentrum empor. Nach orthodoxer Überzeugung war das erste Rom längst vom rechten Glauben abgefallen. Aber auch Konstantinopel hatte sich auf dem Konzil von Ferrara-Florenz 1439 mit seiner Zustimmung zur Kirchenunion mit Rom religiös desavouiert. Die Gesandten des schwer von den osmanischen Türken bedrängten oströmischen Kaisers Johannes VIII. (1392 – 1448), der auf westliche Militärhilfe hoffte, stimmten dabei weitreichenden Forderungen nach Übernahme römischer Lehren zu. Vierzehn Jahre vor dem Untergang des Imperiums von Byzanz einigten sich die Verhandlungsführer auch über das Filioque. Ebenso wurde der Vorrang der römischen Kirche und ihres Oberhauptes, des Papstes, betont. Doch der feierliche Abschluss der Union wurde vom byzantinischen Klerus wegen der auf dem Vierten Kreuzzug begangenen Gräueltaten strikt abgelehnt. Auf einer Synode in Jerusalem sprachen die orientalischen Patriarchen das Anathema über die unierten Griechen aus und zwangen damit Kaiser Johannes VIII., wieder zur Orthodoxie zurückzukehren. Das Bemühen, ein Abkommen mit der gesamten Ostkirche zu erreichen und damit das morgenländische Schisma aufzuheben, war fehlgeschlagen. Es blieb lediglich bei einer Union mit Armeniern und den Jakobiten. Seit dem Fall Konstantinopels 1453 durch das Osmanische Reich – nach Überzeugung vieler Orthodoxer das Ergebnis des Zornes Gottes über die falsche Union – betrachtet die russisch-orthodoxe Kirche Moskau als das Dritte Rom – das heißt als neues und letztes Zentrum der orthodoxen Christenheit. Die Heirat des Großfürsten Iwan III. (1462 – 1505) mit Sofia Palaiologa, der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, Konstantin XI. Palaiologos (1448 – 1453), unterstrich die Stellung Moskaus noch. Die Idee von Moskau als Drittem Rom und Erben von Byzanz wurde erst um 1500 von dem Mönch Filofei geboren, der die historischen Ereignisse entsprechend re-interpretierte. In diesem Narrativ beschreibt Filofei auch den genealogischen Anschluss durch die Heirat Iwans III. mit Sofia Palaiologa. Sofia soll in ihrer Person die byzantinische Tradition verkörpert haben und hat durch griechische und römische Begleiter angeblich die byzantinische Kultur am Moskauer Hof verbreitet. Mit der Eheschließung seien in Moskau der byzantinische Hofritus sowie das Wappen mit dem Doppeladler und der Titel „Zar“ als Symbole der orthodoxen Kaisermacht eingeführt worden. Trotz erheblicher Differenzen mit den historischen Fakten hat dieses Verständnis der russischen Geschichte als einer fortlaufender Heilsgeschichte die politischen Systeme nicht nur des Zarenreiches, sondern auch der Sowjetunion inspiriert und seit Wladimir Putins Herrschaft das russische Staatsdenken stärker denn je geprägt.
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Iwan IV. (1533 – 1584) unternahm mit der „Hundertkapitelsynode“ von 1551 erhebliche Anstrengungen zu einer Reform der russischen Kirche und verursachte durch die Veränderung von Riten hundert Jahre später eine Abspaltung der „Altgläubigen“. Ihre Abgrenzung zum Katholizismus hielt die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) aufrecht – gerade auch gegen die seit 1385 bestehende Polnisch-Litauische Union (Rzeczpospolita), zu der seit 1341 auch die westlichen Gebiete der Kiewer Rus gehörten. Nach der Union von Lublin 1569, die das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen zu einer Personalunion zusammenschloss, wuchs in der ruthenischen orthodoxen Kirche das Bestreben nach einer Union mit der römisch-katholischen Kirche – auch, um gleichberechtigt mit dem katholischen Klerus zu sein. Am 6. Oktober 1596 versammelten sich sechs orthodoxe Bischöfe und weitere Geistliche mit Vertretern der römisch-katholischen Kirche und des polnischen Königs in der Nikolaikirche zu Brest und beschlossen feierlich die Union. Zwei orthodoxe Bischöfe, Archimandriten und andere Geistliche, die die Union abgelehnt hatten, wurden offiziell ihrer Ämter enthoben und mit dem Bann (Anathema) belegt. Somit hatte auch dieser Unionsversuch zu einer Abspaltung der Dissentierenden geführt. Im Zuge seiner energischen Modernisierungsbestrebungen sparte Zar Peter I. (1682 – 1725) auch die russisch-orthodoxe Kirche nicht aus. Er schaffte das Patriarchat ab und ließ es durch den „heiligsten dirigierenden Synod“ ersetzen. Dadurch erhöhten sich die Einflussmöglichkeiten des Zaren auf die Kirche, da es kein Gegenüber in Gestalt des Patriarchen mehr gab. Peters Nachfolger setzten diesen Weg der Integration der Kirchenhierarchie in das Zarenregime konsequent fort. Erst nach der Revolution von 1905 führte die russisch-orthodoxe Kirche das Patriarchat wieder ein und suchte sich nach der Oktoberevolution 1917 von dem atheistischen Staat zu emanzipieren. Aus westlicher Perspektive konnte die russisch-orthodoxe Kirchengeschichte seit der Oktoberrevolution nur eine unterdrückte und verfolgte Kirche sein, die darum dem sozialistischen Moskauer Regime nichts abgewinnen konnte und die nur unter Zwang Gehorsam zeigte. Tatsächlich bekämpften die Bolschewiki aus ideologischen Gründen diese Kirche, galt sie doch als Relikt des zaristischen Russlands. Tausende von Bischöfen, Geistlichen, Mönchen und Nonnen gingen den Weg des Martyriums. Von den mehr als 1.000 Klöstern im Jahr 1914 wurden bis 1922 mehr als 700 geschlossen. Nach über fünfjähriger Verfolgung ließ Patriarch Tichon (1865 – 1925) Ende Juni 1923 in der Regierungszeitung Istwestija eine „Reueerklärung“ erscheinen, in der er seine früheren antibolschewistischen Äußerungen widerrief und versicherte, von nun an kein Staatsfeind der Sowjetmacht mehr zu sein. Was als blanker Opportunismus aus existentieller Not heraus interpretiert werden könnte, sah der Patriarch als theologisch begründete Selbstkorrektur des kirchlichen Kurses. Danach galt es als wahrhaft sachgemäße neutestamentliche Haltung, keine Opposition gegen den Sowjetstaat zu betreiben, sondern die Einpassung der ROK in diesen anzustreben – und
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das, obwohl das Moskauer Regime schon bald darauf (1929) einen Fünf-Jahres-Plan zur Atheisierung der Sowjetunion in Gang setzte. Tatsächlich entsprach die erwähnte Selbstkorrektur durchaus dem orthodoxen Selbstverständnis. Die unter dem römischen Kaiser Konstantin (306 – 337) vorgenommene „Verkirchlichung“ des Staates und die „Verstaatlichung“ der Kirche betrachtet die orthodoxe Theologie nicht, wie der Westen, als Fehlentwicklung, sondern als eine „geistige Erfahrung“, als einen Schatz, den sie zu ihrer „Heiligen Überlieferung“ zählt und den „das kollektive Bewußtsein der Kirche als ihre unbestreitbare kanonische und dogmatische Norm aufgenommen“5 hat. Das byzantinische System der kirchlich-staatlichen Symphonia wird nicht als starr verstanden. Vielmehr erzeuge es in einer bestimmten Bewegung ein harmonisches Gleichgewicht zwischen der Freiheit und der Selbständigkeit der zwei verbündeten Mächte. Trotz mannigfacher caesaropapistischer Anmaßungen hielt die orthodoxe Kirche im Verlauf ihrer Geschichte an der idealen Rechtsgleichheit beider Pole der theokratischen Macht in einem einzigen kirchlich-staatlichen Organismus fest. Trotz heftigster staatlicher Anfeindungen verzichtete die Kirche nie „auf die Umerziehung ihres von Begriff schweren und groben Schülers und Beschützers“6 – eben dieses Staates. Denn nur die Symphonie der durch Kaiser und Patriarch verkörperten Mächte ermöglicht die von Christus befohlene kollektive Völkertaufe. In diesem Miteinander erfährt die Kirche dieselben Erniedrigungen und Leiden, die Christus selbst erlitten hat. Auch die Bemühungen der Russisch-orthodoxen Kirche seit 1922, mit der Sowjetunion „in ein richtiges Verhältnis“ zu kommen, lassen sich aus diesem Symphonieprinzip ableiten. Ausdrücklich stellt Tichon fest, die „Tätigkeit der orthodoxen Gemeinden dürfe nicht dem Politisieren, das der Kirche […] fremd ist, sondern nur der Festigung des orthodoxen Glaubens gelten“7. Indem die Russisch-Orthodoxe Kirche – nach anfänglicher Opposition bis hin zum Anathema – zu ihrer grundsätzlichen Loyalität gegenüber dem Staat zurückfand, kehrte sie zu einer jahrhundertealten Tradition zurück. Die Kirche „verharrte in der politischen Unterordnung, auch wenn die Regierung ihrerseits zu der entsprechenden umgekehrten geistlichen Unterordnung oder auch nur zur Einhaltung der von ihr übernommenen Verpflichtung nicht bereit ist.“8 Unter dem Eindruck des „Großen Vaterländischen Krieges“ veränderte sich allmählich das Staat-Kirche-Verhältnis im orthodoxen Sinne. Gleich am ersten Kriegstag, dem 22. Juni 1941, richtete der Patriarchatsverweser, Metropolit Sergej (1867 – 1944), ein Sendschreiben an die orthodoxe Geistlichkeit und alle Gläubigen. Darin 5 Kirchlichen Außenamt der EKD (Hrsg.), Kirche und Kosmos. Orthodoxes und Evangelisches Christentum. Studienheft Nr. 2, Witten 1950, S. 141. 6 Ebd., S. 146. 7 Zitiert nach: Besier, Gerhard: Zum Beginn des theologischen Gesprächs zwischen der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Evangelische Theologie 46/1 (1986), S. 73 – 90, hier: 83. 8 Hildegard Schaeder, zitiert nach: Besier, Zum Beginn, S. 83.
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heißt es: „Die orthodoxe Kirche hat stets die Geschicke des Volkes geteilt. Gemeinsam mit ihm hat sie Heimsuchungen getragen und sich seiner Erfolge gefreut. Auch jetzt verlässt sie ihr Volk nicht und erteilt ihm zu seiner bevorstehenden Großtat den himmlischen Segen.“9 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es – ungeachtet der grundsätzlich weiterhin kirchenfeindlichen Haltung des atheistischen Regimes – zu einem ausgesprochenen Synergismus zwischen der Russisch-orthodoxen Kirche und den staatlichen Instanzen. In dem von Kirche und Staat gemeinsam geführten „Kampf für den Frieden“ – der Propagierung der sowjetischen Außenpolitik als „Friedenspolitik“ –, wusste sich die ROK im Einklang mit ihrer mehr als tausendjährigen Tradition. So wird z. B. das große kirchliche Fürbitte-Gebet, die sogenannte Große Ektonie des Chrysostomos, „im Frieden – für den Frieden der ganzen Welt“ ohne Unterbrechung seit den Zeiten der Alten Kirche viermal in jedem orthodoxen Hauptgottesdienst gesprochen. Diese Gebetsformulierung nahm der Moskauer Patriarch Aleksej (1877 – 1970) in seiner Botschaft vom 2. Oktober 1949 auf, als er die Gläubigen dazu aufforderte, „ihre Gebete zum Erlöser der Welt zu verstärken, dass Er der ganzen Welt Frieden gebe […], und alle Kräfte für den Friedenskampf einzusetzen, für die Festigung der allgemeinen Sicherheit durch opfermütige Arbeit im Wirkungskreis eines jeden zum Wohl der Heimat.“10 Man konnte diese Botschaft als Proklamation eines neuen Bündnisses der Orthodoxen Kirche verstehen – zunächst mit dem gläubigen Sowjetvolk, dann aber doch auch mit der atheistischen Staatsmacht. Mit Volk und Staat hatte die Kirche „den bitteren Kelch der Leiden geteilt […] und gegen den Feind die Macht nie ermattender Gebete aufgeboten“11. In dieser unerschrockenen und leidensbereiten Hingabe an die Welt sucht die Kirche eine echte „Christokratie“ zu verwirklichen, ihren Einfluss als Seele des Kosmos zu vermehren und sich so Teile des Alls einzuverleiben. Auch in den Repressions-Jahren nach Stalins Tod zeigte die ROK in ihrem weiter fortgeführten „Kampf für den Frieden“ während des „Kalten Krieges“ eine Leidensbereitschaft bis hin zur Selbstaufgabe. Eigentlich nur so lässt sich ihre rege Geheimagenten-Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst KGB innerhalb der weltweiten Ökumene seit 1961 verstehen. Auch die aggressiven Akte der sowjetischen Außenpolitik wie die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 rechtfertigte die ROK als „friedensstiftende Aktivitäten“, die der friedlichen Koexistenz dienten. Von hier aus ist auch das Unverständnis sowjetischer Stellen für die Schwierigkeiten zu erklären, die ihre kommunistischen SatellitenStaaten mit deren oft staatskritischen und auf Abstand zum Regime bedachten römisch-katholischen bzw. protestantischen Kirchen hatten. 9
Zit. nach Patriarch von Moskau und ganz Russland Alexius, Die Russische Orthodoxe Kirche. Ihre Einrichtungen, ihre Stellung, ihre Tätigkeit, Moskau 1958, S. 21. 10 Patriarch von Moskau und ganz Russland Alexius, Die Russische Orthodoxe Kirche, S. 227. 11 Ebd., S. 212.
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Aus „lateinischer“ Perspektive ist der Unterschied zwischen einem letztlich theologisch vermittelten Servilismus gegenüber der Welt und politischem Opportunismus nur schwer zu begreifen. Tatsächlich sind mögliche politische Konsequenzen des theologischen Symphonieprinzips nicht von der Hand zu weisen. Eine Kirche, die sich als Corpus Christi in Demut dem Kosmos zur Verfügung stellt, die in das Irdische eingehen möchte, kann in den Händen nichtgläubiger Machthaber leicht als Instrument zur Durchsetzung bestimmter politischer Interessen missbraucht werden. Idealerweise können freilich die wohlverstandenen Interessen von Staat, Volk und Kirche zusammenfallen – wie etwa 1949 als Stalin mit Gewalt die Griechisch-Katholische (Unierte) Kirche in der vormals polnischen Westukraine (Galizien) und der früheren tschechoslowakischen Karpato-Ukraine (Uzhgorod, Mukatschewo) auflösen ließ. Damit wollte der Diktator den westukrainischen Nationalismus liquidieren, der einerseits pro-römische und pro-westliche Züge aufwies, andererseits prononciert anti-russische und anti-kommunistische Haltungen pflegte. Das Moskauer Patriarchat begrüßte Stalins Gewaltakte, führten sie doch zur „Heimkehr“ der Gläubigen in den Schoß der orthodoxen Mutterkirche. Die Russisch-orthodoxe Kirche hatte die Unierten stets als Abtrünnige betrachtet und betrieb nun mit Eifer deren Wiedereingliederung, indem sie die Rom-orientierten Ukrainer geistig und sprachlich russifizierte. So versetzte sie anti-ukrainisch gesonnene, orthodoxe Bischöfe in die galizischen Bistümer. Wie beim Wiederaufbau der Russisch-orthodoxen Kirche nach 1945 (neues Kirchenstatut) achtete man auch hier auf eine streng hierarchische Struktur mit einer absolutistischen Stellung des Patriarchen – seit Januar 1945 Metropolit Aleksej (Simanskij, 1877 – 1970), der diese Position 25 Jahre innehaben sollte. Während der Sowjetzeit wurde der Patriarch vom „Rat für religiöse Angelegenheiten“ in Absprache mit dem Innenministerium, dem Justizministerium und dem Geheimdienst KGB benannt. Der Hl. Synod als Kirchenregierung machte demokratische Strukturen überflüssig. Die Parallelen zum Staatsaufbau waren offenkundig. 1961 änderte eine Bischofssynode den Status des Priesters. Dieser hatte von nun an nur noch die Funktion des Kultdieners (Vollzug der Liturgie) inne, während der Kirchenvorstand – ein sog. Exekutivkomitee, bestehend aus drei Ältesten (starosta) – die eigentliche Gemeindeleitung darstellte. Der Priesternachwuchs, der an den geistlichen Lehranstalten ausgebildet wurde, musste sich einem strengen Ausleseverfahren stellen, bei dem die Organe des KGB ebenfalls ein wichtiges Wort mitsprachen. All diese repressiven Maßnahmen ließ die Russisch-orthodoxe Kirche klaglos über sich ergehen und stand weiterhin fest zur Sowjetregierung und zum Sowjetvolk. Als Gorbatschows Reformen in der sowjetischen Gesellschaft zunehmend auf Widerstand stießen, wandte er sich seit 1987 der Russisch-orthodoxen Kirche zu. Als 1988 die Christen in Russland, in der Ukraine, in Belarus und in der Diaspora der Taufe des Fürsten Wladimir I. und des Volkes von Kiew tausend Jahre zuvor gedachten, machte der letzte Generalsekretär der KPdSU das Millennium zu einem Fest der
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Religionsfreiheit. Vor den Kameras der Welt sorgte der scheiternde Reformer für eine prächtige Ausgestaltung der Tausendjahrfeier der Taufe Russlands. In einem feierlichen Staatsakt empfing er am 29. April 1988 Patriarch Pimen (1910 – 1990) und die Mitglieder des Hl. Synod im Kreml; das Staatsfernsehen zeigte Bilder, wie sich der Parteichef und der Patriarch lächelnd die Hände reichten. Auf Empfänge und Benefizkonzerte im Bolschoj-Theater folgten Taten: Die kirchliche Presse konnte sich plötzlich frei entfalten, Hunderte von konfiszierten Kirchen und Klöstern wurden der Kirche zurückgegeben, Gottesdienste wurden im Fernsehen übertragen, und orthodoxe Geistliche traten in den sich neu bildenden Volksvertretungen auf. Unter anderem erhielt die Kirche die Zusage, wieder offiziell Religionsunterricht erteilen zu dürfen – umgesetzt durch das Religionsgesetz vom 1. Oktober 1990. Bei der Vierhundertjahrfeier des Moskauer Patriarchats durfte am 13. Oktober 1989 sogar ein Totengottesdienst für die verstorbenen Patriarchen in einer der Kathedralen des Moskauer Kremls, der Uspenski-Kathedrale (MariäEntschlafens-Kathedrale) gefeiert werden. Es handelte sich dabei um die erste kirchliche Feier im Kreml seit 1918. Pimen I., der zu dieser Zeit bereits schwer erkrankt war, konnte den Gottesdienst nicht mehr selbst leiten, spendete aber im Anschluss daran der vor der Kathedrale versammelten Menge seinen Segen. Pimens Nachfolger, Alexej II (1929 – 2008), ehemaliger Bischof von Talinn und Estland, unterstützte während des Putsches im Dezember 1991 mit Aufrufen Gorbatschow und Jelzin – allerdings nur in seinem eigenen Namen, nicht in dem des Hl. Synod. Andere hohe Würdenträger der Kirche verhandelten mit führenden Putschisten. Alexej suchte diese Spannungen im Episkopat zu überspielen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Moskauer Patriarchat bestrebt, seine Hoheitsansprüche in den früheren Sowjetrepubliken zu sichern. Zwar erhielten die orthodoxen Diasporakirchen den Status der Verwaltungsautonomie, sollten aber Bestandteil des Moskauer Patriarchats bleiben, indem die nationalen Kirchen mit dem Zusatz „im Moskauer Patriarchat“ versehen wurden (z. B. „Lettisch-Orthodoxe Kirche im Moskauer Patriarchat“). Ungeachtet ihrer neuen Freiheit suchte die Kirche weiterhin die traditionelle Staatsnähe und bemühte sich um die Wiedererlangung der Position wie der Privilegien einer Staatskirche. Noch stärker als andere Kirchen in der postkommunistischen Region Europas suchte die ROK „to achieve the cultural status of a national church, ,have sought to foster links with post-communist political elites, reduce the influence (and sometimes the actions) of religious minorities, and promote the synonymy between religious and national identity‘“12. Schon zu Gorbatschows Zeiten erbat die Russische Kirche staatliche Hilfe gegen das Auftreten anderer Kirchen – Katholiken, Unierte in der Ukraine, Auslandskirchen und Neue religiöse Bewegungen. Damit wählte sie den traditionellen Weg und stellte sich nicht den auch religiösen Wettbe12 Pankhurst, Jerry G./Kilp, Alar: Religion, the Russian Nation and the State: Domestic and International Dimensions: An Introduction in Religion, in: Religion, State & Society 41/3 (2013), S. 226 – 243, hier: 229.
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werbsbedingungen einer modernen pluralistischen Gesellschaft. Gleichzeitig sagte die ROK ihre Hilfe beim „moralischen Wiederaufbau“ des Landes zu, ein unzweideutiges Angebot zur Konfessionalisierung der politischen Kultur Russlands unter dem Protektorat des Kremls. Dabei stand die moralische Autorität der ROK selbst infrage. Alexej II. zeigte kein Interesse an einer Aufarbeitung der Haltung seiner Kirche während der Sowjetzeit. Im Gegenteil: Er erwirkte bei Präsident Jelzin die Auflösung einer Parlamentskommission zur Klärung der KGB-Aktivitäten in der Kirche. Stattdessen wurde eine kirchliche Kommission eingesetzt, die so etwas wie eine AlibiFunktion einnahm. Dem Historiker Mitrochin zufolge soll Alexej II. während der Sowjet-Ära selbst ein Agent des KGB gewesen sein. Angeblich wurde er am 28. Februar 1958 unter dem Code-Namen Drosdow rekrutiert. Während der Transformationsphase lehnte Alexej II. einen Besuch des Papstes in Moskau ab und sagte 1997 auch ein mit Papst Johannes Paul II. im Zisterzienserstift Heiligenkreuz bei Wien vereinbartes Treffen kurzfristig ab. Als eine Art Konsolidierung erfolgte 2007 die Wiedervereinigung mit der Russisch-Orthodoxen Auslandskirche, die sich nach der Oktoberrevolution 1917 von der Kirche in der Sowjetunion abgespalten hatte. Bei diesem Vereinigungsprozess leistete Putin tätige Mithilfe, wofür sich der Patriarch öffentlich bedankte. Als weiterer Erfolg der Amtszeit Alexejs II. gilt die Heiligsprechung des letzten russischen Zaren Nikolaus II. In beiden Handlungen ist das Bemühen erkennbar, an die zaristische Zeit anzuknüpfen und deren „kanonisches Territorium“ zu behaupten. Obwohl Alexejs II. Nachfolger, Kirill I. (geb. 1946), 1971, in der Würde eines Archimandriten, zum offiziellen Vertreter des Moskauer Patriarchats beim Weltkirchenrat bestellt worden war und seither als Hauptgestalter der ökumenischen Aktivitäten der ROK gilt, ist auch er seit seiner Wahl zum Patriarchen 2009 eher zurückhaltend, wenn es um den Dialog mit westlichen Kirchen geht. Stattdessen sprach er sich für die Schaffung „spezieller Beziehungen“ zwischen der Orthodoxie und den anderen drei „traditionellen Religionen“ Russlands aus – dem Islam, dem Judentum und dem Buddhismus. Obwohl Metropolitan Kliment von Kaluga, Kirills Gegenkandidat bei der Wahl zum Patriarchen im Februar 2009, als der eindeutigere Befürworter einer Unterordnung der Kirche unter den Staat galt, lässt sich daraus kaum schließen, dass Kirill der traditionellen Staat-Kirche-Relation im Moskauer Imperium kritisch gegenübersteht. Vielmehr harmoniert er vorzüglich mit Medvedev und Putin, was vor allem auch darauf zurückzuführen ist, dass er seine Kirche traditionsgemäß und bereitwillig in den Dienst des Vaterlands stellt. Dazu passt, dass Kirill I. ein entschiedener Vertreter für ein Festhalten am am traditionellen Familienmodell ist. Im April 2013 kritisierte er den Feminismus in einer Erklärung scharf und bezeichnete ihn als ein „gefährliches Phänomen“, das Frauen lediglich eine Illusion von Freiheit in Aussicht stelle. Die Rolle der Frau sei stets nach innen konzentriert, beim Haushalt und den Kindern. Der Zerstörung der Familie folge hingegen unweigerlich die Zerstörung des Heimatlandes. An der nach wie
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vor hohen Scheidungs- und Abtreibungsrate in Russland hat der Patriarch freilich nichts ändern können. In einer Predigt im Juli 2013 erklärte Kirill die Legalisierung von Homo-Ehen zu einem Anzeichen für den bevorstehenden Weltuntergang und rief dazu auf, alles zu tun, damit im „Heiligen Russland“ das Gesetz nie die Sünde unterstützt, was ein Prozess der Selbstzerstörung wäre. Damit teilt er im Wesentlichen die überkommenen Männlichkeits- und Geschlechterideale der politischen Führung in Moskau und liefert diesen Vorstellungen einen theopolitischen Begründungszusammenhang. Im Blick auf ethische Fragen im Zusammenhang von Armut und Reichtum ist Kirill weniger streng. So erregte er wegen des Besitzes teurer Wertgegenstände und eines luxuriösen Apartments mehrfach öffentliches Missfallen. Am 21. Dezember 2006 erhielt Kirill vom russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin den Verdienstorden für das Vaterland II. Klasse verliehen. Offiziell ist die ROK selbstverständlich kein Bestandteil der zaristischen Triade mehr. Die Verfassung vom 12. Dezember 1993 proklamiert in Artikel 14 so etwas wie eine Trennung von Staat und Kirche, und dem neuen Religionsgesetz vom 26. September 1997 zufolge ist die ROK nur die erste unter den traditionellen Religionen. Allerdings erkennt dieses Gesetz „the special role of Orthodoxy in the history of Russia and in the establishment and development of its spirituality on culture“ an. Unter der Hand entwickelte sich seit Putin, Medvedev und Kirill eine – im Grunde nicht-konstitutionelle – wachsende Annäherung zwischen dem Regime und der ROK; beide Größen zusammen repräsentieren inzwischen wieder, nach innen wie nach außen, die Einheit von säkularer und religiöser Macht in Russland. Darin kommt so etwas wie die Wiederbelebung der Idee eines „Dritten Roms“ zum Ausdruck – mit einer erneuerten zivilisatorischen Mission gegen den dekadenten Westen. In gewisser Weise füllt die ROK eine ideologische Lücke, die der Kollaps des Kommunismus hinterlassen hat und sucht unter religiös-kulturellen Vorzeichen die „Einheit“ „orthodoxer“ Staaten zu beschwören. Dabei bezog sich ihr Einfluss zunächst auf das Feld der Außenpolitik und der Außenbeziehungen. Die ROK war in diesem Jahrhundert Moskau vor allem bei dem Prozess der Rekreation des russischen Imperiums zu Diensten. An der Krönungsfeier Kirills im Februar 2009 nahm auch der Präsident von Moldawien teil und demonstrierte so, dass sein Staat die Anerkennung des Moskauer Patriarchats auch über die orthodoxe Kirche Moldawiens unterstützte. Ähnlich verhält es sich mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen die orthodoxe Kirche einen starken Einfluss besitzt. So genießt der Patriarch der orthodoxen Kirche von Georgien eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung, unterhält engste Beziehungen zur ROK und teilt deren Vorbehalte gegen die westliche „Dekadenz“. Allerdings weigerte sich das Moskauer Patriarchat, nach dem Russisch-Georgischen Krieg von 2008 die russisch-orthodoxen Gemeinden in Abchasien zu absorbieren – eine Tatsache, die immer wieder als Beleg für die angeblich vorhandenen Spielräume der ROK gegenüber dem Moskauer Regime angeführt wird. Zwischen der Ukraine und Moldawien liegt Transnistrien, ein Zwergstaat, der von keinem westli-
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chen Land anerkannt wird. Kirill besuchte 2013 Transnistrien und unterstützte damit die Außenpolitik Moskaus. Aus Anlass der 1025. Wiederkehr der Taufe Russlands im Sommer 2013 sagte Kirill bei einem Treffen mit dem damaligen Ukrainischen Präsidenten Viktor Yanukovych: „The event for which we assembled in Kiev – the adoption of the Christian faith by Rus‘ – has shaped the national self-awareness and culture of our three Slavic nations, and has been the decisive factor in all the subsequent history of Ukraine, Russia and Belarus. It is thanks to the Baptism that we – Ukrainians, Russians, and Belarussians – were given the name of Holy Rus‘.“13 Weiterhin bezeichnete Kirill 2013 die Ukrainer als „lovers of Christ, as a reliable partner and ally of the Russians and Belarusians, and as an active creator of East European culture space“.14Anlässlich einer Konferenz über orthodox-slawische Werte in Kiew sagte Putin im selben Jahr: „[…] on the very place we are now standing, at the Dnieper font, at Kiev’s font, the choice was made for all of Holy Rus.“15 Damit pflichtete er dem Denken des Patriarchen bei, der die drei Länder als Einheit des Heiligen Rus‘ bezeichnet hatte. Entsprechend schockierend müssen die Revolutions-Ereignisse in Kiew auf Putin und den Patriarchen gewirkt haben – schickte sich die Ukraine doch an, Verrat an den Traditionen des Heiligen Rus‘ zu begehen und sich dem dekadenten, gottlosen Westen zuzuwenden. Dabei wurden die Kiewer Verräter auch noch von der abgefallenen Religion, der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche unterstützt. Die Ukrainisch Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarchat (MP) hat gar die „politische Orthodoxie“ ihrer Mutterkirche verurteilt, sich selbst aber um Neutralität in dem Konflikt bemüht. Darüber ist sie in eine schwere Krise geraten. Insgesamt hat der Konflikt zwischen Moskau und Kiew die alte Debatte um eine von Moskau losgelöste, vereinigte ukrainische Orthodoxie wiederbelebt – eher typisch für das ethno-religiöse, „vaterländisch“ orientierte Identitäts-Denken im Rahmen orthodoxer Vorstellungen. Trotz oder vielleicht auch wegen der innerkirchlichen wie politischen Krisen gelang es den Ukrainischen Religionsgemeinschaften aber, in der Bevölkerung an Rückhalt zu gewinnen. Im weiteren Sinne zählen zum Raum der „slawisch-orthodoxen Welt“ in der Perspektive der ROK und Moskaus die Balkanländer Bulgarien und Serbien. Mit dieser Begründung unterstützte Russland Serbien während der Balkankriege im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und beobachtet mit Sorge die Beitrittsverhandlungen Serbiens mit der Europäischen Union. Am Tag der Slavic Script and Culture im Jahr 2010 sagte Kirill: „Our duty even today is to preserve the cultural code of Slavic ci-
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Zitiert nach Bodin, Per-Arne: The Russian Orthodox Church, its domains and borders, in: Berglund, Jenny/Lundén, Thomas /Strandbrink, Peter (Hrsg), Crossings and Crosses. Borders Educations, and Religions in Northern Europe, Boston-Berlin 2015, S. 21. 14 Ebd. 15 Ebd.
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vilization, protecting from destruction, substitution, and de-personalising unification.“16 Darüber hinaus versteht sich Moskau – in der Nachfolge des Byzantinischen Reiches – als das starke Schutzzentrum der weltweiten orthodoxen Kirche. In den letzten Jahren entwickelte sich eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Patriarchen von Moskau und dem Patriarchen Bartholomeus von Konstantinopel, manifestiert durch einen Besuch des Ökumenischen Patriarchen in Moskau 2010, wo sie gemeinsam den Pfingstgottesdienst zelebrierten. Als der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras im Frühjahr 2015 nach Moskau fuhr, um Putin seine Aufwartung zu machen, traf er nicht nur den russischen Präsidenten, sondern wurde am 10. April 2015 auch feierlich von Patriarch Kirill empfangen. Allem Anschein nach gehört die ROK zum unverzichtbaren ideologischen Überbau von Putins Neu-Eurasischem Imperium. Seit unvordenklichen Zeiten, so die Erzählung, gehörten die Ukraine und Belarus zum Territorium des Heiligen Russland. Vor diesem Hintergrund beging der Westen ein Sakrileg, als er seine Einflusssphäre auf die Ukraine ausdehnen wollte. Universale Menschenrechte, etwa das Recht der Staaten auf Selbstbestimmung, haben dort ihre Grenze erreicht, wo sie mit gottgegebenen moralischen Normen und dem, was darunter verstanden wird, kollidieren. Gemäß dieser Interpretation müssen Menschenrechte entsprechend der herrschenden Kultur einer Region kontextualisiert werden. Aus der kulturellen Perspektive Russlands sind etwa gleichgeschlechtliche Eheschließungen wie andere „dekadente Phänomene aus dem Westen“ nichts anderes als Werkzeuge des Teufels. Jegliche Pluralisierung würde die gottgewollte Einheit zerstören. Dies impliziert die Überzeugung, wonach das Christentum nur in seiner orthodoxen Form als „wahr“ anzuerkennen ist. Darum ist es auch nur konsequent, wenn die Obrigkeit gegen neuere, auch christliche Religionsbildungen mit Einschränkungen oder sogar Verboten vorgeht. Gegen innere wie äußere „Feinde der Kirche“ – Atheisten, Gotteslästerer oder Andersgläubige – geht der Staat zum „Schutz“ der traditionellen Kirche mit unnachsichtiger Härte vor, wie die drakonischen Strafen gegen „Pussy Riot“ demonstrierten. Das Konzept, wonach „Gottes auserwähltes Volk“ in einem bestimmten Land lebt, ist eben nicht nur charakteristisch für Nordamerika, sondern auch für Russland. Darin unterstützt von der ROK, beruft sich Putin auf diese Erzählung, um die Annexion der Krim und alle anderen militärischen Interventionen – nicht zuletzt den Überfall auf die Ukraine – zu rechtfertigen. Er wolle nichts anderes als das Territorium zu bewahren, das als heilig angesehen werde. Aus diesen nicht hinterfragbaren, weil „heiligen“ Maximen, leitet sich die Furcht früherer Sowjetrepubliken, aber auch Ländern wie Polen ab, unfreiwillig wieder in diese Gemeinschaft re-integriert zu werden. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 bezeichnete Kirill die Gegner Russlands als „Kräfte des Bösen“ und betonte, dem Manuskript seiner 16
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Predigt vom 27. Februar 2022 zufolge, „wir dürfen uns nicht von dunklen und feindlichen äußeren Kräften verhöhnen lassen“. Angesichts der „gegenwärtigen politischen Situation“ in der Ukraine müsse alles getan werden, „um den Frieden zwischen unseren Völkern zu bewahren und gleichzeitig unsere gemeinsame historische Heimat vor allen Handlungen von außen zu schützen, die diese Einheit zerstören können“. V. Die Römisch-katholische Kirche (1039 – 2019) Den Reformpäpsten der mittelalterlichen westlichen Kirche ging es vor allem um deren Freiheit von den weltlichen Mächten. Seit der Karolingerzeit – verstärkt dann noch in der Zeit der Ottonen und Salier – nahmen die weltlichen Herrscher zunehmend Einfluss auf die Besetzung geistlicher Stellen. Ein wichtiges Motiv der ostfränkischen Herrscher, die von ihnen besetzten Bischofsstühle und Abteien mit königlichen Hoheitsrechten auszustatten, lag darin, sich während ihres Königtums Machtbasen zu schaffen, die sich nicht durch Dynastiebildungen über Vererbung verselbständigen konnten. Diese Praxis – zumal, wenn sich der König für die Einsetzung eines Bischofs entlohnen ließ – führte die Kirche in erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme. Der Salier Heinrich III. (1039 – 1056) trat an, diese Verhältnisse zu beenden und die Kirche wieder an ihre eigentlichen Aufgaben zu erinnern. Solche Reformvorstellungen leiteten ihn auch, als er 1046 in Rom eine Situation antraf, in der drei Päpste um das höchste Bischofsamt konkurrierten. Auf der Synode in Sutri 1046 ließ er die drei Päpste absetzen und machte den Deutschen Suidger von Bamberg zum Papst, der unter dem Namen Clemens II. (1046 – 1047) sein Amt antrat. Damit hatte Heinrich III. den Heiligkeitsanspruch und die Kirchenherrschaft des Kaisertums auf die Spitze getrieben, mit seiner Papsternennung aber zugleich eine entscheidende Wende herbeigeführt. Denn Clemens II. und seine Nachfolger unterschieden sich von den schwachen und verweltlichten Päpsten der vorangegangenen Jahrzehnte durch einen neuen Geist ernster Frömmigkeit, den leidenschaftlichen Willen zur kurialen Reform und zur Selbständigkeit ihrer Kirche von den kaiserlichen Herrschaftsansprüchen. Inspiriert von den Reformimpulsen des cluniazensischen Mönchtums sprachen sie sich gegen jegliche Vergabe geistlicher Ämter durch Weltliche aus und gerieten so in eine scharfe Auseinandersetzung mit den salischen Herrschern, die unter Papst Gregor VII. (1073 – 1085) in der Bannung des Kaisers durch den Papst und die Nichtanerkennung des Papstes durch den Kaiser gipfelte. Dieser sogenannte Investiturstreit endete mit dem Bußgang Heinrichs IV. (1056 – 1106) nach Canossa 1077, mit dem der Kaiser Papst Gregor VII. schließlich dazu bewog, ihn von dem Bann loszusprechen. Im Dictatus papae von 1075 – einem programmatischen Entwurf – formulierte Gregor VII., unter Berufung auf die petrinische Schlüsselgewalt, die Oberherrschaft des Papstes über die Welt, auch fähig, einen Kaiser abzusetzen.
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Mit dem Wormser Konkordat von 1122 wurde der Investiturstreit beendet. Darin akzeptierte Kaiser Heinrich V. (1086 – 1125) den Anspruch der Kirche auf die Investitur mit Ring und Stab, den Symbolen für die geistliche Ehe mit der Kirche und das priesterliche Hirtentum. Die Bischöfe wurden durch die Domkapitel gewählt. Im Gegenzug räumte Papst Calixt II. (1065 – 1124) ein, dass die Wahl der deutschen Bischöfe und Äbte in Gegenwart kaiserlicher Abgeordneter verhandelt und der Gewählte dann mit den Hoheitsrechten, die mit seinem geistlichen Amt verbunden waren, vom Kaiser durch das Zepter als weltlichem Investitursymbol belehnt werden sollte („Zepterlehen“). Was Gregor VII. programmatisch formuliert hatte, trat dann unter Innozenz III. (1198 – 1216) ein: Mit der Bildung eines lateinischen Kaiserreiches in Konstantinopel und der kirchlichen Herrschaft über das Deutsche Reich wie auch Britannien konnte sich der Papst kurzzeitig als Herr über eine geeinte Weltkirche sehen. Doch als Bonifaz VIII. (1294 – 1303) mit der Bulle Unam Sanctam von 1302 die Oberhoheit des Papstes auch über die weltliche Gewalt proklamierte, stieß die ohnehin schon bestehende, ungeheure Machtfülle des Papsttums aufgrund des Widerstands Frankreichs, an das sich die Kurie ursprünglich gegen die Staufer gebunden hatte, an ihre Grenzen. Der französische König Philipp der Schöne (1285 – 1314) ließ Bonifaz VIII. 1303 gefangen setzen; er und seine Nachfolger ließen nur noch Franzosen zu Päpsten wählen, die von 1309 bis 1376 ständig in Avignon residierten. Hundert Jahre nach der päpstlichen Herrlichkeit fiel das Papsttum wieder in eine tiefe geistliche wie politische Krise. Anders als Heinrich IV. konnte der deutsche König und Kaiser Ludwig der Bayer (1314/22 – 1347) nun trotz eines jahrzehntelangen Banns ungehindert weiter seine Herrschaft ausüben. Zwischen 1378 und 1417 kam es zu einer zeitweiligen Glaubensspaltung und damit zu unterschiedlichen Gehorsamsbereichen innerhalb der lateinischen Kirche mit konkurrierenden Papstansprüchen in Rom und Avignon. Erst das Konzil von Konstanz (1414 – 1418), von Kaiser Sigismund (1410 – 1437) veranlasst und verantwortungsbewusst geleitet, beendete das Schisma und wählte mit Martin V. (1417 – 1431) wieder einen Papst für das ganze katholische Europa. Dieser Erfolg stärkte den im Dekret vom 06. April 1415 verabschiedeten Grundsatz des Konziliarismus, wonach auch der Papst dem im Heiligen Geist versammelten Konzil untergeordnet sein sollte. Papst Eugen IV. (1431 – 1447) gewann jedoch gegenüber dem 1431 – 1447/49 in Basel tagenden Konzil erneut an Handlungsspielraum zurück, indem er dieses 1437 nach Ferrara und dann nach Florenz verlegte und es so zum päpstlichen Konzil machte. Das in Basel verbliebene Restkonzil wählte daraufhin Felix V. (1439 – 1449) zum letzten Gegenpapst, der sich jedoch gegen den – jedenfalls kurzfristig – mit der Kirchenunion von West und Ost erfolgreichen Eugen IV. nicht durchsetzen konnte. Damit hatte die Papstkirche endgültig obsiegt. 1459 erklärte Papst Pius II. den Konziliarismus für einen fluchwürdigen Frevel. Das V. Laterankonzil (1512 – 1517) sollte dann die Bulle Unam Sanctam von 1302 ausdrücklich bestätigen.
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Allerdings konnte das Papsttum nicht verhindern, dass sich kirchliche Institutionen immer stärker an nationalen Grenzen orientierten und dadurch einige Selbständigkeit von Rom gewannen. So entstanden in Mitteldeutschland Landesbistümer, die durch den Landesherrn besetzt wurden. Auch in Frankreich gelang es Karl VII. (1422 – 1461) ein kirchenrechtliches System – den 1438 in der Pragmatischen Sanktion von Bourges festgeschriebenen Gallikanismus – zu etablieren, mit dem die katholische Kirche eine Art Unabhängigkeit vom römischen Stuhl herstellte und beispielsweise die Bischofswahlen unabhängig von Rom durchführte. Kleinere Abspaltungen von der Papstkirche – etwa die Waldenser, Hussiten und deren Nachfolger – konnten sich nicht gegen die Mehrheitskirche behaupten und waren zum Teil grausamen Verfolgungen ausgesetzt. Doch gegen die mächtige, dann Reformation genannte Erneuerungsbewegung des 16. Jahrhunderts reichten die bisherigen Maßnahmen gegen Häretiker nicht aus, zumal Städte und Fürsten im Deutschen Reich die Reformatoren unterstützten. Die theologischen Einwände gegen die Papstkirche waren so gewichtig, dass ein bloßes Beharren auf den traditionellen Lehren nicht mehr ausreichte. Darum sollte das Konzil von Trient, das mit Unterbrechungen von 1545 bis 1563 tagte, zu einer Erneuerung der universalen Kirche führen. Aber da die reformatorischen Anliegen keine Beachtung fanden, beförderte diese Kirchenversammlung mit ihrer partikularen, nicht universalen Perspektive die konfessionelle Spaltung noch. Im bescheideneren Maßstab einer Partikularkirche gelang der römisch-katholischen Kirche mit dem Konzil von Trient jedoch eine beachtliche Erneuerung. Diese betraf, neben einer vertieften Spiritualität und Kontrolle des Klerus, die Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition, wonach die „Reinheit des Evangeliums“ sowohl in den geschriebenen Büchern als auch in den ungeschriebenen Traditionen enthalten sei. Diese hätten die Apostel aus dem Munde Christi empfangen und seien in ununterbrochener Abfolge bis in die Gegenwart weitergegeben worden.17 Damit war den Päpsten als apostolischen Nachfolgern eine besondere Verantwortung für die Traditionswahrung auferlegt. Wie die Reformatoren ging auch Trient von der Ursünde des Menschen aus, bekräftigte aber die Überzeugung, dass durch die Gnade Gottes der freie Wille des Menschen in der Lage sei, der Berufung durch Gott zuzustimmen und durch sein Tun aus Liebe die Rechtfertigung zu bewahren und wachsen zu lassen. Gegen die Reformation hielt das Konzil auch an der Siebenzahl der Sakramente fest und an der Lehre, dass in der Messe die Substanz von Brot und Wein in Leib und Blut Christi gewandelt würden. Dass die römisch-katholische Kirche trotz der protestantischen Abspaltungen in Europa ihren Anspruch aufrechterhalten konnte, weiterhin universale Kirche zu sein, hing vor allem mit ihrer weltweiten Ausdehnung zusammen. Mit der Kolonisierung neuer Kontinente und deren Missionierung gewann die Kirche nicht nur weiter geistliche, sondern auch politische Bedeutung. Als das wohl wichtigste Werkzeug für die 17 Hier zeigen sich Parallelen zum rabbinischen Verständnis der „schriftlichen“ und der „mündlichen“ Thora.
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Ausbreitung der römisch-katholischen Kirche diente der vom Papst 1540 anerkannte Jesuitenorden. In völligem Gehorsam gegenüber den Bischöfen von Rom agierte diese „Gesellschaft Jesu“ nicht nur als Instrument zur Eindämmung und Zurückdrängung anderskonfessioneller Christen in Europa, sondern auch als Motor der weltweiten Mission unter den „Heiden“. Papst Alexander VI. (1492 – 1503) hatte dem spanischen König schon 1493 die neu entdeckten Länder übertragen, ihn mit der Missionierung der Ureinwohner beauftragt und damit indirekt die Zurückdrängung der indigenen Bevölkerung legitimiert – auch wenn Papst Paul III. (1534 – 1549) 1537 ausdrücklich bekundete, dass die Indios nicht versklavt werden und sich in Freiheit zu Christus bekehren sollten. Gerade der Jesuitenorden zeichnete sich durch das Bemühen aus, die Integrität der getauften indigenen Bevölkerung und deren Rechte zu wahren – etwa durch die Gründung geschützter Siedlungen (Reduktionen) in Paraguay. Die erfolgreiche Katholisierung weiter Gebiete in Lateinamerika, Afrika und Asien sowie der Aufbau einer weltweiten, klerikalen Hierarchie in den katholisch gewordenen Ländern machten die römisch-katholische Kirche zur weltweit größten Religion mit über einer Milliarde Anhängern. Als Reaktion auf die Moderne und die Erschütterungen der bisherigen Weltordnung durch die Französische Revolution, die Bildung von Nationalstaaten und den Verlust päpstlichen Territoriums berief Papst Pius IX. (1846 – 1978) das Erste Vatikanische Konzil (1869/70) ein, das am 18. Juli 1870 die päpstliche Unfehlbarkeit in Sachen des Glaubens und der Moral beschloss, wenn das Oberhaupt der Kirche in höchster lehramtlicher Funktion rede. Die neu hinzugewonnene geistliche Machtstellung des Papsttums war teuer erkauft: Ein Fünftel der Konzilsteilnehmer reiste vor der Beschlussfassung aus Protest ab und ein kleiner Teil der Dissentierenden begründete unter dem deutschen Theologen und Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger (1799 – 1890) die Altkatholische Kirche. Während des preußisch-deutschen Kulturkampfes suchte das Deutsche Reich unter Kanzler Otto von Bismarck (1815 – 1898) in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts den römisch-katholischen Einfluss auf die katholische Bevölkerung massiv zurückzudrängen, musste aber erkennen, dass mit legislativen Mitteln der „Priesterherrschaft“ über die Gläubigen nicht beizukommen war und beendete 1878 die Kulturkampfgesetzgebung. Unter Leo XIII. (1878 – 1903) wurden in direkten Verhandlungen mit der Kurie die harten Gesetze schließlich abgemildert. Im Sommer 1882 nahmen Preußen und der Vatikan wieder diplomatische Beziehungen auf. Die 1886 und 1887 verabschiedeten Friedensgesetze legten den Konflikt endgültig bei. Das Kräftemessen zwischen den Nationalstaaten und der Kirche mit universalem Anspruch beförderte nicht nur in Deutschland, sondern auch in weiten Teilen Europas eine Trennung von Staat und Kirche. Diese fand ihren schärfsten Ausdruck in dem französischen Trennungsgesetz von 1905. Dessen ungeachtet wurde der gesamte Weltklerus 1910 verpflichtet, einen Antimodernisten-Eid abzulegen, mit dem sich der Vatikan gegen historisch-kritisches Denken innerhalb wie außerhalb der Kirchenmauern zu immunisieren trachtete.
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Die weitere politische Entwicklung schien ihn in diesem Kurs zu bestätigen, als Benito Mussolini (1883 – 1945) mit dem Heiligen Stuhl 1929 die Lateranverträge abschloss, da diese Verträge – wie weitere Konkordate in den 20er und 30er Jahren mit Deutschland und anderen Staaten – eine völkerrechtlich verbindliche Konsolidierung der römisch-katholischen Kirche in Europa zu begründen schienen. Doch der Zusammenbruch Europas 1945 und die Haltung Pius XII. (1939 – 1958) während des Zweiten Weltkrieges machten diese Hoffnungen auf Beharrung zunichte. Umso befreiender wirkte darum Pius‘ Nachfolger Johannes XXIII. (1958 – 1965) mit seiner programmatischen Forderung nach einer umfassenden Öffnung der katholischen Kirche (aggiornamento), um dieser den Dienst in der modernen Welt zu ermöglichen. Dieser Ruf zur Öffnung galt als Leitmotiv zur Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils, das von 1962 bis 1965 tagte. Signale der Öffnung und Erneuerung waren die Einführung der Volkssprache in die Liturgie, die Relativierung der exklusiven Bindung des Heils an die römisch-katholische Kirche sowie die Öffnung für andere „Kirchen und kirchliche Gemeinschaften“ und für die ökumenische Bewegung. Die für verschiedene Deutungen offenen Formulierungen vieler Konzilsbeschlüsse ermöglichten den Nachfolgern unterschiedliche Akzentuierungen. Joseph Ratzinger (geb. 1927), theologischer Lehrer und langjähriger Präfekt der Glaubenskongregation unter Papst Johannes Paul II. (1978 – 2005) und von 2005 bis zu seinem Amtsverzicht 2013 Papst Benedikt XVI., verstand die Konzilstexte überwiegend nach ihrer traditionswahrenden und weniger nach ihrer öffnenden Seite. Sein Nachfolger, Papst Franziskus (geb. 1936), wiederum scheint eher geprägt von der „Theologie des Volkes“, einer argentinischen Variante der so genannten Befreiungstheologie. Weniger Dogmatiker als Seelsorger vertritt er die Überzeugung, dass die Kirche eindeutig an der Seite der Armen zu stehen und solidarisch deren Rechte und Teilhabe in Kirche und Gesellschaft einzufordern habe. Mehr als mit einer konservativen oder liberalen Konzilshermeneutik und den entsprechenden Hoffnungen der Gläubigen sind die römisch-katholische Kirche und ihre Anhänger in den letzten Jahren damit beschäftigt, die Folgen der weltweit zutage getretenen Fälle sexuellen Missbrauchs zu verarbeiten. Diese Missbrauchsfälle haben zu einer schweren Vertrauenskrise in der römischen Kirche geführt und wesentlich zu einer Öffnung der Kirche für die weltliche Gerichtsbarkeit beigetragen.
VI. Reformatorische Kirchen (1517 – 2017) Die Niederschrift und Versendung der Ablassthesen durch den Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther (1483 – 1546) im Oktober 1517 gelten als erster reformatorischer Akt, obwohl sie von ihrer ganzen Anlage her nicht für einen großen Leserkreis bestimmt waren. Luthers Zweifel an der kirchlichen Ablasslehre zielte auf die Vorstellung, dass es möglich sei, einem Christen nach der Buße Strafmilderung zu gewähren, wenn der schuldig Gewordene Wiedergutmachung leiste. War
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er dazu willens und in der Lage, konnten ihm aus dem Gnaden-Guthaben der Kirche, das Christus und die Heiligen angehäuft hätten, gegen eine entsprechende Zahlung ein Schuld-Nachlass gewährt werden. In dieser Praxis des Buß-Sakraments „hatte die mittelalterliche Einheit von Welt und Kirche ihre festeste Klammer gefunden“18. Luther war freilich nicht der erste und einzige, der gegen dieses Ablassdenken Einwände erhoben hatten, sondern auch andere Theologen, besonders solche aus mystischen Kreisen. Deren Kritik bezog sich auf die Veräußerlichung des Bußwesens. Anstatt innerer Umkehr und einer neuen, Gott zugewandten Lebensorientierung kreiste das Ablassdenken um die Frage der Wiedergutmachung. Hier knüpfte Luther an und lehrte in aller Schroffheit, dass das Heil des Menschen allein auf Gottes Gnade beruhe, die ihm allein durch den Glauben zuteilwerde. Die aus dieser Vorstellung entwickelte Rechtfertigungslehre allein aus Glauben führte den Gedanken ad absurdum, dass der sündige Mensch zugunsten seines Seelenheils Gott Opfer darbringen müsse. Ebenfalls mit Impulsen aus der mystischen Theologie entwickelte Luther dann aus der Bibel die Vorstellung eines allgemeinen Priestertums der Gläubigen, die dem römisch-katholischen Amtsverständnis diametral entgegenstand und den weltlichen Stand legitimierte, in Kirchenangelegenheiten einzugreifen, wenn der kirchliche Stand sich Verfehlungen leistete. Die weitgehend autonomen Reichsstädte griffen als erste diesen Gedanken auf und begannen mit kirchlichen Reformen, große Territorien wie Kursachsen und Hessen folgten ab 1526 nach. Die Landesherren verstanden sich nunmehr als „Notbischöfe“ und nutzten das Instrument der Visitation – im Mittelalter eine von den Bischöfen verantwortete Aufsicht über die Diözesen –, um Reformmaßnahmen im Raum der Kirche durchzusetzen. Damit beendeten sie auch das latente Konkurrenzverhältnis zwischen Bischof und Landesherr, indem sie die kirchlichen Strukturen in die weltlichen eingliederten und durch die Bildung von „Landeskirchen“ eine kirchliche De-Zentralisierung einleiteten. Zu den folgenreichsten Reformen gehörten die Abendmahlsfeier in beiderlei Gestalt, der Gebrauch der Volkssprache im Gottesdienst und die Reduktion der Sakramente auf Taufe und Abendmahl. Durch den Wegfall des Zölibats wurde das soziale Leben der Pfarrer dem der anderen Gläubigen ähnlicher. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 besiegelte schließlich den Zerfall der lateinischen Christenheit in zwei unterschiedliche, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eher gegeneinander denn miteinander agierende Kirchen. Allerdings zerfiel die neue „evangelische Kirche“ in verschiedene Konfessionen und bildete bis ins 19. Jahrhundert hinein immer neue Kirchen und Religionsgemeinschaften aus, die erst aufgrund kirchlicher Frömmigkeitsbewegungen und politischer Ereignisse in der ökumenischen Bewegung des 19./20. Jahrhunderts – jedenfalls teilweise – wieder zueinander fanden. In der deutschen Schweiz und in Südwestdeutschland, wo die politische Kultur in genossenschaftlichen Verfassungsordnungen zur Geltung kam, wirkten eine Reihe 18
Moeller, Geschichte des Christentums, S. 217.
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bedeutender Reformatoren mit meist humanistischer Herkunft. Ihr bedeutendster Repräsentant und wichtigster Wortführer war der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli (1484 – 1531), für den die Erkenntnis des unendlichen Unterschieds von Gott und Mensch wie des von Gottes- und Menschenwort die Initialzündung für sein reformatorisches Handeln bildete. Seine Überzeugung „Allein aus der Schrift“ ließ ihn menschliche Satzungen – etwa die Fastengebote – missachten und brechen. Schon bald konnte Zwingli eine Mehrheit des Zürcher Rats für seine reformatorischen Lehren gewinnen. Als sich die traditionelle Kirche dem vom Rat anberaumten Streitgespräch verweigerte, beschloss dieser in einem Rechtsakt, dass in Zürich hinfort nach der Lehre Zwinglis zu predigen sei. Gegenüber Luther bestand die Akzentverschiebung in dem Motiv, die tatsächliche sittliche Bewährung der erlösten Christen aufgrund der erneuernden Entwicklung des Heiligen Geistes besonders hervorzuheben. Der Geist Gottes handelt unmittelbar mit den Menschen – einer Vermittlung durch Liturgie, Schmuck oder Bilder bedarf es ebenso wenig wie einer Heilsfunktion der Sakramente. Letztere erinnern lediglich an Gottes Heilstat in Jesu Christi, halten zentrale Wahrheiten der Offenbarung in der Gemeinde lebendig und festigen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gläubigen. Über dieses nur symbolische Abendmahlsverständnis kam es 1525 zu einem schweren Streit mit Luther, der auf einer realen Präsenz Christi im Abendmahl bestand. Zu der großen Anzahl weiterer reformatorischer Gruppierungen gehören die spiritualistischen Bewegungen, deren wichtigster Vertreter in Mitteldeutschland Thomas Müntzer (ca. 1490 – 1525) war. Er hielt Sakramente, Bibel und Kirche für entbehrlich, wenn der Gläubige sich nur in seinem Streben nach Christusförmigkeit aller irdischen Freuden entledigt. Müntzers theologische Vorstellungen führten zu sozialkritischen Ideen, die ihn zum Agitator des Bauernaufstandes machten. Der Wunsch nach einer an der Bibel orientierten Wiederherstellung der urchristlichen Gemeinde – die Aufrichtung einer vollkommenen Kirche der Frommen – motivierte verschiedene Täufergruppen zu einer scharfen Trennung von den in ihren Augen sittenlosen reformatorischen Kirchen. Stellvertretend für alle Verfallserscheinungen erschien diesen Gruppen die Kindertaufe als fundamentales Kennzeichen eines verdorbenen Kirchentums. Sie praktizierten die Glaubenstaufe und verwarfen Eid, Kriegsdienst und Zinszahlung. In der Regel verfolgten die Obrigkeiten diese Täufergemeinschaften, beschuldigten sie des Aufruhrs und wendeten Ketzergesetze gegen sie an. Nachdem gewaltbereite Täufergruppen in Münster ein apokalyptisches Königreich der Endzeit, das neue Jerusalem, errichtet hatten und im Kampf mit altgläubigen und reformatorischen Herrschern 1535 untergegangen waren, sammelte Menno Simons (gest. 1561) friedfertige Täufer vor allem in Ostfriesland. Bis heute bewahren die auf diese Bewegung zurückgehenden Mennoniten – mehrheitlich in den USA – das Erbe der Täufergruppen der Reformationszeit. Im England des 17. Jahrhunderts griffen presbyterianische Kreise in Auseinandersetzung mit episkopalen das täuferische Ideal der Glaubenstaufe wieder auf, woraus sich verschiedene
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Zweige des Baptismus entwickelten. 1639 kam es zu ersten Gemeindebildungen in den USA, wo die Baptisten bis heute die größte evangelische Gemeinde bilden. In den Weiten Nordamerikas fanden auch andere Dissenter von den reformatorischen Kirchen einen Zufluchtsort – 1620 die englischen Kongregationalisten, Vertreter des Gemeindeprinzips, und die Gemeinschaft der Quäker, der in England entstandenen „Society of Friends“, die 1681 unter der Führung von William Penn (1644 – 1718) in New Jersey eine eigene Kolonie gründete. Eine theologisch vermittelnde Position zwischen Luther und Zwingli – auch in der Frage der Abendmahlslehre – nahm der französische Reformator Johannes Calvin (1509 – 1564) ein. Die auf ihn zurückgehende reformierte Konfession verbreitete sich in weiten Teilen Europas und in der Neuen Welt. An seinem Wirkungsort, der freien Stadt Genf, schuf Calvin ein weit ausstrahlendes Zentrum der Reformation. Der Genfer Reformator lehrte, Leib und Blut Christi würden im Abendmahl „wahrhaft und wirksam“ dargeboten und alle Güter, die Christus uns erworben habe, mit ihnen. Bei der Abendmahlsfeier, die nur Glaubenden zugutekomme, sei mit der Gegenwart des Heiligen Geistes zu rechnen. Seine Auffassung von der Prädestination ging von der Überlegung aus, dass der allmächtige Gott von Ewigkeit her das Schicksal der Menschen vorausbestimmt haben müsse; daher sei deren Erwählung und Verwerfung letztlich Gottes Werk. Insofern könne das menschliche Verhalten immer nur das bestätigen, was Gott festgesetzt habe. In den reformierten Kirchen spornte diese Lehre den Heiligungseifer erheblich an, denn es lag den Gläubigen daran, sich des eigenen Erwähltseins gewiss zu werden. In diesem Bestreben wurzelt die „Protestantismusthese“ des deutschen Soziologen Max Weber (1864 – 1920). Ihm zufolge hat der Calvinismus im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Arbeitsmoral und -ethik in Britannien, den Niederlanden, der Schweiz und einigen Gegenden Deutschlands, besonders in den von den seit 1613 reformierten Hohenzollern regierten Staaten, maßgeblich beeinflusst und legitimiert. Er setze einen Maßstab bei der Nützlichkeit menschlichen Handelns an, wobei der wirtschaftliche Erfolg im Vordergrund stehe: Zeitvergeudung sei die schlimmste Sünde, wozu auch übermäßig langer Schlaf oder Luxus zählten. Arbeit sei der von Gott vorgeschriebene Selbstzweck des Lebens. Mit seiner spezifischen Arbeitsund Wirtschaftsethik habe er eine wesentliche Grundlage für die Industrielle Revolution und den modernen Kapitalismus geschaffen. Das Ideal der „christlichen Stadt“ – die wechselseitige Durchdringung des bürgerlich-politischen und des kirchlichen Gemeinwesens – suchte Calvin in Genf zu verwirklichen. Der englische König Heinrich VIII. (1491 – 1547) hielt sich zunächst treu zur altgläubigen Kirche und erhielt wegen seiner Kritik an Luthers Sakramentslehre sogar den päpstlichen Ehrentitel „Verteidiger des Glaubens“. Als sich der Papst jedoch weigerte, seine erste Ehe mit Katharina von Aragon, aus der kein männlicher Nachkomme hervorging, zu annullieren, sagte er sich von der römisch-katholischen Kirche los und begründete die Church of England, als deren Oberhaupt er sich erklärte. Nach
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Heinrichs Tod fiel die Krone zunächst an seinen neunjährigen Sohn Eduard, nach dessen frühem Tod an seine älteste Tochter Maria (1553 – 1558), der die angestrebte Wiederherstellung der Papstkirche missglückte und schließlich an seine Tochter Elisabeth (1558 – 1603), mit der das Haus Tudor 1603 endete. Elisabeth führte das Land mit den verbindlich gemachten 39 Artikeln und dem Book of Common Prayer (1549) endgültig der Reformation zu, blieb jedoch bei der vorsichtigen Kirchenpolitik ihres Vaters. So rührte sie die bischöfliche Verfassung, die katholischen Gottesdienstformen und vieles andere nicht an. Doch während der Regierungszeit der katholischen Maria waren zahlreiche evangelisch Gesinnte auf den Kontinent emigriert und hatten dort den Calvinismus kennengelernt. Nach ihrer Rückkehr ins Heimatland sorgten diese Remigranten unter Elisabeth und deren Nachfolgern für heftige gesellschaftliche, politische und kirchliche Spannungen zwischen der staatskirchlich orientierten, lebenslustigen Aristokratie und den auf Heiligung des Alltagslebens bedachten Calvinisten vor allem im Bürgertum der Städte. In der Konsequenz kam es zu Separationen von der anglikanischen Kirche und zu mehreren Auswanderungswellen nach Amerika. Unter den in England Verbliebenen bildeten die „Puritaner“ eine starke Minderheit und Opposition innerhalb der Staatskirche. Auf die Initiative von Laien hin wurden Hunderte puritanischer Prediger eingestellt und besoldet. Während der Regierungszeit der Stuarts verschmolzen schließlich kirchliche Reformtendenzen mit politischen, das Parlament opponierte gegen König und Staatskirche. 1642 begann der Bürgerkrieg zwischen dem absolutistisch regierenden König und dem puritanisch dominierten Parlament. Oliver Cromwell (1599 – 1658), der puritanische Führer des Parlamentsheeres, setzte sich mit seinen „Heiligen“ an die Spitze der Revolution. Maria Stuarts Enkel, Karl I., unterlag im englischen Bürgerkrieg den Truppen des Parlaments und wurde auf Betreiben des Lordprotektors Cromwell 1649 nach einem Hochverratsprozess enthauptet. Anderthalb Jahrzehnte herrschten die Puritaner mit ethischer Strenge und rigider Gewalt. Neben calvinistischen Gruppierungen kamen auch spiritualistische und täuferische Elemente zum Zuge. Doch das zum Teil chaotische Regiment mit seinen kirchen- und gesellschaftskritischen Impulsen konnte in der Bevölkerung keine dauerhafte Legitimation gewinnen und fiel nach Cromwells Tod alsbald in sich zusammen. Im Zuge der Stuart-Restauration im Jahr 1660 kehrte Karl II. (1660 – 1685) aus dem Exil zurück, 1688 jedoch wurde sein Bruder und Nachfolger, der zum Katholizismus konvertierte Jakob II. (1685 – 1688), in der Glorious Revolution gestürzt und lebte noch bis 1701 im französischen Exil. Seine beiden protestantischen Töchter aus erster Ehe, Maria II. und Anne, regierten noch bis 1694 bzw. 1714, ehe das englische Parlament im Act of Settlement (1701) die protestantische Erbfolge unter Umgehung der beiden katholischen Kinder Jakobs II. aus zweiter Ehe gesetzlich festschrieb und damit einen Cousin aus dem Haus Hannover, den Kurfürsten Georg Ludwig, als George I. auf den Thron berief.
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Infolge des Britischen Empires breitete sich die anglikanische Kirche über weite Teile des Herrschaftsgebiets aus. Seit 1867 tagt regelmäßig die Lambeth-Konferenz aller anglikanischen Bischöfe, die vom Erzbischof von Canterbury als primus inter pares geleitet wird. Cromwells „Große Revolution“ und der 30jährige Krieg waren die letzten Konfessionskriege, bevor eine entscheidende Wende im Denken und Lebensgefühl der Menschen eintrat, die sie selbst zum Maßstab aller Dinge werden ließ. Das neue Zeitalter war durch Philosophen und Staatstheoretiker geprägt, die ihre geistigen Impulse meist nicht aus dem Christentum empfangen hatten. In Reaktion auf das rationale Denken der Aufklärung, wonach Gottes Gesetz sich letztlich als nichts anderes als das staunenswerte Naturgesetz entpuppte, begehrte die individuelle Frömmigkeit in Wellen der Erweckung auf. Das von Großbritannien und Amerika ausgehende Great Awakening ist mit den Namen Jonathan Edwards (1703 – 1758), George Whitefield (1714 – 1770) und Timothy Dwight (1752 – 1817) verbunden. Eine neue Sehnsucht nach persönlicher Erlösung durch Jesus Christus erfasste viele evangelische Denominationen, speiste sich aus antikatholischen Sentiments und dem Wunsch nach einer Einigung der evangelischen Christenheit. Auch soziale Aspekte, wie schlechte Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit zählten zu den Motiven zugunsten einer geeinten und einflussreichen Kirche. Auf dem europäischen Kontinent konnte man an Impulse aus dem traditionellen Pietismus und an die Reformvorschläge Philipp Jakob Speners (1635 – 1705) anknüpfen. Ähnlich wie die Herrnhuter, einer von Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700 – 1760) in Mitteldeutschland begründeten pietistischen Gruppierung, entwickelte sich im angloamerikanischen Raum durch die Predigten der Brüder John (1703 – 1791) und Charles Wesley (1707 – 1788) eine Frömmigkeitsbewegung, die schließlich in die Bildung einer eigenen Kirche – den Methodismus – mündete. Die Gründungskonferenz der Evangelischen Allianz, an der sich 921 Christen aus zwölf Nationen und 52 reformatorischen Kirchen beteiligten, fand Ende August/Anfang September 1846 in London statt. Aus den Erweckungsbewegungen dieser Milieus kamen um 1850 auch die Impulse zur Gründung christlicher Vereine wie des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM/YMCA), die vor dem Hintergrund sozialer Nöte und persönlicher Gläubigkeit ein überkonfessionelles, weltweites Engagement entwickelten. Die Linien und personellen Verflechtungen hin zur modernen ökumenischen Bewegung sind unübersehbar. Ein anderer Strang hin zur Vereinigung des Weltprotestantismus führt über die sozialethisch orientierten, liberal-theologischen Bewegungen des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen Anfang des 20. Jahrhunderts und die Stockholmer Weltkirchenkonferenz von 1925. Auf theologischer Ebene suchte die Bewegung On Faith and Order, gegründet 1927 in Lausanne, in zahlreichen bi- und multilateralen Konferenzen – mit insgesamt nur mäßigem Erfolg – die konfessionellen Spaltungen zu überwinden. Als weiterer Ausgangspunkt der modernen ökumenischen Bewegung gilt die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, die zu diesem Zeitpunkt al-
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lerdings noch in dem kolonialistischen Konzept der Verkündigung des Evangeliums an die „Heiden“ gefangen war. VII. Die christliche Einigungsbewegung des 20. Jahrhunderts: Der Ökumenische Rat der Kirchen – World Council of Churches (1948 – 1990) Mitten in dem schwindelerregenden Siegeslauf des Nationalsozialismus konnte 1937 – nach einem zweijährigen Konsolidierungsprozess – die Weltkirchenkonferenz in Oxford stattfinden. Dennoch war die weltkirchliche Lage höchst unübersichtlich. Die Architekten des im Werden begriffenen Weltkirchenrats – Willem A. Visser ’t Hooft (1900 – 1985), Henry-Louis Henriod (1887 – 1970), George K. A. Bell (1883 – 1958), Joseph H. Oldham (1874 – 1969) und John Mott (1865 – 1955) – hatten Deutschland bereist, Vorträge gehalten und mit prominenten NS-Politikern wie Kirchenleuten gesprochen. In Großbritannien wie in den Vereinigten Staaten und Skandinavien – besonders im Luthertum – gab es gewichtige Stimmen, die Sympathien für den antibolschewistischen nationalsozialistischen Staat hegten und trotz mancher Schwierigkeiten die Kooperation mit der offiziellen Deutschen Evangelischen Kirche unbedingt fortsetzen wollten. Es darf auch nicht vergessen werden: Zu den Vereinbarungen des Council for Life and Work in Fanø 1934 gehörte die Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse einer Nationalkirche. In weiten Kirchen- und Theologenkreisen Großbritanniens, der USA und in den Nordischen Ländern gab es erhebliche Vorbehalte gegen das als zu „radikal“ empfundene theologische Fundament der Bekennenden Kirche, das im Wesentlichen aus den biblisch zentrierten dogmatischen Überlegungen des Schweizer reformierten Theologen Karl Barth (1886 – 1968) bestand. Es waren denn auch nicht die theologischen Argumente, die allmählich – und erst recht nach Beginn des Zweiten Weltkrieges – die Gewichte zugunsten der Bekennenden Kirche verschoben, sondern die mörderische Brutalität des NS-Regimes. In dieser Situation erschienen die Theologen, Kirchenmänner und -frauen der Bekennenden Kirche als die letzten Ansprechpartner in der Opposition gegen den totalitären Staat. Soweit sie konnten, unterstützten sie die humanitären Aktionen des ÖRK (im Formierungsprozess) zur Rettung der vom NS-Staat Verfolgten. Auch wenn diese Bekennende Kirche keinesfalls die Mehrzahl der Gläubigen repräsentierte, sondern im Gegenteil eine schwache Minderheit blieb, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges beinahe ganz verstummte, wurde sie nach 1945 – mit tätiger Mithilfe der Westmächte – zu einem essentiellen Teil des Widerstands gegen Hitler stilisiert. Während die Alliierten den Krieg militärisch gewonnen hatten, kann man sagen, dass dieser Kriegsausgang das theologische Schwergewicht in Mitteleuropa eindeutig zugunsten der Dialektischen Theologie Karl Barths (1886 – 1968) verschob. Auch der Lutheraner Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) wurde dieser theologischen Richtung zugerechnet; sein Leben und Werk erfuhren – über Grenzen und Konfessionen
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hinweg – eine Stilisierung zum Mythos. Über Jahrzehnte spielte die liberale Theologie kaum mehr eine Rolle, und auch das internationale Luthertum, bis dahin eng verbunden mit deutschen Theologen wie dem hannoverschen Bischof August Marahrens (1875 – 1950), fürchtete seine drohende Marginalisierung und bemühte sich um Selbstbehauptung. Karl Barth hatte mit seinen theologischen wie politischen Analysen, die er zwischen 1938 und 1945 in Offenen Briefen und Vorträgen publiziert hatte, so unheimlich recht behalten, dass auch der Ökumenische Rat der Kirchen (im Formierungsprozess) gar nicht umhin konnte, als in dieser Theologie eine wesentliche Grundlage seiner Tätigkeit zu sehen. Die Tatsache, dass Willem A. Visser ’t Hooft, der erste Generalsekretär des ÖRK, Karl Barth eng verbunden war, begünstigte diese Entwicklung natürlich. Als einen ersten Höhepunkt dieser theologisch-kirchenpolitischen Allianz kann man durchaus die Stuttgarter Schulderklärung vom Oktober 1945 sehen – auch wenn diese dem Schweizer Theologen bei Weitem nicht „konkret“ genug war. Mit dem Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes, dem so genannten „Darmstädter Wort“ vom August 1947, kam dann, durch Barth selbst, jene „Konkretion“ – nämlich „die positive Zuwendung zum Marxismus“ in die theologische Ethik des Politischen –, die fortan erheblichen Einfluss auch auf die Ökumenische Bewegung haben sollte. Ganz Europa war vom Krieg schwer gezeichnet, Frankreich und Großbritannien hatten überdies mit dem beginnenden Zusammenbruch ihrer Kolonialreiche zu kämpfen. Diese Auseinandersetzungen banden nicht nur erhebliche Ressourcen, sondern ließen auch den globalen Einfluss dieser Länder merklich schrumpfen. Diese Entwicklung stärkte den US-amerikanischen Einfluss auf dem Kontinent noch – auch den des amerikanischen Protestantismus. Der dortige protestantische Kirchenbund, der Federal Council of the Churches of Christ in America, hatte im Oktober 1940 eine Commission on a Just and Durable Peace ins Leben gerufen, die Konzepte für eine stabile Nachkriegsordnung erarbeiten sollten. Ihr Vorsitzender von 1940 bis 1946, aber auch ihr Ideengeber und Propagandist, war der spätere Außenminister (1953 – 1959) John Foster Dulles (1888 – 1959). Der aus einem Pfarrhaus stammende Jurist, Geschäftsmann und Diplomat verstand sich als Internationalist, forderte im Interesse einer stabilen Friedensordnung die Zurückdrängung des Nationalstaatsprinzips und die Gründung einer Weltorganisation mit überstaatlichen Rechten und Funktionen. Weltweit vernetzt und befreundet mit dem Theologen Reinhold Niebuhr, stand Dulles auch mit Visser ’t Hooft in Kontakt, mit dem er und andere im März 1942 an der Wesleyan University in Delaware (Ohio) Vorträge über die neue christliche Friedensbewegung hielten. Im selben Jahr hatte der Generalsekretär des Federal Council of Churches, Samuel McCrea Cavert, den Schweizer Theologen Barth um einen Brief „an einen amerikanischen Kirchenmann“ gebeten. Barth lieferte, bemerkte aber gegenüber Visser ’t Hooft – wohl auch mit seiner Rolle kokettierend – ständig müsse er für Genf, für die „wiederentdeckte eine Kirche Jesu Christi“ reden. Bekanntlich nahm Barth ge-
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genüber der ökumenischen Bewegung prinzipiell eine skeptische Haltung ein. Ironischerweise, ungeachtet seines reformierten Hintergrundes, stieg Barth auch in den USA immer mehr zum theologischen Sprecher der Ökumenischen Bewegung auf, der jene „geistliche Macht“ repräsentierte, die dem ÖRK im Formierungsprozess noch fehlte. In dieser Funktion rief er im Oktober 1942 den amerikanischen Kirchen zu, „sie möchten für sich oder mit den Kirchen anderer Länder zusammen die Schritte sofort unternehmen, die hier sofortigen Wandel möglich und wirklich zu machen geeignet sind.“ Die Nachkriegswelt, so Dulles und seine Mitstreiter, sollte nicht nur – wie die Atlantik-Charta von 1941 proklamierte – die Vorkriegszeit reproduzieren und stabilisieren, sondern in mehreren Kreisen eine regionale, kontinentale und schließlich hemisphärische Integration errichten. Folgerichtig plante er eine Kampagne zum Aufbau einer „wahren Gemeinschaft der Nationen“, die im Frühjahr 1943 unter dem Slogan „Six Pillars of Peace“ anlief. Während die Roosevelt-Administration und auch der amerikanische Präsident seinen Überlegungen distanziert gegenüberstanden, griff die Church of England Dulles‘ Anregungen auf und veröffentlichte eine Stellungnahme unter dem Titel „A Christian Basis of Reconstruction“, die seinen „Six Pillars of Peace“ nachempfunden waren. Für kirchliche Kreise eher unüblich, hatte Dulles auch 1942 schon formuliert, was für Dekaden Wirklichkeit bleiben sollte: Die USA seien mindestens für seine Generation „die vorherrschende ökonomische Macht in der Welt“ und verfügten „damit über die Fähigkeit […], die Gestaltung der Ereignisse weltweit entscheidend zu beeinflussen.“ Nach seinen mit missionarischem Idealismus vorgetragenen Vorstellungen sollten die USA ihre ökonomische, militärische und moralische Überlegenheit nutzen, um der Welt ein neues Gesicht zu geben. Schon im Januar 1945 sah Dulles auch das baldige Ende der Anti-Hitler-Koalition und den kommenden Kalten Krieg voraus. Darum warf er der Europapolitik Roosevelts Konzeptionslosigkeit und Konfusion vor und rief seine Regierung dazu auf, sich aktiv an der Neuordnung Europas zu beteiligen. Hätte der Republikaner Thomas E. Dewey, dem Dulles zur Seite stand, die Präsidentschaftswahlen 1944 gewonnen, dann hätte Nachkriegseuropa vermutlich anders ausgesehen. Denn früher als die meisten – seit der Konferenz von San Francisco Ende April 1945 – hatte Dulles begriffen, dass die Sowjetunion eine ernste Gefahr für die USA und seine Integrationspläne darstellte. Fortan forderte er äußerste Entschlossenheit gegen die weltrevolutionären Pläne der UdSSR und kritisierte die Wankelmütigkeit und Entschlussschwäche des Westens – allen voran der USA. Das „Vakuum des Glaubens und der Ordnung“ sollte gefüllt werden und das große Versprechen der Freiheit in aller Welt Wirklichkeit werden. Diese Haltung schloss eine entschiedene Eindämmung des sowjetischen Einflusses und das Modell einer europäischen Integration mit der Einbindung Deutschlands ein. In diesem Projekt sehen manche einen wichtigen ersten Impuls für die Europäische Union und den Anteil der Kirchen an dieser Entwicklung. Mit seinem Freund Jean Monnet und guten Verbindungen zu Konrad Adenauer ver-
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folgte Dulles das Projekt der „Vereinigten Staaten von Europa“, deren Fundament ein aufgeklärtes, aber glaubensfestes Christentum sein sollte. Dass auch auf der Agenda des Ökumenischen Rates der Kirchen – zu dieser Zeit bereits im Formationsprozess – eine enge Verzahnung von Weltchristentum und Weltpolitik ganz oben stand, wird an der Gründung der Commission of the Churches on International Affairs (CCIA) schon im Sommer 1946 deutlich. „The major ecumenical bodies, the WCC and the International Missionary Council, were the organizers and ensured that transatlantic cooperation reflected the position of churches in international politics.“ Die Konferenz, die den Beschluss zur Gründung der CCIA fasste, traf sich im Girton College, Cambridge, und wurde von Dulles geleitet. Auch auf der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 – der Kalte Krieg zwischen Ost und West konnte nicht mehr ignoriert werden – nahm Dulles einen zentralen Platz ein. Er sprach als Repräsentant einer Verbindung von westlicher Demokratie und Christentum, während sein Antipode, der tschechische Theologe Josef Hromádka (1889 – 1969) die politische Heimat des Christentums im Sozialismus sah und den Zusammenbruch des kapitalistischen Westens voraussagte. Wieder kam dem Großtheologen Karl Barth die Rolle dessen zu, der in dem weltanschaulich grundierten Streit gewissermaßen als oberster Entscheider auftrat. Zwar lag Barth mit seinem Vortrag auf der vom ÖRK schließlich rezipierten Linie, dass die Kirche sich gegenüber Kommunismus und Kapitalismus gleichermaßen kritisch zu verhalten habe, aber es wurde auch deutlich, dass der Schweizer Theologe Hromádka theologisch-politisch näherstand als Dulles. Für Barth wie für Hrómadka war die faktische Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Bolschewismus inakzeptabel, während Dulles dem sozialistischen Gesellschaftskonzept des atheistischen kommunistischen Staates ebenso strikt ablehnend gegenüberstand wie dem überwundenen Faschismus bzw. Nationalsozialismus. Mit der Theologischen Erklärung von Barmen und weiteren Stellungnahmen Barths – etwa im selben Jahr zur Situation in Ungarn – legte sich der ÖRK einerseits auf „entschlossene Unabhängigkeit im Spannungsfeld der Blöcke“ fest, andererseits aber auch auf die Wahrnehmung politischer Verantwortung und entschlossenen Engagements. Den eher in pietistischer Tradition stehenden Ausweg politische Abstinenz lehnten beide Seiten konsequent ab. Für den ÖRK begann nun der anspruchsvolle Weg zwischen politischer Unabhängigkeit und politischem Engagement aus christlicher Verantwortung. Kapitän und Steuermann des ÖRK – der Bischof von Chichester, George Bell, und Visser’t Hooft – bemühten sich zwischen 1948 und 1958 um einen solchen Kurs, indem sie einerseits massiv gegen die Verfolgung von Bischöfen im sowjetischen Machtbereich protestierten und die allzu große politische Anschmiegsamkeit etwa ungarischer und tschechischer Kirchenmänner kritisierten. Andererseits intervenierten sie aber auch angesichts der kolonialpolitischen Aktionen Großbritanniens und Frankreichs – etwa in der Suez- und der Zypern-Krise. Diesen Kurs steuerten nicht nur die Weltkirche, sondern auch ihre Mitgliedkirchen im Westen, besonders
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der amerikanische Kirchenbund. Ein erster heftiger Streit war bereits im Sommer 1950 im Zusammenhang mit dem Koreakrieg ausgebrochen, als das Zentralkomitee des ÖRK in einer Resolution die „Polizeiaktion“ der Vereinten Nationen in dem Konflikt unterstützte und dafür heftige Vorwürfe durch Theologen aus dem Ostblock einstecken musste. Für die Vereinigten Staaten waren die 50er Jahre mit der erschreckenden Erfahrung verbunden, dass ihr großes Freiheitsversprechen in der damals so genannten „Dritten Welt“ keine Faszination mehr entfalten konnte. Wie die alten Kolonialmächte wurden auch die USA den imperialistisch-kapitalistischen Mächten zugerechnet und demgegenüber das für die USA unfassbare „Communistic Gospel“ verkündet. Die Auseinandersetzungen des ÖRK mit chinesischen Theologen spiegeln diese Entwicklung wider. Etwa zur selben Zeit wurde bekannt, dass die UdSSR ebenfalls eine Atombombe entwickelt hatte – viel früher als amerikanische Experten angenommen hatten. Von Beginn an setzte sich der ÖRK für eine wachsende Unabhängigkeit der jungen Kirchen ein, stärkte die Stellung von Frauen in kirchlichen Gremien und unternahm erste, wenn auch noch eher zaghafte Schritte gegen die Rassentrennung in der Republik Südafrika, die von den Burenkirchen noch lange Zeit entschlossen mitgetragen wurde. Nicht erst seit dem Koreakrieg, sondern von Beginn an lehnten die sozialistischen Staaten den ÖRK als religiöse Institution aus ideologischen Gründen ab und diffamierten ihn zuweilen gar als „NATO-Ökumene“. Nach den enttäuschenden Versuchen des ÖRK zwischen 1946 und 1948, das Gespräch mit der Russisch-orthodoxen Kirche (ROK) aufzunehmen, reagierte diese Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre wieder positiv auf Einladungen und Gespräche, die schließlich mit dem offiziellen Beitritt der ROK 1961 in den ÖRK endeten. Dass für diesen Schritt mindestens auch außenpolitische Interessen der UdSSR den Ausschlag gaben, ist nicht mehr wirklich umstritten und liegt bis heute auf der Linie des theologisch-politischen Handelns der ROK. Es kann auch nicht überraschen, dass auf den Ostblock-Kirchenämtertagungen der Versuch unternommen wurde, möglichst alle Kirchen im sowjetischen Einflussbereich auf diese Linie festzulegen. Es gehört zu den eher selten thematisierten Komplexen, dass man auf sowjetischer Seite die Probleme der Satellitenstaaten mit ihren protestantischen oder römisch-katholischen Kirchen oft nicht verstand, weil – anders als diese – die ROK sich aus theologischen Gründen den Wünschen der Staatsführung stets fügte. Diese theologischen Gründe einer Symphonie von Staat und Kirche konnten sich die aus der Römischen Westkirche hervorgegangenen protestantischen Kirchen aber nicht zu Eigen machen, wenn sie nicht gänzlich mit ihrer theologischen Tradition brechen wollten. Eine begrenzte Veröstlichung der protestantischen Kirchen im sowjetischen Machtbereich ist aber dennoch kaum zu übersehen. Nach und nach wurden die Kirchen immer stärker in den „Friedenskampf“ des Ostblocks hineingezogen. In einem ersten Schritt aber ging es den sowjetischen Stra-
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tegen und ihren Helfershelfern in den Satellitenstaaten um eine Demonstration von Toleranz und Liberalität im Inneren wie nach außen. Über Reisegenehmigungen und andere Aussprachen wie Berichte über Auslandsaufenthalte konnten die Funktionäre engere Kontakte zu Kirchenmännern und Theologen knüpfen, die ganz begierig darauf waren, als anerkannte Reisekader endlich die Welt bereisen zu dürfen. So entwickelten sich Abhängigkeiten. Schließlich konnte man zunehmend auf den Kurs des ÖRK Einfluss nehmen – aus der „NATO-Ökumene“ sollte nunmehr eine sozialistische Ökumene werden. Endlich erschwerte eine Mitgliedschaft der ROK im ÖRK kritische Stellungnahmen aus Genf – etwa in Menschenrechtsfragen – oder machte solche Äußerungen ganz unmöglich. Außerdem beförderten die weltweiten Kontakte das Verständnis für die sozialistischen Regimes im Osten und bereiteten einer Anerkennungswelle der sozialistischen Staaten den Boden. In der DDR wie anderen sozialistischen Ländern wurden an den theologischen Fakultäten neue Lehrstühle für Ökumenik eingerichtet, deren Inhaber durchweg ein positives Verhältnis zum „Communistic Gospel“ besaßen. So führte etwa der systemnahe Berliner Theologe Herbert Trebs (geb. 1925) aus, in der Ökumenik gehe es um „die Weckung internationalistischer Solidarität mit den jungen Kirchen […] und den noch in kolonialen Fesseln gehaltenen Gebieten“. Über den „Tschechischen Ökumenismus“ kann man Ähnliches lesen. Zwar hatte man 1958 in Prag, unter der Federführung der beiden tschechischen Theologen Josef Hromádka und Bohuslav Pospisil, eine alternative Ökumene gegründet, die Prager Christliche Friedenskonferenz (CFK), aber diese Bewegung erzielte nicht den gewünschten Erfolg und verlor nach der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings um die Reformkräfte um Alexander Dubcek jegliche Glaubwürdigkeit. Der äußerst amerikakritische Hromádka mit sozialistischen Überzeugungen hatte die Reformbemühungen unterstützt, wurde abgesetzt und die CFK von allen kritischen Elementen gereinigt. Bei ihrer Gründung begegneten Karl Barth und andere Theologen des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirchen der CFK durchaus mit Sympathie und kooperierten mit den Gründern. Aber auch der ÖRK geriet zunehmend in schweres Fahrwasser. Rassenunruhen, die schwarze Befreiungsbewegung und der Vietnamkrieg erschütterten nicht nur die US-amerikanische Gesellschaft, sondern auch den 1950 neu gegründeten National Council of Churches of Christ (NCC). Hatte man mit der Eisenhower-Administration noch ein enges Verhältnis gepflegt, so traten Anfang der 60er Jahre die Differenzen zwischen den liberalen Mainline-Kirchen und dem kirchlich-politischen Konservatismus in den USA scharf zutage und schwächten den NCC. Die evangelikalen und konservativen Denominationen konnten einen enormen Mitgliederzuwachs verzeichnen, die den NCC tragenden Kirchen verloren dagegen an Einfluss und Geld. Der „Credibility Gap“ hatte auch Teile der amerikanischen Kirchen erfasst und den Graben zwischen NCC und ÖRK vertieft. Weite Kreise in den Mainline-Kirchen zweifelten an der Richtigkeit der Entscheidung des ÖRK, die von Moskau abhängige ROK als Mitgliedskirche aufzunehmen. Über der Kuba-Krise kam es zu hef-
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tigen Auseinandersetzungen zwischen Teilen des NCC und dem ÖRK. Infolge der politischen Vermarktung des Vietnamkrieges erschienen die USA als die moralischen Verlierer im Ost-West-Konflikt, der Krieg trieb den NCC in Opposition zur US-Regierung und zu den Graswurzelchristen. Doch trotz der regierungskritischen Haltung des NCC sahen die Ostblockstaaten die Wahl Eugen Carson Blakes zum ÖRK-Generalsekretär Mitte Februar 1966 als „Ausdruck der Durchsetzung der Vorherrschaft des amerikanischen Einflusses […] im ÖRK.“ Dabei gehörte Blake zu den schärfsten Kritikern des Vietnam-Krieges, während sich die Mehrheit der amerikanischen Christen noch 1968 für eine Fortsetzung des Krieges aussprach. Der NCC hatte sich in den Augen vieler amerikanischer Christen als „Träger der Revolution“ entpuppt, der nicht mehr die westlichen, sondern kommunistische Werte vertrat. Unter der Nixon-Administration verschärfte sich der Konflikt zwischen der US-Regierung und dem NCC noch und verminderte den Einfluss der Mainline-Kirchen in den USA weiter. Die Menschenrechte im Allgemeinen und die Religionsfreiheit im Besonderen hatten immer zu den Hauptanliegen des ÖRK gehört. Aber um der Détente zwischen Ost und West willen – auch dies eine nicht nur kirchliche, sondern weitgespannte Revision westlicher Diplomatie – prangerte der ÖRK überall auf der Welt Menschenrechtsverletzungen an – nur nicht im Einflussbereich der Sowjetunion. Gleichzeitig erfuhren die Menschenrechte eine Re-formulierung im sozialistischen Sinne, indem man ihre ursprünglich bürgerlich-individuelle Bedeutung zugunsten einer kollektiven, wie in den realsozialistischen Gesellschaften üblich, in den Hintergrund rückte. Im Westen vollzog sich still, aber doch unübersehbar, ein Wertewandel, der in eine immer größere Nähe zum Sozialismus mündete. Im Zusammenhang mit dem Programme to Combat Racism (PCR) des ÖRK 1970 – 1978 unterstützte dieser auch solche Befreiungsbewegungen, die sich eindeutig sozialistisch positioniert hatten und Gewalt anwandten; er begnügte sich mit der Versicherung der Kämpfer, kirchliche Gelder würden nur für humanitäre Zwecke ausgegeben. Das PCR sorgte für tiefe Risse innerhalb der westlichen Christenheit und beförderte die Spaltung zwischen West- und Ostkirchen. „Antirassismus heißt Antiimperialismus“, erklärte 1971 der ostdeutsche Oberkirchenrat, Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi und CDU-Funktionär Gerhard Lotz in der Parteizeitung Neue Zeit und brachte damit auf den Punkt, wie sich das Programm gegen den Westen instrumentalisieren ließ. Die ostdeutsche Ökumenikerin Elisabeth Adler hielt das PCR gar für ein Erziehungsprogramm für weiße Christen – in Westeuropa, Nordamerika und Südafrika, versteht sich, nicht für Weiße im sowjetischen Einflussbereich, die ja im „Friedenskampf“ schon eine entsprechende Erziehung erhalten hatten. Der ÖRK hat – zunächst mit beträchtlicher Unterstützung, dann gegen mannigfaltige Widerstände – zwischen 1948 und 1989/90 eine bemerkenswerte Wegstrecke zurückgelegt. Beginnend in einer Welt, die einerseits vom Nationalsozialismus bedroht war, andererseits aber auch den Vorzug klarer Frontbildungen hatte, verlor er seit den 60er Jahren allerdings zunehmend an theologischem Profil. Diese Entwick-
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lung hat nicht nur mit binnenkirchlich-theologischen Weichenstellungen zu tun, sondern auch mit der gesellschaftlich-politischen Entwicklung in West und Ost unter den Bedingungen einer zweigeteilten Welt aufgrund des „Kalten Krieges“ und der fortschreitenden „Entkirchlichung“ in der „Ersten“ und „Zweiten“ Welt. Während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit war der ÖRK deutlich geprägt von weißen Angloamerikanern – strukturell, finanziell und personell. Ein starkes Symbol dafür ist die feierliche Grundsteinlegung des New Yorker Interchurch Center, einer riesigen Kirchenburg, durch Dwight D. Eisenhower im Jahr 1958. Während dieser Zeit spielten beträchtliche Zuwendungen von John D. Rockefeller, Jr., eine bedeutende Rolle – in Manhattan wie in Genf. Unter dem Eindruck der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, der weißen Kulturrevolutionen in den 60er Jahren und Anfang der 70er Jahre und der wachsenden Akzeptanz des „real existierenden Sozialismus“ im sowjetischen Einflussbereich öffnete sich der ÖRK zunehmend diesen neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, ja er setzte sich mitunter an die Spitze mancher Gerechtigkeits- und Friedensbewegungen. Das trifft besonders für den De-Kolonialisierungsprozess und die damals so genannte „Dritte Welt“ und ihre Kirchen zu. Etwa zur gleichen Zeit verlor der US-amerikanische weiße Protestantismus in den USA und weltweit an Bedeutung und Einfluss. Der europäische Protestantismus, namentlich in Westdeutschland, konnte und wollte vielleicht auch gar nicht verhindern, dass ernste Finanzkrisen den theologisch-politischen Einfluss des ÖRK zunehmend minderten. Eine der Kontinuitäten des ÖRK bestand darin, dass er mit seinen ethisch-menschenrechtlich motivierten Interventionen und Programmen für verschiedene Regierungen und Gesellschaften, vor allem in der westlichen Welt, außerordentlich unbequem war. Der ÖRK fühlte sich als Avantgarde des Christentums. Eine andere Kontinuität hatte schon der erste Generalsekretär des ÖRK, Willem A. Visser’t Hooft, begründet: Die Selbstdarstellung in den umfassenden Überblicksdarstellungen wie auch zentrale Artikel in der Ecumenical Review, dem Hauptorgan des ÖRK, meist verfasst von Insidern, dienten vor allem der Außenrepräsentation und sollten gegen theologische wie politische Kritik weitgehend immunisieren. Diese wenig protestantische Strategie einer „Vatikanisierung“ – entgegen der Behauptung, man wolle keine „Super-Kirche“ sein – zerbrach erst Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Heute ist der ÖRK ein finanziell notleidendes, stark geschrumpftes Unternehmen mit nur noch wenig gesellschaftlichem Einfluss. Ein starkes Symbol dafür ist, dass er Teile seiner kaum renovierten Räumlichkeiten im Ecumenical Centre an der Route de Ferney 150 an zahlungskräftige Firmen in Genf vermieten muss. Aber der ideelle Anspruch hat überlebt, wie das interreligiöse Programm zum 70jährigen Bestehen des Ökumenischen Instituts im Château de Bossey Anfang Oktober 2016 erneut belegte.
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Die Chicago-Erklärungen zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift Inhalte und Anmerkungen Von Erich Geldbach I. Einleitung „Eine verantwortungsvolle, bibeltreue Position will keine schlüssige Theorie über die Bibel aufstellen, sondern nur zusammenfassen, was die Bibel über sich selbst sagt, beziehungsweise darstellen, wie sie uns selbst entgegentritt.“1 Diese der Einleitung entnommenen Worte des Herausgebers der deutschen Ausgabe der Chicago-Erklärungen, Thomas Schirrmacher, macht bereits deutlich, auf welchen wackeligen Stützen das Unternehmen der Chicago-Erklärungen steht. Natürlich ist eine wie auch immer geartete Position, die hier als „bibeltreu“ gekennzeichnet wird, eine „Theorie“ über etwas. Das ist der eine Einwand. Der zweite ist wichtiger. Es wird so getan, als sei „die“ Bibel eine Einheit, die etwas über sich selbst „sagt“. In Wirklichkeit ist die Bibel eine Zusammenstellung von vielen Büchern, die man zu Recht eine kleine Bibliothek genannt hat. Wie klein oder groß auch immer, fest steht jedenfalls, dass keine Bibliothek etwas „über sich sagt“. Richtig ist dagegen, dass sie uns entgegentritt, was freilich auch nur eingeschränkt gültig ist, weil hier einmal dasselbe Argument gilt, wie eben, dass uns nämlich eine Vielfalt von Büchern gegenübertritt, und zum anderen, dass diese Vielfalt uns nicht einfach entgegentritt, sondern uns in sich hineinnehmen will. Wir stehen nicht der Bibel gegenüber und diese nicht uns, sondern die Bibel will uns in ihrer Vielfalt ansprechen. Es geht um ein Gespräch zwischen den Büchern der Bibel und uns. Was die Bücher der Bibel vielfältig zur Sprache bringen, verlangt nach unseren Antworten, die zugleich wieder als Fragen an die Bibel zurückgespiegelt werden, weil wir nie an ein definitives Ende kommen, sondern uns immer wieder neu in Frage stellen lassen müssen. Bei den Chicago-Erklärungen handelt es sich um drei Dokumente, die von einem „Internationalen Rat“ über einen Zeitraum von zehn Jahren seit 1977 erarbeitet wor1 Einleitung und die Texte der drei Chicago-Erklärungen sind zu finden in: Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicagoerklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung, hrsg. und übers. von Thomas Schirrmacher, 2. überarb. Aufl., Bonn 2004. Im Internet abrufbar https://bucer.de/fileadmin/uploads/media/Chicago.book_Ver2.02.pdf. Die Erklärungen sind jeweils als Artikel mit fortlaufenden römischen Nummern gekennzeichnet, so dass man sie unschwer finden kann und gesonderte Verweise im Text der vorliegenden Abhandlung entfallen können.
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den sind. Der Rat, der sich aus sog. bibeltreuen, evangelikalen Theologen vor allem aus den USA zusammensetzte, nannte sich International Council on Biblical Inerrancy, kurz ICBI = Internationaler Rat für biblische Irrtumslosigkeit.2 Die erste Erklärung betrifft das Wesen der Heiligen Schrift und ihre Inspiration. Die zweite Erklärung handelt von der Hermeneutik, also der Frage, wie die Bibel unter dem Kriterium der maßgeblichen ersten Erklärung auszulegen ist; und die dritte Erklärung will unter dem Stichwort der „Anwendung“ Antworten auf Fragen der Gegenwart geben, die mit Hilfe der Hermeneutik gefunden werden können. Die Erklärungen hängen infolgedessen alle miteinander zusammen und folgen aufeinander, wobei kritisch gefragt werden muss, ob nicht bei der Reflexion über eine Hermeneutik bereits die „Anwendung“ mitschwingt, weil die Fragen, die einer Hermeneutik zugrunde liegen, notwendigerweise aus dem Kontext erwachsen, dem ein Ausleger/eine Auslegerin3 verhaftet ist. Insofern könnte sich das Auseinanderreißen von Inspiration, Hermeneutik und Anwendung als zu oberflächlich erweisen. Wichtig ist zudem, dass die Erklärungen in Artikeln aufgebaut sind, die einem Schema von Bekennen und Verwerfen folgen. Das zeigt an, dass die Erklärungen eine Tendenz haben bzw. sich gegen einen wirklichen oder vermeintlichen Gegner richten. Man wird daher stets zu fragen haben, welcher Gegner oder welche Gruppen von Gegnern im Blick des Rats liegen, der die Erklärungen erarbeitet hat. Nach Vollendung der drei Erklärungen und ihrer Veröffentlichungen löste sich der Rat 1988 auf. II. Die Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel, 1978 1. Das Vorwort Im Vorwort zur ersten Erklärung wird die „Autorität der Schrift“ zu einer Schlüsselfrage erklärt. Von ihr in „Glauben und Leben“ abzuweichen, sei „Untreue unserem Herrn gegenüber“. „Die Anerkennung der völligen Wahrheit und Zuverlässigkeit [oder Glaubwürdigkeit] der Heiligen Schrift ist für ein völliges Erfassen und angemessenes Bekenntnis ihrer Autorität unerlässlich [oder wesentlich].“ Die Erklärung bekennt [to affirm] die „Irrtumslosigkeit der Schrift“ auf zweifache Weise: Sie will das Verständnis dieser Kennzeichnung der Schrift und eine Warnung vor ihrer Verwerfung verdeutlichen. Offenbar soll damit die Zweiteilung von „Bekennen“ und „Verwerfen“ gemeint sein. Verwirft man die Irrtumslosigkeit der Schrift, übergeht man das Zeugnis Jesu Christi und des Heiligen Geistes und verweigert die Unterwerfung unter die Forderungen von Gottes eigenem Wort. Sowohl das Übergehen als auch das Verweigern stünden den „Kennzeichen wahren christlichen Glaubens“ ent2
Aus dem deutschsprachigen Raum war nur ein Vertreter in dem Rat: Samuel R. Külling von der damals sog. FETA = Freie Evangelisch-Theologische Akademie in Basel. Er gab ein Grundlagenbuch des Vorsitzenden des Rates auf Deutsch heraus: Boice, James M.: Die Unfehlbarkeit der Bibel. hrsg. von Külling, Samuel R., Asslar-Riehen 1987. Das engl. Original Boice, James M. (Hrsg.): The Foundation of Biblical Authority, Grand Rapids 1978. 3 Im Folgenden wird um der Lesbarkeit willen auf die femininen Formen verzichtet.
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gegen. Hier wird auch gleich davon gesprochen, gegen wen man sich richtet: Der Rat sieht es als seine „zeitgemäße Pflicht“ an, dieses Bekenntnis abzulegen „angesichts des gegenwärtigen Abfalls von der Wahrheit der Irrtumslosigkeit unter unseren Mitchristen und der Missverständnisse dieser Lehre in der Welt als Ganzes“. Das sind steile Sätze, die von einem hohen Selbstbewusstsein zeugen, wenn man einen „Abfall von der Wahrheit der Irrtumslosigkeit“ bei Mitchristen diagnostiziert und zudem von Missverständnissen dieser Lehre in der ganzen Welt ausgeht. Demgemäß möchten die Verfasser „ihre eigene Überzeugung von der Irrtumslosigkeit der Schrift bekennen“ und „alle Christen zu wachsender Annahme und wachsendem Verständnis dieser Lehre ermutigen“. Nichts weniger als „eine neue Reformation der Kirche“ im Glauben, im Leben und in der Mission kann erwachsen, wenn alle Angesprochenen sich dem Anspruch aussetzen. Kein „streitsüchtiger Geist“ leite den Rat, sondern ein Geist der Demut und Liebe. Aus diesem Geist laden die Verfasser alle ein, auf diese Erklärung zu reagieren, wenn es im Lichte der Schrift Gründe gibt, „die Bekenntnisse dieser Erklärung über die Schrift zu berichtigen […].“ Zugleich verweisen die Autoren darauf, dass sie unter der „unfehlbaren Autorität“ der Bibel stehen, „während wir unser Bekenntnis niederlegen“. Damit werden möglichen Einwänden sehr enge Grenzen gezogen; denn die Verfasser nehmen die unfehlbare Autorität der Heiligen Schrift für sich in Anspruch. Ein Einwand oder eine Berichtigung der von den Autoren niedergelegten Bekenntnisse müsste sich auf dieselbe Autorität berufen und die des Internationalen Rats übertrumpfen. Wie jedoch lässt sich eine für sich reklamierte „unfehlbare“ Autorität übertreffen? 2. Die Zusammenfassung der ersten Chicago-Erklärung In einer kurzen Erklärung werden die nachfolgenden Artikel, die das Gesamt der ersten Chicago-Erklärung ausmachen, zusammengefasst. Gott als Wahrheit habe die Heilige Schrift inspiriert, so dass die Bibel „Gottes Zeugnis von seiner eigenen Person“ darstelle. In allen Fragen, die von der Bibel angesprochen werden, hat sie daher „unfehlbare göttliche Autorität“. Dieser Autorität „muss“ in allem geglaubt werden, was sie bekennt, „muss“ gehorcht werden in allem, was sie fordert und „muss“ in allem ergriffen werden, was sie verheißt. Natürlich kann man einer Autorität gehorchen, ja man kann solchen Gehorsam auch billigerweise einfordern. Ob dies jedoch auch für das Verhältnis von Gott und Mensch oder Mensch und Gott gelten kann, ist zu fragen: „Muss“ man alles glauben, was die Bibel bekennt? „Muss“ man allem gehorchen, was sie fordert? „Muss“ man in allem ergriffen sein, was verheißen ist? Zudem: Wer steht hinter dem „Muss“? Spricht die Bibel im Zusammenhang mit Glauben, Gehorchen und Ergriffen-Werden von einer menschlichen Antwort, die auf ein „Müssen“ reagiert? Weiter heißt es in der kurzen Erklärung, dass der Heilige Geist als „Autor“ der Schrift sie durch „sein inneres Zeugnis“ beglaubigt und uns Menschen durch die Erleuchtung unseres Verstandes befähigt, ihre Botschaft zu verstehen. Die Frage stellt sich, was als „inneres Zeugnis“ des Heiligen Geistes anzusehen ist. Darauf müsste es
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in den Artikeln eine Antwort geben. Zuvor jedoch steht weiter die These zur Diskussion, dass die Heilige Schrift „vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde“. Unter Inspiration, so kann man folgern, wird eine wörtliche Eingebung durch den Geist verstanden. Die Vollständigkeit meint, dass die Bibel „in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler“ ist. Das erstreckt sich „über Gottes Handeln in der Schöpfung“ ebenso wie „über die Ereignisse der Weltgeschichte“ sowie „über ihre eigene literarische Herkunft unter Gott“ und „für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner“. Wird die „völlige göttliche Inspiration in irgendeiner Weise begrenzt oder missachtet“ oder geschieht eine Relativierung der Wahrheit durch eine Anschauungsweise, „die der Sicht der Bibel von sich selbst widerspricht“, kommt es „zu ernsthaften Verlusten sowohl für den einzelnen, wie auch für die Kirche“. Wieder lässt sich hier beobachten, mit welcher Selbstsicherheit (im Geist der Demut und Liebe?) argumentiert wird. Dieses Selbst- und Sendungsbewusstsein beruht auf der fundamentalen These von der vollständigen und wörtlichen Inspiration der Bibel, so dass man in ihr Gottes Handeln erkennen kann - in der Schöpfung, - in den Ereignissen der Weltgeschichte, - in der literarischen Herkunft der Bibel - sowie in der rettenden Gnade für jeden Einzelnen. Von dieser These der vollständigen und wörtlichen Inspiration folgt die selbstbewusste Warnung vor einer Relativierung der Wahrheit. Diese Relativierung bezieht sich eben auf jene fundamentale These und ihre Implikationen. Folgt man jedoch aus theologischen Gründen der Grundthese nicht, kann man auch den Vorwurf einer Relativierung an sich abperlen lassen. Wie das alles im Einzelnen aussehen kann, muss sich aus den Artikeln ergeben, denen jetzt die Aufmerksamkeit zu gelten hat. 3. Die einzelnen Artikel des ersten Bekenntnisses a) Artikel I bis V: Allgemeine Aussagen Auffallend ist zunächst, dass die Artikel keinen inneren Aufbau erkennen lassen. Jeder Artikel steht für sich; die ersten vier Artikel machen allgemeine Aussagen zur Bibel: Sie sei das „autoritative Wort Gottes“ (Art. I), die „höchste schriftliche Norm“, der auch die Kirche untergeordnet sei (Art. II), in ihrer „Gesamtheit“ sei das geschriebene Wort Gottes Offenbarung (Art. III). Die menschliche Sprache habe Gott als Mittel seiner Offenbarung benutzt (Art. IV). Gottes Offenbarung in der Hl. Schrift sei eine „progressive Offenbarung“, was wohl eine sich entwickelnde Offenbarung meint (Art. V).
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b) Artikel VI–X: Inspiration und Autographen Ab Art. VI wird auf die göttliche Inspiration der Bibel Bezug genommen. Als Ganzes und in allen ihren Teilen sei die Heilige Schrift „bis zu den Worten des Originals“ durch Inspiration von Gott gegeben (Art. VI). Im nächsten Artikel wird erläutert, dass Gott als „Ursprung der Schrift“ uns Menschen durch seinen Geist und durch menschliche Schreiber sein Wort schenkte. Das geschah durch Inspiration, was sogleich durch den Hinweis erläutert wird, dass die „Art und Weise der göttlichen Inspiration“ für uns „zum größten Teil ein Geheimnis“ bleibe. Hier wird nicht darauf eingegangen, welches der kleine Teil ist, der offenbar doch bekannt sein kann. Im Art. VIII heißt es, dass Gott bei der Inspiration sich der Charaktereigenschaften der menschlichen Schreiber und ihrer literarischen Stile bedient habe. Die Inspiration, so Art. IX, verleihe den Autoren keine Allwissenheit, aber sie garantiere „wahre und glaubwürdige Aussagen“ über alles, was die Autoren auf Gottes Veranlassung schriftlich überlieferten. Der Art. X nimmt auf, was schon im Art. VI so umschrieben wurde: „bis zu den Worten des Originals“. Die Inspiration trifft nämlich strenggenommen „nur auf den autographischen Text“ zu, den es nicht gibt, der indes durch die zur Verfügung stehenden Handschriften „mit großer Genauigkeit ermittelt werden kann“. Hier stößt man auf das schwächste Glied in der Argumentationskette. Denn Originaltexte von biblischen Autoren stehen nicht zur Verfügung; es gibt lediglich, wie zu Recht gesagt wird, Abschriften. Das hat dazu geführt, dass sich ein eigener Wissenschaftszweig gebildet hat, den man Textkritik nennt, und der die Abschriften oder auch biblische Zitate in theologischen Werken der Frühzeit der Kirche miteinander vergleicht, um einen möglichst genauen Wortlaut zu ermitteln. Das ist allerdings oft nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint, weil die nicht unerhebliche Zahl der Abschriften kleinere oder größere Abweichungen enthalten kann. Da es keine Vergleichsmöglichkeiten mit Originaltexten gibt, kann eine letzte Entscheidung für die eine oder die andere Textvariante mit Unsicherheiten verbunden sein. Wenn gesagt wird, „bis zu den Worten des Originals“, so ist diese Aussage verführerisch einfach und nichts weiter als ein Postulat, was keine Überprüfbarkeit zulässt. M.a.W.: Wir haben es mit einem Scheinargument zu tun, das sich einer Bestätigung entzieht. Wenn die Inspiration sich nur auf die Autographen bezieht, dann ist ihr Fehlen für eine Verteidigung der Irrtumslosigkeit in der Tat nicht unerheblich. Mit dieser Beurteilung würde man von dem zweiten Satz der Verwerfung getroffen: „Wir verwerfen ferner die Ansicht, dass ihr Fehlen die Verteidigung der biblischen Irrtumslosigkeit nichtig oder irrelevant mache“. c) Artikel XI–XII: Unfehlbarkeit, Schöpfung und Sintflut Die Art. XI und XII erklären, dass die Hl. Schrift in ihrer Gesamtheit unfehlbar sei. Wichtiger noch als diese Aussagen sind die Inhalte der Verwerfungssätze: Die Bibel kann nicht gleichzeitig unfehlbar sein und sich in Aussagen irren. Das bedeutet,
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dass man zwischen Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit zwar unterscheiden kann, dass sie aber nicht voneinander getrennt werden dürfen (zu Art. XI). Ausdrücklich wird verworfen, dass sich Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit nur auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende Themen beschränkten. Vielmehr seien Aussagen der Bibel im Bereich der Geschichte und Naturwissenschaft genauso unfehlbar und irrtumslos wie religiöse Themen. Auf derselben Ebene wird verworfen, dass „wissenschaftliche Hypothesen über die Erdgeschichte“ dazu benutzt werden dürften, „die Lehre der Schrift über Schöpfung und Sintflut umzustoßen.“ Hier geht es zwar schon um hermeneutische Fragen, doch seien sie angesprochen, um die Reihenfolge der Artikel einzuhalten. Mit der Aussage zu Schöpfung und Sintflut wird die Tür geöffnet, um die Evolutionstheorie abzulehnen und stattdessen in irgendeiner Weise sog. „schöpfungswissenschaftliche“ Alternativen zum Zuge zu bringen. Beides ist unredlich, weil die Evolutionstheorie einerseits mehr ist als lediglich eine „Hypothese“, andererseits aber nicht etwas Absolutes darstellt, sondern dass sie, wie jede wissenschaftliche Theorie, jederzeit auf dem Prüfstand steht und falsifiziert oder auch verifiziert werden kann. Darüber wird jedoch keine Auskunft gegeben; es geschieht kein Gespräch zwischen der Wissenschaft und der vertretenen Anschauung über „Schöpfung und Sintflut“, sondern es wird eine quasi-dogmatische „Setzung“ vorgenommen, die unredlich die eine Seite als „hypothetisch“ abqualifiziert, obgleich die Evolutionstheorie sich durch ein großes Maß an wissenschaftlichen Daten deutlich von einer „Hypothese“ unterscheidet. Auch wollen die verschiedenen Schöpfungs-Erzählungen der Bibel gerade keine „Wissenschaft“ im modernen Sinn sein, sondern sind in ganz andere Zusammenhänge eingebunden. Das Schöpfungswerk Gottes ist als Teil einer das Heil vermittelnden (unmythischen) Geschichtserfahrung anzusehen, die auf der Berufung Abrahams beruht und mit der Sesshaftwerdung des Volkes im verheißenen Land ein vorläufiges Ende findet. „Der Beginn dieser Gottesgeschichte wurde nun bis zur Schöpfung vordatiert. Diese Hinausverlegung des Beginns der Heilsgeschichte war aber nur möglich, weil eben auch die Schöpfung als ein Heilswerk Jahwes verstanden wurde.“4 Es geht also gerade nicht um eine „Schöpfungswissenschaft“, sondern um eine theologische Deutung der Geschichte, die aufgrund der besonderen Geschichtserfahrung bis an den „äußersten Anfang“ vordatiert wurde. Hier muss man eindeutig mit den Mitteln und den literarischen Gattungen rechnen, die den Menschen der damaligen Zeit zugänglich waren. Das wird zwar in dem Kommentar zu der ersten Chicago-Erklärung konzediert, aber die Autoren nehmen ihre eigenen Worte nicht ernst. Sie sagen, man müsse dem „Charakter“ der Schrift „als menschlichem Erzeugnis die größtmögliche Aufmerksamkeit widmen.“ Das sei deshalb so, weil Gott „die Kultur und die Gebräuche der Umwelt des Schreibers“ bei der Inspiration gebraucht habe. In Wirklichkeit aber gehen sie von einer fakten-basierten Wissenschaft aus, wenn es um die Schöpfung oder Sintflut geht. 4
Rad, Gerhard von: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 1961, S. 143.
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Im Kommentar heißt es: „Augenscheinliche Unstimmigkeiten5 sollten nicht ignoriert werden.“ In der Zukunft erwartet man jedoch trotz der vorsichtigen Vokabel „Unstimmigkeit“, aber um der Irrtumslosigkeit willen, „Lösungen“ für solche Ungereimtheiten. Diese Lösungen, „wenn sie auf überzeugende Art gefunden werden können, werden unseren Glauben stärken.“ Befremdlich wirkt jedoch der nächste Satz: „Wo im Moment keine überzeugende Lösung zur Hand ist, sollen wir Gott in besonderer Weise ehren, indem wir seiner Zusicherung vertrauen, dass sein Wort trotz dieser Erscheinungen wahr ist und indem wir das Vertrauen festhalten, dass diese Unstimmigkeiten sich eines Tages als Täuschungen erweisen werden.“ Die sog. Unstimmigkeiten stehen der Irrtumslosigkeit nicht im Wege, weil sie sich eines, vielleicht eschatologischen Tages als Täuschungen selbst erledigen. Lässt sich sagen, dass man es mit einer „evangelikalen Leichtgläubigkeit“ zu tun hat, die in der späteren polit-religiösen Entwicklung „alternative Fakten“ für bare Münze nimmt? Jedenfalls lässt sich auf diese Weise schwerlich an der Irrtumslosigkeit der Schrift festhalten. d) Artikel XIII–XVII: Weiter mit der Irrtumslosigkeit Das aber tun die Art. XIII, XIV und XV, die behaupten, Irrtumslosigkeit sei ein theologischer Begriff für die vollständige Zuverlässigkeit, die Einheit und innere Übereinstimmung der Schrift und sei in der Lehre über die Inspiration gegründet. Im Artikel XIV wird verworfen, „dass angebliche Fehler und Widersprüche, die bis jetzt noch nicht gelöst wurden, den Wahrheitsanspruch der Bibel hinfällig machen würden.“ Hier liegt ein doppelter Widerspruch vor: Wie können „angebliche“ Fehler, die ja „Scheinfehler“ sind, „gelöst“ werden, und wieso sollten „Scheinfehler“ einen (angeblichen oder behaupteten) Wahrheitsanspruch hinfällig machen? Scheinfehler kann man nur als solche entlarven, aber dazu muss man nicht warten, weil sie „bis jetzt noch nicht gelöst wurden“. Das ist ein weiterer unsinniger Satz. Das Aufdecken „angeblicher Fehler und Widersprüche“ ließe sich sofort erledigen oder es liegen tatsächliche Fehler und Widersprüche vor, die einer untersuchenden Bearbeitung bedürfen. Der Art. XVI stellt die steile These auf, „dass die Lehre von der Irrtumslosigkeit ein integraler Bestandteil des Glaubens der Kirche in ihrer Geschichte war.“ Sie ist also nicht jüngeren Datums wie etwa die Zeit der protestantischen Orthodoxie, im Verwerfungssatz als „scholastischer Protestantismus“ gekennzeichnet, oder eine „Reaktion auf die negative Bibelkritik“, die im englischen Original „negative higher criticism“ genannt wird. So wie die Irrtumslosigkeit der Bibel in den Chicago-Bekenntnissen verstanden wird, war sie nie Bestandteil des Glaubens der Kirche. Die Inspirationslehre ist in der Tat in der Zeit der protestantischen Scholastik bis 5 Dazu zählen die Autoren „Unregelmäßigkeiten der Grammatik oder der Rechtschreibung, beobachtende Beschreibungen der Natur, Berichte von falschen Aussagen […] oder scheinbare Widersprüche zwischen zwei Abschnitten“.
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zum Extrem ausgedehnt worden, weil auch die Lesehilfen, die sog. matres lectionis6 in der Hebräischen Bibel, als durch den Geist inspiriert galten, und man wird nicht bestreiten können, dass die Inspirationslehre erneute Bedeutung erlangte, als die historisch-kritische Erforschung der Bibel allgemeine Akzeptanz in der Theologie fand. Der Art. XVII sagt aus, dass „der Heilige Geist Zeugnis für die Heilige Schrift ablegt und den Gläubigen Gewissheit über die Zuverlässigkeit des geschriebenen Wortes Gottes gibt.“ Unter der Voraussetzung der Inspirationslehre ist dieser Satz verständlich, auch wenn man nicht ohne weitere Ausführungen weiß, was die Verfasser unter „Zuverlässigkeit“ des geschriebenen Wortes Gottes verstehen. e) Artikel XVIII–XIX: Weitere Fragen Die abschließenden Art. XVIII und XIX führen zu einigen weitreichenden Fragen. So wüsste man gern, was damit gemeint ist, wenn Art. XVIII sagt, „dass man den Text der Bibel durch grammatisch-historische Exegese auslegen muss“. Was meinen die Autoren, wenn sie den Text „grammatisch-historisch“ auslegen müssen? Das „Müssen“ klingt so, als sei diese Methode die einzig mögliche, wenngleich es keine weiteren Ausführungen gibt, was diese Methode beinhaltet. Im selben Artikel wird bekannt, „dass die Bibel durch die Bibel ausgelegt wird.“ Das ist zwar ein reformatorischer Grundsatz, doch sind die übrigen Artikel nicht mit dem Bibelverständnis der Reformatoren ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen, so dass ein solcher Bekenntnissatz ohne Explikation nicht viel beiträgt. Im Art. XIX heißt es, dass die „vollumfängliche Autorität, Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel für ein gesundes Verständnis des ganzen christlichen Glaubens lebenswichtig ist“, weil es dazu führen sollte, „dem Bild Christi immer ähnlicher“ zu werden. Ob die drei Setzungen „vollumfängliche Autorität, Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit“ tatsächlich diesem hohen Ziel dienlich sind oder eher ein „gesundes“ christliches Leben dogmatisch blockieren, bleibt zu fragen, weil die drei Setzungen eher zu einem autoritativen Lebensvollzug beitragen als zu einer Jesus-Nachfolge, die nicht auf „blinden Gehorsam“ ausgerichtet ist. III. Die Erklärung zur biblischen Hermeneutik, 1982 1. Die Vergöttlichung der Bibel Um das Verständnis der Schrift zu vertiefen, erwies sich eine zweite Konferenz als notwendig. Ein vorbereitender, zwei Jahre umfassender Prozess zu Themen der hermeneutischen Prinzipien gipfelte in einer Konferenz in Chicago, die vom 10. bis 6
Als das Hebräische nicht mehr allgemein gesprochen wurde, fügten jüdische Gelehrte zu den wenigen Konsonanten, die Vokale andeuteten, Punktierungen in den konsonantischen Text ein, um damit Vokale anzuzeigen und das Lesen der Hebräischen Bibel zu erleichtern. Das erfolgte erst im 6.–8. Jahrhundert (masoretischer Text). Vgl. Fischer, Alexander A.: Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 2009, S. 33 – 46.
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13. November 1982 stattfand und die jene zweite Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik nach dem bisher gebrauchten Schema von „Bekennen“ und „Verwerfen“ verabschiedete. Der erste Artikel schließt gut an die zuletzt dargelegten Einwände an, dass die dogmatischen Setzungen einen blinden Gehorsam gegenüber einer Autorität verlangen. Diese normative Autorität wird der Bibel derart zugeschrieben, dass sie mit der Autorität Gottes gleichgesetzt wird. Zusätzlich wird sie dadurch zementiert, dass Jesus als bestätigender Garant dieser Autorität in Anspruch genommen wird. Das Bekenntnis lautet nämlich, „dass die normative Autorität der Heiligen Schrift die Autorität Gottes selbst ist und dass sie von Jesus Christus […] bestätigt wird.“ Angesichts eines derartigen Bekenntnissatzes ist es nicht falsch, sondern geradezu geboten, von einer Divinisierung oder Vergöttlichung der Heiligen Schrift zu sprechen. Weil nur Gott selbst göttlich ist, sollte sich die Gleichsetzung der Autorität Gottes mit der Autorität der Bibel von selbst verbieten. Es verbietet sich auch, von den in einem langen Entstehungsprozess entstandenen biblischen Texten in Analogie zu der Zwei-Naturen-Lehre die Göttlichkeit der Bibel abzuleiten (siehe weiter unten). Dies aber ist die grundlegende Aussage, auf der sich die hermeneutischen Prinzipien aufbauen. Was heißt Hermeneutik? Hermeneutik meint, schlicht gesagt, das Verstehen schriftlicher (oder mündlicher) Lebensäußerungen. Man kann unter dieser Überschrift den Versuch erwarten, das Dreiecksverhältnis zu untersuchen, das zwischen einem Text, dessen Verfasser und dem Leser herrscht, der sich um das Verstehen des Textes müht. Weil es sich bei den biblischen Texten um sehr alte, historische Texte handelt, wird der Kontext der Text-Verfasser bei der Text-Entstehung und zusätzlich auch die Überlieferung des Textes einzubeziehen sein. Dazu kommen das Vorverständnis des Lesers sowie sein Verstehenshorizont und sein eigener Kontext. Über die Heilige Schrift wird gesagt, dass sie in Analogie zu den zwei Naturen Christi „unteilbar“ Gottes Wort in menschlicher Sprache sei und ferner, dass Person und Werk Jesu Christi im Zentrum der ganzen Bibel stünden. Der Geist Gottes, der einstmals die ganze Bibel inspiriert habe, handele heute durch sie, um Glauben zu erwecken und die Gläubigen zu befähigen, die Schrift auf ihr Leben anzuwenden. Man kann hier einen trinitarischen Aufbau erkennen, ob zufällig oder gewollt sei dahingestellt, weil zuerst von Gottes Wort, dann von der christologischen Mitte der Schrift und schließlich von dem zweifachen Werk des Geistes bei der Entstehung der Bibel und der heutigen Anwendung die Rede ist. Der Text soll normativ das Leben der Leser bestimmen. Die Lebensäußerungen der Textschreiber und Textüberlieferer, die in Einzelfällen um viele Jahrtausende zurückreichen und deren jüngste Dokumente zwei Jahrtausende alt sind, haben etwas mit heutigen Menschen zu tun, weshalb sie Textinhalte als für ihren Lebensvollzug verbindlich übernehmen sollen. Freilich geht aus den Ausführungen der Chicago-Erklärungen nicht hervor, wie zum einen der vieltausendjährige Graben zwischen damals und heute zu überbrücken ist und warum zum anderen heutige Menschen sich den biblischen Texten zuwenden sollten. Was hilft es Auslegern
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und heutigen Menschen, wenn im Art. VI bekannt wird, dass die biblische Wahrheit „objektiv“ und „absolut“ ist? Dreht man sich nicht im Kreis, wenn es heißt, eine Aussage sei wahr, „wenn sie Dinge so darstellt, wie sie wirklich sind“? Woher soll man denn wissen, wie die Dinge „wirklich“ sind, was offensichtlich die Voraussetzung für ihr Wahr-Sein ist? Auch bei der umgekehrten Behauptung, dass eine Aussage „falsch“ sei, „wenn sie die Fakten falsch darstellt“, muss man fragen, ob die Wahrheit stets und nur „faktenbasiert“ ist. Ein glaubender Christ wird den Satz „Gott ist Liebe“ als wahr bejahen, eine Umdrehung „Liebe ist Gott“ aber als nicht wahr zurückweisen. Welcher Satz stellt den Sachverhalt dar, wie er „wirklich“ ist und welcher ist faktenbasiert „falsch“? Das alles hat wenig mit Hermeneutik zu tun, dafür aber viel mit Spiegelfechterei. 2. Gilt die Bibel für alle Kulturen? In einem internationalen Rahmen und im Blick auf die Mission ist mit Recht der Frage nachzugehen, ob die biblische Botschaft in allen Kulturen gilt. Das Bekenntnis antwortet, dass die Bibel „Lehren und Forderungen“ enthalte, die „auf alle Kulturen und Situationen“ anzuwenden seien. Allerdings wird einschränkend davon gesprochen, dass es „andere Forderungen“ gebe, die „nur auf bestimmte Situationen“ zuträfen. Um welche „Forderungen“ es geht, wird leider nicht ausgeführt; deutlich ist aber, dass „Lehren“ nicht darunterfallen.7 In dem Bekenntnis wird Hermeneutik mit den „Regeln der Exegese“ identifiziert und zugleich gesagt, dass diese ausgedehnt werden können, „was zum Verstehen der Bedeutung der biblischen Offenbarung und ihrer Konsequenzen für unser Leben gehört“ (Art. IX). Der nächste Abschnitt unterstreicht, dass Gottes Wahrheit „in einer großen Vielfalt von literarischen Formen“ in der Bibel zu finden ist und dass „Übersetzungen des Textes der Schrift die Erkenntnis Gottes über alle zeitlichen und kulturellen Grenzen hinweg vermitteln können“ (Art. XI). Bei Übersetzungen sollen die Regeln interkultureller Kommunikation zum Zuge kommen und „nur solche funktionellen Äquivalente verwendet werden“, die dem „Inhalt der biblischen Lehre getreu entsprechen“ (Art. XII). Wenn auch einiges in der Schwebe bleibt, wird man diesen Aussagen zustimmen können. 3. Zu Artikel XIII–XIV: „Tatsachen“ Schwierig aber wird es bei den folgenden Artikeln. Unterstrichen wird, dass die vielfältigen Gattungen wichtig sind (Art. XIII), aber nur insoweit, als sie nicht die Geschichtlichkeit verneinen oder von Schreibern „erfunden“ worden seien, wenn 7
Eigenartig ist die Verwerfung, die aufzuheben scheint, was eben noch bekannt wird: „Wir verwerfen die Auffassung, dass die Unterscheidung zwischen allgemeingültigen und besonderen Forderungen der Schrift aufgrund von kulturellen und situationsbedingten Faktoren vorgenommen werden könne. Wir verwerfen ferner die Auffassung, dass die allgemeingültigen Forderungen jemals als kulturell oder situationsbedingt relativiert werden dürfen.“
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die biblischen Erzählungen sich als „Tatsachenberichte“ ausgeben. Es geht also immer um „Tatsachen“ (Art. XIV), wobei stillschweigend vorausgesetzt ist, was oben schon erwähnt wurde, dass nur diese Einordnung dem Wahr-Sein entspricht. Die Bibel soll „entsprechend ihres wörtlichen, also normalen Sinnes“ ausgelegt werden. Dieser wörtliche Sinn sei der „grammatisch-historische Sinn“. „Wörtlich“, „normal“ und „grammatisch-historisch“ werden synonym gebraucht, obwohl keine dieser Vokabeln den Lesern/Hörern eines historischen Textes irgendwelche hermeneutischen Hinweise zu einem Verstehen des Textes geben. Das entspricht der Behauptung im ersten Dokument zu Art. XVIII. Man darf also keine Bedeutungen zuweisen, die der „wörtliche Sinn nicht unterstützt“. Wenn nur „zulässige Forschungsmethoden“ zur Anwendung kommen dürfen, „um den kanonischen Text und seine Bedeutung zu ermitteln“, dann hätte man sich eine Aufzählung solcher Methoden gewünscht. Ansonsten wirkt ein solcher Satz völlig überflüssig. Überhaupt wird man sagen müssen, dass in dem Dokument zur Hermeneutik darüber wenig Substantielles gesagt wird. Stattdessen dreht sich alles pausenlos und in fast jedem Absatz um die „Irrtumslosigkeit“ der Schrift. Selbst das Vorverständnis, das ein Ausleger mitbringt und an die Schrift „heranträgt“, muss im Einklang mit der Lehre der Schrift stehen. Wieso aber sollte es ausgeschlossen sein, dass sich das Vorverständnis eines Auslegers im Zuge der Auslegung verändert? Offenbar ist das Zutrauen in die Schrift nicht so groß, wie vollmundig behauptet wird. 4. Artikel XXII–XXIV: Genesis 1 – 11 Besonders misslich ist Art. XXII, der bekennt, „dass 1. Mose 1 – 11 ebenso ein Tatsachenbericht ist wie der Rest des Buches“. Kein Wort wird darüber verloren, wie man sich in dem Abschnitt zwei Schöpfungsberichte (Gen 1,1 – 2,4a und 2,4b–25) als „Tatsachenberichte“ vorzustellen hat. Wiederum wird behauptet, die wissenschaftlichen „Hypothesen“ über die Erdgeschichte und den Ursprung der Menschheit seien nicht dazu angetan, die Lehre der Schrift über die Schöpfung „umzustoßen“. Kein Wort wird auch über die Sintflut verloren; dafür aber sind evangelikal-fundamentalistische Christen in den USA umso aktiver, die ganze „Geschichte“ aus Gen 1 – 11 in sog. Urgeschichtsmuseen oder Themenparks als „Tatsachen“ darzustellen. Besonders beeindruckend sind die Nachbildungen der Arche, und weil man in der Regel nicht mit langen Zeiträumen, sondern einem 6.000-Jahre-Schema rechnet, leben in der Arche auch Dinosaurier mit den anderen Tieren und den Menschen zusammen. Die Behauptung wird aufgestellt, dass in der Arche aus Platzgründen und wegen der Versorgung nur Jungtiere waren, die in der Zeit, als die Arche auf dem Wasser schwamm, versorgt und deren Ausscheidungen entsorgt werden mussten.8
8 Einige Einzelheiten findet man in Geldbach, Erich: In Gottes eigenem Land. Religion und Macht in den USA, Berlin 2008, bes. S. 148 – 150.
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Als Kommentar zu diesem Bekenntnis XXII sollte man das Bekenntnis des Art. XXIV zur Seite stellen, dass kein Mensch für das Verstehen der Schrift vom Urteil von Bibelwissenschaftlern abhängig sei, und hinzufügen, auch nicht von denen, die die Dokumente von Chicago verfasst haben. Irritierend muss auch der Art. XXIII auf Leser wirken. Hier wird die „Klarheit der Schrift“ bekannt und zugleich eine besondere „Klarheit ihrer Botschaft über die Errettung von der Sünde“ reklamiert. Die Klarheit der ganzen Schrift wird durch eine „besondere“ Klarheit im Blick auf die Botschaft von der Erlösung übertrumpft. Dazu muss man dann auch die Auffassung verwerfen, „dass alle Abschnitte der Schrift gleichermaßen klar seien“. IV. Der Kommentar von James I. Packer Die zweite Erklärung wird von einem Kommentar abgeschlossen, der aus der Feder des bekannten und geachteten anglikanischen Theologen James I. Packer (1926 – 2020) stammt. Ob der Kommentar integraler Bestandteil der Erklärung ist oder nicht, findet keine Erwähnung. Vermutlich ist er es nicht. Er liest sich aber viel geordneter als die Erklärungen. Dennoch ist es erstaunlich, in welchem Ausmaß dieser Gelehrte in die Falle der Irrtumslosigkeit getappt ist. Zur Hermeneutik schrieb er: „Ein theoretisches Verständnis der Schrift erfordert von uns nicht mehr, als für das Erfassen von antiker Literatur nötig ist, also eine ausreichende Kenntnis der Sprache und des Hintergrundes, sowie ein ausreichendes Hineinversetzen in den anderen kulturellen Kontext. Es gibt jedoch kein Erfahrungsverständnis der Schrift, also kein persönliches Erkennen des Gottes, von dem sie spricht, ohne die Erleuchtung des Geistes. Biblische Hermeneutik untersucht, wie beide Ebenen des Verständnisses erlangt werden können.“9
Eine gute Überleitung zu dem dritten Dokument der Chicagoer Erklärung mag das folgende Zitat bieten, mit dem Packer seinen eigenen Standpunkt umreißt: „Die Formulierung des biblischen Konzeptes der Schrift als autoritative Offenbarung in schriftlicher Form und als von Gott gegebene Norm für Glauben und Leben hat keinen Nutzen, wenn die Botschaft der Schrift nicht richtig verstanden und angewandt wird.“10
V. Erklärung zur biblischen Anwendung, 1986 Der sog. „Anwendung“ gilt es jetzt nachzuspüren. Es sollte die Relevanz der richtig ausgelegten Bibel für einige Schlüsselfragen der nordamerikanischen Kultur der heutigen Zeit ausgesagt werden. Erstaunlich ist die Verengung auf Nordamerika, die hier vorgenommen wird. Diese Erklärung dürfte daher für Europäer nur von untergeordnetem Interesse sein. Sie wurde vom 10. bis 13. Dezember 1986 in Chicago erarbeitet. Als erstes konzentrierte man sich auf die trinitarischen Grundlagen, die 9
Schirrmacher, Bibeltreue in der Offensive, S. 50. Ebd., S. 45.
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Leben und Zeugnis der Kirche bestimmen müssten. Der zweite Teil greift brennende Fragen einer christlichen Sozialethik auf, um darzustellen, wie Antworten auf Herausforderungen der Gegenwart von der Bibel her aussehen können. 1. Acht Prinzipien der Anwendung Zugrunde liegen acht Prinzipien, nach denen die Schrift auf die sich schnell veränderte Umwelt heute angewandt werden kann. 1. Eine treue Jüngerschaft muss eine bewusste Annahme alles dessen einschließen, was die Schrift lehrt.11 Das Prinzip lautet: „Die Autorität der Schrift und die Autorität Christi sind eins.“ 2. Die ganze Schrift entspringt dem Heiligen Geist, so dass sich daraus axiomatisch die innere Harmonie der Schrift und die Gewissheit ergibt, dass der Gott der Wahrheit die „Tatsachen“ der Lehre niemals verfälscht. 3. Die Entwicklung der Offenbarung Gottes bedeutet auch, dass einige Forderungen nur für eine bestimmte Zeit Gültigkeit hatten. Dennoch müssten Christen die zugrunde liegenden Prinzipien zu erkennen suchen und sie auch heute zum Tragen bringen. 4. Die Schrift ist ausreichend und deutlich; sie ist vollständig als Offenbarung Gottes und klar in ihrer Bedeutung. Weil jedoch die Heiligung des Verstandes unvollkommen ist, muss man mit Meinungsverschiedenheiten in zweitrangigen Fragen rechnen, was jedoch keine Zweifel an der Klarheit der Schrift hervorbringen dürfe. 5. Die Autoren gehen davon aus, dass es falsch sei, die biblische Lehre durch „kulturelle Axiome, Annahmen oder Paradigmen“ und daher durch Kompromisse zu relativieren. Die „protestantischen Großkirchen“ werden beschuldigt, in den beiden letzten Jahrhunderten dadurch abgeirrt zu sein, dass sie die biblische Lehre regelmäßig im Blick auf die säkulare Lebensart relativiert hätten, ganz gleich ob diese „rationalistisch, historistisch, evolutionistisch, existentialistisch, marxistisch“ war. Weil aber die menschliche Vernunft verdunkelt sei, müsse sie erleuchtet werden. Die vom Säkularismus bestimmte Kultur, sagt man unter Berufung auf Röm 1, 18 – 32, führe immer bergab. Die notwendige Korrektur liefert nur die biblische Offenbarung. Die richtige Art und Weise, die Schrift zu gebrauchen, muss zulassen, dass sie Menschen „auf intellektuellem, moralischem und geistlichem Gebiet leitet“. Daraus folgt die hermeneutische Frage, die es im Blick auf die gegenwärtige Kultur zu stellen gilt: was hält uns „in uns selber und in unserer Kultur davon ab“, „Gottes unveränderliches Wort des Gerichts, der Gnade, der Buße und der Gerechtigkeit […] wirklich zu hören“? Diese Art der Frage ist nur einen Minischritt entfernt von der Theorie einer „christlichen“ Gesellschaft oder die Abkehr von einer säkularen Gesellschaft, unter deren Dach alle Menschen ihren Ort finden, gleich welcher ethnischen Herkunft, Bildung, sozialen Stellung, Geschlecht oder Religion. Nicht zuletzt bleibt unter diesen Auspizien auch die Religionsfreiheit auf der Strecke, weil es nur den 11 Man muss einmal darauf hinweisen, dass in evangelikalen Kreisen in Nordamerika unentwegt von „Lehren“ gesprochen wird: Was lehrt die Bibel? „Die Bibel lehrt“ oder sie „sagt“: „the Bible teaches“ oder „the Bible says“ kommt bspw. in den Predigten Billy Grahams dauernd vor.
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einen, von der irrtumslosen Bibel diktierten Lebensstil geben kann, den man durch parlamentarische Schritte und durch Gerichte der Gesellschaft überstülpen muss, um den in Röm 1 vorgezeichneten gesellschaftlichen Abwärtstrend aufzuhalten. 6. Die Anwendung der biblischen Prinzipien wird aufgrund mangelnden Faktenwissens stets auch zu Meinungsverschiedenheiten führen, die indes nicht beweisen, dass die Lehren der irrtumslosen Schrift unterschiedlich verstanden werden können. Die selbstbewusste Einlinigkeit der Argumentation zeigt, wie gefährlich dieser Absolutheitsanspruch ist und wie weit dieser Anspruch zu gehen bereit ist. 7. Eine Regel christlicher Weisheit und christlichen Gehorsams wird darin gesehen, das Gute nicht „zum Feind des Besten“ werden zu lassen. 8. Nur durch die Salbung des Heiligen Geistes kann es gelingen, die Anwendung der Schrift auf das Leben zu erreichen. Die Erkenntnis, dass alles Wissen unvollständig ist, und dass Christen stets zu Gott um mehr „Licht und Weisheit“ rufen müssen, wird als gedanklicher Rahmen bezeichnet, der nur in denen Wirklichkeit wird, die „als Gerettete mit Jesus Christus verbunden sind“ und von ihm gelehrt wurden, „sich nicht auf ihren eigenen Verstand zu verlassen“. Diesen acht Prinzipien sollen die Geretteten „vernünftig und selbstkritisch“ folgen, um „die Lehre der Schrift für die Welt um uns her zum Tragen“ zu bringen. 2. Allgemeine Einführung Nach diesen acht Prinzipien folgt eine, wie man vermuten kann, allgemeine Einführung. Man will „die Lehre“ der vertrauenswürdigen Bibel auf „einige der verwirrendsten Gebiete unseres modernen Lebens“ anwenden. Die im Säkularismus gefangene Gesellschaft besteht darauf, sich aufgrund von „evolutionistischen, permissiven, materialistischen, hedonistischen und irdischen Maßstäben selbst zu beurteilen“. Um diese einflussreichen säkularen Ansichten zu bekämpfen, bedürfte es mehr als ein Dokument zu schreiben. Die Autoren machen aber deutlich, dass ihre wahre Absicht darin besteht, die säkularen Ansichten, die überall in der westlichen Welt ihren Einfluss ausüben, zu „entthronen“. Darin besteht das eigentliche Ziel, so dass man sagen kann, dass evangelikale Theologen versammelt waren, um darüber zu beraten, wie man mit Hilfe der irrtumslosen Bibel den symbolischen Griff nach der Macht erstrebt, um die Gesellschaft vom Bösen zu befreien. Dieser Griff nach der Macht war in den 1980er Jahren noch „symbolisch“, obwohl damals schon klar war, dass ein Großteil der Evangelikalen die Republikanische Partei und die „konservative Revolution“ Ronald Reagans (1911 – 2004; US-Präsident von 1981 – 1989) unterstützte. Das politisch Ersehnte wurde jedoch machbarer, als Donald Trump 2015/16 zur Wahl stand und als ihm dann mehr als 80 % der weißen evangelikalen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme gaben.12 Trump gewöhnte sich einige religiöse Sprachfetzen dieser Wählerschaft an und fragte seine Berater immer wieder, wie er bei diesem verlässlich hinter ihm stehenden Wahlblock ankomme. 12
Sie wurden umgehend von schwarzen Evangelikalen des Rassismus bezichtigt.
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Man erwartete von ihm, dass er „liefere“, deliver wie das im Englischen heißt. Und Trump tat es, vor allem und für alle sichtbar bei der Auswahl der Richter am Obersten Gerichtshof der USA. In seiner vierjährigen Amtszeit hatte Trump die Möglichkeit, gleich drei neue Richter zur Berufung vorzuschlagen, die vom Senat auch bestätigt wurden. Die konservative Phalanx hat jetzt eine Mehrheit von 6 zu 3 Richterstimmen, was sich auch nicht durch die Wahl der Richterin Ketanji Brown Jackson ändert, der ersten schwarzen Frau des Obersten Gerichtshofes, die von Präsident Joe Biden vorgeschlagen worden war. Sie wird einen sog. „liberalen“ Richter ersetzen, der im Sommer 2022 von seinem Amt zurückgetreten ist. Eine Breitseite wird gegen die liberale oder moderne Theologie abgefeuert. Sie sei „Unglaube von Namenschristen“ und relativiere die Bibel bis zur Unkenntlichkeit. Nicht Neuheiten anzustreben ist das evangelikale Ziel der Chicago-Dokumente, sondern, wie formuliert wird, das ältere, stabilere, weisere und beweisbar biblischere Erbe des Glaubens zur Anwendung zu bringen. Das Schwimmen gegen den Strom des gegenwärtigen Denkens erwachse nicht aus Verzagtheit, sondern aus mutigem Glauben. Der einzige gute Weg für Kirche und Gesellschaft verlaufe heute auf den „alten Pfaden“. Das evangelikale Selbstverständnis, das aus diesen Worten spricht, ist von einer nachhaltigen Erfahrung der Frustration geprägt. Man ist tief überzeugt, das bessere und „biblischere“ (!) Erbe zu verwalten, steht aber zugleich unter dem prägenden Eindruck, gesellschaftlich marginalisiert zu werden. So lassen sich die Klagen von nicht wenigen Evangelikalen darüber erklären, man werde des Rechts auf Religionsfreiheit beraubt und könne nicht mehr seinen Glauben leben. Angesichts dieser desillusionierenden emotionalen Stimmungslage des evangelikalen Segments der amerikanischen Gesellschaft spricht man sich Mut zu, indem man auf das geläufige Sprachmuster der „counter culture“, der Gegenkultur, zurückgreift und sich als gegen den Strom Schwimmende darstellt. 3. Art. I–III: Bekenntnis zur Trinität Auf diese Einleitung folgt das „Bekennen“ und „Verwerfen“, allerdings mit dem Unterschied zu den beiden ersten Chicago-Erklärungen, dass in diesem Abschnitt gleich mehrere Sätze des Bekennens und Verwerfens formuliert sind. Die ersten drei Abschnitte handeln von der Trinität; hier folgt man Formulierungen der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Allerdings gibt es auch Ausnahmen. So heißt es, dass in dem irrtumslos niedergeschriebenen Wort Gottes der Wille Gottes erkannt werden kann, der „das Fundament aller Moral“ ist. Im Blick auf eine gesellschaftliche Verwirklichung von „Moral“ hat dieser Satz weitreichende Konsequenzen, weil es sich nur um eine dezidiert christliche Moral handeln kann. Über Jesus Christus wird ausgesagt, dass er durch sein „stellvertretendes“ Leiden, Sterben und Auferstehen „der einzige Retter und Erlöser der Welt ist“ und „höchstes Vorbild für ein gottesfürchtiges Leben“. Ohne Christus könne kein Mensch gerettet werden. Der Heilige Geist beglaubige und erleuchte „das Wort der kanonischen Schriften“, so dass er dem Volk Gottes Weisheit zur Anwendung der Schrift auf moderne Fragen und das alltäg-
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liche Leben gibt. Die Kirche ist für ihre Lebendigkeit durchgängig vom Geist Gottes abhängig. Nach dem apostolischen Zeitalter hat der Geist keine neuen, normativen Offenbarungen gegeben. 4. Art. IV: Die Kirche und ihre Mission Die Kirche hat zunächst die Aufgabe, die kanonische Autorität des irrtumslosen Wortes zu erkennen und zu bekennen. Weil sie die Lehre der Apostel festhält, ist sie „apostolisch“. So ist sie Kirche Christi, weil er seine Kirche „durch sein Wort und seinen Geist gegründet hat und regiert“. Die Kennzeichen der Ortskirche sind „ihr treues Bekennen und Verkündigen des Wortes Gottes und die verantwortliche Verwaltung der Taufe und des Mahls des Herrn“. Ausdrücklich nehmen die Autoren für sich in Anspruch, dass sie sich neben der Ortsgemeinde auch in „parakirchlichen Organisationen“ engagieren dürfen. Das ist deshalb wichtig, weil die evangelikale Bewegung vielfältige parakirchliche Verbände hervorgebracht hat. Bekannt wird auch, dass Christus seine Kirche in alle Welt sendet, um die Menschheit zum Glauben zu rufen. Auf eine ökumenische Besonderheit ist noch hinzuweisen. Die vielfältige Betonung der Irrtumslosigkeit, Einheit und Klarheit der Schrift könnte zur Vermutung Anlass geben, dass auf dieser Grundlage die konfessionellen Differenzen leicht überbrückt werden könnten. Das ist aber nicht der Fall. Wohl aber wird gesagt, dass von dieser Lehre der Schrift der Versuch ausgehen kann, die Einheit der Kirche offenbar zu machen.13 5. Die Auseinandersetzung mit der Moderne a) Art. V: Heiligkeit des menschlichen Lebens Mit dem Art. V beginnen die Auseinandersetzungen mit dem modernen Leben. Als erstes wird über die „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ gehandelt. Diese Heiligkeit ist in der Erschaffung des Menschen im Bild Gottes (imago Dei) verankert. Apodiktisch wird erklärt, das menschliche Leben beginne mit der Empfängnis und ende mit dem „biologischen Tod“. Die Folgen aus diesem biologistischen Ansatz sind weitreichend: „Deswegen sind Abtreibung14, Kindesmord, Selbstmord und Euthanasie Mord.“
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Vgl. dazu Ernst Käsemanns häufig zitierte Aussage: „Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit […] die Vielzahl der Konfessionen. […]. Die Variabilität des Kerygmas im NT ist Ausdruck des Tatbestandes, dass bereits in der Urchristenheit eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander vorhanden war, aufeinander folgte, sich miteinander verband und gegeneinander abgrenzte“ (Käsemann, Ernst: Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1960, S. 214 – 223, hier: 221). 14 Als Ausnahme wird konzediert, eine Abtreibung zu erlauben, wenn „die Fortsetzung der Schwangerschaft direkt das physische Leben der Mutter bedroht“.
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Die Abtreibungsfrage ist seit Jahrzehnten in den USA eines der großen Themen des „Kulturkampfes“. Abtreibungsgegner nennen sich „pro-life“, Abtreibungsbefürworter „pro-choice“, und zwischen diesen Blöcken gibt es keinen Kompromiss, sondern nur ein Entweder-Oder. Abtreibungsgegner haben sich in der aufgeheizten Atmosphäre dazu verführen lassen, vor Kliniken zu demonstrieren und Patientinnen den Zugang zu versperren oder sie Spießruten laufen zu lassen. In einige Fällen hat es sogar Morde an Ärzten und Krankenschwestern gegeben, die Abtreibungen vorgenommen haben. Ob die Autoren ein Stück Verantwortung für derartige Entgleisungen übernehmen? Sie sagen zwar, dass „jeder Grenzfall mit der größten Sorgfalt abgewogen“ werden muss, aber ist man dazu bei einer Demonstration vor einer Klinik in der Lage oder überzeugen evangelikale Demonstranten dadurch, dass sie ihre „pro-choice“ Gegner als „Mörder“ anschreien? Seit im Jahre 1973 der Oberste Gerichtshof der USA im Verfahren Roe vs. Wade die Meinung vertrat, dass die Verfassung der USA der schwangeren Frau die Entscheidungsfreiheit darüber zugesteht, ihre Schwangerschaft zu beenden (ohne exzessive Restriktionen durch die Regierung), hat es vor allem in evangelikalen Kreisen einen Aufschrei der Empörung und fortgesetzte Aktionen bis heute gegeben, um diese Entscheidung rückgängig zu machen. Mit der inzwischen eingetretenen Neubesetzung des Obersten Gerichtshofs sehen sich die Abtreibungsgegner fast schon am Ziel. Sie schreiben diese Wendung Donald Trump zu, vergessen aber den makabren Umstand, dass dieser Schürzenjäger sich bis zu seinem Amtsantritt als „prochoice“ bezeichnete, sich aber von seinen Beratern informieren lassen musste, er sei jetzt republikanischer Bewerber für das höchste Amt der USA und müsse von nun an die „pro-life“-Bewegung unterstützen, was er auch tat. Das meinte er damit, wenn er sagte, dass er gegenüber seinen getreuen evangelikalen Wählerinnen und Wählern „liefern“ müsse.15 Am 24. Juni 2022 hat der Oberste Gerichtshof mit der sog. Supermajorität von 6 Stimmen der von republikanischen Präsidenten George W. Bush und Donald Trump nominierten Richtern gegen drei liberale Richter das Recht auf Abtreibung von der Bundesebene auf die Ebene der einzelnen Bundesstaaten verlagert. In republikanisch-dominierten Staaten, vor allem im Süden, wurde sofort Abtreibung verboten, selbst nach Vergewaltigung oder Inzest. Das Urteil hat derzeit noch unabsehbare Folgen, zeigt aber jetzt schon, dass die Armen und andere sozial benachteiligte Segmente der Gesellschaft am stärksten von ihm betroffen sind. Reiche können ins Ausland fahren oder in einen Bundesstaat, wo das Recht auf Abtreibung weiterhin besteht, und dort einen Abbruch der Schwangerschaft vornehmen lassen, während Angehörige ärmerer sozialer Schichten in die sog. „back alleys“, in die „Hintergässchen“, oder zu den „Engelmachern“, wie man früher in Deutschland sagte, abgedrängt werden, wo sie sich fragwürdigen Methoden aussetzen müssen. Ob die evangelikalen Abtreibungsgegner diese Folgen bedacht haben? Stimmt man unter diesen 15 Dazu gehörte z. B. auch die Verlegung der amerikanischen Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem.
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Umständen nicht für das Leben, also pro-life, wenn man der Schwangeren, etwa nach einer offenen Beratung, ihre Freiheit der Entscheidung lässt und mit modernen medizinischen Mitteln ihrem Wunsch nachkommt, statt sie der Gefahr für Leib und Leben auszusetzen?16 Abtreibung als Mord zu klassifizieren, dagegen „das Töten im Selbstverteidigungsfall“ oder im Fall des Vollzugs einer Todesstrafe durch den Staat oder in einem „gerecht ausgetragenen Krieg“ für statthaft zu erklären, ist eine Selbsttäuschung. Da kann man noch so viel bekennen oder verwerfen: Mord ist Mord oder man muss differenzieren, was die dritte Chicago-Erklärung nicht tut. Man vermisst außerdem ein Wort zu den vielen Toten,17 die jährlich in den USA wegen der fehlenden Waffengesetzgebung zu beklagen sind. Aber dazu können sich Evangelikale nicht äußern, weil viele von ihnen zu den „Waffennarren“ gehören. b) Art. VI: Ehe und Familie Im Artikel VI zu Ehe und Familie wird bekannt, „dass der Zweck der Ehe die Verherrlichung Gottes und die Ausbreitung seines Königreiches auf Erden in einer Institution ist, die für Keuschheit, Gemeinschaft, Fortpflanzung und christliche Erziehung von Kindern sorgt.“ Man rekurriert auf eine „von Gott eingesetzte Eheordnung“, wonach „der Ehemann als Haupt der liebende Diener und Führer seiner Frau ist und die Ehefrau als Beistand in sich unterordnender Gemeinschaft ein vollwertiger Partner ihres Mannes ist.“ Die Ehe wird nicht als Partnerschaft auf einer Ebene bewertet, sondern als ein Oben und Unten, was euphemistisch verbrämt wird: Der „liebende Diener“ hat einen „Beistand“, der sich unterordnet, aber vollwertig ist.18 Es überrascht nicht, dass den Kindern eine Pflicht zum Gehorsam gegenüber ihren Eltern eingeimpft wird oder dass das sog. „biblische Eheideal“ von gleichgeschlechtlichen Paaren bzw. der gesamten LGBTQ Community nicht erfüllt werden kann. Auch habe der Staat nicht das Recht, Sichtweisen von Ehe und Familie zu legitimieren, „die den biblischen Maßstäben entgegenstehen“. Das kann nur bedeuten, dass die Autoren ihre Sichtweise dessen, was die Bibel überliefert, zum ausschließlichen Kriterium für den Staat erklären, was heißt, dass der Staat „christlich“ im Sinne der Verfasser gesehen wird und das „Entthronen“ anderer Ansichten damit in Übereinstimmung steht.
16 Man müsste auch einmal fragen, wie viele Frauen bei der Abfassung der Chicago-Erklärungen mitgewirkt haben. 17 Im Jahr 2021 ca. 21.000 Getötete und 40.000 durch Schusswaffen Verletzte. https://de. statista.com/statistik/daten/studie/579175/umfrage/vorfaelle-und-todesfaelle-durch-schusswaf fen-in-den-usa/. 18 Im Deutschen ist das grammatische Geschlecht der Frau „der“ Beistand. Das macht die ganze Aussage doppelt grotesk.
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c) Art. VII: Scheidung und Wiederverheiratung Das erste Bekenntnis zum Abschnitt VII Scheidung und Wiederverheiratung lautet, „dass die Ehe von Adam und Eva als eine lebenslängliche, monogame Beziehung das Vorbild für alle Ehen der Menschheit ist.“ Dazu kann man, wenn auch sarkastisch, nur anmerken, dass dieser Grundsatz in der „irrtumslosen“ Bibel vielfach unbeachtet geblieben ist. Man kann aber wohlwollend zur Kenntnis nehmen, dass bei einem drohenden Scheitern einer Ehe das Ziel etwa einer Beratung sein sollte, die Ehe wieder herzustellen. Es wird aber konzediert, dass eine Scheidung „manchmal unausweichlich ist“ wie z. B. bei einem promiskuitiven Verhalten eines Partners. d) Art. VIII: Sexuelle Verirrungen Der Art. VIII behandelt sexuelle Verirrungen. Dazu zählen die Autoren Homosexualität, Promiskuität und Pornographie, sexuelle Belästigung, sexuellen Missbrauch von Kindern sowie inzestuöse Beziehungen. Der Versuchung zur Homosexualität kann man wie jeder anderen Versuchung widerstehen, und man kann durch Bekehrung Heilung von Homosexualität erfahren. Dies sind Behauptungen, die dem heutigen Kenntnisstand nicht mehr entsprechen, die aber in evangelikalen Kreisen noch immer Widerhall finden. e) Art. IX: Der Staat unter Gott „Der Staat unter Gott“ heißt die Überschrift zu Art. IX. Es wird bekannt, dass die Regierung19 von Gott eingesetzt ist als „Instrument seiner allgemeinen Gnade“, um Sünde einzudämmen, Ordnung zu erhalten sowie Gerechtigkeit und Wohlergehen zu fördern. Christen werden ermutigt, sich an der Regierung zu beteiligen und sich zu Fürsprechern für die Verabschiedung von Gesetzen zu machen, die mit Gottes moralischem Gesetz übereinstimmen und so dem Gemeinwohl dienen. Es scheint dabei als bekannt vorausgesetzt zu sein, was unter „Gottes moralischem Gesetz“ zu verstehen ist. Für die Regierenden zu beten und ihnen zu gehorchen, ist Pflicht der Christen, es sei denn der Gehorsam verletze das Gesetz Gottes. Die Regierung sei aber verpflichtet, Gesetze zu verabschieden, die im Einklang mit Gottes moralischem Gesetz stünden. Unter diesen Umständen, so kann man folgern, ist der Gehorsam gegenüber der Regierung unschwer möglich; denn sie muss unter den beschriebenen Umständen eine „christliche“ oder besser noch eine „evangelikale“ Regierung sein. Gewarnt wird vor einer Vermischung der Herrschaft Christi über die Kirche mit der Macht, die er staatlichen Regierungen verleiht. Das Königreich Gottes darf nicht durch die Zwangsgewalt der Regierung errichtet werden, aber die Regierung hat auch nicht das Recht, an öffentlichen Schulen freiwillige Gebete oder andere religiöse 19 Es sei darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland gern von „Staat und Kirche“ sprechen. Amerikaner sprechen stattdessen eher von der konkreten Regierung statt von einem abstrakten Staat.
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Handlungen zu verbieten. Das Schulgebet war einstmals Bestandteil des Schulalltags, doch wurde es durch den Obersten Gerichtshof in mehreren Verfahren seit 1962 untersagt. Ronald Reagan konnte noch behaupten, der Oberste Gerichtshof habe mit seinen Entscheidungen „Gott aus den Klassenzimmern verjagt“, aber er „lieferte“ nicht zugunsten seiner evangelikalen Klientel. Gegenwärtig ist ein Fall vor dem Obersten Gerichtshof mit der Frage anhängig, ob ein Football Trainer mit seiner Schulmannschaft nach dem Spiel in der Mitte der Seitenlinie des Spielfeldes beten darf.20 f) Art. X: Gesetz und Gerechtigkeit Zu „Gesetz und Gerechtigkeit“ (Art. X) wird zunächst bekannt, dass in der Schrift die moralischen Prinzipien niedergelegt sind, die einer „gesunden Rechtsprechung“ und einer „angemessenen Philosophie der Menschenrechte“ zugrunde liegen. Dies scheint den Gedanken nahe zu legen, dass Gesetze, Rechtsprechung und Menschenrechte nur christlich-biblisch erreichbar sind. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass die „gefallene Ordnung“ vor Chaos und Anarchie geschützt und „die Menschheit auf die Notwendigkeit der Erlösung in Jesus Christus“ hingewiesen werden muss; denn das Gesetz kann niemanden retten. Keine politische, wirtschaftliche oder soziale Ordnung ist frei von „den tödlichen Konsequenzen der Erbsünde“21 und kann eine „perfekte Gesellschaft“22 anbieten; das wird erst bei dem „Zweiten Kommen“ Christi geschehen. g) Art. XI: Krieg Zum XI. Artikel „Krieg“ wird gesagt, dass Gott Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Staaten wolle und Aggressionskriege verurteile. Auf das Recht gegründete Staaten hätten das Recht, ihre Territorien gegen Aggressoren zu verteidigen und die Bevölkerung auf eine Zivilverteidigung vorzubereiten. Daher sei es Christen nicht verboten, Waffen zu tragen. Nur „gerechte“ Mittel des Krieges sollten zum Einsatz kommen und die Zivilisten nach Möglichkeit vor Schäden bewahrt werden. Das „unterschiedslose Abschlachten von Zivilisten“ kann keine moralische Form der Kriegsführung sein. In der Einleitung zu den Artikeln hatte man davon gesprochen, dass man sich „neuen“ Fragen wie der Rechtmäßigkeit eines Nuklearkrieges zuwenden wolle. Dieses heiße Eisen war wohl zu umstritten, als dass es in diesem Abschnitt behandelt wurde. Oder sollte das „unterschiedslose Abschlachten von Zivilisten“ gemeint sein? Das hätte man dann wohl eindeutiger zur Sprache bringen müssen. Im 20 Unter normalen Umständen wäre zu erwarten, dass dies als nicht mit der Verfassung vereinbar angesehen wird, aber das Gericht hat inzwischen wiederum mit 6 zu 3 Stimmen für den Trainer entschieden. 21 Hier ist die einzige Erwähnung der „Erbsünde“ in den Dokumenten. 22 Ob man hier auf die alte römisch-katholische Konzeption der societas perfecta anspielt, ist unklar.
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Übrigen gilt, dass auch die sog. „konventionellen Waffen“ höchst fatale Folgen für die Zivilbevölkerung haben. Es ist auch nirgends davon die Rede, dass die USA seit dem Zweiten Weltkrieg die kriegerischste Nation der Welt gewesen sind. Weder in Korea, noch in Vietnam oder gar im Irak können die USA den Kriterien eines „gerechten Krieges“ genügen, und in Vietnam konnte man tatsächlich Vorkommnisse beobachten, die den Tatbestand des „Abschlachtens von Zivilisten“ erfüllten. Dass der sog. Präventivschlag gegen den Irak durch Lügen und Vorspiegelung falscher Tatsachen zustande kam und ein Aggressionskrieg war, lässt sich nicht bestreiten. Der militärische Einsatz in Afghanistan hat auch nichts damit zu tun, dass die USA ihr Territorium verteidigen mussten. Nicht alle Beispiele konnten die evangelikalen Verfasser in Chicago kennen, aber Korea, Vietnam und einige Einsätze in Lateinamerika wie in Chile oder Nicaragua hätten ihnen vor Augen stehen können. h) Art. XII: Diskriminierung und Menschenrechte Der Art. XII handelt von „Diskriminierung und Menschenrechten“. Gott habe, so wird bekannt, allen Menschen „grundlegende Rechte geschenkt“, die auf der „natürlichen“ und „geistlichen“ Ebene zu schützen und weiter zu entwickeln seien. Für den Gebrauch dieser Rechte seien alle Menschen „vor Gott“ verantwortlich, und Christen seien dazu aufzurufen, die Rechte zu verteidigen und gleichzeitig, wenn es die Situation erfordere, ihre eigenen Rechte zum Wohl anderer aufzugeben und die Lasten derer zu tragen, deren Rechte beschnitten würden. Das wird mit dem „barmherzigen Vorbild Jesu“ begründet. Ein sog. Menschenrecht, das die Lehre der Schrift verletzt, wird als nicht rechtmäßig zurückgewiesen. Im Ganzen sind diese Ausführungen zu schwammig und sind nicht universalisierbar, weil sie dezidiert christliche Positionen voraussetzen. Richtig dagegen sind die abschließenden Verwerfungen, auch wenn die letzte Verwerfung wieder nur Christen betreffen kann: Alter, Behinderung, wirtschaftliche Nachteile, Rasse, Religion oder Geschlecht dürften keine Grundlage für Diskriminierungen sein, und ein „Elitebewusstsein“ sowie der „Griff nach der Macht“ seien mit Christi Ruf, unsere Rechte seinem Dienst zu weihen, nicht vereinbar. i) Art. XIII: Wirtschaft Zur „Wirtschaft“ wird im Art. XIII eingangs bekannt, dass „wirtschaftliche Prinzipien“ in der Schrift zu finden sind, die „einen unerlässlichen Bestandteil einer christlichen Weltanschauung und Lebensauffassung bilden sollten.“ Man ist gespannt, von welchen „Prinzipien“ die Rede ist, wird aber herb enttäuscht, weil die Ausführungen doch sehr trivial und einfach sind. Materielle Reichtümer seien ein Segen von Gott und sind gewissermaßen treuhänderisch im Sinne einer Haushalterschaft zu verwalten. Man vermisst jedoch ein Wort darüber, wie die Reichtümer zustande kommen. Christen sollten zur Verkündigung des Evangeliums und zur Be-
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kämpfung der Armut Opfer bringen. Das kann man als eine Verpflichtung ansehen, die den Besitzern von Reichtümern auferlegt ist, aber auch dies ist ebenso wenig ein „wirtschaftliches Prinzip“ wie die Feststellung, dass „die Geldliebe eine Wurzel großer Übel ist“. Der letzte Satz ist 1.Tim 6,10 nachempfunden, wo jedoch radikaler formuliert ist: „denn die Geldliebe ist Wurzel aller Übel“. Noch rigoroser spricht es Jesus nach Mt 6,24 aus: „Niemand kann zwei Herren dienen […] Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“. Das Argument, dass menschliche Habgier und der Wille zur Macht wirtschaftliche Ungerechtigkeit begünstigen und die Sorge um die Armen untergraben, kann man leicht nachvollziehen, es stellt aber auch kein allgemeines Prinzip für wirtschaftliches Handeln dar. Für den Satz, dass die Bibel das Recht auf Privatbesitz bekräftige, hätte man gern einen Nachweis gehabt. Dass sie weder „wirtschaftlichen Kollektivismus“ noch „wirtschaftlichen Individualismus“ unterstützt, bedürfte auch der Nachweise bzw. längerer Ausführungen. Der erste Satz der Verwerfungen klingt wie ein Eiertanz. Da wird einmal verworfen, die Bibel lehre „direkt“ irgendeine „Wirtschaftswissenschaft“, zum anderen aber die eingangs dieses Artikels getroffene Behauptung aufrechterhalten, man könne „Prinzipien der Wirtschaft“ aus der Bibel ableiten. Untermauernde Argumente bleibt man aber schuldig. Verworfen wird auch die Auffassung, die Schrift lehre, „dass Geld und Reichtum in sich böse sind“, was man mit dem oben zitierten Ausspruch Jesu bezweifeln könnte. Gegen das in manchen evangelikalen Kreisen propagierte „Wohlstandsevangelium“ – the gospel of health and wealth – wird argumentiert, dass das „Zentrum der christlichen Hoffnung“ kein materieller Wohlstand sei und dass Christen ihre Finanzen nicht zur „eigenen Befriedigung“ einsetzen sollten. Schließlich wird verworfen, dass die Errettung von Sünden wirtschaftliche und politische Befreiung einschließe. Kein Wort wird zu den amerikanischen Oligarchen oder Räuberbaronen gesagt, über ihre auf dem Superreichtum gegründete Macht in den politischen Entscheidungen, ihre Manipulationen, Steuertricks und den Aufbau großer Konglomerate, die ganze Wirtschaftszweige beherrschen und Preise diktieren können. j) Art. XIV: Arbeit und Ruhe Der Art. XIV handelt von „Arbeit und Ruhe“, wozu Gott den Menschen befähigt hat. Die Arbeit, wie gering auch immer, diene der Verherrlichung Gottes und dazu, das „Nötigste“ für uns und für andere zu erwirtschaften. Irritierend wirkt der Satz, dass sich Menschen „jeder Autorität“ in ihrem Bereich der Arbeit demütig unterordnen sollten. Das klingt, als hätten Gewerkschaften oder Streiks keine Berechtigung. Das wirkt wohl deshalb so, weil vorausgesetzt ist, dass ein Lohn als gerechte Gegenleistung für getane Arbeit ohne Diskriminierung gezahlt wird. In dem Konzept von Chicago muss die Ruhe in einem rechten Gleichgewicht mit der Arbeit ihren Platz finden und genossen werden können. Außerdem haben die Reichen nicht mehr Rechte auf Ruhe als die weniger Begüterten oder Armen. Die Ruhe ist aber nicht Ziel der Arbeit.
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k) Art. XV: Reichtum und Armut Warum der Art. XV zu „Reichtum und Armut“ hier platziert ist und nicht im Artikel zur Wirtschaft, ergibt sich aus dem verengten Blickwinkel, mit dem die beiden Themen behandelt werden. Es geht nämlich nicht um die Art und Weise, wie Armut und Reichtum zustande kommen, um ihre sozialen Bedingungen und Folgen, sondern man geht davon aus, dass es Armut und Reichtum gibt und dass Gott sich im Besonderen um die Armen sorgt. Dies geschieht nach dem Dokument so, dass die Anstrengungen, andere aus „Armut, Unterdrückung und Leiden“ zu befreien, als Kennzeichen wahrer Jüngerschaft benannt werden. Gott sorge für die Armen durch die Jünger Christi. Dies wird mit Recht sehr ernst genommen, weil gesagt wird, dass man sich nicht Jünger Christi nennen darf, wenn man dieser Aufgabe nicht nachkomme. Es gilt auch der Satz, dass Reichtum und Armut nicht als Maßstab für die Treue zu Christus gelten darf. Zugleich wird bekannt, dass die Reichen nicht habgierig und die Armen nicht neidisch sein sollten. l) Art. XVI: Verwaltung der Umwelt Den Abschluss der drei Dokumente bildet der Art. XVI „Verwaltung der Umwelt“. Die Umweltkatastrophen gehören neben den Risiken einer atomaren Vernichtung und der Suche nach neuen Energien zu den großen Fragen der Menschheit seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es entspringt daher einem Krisenbewusstsein, dass man zur Umwelt etwas sagen musste. Begonnen wird mit dem Bekenntnis, dass Gott die Umwelt zu seiner Herrlichkeit und zum Wohl seiner Geschöpfe geschaffen und dass er die „Herrschaft“ über die Schöpfung an die Menschen delegiert habe. Das an dieser Stelle missverständliche Wort „Herrschaft“ wird jedoch wenig später erläutert als „Verantwortung für den Schutz des Lebens und der Ressourcen auf der Erde“. Es ist angemessen, dass Herrschaft nicht im Sinn eines ausbeuterischen Verhaltens gemeint ist. Warum man anschließend bekennt, dass die Menschheit „wertvoller“ sei als die übrige Schöpfung, ist nicht klar. Christen sollten verantwortungsvolle wissenschaftliche Forschung und technologischen Fortschritt begrüßen, damit es möglich wird, mit den natürlichen Ressourcen produktiv und nachhaltig umzugehen. Die vermeidbare Verschmutzung der Erde, der Luft, des Wassers und des Weltraums wird als unverantwortlich bezeichnet. Einzelne oder Gesellschaften dürften nicht zu ihrem Vorteil und auf Kosten anderer Menschen und Gesellschaften die „Ressourcen des Universums“ ausbeuten. VI. Schlussbemerkungen Die Chicagoer-Erklärungen sind inzwischen Teil der (kirchlichen) Zeitgeschichte. Obwohl ein „internationaler“ Rat sie erarbeitet hat, muss man festhalten, dass der Rat sich überwiegend aus nordamerikanischen Autoren, vor allem aus den USA und wenige auch aus Kanada, zusammensetzte. Vor allem in den USA passiert es gele-
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gentlich, dass man sich mit der ganzen Welt gleichsetzt. In der Sportart Baseball z. B., die sich in nur wenigen Ländern der Welt einer gewissen Beliebtheit erfreut, wird am Ende einer Saison die „World Series“ zwischen den besten Mannschaften der beiden nordamerikanischen Profiligen, der American League und der National League, ausgetragen, und der Gewinner der „best-of-seven-series“ ist dann der Weltmeister, World Champion. So ähnlich wird man sich das vorzustellen haben: Die Nordamerikaner haben schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen Kampf um die Bibel ausgefochten und standen, als die Chicago-Erklärungen entworfen wurden, in einem „Kulturkampf“ der konservativen Kräfte gegen den „humanistischen Liberalismus und Säkularismus“, die beide als Bedrohung christlicher Werte angesehen werden. Oft wird das Narrativ bis in die Zeit der Gründung der USA zurückgeführt, und die Gründungsväter werden zu frommen Christen erklärt, die ein „christliches Amerika“ ins Leben rufen wollten. Dies ist der Quellgrund für einen weißen, christlichen Nationalismus, der die USA als von Gott besonders bevorzugtes Land betrachtet. Das wird man den Autoren der Chicago-Erklärungen nicht unterstellen dürfen, aber sehr weit entfernt von dieser Anschauung waren sie nicht. Dass sie einer Regierung ihre Werte als von Gott gewollt vorgeben, zeigt die Tendenz an, ihre Ansichten der Gesellschaft insgesamt überzustülpen und andere gesellschaftliche Kräfte zu „entthronen“. Der Kulturkampf fokussierte sich über weite Strecken auf zwei Fragen: hatte der Oberste Gerichtshof 1973 richtig entschieden, als er erklärte, die Entscheidung einer schwangeren Frau, die Schwangerschaft beenden zu lassen, sei verfassungsgemäß? Die zweite Frage betraf die menschliche Sexualität, insbesondere die Stellung der Frau in der Ehe und der christlichen Gemeinde. Hinzu trat die Frage der Homosexualität. Diese Fragen führten auch in konservativen Denominationen zu heftigen Auseinandersetzungen, ja Trennungen. Das betraf besonders die Southern Baptist Convention, was zur Abspaltung der Cooperative Baptist Fellowship führte.23 Angesichts der aufgewühlten Diskussionen um die Hauptfragen des Kulturkampfes ist es nicht verwunderlich, dass die Autoren der Chicago-Dokumente einen festen Boden suchten, von dem aus sie antworten konnten. Aus der evangelikalen Tradition legte es sich nahe, dass die Bibel jener feste Boden sein müsste, was allerdings gegen ein weit verbreitetes und sich immer weiter ausdehnendes liberales Verständnis der Bibel abgesichert werden musste. Dieser Absicherung diente das Postulat der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift gegen eine vermeintliche liberale Aufweichung. Es muss allerdings in aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass diese Absicherung unmöglich ist. Einmal beruht die Irrtumslosigkeit auf der Inspiration der Schrift, was, wie die Autoren der Chicagoer Erklärungen selbst sagen, nur auf die ursprünglichen Autographen zutrifft, die es jedoch nicht mehr gibt. Zum anderen behauptet die Chicago-Erklärung, dass die Autorität der Schrift mit der Autorität Gottes gleichzuset23 Zum Hintergrund vgl. Gushee, David/McSwain, Larry: Baptisten und sozio-politische Fragen, in: Geldbach, Erich (Hrsg.), Baptisten weltweit. Ursprünge, Entwicklungen, Theologische Identitäten (Die Kirchen der Gegenwart 7), Göttingen 2021, S. 100 – 113, bes. 104 f.
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zen ist. Dagegen spricht jedoch, dass die Heilige Schrift als das Instrument, mit dem Gott seine Wirkungen entfalten will, nicht vergöttlicht werden darf, so als hätten die biblischen Texte keine Anfänge gehabt und keinen Entstehungsprozess durchlaufen. Allein Gott kommt es zu, ohne Anfang und ohne Entwicklung zu sein, was aber auf die Bibel nicht zutrifft. Gottes Wort ist Gott selbst: „Im Anfang war das Wort […] und Gott war das Wort“ (Joh 1,1). Gottes Wort kann daher unmöglich mit der Bibel gleichgesetzt werden; denn es wäre unsinnig zu sagen: Im Anfang war die Bibel und Gott war die Bibel. Gottes Wort ist daher nicht die Bibel, sondern mehr als die Bibel. Gottes Wort wurde „Fleisch“, also Mensch in Jesus Christus (Joh 1,14); er ist das Mensch gewordene Wort Gottes, von dem allerdings die Bibel in einzigartiger und nicht überbietbarer Weise Zeugnis gibt. Die drei Erklärungen beantworten die Hauptfragen des Kulturkampfes sehr hart: Abtreibung ist ohne Wenn und Aber Mord. Keine differenzierenden Fragen werden gestellt, keine Umstände geprüft. Die Männer – die allermeisten Verfasser waren Männer –, die sich einem solchen Eingriff nicht auszusetzen haben, entscheiden einfach für die Frauen, und dies geschieht eigenartigerweise ohne einen Rekurs auf die „irrtumslose“ Bibel. Auch auf die zweite Frage erfolgt eine männliche Antwort: Der Ehemann ist Haupt und liebender Diener seiner Frau, und diese der sich unterordnende Beistand des Mannes; diese „Ordnung“ wird sogar noch auf Adam und Eva zurückgeführt. Zur Homosexualität wird gesagt, dass Gott praktizierte Homosexualität nicht duldet. Die hier kurz skizzierten Einwände gegen die Chicago-Erklärungen und ihre Behauptungen könnte man auf dem Hintergrund der nachfolgenden Geschichte verfolgen, insbesondere dort, wo sie sich in Kirchen niedergeschlagen haben, zum Beispiel bei den US-amerikanischen Südbaptisten. Hier hat man im Jahre 2000 eine Revision des Bekenntnisses „Baptist Faith and Message“ vorgenommen, was in der Eheauffassung der Erklärungen von Chicago ähnlich ist. Die Frau soll „gracefully submissive“ gegenüber dem „servant leadership of her husband“ sein.24 Außerdem wird der Frau das Recht abgesprochen, als ordinierte Pastorin dem an sie ergangenen Ruf Gottes zu folgen. Eine solche Berufung Gottes kann oder darf es nach der „irrtumslosen“ Bibel nicht geben, wie die Männer zu wissen vorgeben bzw. Gott vorschreiben, wen er zu berufen hat. Der Testosteronspiegel sollte aber kein geistliches Kriterium abgeben. Liest man evangelikale Verlautbarungen wie die Chicago-Erklärungen, drängt sich der Eindruck auf, dass erst in der Neuzeit Abtreibungen und Homosexualität praktiziert worden seien. Es gilt auch, dass es in keiner anderen Denomination in den USA so viele Scheidungen gibt wie bei den Südbaptisten und dass es in großem Ausmaß Vertuschungen von sexualisierter Gewalt bis in die Spitzen der Denomination gegeben hat, wie erst
24 Das Verständnis ist etwa so: Die Frau soll mit Grazie unterwürfig gegenüber der dienenden Führung ihres Mannes sein. Das Glaubensbekenntnis der Südbaptisten ist zugänglich unter https://www.sbc.net/bfm/bfm2000.asp.
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jüngst öffentlich bekannt wurde.25 Außerdem muss man fragen, wie es kommt, dass ausgerechnet die Evangelikalen immer noch den festen Wählerblock Donald Trumps bilden. Wie lassen sich die Aussagen zur Ehe auf einen Mann übertragen, der nicht nur fünf Kinder26 von drei Frauen hat, sondern der auch Strip Clubs und Casinos betreibt, der ohne Ende lügt und am 6. Januar 2021 zum Sturm auf das Kapitol aufgerufen hat, um die Zertifizierung der Wahl Joe Bidens zu verhindern, damit er gegen Recht und Verfassung im Amt bleiben könnte? Um es konkret zu verdeutlichen: Der Präsident des einstmals angesehenen Southern Baptist Theologcal Seminary in Louisville, KY, Albert Mohler, hatte noch 2015/16 erhebliche Einwände gegen den Kandidaten Donald Trump, gab aber 2019 öffentlich kund, dass er jetzt Präsident Trump seine Stimme gebe. Wie kann sich ein evangelikaler Christ in gehobener Stellung nach der turbulenten und stets mit Skandalen begleiteten Präsidentschaft, z. B. mit den ethisch bestimmt verwerflichen Schweigegeld-Zahlungen an Porno-Stars und Playboy-Häschen, so verhalten? Ist ein solches politisches Handeln mit der „irrtumslosen“ Bibel vereinbar? Was nutzt eine Chicago-Erklärung mit ihrem gewiss schwächsten Teil der „Anwendung“, wenn solche widersprüchlichen Ableitungen für das tägliche Leben erfolgen, und welche Eindrücke muss das bei den Studierenden hinterlassen, wenn „ihr“ Seminar-Präsident so agiert?
Literaturverzeichnis Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicagoerklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung, hrsg. und übers. von Thomas Schirrmacher, 2. überarb. Aufl., Bonn 2004. Boice, James M. (Hrsg.): The Foundation of Biblical Authority, Grand Rapids 1978. Boice, James M.: Die Unfehlbarkeit der Bibel, hrsg. von Samuel R. Külling, Asslar/Riehen 1987. Fischer, Alexander A.: Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 2009. Geldbach, Erich: Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland, Münster 2001. Geldbach, Erich: In Gottes eigenem Land. Religion und Macht in den USA, Berlin 2008. Gushee, David/McSwain, Larry: Baptisten und sozio-politische Fragen, in: Geldbach, Erich (Hrsg.), Baptisten weltweit. Ursprünge, Entwicklungen, Theologische Identitäten (Die Kirchen der Gegenwart 7), Göttingen 2021, S. 100 – 113. Käsemann, Ernst: Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1960. Rad, Gerhard von: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 1961. 25
Vgl. den Pressedienst Baptist News Global vom 20. Mai 2022. Ob es daneben noch andere Kinder von ihm gibt, ist nicht bekannt, aber unschwer vorstellbar. 26
Jüdisch in Oldenburg Von Michael Daxner I. Ohne meine Zeit in Oldenburg (1986 – 2010) wäre meine jüdische Identität gänzlich anders verlaufen; da jeder Mensch mehrere Identitäten hat und etliche sein ganzes Leben durchläuft, wäre das vielleicht nicht schlimm; so aber ist es gut. Dieser subjektive Rückblick könnte ins Autobiographische abgleiten, das will ich hier aber nicht; es gibt viele jüdische Nachkriegsgeschichten, die einander ähnlich sind, und die interessant werden, wenn man die Vorgeschichte, die jüdischen Vorfahren, die Konflikte und Erfolge erfährt. Das war teilweise Gegenstand meiner Arbeit an den Jüdischen Studien an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und ist es teilweise heute noch. Aber meine Geschichte blende ich einmal aus, bis auf die Schnittstellen mit einer objektiven Wendung. Diese hat insofern mit mir zu tun, als ich von der Universität aus Osnabrück gekommen war, wo mir Jüdische Studien einzurichten nicht gelungen war und wo es eine andere jüdische Geschichte gegeben hatte. Eine, die jedenfalls an meiner Biographie andere Spuren hinterlassen hat, aber keine langfristige Wirkung im beruflichen Alltag und in der städtischen und akademischen Umgebung. Oldenburg war da anders, und ist es bis heute geblieben – für mich, und eben objektiv. Da will ich aber auch die jüdische Geschichte der Stadt und ihrer Umgebung den kompetenteren KollegInnen überlassen, nur an der Schnittstelle mit meinem Rückblick einsetzen. Und also fragen, was ist „jüdisch“ in Oldenburg, und worauf ist es mir angekommen? Seit Anbeginn der jüdischen Geschichte wird darüber konflikthaft diskutiert, was denn eigentlich „jüdisch“ sei, und der Jargon der Eigentlichkeit, wie ihn Adorno markiert, hat ebenso viel Unheil wie Verwirrung gestiftet. Wie hat sich das Jüdische entwickelt? Das ist viel interessanter als die dogmatische und oft ideologische Frage, wer Jude sei, von Jüdin ganz zu schweigen. Das Herausbilden einer Gruppe, die sozial, ethnisch, religiös, identitär so viele Variationen aufweist, wie sie Umgebungskulturen und Persönlichkeitsbildungen umfasst, – das ist schon ein Thema, das uns seit Anbeginn beschäftigt, „uns“, die wir uns jüdisch verstehen, vielleicht oft definieren. Die Diskussion ist nicht abstrakt: Wenn Lawrow heute die Juden beschimpft, sie hätten den Faschismus gleich mitgeschaffen, wenn Selenskyjs Judentum ins Gegen-
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teil verkehrt wird, wenn sich aufs jüdische Erbe zu berufen oft so peinlich ist wie die Kehrseite, den immer wieder auflebenden Antisemitismus, der nie aufgehört hat, dann ist das so gegenwärtig wie geschichtlich verfolgbar. Seit vielen Jahrzehnten verfolge ich diese Problematik, ohne die die heutigen Jüdische Studien so wenig möglich wären wie die Bewertung dessen, was als jüdisches Leben akzeptiert oder abgelehnt wird. Und dieses „Ich“ ist natürlich auch davon geprägt. In Oldenburg spielte sich vieles dieser niemals ganzheitlichen Judaizität im Mikrokosmos ab, und dass das normal ist, finde ich in der Theorie von Rabbinerin Delphine Horvilleur über uns Unfertige bestätigt1. Die Erinnerung kann sich nicht ganz von der Wirklichkeit der jüdischen Geschichte Oldenburgs distanzieren, in einem gewissen Sinn ist diese Geschichte niemals objektiv, und wenn versucht wird, sie als wahre Geschichte festzulegen, kommt es zu solch seltsamen Verirrungen wie „1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte“ im vergangenen Jahr. Verirrungen: weil es durch lange Zeit keine deutsche Geschichte, also keine Gemeinsamkeiten geben konnte, schlicht, weil es keine Deutschen gab; aber die Juden waren schon da. Meine Erinnerung ist aufgespalten. Im Zentrum meiner Oldenburger Bemühungen stand von Anfang an die Idee und Verwirklichung von Jüdischen Studien. Das hatte ich mitgebracht, und zugleich die Fortsetzung von wissenschaftsgeschichtlichen Studien über jüdische Wissenschaften im Exil. Daraus sollten sich Kooperationen bilden, lange, nachdem ich diesen Teil meiner Arbeit ad acta legen musste, weil dazu schlicht keine Zeit war für einen Unipräsidenten. Einer der anderen Haupttriebe des gespaltenen Baums war die Jüdische Gemeinde, und die hat sich erst konstituiert durch Sarah-Ruth Schumann (1938 – 2014)2, mit der mich dann viele Jahre Freundschaft und Zusammenarbeit verbinden sollten, Vorsitzende, Inspiratorin der Gemeinde – und eine sehr starke, kritische Repräsentantin gegenüber Landesverband, Zentralrat und den Satelliten der christlich-jüdischen Zusammenarbeit. Die Verbindung der Gemeinde zur Universität ist nicht ungewöhnlich, aber auch nicht selbstverständlich gewesen. Das zeigte sich am dritten Hauptzweig, der Wiederkunft von Leo Trepp (1913 – 2010), Rabbiner vor dem Weltkrieg ab 1936 (bis 1938),3 und auch er Freund und Kollege: Ehrendoktor der Universität 1989 und Namensgeber der Leo-TreppStiftung, mit deren Vorsitzenden, Trepps zweiter Frau Gunda, ich bis heute eng zusammenarbeite. Auch hier: Universität, Gemeinde und Oldenburger Öffentlichkeit im Verbund.
1
Vgl. Horvilleur, Delphine: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin 2020. Vgl. Art. Sara-Ruth Schumann, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 11. Februar 2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Sara-Ruth_Schumann?msclkid=1c145d 89cea911ec81e2d474faef2bf3 [Zugang 03. 05. 2022]. 3 Vgl. Art. Leo Trepp, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 08. September 2021, https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Trepp?msclkid=f40dc031cea911ec ba767067cc137627 [Zugang 03. 05. 2022]; Trepp, Gunda: Der letzte Rabbiner. Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp, Darmstadt 2018. 2
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Das jüdische Oldenburg hat sich vor 40 Jahren über eine ganz schmale Brücke wieder gegründet und entfaltet. Diese Geschichte beginnt mit knapp über 10 Mitgliedern einer Protogemeinde und wird zu einem stabilen, und nicht wie anderswo gespaltenen Element jüdischer Kultur in Deutschland. Dazu zählen die Besonderheiten einer von Frauen geprägten Gemeinde: erstmals Sarah-Ruth Schumann, dann die Rabbinerin Bea Wyler (*1951)4, Rabbinerin von 1995 bis 2004, und seit 2010 Alina Traiger (*1979), die erste in Deutschland nach 1945 ausgebildete Rabbinerin – und gebürtige Ukrainerin. Und dass mit Elisabeth Schlesinger auch eine Frau Gemeindevorsitzende ist, ergänzt diese Bilanz. Ich schreibe dieser Konstellation eine durchaus herausgehobene Einigkeit in dem Erhalt der Gemeinde als „Einheit“ zu, was sich natürlich auch gut auf Oldenburg, Zivilgesellschaft und Wissenschaft auswirkt. Zu letzterer gehört dann auch Andrea Strübind und gehören die Jüdischen Studien. Die Betonung dieser Frauenpräsenz folgt nicht einfach dem heute aktuellen Gendermotiv. Im Judentum hat es, wie anderswo auch, über lange Zeit einen erheblichen, frauen-diskriminierenden Zweig gegeben, den wir durchaus miterleben und -erleiden mussten; aber auch beharrlich überwinden konnten, dank der genannten Frauen und noch mehreren weiteren Jüdinnen, vor allem in der Gemeinde. Der vierte Hauptzweig führt aus der Universität in die Gegenwart. Wesentliche Forschungen zu einer besonderen jüdischen Schule5 und ihrer Überlebenden haben aus der Universität in eine bis heute aktive Weiterverarbeitung eines deutsch-jüdisch-globalen Themas geführt6. Und schließlich hat die Wiederbelebung, Re-Animation, zu einer Fülle von Forschungen, Archiv- und Dokumentationsarbeit und Kontakten geführt, die Oldenburg im jüdischen Orbit in der Tat kosmopolitisch erscheinen lassen. Das ist nicht trivial, denn Oldenburg ist ja auch Provinz. Mit erheblichen jüdischen Elementen. Allein was auch meine Studentinnen und Studenten zusammengetragen haben, bleibt den Oldenburgern. Ein Beispiel ist das Buch von Ingeborg Pauluhn (* 1941) über die Juden auf Norderney7 Wen interessiert denn so etwas? Bevor man vergessen darf, soll man sich erinnern: das ist in Quintessenz ein Anspruch von Aron Bodenheimer, der auch in Oldenburg gelesen und gesprochen hat. Ich habe hier einen Rahmen beschrieben, bewusst ohne die vielen konkreten Einzelereignisse, Lesungen, Ehrungen, die Institutionalisierung. Das Bild ist ein vielfäl-
4 Vgl. Art. Bea Wyler, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 11. Februar 2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Bea_Wyler?msclkid=07a98854ceac11ec9a87c 820106d9924 [Zugang 03. 05. 2022]. 5 Vgl. Busemann, Herta Luise et al.: Insel der Geborgenheit. Die Private Waldschule Kaliski, Berlin 1932 bis 1939, Stuttgart 1992; Fölling, Werner: Zwischen deutscher und Jüdischer Identität, Opladen 1995. 6 Das Kaliski-Archiv befindet sich jetzt teilweise im Jüdischen Museum Berlin; zum Großteil wird es an der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum und dem Autor für weitere Forschungen aufbereitet (Dr. Sandra Anusiewicz). 7 Vgl. Pauluhn, Ingeborg: Zur Geschichte der Juden auf Norderney, Oldenburg 2003.
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tiges, mit vielen hellen Gestalten und Feldern und einigen dunklen Flecken; und einer freudigen Bilanz: jüdisches Leben gibt es und es strahlt über Oldenburg hinaus. II. Und da frage ich: was ist hier jüdisch, was bedeutet es, dass jüdisches Leben sich hier als Bestandteil der Normalität entwickelt und nicht (mehr) als Ausnahmeerscheinung auf sich aufmerksam machen muss oder ins Visier genommen wird. Die Frage erlaubt mir, von mir als zeitweiligem Mitglied dieser lebendigen jüdischen Illustration abzusehen und mich in die Rolle des beobachtenden Ex-Oldenburgers zu begeben. Kein Rückzug ohne Schnittstellen, und manches tut heute noch weh, und anderes ist heute so schön und gut wie damals, aber es ist eben alles „Damals“ (konkret 1986 – 2010): Das bedeutet aber auch, dass das jüdische Oldenburg schon weitergegangen ist. Das Judentum hatte nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, in beiden deutschen Staaten, eine seltsame Spaltung zu durchleben. „Jüdisch“ gehörte nach der Shoah nicht mehr zu Deutschland, wenn man von der ethnokulturellen jüngsten Vergangenheit –Vernichtung, Mord, Flucht, Exil, Untergrund, auch Widerstand – ausgeht. Es sind viele, aber nicht übermäßig viele, zurückgekehrt, kann man wirklich sagen: heimgekehrt? Und bis weit in die 1960er Jahre hinein waren die braunen Schatten über der Wahrnehmung des Jüdischen durchaus mächtig. Das hat sich, wie wir wissen, aufgehellt. Aber gerade in diesen Tagen wird dieser dunkle Aspekt der Nachkriegsperiode wieder aufgerufen: der 8. und 9. Mai spielen im Krieg Russlands gegen die Ukraine eine verhängnisvolle Rolle, er geht bis in die Darstellung der Situation durch den deutschen Bundeskanzler hinein, und es geht eben nicht mehr so einfach, den Tag der Befreiung uneingeschränkt zu feiern. Unbarmherzig drängt die Zeit weiter, und Zeitzeugen der Shoah werden rasch immer seltener, die Wirklichkeit des Geschehens muss in immer neuen Formen der Wahrheit aufgebaut werden, um nicht den Fake News geopfert zu werden. Ich verweise auf die Ukraine auch deshalb, weil wir täglich Putins und Lawrows antisemitische Verdrehung der Nazigeschichte und der jüdischen Selbstverschuldung an der Shoah, repräsentiert durch Selenskyj, miterleben müssen und uns oft nicht scharf genug wehren. Das geht bis hinein in Konflikte um die Haltung Israels zu Russland.8 Aber die Inhalte der Nachkriegszeit, das Leben nach der Shoah, ist schon früher in den Jüdischen Studien an der Universität angekommen und hat auch in Diskussionen in der Gemeinde Fuß gefasst und es gehört zum Rahmen, den ich beschrieben habe. Unter anderem, weil die offizielle Antwort auf die Frage, was ist jüdisch und wer ist Jude (oder Jüdin! Noch eine Va8 Vgl. Wladimir Putin sucht das Gespräch mit Israel: Nach Lawrow-Eklat (faz.net), https:// www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wladimir-putin-sucht-das-gespraech-mit-israel-nach-law row-eklat-18011050.html?msclkid=b85398b1ceb211ec8c6d66b1bed00071; Krieg in der Ukraine: Israels Premier Bennett auf Vermittlermission – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de), https://www.sueddeutsche.de/politik/krieg-ukraine-bennett-putin-1.5542359?msclkid= b8540b54ceb211ecb5e897cdbb8f5631.
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riation) mit der Wirklichkeit immer weniger zu tun haben. In Deutschland, in Oldenburg. Der Bruch zwischen der religiösen, glaubensbasierten Selbstdefinition und der ethnokulturellen Zuschreibung wird immer stärker aufgeweicht. Durch das intentionale Jüdische, das auf einer Selbstzuordnung zu einer von mehreren Identitäten beruht, wird auch der Begriff aus seiner bipolaren Engführung herausgebrochen. (Ich selbst nehme seit vielen Jahren Abstand von uns als „Juden“ zu sprechen und konzentriere mich auf die Antworten der Frage „Was ist jüdisch“? Das bringt einige Schwierigkeiten mit sich). Nichts von alldem kann an Oldenburg vorbeigehen, aber es konzentriert sich auch kein größerer Konflikt auf das jüdische Leben hier. Das ist Teil einer umfassenden Antwort. Leben. Jüdisches Leben. Nicht vor allem jüdische Vergangenheit. Verfolgung jüdischen Lebens hat es fast immer gegeben, schon vorchristlich, aber sicher heftiger christlich, islamisch, religionsorientiert, und es ist das Leben, das jüdische Selbstverständigung seit Anbeginn auszeichnet und zugleich beschwert. Jüdische Menschen glauben weniger, als sie wissen. Dieser Gedanke mag fremd erscheinen, auf ihm beruhen aber viel Einsicht und meine Position. Das Verhältnis zur Religion wie das zur ethnischen, kulturellen und sozialen Zugehörigkeit ist ohne das Bemühen um das Wissen nicht gut vorstellbar. Was seit Anbeginn gilt, war auch für Oldenburg wichtig. Wir haben jüdisch gelernt, jüdisch zu leben, womit ich auch gleich zum Wissen das notwendige Lernen eingefädelt habe. Was bedeutet das? III. Es reicht nicht, dass sich manche auf die jüdische Tradition in Oldenburg, auf Namen und auf Texte berufen. Sicher, dies alles ist interessant und umrahmt festliche oder besinnliche Ansprachen. Aber was bedeutet es wirklich, jüdisch zu leben? Oder, anders gefragt: wenn jeder Mensch mehr als eine Identität hat, nicht beliebig viele, aber doch eine Menge, und wenn jüdisch zu leben eine davon ist, dann muss das in einer Beziehung zur lebendigen Umgebung der Menschen stehen, die sich jüdisch identifizieren, im Wortsinn Mitglieder einer Gemeinde sind, eines sozialen und kulturellen Verbunds mit ethischen und anderen gesellschaftlichen Konsequenzen. Was hat das mit Oldenburg zu tun? Hier leben wir, haben wir gelebt, werden wir vielleicht weiterleben. Die Konsequenzen gehen teilweise mit uns, so wie alle anderen Identitäten, sofern wir sie nicht abstreifen. Da geht es nicht um Eintreten oder Austreten aus der Gemeinde, da geht es nicht um die äußerlich erkennbare Zugehörigkeit … ja wozu? Zum Judentum, zum jüdischen Glauben, zum jüdischen Volk, zur jüdischen Identität? Schon bei diesen vier Fragen kann jede und jeder wissen, dass die Antworten nicht einhellig und geschlossen ausfallen. Und ich denke, dass das ständige Stellen dieser Fragen bedeutet, die jüdische Identität weiter zu entwickeln. Fern jedes Dogmas, fern jedes Katechismus, aber auch fern jeder Beliebigkeit. Und das hat mit hier und jetzt in Oldenburg zu tun, wie mit jedem andern Ort auf der Welt, nur ist es dort etwas anders. Aber nichts anderes.
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Jüdisch leben heißt, sich ständig mit der Umgebungskultur auseinanderzusetzen, um zu überleben und nicht aufgesogen oder ausgegrenzt zu werden. Das ist selten eine konfliktfreie Auseinandersetzung, aber eine, die es erlaubt, seine Identität weiter zu entwickeln und sie nicht als gesetzt in den Ring zu werfen. Das geschieht im Jüdischen Lehrhaus, in den Jüdischen Studien, in Veröffentlichungen und Veranstaltungen, – und überall trägt es ein Signum des Hier und Jetzt. Ich verliere mich nicht in die Geschichte der Philosophie, wenn ich diesen „Élan vital“ des Henri Bergson für so charakteristisch halte, als Gegenstück zu einer auf die Ewigkeit gerichteten Jenseitserwartung. (Das übrigens zeigt eine Grenze der jüdisch-christlichen Zusammenarbeit auch auf). Das heißt nicht, dass man alles und immer hier, in Oldenburg, gelernt haben muss, aber dass man schon hier und nicht nur anderswo handeln musste. Lernen ist im Übrigen auch Handeln. Dass wir hier in Oldenburg das Hannah-ArendtZentrum mit Antonia Grunenberg 1999 gründen konnten, zeigt auch wissenschaftlich in diese Richtung.9 Aber dass das im Rahmen der Gemeinde auch Verbindungen möglich gemacht hat, liegt vor allem an dem Prinzip, den Menschen zuerst ein gutes Leben zu ermöglichen und sie dann in den religiösen Rahmen einer Gemeinde einzupassen: gutes Leben, wohnen, lernen, arbeiten, betreut werden und betreuen, trauern und betrauert werden. Das hat mit Sara-Ruth Schumann begonnen und geht bis heute weiter und ist deshalb ein Stück Oldenburg, nicht daneben (ich spreche von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, und niemals von jüdischen Mit-Bürgerinnen). Und ein zweiter Aspekt zum Handeln besteht darin, dass viel mehr jüdische Menschen nach Oldenburg gekommen sind und hier am Leben bleiben, als die Stadt verlassen haben. Sie haben etwas mitgebracht, und das hat die Stadt und die Gemeinde und uns verändert. Viele Menschen bringen in die Immigration nicht nur Nöte, Traumata, Erwartungen und Hoffnungen mit, sondern auch die Erinnerung an ihr bisheriges Leben und die Kriterien, nach denen es gelebt wurde oder gerade nicht gelebt werden konnte. Das hat nicht nur heute, bei den Menschen aus der Ukraine, oder seit längerem aus Afghanistan oder Syrien eine besondere Bedeutung, sondern bei allen, die hier ankommen und hier leben. Der Philosoph Georg Simmel hat den Ankommenden schon als Wanderer bezeichnet, der heute kommt und morgen bleibt, anders als ein vorübergehender Gast.10 Das verändert die Gemeinde, und das muss uns ver9 Forschungsstelle Hannah Arendt-Zentrum, Universität Oldenburg (uol.de), https://uol.de/ forschungsstelle-hannah-arendt-zentrum?msclkid=98326106ced711ec9f0e88b842428646 [Zugang 03. 05. 2022]. 10 Vgl. Simmel, Georg: Soziologie. Frankfurt/M, Suhrkamp 1992, v. a. S. 748 ff. Hier geht es nicht nur um frühe Prinzipien der Migration, der Überwindung von Wir versus Sie. Es geht auch um die Mobilität, das (Aus)Wandern. Und man kann unschwer den wandernden, d. h. den ewigen Juden assoziieren, der aus christlichem Sagen- und Abgrenzungsdiskurs stammt. Vgl. Art. Ewiger Jude, in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 9. April 2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Ewiger_Jude?msclkid=39e38cc5cf6711eca065296cc4fd6a04 [Zugang 03. 05. 2022]. Zum Jüdischen gehört eben auch die Fähigkeit, sich wo immer man ist zu assimilieren oder zu assoziieren, weil es eben keinen festen Ort gibt, bzw. gegeben hat. Das wiederum hat nach 1947 zur Diskussion um das neue Israel geführt, und ob damit die ewige Wanderschaft „des Juden“ erledigt wäre.
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ändern, es sollte auch als Entwicklung und nicht als Zwang wahrgenommen werden. Es bedeutet, dass die gängige und oft unschöne Trennung in ein „Wir“ und ein „Sie“ nicht gilt. Jüdisch ist jüdisch, auch und gerade, weil es so viele Gesichter hat. So weit sind wir heute schon im Diskurs der Geschlechter, der Herkunft, der Zukunft, aber wichtig ist, dass dies nicht einfach in Programme eingeht, sondern am Jetzt, am Hier in Oldenburg ansetzt (was auch ein Programm ist, weshalb ich hier eher vorsichtig bin). Wir können lange Listen von Veranstaltungen, prominenten und weniger prominenten Namen von Vortragenden, Darstellenden und Kommentierenden vorzeigen, wir haben Studienerfolge und ISBN-Nummern, die aus Oldenburg kommen und Bezug zu jüdischem Leben haben. Wir haben eine Synagoge, eine jüdische Abteilung am Friedhof, wir scheinen in verschiedenen Listen auf, die etwas über die Stellung in der Gesellschaft aussagen. Was ist also jüdisch in Oldenburg, an Oldenburg? Die einfachste Antwort täuscht ein wenig zu viel an Leichtigkeit vor: seit dreißig und mehr Jahren ist es wieder normal, dass jüdisches Leben zu dieser Stadt gehört, zu dieser Universität, also zur Stadtgeschichte, zur Universitätsgeschichte, zur Migrationsgeschichte. Normalität ist niemals zu viel, wenn man bedenkt, wie sehr Menschen diskriminiert werden, wenn man sie nur bei ihrem einen, männlichen Geschlecht benennt („Juden“), wenn sie nur Mitbürger sind anstatt BürgerInnen, wenn sie nicht im Wir sind; weil manche zu Unrecht befürchten, dass dann alle Unterschiede verschwänden und damit die soziokulturelle Besonderheit, was ja eigentlich veraltetes Denken des 19. Jahrhunderts ist, das sich vielfach bis auf unsere Tage gerettet hat. Das bringt uns zu einer hochaktuellen Debatte: Könnte eine durchdachte inklusive Sprache für den Augenblick tatsächlich mehr Gleichheit und Gerechtigkeit ausdrücken, so würde sich das im nächsten Moment schon wieder auflösen, ob es nun um Geschlecht, Herkunft oder Merkmale handelt. Das gleiche und gerechte Eingreifen in die sich dauernd verändernde und entwickelnde Sprache ist angezeigt. Soweit können wir diskutieren. Wenn aber ein Begriff wie jüdisch aus der Alltagssprache verschwindet, es ihn so wenig gibt wie seine Trägerinnen und Träger, dann ist etwas, und ich sage bewusst: dann sind wir, unwiederbringlich verloren. Normal heißt, dass Oldenburg ohne das jüdische Leben ärmer, weniger wäre. Soweit zu Oldenburg, aber was ist jüdisch?
IV. Leider ist die Ironie nur schwer verständlich, hört man sie nicht: ma werd’ sehen … als Antwort auf die Frage. Die Antwort liegt in der Zukunft, kann sein, in der allernächsten. Und im Nebensatz meine Überzeugung, dass Hören im Judentum noch wichtiger war und ist als Sehen. Ein wenig kosmopolitisch könnte ich sagen: Oldenburg ist überall, und Jüdisches gibt’s auch überall; stimmt aber nicht. Jüdisches ist oft verbannt, ausgegrenzt oder verschleiert. Selbst dort, wo man es auf den ersten Blick als selbstverständlich
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und gar dominant vermutet. Zum Beispiel in den ultra-orthodoxen oder säkularen Kreisen in Israel oder in Brooklyn oder Berlin – oder anderswo.11 Wenn ich jetzt bestimmt sage: manches ist nicht jüdisch, dann sage ich es so, wie ich die Meinung vertrete, dass Evangelikale nicht christlich sind. Den Gegeneinwand akzeptiere ich nicht: aber die glauben doch, was sie glauben. Ich dagegen: deshalb glaube ich nicht, und „die“ glauben auch nicht, sie verwenden den angeblich unantastbaren Glauben als Schutzmauer gegen die Vernunft und gegen die Kritik, aber vor allem gegen das Jetzt des Lebens. Ich begründe das damit, dass der Glaube auf etwas beruht, das man nicht in die Konstruktion von Religion, also der Rückbindung an Gewissheiten einfügen kann – und die Antwort auf die Frage „glaubst du?“ heißt jedenfalls bei mir „nein; ich glaube nicht, ich weiß“. Das bedeutet nichts anderes, als dass ich mit meiner Konstruktion im Reinen sein sollte, wenn und bevor ich sie in die Gemeinschaft der Gemeinde oder die Gesellschaft einbringe. Der Beweis ist philosophisch ein wenig aufwändig, aber möglich. Im Alltag ist er einfacher. Ich sitze zum Gottesdienst in der Synagoge oder stehe und verhalte mich, wie „man“ sich verhalten soll, und damit gehöre ich dazu, bin sozusagen jüdisch verortbar. Gerade in diesem Moment wird nicht gefragt, ob und was jemand glaube, sondern es wird vorausgesetzt. Ja, da kann sich ein Blasphemiker eingeschleust haben, ein Spion, ein Abtrünniger, und? Nichts und. Es muss nicht die Synagoge sein, es können die befolgten oder ignorierten Speisegesetze sein, Rituale, Bemerkungen, Begründungen, warum jemand G’tt oder aber Gott schreibt, usw. Dieses „Man“ ist nur akzeptabel, wenn es nach vorne, zur Zukunft hin offen ist und bleibt. Das ist, für mich jedenfalls, ein wesentliches Merkmal des Jüdischen: die Offenheit als Ergebnis und Voraussetzung einer Umgebungskultur, die einen schon deutlich wissen lässt, wann und warum man sich Schweinefleisch verbietet oder eine Kippa aufsetzt. Ein anderes Merkmal ist, die Geschichte dieser Offenheit als „Religionswissenschaft“ systematisch und nachvollziehbar, also lernbar, zu vermitteln: da kommt das Dialogische als Prinzip des offenen jüdisch Lebens zum Vorschein. Und hier, an der Schnittstelle von Anthropologie, Gesellschaftswissenschaft, Sprache und einigem mehr, kommt auch die Geschichte wieder zu ihrem Recht. Was damals gültig war, muss es heute nicht sein, zum Beispiel. Das ist keine Religionsvorlesung im ersten Semester, das ist schon ein Ergebnis von mehr als einem halben Jahrhundert, weshalb ich mich freue, Mitglied sowohl der Gemeinde als auch meiner Universität zu sein, aber auch das nur nebenbei. Ich denke, dass die Antwort auf die Frage nach dem Jüdischen durchaus etwas mit der Geschichte des Judentums zu tun hat, mit seiner Herausbildung und Stabilisie11 Ich verweise hier auf zwei TV-Serien, höchst unterschiedlich, aber deutlich die These unterstreichend: Art. Fauda (Fernsehserie), in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. Mai 2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Fauda_(Fernsehserie)?msclkid= f9da9205cf6c11ec86dfebcea15ca0db [Zugang 03. 05. 2022] und Art. Unorthodox (Miniserie) in: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 28. Mai 2022, https://de.wikipe dia.org/wiki/Unorthodox_(Miniserie)?msclkid=14d5638ecf6d11ecb337cf008180e9a6 [Zugang 03. 05. 2022].
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rung, seiner Verdrängung durch die missionarischen Monotheismen, seiner ständigen Angegriffenheit aufgrund der Unfertigkeit, weil ja die Menschen, nicht nur die jüdischen, noch eine Zukunft haben. Das würde nicht nur in und für Oldenburg gelten, aber nur, wenn es konkret hier gilt, kann es auch anderswo richtig sein. Das Judentum ist universal, auch ohne Mission, auch ohne überall die erste Reihe zu beanspruchen: man kann für alle da sein, ohne von dieser Allgemeinheit auserwählt worden zu sein. Dazu kann man Leo Trepp lesen oder Rabbi Hillel oder alle, die hier für und mit uns geredet, gespielt, kritisiert und gelobt haben. Oldenburg ist keine Judenstadt, natürlich nicht, aber es ist eine jüdische Stadt. V. Jüdisch bedeutet immer im Aufbruch sein. Und das ist auch eine ständige Veränderung und ein oft schmerzlicher Angriff auf die Traditionen, die man nicht verlieren möchte, ganz persönlich, in der Gruppe, in der Familie, im Staat. „Wenn die Dinge so bleiben sollen, wie sie sind, dann werden sie sich ändern müssen.“ Es gibt viele Varianten der Übersetzung aus dem Italienischen des Romans Der Leopard.12 Weil nicht nur das Zitat fasziniert. Was soll bleiben? Die Änderung ist schon in den Schöpfungsmythen angedeutet, sie bestimmt seit daher den Widerstand gegen das Beharren auf dem Erstarrten, mehr noch, auf dem Unnötigen. Das ist keine abstrakte Ethik. In diesen Tagen geht es auch um die Deutungshoheit über die Shoah, von Putin an sich gerissen. Wir müssen, denke ich, unsere Erklärung und unser Weltverständnis gegenüber dem Holocaust kritisch überdenken, wollen wir nicht, dass dies ein abstraktes Gedenken wird, das sich einfach aneignen und verfälschen lässt. Wie reden wir über die Shoah, was zitieren wir, wie gedenken wir unserer dort vernichteten oder auch überlebenden Angehörigen, wenn die Begriffe längst Spielball der Tyrannen geworden sind, und es kaum mehr Zeitzeugen zur lebendigen Korrektur gibt? Das beinhaltet auch eine Portion Selbstkritik, die dem Jüdischen nicht fehlen darf, weil es noch nicht zu seinem Ende gekommen ist. Hoffentlich. Literaturverzeichnis Busemann, Herta Luise et al.: Insel der Geborgenheit. Die Private Waldschule Kaliski, Berlin 1932 bis 1939, Stuttgart 1992. Fölling, Werner: Zwischen deutscher und Jüdischer Identität, Opladen 1995. Horvilleur, Delphine: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin 2020. Lampedusa, Giuseppe Tomasi di: Der Leopard, München 2019. Pauluhn, Ingeborg: Zur Geschichte der Juden auf Norderney, Oldenburg 2003. 12
Vgl. Lampedusa, Giuseppe Tomasi di: Der Leopard, München 2019.
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Simmel, Georg: Soziologie. Frankfurt/M, Suhrkamp 1992. Trepp, Gunda: Der letzte Rabbiner. Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp, Darmstadt 2018.
Bibliographie Prof. Dr. Andrea Strübind 1. Monographien Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im ,Dritten Reich‘, Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1991, 343 S. (2. verb. Auflage: Wuppertal/Kassel/Zürich 1995; zugl. Dissertation; 3. Aufl. in Vorbereitung). „Eifriger als Zwingli.“ Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz (Habilitationsschrift), Berlin 2003, 617 S. (2. unveränderte Aufl. 2022).
2. Herausgeberschaft a) Fachzeitschriften Seit 2011 Schriftleiterin und Mitherausgeberin der Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG). Seit 2012 geschäftsführende Herausgeberin der internationalen Fachzeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte/Contemporary Church History“ (KZG/CHH).
b) Sammelbände Zwischen Himmel und Erde. Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde München (hrsg. mit Kim Strübind), München 2002. Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag (hrsg. mit Katarzyna Stoklosa), Göttingen 2007. Bildung – Aufstieg – Freiheit. Festgabe zur Verabschiedung von Prof. Dr. Friedrich Wißmann, Oldenburg 2008. Baptismus in Geschichte und Gegenwart (hrsg. mit Martin Rothkegel), Göttingen 2012. Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation (hrsg. mit Tobias Weger), Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 60, Oldenburg 2015. Begegnungen – Entgegnungen. Beiträge zur modernen Gottesfrage, kontextuellen Theologie und Ökumene. Festgabe für Ulrike Link-Wieczorek (hrsg. mit Johanna Rahner), Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 102, Leipzig 2015. Walter Rauschenbusch. Published Works and Selected Writings in Three Volumes, Volume I (hrsg. mit William H. Brackney), Atlanta 2018.
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Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene (hrsg. mit Margit Eckholt/ Dorothea Sattler/Ulrike Link-Wieczorek), Freiburg/Göttingen 2018. „Die Wahrheit ist untödlich. Märtyrerbücher und ihre Bedeutung für konfessionelle Identität und Spiritualität in der Frühen Neuzeit (hrsg. mit Klaas Dieter Voß), Tübingen 2018. Women in Church Ministries. Reform Movements in Ecumenism (hrsg. mit Margit Eckholt/Dorothea Sattler/Ulrike Link-Wieczorek), Collegeville 2021.
3. Weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen 1991 Rezension: H. Strahm, Die Bischöfliche Methodistenkirche im Dritten Reich, MKSt 3, Stuttgart 1989, in: KZG/CCH 4 (1991), S. 322 – 325. Rezension: M. Schreiber, Friedrich Justus Perels. Ein Weg vom Rechtskampf der Bekennenden Kirche in den politischen Widerstand, HUWJK 5, München 1989, in: KZG/CCH 4 (1991), S. 328 – 330.
1993 Freikirchen und Ökumene in der Nachkriegszeit, in: KZG/CCH 6 (1993), S. 187 – 211. Diakonie der Freikirchen im NS-Staat, in: Diakonie Jahrbuch 1993, hrsg. von Karl-Heinz Neukamm, Stuttgart 1993, S. 106 – 124. Art. „Kirchenkampf“, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde (ELThG), Bd. 2 (1993), Sp. 1104 – 1111.
1995 Anmerkungen zur neocharismatischen Bewegung, in: Orientierungen und Berichte 21, hrsg. von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Stuttgart/Berlin 1995, S. 30 – 42. Die Aufarbeitung der Geschichte der Freikirchen in Deutschland im ,Dritten Reich‘ unter besonderer Berücksichtigung ihrer Archive, in: Archivbericht der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg 5 (1995), S. 99 – 112.
1996 Rezension: U. Materne/G. Balders (Hrsg.), Erlebt in der DDR. Berichte aus dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, in: KZG/CCH 9 (1996), S. 388 – 395 (auch erschienen in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde [ZThG] 2 [1997], S. 288 – 295).
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1997 Kennwort: „Herbert aus Halle“. Ein Forschungsbericht über die Verbindungen zwischen Baptisten und dem Ministerium für Staatssicherheit in der DDR, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 2 (1997), S. 164 – 201.
1998 Die freikirchliche Forderung nach „Trennung von Staat und Kirche“ angesichts diktatorischer Systeme, in: Freikirchenforschung 8 (1998), S. 86 – 106.
1999 Diktatur und Geschichte. Überlegungen zum Fortgang der Geschichtsaufarbeitung im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 4 (1999), S. 252 – 258. Trennung von Staat und Kirche? Bewährung und Scheitern eines freikirchlichen Prinzips, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 4 (1999), S. 261 – 288. Dienst am Volk. Das Diakoniewerk Tabea und das Dritte Reich, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 5 (2000), S. 66 – 98 (auch erschienen in: Diakoniewerk Tabea e.V. [Hrsg.], 100 Jahre Tabea: „Dienen ist Leben“, Hamburg 1999, S. 92 – 121). Rezension: H.-J. Goertz, Konrad Grebel. Kritiker des frommen Scheins 1498 – 1526. Eine biographische Skizze, Hamburg 1998, in: Freikirchenforschung 9 (1999), S. 298 – 303. Baptistengemeinden in Deutschland seit 1945, Vortrag anlässlich des Symposiums der KZG 1999: Freikirchen zwischen Gesellschaft und Großkirchen seit 1945. Italien und Deutschland im Vergleich, in: KZG/CCH 13 (2000), S. 391 – 413.
2002 Die deutschen Baptisten und der Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 7 (2002), S. 177 – 194. Rezension: H.-G. Tanneberger, Die Vorstellung der Täufer von der Rechtfertigung des Menschen, Stuttgart 1999, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 7 (2002), S. 355 – 360. Art. Freikirchen in der DDR, in: Lexikon der deutschen Geschichte von 1945 bis 1990. Ereignisse, Institutionen, Personen im geteilten Deutschland, hrsg. von Michael Behnen, Stuttgart 2002, S. 232 – 233. Art. Jüdische Gemeinden in der DDR, in: Lexikon der deutschen Geschichte von 1945 bis 1990. Ereignisse, Institutionen, Personen im geteilten Deutschland, hrsg. von Michael Behnen, Stuttgart 2002, S. 328 – 329.
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2003 Art. Baptisten, in: Taschenlexikon Ökumene, hrsg. von Harald Uhl, Frankfurt a. M. 2003, S. 33 – 35. Rezension: L. Beaupain, Eine Freikirche sucht ihren Weg. Der Bund Freier evangelischer Gemeinden in der DDR, Theologische Verlagsgemeinschaft R. Brockhaus/Brunnen, Wuppertal 2001, in: JETh 17 (2003). Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden in der DDR aus der Sicht des SED-Staates, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 8 (2003), S. 245 – 279. „Wir sehen uns in die Schuld unseres Volkes und unserer Bundesgemeinschaft verflochten“. Zur Entstehungsgeschichte und Funktion des Schuldbekenntnisses von 1984, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 8 (2003), S. 306 – 321.
2004 Religionsfrieden ohne Religionsfreiheit. Die Wirkungsgeschichte des Westfälischen Friedens im Blick auf religiöse Minderheiten, in: Lena Lybæk (Hrsg.), Gemeinschaft der Kirchen und gesellschaftliche Verantwortung: Die Würde des Anderen und das Recht anders zu denken. Festschrift für Professor Dr. Erich Geldbach. Ökumenische Studien, Münster 2004, S. 504 – 526. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und das Verhalten der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: KZG/CCH 17 (2004), S. 63 – 99. Martin Luther King und die „Black Church“ als Trägerin der Bürgerrechtsbewegung, in: KZG/ CCH 17 (2004), S. 500 – 518. Rezension: Franz Graf-Stuhlhofer, Öffentliche Kritik am Nationalsozialismus im Großdeutschen Reich (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 9), Neukirchen 2001, in: JETh 18 (2004), S. 331 – 335.
2006 „Widerstandsrecht“ als elementares Thema in den freikirchlichen Traditionen, in: Martin Leiner/Hildigund Neubert u. a. (Hrsg.), Gott mehr gehorchen als den Menschen. Christliche Wurzeln, Zeitgeschichte und Gegenwart des Widerstands, Göttingen 2005, S. 137 – 168 (zugl. veröffentlicht in ZThG 10 [2005], S. 162 – 192 sowie in: Erich Geldbach/Markus Wehrstedt/Dietmar Lütz, Religionsfreiheit. Festschrift zum 200. Geburtstag von Julius Köbner, Berlin 2006, S. 193 – 232). Josef Halmos, in: Harald Schultze/Andreas Kurschat (Hrsg.), „Ihr Ende schauet an …“ Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006, S. 645 – 646. Katharina Zell. Eine Wegbereiterin für religiöse Toleranz, in: Waltraud Ernst/Ulrike Bohle (Hrsg.), Geschlechterdiskurse zwischen Fiktion und Faktizität. Internationale Frauen- und Genderforschung in Niedersachen, Teilband 3 (Focus Gender 6), Hamburg 2006, S. 171 – 201.
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2007 Warum die Wege sich trennten. Der Streit um das Taufverständnis in der Frühzeit des deutschen Baptismus und die Entstehung der Freien evangelischen Gemeinden, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 12 (2007), S. 241 – 271. „Wir Christen unter Zuschauern“. Die deutschen Baptisten und die Judenverfolgung in der Zeit der NS-Diktatur, in: Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Festschrift für Gerhard Besier zum 60. Geburtstag (hrsg. von Katarzyna Stoklosa/Andrea Strübind), Göttingen 2007, S. 113 – 140.
2008 „Erinnerte Zukunft“. Neue Positionen, Ansätze und Konzepte in der Kirchengeschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 13 (2008), S. 96 – 105. Willensfreiheit und religiöse Toleranz. Kirchengeschichtliche Perspektiven, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 13 (2008), S. 213 – 242.
2009 Das freikirchliche Kirchen- und Gemeindeverständnis. Eine baptistische Sicht, in: Catholica 63 (2009), S. 27 – 47. (mit Kim Strübind) Taufe als Advent der Gnade Gottes – eine baptistische Perspektive, in: WolfMichel Catenhusen u. a. (Hrsg.), Damit ihr Hoffnung habt. Das Buch zum Ökumenischen Kirchentag 2010, Freiburg i. Br. u. a. 2009, S. 94 – 97. Ein dynamisches Kirchenverständnis, Baptismus in Geschichte und Gegenwart, in: Herder Korrespondenz 63 (2009), Heft 12, S. 642 – 646. Die „Kirche der Freien“. Der Kongregationalismus als Kirchenreformmodell. 400 Jahre Baptismus, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (MD) 60 (2009), Heft 6, S. 103 – 109.
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2015 „Keine dauerhafte, vertretbare Neuordnung.“ Die Entstehung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) 1941/42, in: Reinhard Assmann/Andreas Liese (Hrsg.), Unser Weg – Gottes Weg? Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland – eine historische Bestandsaufnahme, Muldenhammer 2015, S. 7 – 38. Protestantische ,Welteroberung‘. Reformatorische Identitäten zeichnen ein vielfältiges Bild, in: Evangelisches Missionswerk (Hrsg.), Reformation: global. Eine Botschaft bewegt die Welt, Hamburg 2015, S. 61 – 68. „Botschafter der Versöhnung“. Die Verflechtungsgeschichte zwischen den US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem internationalen Versöhnungsbund, in: Johanna Rahner/Andrea Strübind (Hrsg.), Begegnungen – Entgegnungen. Beiträge zur modernen Gottesfrage, kontextuellen Theologie und Ökumene. Festgabe für Ulrike Link-Wieczorek, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 102, Leipzig 2015, S. 119 – 132.
Bibliographie Prof. Dr. Andrea Strübind
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Freikirchliche Perspektiven zum Dokument „Theologie heute: Perspektiven, Prinzipien und Kriterien“, in: Thomas Söding (Hrsg.), Die Rolle der Theologie in der Kirche. Die Debatte über das Dokument der Theologenkommission, Freiburg 2015, S. 277 – 295.
2016 Radical Reformation (Anabaptism), in: Amy Burnett/Emidio Campi (Hrsg.), A Companion to the Swiss Reformation, Brill’s Series Companions to the Christian Tradition, Leiden/Boston 2016, S. 389 – 443. Max Weber und Ernst Troeltsch. Ihre These vom Zusammenhang zwischen religiösem Nonkonformismus und Moderne, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 21 (2016), S. 77 – 103. Zur Geschichte der beiden Bünde, in: Reinhard Assmann/Andreas Liese (Hrsg.), Vereint in Christus – (wieder)vereint im Bund. 25 Jahre Zusammenschluss der beiden deutschen Bünde Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden – Akteure erinnern sich, Wustermark 2016, S. 13 – 34. Baptisten und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Elisabeth Dieckmann/Karl Kardinal Lehmann (Hrsg.), Blick zurück nach vorn. Das Zweite Vatikanum aus der Perspektive der multilateralen Ökumene, Würzburg 2016, S. 47 – 60. Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR (Baptisten), in: CCH/KZG 29 (2016), S. 77 – 94.
2017 Leben mit dem Gott des Bundes. Zur Bedeutung der „Covenant“-Theologie in der baptistischen Tradition, in: Ulrike Link-Wieczorek/Uwe Swarat (Hrsg.), Die Frage nach Gott heute. Ökumenische Impulse zum Gespräch mit dem „Neuen Atheismus“, Leipzig 2017, S. 181 – 194. Glaube und Gewissensfreiheit, Eine freikirchliche Sicht, in: Thomas Söding/Bernd Oberdorfer (Hrsg.), Kontroverse Freiheit. Die Impulse der Ökumene, Freiburg/Basel/Wien 2017, S. 55 – 80. Reformation – Aufbruch zur Freiheit? Eine täuferische Sicht, in: Wolfram Weiße/Fernando Enns (Hrsg.), Reformation, Aufbruch und Erneuerungsprozesse von Religionen, Münster/ New York 2017, S. 37 – 49. Die Pluralisierung des Protestantismus und die Rede von der „ecclesia semper reformanda“, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 137 (2017), S. 68 – 84. Johannes Eck und Balthasar Hubmaier – Fliege an Elefant, in: Franz Xaver Bischof/Harry Oelke (Hrsg.), Luther und Eck. Opponenten der Reformationsgeschichte im Vergleich, München 2017, S. 231 – 250. Das Schweizer Täufertum, in: Amy Nelson Burnett/Emidio Campi (Hrsg.), Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch, Zürich 2017, S. 395 – 446. Die NS-Religionspolitik gegenüber den Freikirchen, in: KZG/CCH 30 (2017), S. 27 – 45.
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Bibliographie Prof. Dr. Andrea Strübind
The International Fellowship of Reconciliation as an Ecumenical and Interfaith Forerunner for Human Rights, in: KZG/CCH 30 (2017), S. 281 – 293.
2018 Martin Luther King als „Global Icon“? Zur Rezeptionsgeschichte der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und ihrer Erinnerungskultur, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZThG) 23 (2018), S. 259 – 278. „Ich habe euch kein Frauengeschwätz geschrieben, sondern das Wort Gottes als ein Glied der Christlichen Kirche“. Frauen in kirchlichen Ämtern. Eine kirchenhistorische Spurensuche, in: Margit Eckholt/Dorothea Sattler/Ulrike Link-Wieczorek/Andrea Strübind (Hrsg.), Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg/Göttingen 2018, S. 160 – 185. „Die doch Christus, den Herrn, mit uns bekennen“. Die Entstehung des Täufertums aus kirchengeschichtlicher Sicht, in: Klaus Fitschen/Wolfram Kinzig/Armin Kohnle/Volker Leppin (Hrsg.), Kirchengeschichte und Religionswissenschaft. Methoden und Fallstudien, Leipzig 2018, S. 251 – 270. Die Täuferbewegung und ihre Zürcher Wurzeln, in: Volkshochschule Zürich (Hrsg.), Von Erasmus bis zum Sonderbundskrieg. Grundlagen und Wirkung der Schweizer Reformation, Zürich 2018, S. 49 – 68. Das Heilige im Weltlichen. Nationalfeiertage in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 und die Rolle der Kirchen, in: KZG/CCH 31 (2018), S. 460 – 477.
2019 Antje Brons. Mut zur Wissenschaft, in: Klaas-Dieter Voß (Hrsg.), Freie Friesentöchter. Tradition und gelebte Wirklichkeit, Oldenburg 2019, S. 187 – 202. Preface, in: Leland Harder (Hrsg.), The Sources of Swiss Anabaptism. The Grebel Letters and Related Documents Classics of the Radical Reformation Book, Bd. 4: Semper reformanda? The Pluralization of Protestantism and the Anniversary of the Reformation 2017, in: Erich Geldbach (Hrsg.), Crossing Baptist Boundaries. A Festschrift in Honor of William Henry Brackney, Macon 2019, S. 226 – 241. Einleitung, in: Märtyrerbücher und ihre Bedeutung für die konfessionelle Identität und Spiritualität in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2019, S. 1 – 12. Genderstereotype in der medialen Vermittlung der klassischen Phase der Bürgerrechtsbewegung, in: KZG/CCH 32 (2019), S. 328 – 345.
2020 Tempel ohne Steine. Bilderkritik und Ikonoklasmus in den täuferischen Bewegungen, in: Mariano Delgado/Volker Leppin (Hrsg.), Bilder, Heilige und Reliquien. Beiträge zur Christentumsgeschichte und zur Religionsgeschichte, Basel/Stuttgart 2020, S. 199 – 222.
Bibliographie Prof. Dr. Andrea Strübind
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The Reality of Hope. Walter Rauschenbusch’s Theology in German Context, in: William H. Brackney/David P. Gushee (Hrsg.), In the Shadow of a Prophet. The Legacy of Walter Rauschenbusch, Macon 2020, S. 47 – 66. Ambivalence of Ecumenical Experience of Church and Nation. A Free Church Perspective, in: Jee Cremers/Ulrike Link-Wieczorek (Hrsg.), On Nations and the Churches: Ecumenical Responses to Nationalisms and Migration, Leipzig 2020, S. 66 – 81. „The untold story“. The Civil Rights Movement in the Context of Eurocentric and Denominationalist Church History, in: KZG/CCH 33 (2020), S. 103 – 111. The Relations Between the Different World Federations and the Free Churches during the Nazidictatorship, in: KZG/CCH 33 (2020), S. 310 – 322.
2021 Die Rezeptionsgeschichte des Zürcher Täufertums und seine Rolle in der Memorialkultur der täuferischen Kirchen, in: Ariane Albisser/Peter Opitz (Hrsg.), Die Zürcher Reformation in Europa, Zürich 2021, S. 519 – 538. The Polygenesis of the Anabaptists, in: Brian S. Brewer (Hrsg.), T&T Clark Handbook of Anabaptism, Bloomsbury 2021, S. 13 – 31. Menschenrechte – eine baptistische Perspektive, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (MD)72 (2021), Heft 3, S. 116 – 121. Neue Feindbilder – Grenzen der Religionsfreiheit in der evangelikalen Bewegung, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde (ZTHG) 26 (2021), S. 231 – 251. „I Have Not Written You a Woman’s Gossip, but the Word of God as a Member of the Christian Church“. Women in Ecclesiastical Offices – A Search for Traces in Church History, in: Margit Eckholt/Dorothea Sattler/Ulrike Link-Wieczorek/Andrea Strübind (Hrsg.), Women in Church Ministries. Reform Movements in Ecumenism, Collegeville 2021, S. 53 – 76. Pentekostale Migrationsgemeinden in Deutschland und ihre Beziehungen zur EKD, in: KZG/ CCH 34 (2021), S. 52 – 70. Im Schonraum der Wissenschaft? Rudolf Bultmann und der „Kirchenkampf“, in: KZG/CCH 34 (2021), S. 254 – 290.
Tabula gratulatoria Besier, Gerhard, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Professor em. für Europastudien, zuvor: Professor für Totalitarismusforschung und Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT), TU Dresden (Doktorvater der Jubilarin) Daxner, Michael, Prof. Dr. Dr. h.c. Professor für Soziologie und Jüdische Studien, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (bis 2011), Professor em. Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin Ericksen, Robert P., Prof. Dr. Professor em. of History (em.), Kurt Meier Chair, Pacific Lutheran University Tacoma Esser, Raingard, Prof. Dr. Chair of Early Modern History, Department of History, University of Groningen Gautier, Dominik, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Geldbach, Erich, Prof. Dr. Professor em. für Ökumene und Konfessionskunde, Ruhr-Universität Bochum Hammes, Verena, Dr. Geschäftsführerin und römisch-katholische Referentin der Ökumenischen Centrale der ACK, Frankfurt Hirschfelder, Nicole, Dr. Associate Professor for American Culture and Literature, Englisches Seminar, Philosophische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen Hübner, Sabine, Mag. theol. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Historische Theologie (2014 – 2020), Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Jarlert, Anders, Prof. Dr. Sen. Professor em. for Church and Mission Studies, University Lund Leppin, Volker, Prof. Dr. Horace Tracy Pitkin Professor of Historical Theology, Yale Divinity School Liese, Andreas, Dr. Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Historische Theologie, Universität Osnabrück und Lehrbeauftragter für Neuere Kirchengeschichte und Freikirchentum an der Theologischen Hochschule Elstal
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Tabula gratulatoria
Link-Wieczorek, Ulrike, Prof. Dr. Professorin für Systematische Theologie und Religionspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Löwner, Gudrun, Prof. Dr. Professorin für Missiologie, United Theological College Bangalore Morgenstern, Matthias, Prof. Dr. Apl. Professor für Religionswissenschaft und Judaistik am Institutum Judaicum der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen Rahner, Johanna, Prof. Dr. Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie; Direktorin des Instituts für Ökumenische und Interreligiöse Forschung, Katholisch-Theologische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen Ringshausen, Gerhard, Prof. Dr. Professor em. für Evangelische Theologie und Religionspädagogik, Leuphana Universität Lüneburg Rothkegel, Martin, Prof. Dr. Dr. Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Elstal Sattler, Dorothea, Prof. Dr. Dr. h.c. Professorin für Dogmatik und Ökumenische Theologie; Direktorin des Ökumenischen Instituts an der Katholisch-Theologischer Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Schlachta, Astrid von, PD Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte und Frühe Neuzeit, Universität Regensburg, Leiterin der Mennonitischen Forschungsstelle Weierhof Schlesinger, Elisabeth, Dr. Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg Schwarz, Karl W., Prof. Dr. Ao. Professor am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie, Ev. Theologische Fakultät der Universität Wien Strübind, Kim, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Altes Testament, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Voß, Claas-Dieter, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Fachreferat Theologie / Kirchengeschichte Weger, Tobias, PD Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas, LMU München
Tabula gratulatoria
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Weiß, Jana, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster (derzeit: DAAD-Professorin an der University of Texas in Austin) Zhimomi, Kaholi, Prof. Dr. Assistant Professor for Church History, United Theological College Bangalore