Religion und Bildung – interdisziplinär: Festschrift für Michael Wermke zum 60. Geburtstag 3374055702, 9783374055708

Das spannungsreiche Zusammenspiel von Religion und Bildung ist zentraler Gegenstand der Religionspädagogik. Zugleich ist

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German Pages 576 [577] Year 2018

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Teil 1: Historische Perspektiven
»Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert« (11Q5, XXVII, 4f.). Psalmen-Bildung bei Ingo Baldermann im Lichte von PsSal 5 (Hannes Bezzel)
»Sei gegrüßt, Philosoph!«. Kirchenhistorische Reflexionen zumVerhältnis von Identität und Dialog (Katharina Bracht)
Die Entdeckung kindlicher Religiosität. Ein empirisch-experimenteller Forschungsgegenstandder evangelischen Religionspädagogik zwischen 1895 und 1933 (Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein)
Der schlecht erzogene Heilige. Namensgebung und Jugend des Franz von Assisi nach Thomas von Celano (Volker Leppin)
Keine Bildung ohne Bilder. Wie wir aus der Geschichte der Bilder etwas für die religiöse Bildung lernen (Andreas Mertin)
Jakobus als Lehrer. Eine Skizze nach dem Jakobusbrief (Karl-Wilhelm Niebuhr)
»Güldenes ABC eines frommen Kindes«. Religionspädagogische Perspektiven zum »Erbaulichen Handbüchlein« (1734) von Johann Jacob Rambach (Stefanie Pfister)
Der Protestantismus als Bildungsreligion. Aspekte religiöser Bildung bei Ernst Troeltsch (Gregor Reimann)
25 Jahre evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen. Zur Einführung und Entwicklung eines neuen Schulfachs (Andrea Schulte)
»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung. (Religions-)Pädagogik im Kontext der Katholischen Aufklärung (Werner Simon)
Vom harten und vom sanften Joch. Neutestamentliche Randnotizen zum Verhältnis von Theologie und Bildung (Manuel Vogel)
Teil 2: Empirische Perspektiven
»Ein pädagogisches Konzept zur christlichen Orientierung«? Einige Überlegungen zu einer Wahlverwandtschaft von religiöser Konzeption und pädagogischer Konzeption nach Montessori im christlichen Kinderhaus (Dorothy Bonchino-Demmler)
»Lernt ihr denn gar nichts in der Schule?«. Initiationsrituale im Film (Inge Kirsner)
Bildungsbürger oder Traditionalisten? Soziologische Betrachtungen zum Verhältnis von Bildung und Religiosität (Gert Pickel)
»Wo in der Schule haben wir den Ort, wo wir über Sinn und Unsinn dieser Welt uns austauschen?«. Zum Beitrag des Religionsunterrichts für die schulische Bildung in der Sicht von Lehrkräften (Uta Pohl-Patalong)
Religionslehrkräfte in Ostdeutschland. Empirische Befunde an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen (Steffi Völker)
Teil 3: Systematische Perspektiven
Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts (Heiner Alwart)
Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit des religiösen Wandels. Zur Verschränkung gesellschafts- und geschichtswissenschaftlicher Zugänge in der Religionspädagogik (David Käbisch/Henrik Simojoki)
Erzählkultur. Narrativität, narrative Identität und religiöse Bildung (Martina Kumlehn)
Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie. Erarbeitet an Forschungen über die Bildungsklassiker Christian Gotthilf Salzmann (1934/1966) und Adolph Diesterweg (2016) (Rainer Lachmann)
Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? Ein Beitrag zum Reformationsjahr (Reinhold Mokrosch)
Bildung als theologisches Thema. Dogmatische Begründungen und Perspektiven (Miriam Rose)
Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz. Interdisziplinäre Bezüge der Religionspädagogik Michael Wermkes (Martin Rothgangel)
»Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Strafbewehrte Solidarität unter Geschwistern (Edward Schramm)
Bildung oder »Education«? Überlegungen zur Frage nach Leitbegriff und Konzept einer Religionspädagogik im Zeitalter der Globalisierung im Gespräch mit John Dewey (Bernd Schröder)
Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? Das Beispiel »Perspektivenwechsel« (Friedrich Schweitzer)
Teil 4: Handlungsorientierende Perspektiven
Religionsunterricht in Mitteldeutschland und das Schlagwort der Konfessionslosigkeit. Was damit an Impulsen in den religionsdidaktischen Diskurs eingetragen wird (Michael Domsgen)
Zeigen und Deuten. Einige Gedanken zu der Frage, wie die christliche Religion (und nicht nur die) zu lehren ist (Bernhard Dressler)
Konfessioneller Religionsunterricht – heute noch zeitgemäß? Überlegungen zum zukünftigen Religionsunterricht in der Spannung von Religion und Bildung (Christian Grethlein)
Dem Glauben eine neue Sprache geben. Gemeindepädagogische Überlegungen zur Förderung religiöser Sprachkompetenz (Matthias Hahn)
Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« (Martina Klein)
Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsunterrichts (Thorsten Knauth)
Religionsdistanz und religiöse Bildung. Über eine entscheidende Frage der Religionspädagogik (Joachim Kunstmann)
Was wird aus der konfessionellen Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht? (Michael Meyer-Blanck)
Über die Verortung und Bewertung von Einstellungen und Werthaltungen im Urteilsbildungsprozess. Zur religionspädagogischen Debatte mit einem Blick in die Sozialpsychologie (Katharina Muth)
Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung. Bestandsaufnahme und Konsequenzen für ein Modell von interreligiöser und interweltanschaulicher Kompetenz im Horizont Öffentlicher Religionspädagogik (Manfred L. Pirner)
Die Seele betreuen. Bemerkungen zur Entwicklung eines religionswissenschaftlichen Universitätscurriculums für die Ausbildung von Seelsorgern (Hans Schilderman)
Hinter dem Horizont geht es weiter... Kommunikation und Lernen für eine globale Zukunft im weltweiten evangelischen Bildungsnetzwerk »GPENreformation« (Birgit Sendler-Koschel)
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Religion und Bildung – interdisziplinär: Festschrift für Michael Wermke zum 60. Geburtstag
 3374055702, 9783374055708

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Religion und Bildung – interdisziplinär

Studien zur Religiösen Bildung (StRB) Herausgegeben von Michael Wermke und Thomas Heller Band 17

Thomas Heller (Hrsg.)

Religion und Bildung – interdisziplinär Festschrift für Michael Wermke zum 60. Geburtstag

EVANGELISCHE VERLAGS ANSTALT Leipzig

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig Coverbild: Jan-Peter Kasper, Jena Satz: Christina Koch, Jena Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-374-05570-8 www.eva-leipzig.de

Inhalt

Einleitung ............................................................................................................ 11 Thomas Heller

Teil 1: Historische Perspektiven »Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert« (11Q5, XXVII, 4f.). Psalmen-Bildung bei Ingo Baldermann im Lichte von PsSal 5 ........................................................................................ 25 Hannes Bezzel »Sei gegrüßt, Philosoph!« Kirchenhistorische Reflexionen zum Verhältnis von Identität und Dialog ....................................................... 37 Katharina Bracht Die Entdeckung kindlicher Religiosität. Ein empirischexperimenteller Forschungsgegenstand der evangelischen Religionspädagogik zwischen 1895 und 1933 ............................................. 51 Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein Der schlecht erzogene Heilige. Namensgebung und Jugend des Franz von Assisi nach Thomas von Celano ............................................ 63 Volker Leppin Keine Bildung ohne Bilder. Wie wir aus der Geschichte der Bilder etwas für die religiöse Bildung lernen ........................................ 75 Andreas Mertin Jakobus als Lehrer. Eine Skizze nach dem Jakobusbrief ............................. 89 Karl-Wilhelm Niebuhr »Güldenes ABC eines frommen Kindes«. Religionspädagogische Perspektiven zum »Erbaulichen Handbüchlein« (1734) von Johann Jacob Rambach ...................................................................................... 103 Stefanie Pfister

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Inhalt

Der Protestantismus als Bildungsreligion. Aspekte religiöser Bildung bei Ernst Troeltsch .............................................................................. 121 Gregor Reimann 25 Jahre evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen. Zur Einführung und Entwicklung eines neuen Schulfachs ........................ 133 Andrea Schulte »Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung. (Religions-)Pädagogik im Kontext der Katholischen Aufklärung .............. 143 Werner Simon Vom harten und vom sanften Joch. Neutestamentliche Randnotizen zum Verhältnis von Theologie und Bildung ........................... 157 Manuel Vogel

Teil 2: Empirische Perspektiven »Ein pädagogisches Konzept zur christlichen Orientierung«? Einige Überlegungen zu einer Wahlverwandtschaft von religiöser Konzeption und pädagogischer Konzeption nach Montessori im christlichen Kinderhaus ............................................... 181 Dorothy Bonchino-Demmler »Lernt ihr denn gar nichts in der Schule?« Initiationsrituale im Film ................................................................................. 199 Inge Kirsner Bildungsbürger oder Traditionalisten? Soziologische Betrachtungen zum Verhältnis von Bildung und Religiosität .................... 211 Gert Pickel »Wo in der Schule haben wir den Ort, wo wir über Sinn und Unsinn dieser Welt uns austauschen?« Zum Beitrag des Religionsunterrichts für die schulische Bildung in der Sicht von Lehrkräften ............................................................................ 225 Uta Pohl-Patalong Religionslehrkräfte in Ostdeutschland. Empirische Befunde an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen ............... 243 Steffi Völker

Inhalt

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Teil 3: Systematische Perspektiven Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts .......................... 259 Heiner Alwart Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit des religiösen Wandels. Zur Verschränkung gesellschafts- und geschichtswissenschaftlicher Zugänge in der Religionspädagogik ................................................................................ 271 David Käbisch/Henrik Simojoki Erzählkultur. Narrativität, narrative Identität und religiöse Bildung ........................................................................ 293 Martina Kumlehn Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie. Erarbeitet an Forschungen über die Bildungsklassiker Christian Gotthilf Salzmann (1934/1966) und Adolph Diesterweg (2016) ........................................................................ 307 Rainer Lachmann Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? Ein Beitrag zum Reformationsjahr .............................. 329 Reinhold Mokrosch Bildung als theologisches Thema. Dogmatische Begründungen und Perspektiven ................................................................... 343 Miriam Rose Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz. Interdisziplinäre Bezüge der Religionspädagogik Michael Wermkes ............... 355 Martin Rothgangel »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Strafbewehrte Solidarität unter Geschwistern .............................................. 369 Edward Schramm Bildung oder »Education«? Überlegungen zur Frage nach Leitbegriff und Konzept einer Religionspädagogik im Zeitalter der Globalisierung im Gespräch mit John Dewey ........................ 379 Bernd Schröder

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Inhalt

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? Das Beispiel »Perspektivenwechsel« ............................................................... 393 Friedrich Schweitzer

Teil 4: Handlungsorientierende Perspektiven Religionsunterricht in Mitteldeutschland und das Schlagwort der Konfessionslosigkeit. Was damit an Impulsen in den religionsdidaktischen Diskurs eingetragen wird ......................................... 411 Michael Domsgen Zeigen und Deuten. Einige Gedanken zu der Frage, wie die christliche Religion (und nicht nur die) zu lehren ist ........................... 425 Bernhard Dressler Konfessioneller Religionsunterricht – heute noch zeitgemäß? Überlegungen zum zukünftigen Religionsunterricht in der Spannung von Religion und Bildung .................................................. 437 Christian Grethlein Dem Glauben eine neue Sprache geben. Gemeindepädagogische Überlegungen zur Förderung religiöser Sprachkompetenz ....................... 449 Matthias Hahn Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« ............................................................... 467 Martina Klein Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsunterrichts ................................................................................... 479 Thorsten Knauth Religionsdistanz und religiöse Bildung. Über eine entscheidende Frage der Religionspädagogik ............................................... 491 Joachim Kunstmann Was wird aus der konfessionellen Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht? ............................. 505 Michael Meyer-Blanck

Inhalt

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Über die Verortung und Bewertung von Einstellungen und Werthaltungen im Urteilsbildungsprozess. Zur religionspädagogischen Debatte mit einem Blick in die Sozialpsychologie ............................................................. 515 Katharina Muth Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung. Bestandsaufnahme und Konsequenzen für ein Modell von interreligiöser und interweltanschaulicher Kompetenz im Horizont Öffentlicher Religionspädagogik .......................... 527 Manfred L. Pirner Die Seele betreuen. Bemerkungen zur Entwicklung eines religionswissenschaftlichen Universitätscurriculums für die Ausbildung von Seelsorgern ........................................ 545 Hans Schilderman Hinter dem Horizont geht es weiter... Kommunikation und Lernen für eine globale Zukunft im weltweiten evangelischen Bildungsnetzwerk »GPENreformation« ................................ 561 Birgit Sendler-Koschel Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................................... 568

Einleitung

Religion und Bildung sind zentrale Begriffe der Religionspädagogik.1 Grundgelegt wird dies insbesondere im sog. konvergenztheoretisch-dialektischen Orientierungsmodell Karl Ernst Nipkows: Einerseits ist die Religionspädagogik als eine u.a. auf die gegenwärtige kirchliche Bildungsverantwortung hin ausgerichtete, theologische sowie damit religionsbezogene Wissenschaft festzuhalten.2 Andererseits ist sie als eine sich den gegenwärtigen u.a. gesellschaftlichen und anthropologischen Herausforderungen stellende, pädagogische sowie damit bildungsbezogene Wissenschaft zu verstehen.3 Sachgemäß arbeitet die Religionspädagogik so, wenn in ihr als Verbundwissenschaft »theologische und pädagogische Kriterien […] in gleicher Weise geltend gemacht«4 bzw. Religion und Bildung zusammengedacht werden, um derart religiöse Bildungsprozesse wahrnehmen, kritisch-konstruktiv reflektieren sowie Impulse für ihre Gestaltung erarbeiten zu können.5 Fokussiert bei1

  Vgl. ausführlich zu beiden Begriffen sowie zu weiterführender Literatur § 12f. bei Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012. Vgl. einleitend zu weiteren wichtigen Begriffen der Religionspädagogik wie Erziehung und Unterricht auch Bernd Schröder: Eruditio – Unterricht – Erziehung – Emanzipation – Bildung: Wechselnde Leitbegriffe in der Geschichte der Religionspädagogik, in: Michael Domsgen (Hrsg.): Religionspädagogik in systemischer Perspektive. Chancen und Grenzen, Leipzig 2009, 47–71. S. weiterhin auch den Beitrag von Bernd Schröder in diesem Band. 2   Vgl. Karl Ernst Nipkow: Grundfragen der Religionspädagogik. Band 2: Das pädagogische Handeln der Kirchen, Gütersloh 41990, u.a. 13–87. 3   Vgl. Karl Ernst Nipkow: Grundfragen der Religionspädagogik. Band 1: Gesellschaftliche Herausforderungen und theoretische Ausgangspunkte, Gütersloh 41990, u.a. 25–127. 4   A.a.O., 192. 5   Vgl. weiter zu Nipkows konvergenztheoretisch-dialektischem Orientierungsmodell Christian Grethlein: Religionspädagogik, Berlin/New York 1998, 190–193; ausführlich Martin Rothgangel: Religionspädagogik im Dialog I. Disziplinäre und interdisziplinäre Grenzgänge, Stuttgart 2014, 15–20. S. weiterhin auch den Beitrag von Martin Rothgangel in diesem Band und vgl. zur Religionspädagogik spezifisch als Verbunddisziplin, die auch bereits bei Nipkow neben Theologie und Pädagogik auch weitere Bezugswissenschaften wie die Psychologie und die Soziologie zu beachten hat, u.a. Stephan Leimgruber: Religionspädagogik als Verbunddisziplin, in: Friedrich Schweitzer/Thomas Schlag (Hrsg.): Religionspädagogik im 21. Jahrhundert, Gü-

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Thomas Heller

spielsweise auf den Religionsunterricht geschieht dies in den vorliegenden religionsdidaktischen Überlegungen ausgesprochen unterschiedlich, wobei sich auch die genutzten Religions- und Bildungsbestimmungen bzw. -verständnisse deutlich voneinander unterscheiden können. Denn während, um jeweils nur zwei Beispiele zu nennen, erstens die liberale Religionspädagogik Richard Kabischs auf dem (modifizierten) Religionsverständnis Friedrich Schleiermachers als »Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit«6 beruht,7 spielen zweitens in kulturhermeneutischen, sich der Aufnahme, Verarbeitung und Produktion von Religion in der (populären) Kultur widmenden religionsdidaktischen Überlegungen oftmals funktionale Religionsbestimmungen a lá Franz-Xaver Kaufmann (Religion als »Identitätsstiftung, Handlungsführung, Kontingenzbewältigung, Sozialintegration, Kosmisierung, Weltdistanzierung«8) oder Hermann Lübbe (Religion als »Kontingenzbewältigungspraxis«9) eine wichtige Rolle.10 Und während drittens in der »dialogische[n] Weltreligionen-Didaktik«11 Johannes Lähnemanns anknüpfend an die gleichnamige Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1994 Bildung aus dem Wechselspiel von »Identität und Verständigung« heraus anzubahnen ist (wobei dies dann zur religiösen Bildung wird, wenn in der Verständigung mit Mitgliedern anderer Religionen die eigene religiöse Identität angebahnt/gefestigt wird),12 vertritt viertens die performative tersloh/Freiburg im Breisgau 2004, 199–208. Zur wirkungsgeschichtlichen Bedeutung von Nipkows Ansatz vgl., um nur zwei Beispiele unter vielen zu nennen, den »sprechenden« Titel der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (ab 1998, zuvor als Untertitel) und den »sprechenden« Untertitel bei Christoph Gramzow/Heide Liebold/ Martin Sander-Gaiser (Hrsg.): Lernen wäre eine schöne Alternative. Religionsunterricht in theologischer und erziehungswissenschaftlicher Verantwortung. Festschrift für Helmut Hanisch zum 65. Geburtstag, Leipzig 2008. 6   Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin/New York 2008 (Nachdruck der zweiten Auflage von 1830/1831), 38. 7   Vgl. Richard Kabisch: Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen Religionsunterrichts auf psychologischer Grundlage, Göttingen 61923, u.a. 3 und 32–38. 8   Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, 85 (ohne Formatierungen/Nummerierungen). 9   Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung, München 32004, 149. 10   Vgl. beispielsweise Manfred L. Pirner: Fernsehmythen und religiöse Bildung. Grundlegung einer medienerfahrungsorientierten Religionspädagogik am Beispiel fiktionaler Fernsehunterhaltung, Frankfurt am Main 2001, 94. 11   Johannes Lähnemann: Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht – Einleitende Thesen, in: Werner Haußmann/Johannes Lähnemann (Hrsg.): Dein Glaube – mein Glaube. Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde, Göttingen 2005, 9–24, 17. 12   Vgl. einleitend a.a.O., u.a. 17–20.

Einleitung

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Religionsdidaktik ein aus einer »Didaktik des Perspektivenwechsels«13 heraus zu konturierendes Verständnis von Bildung, bei der eine »Binnen- bzw. Teilnahmeperspektive der Selbstinterpretation und des Vollzugs«14 mit einer »Außen- bzw. Beobachtungsperspektive des distanzierten Nachdenkens«15 zu verknüpfen ist (und die dann zur religiösen Bildung wird, wenn sich der Vollzug, das »Zeigen« einer Religion, mit dem »über Religion reden«16 miteinander verbindet).17 Dass es sich bei solchen Überlegungen nicht um Gedankenspiele ohne praktische Relevanz handelt, sondern die aus der Verknüpfung von Religion und Bildung heraus zu konturierende religiöse Bildung manifesten Herausforderungen zu begegnen hat und sowohl für konfessionsgebundene wie konfessionslose, sowohl für sich als nicht-religiös verstehende wie für sich als religiös verstehende Personen von Relevanz ist, hält dabei u.a. das Kapitel »Religiöse Bildung« des »Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre« fest: »Religionen unterliegen wie Weltanschauungen der Gefahr einer politischen Instrumentalisierung und Radikalisierung; umso wichtiger ist eine entsprechende Bildung […]. Prinzipiell gilt: Nicht glaubende Menschen können religiös gebildet sein, wie auch glaubende Menschen religiös ungebildet sein können.«18 Oder kurz in den Worten von Michael Meyer-Blanck: »Bildung ohne Religion ist unvollständig und Religion ohne Bildung ist gefährlich.«19 Damit wird deutlich, dass – auch wenn Religion und Bildung mitunter schnell miteinander verknüpft werden und insbesondere der Protestantismus 500 Jahre nach der Reformation oftmals geradezu als »Bildungsreligion« o.ä. apostrophiert wird20 – das Zusammenspiel von Religion und Bildung alles andere 13

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 Bernhard Dressler: »Religiös reden« und »über Religion reden« lernen – Religionsdidaktik als Didaktik des Perspektivenwechsels, in: Bernhard Grümme/Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hrsg.): Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2012, 68–78, 68. 14  Bernhard Dressler: Performativer Religionsunterricht, in: Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon, online: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 100017 (28. Januar 2018). 15  Ebd. 16  Dressler: »Religiös reden«, 68. 17  S. weiterführend zum Thema »Didaktik des Perspektivenwechsels« auch die Beiträge von Bernhard Dressler und Friedrich Schweitzer in diesem Band. 18  Michael Wermke: Religiöse Bildung, in: Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.): Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre. Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen, Erfurt 2015, 277–297, 278f. 19  Michael Meyer-Blanck: Tradition – Integration – Qualifikation. Die bildende Aufgabe des Religionsunterrichts an Europas Schulen, in: Evangelische Theologie 63 (2003), 280–288, 280 (ohne Formatierungen). 20  Vgl. exemplarisch Ralf Koerrenz (Hrsg.): Bildung als protestantisches Modell, Paderborn/Wien/München/Zürich 2013; Friedrich Schweitzer: Das Bildungserbe

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Thomas Heller

als selbstverständlich ist21 und der steten Pflege bedarf, wobei es hilfreich sein dürfte, sich auch die in den Religionen selbst beinhalteten Gründe für (religiöse) Bildung, die beispielsweise in der Schöpfungstheologie, der Hamartiologie und der Soteriologie der jeweiligen Religion liegen können,22 immer neu zu vergegenwärtigen. Dies schlägt bereits die Brücke zur Systematischen Theologie, womit erkennbar wird, dass das Zusammenspiel von Religion und Bildung neben der Religionspädagogik auch in weiteren Wissenschaftsdisziplinen von Bedeutung ist. Dies ist einerseits der Fall, wenn sich, vor dem Hintergrund der je eigenen Einsichten und Zugänge, religionsbezogene Disziplinen wie die Alt-/ Neutestamentliche Wissenschaft, die Kirchengeschichte, die Systematische Theologie, die Praktische Theologie, die Religionswissenschaft oder die Religionssoziologie bildungsbezogenen Fragestellungen zuwenden – so wenn die Bildungsimpulse von Dtn 6,4–25, Jesus als Lehrer, die reformatorischen Schul- und Erziehungsschriften, wie gerade schon angesprochen systematisch-theologische Begründungen von (religiöser) Bildung, die Predigt als Bildungsereignis, Bildung im Kontext der Ahmadiyya-Bewegung oder das Phänomen der sog. säkularen Schweigespirale untersucht werden. Andererseits trifft dies zu, wenn sich bildungsbezogene Disziplinen wie die Ethikdidaktik, die Geschichtsdidaktik, die Historische Pädagogik oder die Schulpädagogik religionsbezogenen Fragestellungen widmen – so wenn die Konstruktion religiöser Pluralität im Ethikschulbuch, Kreuzzüge im Geschichtsunterricht, die Pädagogik Johann Amos Comenius' oder das Schulleben an konfessionell gebundenen Schulen in den Blick genommen werden. Und zum Dritten ist es schließlich auch der Fall, wenn sich rechtswissenschaftliche Disziplinen oder die Medizinische Psychologie Themen wie der grundgesetzlichen Veranke-

der Reformation. Bleibender Gehalt – Herausforderungen – Zukunftsperspektiven, Gütersloh 2016; Thomas A. Seidel/Stefan Rhein (Hrsg.): Protestantische Bildungsakzente, Leipzig 2014. Auch bereits Ernst Troeltsch (1865–1923) bezeichnete Teile des Protestantismus als »philosophische Bildungsreligion«, s. dazu den Beitrag von Gregor Reimann in diesem Band. 21  S. dazu ausführlich mit Fokus auf den Zusammenhang von Religiosität – die als »subjektive Annahme, Verarbeitung und Darstellung, aber auch [als] subjektive Produktion von Religion« (Joachim Kunstmann: Zwischenbilanzierung in Thesen, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 1, 2002, 1, 85–88, 86) verstanden werden kann – und Bildung auch den Beitrag von Gert Pickel in diesem Band. 22  S. dazu ausführlich mit Blick auf das evangelische Christentum den Beitrag von Miriam Rose in diesem Band; s. weiterhin mit spezifischem Blick auf Martin Luther und Philipp Melanchthon auch den Beitrag von Reinhold Mokrosch und mit spezifischem Blick auf (religiöse) Bildung als »lebenslangen Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« auch den Beitrag von Martina Klein ebd.

Einleitung

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rung des Religionsunterrichts23 oder der Fragestellung, ob und inwiefern Religion und Bildung Ressourcen im Alter darstellen,24 zuwenden. Der Sammelband »Religion und Bildung – interdisziplinär« vereint vor diesem Hintergrund Beiträge, die sich dem Zusammenspiel von Religion und Bildung widmen und die von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen verfasst worden sind, wobei hier konkret die Erziehungs- und die Rechtswissenschaft, die Religionssoziologie sowie die Theologie – vertreten durch Beiträgerinnen und Beiträger aus den Disziplinen »Altes Testament«, »Neues Testament«, »Kirchengeschichte«, »Systematische Theologie«, »Praktische Theologie« und »Religionspädagogik« – zu nennen sind.25 Der vorliegende Band möchte so die Interdisziplinarität bei der Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex »Religion und Bildung« verdeutlichen und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten liefern. Zugleich ist er als Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages einem Religionspädagogen und Wissenschaftsmanager gewidmet, der zwischen den sich der Verbindung von Religion und Bildung widmenden Disziplinen immer wieder fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeiten initiiert und mit Leben gefüllt hat: Prof. Dr. Michael Wermke. U.a. als Dozent am Religionspädagogischen Institut Loccum (1995–2001), als Fachberater für den evangelischen Religionsunterricht bei der Bezirksregierung Lüneburg (2001–2003) sowie insbesondere als Professor/Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik (seit 2003) und Direktor des interdisziplinären, interfakultären Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena (seit 2011) hat sich Wermke in zahlreichen Publikationen mit dem Zusammenspiel von Religion und Bildung beschäftigt, hierbei gewichtige religionspädagogische Arbeiten u.a. zum Holocaust, zur populären Kultur, zur Weimarer Republik, zur Pfarrer- und Religionslehrerbildung und zu säkularen/postsäkularen Kontexten vorgelegt, und dabei auch immer wieder die Zusammenarbeit mit weiteren theologischen und nicht-theologischen Diszi24

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 Vgl. beispielsweise Uta Hildebrandt: Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000. 24  Vgl. beispielsweise Miriam Beier/Holger Gabriel/Hans-Martin Rieger/Michael Wermke (Hrsg.): Religion und Bildung – Ressourcen im Alter? Zwischen dem Anspruch auf Selbstbestimmung und der Einsicht in die Unverfügbarkeit des Lebens, Leipzig 2016. 25  Alle Texte wurden redaktionell bearbeitet, um hinsichtlich formaler Punkte möglichst weitreichend Einheitlichkeit herzustellen. Dazu gehörte gemäß der Empfehlung der Publikationsrichtlinien der Evangelischen Verlagsanstalt zur Verbesserung der Lesbarkeit auch die Nutzung maskuliner Formen (»Schüler« etc.), die im Folgenden neben generischen Feminina (»Lehrperson« etc.) sowie im Neutrum stehenden Formen (»Lehrpersonal« etc.) zur Kennzeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen herangezogen werden. An einigen Stellen sind ausgeschriebene Formen (»Schülerinnen und Schüler« etc.) dabei beibehalten worden.

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Thomas Heller

plinen gesucht26. Mit dieser Schrift sei ihm, auch im Namen der Autorenschaft und aller Mitglieder des Jenaer »RP-Teams«, für welche ich hier sicher sprechen darf, sehr herzlich zum Geburtstag gratuliert. Ad multos annos! Gegliedert ist der Band in vier Teile.27 Teil 1 »Historische Perspektiven« wird sich zunächst anhand exemplarischer Studien dem Zusammenspiel von Religion und Bildung in der Geschichte widmen. Hannes Bezzel untersucht hier die Genese von PsSal 5 und kommt zu dem Schluss, dass die häufig an die Psalmendidaktik Ingo Baldermanns herangetragene Kritik, die von ihm angestrebte existentielle Aneignung einzelner, aus ihrem Kontext herausgelöster Verse ignoriere unzulässigerweise den »garstigen, breiten Graben« zwischen historischem Text und heutigem Leser, zumindest insofern zurückzuweisen sei, als dass eine derartige existentielle Aneignung eine hermeneutische Praxis darstellt, die seit jeher im Umgang mit Psalmen genutzt wurde und PsSal 5 als Kompositum selbst hervorgebracht hat. Katharina Bracht widmet sich dem Apologeten und Kirchenvater Justin dem Märtyrer (ca. 100–165) sowie insbesondere seiner Schrift »Dialog mit dem Juden Tryphon« und zeigt auf, wie das in diesem Text entfaltete fruchtbare Verhältnis von (religiöser) Identität und Dialog auch vor dem Hintergrund aktueller Diskurse, so konkret der in den Jahren 2015/16 geführten Diskussion um einen 26

 Vgl. neben der in Fußnote 24 genannten Publikation exemplarisch David Käbisch/Michael Wermke (Hrsg.): Transnationale Grenzgänge und Kulturkontakte. Historische Fallbeispiele in religionspädagogischer Perspektive, Leipzig 2017; Ralf Koerrenz/Gisela Mettele/Michael Wermke (Hrsg.): Bildung und Religion. Dokumentation der Gründungsveranstaltung des »Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung«, Jena 2012; Ralf Koerrenz/Michael Wermke (Hrsg.): Schulseelsorge – ein Handbuch, Göttingen 2008; Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Konfessionslosigkeit heute: Zwischen Religiosität und Säkularität, Leipzig 2014; Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Religiöse Reden in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016; Michael Wermke (Hrsg.): Säkulare Selbstbestimmung versus religiöse Fremdbestimmung. Zur Kritik an der öffentlichen Debatte um das Beschneidungsritual, Leipzig 2014. Ein ausführliches Publikationsverzeichnis findet sich unter www.theologie. uni-jena.de/Michael_Wermke.html (4. Februar 2018). 27  Vgl. hierzu auch die Gliederung von Schröder: Religionspädagogik (reflexiv zum dort gewählten Vorgehen a.a.O., 13–15), die als Anregung diente. Ein Kapitel »Vergleichende Perspektiven«, wie es bei Schröder zu finden ist, ist im vorliegenden Band nicht mit aufgenommen worden; entsprechende Aspekte finden sich allerdings durchaus in den Beiträgen insbesondere von David Käbisch/Henrik Simojoki und Bernd Schröder. Festzuhalten ist weiterhin, dass die hier verfolgte Gliederung nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt. So wäre beispielsweise auch eine Gliederung nach in den Blick genommenen »Lernorten« möglich gewesen, wobei neben grundsätzlichen Beiträgen insbesondere der Lernort »Religionsunterricht« (hier wäre u.a. der Beitrag von Bernhard Dressler zu subsumieren), aber auch die Lernorte »Gemeinde«, »Hochschule« oder »Kindertagesstätte« (hier wären u.a. die Beiträge von Martina Klein, Hans Schilderman und Dorothy Bonchino-Demmler zu subsumieren) von Relevanz gewesen wären.

Einleitung

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weltanschaulich und religiös neutralen Religionsunterricht in Thüringen, als Orientierung dienen kann. Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein betrachtet in ihrem Beitrag »Die Entdeckung kindlicher Religiosität« das erste Drittel des 20. Jahrhunderts und kann darlegen, dass die Rezeption entwicklungspsychologischer Einsichten und Zugänge in der Religionspädagogik nicht, wie oft angeführt, erst seit wenigen Jahrzehnten vollzogen wird, sondern bereits ein wichtiger Aspekt der ab 1895 vorgelegten religionspädagogischen Arbeiten war. Volker Leppin nimmt mit Franz von Assisi (gest. 1226) einen »schlecht erzogenen« Heiligen in den Blick und diskutiert insbesondere anhand zweier Viten des Thomas von Celano (gest. 1260) Strategien der Hagiographisierung des Franz – mit dem ebenso nüchternen wie weiterführenden Ergebnis, dass historische Arbeit hinsichtlich der Biografie des Franz zwar Möglichkeiten anbieten kann, »die eine echte« Biografie nicht jedoch wird herausarbeiten können. Andreas Mertin widmet sich der Geschichte der Bilder von der Steinzeit bis hin zur Gegenwart und damit zugleich – ist doch der Mensch als Homo pictor charakterisierbar – der Geschichte der Menschheit an sich, wobei er abschließend festhalten muss, dass der immer mehr zunehmenden Bedeutung der Bilder in der Gegenwart (noch) keine entsprechende Kompetenzsteigerung in der Wahrnehmung und kritisch-konstruktiven Reflexion der derzeit allgegenwärtigen Bilder entspricht. Karl-Wilhelm Niebuhr untersucht mit dem Autor des Jakobusbriefes einen neutestamentlichen Lehrer, der im Vergleich zu Jesus als Lehrer in der exegetischen Literatur bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, und arbeitet detailliert heraus, welche Vorstellung eines Lehrers und welche Vorstellungen vom Lehren und Lernen der Jakobusbrief bietet. Stefanie Pfister nimmt das »Erbauliche Handbüchlein« des pietistischen Theologen Johann Jacob Rambach (1693–1735) in den Blick und kann nach einer Vorstellung dieser wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Schrift die didaktisch-methodischen Akzentsetzungen Rambachs, die heute in vielerlei Hinsicht problematisch erscheinen, darstellen und erörtern. Gregor Reimann widmet sich Aspekten religiöser Bildung bei Ernst Troeltsch (1865–1923) und zeigt, wie dieser prominente Vertreter der sog. Religionsgeschichtlichen Schule in den bewegten Auseinandersetzungen der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts um die Gestaltung des Religionsunterrichts und des konfessionell gebundenen Schulwesens auf Basis seines Konzepts einer protestantischen »philosophischen Bildungsreligion« für einen überkonfessionellen Religionsunterricht, ein nicht-konfessionell gebundenes Schulwesen und für Religion als zentralen Bestandteil einer »deutschen Bildung« votierte. Andrea Schulte nimmt die jüngere Zeitgeschichte in den Blick und rekonstruiert die ersten 25 Jahre des Religionsunterrichts in Thüringen seit seiner Wiedereinführung im Jahr 1991 – u.a. mit dem spannungsreichen Ergebnis, dass das »neue«, ja seit einigen Jahren nun bereits »volljährige« Unterrichtsfach zwar längst in der Schule »angekommen« ist,

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jedoch nach wie vor eine Reihe an Herausforderungen zu bewältigen bleibt. Werner Simon untersucht, wie die »sokratische Methode« einer Wahrheitsfindung im Dialog, wie sie in den Dialogen Platons vorgestellt wird, im Kontext der sog. Katholischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Lernweg religiöser Bildung eine in zahlreichen Veröffentlichungen erkennbare, bis weit in das 19. Jahrhundert hineinwirkende Renaissance erfuhr. Und Manuel Vogel widmet sich schließlich der Bedeutung von Bildung im Rahmen der »sozialen Abwärtsorientierung« der frühchristlichen Bewegung und zeigt auf, welche Schwierigkeiten die Exegese der »lutherischen Normaltheologie« mit sich bringen kann und welch »konstruktives« und »inklusives« (und nicht etwa: »kompetitives« und »exklusives«) Verständnis von Bildung im Neuen Testament zum Ausdruck gebracht wird. Damit sind verschiedene historische »Tiefbohrungen« vollzogen, vor deren Hintergrund Teil 2 »Empirische Perspektiven« anhand exemplarischer Studien das Zusammenspiel von Religion und Bildung in der Gegenwart in den Blick nimmt. Den Auftakt bildet hier ein Beitrag von Dorothy Bonchino-Demmler, in welchem sie auf Grundlage einer im Jahr 2017 durchgeführten Interviewstudie verschiedene Formen einer »Wahlverwandtschaft« von religiöser Konzeption und pädagogischer Konzeption nach Maria Montessori (1870–1952) in sächsischen christlichen Kinderhäusern rekonstruiert. Inge Kirsner widmet sich mittels kulturhermeneutischer Reflexionen Initiationsritualen im Film und arbeitet entsprechende Erzählmuster heraus – um zugleich betonen zu können, dass jeder Kinobesuch an sich ein Initiationsritual darstellen kann bzw. Filme zu einem Initiationsritual »in Horizonte werden [können], die uns ansonsten verschlossen geblieben wären.« Gert Pickel erörtert in seinem Beitrag u.a. auf Basis von Daten der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2012 den komplexen Zusammenhang von Bildung und Religiosität – ein Zusammenhang, der nicht immer, aber doch oft als spannungsreich festzuhalten sein wird, so dass auch Bildung als Faktor von Säkularisierung zu bedenken ist. Uta Pohl-Patalong widmet sich auf Grundlage von Interviewdaten des zwischen 2013–2017 laufenden Forschungsprojekts »ReVikoR« (»Religiöse Vielfalt im konfessionellen Religionsunterricht«) dem Beitrag des Religionsunterrichts für die schulische Bildung in der Perspektive von Religionslehrkräften, arbeitet hier acht Aspekte heraus und verortet sie im religionspädagogischen Diskurs. Und Steffi Völker fasst in ihrem Beitrag »Religionslehrkräfte in Ostdeutschland« schließlich Befunde der in den Jahren 2011–2013 durchgeführten qualitativ-quantitativen Studie »Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen« u.a. hinsichtlich der Frage zusammen, wie die befragten Religionslehrkräfte den durch die weitgehende Konfessionslosigkeit Mitteldeutschlands bedingten Herausforderungen begegnen.

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Während Teil 1 und 2 so in Geschichte und Gegenwart die kontextuelle Bedingtheit des Zusammenspiels von Religion und Bildung verdeutlichen und dabei eher deskriptiven Zugängen verpflichtet waren (auch wenn sie oft zugleich auch grundsätzliche Fragen mit in den Blick nehmen und/oder Handlungsimpulse erörtern), widmet sich Teil 3 »Systematische Perspektiven« vor diesem Hintergrund Fragen des Zusammenspiels von Religion und Bildung (inklusive seiner Erforschung) auf einer grundsätzlichen Ebene und verfolgt damit, genau wie Teil 4, eher normative Zugänge (wobei die Texte dieser beiden Teile oft auch zugleich eine deutliche historische und/ oder empirische Tiefenschärfe aufweisen). Der Beginn wird hier durch Heiner Alwart vollzogen, der über »das Recht der Religion« und »die Religion des Rechts« reflektiert und u.a. die Leistungen und Grenzen des Grundgesetzes sowie einen problematischen Verfassungspatriotismus in den Blick nimmt. David Käbisch und Henrik Simojoki plädieren für eine engere Verschränkung gesellschafts- und geschichtswissenschaftlicher Zugänge in der Religionspädagogik und stellen mit Blick auf die internationale Forschungsliteratur Einsichten insbesondere zum Wechselspiel von Säkularisierung und Globalisierung sowie zur »historischen Pfadabhängigkeit« des religiösen Wandels dar. Martina Kumlehn widmet sich der »Macht der Erzählung«, arbeitet Charakteristika der Narration als gewichtigen kulturellen und religiösen Vollzug heraus und legt auf dieser Basis sowie vor dem Hintergrund von Überlegungen zum Konzept der narrativen Identität religionsunterrichtlich relevante Reflexionen zu ihrer Horizonterweiterung vor. Rainer Lachmann untersucht anhand von drei Forschungsarbeiten über Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) und Adolph Diesterweg (1790–1866) verschiedene psychologische Perspektiven auf diese beiden »Klassiker der Religionspädagogik«, wobei dies u.a. die Problematik eines »totalitären Auslegungsanspruches« mit sich bringen (so mit Blick auf eine Forschungsarbeit von 1934), jedoch auch sehr bereichernd sein kann (so mit Blick auf eine Forschungsarbeit von 2016). Reinhold Mokrosch geht der Frage nach, ob Martin Luthers und Philipp Melanchthons Bildungsprogramme auch gegenwärtig noch aktuell sind und bietet hier Pro- und Contra-Argumente an. Miriam Rose stellt verschiedene Varianten vor, wie Bildung aus dogmatischer Perspektive heraus zu begründen ist, und zieht entsprechende Schlussfolgerungen für den Bildungsauftrag der evangelischen Kirchen in Europa. Martin Rothgangel bietet einen grundsätzlichen Beitrag zum Thema dieses Bandes und plädiert auf der Basis einer konstruktiv-kritischen Darstellung des normativen konvergenztheoretischen Ansatzes Karl Ernst Nipkows (s.o.) im Anschluss an Niklas Luhmann für einen auf Letztbegründungen weitgehend verzichtenden, deskriptiven differenztheoretischen Ansatz hinsichtlich religionspädagogischer Arbeiten, den er anhand von drei exemplarischen Publikationen Michael Wermkes verdeutlicht. Edward Schramm widmet sich anknüpfend

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an Gen 4,9 und mit stetem Bezug auf die Kain-und-Abel-Thematik der Frage, ob Geschwister gegenseitig zu »Beistand und Rücksicht« (§ 1618a BGB) verpflichtet sind, kann dies zumindest für den Fall des Zusammenlebens unter einem Dach mit einem »Ja« beantworten und spricht dabei auch Bildungsaspekte mit an. Bernd Schröder untersucht mit Blick auf das Werk John Deweys (1859–1952) die Axiome, die im Begriff der (religious) education in Unterscheidung zum Begriff der (religiösen) Bildung mitgeführt werden, und zieht Schlussfolgerungen für den internationalen religionspädagogischen Diskurs. Und Friedrich Schweitzer widmet sich schließlich am Beispiel des Perspektivenwechsels der fruchtbaren Spannung zwischen religiöser Bildung und Empirie und arbeitet hier verschiedene weiterführende Punkte heraus, so dass es für die Gestaltung des Religionsunterrichts wie für seine Erforschung gleichermaßen nötig ist, über eine genaue, ausdifferenzierte Vorstellung des Begriffs »Perspektivenwechsel« zu verfügen. Kapitel 4 »Handlungsorientierende Perspektiven« führt diese eher normativen Zugänge weiter fort, steigert nun in Unterscheidung zu Kapitel 3 allerdings nochmals den Konkretionsgrad, insofern nun ganz spezifische »Orte« oder Fragen und Herausforderungen des Zusammenspiels von Religion und Bildung in den Blick genommen werden. Den Auftakt vollzieht hier Michael Domsgen, der darstellt, was konfessionslose Kinder und Jugendliche in den religionsdidaktischen Diskurs »eintragen«, so den Verweis auf die hohe Bedeutung religiöser Sozialisation und Erziehung hinsichtlich der Zustimmung zu geprägten religiösen »Sprachspielen«. Bernhard Dressler widmet sich der Frage, »wie die christliche Religion (und nicht nur die) zu lehren ist«, und verweist dabei auf das Zeigen als bedeutsamen »pädagogisch-didaktischen Modus«. Christian Grethlein diskutiert die Frage, ob und inwiefern der konfessionelle Religionsunterricht »heute noch zeitgemäß« ist, und plädiert vor dem Hintergrund von grundlegenden Klärungen zu den Begriffen »Religion« und »Bekenntnis« bzw. »Konfessionalität« sowie einer Darstellung aktueller gesellschaftlicher und schulischer Veränderungen für enge Kooperationen (nicht nur) zwischen den christlichen Varianten des Religionsunterrichts. Matthias Hahn fokussiert auf die Herausforderung, »dem Glauben eine neue Sprache [zu] geben«, und votiert hier nach einer Diskussion entsprechend relevanter religions- und gemeindepädagogischer Ansätze für eine »einfache« Sprache, die vom Konzept »Leichte Sprache« nochmals zu unterscheiden ist. Martina Klein grenzt sich von einem auf spezifische »Orte« fokussierten Bildungsbegriff ab und zeichnet Konturen einer lebenslangen (religiösen) Bildung, die auch für »religiös unmusikalische« Menschen von Relevanz ist. Thorsten Knauth diskutiert, was einen heiligen Text ausmacht, was unter der politischen Dimension des Religionsunterrichts verstanden werden kann, und wie heilige Texte mit dieser Dimension verknüpft werden können. Joachim Kunstmann nimmt mit »religiöser Distanz« eine zentrale Herausforde-

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rung religiöser Bildung in der Gegenwart in den Blick und stellt mit einer in Anschluss u.a. an liberale, bibelhermeneutische und symboldidaktische religionspädagogische Ansätze entwickelten »religionsproduktiven« Religionspädagogik eine mögliche Antwort vor. Michael Meyer-Blanck diskutiert, wie die konfessionelle Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht weiterzuentwickeln ist, und etabliert hierfür mit einer »gemeinsamen didaktischen Fundamentaltheologie« eine Basis, welche nahelegt, in der entsprechenden Weiterentwicklung »ad intra keine Differenz [zu scheuen]«, aber »ad extra selbstbewusst den gemeinsamen Beitrag der christlichen Religion zur Mündigkeit und Menschlichkeit [herauszustellen]«. Katharina Muth erörtert anhand einer aktuellen Abiturprüfungsaufgabe des evangelischen Religionsunterrichts, ob und wie sich Einstellungen wie beispielsweise zur Präimplantationsdiagnostik bewerten lassen, und kommt zu dem Schluss, dass nicht die Einstellung, wohl aber der Umgang mit ihr bewertet werden und dies in der Erstellung zukünftiger Aufgaben noch mehr bedacht werden sollte. Manfred L. Pirner widmet sich auf Basis eines entsprechenden Forschungsüberblickes vier »blinden Flecken« des religionspädagogischen Diskurses um interreligiöses Lernen und schlägt in der Konsequenz ein eigenes, diese vier Aspekte berücksichtigendes Modell interreligiöser und -weltanschaulicher Kompetenz vor. Hans Schilderman nimmt Voraussetzungen eines religionswissenschaftlichen Begriffs der Seele sowie drei professionelle Ausgestaltungen von Seelsorge im Gesundheitswesen in den Blick, um vor diesem Hintergrund ein religionswissenschaftliches Curriculum für die universitäre Seelsorgeausbildung erörtern zu können. Und Birgit Sendler-Koschel stellt schließlich das u.a. von der Evangelischen Kirche in Deutschland initiierte weltweite evangelische Bildungsnetzwerk »GPENreformation« (»Global Pedagogical Network – Joining in Reformation«) vor, erörtert u.a. die Hintergründe, Herausforderungen und Ziele einer solch vielversprechenden globalen Bildungsnetzwerkarbeit und schließt damit den vorliegenden Band ab. Dass dieser nun vorgelegt werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit; vielmehr ist seine Veröffentlichung von zahlreichen Zuarbeiten und Unterstützungen abhängig gewesen. Last but not least sei daher ein herzlicher Dank ausgesprochen. Er geht erstens an alle, die Texte beigesteuert und diese Publikation dadurch ermöglicht haben. Zweitens geht er an Dorothy Bonchino-Demmler, Dr. Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein, Maria Köhler, Katharina Muth, Gregor Reimann, Benjamin Schlenzig sowie in nochmals besonderem Maße an Christina Koch, die engagiert dazu beigetragen haben, dass aus vielen einzelnen Manuskripten ein gemeinsames Buch wachsen konnte. Zum Dritten geht er an die Ernst-Abbe-Stiftung, die Evangelische Verlagsanstalt sowie den Förderverein der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität für die finanzielle Unterstützung des Symposiums »Säkularisierung,

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Globalisierung, Postsäkularität – aktuelle Herausforderungen religiöser Bildung. Symposium anlässlich des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Michael Wermke«, welches am 26. April 2018 in Jena stattfinden und auf welchem dieser Sammelband dem Jubilar als Festgabe überreicht werden soll. Viertens geht er schließlich an die Evangelische Kirche in Deutschland sowie die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, welche mit namhaften Zuschüssen die Veröffentlichung dieses Buches unterstützt haben. Thomas Heller Jena/Rostock, im Februar 2018

Teil 1:  Historische Perspektiven

»Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert« (11Q5, XXVII, 4f.)1 Psalmen-Bildung bei Ingo Baldermann im Lichte von PsSal 5 Hannes Bezzel

1. Die Psalmendidaktik Ingo Baldermanns Der Ansatz Ingo Baldermanns dürfte im Bereich der Bibeldidaktik zu den am intensivsten rezipierten Überlegungen der vergangenen Jahrzehnte zählen. Davon zeugen nicht zuletzt die hohen Auflagenzahlen der entsprechenden Publikationen des Autors, dessen Buch »Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen« seit seiner Erstveröffentlichung 1986 längst zum Klassiker geworden ist. Ähnliches gilt für seine darauf basierende »Einführung in die biblische Didaktik« von 1996.2 Mit Blick auf die Psalmen verficht Baldermann dabei bekanntlich einen unmittelbaren, existentiellen Zugang. Seine Arbeiten zum Thema fußen auf der aus der religionspädagogischen Praxis gewonnenen Beobachtung,3 dass Grundschulkinder in der unvorbereiteten Konfrontation mit dekontextualisierten Einzelversen be1

  ‫ויכתוב תהלים שלושת אלפים ושש מאות‬. Im Sommersemester 2016 leiteten Michael Wermke und ich gemeinsam ein interdisziplinäres religionspädagogisch-exegetisches Hauptseminar unter der Überschrift »Die Religionsdidaktik des Alten Testaments – das Alte Testament in der Religionsdidaktik«. Die folgenden Überlegungen wollen an die intensiven und anregenden Seminargespräche aus dem vorletzten Jahr anknüpfen und sie mit Blick auf eine damals nicht angesprochene deuterokanonische Schrift weiterdenken. Sie seien dem Geehrten mit den besten Glück- und Segenswünschen gewidmet, in Hoffnung auf weitere fruchtbare Zusammenarbeit. 2   Vgl. Ingo Baldermann: Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 112013; Ingo Baldermann: Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 42011. 3   Vgl. neben den genannten Titeln auch Ingo Baldermann: Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen. Kinderfragen, die aufs Ganze gehen, in: Bibel und Kirche 56 (2001), 40–45; ebenso, zum Teil deckungsgleich, Ingo Baldermann: Sprache finden im Gespräch mit Gott, in: Klaus Petzold/Klaus Raschzok (Hrsg.): Vertraut den neuen Wegen. Praktische Theologie zwischen Ost und West. Festschrift für Kaus-Peter Hertzsch zum 70. Geburtstag, Leipzig 2000, 199–204.

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stimmter Psalmen diese auf eine Art zu interpretieren beginnen, die sich die biblische Sprache und Metaphorik für die Artikulation eigener Erfahrung nutzbar macht. Rezeption ereignet sich so als eine existentielle Aneignung, die es den Kindern erlauben soll, Grunderfahrungen und Emotionen – insbesondere Angst4 – selbst zu artikulieren. Dies geschieht aus Sicht Baldermanns im Raum des göttlichen Gegenübers, auch ohne dass das Wort »Gott« ausgesprochen zu werden bräuchte. Das »Du«, das der Psalmist adressiert, kann, darf und soll zunächst offen bleiben.5 Es ist – ohne dass Baldermann dies explizit so benennen würde – »das, was mich unmittelbar angeht«6, also Gott in seiner schöpfungstheologischen Bezogenheit auf »mich«, erfahrbar individuell existentiell, unabhängig davon, ob dieser Erfahrungsbezug reflexiv in theologischen Sprachkonventionen ausgedrückt wird oder nicht. Der Text oder eher das Wort der Schrift soll so mit den Kindern als seinen Rezipienten in ein dialogisches Auslegungsverhältnis gebracht werden: Es ist die je eigene Erfahrung, die sich in einem konkreten Psalmvers artikuliert, und das rezipierende Subjekt ist es, das diese überlieferte Formulierung aufgreift und fortschreibt. Aus Sicht der Lehrperson gesprochen: »Ich muß versuchen, Begegnungen herbeizuführen zwischen den Kindern und den Worten der Bibel, Begegnungen, mit denen ein Dialog beginnt, der länger dauert als mein Unterricht.«7

2. Die Kritik Kattlochs und Kruhöffers Selbstverständlich ist dieses hier stark komprimiert wiedergegebene didaktische Modell Baldermanns nicht ohne Kritik geblieben, so auch in einem Beitrag von Christina Kattloch und Bettina Kruhöffer im »Loccumer Pelikan« von 2001.8 In diesem Aufsatz hinterfragen die beiden Autorinnen Baldermanns Ansatz von unterschiedlichen Seiten, von pädagogischen und didaktischen ebenso wie von exegetisch-theologischen. Über die Argumente der ersten Kategorie wage ich nicht zu urteilen. Ob es etwa in der baldermannschen Praxis tatsächlich »zu einer unreflektierten didaktischen Inszenierung von Gebets-

4

  Vgl. Baldermann: Wer hört mein Weinen?, 44–47.   Vgl. Baldermann: Einführung, 63–66. 6   So die berühmte Formulierung Paul Tillichs, vgl. bereits den ersten Satz seiner Dogmatikvorlesung von 1925: »Dogmatik ist wissenschaftliche Rede von dem, was uns unbedingt angeht« (Paul Tillich: Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, Düsseldorf 1986, 25). 7   Baldermann: Einführung, 9 (Hervorhebung von Hannes Bezzel). 8   Vgl. Christina Kalloch/Bettina Kruhöffer: Das Alte Testament »unmittelbar« erschließen? Kritische Anfragen an die bibeldidaktische Konzeption Ingo Baldermanns, in: Loccumer Pelikan 10 (2001), 59–64. 5

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situationen«9 kommt und wie hoch die Gefahren einer solchen im christlichen Religionsunterricht für Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter sind, vermag ich anders als durch ein Gefühls- oder Geschmacksurteil nicht einzuschätzen. Die Vorwürfe dagegen, Baldermanns Konzept erlaube »keine Distanz zur Bibel«10 und »verunmöglich[e] es geradezu, über Gott nachzudenken und zu sprechen«11, da dieser ja implizit als Gegenüber des Psalmbeters immer schon gesetzt sei, scheinen mir auch aus exegetischer Sicht diskutierbar zu sein. Beide Punkte treffen indes nach meinem Verständnis Baldermanns dessen Didaktik nicht. Weder ist es im Rahmen der von ihm beschriebenen Praxis erforderlich, die ins Spiel gebrachten Psalmverse als »biblisch« auszuweisen und dadurch in irgendeiner Weise zu legitimieren oder mit Autorität aufzuladen, noch wird explizit auf Gott verwiesen – gerade dies nicht: »Was wir suchen, ist nicht die Einsicht: Das kann nur Gott sein!, sondern zunächst einmal die ganz einfache, aber dafür zum Weiterfragen stimulierende Entdeckung, es könnte hier doch noch eine andere Erfahrung gemeint sein als nur die mit einem anderen Menschen.«12 Die Möglichkeit, dass ein Gott sei, im Potentialis implizit in den Religionsunterricht einzubringen, stellt sich so als Freiheit dar, die Gottesfrage kontrovers in diesem Rahmen – nämlich in der Grundschule – zu diskutieren bzw. nicht über Gebühr einzuschränken. Wie steht es aber mit den dezidiert exegetischen Einwänden? Die unterschiedlichen Kritikpunkte, die hier von den Autorinnen vorgebracht werden, lassen sich im Wesentlichen auf ein Argument zusammenführen: Der unmittelbare Zugriff auf biblische Einzelaussagen vernachlässige die »Geschichtlichkeit biblischer Überlieferung«13. Die zeitliche Distanz von zweieinhalbtausend Jahren, die heutige Leser von den Verfassern der entsprechenden Texte trennt, könnte nicht leichthin übersprungen werden, ohne der Gefahr zu erliegen, dass »Projektion und Verzweckung damit Tür und Tor geöffnet«14 werden. Das Anliegen, den Wert historisch-kritischer Forschung am Alten wie am Neuen Testament herauszustellen, kann von Seiten eines dezidiert diachron arbeitenden Exegeten selbstverständlich nicht verdammt werden. Gleichwohl ist auch in diesem Bereich Vorsicht angebracht. Es besteht hier ein Unterschied der Ebenen. Von jeder Religionslehrerin und jedem Religionslehrer ist zu erwarten, dass sie und er um das Gewachsensein biblischer Tex9

  A.a.O., 64.   Ebd. 11   A.a.O., 62. 12   Baldermann: Einführung, 64. 13   Kalloch/Kruhöffer: Das Alte Testament, 62. 14   Ebd. 10

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te und darin enthaltener theologischer Vorstellungen sowie der ungefähren Vorgänge, die zur sukzessiven Entstehung der heute vorliegenden Bibeltexte geführt haben, Bescheid weiß – bei einer Schülerin und einem Schüler der dritten Klasse ist dies nicht der Fall. Die Bibel in diesem Alter eben nicht als uraltes Schriftenkonglomerat, sondern als individuell existentiell relevantes Lebensbuch kennenzulernen, ist legitim, auch – und gerade – ohne zunächst, wie es die Autorinnen alternativ vorschlagen, in ausgewählten Geschichten »positive biblische Bilder von Gott«15 kennengelernt zu haben. »Das positive Gottesbild«16, in dessen Herausarbeiten aus Schriften einer »grundlegend kulturell und religiös anders geprägte[n] Welt«17 Kalloch und Kruhöffer die didaktische Aufgabe des Religionsunterrichts in der Grundschule sehen, wird schließlich kaum in geringerer Weise anfällig für »Projektion und Verzweckung« sein – im Gegenteil. Auch hier wird letztlich deutlich, wie sehr die beiden Kritikerinnen an Baldermann vorbeidenken. Ihm geht es um existentielle Grunderfahrungen – und die werden nicht mit einem exotisierten und latent abgewerteten »Gott des Alten Testaments«18 gemacht, sondern mit »dem, was uns unbedingt angeht«. Freilich ereignen sich diese Erfahrungen geschichtlich – und freilich bleibt es die Aufgabe des Lehrers, dies zu reflektieren. Dass die Art und Weise baldermannscher Psalmenrezeption dabei bereits in einer langen Tradition steht, soll schließlich ein kleiner Blick auf ein Beispiel frühjüdischer Psalmendichtung verdeutlichen: PsSal 5.

15

  Ebd.   A.a.O., 63. 17   A.a.O., 64. Hier wird spürbar, dass der Schritt von einer scheinbar wertschätzenden historisierenden Betonung der Eigenständigkeit alttestamentlicher Theologien zu ihrer tatsächlichen Abwertung als irrelevant ein kleiner sein kann. 18   Kalloch/Kruhöffer: Das Alte Testament, 63, in Aufnahme des Titels eines Buches von Otto Kaiser, der die Bezeichnung freilich nicht in der von den Autorinnen unausgesprochenen und sicher nicht intendierten, aber latent vielleicht doch mitschwingenden marcionitischen Antithese zum Gott des Neuen Testaments bzw. zum Vater Jesu Christi verwendet. Kaiser betont dagegen explizit: »[A]ls eine christlich-theologische Disziplin steht [die alttestamentliche Wissenschaft] […] vor der Aufgabe, das Verhältnis zwischen der klar entwickelten Vorstellung von dem Gott des Alten Testaments mit der von dem Gott des Neuen als dem Vater Jesu Christi so zu bestimmen, daß es einsichtig wird, inwiefern dieses Buch mit seinen dem Volk Israel geltenden Gottesbezeugungen nicht nur den Juden, sondern auch den Christen und zwar als Menschen von heute mitten in der geistigen Krise seiner Welt angeht« (Otto Kaiser: Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments. Teil 1: Grundlegung, Göttingen 1993, 21). 16

»Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert«

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3. Psalmen-Bildung: PsSal 5 Bei den sog. Psalmen Salomos handelt es sich um ein kleines Büchlein von 18 Gebeten, welches in der christlichen Kirche immer an den Grenzen des Septuaginta-Kanons angesiedelt war, und zwar eher jenseits als diesseits der fiktiven Linie.19 Quasikanonischen Rang20 erlangte es erst im 21. Jahrhundert durch die Herausgeber der »Septuaginta Deutsch«, die für ihre Übersetzung die griechische Septuagintaausgabe von Alfred Rahlfs (1865–1935) zugrunde legten, welcher 1935 die kleine Schrift mit aufgenommen und zwischen Sirach und Hosea eingeordnet hatte. Das schmale Korpus aus 18 Psalmen ist auf Griechisch und Syrisch überliefert, wobei das Verhältnis dieser beiden Übersetzungen zueinander und zur nicht erhaltenen, mutmaßlich auf Hebräisch abgefassten Urfassung umstritten ist.21 Diese letztere wird aufgrund von recht eindeutigen Anspielungen auf Pompeius’ Einnahme von Jerusalem im Jahr 63 v. Chr. und sein weiteres Geschick im Allgemeinen mittlerweile recht konsensual in das letzte Drittel des ersten vorchristlichen Jahrhunderts datiert.22 Otto Kaiser erkennt in den Psalmen Salomos eine überlegte Komposition, die, umfangen von PsSal 1 und 18 als Pro- und Epilog, den Bogen spannt von der Klage über die Verunreinigung von Stadt und Heiligtum (PsSal 2) bis zur Erwartung des Messias (PsSal 17).23 Eingeschlossen in diesen ge19   Vgl. Evangelia G. Dafni: Psalmen Salomos, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, online: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31540 (21. September 2017). 20   So betont das Geleitwort der »Septuaginta Deutsch« von 2009 zwar, dass die vorliegende Übersetzung »keinen liturgischen Rang« besitzt, hebt aber zugleich hervor, dass durch sie den orthodoxen Gemeinden »im deutschsprachigen Raum ihr Altes Testament« nahegebracht werden soll (Wolfgang Huber/Karl Kardinal Lehmann/ Anastasios Kallis/Henry G. Brandt: Geleitwort, in: Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hrsg.): Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, Vf., V). 21   Vgl. dazu Joseph L. Trafton: The Psalms of Solomon in Recent Research, in: Journal for the Study of the Pseudepigrapha 12 (1994), 3–19. Trafton selbst verficht die These, die syrische Fassung sei nicht sekundär aus dem Griechischen, sondern direkt aus der hebräischen Vorlage übersetzt. 22   Vgl. Kenneth Atkinson: Toward a Redating of the Psalms of Solomon. Implications for Understanding the Sitz im Leben of an Unknown Jewish Sect, in: Journal for the Study of the Pseudepigrapha 17 (1998), 95–112, 97; Svend Holm-Nielsen: Die Psalmen Salomos, in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 4/2 (1977), 50–112, 51. 23   Vgl. Otto Kaiser: Tradition und Gegenwart in den Psalmen Salomos, in: Renate Egger-Wenzel/Jeremy Corley (Hrsg.): Prayer from Tobit to Qumran. Inaugural Conference of the ISDCL at Salzburg, Austria, 5–9 July 2003, Berlin/New York 2004, 315–357.

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schichtstheologischen Rahmen, der in der Mitte der Sammlung noch durch ein Zwischenfries aus PsSal 7 und 8 verstärkt wird, finden sich mit PsSal 3–6 und 12–16 zwei kleine Teilsammlungen, die das Verhalten des Frommen angesichts der herrschenden Zustände thematisieren, die sich über die Rahmenpsalmen nicht anders bestimmen lassen denn als Drangsal für die Beter. Unbeschadet dieser offenbar wohlüberlegten Makrostruktur des gesamten Büchleins bleiben die Einzelpsalmen separat les- und betbare Texte – ganz so, wie dies auch im »kanonisch-biblischen«24 Psalter der Fall ist. In der Mitte der ersten der beiden erwähnten Kleinsammlungen, PsSal 3–6, die sich als »eine kleine Lehre für das richtige Leben der Frommen«25 präsentiert, steht PsSal 5, der nun zunächst nicht im Ton der Klage, sondern als Gotteslob anhebt: »Ein Psalm Salomos / auf Salomon bezogen:26 1 Herr, Gott, ich will deinen Namen loben mit Jubel inmitten derer, die deine gerechten Urteile kennen, 2 denn du bist gütig und barmherzig, die Zuflucht des Armen; in meinem Schreien zu dir schweige nicht über mich. 3 Denn keiner wird Beute nehmen von einem mächtigen Mann, und wer wird nehmen von allem, was du geschaffen hast, wenn du es nicht gibst? 4 Denn der Mensch und sein Teil sind bei dir auf der Waage, nicht wird er weiter etwas hinzufügen über dein Urteil hinaus, Gott. 5 In unserem Bedrängtsein rufen wir zu dir um Hilfe, und du wendest dich nicht ab von unserem Flehen, denn du bist unser Gott. 6 Lass nicht deine Hand auf uns lasten, damit wir nicht aus Not sündigen. 7 Und wenn du dich auch nicht uns zuwendest, werden wir nicht abweichen, sondern zu dir kommen. 8 Denn wenn ich hungere, so schreie ich zu dir, Gott, und du wirst mir geben.

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  Die obige Beschreibung der Position der Psalmen Salomos im Kanon macht deutlich, wie ungenau und anachronistisch Bestimmungen wie »biblisch« oder »kanonisch« sind. Gemeint ist hier der Psalter des rabbinischen Kanons und der Lutherbibel, die Aussage trifft aber, mutatis mutandis, genauso auf den Psalter von Septuaginta und Vulgata zu. 25   Kaiser: Tradition, 332. 26   Die Übersetzung wie auch die Unterteilung in Halbverse basiert auf der Edition des griechischen Textes von Robert B. Wright: The Psalms of Solomon. A Critical Edition of the Greek Text, London 2007. Für deutsche Übersetzungen von PsSal 5 vgl. ferner Holm-Nielsen: Die Psalmen, 73–75; Wolfgang Kraus/Martin Karrer (Hrsg.): Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, 920; Kaiser: Tradition, 329–331.

»Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert«

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9 Die Vögel und die Fische ernährst du, durch dein Geben von Regen für Wüsten zum Aufwachsen von Gras, 10 zu bereiten Futter in der Wüste für alles Getier. Und wenn sie hungern – zu dir erheben sie ihr Antlitz. 11 Die Könige und Herrscher und Völker ernährst du, Gott. Und des Armen und Elenden Hoffnung, wer ist sie, wenn nicht du, Herr? 12 Und du wirst erhören, denn wer ist gütig und mild außer dir,zu erfreuen die Seele des Niedrigen im Öffnen deiner Hand in Barmherzigkeit? 13 Die Güte des Menschen ist sparsam und morgen (erst da),27 und wenn er sie wiederholt ohne Murren, so ist dies verwunderlich. 14 Deine Gabe aber ist viel Güte und reich, und wessen Hoffnung auf dich ist, dem wird es an Gabe nicht mangeln. 15 Über die ganze Erde ist deine Barmherzigkeit, Herr, in Güte. 16 Selig, wessen Gott gedenkt im rechten Maß des Genügens. Wenn der Mensch Überfluss empfängt, sündigt er. 17 Ausreichend ist das in Gerechtigkeit Zugemessene, und darin liegt der Segen des Herrn, zur Sättigung in Gerechtigkeit. 18 Es freuen sich, die den Herrn fürchten, an Gütern, und deine Güte über Israel in deinem Königreich! 19 Gepriesen sei die Herrlichkeit des Herrn, denn er ist unser König.«

Thema des Psalms sind Gottes Güte und Barmherzigkeit. Beide Leitworte werden in V. 2 angeschlagen (»χρηστὸς καὶ ἐλεήμων«/»gütig und barmherzig«) und klingen in der zweiten Hälfte des Liedes immer wieder an, so in V. 12–15 und 18. Freilich wird dieses Thema unterschiedlich variiert: Gottes Güte äußert sich in seiner speisenden Fürsorge für die ganze Schöpfung, die, wenn sie Tiere, Könige und Herrscher umfasst, auch den armen und elenden Beter mit einschließt (V. 8–12). Dem gegenüber steht die unzuverlässige und unvollkommene menschliche Güte (V. 13f.), während die Güte Gottes die ganze Welt umfängt (V. 15) und somit auch für Israel erfleht wird (V. 18b). Die klassischen Gattungskriterien wollen sich auf diesen Psalm nicht ohne weiteres anwenden lassen: Wiewohl anhebend mit einer Ankündigung des Gotteslobs, die in V. 2a begründet wird, folgt doch in V. 2b unvermittelt 27

  Im Griechischen: »Ἡ χρηστότης ἀνθρώπου ἐν φειδῷ καὶ ἡ αὔριον.« Hier liegt vermutlich eine Textverderbnis vor, die sich aber kaum noch heilen lassen dürfte. Von Gebhardt vermutet eine Fehllesung im Hebräischen: ‫ ובקר‬sei fälschlicherweise als ‫ וַ ּבֺ  ֶקר‬verstanden worden, »während ‫ וּ  ְב   ֺ   ק ר‬beabsichtigt war« (Oscar von Gebhardt: Die Psalmen Salomos. zum ersten Male mit Benutzung der Athoshandschriften und des Codex Casantensis, Leipzig 1895, 106). Dem entspreche im Griechischen »καὶ ψυχρότητι (in Kaltsinn, Gleichgültigkeit)« (ebd.). Dieser Lesart, »[d]ie Güte des Menschen ist sparsam und ‹herzlos›«, folgt etwa Kaiser: Tradition, 331.

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eine Bitte, die man eher in einem Klagepsalm vermuten würde – der Formulierung nach ganz konkret etwa in Ps 28,1, ähnlich Ps 35,22; 39,13; 109,1.28 Diese wiederum wird in V. 3f. zweifach begründet – einmal mit Verweis auf Gottes freie und gütige Macht, Bitten zu erhören (V. 3), einmal mit Verweis auf des Menschen Los oder Teil (μερίς) und die – wohl bereits getroffene – Vorentscheidung (κρίμα) Gottes. Beides zusammen ist gedanklich nicht unbedingt konsistent.29 Mit V. 5 erhebt nun eine Pluralgruppe die Stimme, die bis V. 7 zunächst ihre Erhörungsgewissheit ausdrückt, auf der Basis dieses Vertrauensbeweises eine allgemeine und begründete Bitte um Rettung formuliert, um dann, und das ist im Kontext eines Klage- und Bittpsalms vielleicht am außergewöhnlichsten, bereits die anhaltende Frömmigkeit selbst für den Fall der verweigerten Erhörung zu geloben. In V. 8 dagegen hört man wieder die Einzelstimme des Beters von V. 1f., der nun gleichsam nach V. 3f. noch eine dritte Begründung zur Bitte von V. 2 nachreicht: Das Vertrauen in die Hilfe Gottes bei Hungersnot, das schöpfungstheologisch fundamentiert ist (V. 8–12). In eher weisheitlichem Duktus werden sodann in V. 13f. antithetisch menschliche und göttliche Güte gegenübergestellt, ehe V. 15 erneut hymnisch die creatio continua in den Blick nimmt. Hier klingt alles nach Fülle und Überfluss (vgl. V. 14: »πολὺ μετὰ χρηστότητος καὶ πλούσιον«/»viel Güte und reich«); der Makarismus von V. 16f. dagegen rückt den Überschwang wieder ein wenig ins Lot – gepriesen wird, weisheitlich-philosophisch, das rechte Maß: Nil nimis! Ein dreifacher Schluss fasst schließlich bekennend, bittend und lobend das Wohlergehen der Frommen (V. 18a), den Wunsch nach Errettung Israels und die Königsherrschaft Gottes zusammen. Es ist offensichtlich: Der Psalm ist ein Kompositum. Es ist durchaus möglich, hier eine Grundschicht aus einem Individualpsalm von einer kollektivierenden Bearbeitung abzuheben, wie sie auch aus dem Psalter bekannt ist.30 Kaiser etwa hebt entsprechend V. 5–7 und 18f. als sekundäre Schicht ab, die das Hungerproblem des Grundpsalms auf allgemeine Drangsal hin generalisieren.31 Diese Beobachtung lässt sich freilich noch weiterführen. Die 28

  Vgl. Holm-Nielsen: Die Psalmen, 73.   Kaiser spricht, mit Verweis auf Gerhard Maier, von einer »eigentümlichen kontextuellen Gebrochenheit der prädestinatianischen Aussage« (Kaiser: Tradition, 329). 30   Vgl. dazu etwa Marko Marttila: Collective Reinterpretation in the Psalms. A Study of the Redaction History of the Psalter, Tübingen 2006. 31   Vgl. Otto Kaiser: Beobachtungen zur Komposition und Redaktion der Psalmen Salomos, in: Frank-Lothar Hossfeld/Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hrsg.): Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments. Festschrift für Erich Zenger, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien/ Barcelona/Rom/New York 2004, 362–378, 376, offensichtlich mit einem Versehen auf der zweiten Hälfte der Seite: Während zunächst von V. 5–7 als kollektivierender 29

»Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert«

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dreifache Begründung der Klage des (individuellen) Beters in V. 3f. und 8 ließe sich als Indiz daraufhin auswerten, die doppelte Reflexion einer weiteren Hand – oder zweier weiterer Hände – zuzuschreiben und im Grundbestand V. 8 als ursprünglichen Anschluss an V. 2 zu vermuten: Der Bitte, das Schreien zu erhören, folgt der Schrei selbst. Ähnlich wie mit V. 3f. verhält es sich mit den Reflexionsversen 13f., die V. 12 auslegen und den Anschluss von 15 an 12 unterbrechen, sowie mit der weisheitlich einschränkenden Seligpreisung von V. 16f. V. 18 dagegen sollte – anders als Kaiser dies vorschlägt – dem möglichen Grundbestand eines Individualpsalms in PsSal 5 nicht genommen werden, wollte man ihn nicht als einen bloßen Torso definieren. Der Vers ist der erforderliche Abgesang, der den Bogen schlägt zur Gemeinde der Frommen, in welcher sich der Beter bereits in V. 1 situiert hat. Diese Kollektivperspektive ist eher nicht das Ergebnis einer sekundären Bearbeitung. Alle Beobachtungen zusammengenommen ergäbe sich somit der literarische Grundbestand eines individuellen Lob- wie Bittpsalms folgenden Umfangs: »1 Herr, Gott, ich will deinen Namen loben mit Jubel inmitten derer, die deine gerechten Urteile kennen, 2 denn du bist gütig und barmherzig, die Zuflucht des Armen; in meinem Schreien zu dir schweige nicht über mich. 8 Denn wenn ich hungere, so schreie ich zu dir, Gott, und du wirst mir geben. 9 Die Vögel und die Fische ernährst du, durch dein Geben von Regen für Wüsten zum Aufwachsen von Gras, 10 zu bereiten Futter in der Wüste für alles Getier. Und wenn sie hungern – zu dir erheben sie ihr Antlitz. 11 Die Könige und Herrscher und Völker ernährst du, Gott. Und des Armen und Elenden Hoffnung, wer ist sie, wenn nicht du, Herr? 12 Und du wirst erhören, denn wer ist gütig und mild außer dir, zu erfreuen die Seele des Niedrigen im Öffnen deiner Hand in Barmherzigkeit? 15 Über die ganze Erde ist deine Barmherzigkeit, Herr, in Güte. 18 Es freuen sich, die den Herrn fürchten, an Gütern, und deine Güte über Israel in deinem Königreich!«

Dieses Gebet wurde intensiv und durchaus unterschiedlich bearbeitet – weisheitlich reflektierend ebenso wie kollektivierend. Das heißt, seine vorgegeReinterpretation gesprochen wird, ist es wenig später 5–8, während der »Grundbestand« in V. 1–4.9–17 ausgemacht wird; vgl. ähnlich Joachim Schüpphaus: Die Psalmen Salomos. Ein Zeugnis Jerusalemer Theologie und Frömmigkeit in der Mitte des vorchristlichen Jahrhunderts, Leiden 1977, 145, der freilich V. 5–7 als ursprünglichen Anfang von PsSal 7 bestimmt.

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benen Gebetssätze wurden vor dem Hintergrund der Lebenswirklichkeit der Ergänzer neu gelesen, aktualisiert und kommentiert. Dieser Vorgang des Fortschreibens nicht nur von Einzelpsalmen, sondern auch und gerade von Einzelversen aus einzelnen Psalmen, wie etwa im vorliegenden Fall des Gedankens der Fülle durch die korrigierenden Verse 16f., ist auch aus der Redaktionsgeschichte der biblischen Psalmen bestens vertraut – und er ist hermeneutisch nicht weit entfernt von Baldermanns Umgang mit Einzelversen im Religionsunterricht. Es lässt sich aber noch ein weiterer gedanklicher Schritt gehen. Bereits der – hypothetische – herausgearbeitete Grundpsalm von PsSal 5 ist weniger frei inspirierte Autorendichtung als vielmehr selbst schon ein Kompositum aus Vorgegebenem. Holm-Nielsen zeigt in den Anmerkungen seiner Textausgabe der Psalmen Salomos wunderbar, wie nahezu jeder Einzelvers und jede Einzelaussage imprägniert ist von »biblischen« Vorlagen: Das Lobgelübde von V. 1 – in einem »klassischen« Klagepsalm üblicherweise am Ende – steht sprachlich Ps 22,23; 109,30 nahe. Die Parallelstellen zu V. 2b – Ps 28,1; 35,22; 39,13; 109,1 – wurden oben bereits aufgeführt, und das Lob der göttlichen Fürsorge von V. 9–12.15 speist sich im wahrsten Sinne des Wortes aus Ps 145 und 147.32 Doch sosehr der Verfasser des Kerns von PsSal 5 auf ihm vertraute, überlieferte Wendungen und Gedanken zurückgreift, sein Dichten und Beten erschöpft sich nicht in einer bloßen Repetition seiner Vorlagen. Sie werden von ihm vielmehr gelesen oder erinnert, meditiert und vor dem Hintergrund der eigenen existentiellen Erfahrung erneut artikuliert – in Gestalt eines solcherart ebenso neuen wie alten Gebetes. Auf diese Weise vollzieht sich Psalmen-Bildung im ersten vorchristlichen Jahrhundert – und auf diese oder ähnliche Weise hat sich Psalmen-Bildung in den Jahrhunderten davor ebenso vollzogen wie in den Jahrhunderten danach. Zahlreiche »biblische«, alt- wie neutestamentliche Stücke ließen sich dafür ebenso als Beispiele aufführen wie die hymnischen Texte aus Qumran, etwa die berühmten Hodayot, die insbesondere auch das Jesaja- und Jeremiabuch als Quelle nutzen.33

4. »Und er schrieb Psalmen:    Dreitausendsechshundert« Das berühmte Zitat aus der Psalmenrolle der Höhle 11 von Qumran, 11QPsa (11Q5), stammt aus dem Abschnitt gegen Ende der Handschrift, der als »David’s Compositions« bekannt ist. David, so erfährt man dort, habe nicht we32

  Vgl. Holm-Nielsen: Die Psalmen, 73f.   Zu den mutmaßlich nichtliturgischen poetischen Texten aus Qumran vgl. einleitend Peter Porzig/Géza X. Xeravits: Einführung in die Qumranliteratur. Die Handschriften vom Toten Meer, Berlin/Boston 2015, 204–216. 33

»Und er schrieb Psalmen: dreitausendsechshundert«

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niger als 3.600 Psalmen (‫ )תהלים‬und 446 Lieder (‫» )שיר‬geschrieben« (‫ויכתוב‬, Zeile 4) oder »gesagt« (‫דבר‬, Zeile 11), und zwar »durch prophetische Gabe« bzw. »wie Prophetie« (‫כנבואה‬, Zeile 11). Der biblische Psalter enthält bekanntlich in seiner masoretischen Fassung 150, in der Septuaginta 151 Psalmen. Wo sind all die anderen? Ein Teil dieser 3.450 findet sich nach dem mutmaßlichen Selbstverständnis der Verfasser von 11Q5 innerhalb der genannten Rolle selbst – in Form des dort aufgeführten »Überschuss[es]«34 gegenüber dem masoretischen Psalter. Weitere ließen sich in den Handschriften mit »nicht-kanonischen Psalmen«35, 4Q380 und 4Q381, ausmachen. Doch abgesehen von konkret bestimmbaren Einzeltexten, wie sie auch, trotz ihrer auf Davids prominenten Sohn bezogenen Überschrift, die 18 Psalmen Salomos darstellen könnten, hat die Notiz von »David’s Compositions« wohl noch einen weiteren hermeneutischen Horizont. Sie versteht den »Kanon« davidischer Psalmen als prinzipiell offen – und die Texte selbst als geistgewirkt, inspiriert und daher einerseits der interpretierenden Auslegung zugänglich, andererseits aber nicht weniger lebendig in die eigene Gegenwart hineinwirkend. Auch aktuell »neu« gebildete Psalmen können so »Psalm Davids« werden, gesprochen von diesem »wie Prophetie« (‫)כנבואה‬. Was hat diese Beobachtung zur Psalmen-Bildung der letzten zwei vorchristlichen Jahrhunderte nun mit Ingo Baldermanns didaktischem Ansatz zu tun? Der Vergleichspunkt liegt in der Hermeneutik. Hier wie dort werden Einzelverse der überlieferten Gebetsliteratur aufgegriffen und vor dem Hintergrund der eigenen Existenz neu gedeutet. Vorausgesetzt ist dabei die Annahme, dass diese Überlieferungen dazu geeignet sind – dass sie von dem reden, »was uns unbedingt angeht«, bzw. in prophetischem Geist gesprochen oder aufgeschrieben sind. Im Raum der Überlieferung vollzieht sich nun Psalmen-Bildung als ein reziprokes Geschehen: als Bildung, Formulierung »neuer« Texte ebenso wie als Bildung derjenigen, die ihrer eigenen Existenz im Lichte dieser Texte bewusst werden – bei mutmaßlich männlichen Schriftgelehrten des zweiten und ersten vorchristlichen ebenso wie, unter in vielerlei Hinsicht gänzlich anderen Voraussetzungen, bei Grundschulkindern des frühen 21. nachchristlichen Jahrhunderts. Aus der bloßen Tatsache, dass eine hermeneutische Herangehensweise eine lange Tradition hat, auf die Angemessenheit dieser Methode zu folgern, wäre freilich ein naturalistischer Fehlschluss. Die vorgebrachten knappen Beobachtungen zur produktiven Psalmenrezeption in PsSal 5 vermögen weder, Baldermanns Hermeneutik zu rechtfertigen, noch gar, seine Didaktik als »richtig« zu beweisen. Sie können aber vielleicht dazu beitragen, den 34

  A.a.O., 205.   Vgl. a.a.O., 206f.

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Vorwurf zu relativieren, die existentielle Aneignung von aus ihrem Kontext herausgelösten biblischen Einzelversen sei per se diesen nicht angemessen. Sie ist ihnen – als eine unter anderen Lesarten – insofern adäquat, als es die hermeneutische Praxis ist, die auf Psalmen als Gebetstexte seit ihrem Entstehen angewandt worden ist und die jüdische wie christliche Psalmenrezeption in »nachbiblischer Zeit« auf vielerlei Art geprägt hat. Das Fortschreiben von »Davids« Psalmen im Lichte der aktuellen existentiellen Situation des Rezipienten ist ebenso unabgeschlossen wie das Fortschreiben der je eigenen Existenz im Lichte der als »angehend« erfahrenen überlieferten Texte. Beides ist Psalmen-Bildung. Baldermanns Ansatz ist eine Möglichkeit, diesem Geschehen gerecht zu werden.

»Sei gegrüßt, Philosoph!« Kirchenhistorische Reflexionen zum Verhältnis von Identität und Dialog1 Katharina Bracht

»Eines Morgens ging ich in den Säulengängen […] spazieren, als jemand zu mir trat, zusammen mit noch anderen. ›Sei gegrüßt, Philosoph!‹, sagte er. Und im gleichen Augenblick, als er das sagte, kehrte er um und ging mit mir […]. ›Wer aber unter den Sterblichen bist du, Bester?‹, so fragte ich ihn scherzend. Er verriet mir schlicht Namen und Herkunft: ›Ich heiße Tryphon‹, sagte er, ›ich bin ein Hebräer aus der Beschneidung, der vor dem derzeitigen Krieg flieht, und halte ich mich meistens in Griechenland […] auf‹.«2

Mit diesen Worten lässt der Kirchenschriftsteller Justin (ca. 100–165 n. Chr.) vor gut 1.860 Jahren seine Schrift »Dialog mit dem Juden Tryphon«3 beginnen. Er erzählt weiter, wie sich im Anschluss an diese ersten Worte ein Dialog zwischen Tryphon, dem jüdischen Flüchtling vor dem Bar-Kochba-Krieg, und Justin, dem christlichen Philosophen, entspinnt. Die Szene führt uns mitten hinein in den weltanschaulichen Pluralismus der damaligen Zeit: Judentum, Christentum und pagane Philosophie – drei weltanschauliche bzw. 1

  Der vorliegende Beitrag geht auf ein Referat beim Studientag der Theologischen Fakultät Jena am 03. Februar 2016 unter dem Titel »Identität & Dialog. Religiöse Bildung in der pluralen Gesellschaft« zurück. Der Vortragscharakter wurde wegen der aktuellen Bezüge bewusst beibehalten. 2   Iust. dial. 1,1.3. Vgl. im Griechischen: »Περιπατοῦντί μοι ἕωθεν ἐν τοῖς […] περιπάτοις συναντήσας τις μετὰ καὶ ἄλλων· Φιλόσοφε, χαῖρε, ἔφη. καὶ ἅμα εἰπὼν τοῦτο ἐπιστραφεὶς συμπεριεπάτει μοι· […] Τίς δὲ σύ ἐσσι, φέριστε, βροτῶν; Οὕτως προσπαίζων αὐτῷ ἔλεγον. Ὁ δὲ καὶ τοὔνομά μοι καὶ τὸ γένος ἐξεῖπεν ἁπλῶς. Τρύφων, φησί, καλοῦμαι· εἰμὶ δὲ Ἑβραῖος ἐκ περιτομῆς, φυγὼν τὸν νῦν γενόμενον πόλεμον, ἐν τῇ Ἑλλάδι τὰ πολλὰ διάγων«. Der gesamte Text ist zugänglich bei Miroslav Marcovich (Hrsg.): Iustini Martyris Dialogus cum Tryphone, Berlin/New York 1997; Zitat a.a.O., 69,1–70,2. Den griechischen Text der beiden im Folgenden auch zur Sprache kommenden Apologien Justins bietet Miroslav Marcovich (Hrsg.): Iustini Martyris Apologiae pro Christianis, Berlin/New York 1994. 3   Sie ist auf ca. 155/160 n. Chr. zu datieren, vgl. Stefan Heid: Iustinus Martyr I., in: Das Reallexikon für Antike und Christentum. Band 19 (2001), 801–847, 805; sie wurde nach der Ersten Apologie verfasst, denn Justin bezieht sich an einer Stelle darauf (vgl. dial. 120,6 mit Bezugnahme auf 1apol. 26).

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religiöse Richtungen kommen in nur zwei Personen, nämlich Justin und Tryphon, zusammen. Beide geben bereitwillig jedem, der es wissen oder auch nicht wissen will, Auskunft über ihre Identität: Justin trägt tagaus, tagein den Philosophenmantel,4 Tryphon macht sich Justin als »Hebräer aus der Beschneidung«5 bekannt. Damit sind bereits die zentralen Begriffe des vorliegenden Beitrags gefallen – Identität und Dialog. Ich möchte auf den folgenden Seiten von einem kirchenhistorischen, spezifisch patristischen Standpunkt aus reflektieren, wie sich diese beiden Größen zueinander verhalten, und gliedere meine Ausführungen daher in die folgenden drei Abschnitte: »Warum ›kirchenhistorische Reflexionen‹?« (Abschnitt 1), »Justin als christlicher Lehrer im Dialog, i. mit der paganen Philosophie, ii. mit dem Judentum« (Abschnitt 2) sowie »Das Verhältnis von Identität und Dialog in kirchenhistorischer Reflexion« (Abschnitt 3).

1. Warum »kirchenhistorische Reflexionen«? Der Historiker Jörn Rüsen beschreibt in seinem Buch »Historische Vernunft« von 1983 mit einem Bild, warum Menschen Geschichte treiben: »Die Vergangenheit ist gleichsam der Wald, in den die Menschen historisch erzählend hineinrufen, um mit dem, was dort herausschallt, das zu begreifen, was ihnen als Zeiterfahrung gegenwärtig ist (genauer: auf den Nägeln brennt), und um dadurch Zukunft sinnvoll erwarten und entwerfen zu können.«6

Dieses Bild vom »Wald der Vergangenheit« halte ich für überaus geeignet, auch zu beschreiben, was geschieht, wenn wir Kirchengeschichte betreiben: Wenn wir Vergangenes erinnern, es deuten und mit unseren Gegenwartserfahrungen in Verbindung bringen, dann wird das Vergangene zu einem Teil von uns, das heißt es trägt zur Ausbildung unserer Identität bei. Nach Rüsen erzählt der Geschichtswissenschaftler Vergangenes. Im von ihm so genannten »historischen Erzählen« sieht Rüsen geradezu ein »Medium der menschlichen Identitätsbildung«7. Er bezeichnet mit diesem Begriff eine Darstellung von Vergangenheit, die mit dreifachem Ziel vorgenommen wird: Zum einen soll Vergangenes erinnernd gedeutet werden, zum anderen soll es bewusst mit Gegenwartserfahrungen in Verbindung gebracht werden, 4

  Vgl. Iust. dial. 1,12.   Iust. dial. 1,3. 6   Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, 54. 7   A.a.O., 57. 5

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um diese verständlich zu machen, und zum Dritten soll beides der Orientierung im Blick auf die gegenwärtige und künftige Lebenspraxis dienen.8 Nach Rüsen zielt die Aneignung von Vergangenheit also darauf, Orientierung in unserer jeweils aktuellen Lebenspraxis zu finden. Freilich ist es keinem Historiker möglich, die gesamte Vergangenheit zu erzählen oder auch nur wahrzunehmen, denn die Menge der vergangenen Ereignisse und Erfahrungen ist zu groß. Sie wird eingeschränkt durch den Begriff der Tradition, die einen »Pool« an Vergangenem bereitstellt, von dem Deutungskompetenz erwartet wird.9 Doch selbst aus dem Überlieferungsfundus der Tradition muss der Historiker noch eine Auswahl treffen und gewisse Kriterien in Anschlag bringen, um zu entscheiden, welche Ereignisse der Vergangenheit er (historisch) erzählt und welche er dem Vergessen preisgibt.10 Seine Auswahl wird von Werten und Normen bestimmt, die sich nicht unmittelbar aus dem Tatsachengehalt historischer Forschung ergeben, sondern die er von außen an seinen Gegenstand heranträgt.11 Er kann nicht umhin, von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus in die Vergangenheit zurückzublicken, und sein Wahrnehmungs- und Forschungsinteresse wird von dieser spezifischen Perspektive bestimmt: Er wählt solche Erfahrungen bzw. Ereignisse als Gegenstand seiner historischen Erzählung aus, von denen er erwartet, dass sie zur Deutung seiner aktuellen Lebenspraxis beitragen können.12 Die Werte und Normen, die er an seinen Gegenstand heranträgt, bestimmen, ob er die jeweilige Vergangenheitserfahrung positiv oder negativ deutet, ob er sie mit Abgrenzung oder Zustimmung erzählt, kurz: den Gegenwartsbezug des Erzählten.13 Wenn wir rechtschaffen Wissenschaft betreiben wollen, dann dürfen wir diesen Sachverhalt nicht »unter den Teppich kehren« und uns der Illusion hingeben, wir würden »objektive« Forschungsergebnisse erzielen – nicht nur verifizierbar und reproduzierbar, sondern auch völlig unabhängig von der Person des Forschers. Vielmehr sollte der Historiker sich seine je eigene Perspektive durch eine Standpunktreflexion bewusst und sie auch anderen gegenüber transparent machen.14 8

  Vgl. a.a.O., 52–57.   Vgl. a.a.O., 73–75. 10   Nach a.a.O., 75, ist das Geschichtsbewusstsein durch das »Wechselspiel von Erinnern und Vergessen« geprägt. 11   Vgl. a.a.O., 98–108. 12   Vgl. a.a.O., 102: »Vom Standpunkt in der Gegenwart wird die Perspektive auf die Vergangenheit entworfen, in der diese dann als Geschichte erscheint.« 13   Vgl. a.a.O., 103. Diese Werte- und Normensysteme kommen im Wechselspiel von Tradition und ihrer kritischen Reflexion zustande. 14   A.a.O., 100, definiert Rüsen den von ihm eingebrachten Begriff der Standpunktreflexion als »eine Regelung des historischen Erkenntnisprozesses, durch den die 9

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Wenn ich das, was Jörn Rüsen für die profane Geschichtswissenschaft entwickelt, auf die Kirchengeschichtswissenschaft anwende, kann ich formulieren: Der Kirchengeschichtswissenschaftler erzählt Vergangenes von Christen und der Kirche. Auch er vollzieht im Erzählen die Aneignung des Vergangenen, das so zu seiner eigenen Geschichte und zu einem Teil seiner Identität wird. Auch er vollzieht mit der Erinnerung an das Vergangene eine – methodisch kontrollierte – Deutung desselben, um seine Gegenwart besser zu verstehen und Orientierung im Blick auf seine künftige Lebenspraxis zu gewinnen. Und genau wie der Profanhistoriker muss auch er eine Standpunktreflexion vornehmen, um sich der Werte und Normen bewusst zu werden, die ihn bei der Auswahl, der Bewertung und der Deutung des zu Erinnernden lenken. Aus diesen zunächst allgemeinen Erwägungen im Anschluss an Rüsen folgt für den vorliegenden Beitrag konkret, dass ich transparent zu machen habe, von welchem spezifischen Standpunkt aus ich als Kirchenhistorikerin an der Jenaer Theologischen Fakultät auf meinen Gegenstand blicke. Da in diesem beschränkten Rahmen eine ausführliche, um Vollständigkeit bemühte Standpunktreflexion nicht möglich ist, will ich nur drei Aspekte hervorheben: • Ausschlaggebend für die Themenwahl für diesen Beitrag war das Thema des Studientages der Theologischen Fakultät 2015, »Identität und Dialog«. Meine Entscheidung, mich in die Vorbereitung und Gestaltung des Studientages einzubringen, hatte ihren konkreten Anlass in einer Diskussion, die etwa ein Jahr zuvor in der örtlichen Presse geführt wurde. In Reaktion auf Forderungen nach einem islamischen Religionsunterricht an Thüringer öffentlichen Schulen hatte der Jenaer Ethiker Nikolaus Knoepffler für ein weltanschaulich neutrales Fach »Philosophie und Religion« anstelle eines von den Religionsgemeinschaften verantworteten schulischen Religionsunterrichts plädiert.15 In den folgenden Wochen wurden in der örtlichen Presse zahlreiche kontroverse Leserbriefe zum Thema veröffentlicht. • Den allgemein-gesellschaftlichen Hintergrund dieser Diskussion bildet der weltanschauliche Pluralismus im Osten Deutschlands.16 Er verlangt den Menschen Perspektivik der historischen Erkenntnis eingesehen, auf normative Optionen in der Lebenspraxis der Historiker und ihrer Adressaten zurückgeführt und die damit grundsätzlich eröffnete Vielfalt von Perspektiven in das Verhältnis einer argumentativen wechselseitigen Kritik und Ergänzung gebracht wird.« 15   Vgl. Christian Voigt: Jenaer Professor Knoepffler: Islam-Unterricht ist der falsche Weg, in: Thüringische Landeszeitung vom 6. Februar 2015, online: www.tlz.de/web/ zgt/leben/detail/-/specific/Jenaer-Professor-Knoepffler-Islam-Unterricht-ist-der-falsche-Weg-1523599943 (15. Dezember 2017). 16   Nach Erhebungen der Deutschen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland und der

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ein besonderes Orientierungsvermögen in weltanschaulichen und religiösen Angelegenheiten ab. • Daher stehen die Bildungsverantwortlichen vor der Herausforderung, wie sie Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu dieser Orientierung in der weltanschaulichen Vielfalt befähigen können, sowohl im Rahmen des schulischen Bildungsauftrags als auch an der Universität oder in der Erwachsenenbildung.

Mein Standpunkt als Verfasserin dieses Beitrags ist also von der allgemeinen weltanschaulich pluralen Situation in Ostdeutschland und insbesondere von der Diskussion um den richtigen Weg, darin die Bildungsverantwortung wahrzunehmen, geprägt. Mein Forschungsinteresse richtet sich daher auf analoge Situationen weltanschaulicher Pluralität in der Vergangenheit – als Patristikerin blicke ich insbesondere in die Antike. Für mich ist die plurale Gesellschaft des antiken Rom der »Wald der Vergangenheit«, in den ich, historisch erzählend, hineinrufen möchte, in der Hoffnung, dass wir mit dem, was dann wieder herausschallt, das, was uns »auf den Nägeln brennt«17 – nämlich die Frage nach religiöser Bildung in der weltanschaulich pluralen Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland aus dem Jahr 2016 sowie einer Hochrechnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz zum Stand 31. Dezember 2015 gehörte im Jahr 2016 mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland einer christlichen Kirche an, nämlich insgesamt ca. 58 % (48 Millionen Einwohner). Im Einzelnen gehörten 28,1 % der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche, 26,5 % einer Gliedkirche der EKD, 0,4 % einer evangelischen Freikirche, 2,4 % einer orthodoxen und 0,7 % einer anderen christlichen Kirche an. Daneben waren 5,4 % der Bevölkerung (4,5 Millionen Einwohner) Muslime und 1,2 % (99.000 Einwohner) Juden. 36 % der Bevölkerung (29.850.000 Einwohner) waren konfessionslos oder andersgläubig, vgl. als Grundlage dieser Zahlen bzw. Berechnungen die Zusammenstellung des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Katholische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten 2016/17, Bonn 2017, 6f. Die Volkszählung 2011 ergab für Gesamtdeutschland im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu den beiden Religionsgemeinschaften öffentlichen Rechts noch etwas höhere Zahlen (31,2 % römisch-katholische Kirche, 30,8 % evangelische Kirche, 38,0 % einer anderen oder keiner Religionsgemeinschaft angehörig), vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.): Zensus 2011. Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit, Familienstand und Religionszugehörigkeit. Endgültige Ergebnisse, Bad Ems 2014, 41–44. In den neuen Bundesländern gehörten dem Zensus zufolge durchschnittlich doppelt so viele Einwohner wie im gesamtdeutschen Durchschnitt einer anderen oder keiner Religionsgemeinschaft an, nämlich 76 % der Bevölkerung. In Thüringen ist die Spanne besonders groß: Einerseits ist hier der Anteil an der Bevölkerung, der einer sonstigen oder keiner Religionsgemeinschaft angehört, mit 67,6 % im Landesdurchschnitt am kleinsten unter den neuen Bundesländern (vgl. a.a.O., 42), doch findet sich zugleich in der thüringischen Stadt Gera mit 87,4 % der bundesweit höchste Anteil von Angehörigen einer sonstigen bzw. keiner Religionsgemeinschaft (vgl. ebd.). 17   Rüsen: Historische Vernunft, 54.

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Gesellschaft –, besser begreifen und vielleicht sogar eine Zukunftsorientierung versuchen können.

2. Justin als christlicher Lehrer im Dialog… 2.1 … mit der paganen Philosophie Justin, seit alters bekannt unter dem Beinamen »Philosoph und Märtyrer«,18 wurde um das Jahr 100 n. Chr. in Flavia Neapolis geboren (heute Nablus, das antike, samaritanische Sichem). Er zählte nicht zur traditionellen Bevölkerung, die aus Juden oder Samaritanern bestand, sondern stammte aus einer heidnisch-griechischen Familie. Justin war nämlich nach eigener Auskunft unbeschnitten.19 Nach dem Bar-Kochba-Aufstand, das heißt nach dem Jahr 135, siedelte Justin nach Rom über. Seine Bekehrung zum Christentum erlebte er freilich noch in Samarien. Als junger Mann war er von großem Wissensdurst beseelt, wie er selbst berichtet.20 Er wollte die Wahrheit wissen. Auf seiner Suche nutzte er das reiche Angebot, das die plurale Gesellschaft des römischen Reiches ihm bot, und wendete sich an Vertreter der großen Philosophenschulen.21 Doch weder bei der stoischen und peripatetischen, noch bei der pythagoreischen Philosophie sei er fündig geworden, obwohl er nach seiner eigenen Auskunft jeweils hervorragende Lehrer der jeweiligen Schule besuchte. Erst bei den Platonikern sei er so einigermaßen zufrieden gewesen, längere Zeit dort geblieben und tiefer in die Gedankenwelt Platons eingedrungen. Doch dann sei ihm – nach seiner stilisierten Schilderung22 – bei einem einsamen Spaziergang in der Nähe des Meeres ein alter Mann begegnet, der ihm dargelegt habe, dass alle philosophischen Antwortversuche auf die Frage nach der Wahrheit unzulänglich seien. Zugleich habe ihn der Greis auf die Propheten und auf Jesus Christus aufmerksam gemacht, das heißt auf das Alte Testament, in dem Christus bereits geweissagt sei. Justin berichtet: »Mir aber begann es sofort in der Seele zu brennen und die Liebe zu den Propheten und jenen Männern, welche Freunde Christi sind, erfasste mich. Und als ich 18

  Vgl. erstmals Tertullian, adv. Val. 5,11.   Vgl. Iust. dial. 28,2. 20   Vgl. Iust. dial. 2,1–8,3. 21   Es war damals üblich, mehrere Lehrer verschiedener Provenienz zu hören, vgl. Peter Lampe: Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, Tübingen 21989, 223, mit Verweis auf Galen. 22   Vgl. zum Beispiel Claus Peter Vetten: Justin der Märtyrer, in: Siegmar Döpp/ Wilhelm Geerlings (Hrsg.): Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 32002, 411–414, 413. 19

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bei mir über seine Lehren nachdachte, fand ich darin diese allein überzeugende und nutzenbringende Philosophie.«23

Für Justin ist das Christentum also eine Philosophie,24 und zwar die »allein überzeugende und nutzenbringende«, das heißt brauchbare Philosophie. Deshalb zieht er auch noch nach seiner Bekehrung zum Christentum stets im sog. Philosophenmantel, dem Pallium, das zu jener Zeit die Berufskleidung des philosophischen Lehrers war, umher.25 Als christlicher Philosoph und Lehrer nimmt Justin das interreligiöse Gespräch26 mit Vertretern der anderen wichtigen Weltanschauungen bzw. Religionen seiner Zeit auf: mit paganen Philosophen und jüdischen Schriftgelehrten. Dabei ficht er gewissermaßen nach allen Regeln der rhetorischen Kunst, wie zum Beispiel seine Auseinandersetzung mit dem kynischen Philosophen Crescens zeigt, mit dem er öffentliche Debatten in Rom führt und dabei nach Kräften gegen ihn polemisiert. So beschimpft Justin ihn in einem Wortspiel als »Spektakelmacher und Angeber« (φιλόψοφος καὶ φιλόκομπος), der nur der Menge gefallen wolle,27 und nimmt auch sonst kein Blatt vor den Mund. Gleichwohl – und damit komme ich von der Rhetorik zum Inhalt, von der äußeren Form zum sachlichen Kern – geht es ihm nicht um eine schroffe Ablehnung der paganen Philosophie, nicht um ein Zuschlagen der Tür, nicht um den Abbruch der Kommunikation. Vielmehr knüpft er an philosophische Themen an, nimmt sogar philosophische Motive in sein Denken auf. Er will das, was er als Proprium des Christentums ansieht und was seine Identität als Christ ausmacht, seinem philosophischen Gegner verständlich machen und begibt sich dafür auf das gegnerische Feld. Ein wunderbares Beispiel dafür ist Justins Logoschristologie, wie wir sie seiner Apologie entnehmen können. Der Logos-Begriff war sowohl antiken Christen als auch Nicht-Christen vertraut. Christen kannten ihn aus Joh 1,1: »Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος.« 23

  Iust. dial. 8,1. Vgl. im Griechischen: »Ἐμοὶ δὲ παραχρῆμα πῦρ ἐν τῇ ψυχῇ ἀνήφθη, καὶ ἔρως εἶχέ με τῶν προφητῶν καὶ τῶν ἀνδρῶν ἐκείνων, οἵ εἰσι Χριστοῦ φίλοι· διαλογιζόμενός τε πρὸς ἐμαυτὸν τοὺς λόγους αὐτοῦ ταύτην μόνην εὕρισκον φιλοσοφίαν ἀσφαλῆ τε καὶ σύμφορον« (Marcovich 84,2–6). 24   Gleiches gilt auch für Melito und die anderen Apologeten. 25   Vgl. Euseb, h.e. 4,11,8; weiterhin Iust. dial. 1,2; 9,2; Tertullian, adv. Val. 5. Vgl. auch Heid: Iustinus, 806. 26   Vgl. Hubert Cancik: Antike Religionsgespräche, in: Günther Schörner/Darja Sterbenc Erker (Hrsg.): Medien religiöser Kommunikation im Imperium Romanum, Stuttgart 2008, 15–25, 20. 27   Man beachte das polemische Wortspiel »φιλόσοφος – φιλόψοφος – φιλόκομπος« in Iust. 2apol. 3,1 (Marcovich 140,2f.).

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Für die griechische Philosophie war der Logos-Begriff schon seit Heraklit (um 500 v. Chr.) zentral und wurde von Platon, Aristoteles, der Stoa und dem Neuplatonismus in Variationen verwendet.28 Justin unternimmt es, die griechisch-philosophische Logoslehre auf Christus zu übertragen. Dabei ist ihm der Weg von der jüdischen Weisheitstheologie29 und ihrer Übertragung auf Christus im Neuen Testament30 geebnet worden. Aus dem Logos als dem schon immer vorhandenen rationalen Element wird bei Justin der präexistente Christus-Logos;31 aus dem kosmologischen Prinzip, das die Welt schafft und erhält, wird bei Justin Christus der Schöpfungsmittler. In beiden Eigenschaften wirke der Christus-Logos, so Justin, schon immer in jedem Menschen.32 Jeder denkende Mensch, der mit der Wahrheit zumindest teilweise 28   Vgl. Günter Figal: Logos III. Philosophisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 5 (42002), 498–500. 29   Vgl. Prov 8,22–36 (Sophia als präexistentes, eigenständiges Mittlerwesen zwischen Gott und Welt); slav. Henoch 30,8a (Sophia als Schöpfungsmittlerin). Als ein weiterer jüdischer Einfluss, freilich aus dem hellenistischen Bereich, ist die Logoslehre Philos von Alexandrien zu nennen, vgl. David Winston: Logos and Mystical Theology in Philo of Alexandria, Cincinnati 1985, 14–25; Stefanie Lorenzen: Das paulinische Eikon-Konzept. Semantische Analysen zur Sapientia Salomonis, zu Philo und den Paulusbriefen, Tübingen 2008, 89–97 (da Stellenangaben). 30   Vgl. Kol 1,15–17 (Übertragung von Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft auf Christus); Joh 1,1 (Christus als λόγος). Außerdem steht bei Justins Übertragung des Logos-Begriffs auf Christus die Logoslehre Philos (Übertragung von Sophias Eigenschaften auf den Logos) im Hintergrund. 31   Vgl. Iust. 1apol. 63,3. 32   Die Frage, woher genau Justin seine Lehre vom Logos spermatikos genommen hat, ist in der Forschung umstritten; als Forschungsüberblick vgl. Jörg Ulrich: Innovative Apologetik. Beobachtungen zur Originalität Justins am Beispiel der Lehre vom Logos spermatikos und anderer Befunde, in: Theologische Literaturzeitung 130 (2005), 3–16. Trotz ihrer Verschiedenartigkeit zeigen die folgenden, in der Forschung erwogenen Möglichkeiten allesamt, dass bei Justin mit einer intensiven Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit seiner weltanschaulichen Umwelt zu rechnen ist. So habe Justin entweder die Vorstellung aus dem Mittelplatonismus übernommen, vgl. Carl Andresen: Justin und der Mittlere Platonismus, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 44 (1952/53), 157–195, oder, zweitens, von Philo von Alexandrien, vgl. Ragnar Holte: Logos spermatikos, in: Studia theologica. Scandinavian Journal of Theology 12 (1958), 109–168. Als dritte Möglichkeit wird erwogen, dass er sie aus einer dreifachen Quelle übernommen habe, nämlich aus der Stoa, aus dem Gleichnis vom Sämann Mt 13,1–9 und der im zweiten Jahrhundert verbreiteten Metapher vom Säen und Pflanzen, sowie aus Einflüssen des Mittelplatonismus, vgl. Jan Hendrik Waszink: Bemerkungen zu Justins Lehre vom Logos spermatikos, in: Alfred Stuiber/Alfred Hermann (Hrsg.): Mullus. Festschrift Theodor Klauser, Münster 1964, 380–390, wobei, viertens, die Stoa unter Umständen über Philo vermittelt wurde, vgl. Demetrius C. Trakatellis: The Pre-Existence of Christ in the Writings of Justin Martyr, Missoula 1976, 118–124 und 132. Schließlich kommt fünftens erneut die Stoa als Quelle in Betracht, vgl. Eric Osborn: Justin Martyr and the Logos sper-

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übereinstimme, habe je nach dem Maß seiner Wahrheitserkenntnis mehr oder weniger Anteil an dem Logos, der freilich in seiner Gesamtheit allein Christus innewohne.33 So sei der Logos schon von je her keimhaft in der Welt bzw. in den Menschen angelegt bzw. wie ein Same in allen Menschen ausgesät, die vernünftig (μετὰ λόγου) leben.34 Justin verwendet dafür das stoische Bild des Logos spermatikos, das heißt des samenhaften Logos.35 Deshalb können nicht nur christliche Philosophen wie er selbst, sondern auch vorchristliche Philosophen etwas Wahres lehren, wie zum Beispiel die Stoiker36 oder Sokrates und Heraklit,37 oder auch die Patriarchen und Propheten des Alten Testaments wie Abraham, die drei Jünglinge im Feuerofen und Elia.38 Schon die vorchristlichen Philosophen hatten also teil am Christus-Logos und seien gewissermaßen »Christen vor Christus«39 gewesen. Alles, was an Wahrem in den Lehren der paganen Philosophen stecke, und alles, was die Texte des Alten Testaments an Weissagungen enthalten, führt Justin auf ihre Teilhabe am präexistenten Christus-Logos zurück. So gelingt es Justin, dialogisch an griechische Philosophie anzuschließen und gerade dadurch das Besondere des Christus-Glaubens zu erfassen, matikos, in: Studia missionalia 42 (1993), 143–159. Da aber keine dieser möglichen Quellen eine ausreichende, befriedigende Erklärung bietet, kommt Jörg Ulrich zu dem Schluss: »[D]ie Vorstellung vom Logos-Christus, der schon lange vor seiner Inkarnation den Menschen seine Keime einpflanzt und seinen Samen ins Herz streut, [ist] im Prinzip Justins eigene Schöpfung« (Ulrich: Innovative Apologetik, 10). Ulrich macht dabei deutlich, dass »Anlass besteht, die theologische Eigenständigkeit und Originalität Justins nachdrücklich zu unterstreichen« (a.a.O., 15). Vgl. dazu auch Michael Fiedrowicz: Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn/München/Wien/ Zürich 2000, 42. 33   Vgl. Iust. 2apol. 10. 34   Vgl. Iust. 1apol. 46,4. 35   Vgl. Iust. 1apol. 44,9f.; 2apol. 8,1; 8,3; 10,1–3; 13,3. 36   Vgl. Iust. 2apol. 8,1; vgl. 13,3. 37   Vgl. Iust. 1apol. 46,3. 38   Vgl. Iust. 1apol. 46,2f.: »Dass Christus der Erstgeborene Gottes ist, wurden wir gelehrt, und wir haben dargelegt, dass er der Logos ist, an dem das ganze Menschengeschlecht teilhat. Und jene, die mit dem Logos lebten, waren Christen, auch wenn sie als Gottlose erachtet wurden, wie bei den Griechen Sokrates und Heraklit und solche Leute, und bei den Barbaren Abraham und Ananias und Azarias und Misael [sc. die drei Jünglinge im Feuerofen, vgl. DanLXX/Th 3,88] und Elia, und viele andere […]«. Vgl. im Griechischen: »Τὸν Χριστὸν πρωτότοκον τοῦ θεοῦ εἶναι ἐδιδάχθημεν καὶ προεμηνύσαμεν, Λόγον ὄντα, οὗ πᾶν γένος ἀνθρώπων μετέσχε. Καὶ οἱ μετὰ Λόγου βιώσαντες Χριστιανοὶ ἦσαν, κἂν ἄθεοι ἐνομίσθησαν, οἷον ἐν Ἕλλησι μὲν Σωκράτης καὶ Ἡράκλειτος καὶ οἱ ὅμοιοι αὐτοῖς, ἐν βαρβάροις δὲ Ἀβραὰμ καὶ Ἀνανίας καὶ Ἀζαρίας καὶ Μισαὴλ καὶ Ἡλίας καὶ ἄλλοι πολλοί […]« (Marcovich 97, 7–12). 39   Ulrich: Innovative Apologetik, 8.

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nämlich das universale Heilswirken Christi. Justin nimmt das interreligiöse Gespräch mit anderen Strömungen in der weltanschaulich pluralen Gesellschaft seiner Zeit auf, lässt sich auf ihr Gedankengut ein und formuliert das christlich Besondere in – zunächst – fremden Worten, fremder Sprache. Das Neue, das dadurch entstand, ging in der christlichen Theologie nie mehr verloren: Seit Justin wurde die Präexistenz Christi vorausgesetzt und seither nie mehr angezweifelt.

2.2 … im Dialog mit dem Judentum In seinem »Dialog mit dem Juden Tryphon« – dem ältesten erhaltenen christlichen Dialog40 – setzt Justin diese dialogische Struktur seines theologischen Denkens literarisch in Szene. Schon mit der Wahl der literarischen Gattung macht er deutlich, dass er auf seinen Dialogpartner zugeht: Die Schrift ist nach Art eines platonischen Dialogs gestaltet, so konkret sogar, dass die Rahmenhandlung der des Platonischen »Protagoras« nachgebildet ist.41 Im formalen Redewechsel zwischen Justin und Tryphon spiegelt sich die Unterrichtsmethode des rabbinischen Lehrbetriebs im Beth-ha Midrasch.42 Ob dem Dialog tatsächlich eine »echte« Diskussion zwischen Justin und griechisch sprachigen Juden zugrunde liegt, oder ob es sich um reine Fiktion handelt, ist heute unklar.43 M.E. ist dies für unser Thema irrelevant, denn die literarische Ausgestaltung, die Justin vorgenommen hat, zeigt, worauf es ihm ankommt: Freundlich und achtungsvoll wird er von einem Juden, also einem Vertreter einer anderen Religion, gegrüßt, und er nimmt das Gespräch mit freundlichen Worten auf.44 In der weiteren Entwicklung des Gesprächs bleibt es freilich nicht bei einem freundlichen Small Talk am Wegesrand, sondern es kommt zu ernsthaften, ja scharfen Auseinandersetzungen: Haben die, die an Jesus Christus glauben, ihre Hoffnung auf Gott oder einen Menschen gesetzt?45 Müssen Jungen und Männer beschnitten sein, um zum Heil zu kommen, oder geht es darum, die »Vorhaut des Herzens« zu beschneiden?46 40

  Vgl. Manfred Hoffmann: Der Dialog bei den christlichen Schriftstellern der ersten vier Jahrhunderte, Berlin 1966, 10; Bernd Reiner Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur, München 1970, 26. 41   Vgl. Heid: Iustinus, 804, mit Verweis auf Hoffmann: Der Dialog, 10–28. Vgl. auch Plat. Protag. 339B und Iust. dial. 65,2. 42   Der jüdische Schulbetrieb war seinerseits vom griechischen geprägt, vgl. Heid: Iustinus, 820. 43   Vgl. a.a.O., 804. 44   Vgl. Iust. dial. 1,1.3. 45   Vgl. Iust. dial. 8,3. 46   Vgl. Iust. dial. 15,7; vgl. 43,2.

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Wer hat den maßgeblichen Text der Bibel – haben die Juden etwa bestimmte Passagen daraus gestrichen?47 Justin führt die Auseinandersetzung mit allen rhetorischen Mitteln, und sein fiktiver Dialogpartner Tryphon steht ihm in nichts nach. Doch das Ende des Dialogs ist versöhnlich: Zwar beharren beide Dialogpartner auf ihrem Standpunkt, aber man trennt sich in der Freude darüber, dass der Austausch miteinander für beide von Gewinn gewesen sei: »Nachdem er etwas innegehalten hatte, sagte Tryphon: ›Du siehst, dass es nicht aus Gewohnheit geschah, dass wir zu diesem Gespräch zusammenkamen. Aber ich gestehe, dass ich mich außerordentlich über unser Zusammensein gefreut habe […]. Wir haben nämlich mehr gefunden, als wir erwartet haben und als je erwartet werden konnte. Wenn es aber häufiger wäre, dass wir dies täten und die Lehren selbst verglichen, hätten wir wohl noch mehr Vorteil davon‹.«48

Tryphon wünscht Justin noch alles Gute und geht fort. Justin bleibt zurück und murmelt seinen Wunsch für Tryphon und seine Gefährten: »Nichts Besseres kann ich für euch erbitten, ihr Männer, als dass auch ihr schlichtweg dasselbe tut wie wir und bekennt, dass der unsrige [sc. unser Christus] der Christus Gottes ist!«49

3. Das Verhältnis von Identität und Dialog    in kirchenhistorischer Reflexion Am Ende dieses Beitrags möchte ich den Bogen zum Anfang zurückschlagen. Ich habe, um mit Jörn Rüsen zu sprechen, weit in den »Wald der Vergangenheit« hineingerufen und uns einiges von dem in Erinnerung gerufen und interpretiert, was von Justin, dem Märtyrer und Philosophen, noch bekannt ist. Ich möchte mit zwei Bemerkungen schließen: Ich möchte erstens bündeln, was dort wieder herausgeschallt ist, und zweitens versuchen, das für unsere Zeiterfahrung fruchtbar zu machen. 47

  Vgl. Iust. dial. 73,5.   Iust. dial. 142,1. Vgl. im Griechichen: »Ἐπὶ ποσὸν δὲ ὁ Τρύφων ἐπισχών· Ὁρᾷς, ἔφη, ὅτι οὐκ ἀπὸ ἐπιτηδεύσεως γέγονεν ἐπὶ τούτοις ἡμᾶς συμβαλεῖν. Καὶ ὅτι ἐξαιρέτως ἥσθην τῇ συνουσίᾳ, ὁμολογῶ […]. πλέον γὰρ εὕρομεν ἢ προσεδοκῶμεν καὶ προσδοκηθῆναί ποτε δυνατὸν ἦν. εἰ δὲ συνεχέστερον ἦν τοῦτο ποιεῖν ἡμᾶς, μάλλον ἂν ὠφελήθημεν, ἐξετάζοντες αὐτοὺς τοὺς λόγους« (Marcovich 314,1–6). 49   Iust. dial. 142,3. Vgl. im Griechischen: »Οὐδὲν ἄλλο μεῖζον ὑμῖν εὔχεσθαι δύναμαι, ὦ ἄνδρες, ἢ ἵνα […] πάντως καὶ αὐτοὶ ἡμῖν ὅμοια ποιήσητε, τὸ‹ν› ἡμῶν εἶναι τὸν Χριστὸν τοῦ θεοῦ ‹ὁμολογοῦντες›« (Marcovich 314,15–19). Justin betont hier in Abgrenzung von der jüdischen Messias-Erwartung – die übersetzt in griechische Terminologie eine Christus-Erwartung ist –, dass nach christlichem Glauben Jesus (von Nazareth) der Gesalbte (hebräisch ‫משיח‬, griechisch χριστός) Gottes ist. 48

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Erstens: Justins Dialog mit dem Juden Tryphon, der älteste erhaltene christliche Dialog, gießt um das Jahr 155 n. Chr. in literarische Form, was von der Sache her schon lange vorlag: Die frühen Christen lebten in einer pluralen Gesellschaft, in der es ein großes, konkurrierendes Angebot an Weltanschauungen und Religionen gab, von den verschiedenen Philosophenschulen über diverse religiöse Bewegungen und Kulte bis hin zum Judentum. In dieser Situation zieht sich Justin – wie viele andere – nicht in Stillschweigen und Isolation zurück, sondern ist offen für das Gespräch mit Menschen, die anders denken und glauben als er. Er führt das Gespräch mit großem Engagement und allem rhetorischen Geschick. Damit macht er deutlich, dass er sein Gegenüber, aber auch sich selbst ernst nimmt: Dialog bedeutet für Justin nicht, seine eigene Identität als Christ, das heißt seinen eigenen Glauben aufzugeben, sei es durch Übertritt zum anderen Glaubensstandpunkt, sei es durch unreflektierten Synkretismus. Aber er bemüht sich darum, den anderen die christliche Sache – seine Sache – verständlich zu machen, und lässt sich dafür auf ihre Gedankengänge und ihre Sprache ein. Das Ergebnis ist eine Bereicherung für beide Seiten: Sie kommen zu einem vertieften Verständnis ihres Glaubens und vergewissern sich so ihrer eigenen Identität. Zweitens: Als Kirchenhistorikerin halte ich es für richtig und wichtig, dass Justin, »Philosoph und Märtyrer«, Lehrer und Dialogpartner, nicht als eine für unsere Gegenwart irrelevante Vergangenheit dem Vergessen preisgegeben wird. Vielmehr möchte ich, historisch erzählend, daran erinnern, dass diese Vergangenheit Teil unserer eigenen, christlichen Geschichte ist. Sie macht einen Teil unserer Identität als Christen aus – und das Wissen darum kann uns, so meine ich, in unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation, die im Hinblick auf die weltanschauliche und religiöse Pluralität eine gewisse Analogie zur Umwelt Justins aufweist, Orientierung bieten. Der Fall Justin zeigt: Die Bereitschaft – mehr noch: die Kompetenz – zum Dialog mit Andersgläubigen gehörte schon früh zum Christentum dazu und wird dadurch, dass wir das erinnern, Teil unserer eigenen, historisch gebildeten christlichen Identität. Als gebildeter Christ in einer pluralen Gesellschaft zu leben bedeutet, so verstanden, dialogbereit zu sein und Dialogfähigkeit zu entwickeln. Zur Aufgabe religiöser Bildung in der weltanschaulich pluralen Gesellschaft gehört daher erstens das Erinnern und Aneignen von Vergangenheit – wissenschaftlich-methodisch reflektiert, deshalb im schulischen Religionsunterricht und im universitären Kontext. Zur Bildungsaufgabe gehört aber auch, zweitens,  ein gutes Maß an Wissensvermittlung, denn man braucht solide Kenntnisse über den eigenen und den anderen Glauben, um in so gebildeter, informierter und differenzierter Weise wie Justin und viele nach ihm mit dem jeweils Anderen ins Gespräch kommen. Die Erinnerung an Justin ermutigt zudem, indem sie zeigt, dass die Begegnung mit dem Anderen,

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selbst wenn sie heftig ist, keinen Anlass zur Sorge bieten muss, man könne durch den Dialog die eigene Identität verlieren oder ihrer unsicher werden – ganz im Gegenteil: Sie lässt ein tieferes Verständnis des eigenen Glaubens erwarten. Im Kontext der im ersten Abschnitt genannten Thüringer Diskussion um den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen plädiere ich daher klar für den konfessionellen Religionsunterricht: Ein solcher, aneignender Bezug auf die eigene Geschichte, wie er in diesem Beitrag erläutert wurde, kann nur im konfessionellen Religionsunterricht vorgenommen werden. Ein »weltanschaulich neutrales« Fach, das über Religion bzw. Religionen informiert, kann und will die Aneignung nicht leisten. Daher kann m.E. auch in Zukunft nicht auf einen konfessionellen Religionsunterricht verzichtet werden, in dem auch dem Fach »Kirchengeschichte« ein angemessener Ort zukommt.

Die Entdeckung kindlicher Religiosität Ein empirisch-experimenteller Forschungsgegenstand der evangelischen Religionspädagogik zwischen 1895 und 1933 Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein

1. Einleitung Die zweite Auflage ihrer Publikation »Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik« aus dem Jahr 2016 leiten Gerhard Büttner und Veit-Jakobus Dieterich mit folgenden Worten ein: »Auch in der Religionspädagogik ist das Interesse an der kognitivistisch ausgerichteten Entwicklungspsychologie erst einige wenige Jahrzehnte alt, hat sich aber in der Zwischenzeit fest etabliert.«1 Tatsächlich verhält es sich jedoch anders, denn ein Blick in die Vergangenheit zeigt sehr deutlich, dass die Kinder- wie Religionspsychologie seit ihren jeweiligen Anfängen von der ebenfalls am Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden evangelischen Religionspädagogik zugunsten einer Modernisierung des schulischen Religions- und kirchlichen Konfirmandenunterrichts rezipiert wurden. Im nun folgenden Beitrag soll entsprechend – nachdem die Anfänge der Entwicklungs-, Kinder- und Religionspsychologie in Deutschland skizziert wurden – am Beispiel ausgewählter empirischer Forschungsarbeiten evangelischer Religionspädagogen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts2 gezeigt werden, dass eine rege Auseinandersetzung 1

  Gerhard Büttner/Veit-Jakobus Dieterich: Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 22013, Vorwort zur 2. Auflage. 2   Den Beginn dieser Phase markierte die religionspsychologische Veröffentlichung Gustav Vorbrodts von 1895 und das Ende das Jahr 1933, da im Rahmen der neuen Gesetzgebung zur Umgestaltung der Hochschulen nach dem »Führerprinzip« nicht nur viele namhafte Wissenschaftler aus Deutschland emigrierten, sondern auch die gewollte ideologische Neuausrichtung in vielen Fachbereichen entweder zu einem Forschungsabbruch führte oder diese ideologisch angepasst weitergeführt wurden, vgl. Elfriede Billmann-Machecha/Armin Stock/Uwe Wolfradt (Hrsg.): Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933–1945. Ein Personenlexikon, ergänzt um einen Text von Erich Stern, Wiesbaden 22017; Michael Grüttner/Sven Kinas: Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), 123–186; Wolfram Weiße: Religionspädagogik im Schatten des Nationalsozialismus – Einleitung, in: Rainer Bolle/

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mit kindlicher Religiosität unter Heranziehung aktueller Forschungsergebnisse und -methoden aus der Kinder- und Religionspsychologie in der Religionspädagogik stattfand.

2. Zu den Anfängen der Entwicklungs- und    Kinderpsychologie in Deutschland Das akademische Fach der Psychologie und deren Teilgebiet der Entwicklungspsychologie entstanden erst im späten 19. Jahrhundert. Denn neben dem Wandel des Wissenschaftsverständnisses kam es im 19. Jahrhundert zu einer fortschreitenden Fülle neuer soziologischer, geschichts- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse,3 von denen besonders vier für die Herausbildung der Entwicklungs- und Kinderpsychologie ausschlaggebend waren: »1. die Evolutionstheorie Darwins, 2. die umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen von Beobachtungen an Kleinkindern, 3. die Entwicklung psychologischer Untersuchungsmethoden und die Gründung von Forschungseinrichtungen und 4. die Beschäftigung mit dem schwierigen und auffälligen Kind.«4 Thorsten Knauth/Wolfram Weiße (Hrsg.): Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Münster 2002, 83–86. 3   Vgl. Helmut E. Lück/Susanne Guski-Leinwand: Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 72014, 37–59; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, 1106. 4   Hanns Martin Trautner: Allgemeine Entwicklungspsychologie, Stuttgart 22003, 18. Hinsichtlich der Entwicklung psychologischer Untersuchungsmethoden ist zu erwähnen, dass sich erste Vorläufer bereits im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert finden, vgl. Friedrich August Carus: Geschichte der Psychologie, Leipzig 1808; Adolphe Quételet: Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft, nebst einem Anhang, enthaltend die Zusätze des Herrn Verfassers zu dieser Ausgabe, Stuttgart 1838; Johann Nikolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bände, Leipzig 1777; Dietrich Tiedemann: Beobachtungen über die Entwickelung der Seelenfähigkeiten bei Kindern, Frankfurt am Main 1787. Hinsichtlich der Gründung von Forschungseinrichtungen wäre einerseits das Institut für experimentelle Psychologie und Pädagogik zu nennen, das 1879 von Wilhelm Wundt (1832–1920) und Gustav Theodor Fechner (1801–1887) in Leipzig gegründet worden war und 1883 den Status eines offiziellen Universitätsinstituts erhielt, vgl. Wolfram Meischner: Festveranstaltung der Karl-Marx-Universität anlässlich des 100jährigen Jubiläums des von Wilhelm Wundt gegründeten Institutes für Experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig am 31. Oktober 1979, Leipzig 1979. Andererseits ist hier das 1906 vom Leipziger Lehrerverein gegründete Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie anzuführen, vgl. Caroline Hopf: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004, 87–90; Marx Lobsien: Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie in Leipzig, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 18 (1911), 427–428.

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Eng verbunden mit diesbezüglichen Fragen nach der Entwicklung der menschlichen Psyche waren bereits zu dieser Zeit Überlegungen zu den sich daraus ergebenden pädagogischen Möglichkeiten zur aktiven Einflussnahme auf die geistige Entwicklung des Menschen. Insofern stellte auch die Entstehung der Kinderpsychologie, deren Begründer der Jenaer Mediziner und Physiologe William Thierry Preyer (1841–1897) mit seinem 1882 erschienenen Werk »Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren« war,5 einen bedeutenden Umstand für die Pädagogik und Religionspädagogik dar. Preyer verarbeitete eigens gemachte und in einem Tagebuch festgehaltene Beobachtungen an seinem Sohn und dessen Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren, wobei er erstmals versuchte, die geistige von der physischen Entwicklung Neugeborener und Kleinkinder klar zu scheiden. Sein Augenmerk lag dabei auf der Frage nach der Herausbildung des kindlichen Willens und welchen Einfluss dies auf die erzieherische Lenkbarkeit habe.6 Methodisch ähnliche Arbeiten waren diejenigen von William (1871–1938) und Clara Stern (1877– 1948)7, die als bedeutende Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung im frühen 20. Jahrhundert gelten,8 oder auch die von Ernst (1879–1921) und Gertrud Scupin9 sowie diejenigen von Karl (1879–1963)10 und Charlotte Bühler (1893–1974),11 aus denen u.a. die sog. Wiener Kinderpsychologische 5

  Preyer war dennoch nicht der erste Autor von Publikationen zur Kindesentwicklung, vgl. Berthold Hartmann: Die Analyse des kindlichen Gedankenkreises als naturgemäße Grundlage des ersten Schulunterrichts. Ein Beitrag zur Volksschulpraxis, Annaberg im Erzgebirge 1885; Bernhard Hellwig: Die vier Temperamente bei Kindern. Ihre Äußerung und ihre Behandlung in Erziehung und Schule (Anhang: Das Temperament der Eltern, Lehrer etc.), Leipzig 1872; Adolf Kussmaul: Über das Seelenleben des neugeborenen Menschen, Leipzig 1859; Bernard Perez: La Psychologie de l’Enfant. Les Trois Premières Années de l’Enfant, Paris 1878. 6   Vgl. William Thierry Preyer: Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig 1882. 7   Vgl. Clara Stern/William Stern: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung, Leipzig 1907; Clara Stern/William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, Leipzig 1914. 8   Vgl. Rebecca Heinemann: Das Kind als Person. William Stern als Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung 1900 bis 1933, Bad Heilbrunn 2016. 9   Vgl. Ernst Scupin/Gertrud Scupin: Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten sechs Lebensjahre. Band 1: Während der ersten drei Lebensjahre, Leipzig 1907; Band 2: Bubi im vierten bis sechsten Lebensjahre, Leipzig 1910. 10   Vgl. Karl Bühler: Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1918. 11    Vgl. Charlotte Bühler: Das Märchen und die Phantasie des Kindes, Leipzig 1918; Charlotte Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena 1922; Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, Leipzig 1933; Charlotte Bühler (Hrsg.): Irmgard

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Schule mit weitreichender Ausstrahlungskraft im Bereich der experimentell-psychologischen Kinderforschung hervorging.12 Überhaupt entstanden weltweit zwischen 1890 und 1915 allein 21 kinderpsychologische Zeitschriften – sechs davon in Deutschland – sowie 26 entwicklungspsychologisch forschende Institute,13 so dass »Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts […] eine unüberschaubare Flut an Untersuchungen zur Kinderpsychologie«14 vorhanden war, die auch von der Religionspsychologie und evangelischen Religionspädagogik beachtet wurden.

3. Zur den Anfängen der Religionspsychologie Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand ein weiteres Teilgebiet der Psychologie, das sich speziell mit der Entstehung und Beschaffenheit von Religionen und dem Wesen von Religiosität auseinandersetzte. So gilt die Veröffentlichung »The Varieties of Religious Experience« des Mediziners und Begründers der US-amerikanischen Psychologie William James (1842–1910) aus dem Jahre 1902 als Klassiker der Religionspsychologie, obwohl James sich mit seiner Forschung in eine bereits bestehende Tradition einreihte und mit seinem Ansatz – sich explizit mit der Erfahrung des Religiösen fern eines spezifisch theologischen Zugangs auseinanderzusetzen und sich dabei auf die individuelle Wahrnehmung und Deutung religiöser Erlebnisse zu beschränken – nichts gänzlich Neues kreierte. Denn ein Blick in die Theologiegeschichte zeigt deutlich, dass bereits die Reformation den Fokus auf das subjektiv-persönliche religiöse Erleben – das den Kern moderner Religionspsychologie ausmacht – lenkte: »Bei Luther trat neben die Sorge um die richtig formulierte Lehre und die richtig organisierte Kirche auch das Anliegen der persönlich erlebten Heilsgewissheit in den Vordergrund. Nachfolgende Bewegungen wie Pietismus, Herrnhuter, Methodismus und Pfingstlertum konzentrierten sich nicht länger auf dogmatische Positionen, sondern zunehmend auf subjektive Erfahrungen, zum Beispiel auf die unterschiedlichen spirituellen Kategorien, in die Gläubige eingeteilt werden konnten, oder auf die Entwicklungsstufen des Glaubensweges.«15 Winter. Tagebuch eines jungen Mädchens, Jena 1921; Charlotte Bühler: Kindheit und Jugend: Genese des Bewusstseins, Leipzig 1928; Charlotte Bühler: Kind und Familie. Untersuchungen der Wechselbeziehungen des Kindes mit seiner Familie, Jena 1937; Charlotte Bühler: Praktische Kinderpsychologie, Leipzig/Wien 1938. 12   Vgl. Lieselotte Ahnert (Hrsg.): Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie, Göttingen 2015. 13   Vgl. Trautner: Entwicklungspsychologie, 22. 14   Hopf: Pädagogik, 65. 15   Jacob A. van Belzen: Religionspsychologie. Eine historische Analyse im Spiegel der Internationalen Gesellschaft, Berlin/Heidelberg 2015, 20.

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Entsprechend ist die Publikation »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799/1821) Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834), welche die Erfahrbarkeit von Religiosität als subjektiven Akt kennzeichnet, durchaus auch zur religionspsychologischen Literatur zu rechnen.16 Als erster bedeutender deutscher Religionspsychologe ist dagegen Gustav Vorbrodt (1860–1929) zu nennen, der über die Auseinandersetzung mit Johann Friedrich Herbart (1776–1841) und Rudolph Hermann Lotze (1817–1881) zu einer Betrachtung des Glaubens als subjektivem Vorgang gelangte, dem es sich durch erkenntnistheorethisch-psychologische Fragen anzunähern gelte, wie er etwa in seiner »Psychologie des Glaubens« aus dem Jahre 1895 deutlich zeigt.17 Ebenso wie James übten auch die amerikanischen Psychologen Granville Stanley Hall (1844–1924)18 und Edwin Diller Starbuck (1866–1947)19 zu Beginn des 20. Jahrhunderts großen Einfluss auf die Entstehung der Religionspsychologie als Disziplin und die religionspsychologische Forschung in Deutschland aus. Sie widmeten sich der Entwicklung von Religiosität und zeichneten deren Genese als einen psychologischen Entwicklungsvorgang nach und zwar für das Individuum ebenso wie für ganze Denominationen oder Religionen. Unter diesen Voraussetzungen erlebte die religionspsychologische Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen bemerkenswerten, wenn auch nur kurzen Aufsschwung: »[E]s bildeten sich regelrechte religionspsychologische Schulen aus, darunter […] die religionspsychologische Schule innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Theologie. Mit der Durchsetzung des Behaviorismus als dominantem Paradigma innerhalb der Psychologie und dem Aufkommen der Dialektischen Theologie innerhalb der evangelischen Theologie erlosch dieses erste, breite In-teresse jedoch und führte speziell in Deutschland zu einem fast vollständigen Erliegen religionspsychologischer Forschungsaktivitäten.«20

16

  Vgl. Roland Schütz: Der religionspsychologische Ertrag aus den Reden Schleiermachers über die Religion, in: Zeitschrift für Religionspsychologie 12 (1912), 393f. 17   Vgl. van Belzen: Religionspsychologie, 21–26. 18   Vgl. Granville Stanley Hall: Adolescence. Its Psychology and its Relation to Physiology, Anthropology, Soiology, Sex, Crime, Religion and Education, 2 Bände, New York 1904. 19   Vgl. Edwin Diller Starbuck: Religionspsychologie. Empirische Entwicklungsstudie religiösen Bewusstseins, unter Mitwirkung von Gustav Vorbrodt übersetzt von Friedrich Beta, 2 Bände, Leipzig 1909. 20   Constantin Klein: Religionspsychologie, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon, online: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100010 (20. April 2017).

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4. Ausgewählte Beispiele zur Auseinander   setzung mit kindlicher Religiosität auf    psychologischer Grundlage im Bereich    evangelischer Religionspädagogik Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren aus theologischer und religionspädagogischer Perspektive bezüglich der Gestaltung eines modernen Religionsunterrichts zwei eng miteinander zusammenhängende Streitfragen von besonderem Interesse. Zum Ersten die grundsätzliche Frage danach, ob und inwiefern Religion überhaupt lehrbar sei, wobei Vertreter eines modernen Religionsunterrichts in der Regel eine ähnliche Haltung wie der Heidelberger Theologe Heinrich Bassermann (1849–1909) einnahmen: »Der Religionsunterricht kann jedoch keine frommen Menschen schaffen, einmal weil Frömmigkeit nicht lehrbar ist wie Rechnen oder Französisch, sodann weil ihr Entstehen und Gedeihen in der menschlichen Seele von mannigfachen anderweitigen Einflüssen (des häuslichen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens) abhängt, und endlich weil wirkliche Frömmigkeit Sache der Persönlichkeit ist, der Unterricht aber es auf allen Stufen mit erst werdenden Persönlichkeiten zu tun hat.«21

Und zum Zweiten ging es um die Frage, welcher didaktisch-methodische Weg angesichts veränderter gesellschaftlicher und eng damit verknüpfter religiöser und weltanschaulicher Umstände, unter denen der Religionsunterricht stattzufinden hatte, einzuschlagen sei. Dementsprechend waren die reformwilligen Theologen und Religionspädagogen bestrebt, von einem reinen Auswendiglernen hin zur religiösen Bildung der Schüler oder auch Konfirmanden, mit der Zielstellung eines mündigen Gläubigen, zu gelangen: »Der Religionsunterricht hat den Zweck, die vom Kinde bereits in die Schule mitgebrachten religiösen Lebenskeime weiter zu entfalten, sie tiefer zu gründen und zu einer Lebensmacht zu gestalten. […] Das Kind muss sich einleben durch die vorgeführten Personen, deren Denk- und Handlungsweise es sich aneignen soll und aus denen schließlich die fortschreitende Entwicklung des göttlichen Heilsgedankens sich erkennen läßt.«22 21

  Heinrich Bassermann: Thesen über den evangelischen Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 11 (1904), 296–299, 296. 22   Ferdinand Leutz: Leitsätze für den Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 12 (1905), 28–30, 28. Vgl. auch Stimmen zur Reform des Religions-Unterrichtes I–III, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 11 (1904), 296–303; Stimmen zur Reform des Religions-Unterrichtes IV–VIII, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 11 (1904), 390–411; Stimmen zur Reform des Religions-Unterrichtes IX–XII, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 11 (1904), 456–467; Stimmen zur Reform des Religions-Unterrichtes XIII, in: Zeitschrift für

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Diese Perspektive hing u.a. mit der seit 1882 existierenden Kinderpsychologie zusammen.23 So führte auch Ernst Thrändorf (1851–1926)24 bereits 1896 aus: »Soll es zu einem idealen Umgang durch den Unterricht kommen, so müssen vor allen Dingen die Geschichtsstoffe so angeordnet werden, dass sie stets der wachsenden Apperzeptionsfähigkeit der Schüler möglichst entsprechen. Es muß also an die Stelle der nackten Willkür, die jetzt die sogenannten Lehrpläne dekretiert, die psychologisch pädagogische Erwägung treten.«25

Mit diesen Forderungen folgte Thrändorf einer Strömung, die großen Wert auf die Kinderpsychologie als Grundlage zur Gestaltung von Unterricht legte.26 Dies verdeutlichen auch etliche religionspädagogische Veröffentlichungen, die in der Regel unter Zuhilfenahme von empirisch- und experimentell-psychologischen Forschungsmethoden entstanden.27 So verweist etwa Philosophie und Pädagogik 12 (1905), 28f.; Stimmen zur Reform des Religions-Unterrichtes XIV–XV, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 12 (1905), 490–499; weiterhin Richard Kabisch: Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen Religionsunterrichts für alle Schulen auf psychologischer Grundlage, Göttingen 1910; Anton Luible: Kongress für christliche Erziehungswissenschaft, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 21 (1914), 109–112; Emil Pfenningsdorf: Wie lehren wir das Evangelium? Ein Methodenbuch auf psychologischer Grundlage für die Praxis des Religionsunterrichts in Schule und Kirche, Leipzig 1925; Erhard Traue/Georg Traue (Hrsg.): Religionspädagogik auf religionspsychologischer Grundlage, 2 Bände, Gütersloh 1927/1928. 23   Außerhalb der evangelischen Religionspädagogik führten deren Ergebnisse zu teils recht ambivalenten Reaktionen im pädagogischen Bereich, vgl. N.N.: Das Jahrhundert des Kindes, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 19 (1912), 515–517; E. Scholz: Geistige Strömungen und pädagogische Probleme der letzten Jahrzehnte. Eine Studie, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 18 (1911), 102–111, 109. 24   Vgl. genauer bereits August Reukauf: Der Vater der neueren Religionspädagogik. Eine Jubiläumsbetrachtung, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 18 (1911), 177–182; weiterhin Gerhard Pfister: Vergessene Väter der modernen Religionspädagogik, Göttingen 1989, 23–88. 25   Ernst Thrändorf: Theologie und Psychologie in ihrem Verhältnis zur religiösen Jugenderziehung, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 3 (1896), 204–211, 209f. 26   Vgl. Joseph Geyser: Die psychologischen Grundlagen des Lehrens, in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 6 (1899), 22–31; Joseph Geyser: Die psychologischen Grundlagen des Lehrens (Schluß), in: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik 6 (1899), 109–116. 27   Neben der Religionspädagogik war es vor allem der Bereich der Medizin und Psychiatrie, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Krankheit für den Umgang der kindlichen Psyche mit religiösen Belangen befasste, vgl. Theodor

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Heinrich Schreiber (geb. 1863), Oberlehrer in Würzburg und Mitarbeiter von Otto Eberhard (1875–1966),28 1909 in seinem Beitrag »Der Kinderglaube« darauf, dass es zwar eine Hinwendung zur Erforschung des kindlichen Seelenlebens seit Erscheinen von Preyers Werk 1882 geben würde, die Erforschung kindlicher Religiosität jedoch noch große Desiderate aufweise.29 Als Gründe dafür sah er vor allem zwei Dinge: einerseits die große Fülle von Arbeit, »die vor dem Aufbau einer brauchbaren Geschichte des religiösen Bewußtseins liegt, vor dem Gang durch die religiöse Gesamtentwicklung, vor der Lektüre vieler Lebensbeschreibungen usw.«30, und andererseits den Umstand, dass es vielen potentiellen Forschenden einfach an der »Gelegenheit zur keuschen Beobachtung des reiferen Kindes, nämlich der Umgang mit der Knaben- und Mädchenseele in der Weise eines psychologischen Unterrichts und eines innigen und sinnigen Schullebens«31, mangele. Folglich hält er fest: »Alles das erklärt uns das Vorhandensein einer auffälligen Lücke in der wissenschaftlichen Kinderkunde, auf die man auch von der Pädagogik her stößt, wenn man die Kritik des üblichen Religionsunterrichts ernst aufnimmt und auf Wege sinnt, welche dem Wesen der Religion entsprechen und Material aus der Geschichte des Gegenstandes beziehen sollen. So kam ich dazu, auf meine eigene religiöse Entwicklung und auf meine Erfahrungen und Erlebnisse als Berufserzieher zurückzuschauen, eine Menge von Lebensläufen, Tagebüchern, Erzählungen und wissenschaftlichen Werken zu studieren, Eltern und Berufsgenossen um Aufschlüsse und längere Beobachtungen zu bitten und meine eigenen Schüler fortgesetzt im Hinblick auf ihr Glaubensleben zu beobachten.«32

Angeregt durch Schreibers Veröffentlichung, in der dieser nicht nur auf für die Kinderpsychologie bedeutende Forscher und deren Theorien kurz eingeht, sondern auch von seinen eigenen empirisch-experimentellen Studien berichtet, publizierte Marie Hüpeden, Religionslehrerin an der Mädchenbürgerschule zu Schmalkalden, noch im gleichen Jahr ebenfalls einen Aufsatz Hoepfner: Die Psyche des Kindes und der Gottesbegriff, in: Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfragen der Theologie und Medizin 3 (1909), 350–360; Theodor Hoepfner: Noch einmal die Psyche des Kindes und der Gottesbegriff, in: Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfragen der Theologie und Medizin 4 (1910), 174–177. 28   Vgl. Kristian Klaus Kronhagel: Religionsunterricht und Reformpädagogik. Otto Eberhards Beitrag zur Religionspädagogik in der Weimarer Republik, Münster/New York/München/Berlin 2004, 291. 29   Vgl. Heinrich Schreiber: Der Kinderglaube. Grundlagen für eine Darstellung der religiösen Einzelentwicklung, Langensalza 1909, VI. Vgl. auch bereits ein Jahr zuvor erschienen Heinrich Schreiber: Die religiöse Erziehung des Menschen im Lichte seiner religiösen Entwicklung, Leipzig 1908. 30   Schreiber: Der Kinderglaube, VI. 31   Ebd. 32   Ebd.

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mit dem Titel »Der Kinderglaube«.33 Sie führte auch empirisch-experimentelle Studien durch, indem sie ihre Schülerinnen der dritten bis achten Klasse spontan Klausuren zum Thema »Wie ich mir den Himmel und das Leben im Himmel vorstelle« schreiben ließ und ihre Ergebnisse nun kritisch auswertete: »Bei der Durchsicht der Arbeiten hat sich mir die Frage aufgedrängt: Ist das Gebotene wirklich die Wiedergabe eignen religiösen Lebens unsrer Kinder? Ich stehe der Frage sehr kritisch gegenüber; denn fast ausnahmslos läßt sich die Vorstellungswelt, wie sie sich in den Arbeiten bekundet, deutlich auf ihre Quellen zurückführen: Märchen, biblische Geschichten und Katechismus. Eigenes, Selbstersonnenes, Persönliches ist in so geringem Maße vertreten, daß es gegen das Übrige kaum in Betracht kommt. Nun ließe sich ja aber behaupten, daß auch die dem Kinde gebotenen religiösen Stoffe so assimiliert würden, daß sich dann aus den Darstellungen doch Schlüsse auf sein religiöses Innenleben ziehen ließen. Aber äußerste Vorsicht ist auch hier geboten. Oft habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Kinder etwas zusammenphantasierten, eben weil ihnen die betreffende Aufgabe gestellt war.«34

Als Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit Schreibers Publikation und ihrer eigenen Feldversuche hielt Hüpeden schließlich zur Aufgabe von Religionsunterricht und Lehrern angesichts der Entwicklung und Beschaffenheit kindlicher Religiosität fest: »Unser Religionsunterricht hat sich bisher mit der Erledigung der historischen und dogmatischen Stoffe begnügt. Sollte er nicht auch die Aufgabe haben, die religiösen Vorstellungen zu berichtigen und zu klären? Sollte seine Stärke und sein Wert nicht gerade in einer vom pädagogischen Takt geleiteten Innenkultur liegen?«35 »Jedenfalls müssen wir alle Kräfte anspannen, um das Kind nach allen Seiten genauer und intensiver zu erforschen, und dann den Weg zu suchen, auf dem wir ihm helfen können, Gott zu finden, daß er sein Dasein durchdringe und in ihm lebe und sich das göttlich Sittliche im Kinde zu einer alles Tun und Denken belebenden Macht gestalte«36.

Und auch der Mannheimer Stadtvikar Rudolf Emlein (1884–1951) leitete seinen Aufsatz »Vom Kinderglauben«, der erstmals 1910 in den »Monatsblättern für den evangelischen Religionsunterricht« und ein Jahr später in 33

  Vgl. Marie Hüpeden: Der Kinderglaube. Ein Versuch und eine Buchbesprechung, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 37 (1909/1910), 349–353; Marie Hüpeden: Der Kinderglaube. Ein Versuch und eine Buchbesprechung (Schluß), in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 37 (1909/1910), 361–364. 34   A.a.O., 349. 35   A.a.O., 353. 36   A.a.O., 363f.

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der »Zeitschrift für Religionspsychologie« abgedruckt worden war, mit den Worten ein: »Einer der Hauptgründe, die oft auch den methodisch besten Religionsunterricht so wenig erfolgreich werden lassen, liegt meist in der mehr oder weniger großen Unkenntnis des Kindesgeistes und des Kindesgemütes, auf die der R.-U. einwirken will.«37

Weiterhin verweist er im Folgenden nicht nur auf prägnante Art und Weise darauf, wie wichtig die Heranziehung aktueller (kinder- und religions-) psychologischer Erkenntnisse für die Gestaltung eines die Schüler in ihrem Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont ansprechenden Religionsunterrichts ist und dass noch viel Material zur Entwicklung kindlicher Religiosität fehle, sondern schließt an seine Bestandsaufnahme auch die Ergebnisse zweier eigener empirisch-experimenteller Studien an. Für die erste hat er über zwei Jahre hinweg 150 Schüler beiderlei Geschlechts im Alter von 13 und 14 Jahren, »fast durchweg von sozialdemokratischen Eltern«38, einen Schulaufsatz zum Thema »Unser Religionsunterricht« schreiben39 und für seine zweite Studie 101 Schülerinnen und Schüler am Tag vor ihrem Schulabgang einen Aufsatz zum Thema »Welchen Wert hat die Religion?« verfassen lassen. Dies wertet er unter Heranziehung prägnanter Zitate aus den betreffenden Aufsätzen aus und zeigt damit nicht nur welche Haltungen zur Religion er vorfand, sondern gibt so ebenfalls einen interessanten Einblick in die kritische Wahrnehmung des Religionsunterrichts aus Schülerperspektive. Ähnlich wie bei Hüpeden verdeutlichen dabei auch seine Versuche, dass es für den Lehrer schwierig ist zu trennen, was genau die tatsächlich eigene Auffassung der Schüler und was familiär oder auch gesellschaftlich an sie herangetragene Vorstellungen sind, die sie lediglich wiederholen. Darüber hinaus zeigt sich an diesen Studien wie auch weiterhin bei der 1912 von Emlein durchgeführten Studie zur Wahrnehmung des Religionsunterrichts bei sog. Proletarierkindern40 wie stark das soziale Milieu die Haltung zu Religion und damit zum religiösen Erleben bei Kindern und Jugendlichen prägte und vor welchen Herausforderungen der Religionsunterricht dadurch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand. Ein weiterer zu nennender Vertreter der Religionspädagogik, der sehr offen für die (kritische) Einbeziehung kinder- und religionspsychologischer 37

  Rudolf Emlein: Vom »Kinderglauben«, in: Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfragen der Theologie und Medizin 5 (1911), 141–148, 141. 38   A.a.O., 145. 39   Vgl. a.a.O., 142–145. 40   Vgl. Rudolf Emlein: Religionsunterricht bei Proletarierkindern. Gedanken aus der Praxis – für die Praxis, Göttingen 1912.

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Erkenntnisse in die religionspädagogische Arbeit warb, war Gerhard Bohne (1895–1977). Er verfasste nicht nur seine 1922 veröffentlichte Dissertation als eine empirisch-religionspsychologische Studie,41 sondern widmete in ihr ein Kapitel spezifisch dem Thema kindlicher Religiosität, was auch zu dieser Zeit ein noch recht spärlich beforschtes Gebiet war. Der betreffende Abschnitt ist mit »Die Kindheitsreligion« überschrieben und die darin enthaltenen Ausführungen basieren auf Beobachtungen, die Bohne auf der Basis der Auswertung von Autobiografien unterschiedlicher Persönlichkeiten machte. Damit griff er auf aktuelle empirisch-psychologische Forschungsmethoden aus den Sachgebieten der Kinder- und Religionspsychologie zurück.42 Die Schlüsse, zu denen er angesichts dessen kam, folgen dabei einer etwas anderen Richtung als diejenigen Schreibers, Emleins und Hüpedens, denn er ist weniger von einer so starken Beeinflussung kindlicher Religiosität von außen überzeugt als diese drei, sondern eruiert aus seinem Forschungsmaterial stattdessen, dass bereits Kinder eine selbstständige Religiosität besäßen, die nicht nur derjenigen der Erwachsenen in ihrer Authentizität gleichzustellen, sondern auch im Hinblick auf die weitere biografische Entwicklung ungemein bedeutend für die spätere Religiosität des Jugendlichen und Erwachsenen sei.43 41

  Vgl. Gerhard Bohne: Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Reifezeit. Auf Grund autobiographischer Zeugnisse, Leipzig 1922. Bohne folgt in der Anlage seiner Arbeit zwar zunächst dem strukturpsychologischen Ansatz seines Doktorvaters Eduard Spranger (1882–1963), teilt mit ihm auch die Anwendungsweise der Strukturpsychologie auf die Betrachtung religiöser Entwicklung und war sich mit ihm ebenfalls auch über das religionspädagogisch angestrebte Persönlichkeitsideal des Menschen einig, wandelte jedoch im Laufe der Zeit seine strukturpsychologische Arbeit zu einer ihm ganz eigenen um, vgl. David Käbisch/Michael Wermke: Gerhard Bohne als Religionspädagoge, in: David Käbisch/Michael Wermke (Hrsg.): Gerhard Bohne. Religionspädagogik als Kulturkritik. Texte aus der Weimarer Republik, Leipzig 2007, 15–141, 58–64; Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein/Michael Wermke: Einleitung, in: Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein/Michael Wermke (Hrsg.): Gerhard Bohne: Die Frömmigkeit des Kindes, Leipzig 2017, 9–44, 22–24. Entsprechend stellt seine Forschung auch gegenwärtig noch bemerkenswerte Impulse für den Bereich religionspsychologischer Auseinandersetzung mit kindlicher und jugendlicher Religiosität innerhalb der Religionspädagogik zur Verfügung. 42   Vgl. Kleeberg-Hörnlein/Wermke: Einleitung, 21–30. 43   Vgl. Bohne: Die religiöse Entwicklung, 6–19. Mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die religionspädagogische Praxis befasste sich Bohne nachweislich bis in die 1960er Jahre hinein, ohne dabei methodisch oder in seinen Grundannahmen abzuweichen, vgl. Gerhard Bohne: Die Bedeutung der Strukturpsychologie für den Religionsunterricht, in: Otto Eberhard (Hrsg.): Schule, Religion und Leben. Religionspädagogische Studien, Stuttgart 1926, 110–143; Gerhard Bohne: Warum unsere Kinder den Glauben verlieren, Neudietendorf 1928; Gerhard Bohne: Kinderpsychologie. II. Religionspsychologie des Kindes, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 3 (31959), 1039–1043; Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein/Michael

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5. Zusammenfassung Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, dass – konträr zur Aussage eines erst späten Bezuges auf die empirischen Forschungsmethoden und -ergebnisse der Entwicklungspsychologie – die Theologie und die ab Ende des 19. Jahrhunderts entstehende evangelische Religionspädagogik bereits von 1895 bis 1933 vor dem Hintergrund von Bemühungen um eine Modernisierung des Religionsunterrichts die Forschungsmethoden und -ergebnisse der Kinder- und Religionspsychologie rezipierten. Deutlich zeigten sich die Auswirkungen dessen einerseits an der Art und Weise, wie religiöser Unterricht neu gedacht wurde, das heißt an der Frage nach einer der geistigen Entwicklung der Kinder angepassten didaktisch-methodischen Arbeitsweise im Unterricht sowie der Diskussionen darüber, ob Religion überhaupt lehrbar sei, und andererseits an der Verwendung empirisch-experimenteller Methoden für Studien zum Kinderglauben. Letztere fanden Anwendung zur Erfragung der grundsätzlichen Haltung von Schülern zur Religion und zur Erfragung der Beschaffenheit religiöser Vorstellungen in unterschiedlichen Altersgruppen (s. Schreiber, Hüpeden und Emlein), woraus sich schließlich nicht nur mehr oder weniger genaue Aussagen zur Entwicklung des kindlichen Vorstellungsvermögens ergaben – welche Probleme und Risiken damit verbunden waren hat Marie Hüpeden sehr deutlich dargestellt –, sondern implizit auch dazu, wie effektiv der Religionsunterricht tatsächlich bei der Vermittlung theologischen Wissens, bei der Unterstützung der Entwicklung zu mündigen Gläubigen war – und inwiefern er diesbezüglich reformiert werden müsse bzw. wo aus entwicklungspsychologischer Sicht seine Grenzen liegen. Weiterhin griffen Religionspädagogen wie Gerhard Bohne empirische und experimentelle Methoden der Kinder- und Religionspsychologie – in diesem Fall die Auswertung von Autobiografien und später die Beobachtung der Entwicklung der eigenen Kinder sowie die Befragung von Schülern – auch auf, um so ein genaueres Bild von der Entwicklung, Beschaffenheit und pädagogischen Beeinflussbarkeit kindlicher Religiosität zu erhalten. Folglich hatte sich auch die evangelische Religionspädagogik zwischen 1895 und 1933 dem interdisziplinären Umgang mit ihrem Forschungsgegenstand geöffnet und nutzte gewinnbringend die Möglichkeiten, die sich durch die Rezeption kinderpsychologischer Forschungsergebnisse und -methoden für die Beforschung kindlicher Religiosität boten, um den Religionsunterricht den Anfordernissen der Zeit möglichst effektiv anzupassen.

Wermke (Hrsg.): Gerhard Bohne: Die Frömmigkeit des Kindes, Leipzig 2017.

Der schlecht erzogene Heilige Namensgebung und Jugend des Franz von Assisi nach Thomas von Celano Volker Leppin

Seit ihren Anfängen ist die moderne Forschung über Franz von Assisi von der sog. franziskanischen Frage bestimmt.1 Angestoßen wurde diese durch die Arbeiten eines evangelischen Pfarrerssohnes und Kirchenhistorikers: Paul Sabatier (1858–1928), der in seiner grundlegenden Studie zum Leben des mittelalterlichen Heiligen eine Fülle von Neubewertungen der Quellen über Franz von Assisi vornahm,2 vor allem aber auf das grundlegende Problem aufmerksam machte, dass diese von Beginn an hagiographischen Interessen entspringen. Sehr offenkundig gilt dies für die Vita, die schon kurz nach Franz’ Tod Thomas von Celano (gest. 1260), selbst ein Ordensbruder3 und vermutlich Zeuge der feierlichen Kanonisation des am 3. Oktober 1226 verstorbenen Heiligen im Jahre 1228,4 verfasst hat. Er selbst gibt darüber Auskunft, dass er den Auftrag hierzu von Papst Gregor IX. (1227–1241) erhalten hat.5 Das 1

  Hilfreiche Zusammenfassungen bieten Leonhard Lehmann: Die franziskanische Frage, in: Dieter Berg/Leonhard Lehmann (Hrsg.): Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, Kevelaer ²2014, 165–179; Franz Xaver Bischof: Der Stand der »Franziskanischen Frage«, in: Dieter A. Bauer/Helmut Feld/Ulrich Köpf (Hrsg.): Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht, Köln/Weimar/Wien 2005, 1–16. 2   Vgl. Paul Sabatier: Leben des Heiligen Franz von Assisi, Berlin 1895; insbesondere die ausführliche Quellenkritik XIX–LXVII; zur kritischen Auseinandersetzung mit Sabatier Walter Goetz: Die Quellen zur Geschichte des hl. Franz von Assisi. Eine kritische Untersuchung, Gotha 1904. 3   Vgl. zu seiner Biographie Engelbert Grau: Thomas von Celano. Leben und Werk, in: Wissenschaft und Weisheit 52 (1989), 97–140, 99–102. 4   Vgl. Franziskus-Quellen, 187. Grau: Thomas von Celano, 103, hält es für wahrscheinlich, dass der Auftrag »schon einige Wochen« vor der Kanonisation erteilt wurde. 5   Vgl. Celano: 1 Vita Prol. 1,1 bzw. Enrico Menestò/Stefano Brufani: Fontes Franciscani, Assisi 1995, 276: »iubente domino et glorioso papa Gregorio«; auch Helmut Feld: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 32014, 31.

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ist nicht nur deswegen bemerkenswert, weil dieser Papst zuvor als Kardinal Hugolin von Ostia Protektor der Gemeinschaft des Franz gewesen war und entsprechend auch in der Vita des Celano ausführliche Beachtung erfuhr als der, der Franz »mit einzigartiger Hinneigung verehrte«6 und dem seinerseits dieser wie ein Sohn seinen Eltern anhing.7 Vor allem bedeutet es, dass die rasch, spätestens im Januar 1229 abgeschlossene8 erste Vita ihren Zweck in der Gestaltung der Verehrung des Heiligen besaß – was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Celano schon wenig später ein Exzerpt daraus erstellte, das unmittelbar der liturgischen Verehrung dienen sollte. Auch, als Celano sich fast zwei Jahrzehnte später, im Jahre 1244, erneut an eine Lebensbeschreibung des Franz machte, folgte er einem Auftrag, der diesmal vom neuen Generalminister des Ordens Crescentius von Jesi (gest. 1263) ergangen war:9 Dieser hatte auf dem Generalkapitel in Genua am 4. Oktober desselben Jahres die Anordnung erlassen, dass alle Brüder ihre Kenntnisse über das Leben des Franz sammeln und ihm schriftlich vorlegen sollten10 – dies sollte wiederum Celano zur Grundlage einer Neuausarbeitung dienen.11 Die Heiligkeit von Franz von Assisi war zu diesem Zeitpunkt längst etabliert, es ging nun darum, angesichts von Streitigkeiten um sein Erbe ein tragfähiges Bild des Heiligen zu gestalten. Dass beide frühe Biographien, die eine besondere Wirkmächtigkeit entfalteten, in so klarer Weise jeweils aktuellen Interessen entspringen, macht deutlich, dass sie ihrerseits nur mit Vorsicht zu gebrauchen sind – Celano makiert dies wenigstens bei der zweiten Vita sogar selbst, wenn er sich für sein schwächer gewordenes Gedächtnis entschuldigt.12 Die moderne, von Sabatier geprägte Kritik aber musste natürlich weiter gehen und den Quellenwert der Biographien sehr grundsätzlich in Zweifel ziehen. Sabatier selbst hat, den historiographischen Haltungen des 19. Jahrhunderts entsprechend, versucht, an Stelle der Viten andere Quellen in den Vordergrund zu heben, insbesondere die sog. Dreigefährtenlegende: Wenn man voraussetzen darf, 6   Celano: 1 Vita 73,2 (Fontes Franciscani, 348): »qui sanctum Dei singulari venabatur affectu«; vgl. zum Verhältnis der beiden Ulrich Köpf: Hugolino von Ostia (Gregor IX.) und Franziskus, in: Dieter A. Bauer/Helmut Feld/Ulrich Köpf (Hrsg.): Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht, Köln/Weimar/Wien 2005, 163–182. 7   Vgl. Celano: 1 Vita 74,1 (Fontes Franciscani, 349). 8   Vgl. Grau: Thomas von Celano, 103. 9   Vgl. Celano: 2 Vita 1,1f. (Fontes Franciscani, 443). 10  Feld: Franziskus, Anmerkung 91, weist darauf hin, dass diese Aufforderung durch Crescentius nicht durch eigene Akten bezeugt ist, sondern lediglich durch den Brief der drei Gefährten und Celano selbst. 11   Vgl. Grau: Thomas von Celano, 107f. 12   Vgl. Celano: 2 Vita 1,8 (Fontes Franciscani, 444).

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dass der unter diesem Namen geführte Text tatsächlich mit einem in den Handschriften mit ihr überlieferten Brief zu verbinden ist, der im Jahre 1246 in Grecchio von den drei Brüdern aus der Anfangszeigt des Ordens, Leo, Rufino und Angelo, verfasst wurde,13 so handelt es sich um ein hervorragendes Zeugnis von Augenzeugen. Selbst dann freilich würden sie mit einigem Abstand und natürlich nicht interessenfrei berichten. Die heutige internationale14 Forschung tendiert überdies eher dazu, anzunehmen, dass dem Brief ursprünglich ein anderer Text – nicht eine ausgebaute Legende, sondern eine Sammlung von Erinnerungsstücken – beilag, wonach die Dreigefährtenlegende zwar alt wäre, aber eben nicht ein Zeugnis der drei Gefährten selbst.15 So bleibt die Schwierigkeit, dass das Leben von Franz nur durch eine Schicht von letztlich unter Gesichtspunkten des Quellencharakters hochproblematischen Texten hindurch erschlossen werden kann. Die Franziskus-Forschung hat dieses Problem in den vergangenen Jahrzehnten mit zunehmender Schärfe gesehen – und dort, wo es primär um die Spiritualität des Franz geht, jedenfalls einen sinnvollen Ausweg gefunden:16 Es gibt eine ganze Anzahl von Schriften, die sich direkt und ohne massivere Zweifel an ihrem Quellenwert auf Franz von Assisi zurückführen lassen. Besondere Bedeutung kommt hierbei natürlich den verschiedenen Regeln und dem Testament des Franz zu sowie seinem Schreiben an den Bruder Leo, das sogar im Autograph erhalten ist.17 In strengem Sinne biographisches Material findet sich in ihnen allerdings allenfalls rudimentär – etwa die für die folgenden Überlegungen relevante Selbstauslegung im Testament, er sei vor seiner Bekehrung »in peccatis nimis«18 gewesen. Für eine genauere Erfassung des Lebens bleibt man auf die eigens verfassten Viten angewiesen – man muss sie allerdings nicht, wie dies in Sabatiers Zeit noch unabdingbar war, in der Hoffnung analysieren, am Ende doch ein authentisches FranzBild zu gewinnen.19 Dieses ist wohl nur durch den berühmten »Schleier der

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  Vgl. Legenda trium sociorum 1 (Fontes Franciscani, 1373).   Zur stärker von der Zusammengehörigkeit von Brief und Dreigefährtenlegende überzeugten deutschsprachigen franziskanischen Forschung, der ich grundsätzlich folge, vgl. Bischof: Der Stand, 9. 15   Vgl. Michael W. Blastic: Francis and his Hagiographical Tradition, in: Michael J. O. Robson (Hrsg.): The Cambridge Companion to Francis of Assisi, Cambridge 2012, 68–83, 78. 16   Vgl. exemplarisch Leonhard Lehmann: Franz von Assisi. Wenn Leben Beten wird, Werl 1998. 17   Vgl. Franziskus-Quellen, 107. 18   Franz von Assisi: Testamentum 1 (Fontes Franciscani, 227). 19    Diesen Anspruch erhebt auch in seinem betont kritischen Zugriff noch Augustine Thompson: Francis of Assisi. A New Biography, Ithaca/London 2012, VII. 14

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Erinnerung«20 hindurch sichtbar. Das heißt aber: Methodisch wird man um einen sorgfältigen Vergleich der Quellen nicht umhinkommen und dennoch den Anspruch aufgeben müssen, zu einem vollständigen eindeutigen Bild zu gelangen. Man wird sich daran gewöhnen müssen, im Blick auf Franz nur von Wahrscheinlichkeiten zu sprechen, gelegentlich auch unterschiedliche Möglichkeiten nebeneinander stehen zu lassen. Was dies bedeutet, soll im Folgenden an dem vielleicht frappierendsten Gegensatz zwischen den beiden Celano-Viten gezeigt werden: der Schilderung der Kindheit und Jugend. Deren Darstellung könnte unterschiedlicher kaum sein: In der ersten Vita schildert Celano im ersten Kapitel,21 dass in Assisi im Valle Umbra ein Mensch »nomine Franciscus«22 aufgewachsen sei. Dessen Leben ist in seinen Anfängen äußerst negativ geschildert: Er wurde von seinen Eltern »secundum saeculi vanitatem« erzogen und ahmte deren armseliges Leben und Sitten nach, ja, wurde darin selbst immer eitler und unkontrollierter (»vanior […] atque insolentior«23). Celano verwendet dabei viel Mühe darauf, deutlich zu machen, dass die Verantwortung hierfür nicht bei Franz selbst liegt, sondern bei seinen Eltern, die wiederum darin nur taten, was ohnehin unter Christen verbreitet sei: Kindern werden schändliche Worte und Zeichen beigebracht, sie werden zu Ausschweifung (luxus) und Mutwillen gezwungen (»coguntur«), ja, sie wagen es aus Angst vor den Eltern nicht »honeste gerere«24. Durch die Weise der Beschreibung geht Celano in doppelter Weise in Distanz zum eigentlichen Gegenstand seiner Beschreibung: Dessen Lasterhaftigkeit wird in eine allgemeine Krise der christlichen Erziehung eingebettet – und ist eben Ausdruck einer solchen Erziehung, nicht etwa seiner Eigenaktivität. Darin vollzieht sich eine Entlastung des Heiligen, die, beachtet man wie oben angesprochen die Zwischentöne der Erzählweise, es wahrscheinlich macht, dass Celano zu diesem Zeitpunkt jedenfalls überzeugt war, diese charakterlichen Defizite benennen und beschreiben zu müssen – anders gesagt: Er hielt sie aus welchen Gründen auch immer für zutreffend. Allerdings weist die Beschreibung hierdurch auch eine erhebliche Schematisierung auf: Ohne konkrete Aussagen zum Leben des Franziskus durchschreitet Celano in allgemeinster Form pueritia25 und adolesecntia26, um schließlich im 25. Lebensjahr anzukommen27 – bis zu diesem Jahr zeichnet Franz sich durch Bosheit aus. 20

  Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2012. 21   Vgl. Celano: 1 Vita 1f. (Fontes Franciscani, 277–279). 22   Celano: 1 Vita 1,1 (Fontes Franciscani, 277). 23   Celano: 1 Vita 1,1 (Fontes Franciscani, 277). 24   Celano: 1 Vita 1,3f. (Fontes Franciscani, 277). 25   Vgl. Celano: 1 Vita 1,5 (Fontes Franciscani, 277). 26   Vgl. Celano: 1 Vita 1,9 (Fontes Franciscani, 278). 27   Vgl. Celano: 1 Vita 2,1 (Fontes Franciscani, 278).

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Was dabei an individueller Charakteristik erscheint, ist, dass Franziskus in seinem schändlichen Leben die anderen überragte und von ihnen bewundert wurde.28 Als besonderes Merkmal erscheint seine Verschwendungssucht.29 Aus dieser Verderbtheit wurde er dann durch Gott selbst gelöst und in einer subita mutatio infolge einer Krankheit lernte er sein bisheriges Leben zu verschmähen.30 Damit beginnt ein in mehreren Etappen sich vollziehender Bekehrungsprozess hin zum heiligmäßigen Leben. Im Grundsatz behielt Celano diese Schilderung auch bei, als er auf Bitten des Generalministers Elias von Cortona (gest. 1253) in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts eine Kurzfassung der Vita verfasste,31 die erst vor wenigen Jahren durch Jacques Dalarun entdeckt und veröffentlicht wurde. Auch hiernach nahm Franz von seiner Kindheit an an den Eitelkeiten der Welt Anteil und folgte hierin seinen Eltern nach.32 Allerdings nahm Celano eine Einschränkung und eine Relativierung vor: Franz habe sich trotz aller Sündhaftigkeit »ab illis enormibus peccatis«33 enthalten, durch welche die Menschen ihre eigene Herkunft schänden – offenkundig sollte bei aller Betonung der Sündhaftigkeit der Verdacht, Franz habe sich vor seiner Bekehrung in Todsünden vergangen, vermieden werden. Hinzu kommt eine erstaunliche Verschiebung in der Wirkung auf andere Menschen: Zu der Bewunderung für seine Übeltaten tritt nun auch eine Wertschätzung seiner »humanitatis […] commoda«34, seiner menschlichen Annehmlichkeiten, die er erfuhr, wenn er, wohl im Auftrag seines Vaters Pietro Bernardone35 auf Handelsreisen war. Die nächste Bearbeitungsstufe36 bildete dann die Legenda ad usum chori, die, ebenfalls noch in den dreißiger Jahren entstanden, der Verehrung des Heiligen an seinem Festtag, dem 3. Oktober, diente. Sie ist noch verknappter, behält aber die grundsätzliche Wertung einer bis zum 25. Lebensjahr »insolenter« und »vane«37 verbrachten Jugend bei. 28

  Vgl. Celano: 1 Vita 2,2f. (Fontes Franciscani, 278).   Vgl. Celano: 1 Vita 2,4 (Fontes Franciscani, 278). 30   Vgl. Celano: 1 Vita 3,5 (Fontes Franciscani, 279). 31   Zur Datierung vgl. Jacques Dalarun: Thome Celanensis Vita Beati Patris Francisci (Vita brevior). Présentation et edition critique, in: Acta Bollandiana 133 (2015), 23–86, 26f. 32   Vgl. Celano: Vita brevior 2 (Dalarun: Thome Celanensis Vita, 35,23–27). 33   Celano: Vita brevior 2 (Dalarun: Thome Celanensis Vita, 35,27–36,2). 34   Celano: Vita brevior 2 (Dalarun: Thome Celanensis Vita, 36,5–8). 35   Zum Namen vgl. Celano: 1 Vita 53,8 (Fontes Franciscani, 328); Feld: Franziskus, 100. 36   Zu den Abhängigkeitsverhältnissen vgl. Dalarun: Thome Celanensis Vita, 33; Jacques Dalarun: Das neuentdeckte Franziskusleben des Thomas von Celano, Sankt Ottilien 2017, 23. 37   Celano: 4 Vita 2,1f. (Fontes Franciscani, 427). 29

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Angesichts dieses bis in die dreißiger Jahre durchgängigen Befundes ist die Wendung, die Thomas von Celano in der 1244 erstellten zweiten Vita vollzog, frappierend. Diese Vita enthält zum Teil offenkundig neues Material, aber auch neue Wertungen: Das neue Material bezieht sich vor allem auf die Namengebung: Hatte Celano in der ersten Vita Franz von Anfang an unter diesem Namen geführt, so berichtete er nun in der zweiten Vita, dass der Junge bei der Taufe von seiner Mutter den Namen Johannes erhalten habe.38 Den Namen Franziskus habe ihm die divina providentia beigegeben39 – was wohl nicht als Ersatz für den Taufnamen zu verstehen ist, sondern als Zusatz, der den ursprünglichen Namen allmählich verdrängte.40 Die Informationen hierzu dürften, wenn man sie so früh datieren darf,41 der Legenda trium sociorum entstammen, welche auch eine Erklärung für den Namenswechsel gab:42 Der Vater sei während der Geburt in Frankreich gewesen und habe dem Sohn daraufhin diesen von Francia abgeleiteten Namen gegeben43 – einen Namen, der, wie Michael Bihl gezeigt hat, keineswegs so ungewöhnlich und singulär war, wie es die hagiographische Tradition annimmt.44 Auffällig ist in diesem Zusammenhang Celanos Betonung, dass der Name Johannes von der propria Mutter gegeben worden sei,45 ebenso wie die Andeutung, die Menschen im Umfeld hätten gemeint, er sei »non illorum parentum, qui dicebantur eius, prosapia genitus«46. In der Legenda trium sociorum sind es sogar die Eltern, die angesichts seines Lebenswandels den Eindruck gewinnen, »ut non eorum filius sed quiusdam magni principis videretur«47. Diese Andeutungen lassen es gerade angesichts der häufigen und langen48 Abwesenheiten des Vaters zumindest nicht ausgeschlossen sein, dass Franziskus schon früh nachgesagt wurde, nicht das Kind seines Vaters zu sein – das würde wiederum bedeuten, dass die Benennung durch den Vater, die ja in 38

  Vgl. Celano: 2 Vita 3,1 (Fontes Franciscani, 445).   Vgl. Celano, 2 Vita 3,1 (Fontes Franciscani, 445). 40   Vgl. Michael Bihl: De nomine S. Francisci, in: Archivum Franciscanum Historicum 19 (1926), 469–529, 471. 41   Grau: Thomas von Celano, 107, verbindet sie mit guten Gründen mit dem Aufruf des Crescentius, Informationen über Franziskus zu sammeln. 42   Die Belege sind zusammengestellt bei Bihl: De nomine, 469f. 43   Vgl. Legenda trium sociorum 2,1 (Fontes Fransicani, 1375). 44   Vgl. Bihl: De nomine, 502–513. 45   Vgl. Celano: 2 Vita 3,1 (Fontes Franciscani, 445). 46   Celano: 2 Vita 3,5 (Fontes Franciscani, 446). 47   Legenda trium sociorum 2,4 (Fontes Fransicani, 1375). 48   Feld: Franziskus, 100, nimmt eine möglicherweise mehr als einjährige Abwesenheit des Vaters an, die dazu geführt habe, dass sein Sohn bei seiner Rückkehr schon erste (französische) Worte gesprochen habe. Verlagert man eine solche einjährige Reise zeitlich vor, so lassen sich Fragen nach der Legitimität der Geburt des Franziskus nachvollziehen. 39

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sich durch den Bezug auf Frankreich gerade auch auf die möglicherweise problematische Abwesenheit anspielt, auch als Bekenntnis zur Vaterschaft als solche zu verstehen ist. Eine besondere Note erhält diese Episode um den Namen dadurch, dass der Taufname Johannes, wie Celano auch durch einen Verweis auf Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers, deutlich macht,49 die Erzählung von der Namensgebung des Täufers evoziert. Auch hier konkurrierten zwei Namen: Zacharias und Johannes – allerdings war es gerade die Einhelligkeit, mit welcher Elisabeth und Zacharias den Namen Johannes favorisierten, die das Wunder der Namensgebung ausmachte (Lk 1,59–63). Im Unterschied hierzu aber differierten Franz’ Vater und Mutter in der Namengebung, und die sekundäre Benennung mit Franz leitet nicht zuletzt auch das problematische Verhältnis zum eigenen Vater ein, was sich auch darin widerzuspiegeln scheint, dass Celano betonte, dass Franziskus den Johannestag besonders feierte,50 sich also, kann man diesen Berichten Glauben schenken, liturgisch mit diesem Taufnamen identifizierte – oder eben in besonderer Weise einen Kult des Johannes pflegte. Indem Celano den irdischen Vater als Urheber des Namens wieder fortließ und die Namengebung auf die göttliche Providenz zurückführte, dissimulierte er auch die problematische Dimension des Verhältnisses und gab dem Namen, unter welchem Franziskus bekannt geworden war, einen gottgegebenen Sinn. So nutzte er die Doppelnamigkeit zu einer heilsgeschichtlichen Deutung, bei welcher der offenbar längst mit dem Heiligen aus Assisi ganz selbstverständlich verbundene Name Franziskus eine viel geringere Rolle spielte als der nach Dreigefährtenlegende und der zweiten Vita ursprünglichere Name Johannes. Während der Name Franziskus für die dilatatio famae suae stehe, also eben für das Bekanntwerden unter diesem besonderen Namen, stehe Johannes für das opus ministerii, welches Franz übernommen habe.51 Dieses Werk ist durch den Namen in die Nachfolge Johannes des Täufers gestellt. Durch die Zitation von Mt 11,11 (»inter natos mulierum non surrexit maior«), was Celano damit parallelisiert, dass unter den fundatores religionum kein vollkommener aufgetreten sei als eben Franziskus, wird diese Aufgabe als prophetische deklariert – Franziskus ist als wiedergekehrter Johannes geradezu ein Künder des wiederkommenden Christus. Das bedeutet zum einen eine Reduktion gegenüber den Spuren der Christusidentifikation, welche sich insbesondere in der Erzählung von der Stigmatisierung zeigen: Elias von Cortona hatte deren Mitteilung unmittelbar nach dem Tod

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  Vgl. Celano: 2 Vita 3,2 (Fontes Franciscani, 445); Feld: Franziskus, 105.   Vgl. Celano: 2 Vita 3,1 (Fontes Franciscani, 445). 51   Vgl. Celano: 2 Vita 3,7 (Fontes Franciscani, 446). 50

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des Franz mit dem Ruf der Engel »annuntio vobis gaudium magnum«52 eingeleitet und so Franz eher mit Christus selbst als mit dessen Künder Johannes in Beziehung gebracht. Der Bezug auf Johannes aber hat möglicherweise einen weiterreichenden, hochaktuellen Sinn: Man kann in den Andeutungen Celanos, insbesondere darin, dass Franz als vollkommenster der Ordensgründer so in Relation zu Johannes gesetzt wird, dass er als endzeitlicher Künder Christi erscheinen könnte, einen Reflex auf den Einbruch joachitischen Denkens in den Franziskanerorden zu sehen, der sich ab 1241 im Pisaner Konvent nachvollziehen lässt53 und in dem es nicht zuletzt auch darum ging, gegenüber den Dominkanern den eigenen Führungsanspruch in der Endzeit deutlich zu machen.54 Die oben erwähnte Besinnung des Crescentius von Jesi auf die Biographie des Ordensgründers sollte nicht zuletzt auch hier für eine Klärung sorgen – und Celanos Aufnahme entsprechender Gedanken in die Vita wäre dann als pazifizierender Integrationsversuch gegenüber der Gefahr devianter Ideen zu verstehen. Der Umstand, dass der dem Erzählduktus nach primäre Name Johannes so gut in die aktuellen Anliegen des Ordens passt, wirft nun allerdings ganz neue Fragen auf:55 Da dieser Taufname erst fast zwanzig Jahre nach dem Tod des Franziskus in den Quellen begegnet, lässt sich fragen, ob nicht die Taufepisode und die mit ihr verbundene Geschichte von den zwei Namen des Franziskus ihrerseits ein literarisches Konstrukt zum Zwecke der Stilisierung der Johannesnachfolge des Franziskus darstellt.56 Eine gewisse Einschränkung gegenüber einer solchen Theorie ergibt sich zwar, wenn die Dreigefährtenlegende älter sein sollte als die zweite Vita, da sie dann den Namen erstmals böte, und dies ohne jene umfassende theologische Deutung, welche Celano gibt; doch ist dies wie oben erwähnt chronologisch nicht sicher, und selbst im Falle einer zeitlichen Vorordnung der Dreigefährtenlegende vor die zweite Vita kein gesichertes Argument gegen den sekundären Charakter des Johannesnamens. Sicherheit wird man freilich, das wird hieraus deutlich, in dieser Hinsicht nicht erreichen können. So muss die Frage der Namengebung des 52

  Elias von Cortona: Epistola encyclica de transitu 15 (Fontes Franciscani, 254); vgl. Lk 2,10 Vg. 53   Vgl. Feld: Franziskus, 465; Ernst Benz: Ecclesia spiritvalis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation, Stuttgart 1934, 175–181. Man wird letztgenanntes Buch nicht nutzen können, ohne darauf hinzuweisen, dass Benz sich in der Einleitung affirmativ auf den Horizont des sog. Dritten Reiches bezieht (vgl. a.a.O., 1–3). 54   Vgl. Benz: Ecclesia, 181. 55   Vgl. in entsprechendem kritischen Sinne auch André Vauchez: Francis of Assisi. The Life and Afterlife of a Medieval Saint, New Haven/London 2009, 8. 56   Vgl. in diesem Sinne auch Thompson: Francis, 6.

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Franziskus letztlich offen und ungeklärt stehen bleiben. Es gibt keine zwingenden Gründe, von der traditionellen Annahme abzuweichen, dass Franziskus auf den Namen Johannes getauft worden ist und seinen verbreiteten Namen erst vom Vater beigegeben erhielt, aber Anlass zum Zweifeln besteht. Auf den ersten Blick klarer scheint die grundlegende Wertung, die Celano der Jugend des Franziskus gibt: In allen drei vorherigen Anläufen – das zusätzlich von ihm verfasste Mirakelbuch weist keine Jugenderzählung auf – hatte er die Schilderung des jugendlichen Franz als verwerflich und schändlich beibehalten. Darin war ihm auch, wenn auch mit anderem Zungenschlag, die Legenda trium sociorum gefolgt: Sie teilte mit der ersten Vita Celanos die Hervorhebung der Verschwendungssucht,57 ordnete diese aber, wie schon die oben erwähnte Anspielung auf die Herkunft von einem princeps erkennen lässt, als »curialis in moribus et verbis«58, höfisch in Sitten und Worten, ein. Folgt man dieser Spur, so klingt der soziale Konflikt zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und den vom Bürgertum zunehmend bedrängten Adeligen an: Franz wäre demnach ein Jugendlicher, der sich an den tradierten Sitten des Adels orientierte und hierdurch die gegebenen sozialen Grenzen des Bürgertums zu sprengen suchte. Bemerkenswert ist daran, dass dies durchaus wie beim späteren frommen Leben eine implizite Kritik an den bürgerlichen Normen enthielte – nur eben in anderer Richtung ausschlüge. Sehr konkret äußerte sich dies, gerade auch in der Gegensätzlichkeit zu späterem Verhalten, darin, dass Franz sich teurere Gewänder herstellen ließ, als ihm zustand59 – der, der später nackt dem Nackten folgen wollte,60 zeichnete sich nach dieser Schilderung der drei Gefährten also gerade in der Frage der Kleidung durch besonderen Reichtum aus. So sehr die Dreigefährtenlegende hierin also die problematischen Züge der luxuria unterstrich, so sehr fiel nun aber das schändliche Benehmen durch schlechte Worte und dergleichen fort: Das höfische Benehmen bedeutete gerade auch, dass er sich weigerte, auf die zu antworten, die Schändliches sagten61 – wiederum lässt sich die Redeverweigerung auf die spätere Frömmigkeit beziehen, in welcher eine extreme Zurückhaltung gegenüber dem Gespräch insbesondere mit Frauen zu beobachten ist.62 Während sich in der Kleidungsfrage eine antithetische 57

  Vgl. Legenda trium sociorum 2,4 (Fontes Fransicani 1375).   Legenda trium sociorum 3,1 (Fontes Fransicani 1375). 59   Vgl. Legenda trium sociorum 2,8 (Fontes Fransicani 1375). 60   Vgl. Bonaventura: Legenda maior 4,7 (Fontes Franciscani, 790). 61   Vgl. Legenda trium sociorum 3,1 (Fontes Fransicani 1375). 62   Vgl. Regula nun bullata 12 (Fontes Franciscani, 196f); auch Celano: 2 Vita, 112f. (Fontes Franciscani, 545–547); weiterhin die scharfen, in gewisser Weise aber treffenden Worte von Sabatier: Leben, 112, zu Celanos Darstellung des Verhältnisses von Franz zu den Frauen, in welchem Franziskus »wie ein wilder Asket erscheint, der in dem Weibe die Verkörperung des Teufels sieht.« 58

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Entsprechung zeigt, handelt es sich hier offenbar um eine Entsprechung der Steigerungs- oder Reinigungsgestalt, in welcher der spätere fromme Mönch präziser das durchführt, was sich in seiner Jugend schon andeutet. Diese wird ihrerseits von den drei Gefährten als Auszeichnung durch Grade natürlicher Tugend gedeutet.63 Hier deutet sich also eine Verschiebung der Wertung des Franz an: Er fällt noch unter das negative Verdikt der Verschwendungssucht, zeichnet sich aber schon durch besondere Tugendhaftigkeit aus. Selbst wenn man die Dreigefährtenlegende nicht auf Leo, Rufino und Angelo zurückführen können sollte, wird man die Auffassung von Engelbert Grau, die neuen Informationen hätten Celano »fast von selbst zu einer Korrektur«64 seines Bildes von Franz’ Jugend gezwungen, noch weiterführen dürfen, vor allem im Blick auf mögliche literarische Stilisierungen: Schon die implizite Gegenüberstellung der Jugendschilderung zum späteren Leben als Heiliger zeigt, dass es sich hier nicht einfach um Erinnerungen handelt, sondern um Stilisierungen einer partiell antithetischen Biographie. Vor allem aber zeigt sich hier die Bedeutung der von Dalarun neu entdeckten Vita brevior für ein Verständnis des franziskanischen Erzählzusammenhangs: Schon hier war ja zu bemerken, dass in die beibehaltene negative Wertung der Jugend des Franz Relativierungen eingefügt wurden, da offenbar das Muster radikaler Bekehrung vom schlechten zum guten Lebenswandel nicht mehr als befriedigend angesehen wurde. Diese frühe Entwicklung zeigt auch, dass die schließlich in der zweiten gegenüber der ersten Vita gänzlich vollzogene Wende hin zu einer Schilderung der Jugend des Franz als bereits heiligmäßig, anders als möglicherweise der Name Johannes, nicht aus aktuellen Bedürfnissen unter dem Generdes Crescentius erklärt werden kann, sondern auf längerfristig geänderten Strategien der Hagiographisierung beruht. Hiernach nämlich ist Franz von früh an durch magnanimitas und morum honestas ausgezeichnet65 – ein offenkundiges Erbe der höfischen Verhaltensweisen, die die Dreigefährtenlegende ihm askribiert hat. Die Verschwendungssucht aber, die in dieser noch moniert worden war, ist nun in der zweiten Vita gänzlich fortgefallen. Allerdings hat Celano die Umgestaltung nicht konsequent vorgenommen: Sie prägt zwar das erste Kapitel der zweiten Vita – im dritten Kapitel aber berichtet er von filii Babylonis, die Franz erneut nachfolgten und ihn wie schon früher zu ihrem Anführer haben wollten.66 Diese Erwähnung setzt offenbar noch das Narrativ aus der ersten Vita – Beginn bei lasterhaftem Lebenswandel 63

  Vgl. Legenda trium sociorum 3,3 (Fontes Fransicani 1376).   Grau: Thomas von Celano, 109; zu der Irritation der Franziskaner über allzu negative Züge in Celanos Schilderung der Jugend vgl. Sabatier: Leben, 8. 65   Vgl. Celano, 2 Vita 3,3 (Fontes Franciscani, 445f.). 66   Vgl. Celano, 2 Vita 7,1–5 (Fontes Franciscani, 449). 64

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vor der Bekehrung – voraus und ist nicht konsequent auf das neue Narrativ der zweiten Vita – Heiligmäßigkeit von Anfang an – umgestaltet. Zusammen mit den anderen Beobachtungen unterstreicht dies, dass man die Jugenderzählungen in der zweiten Vita als bewusste Umgestaltung der ersten Vita ansehen kann.67 Freilich wäre der Rückschluss, dass dann die erste Vita die Jugend des Franz korrekt wiedergäbe, zu kurz gegriffen. Dass diese Schilderungen hochgradig schematisiert sind, wurde oben schon vermerkt. Hinzu kommt, dass man, folgt man erst einmal dem Gedanken, dass die Jugend, entsprechend der Selbstauslegung des Franz, er habe »in peccatis nimis« gelebt, antitypisch zum reifen Heiligen geschildert wird, eben solche antitypischen Strukturen auch hierin entdecken kann – insbesondere darin, dass schon der junge Franz als Anführer anderer junger Männer erscheint wie später auch der Heilige, nur dass sie eben in der Jugend gemeinsam mit ihm Unmoralisches verfolgen, im reifen Alter hingegen die Nachfolge Christi anstreben. So bleibt am Ende des Durchgangs nur die relativ nüchterne Erkenntnis, dass man über Franz von Assisi selbst relativ wenig weiß, so reichhaltig er auch dokumentiert ist – die franziskanische Frage lässt sich nicht auf die Weise lösen, dass man aus der komplexen Quellenlage schließlich doch im Prozess klassischer Quellenscheidung und -vergleichungen die eine echte Biographie des Franz herauspräpariert: Historische Arbeit an der Biographie des Franz kann so weit kommen, dass sie Möglichkeiten anbietet. Eine widerspruchsfreie Erzählung mit dem Anspruch, einen historischen Franz zu rekonstruieren, wird ihr schwerlich gelingen. So lautet das nüchterne Fazit, dass Franz auch in diesem Punkt seinem großen Vorbild Jesus von Nazareth gleicht: Die biographische Rekonstruktion stößt früh an ihre Grenzen.

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  In diese Richtung meine ich auch Feld: Franziskus, 104f., verstehen zu dürfen.

Keine Bildung ohne Bilder Wie wir aus der Geschichte der Bilder etwas für die religiöse Bildung lernen Andreas Mertin

Bildung ist ohne Bilder nicht zu denken. Gegen eine gewisse Bilderskepsis, wie sie in großen Teilen der Erziehungswissenschaften der letzten 100 Jahre kultiviert wurde, muss – nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Bedeutung von Bildmedien und der Medialisierung der Gesellschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – an den grundlegenden Beitrag der Bilder zur Menschwerdung und zur Bildung des Menschen erinnert werden. 1961 veröffentlicht Hans Jonas einen Text mit dem programmatischen Titel »Die Freiheit des Bildens – Homo Pictor und die Differentia des Menschen«.1 Dabei steht am Anfang ein Gedankenexperiment. Jonas fragt, wie künftige Weltraumforscher erkennen können, ob es sich bei den Wesen auf anderen Welten um »Menschen« handelt? »An welche Symptome lassen sich also Kriterien knüpfen, die, der Charakterisierung sapiens entsprechend, bei jenen Wesen auf ›Verstehen‹, ›Geist‹, ›Kultur‹, ›Zivilisation‹ etc. schließen lassen? Das Vermögen, Bilder zu verwenden, mutet hierzu als eine besonders günstige Wahl an, da diese Fähigkeit einfacher als etwa das Sprachvermögen zu sein scheint, andererseits aber auch keine graduellen Übergänge zu rein biologisch erklärbaren Phänomenen erkennbar sind, wie sie etwa beim Werkzeuggebrauch auftreten. Würden die Astronauten aus dem Gedankenexperiment in einer Höhle künstlich erzeugte Linien und sonstige Farbkonfigurationen finden, d.h. Artefakte, die sie als Bilder interpretieren, dann wäre, so Jonas, ihre spontane Folgerung, dass es Menschen (im weiten Sinn) waren, die diese Artefakte gemacht haben.«2

Jonas betont, es käme nicht auf ausgearbeitete Kunst wie in Altamira an, schon »die roheste, kindischste Zeichnung wäre so beweiskräftig wie die Kunst des Michelangelo. Beweisend für was? Für die mehr-als-tierische Natur 1

  Vgl. Hans Jonas: Die Freiheit des Bildens – Homo Pictor und die Differentia des Menschen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961), 161–176. 2   Jörg R. J. Schirra/Klaus Sachs-Hombach: Anthropologie in der systematischen Bildwissenschaft. Auf der Spur des homo pictor, in: Silke Meyer/Armin Owzar (Hrsg.): Disziplinen der Anthropologie, Münster 2011, 145–178, 146.

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ihres Erzeugers.«3 Das ist das eine Argument dafür, sich mit der Bedeutung der Bilder für die Bildung zu beschäftigen – weil sie in einem konstitutiven Zusammenhang mit »Verstehen«, »Geist«, »Kultur« und »Zivilisation« stehen. Sich der Frage der Bilder im Rahmen der Bildung auszusetzen, heißt aber auch, an den Anfang der Menschheitsgeschichte zurückzukehren. Wir sehen heute viel und wissen wenig von den ersten Bildern der Menschen vor mehr als 40.000 Jahren, die damit 33.000 Jahre älter sind als jede menschliche Schrift. Es sind keine religiösen Bilder, keine magischen Beschwörungen, keine Bilder zur Verschönerung der Wohnumgebung.4 All das ist immer wieder vermutet worden,5 wird aber durch die Kontexte widerlegt. Zunächst einmal handeln ihre damaligen Schöpfer als von den Naturzwängen Entbundene. Sie mussten offenbar nicht mehr im Kontext der Gruppe jagen oder wachen oder Nahrung zubereiten. Sie wurden für die Bildproduktion freigesetzt. Das Besondere der ersten Bilder ist darüber hinaus, dass sie eine spezifische Differenz zu unseren nächsten Verwandten, den Neandertalern, darstellen. Der Neandertaler teilt mit uns viele kulturelle Errungenschaften, aber er kann nicht malen, er schafft keine Bilder, das kann nur der Homo sapiens. Plausibel scheint aber anhand der Befunde in der Höhle von Chauvet im Tal der Ardeche zu sein, dass wir im Kontext dieser Bilder den ersten nachweisbaren pädagogischen Spuren aus der Geschichte der Menschheit begegnen.6 Faktisch wären die Höhlenmalereien die ersten (schulischen) Tafelbilder – historische Whiteboards sozusagen. Die Argumentation bezieht sich darauf, dass wir in Chauvet die Fußspuren eines etwa 8 Jahre alten Jungen verfolgen können, der vor 28.000 Jahren in den hintersten Teil der Höhle vor die dortigen Bilder geführt wurde. Mit anderen Worten, der damalige Homo sapiens führte junge Menschen in die Gruppe bzw. die Gesellschaft ein durch die Begegnung mit Bildern – Bilder, die etwas von der Identität der Gruppe vermittelt haben müssen. Und es wird dann noch einmal 20.000 Jahre dauern, bis der Mensch beginnt, Bildungsprozesse mittels der Schrift zu organisieren. Was leisten Bilder und welche Risiken beinhalten sie? 1998 veröffentlichte Jan Assmann das Buch »Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnis

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  Jonas: Die Freiheit, 162.   Vgl. zu den verschiedenen Deutungsansätzen Ina Wunn: Religion und steinzeitliche Kunst. Die Höhlenmalerei als Spiegel der jungpaläolithischen Geisteswelt, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 8 (2000), 193–211. 5   Vgl. etwa Siegfried Vierzig: Mythen der Steinzeit. Das religiöse Weltbild der frühen Menschen, Oldenburg 2009. 6   Vgl. John E. Pfeiffer: The Creative Explosion. An Inquiry into the Origins of Art and Religion, New York 1982. 4

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spur«.7 Nach Assmann verknüpft sich mit der Gedächtnisspur des Moses eine menschheitsgeschichtliche Differenz, die sich explizit an den Bildern festmacht. Assmann hat in der Person des ägyptischen Pharaos Echnaton und der von ihm durchgeführten Reformen den Ur-Akt einer begrenzenden Intervention in ein mediales gesellschaftliches Ausdruckssystem gesehen. Echnaton initiiert eine Medienrevolution, indem er die Vielfalt der Götterbilder – also die Vielfalt der menschlichen Möglichkeiten, sich mit dem Transzendenten in Verbindung zu setzen – radikal auf eine durch ihn repräsentierte Möglichkeit reduziert. Medientechnisch wäre es so, als ob man alle vorhandenen Fernsehprogramme auf einen einzigen Regierungssender reduzierte. Echnaton hat andere Götter zwar noch zugelassen, er hat sie nur in ihrer Bedeutung depotenziert. Assmann sieht in der erinnerten Figur des Moses nun eine aktualisierende Re-Formulierung dieses Ur-Aktes. Die bei Echnaton bereits angelegte Reduktion wird mit der Figur des Mose zur Frage zugespitzt: Wollen wir überhaupt mediale Repräsentationen? Soll bzw. darf sich eine Religion medial verdinglichen? Assmann sieht das kritisch. Das zentrale Argument lautet: Bilder haben den Vorteil, Übersetzbarkeit herzustellen, die Reduktion der Bilder erzwingt Eindeutigkeit als Wahrheit. Bilder sind menschenfreundlicher, weil sie unterschiedliche Deutungen zulassen. Assmann nennt das die »Mosaische Unterscheidung«8 und sieht darin weitreichende Konsequenzen, denn der Raum, der durch diese Unterscheidung geschaffen wird, »ist der Raum des jüdisch-christlich-islamischen Monotheismus. Es handelt sich um einen geistigen oder kulturellen Raum, der durch diese Unterscheidung konstruiert und von Europäern nunmehr seit fast zwei Jahrtausenden bewohnt wird«9. Und diese »Mosaische Unterscheidung wird im Raum der Bilder getroffen, und der Kampf der Gegenreligion wird gegen die Bilder geführt.«10 In Abgrenzung zur später wieder bilder- und medienfreundlich gewordenen ägyptischen Kultur und später dann zur kanaanäischen Umwelt wird Bild- und Medienkult zur Sünde schlechthin. Mit Echnaton und Mose werden Bilder- und damit Medienfragen zu den zentralen Fragen einer Gesellschaft. Auch Philosophen äußern sich skeptisch gegenüber der Leistungsfähigkeit von Bildern in der Vermittlung von Wissen und Bildung. Platon ordnet in der »Politeia« die Bilderfrage kritisch in Bildungsprozesse ein. Wenn ein Maler einen Stuhl malt, so orientiert er sich – anders als ein Handwerker – nicht an der idealen Idee des Stuhls, sondern an einem konkreten Stuhl, 7

  Vgl. Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998. 8   A.a.O., 17. 9   A.a.O., 18. 10   A.a.O., 21.

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dessen Bild er auf die Bildfläche projiziert. Das heißt, er erzeugt ein Abbild eines Abbilds, also etwas, was sogar wesentlich unvollkommener ist als der konkrete Stuhl und noch einmal unvollkommener als das Original, nämlich die Idee. Denn das zweidimensionale Gemälde ahmt nicht den dreidimensionalen Stuhl nach, sondern nur dessen zweidimensionales Erscheinungsbild. Bilder sind unvollkommen und lügenhaft, es gilt zur reinen Idee aufzusteigen. Die Philosophie ist dem mit dem Gedanken der »bilderlosen Wahrheit« bis in die Gegenwart gefolgt: »Bewußtsein, das zwischen sich und das, was es denkt, ein Drittes, Bilder schöbe, reproduzierte unvermerkt den Idealismus; ein Corpus von Vorstellungen substituierte den Gegenstand der Erkenntnis, und die subjektive Willkür solcher Vorstellungen ist die der Verordnenden. Die materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen, will das Gegenteil: nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot.«11

Aus vielen Gründen standen die Christen den Bildern am Anfang skeptisch gegenüber: Weil sie nicht auffällig werden durften, weil sie nicht über eigene Maler verfügten, und nicht zuletzt, weil das Festhalten am Bilderverbot sie hinderte. Mit anderen Worten: Sie durften, konnten und wollten nicht mit Bildern arbeiten. Das änderte sich mit der zunehmenden Durchsetzung des Christentums. Spätestens seit der Konstantinischen Wende stand man einer visuellen Vermittlungskultur positiv gegenüber. Papst Gregor der Große (gest. 604) schreibt in einem Brief an den Bischof von Marseille: »Denn was den Lesenden die Schrift, das stellt die Malerei den ungebildeten Sehenden [idiotis] vor Augen, weil die Unwissenden [ignorantes] in ihr das sehen, was sie befolgen sollen und die in ihr lesen, die die Buchstaben nicht kennen; deshalb nimmt die Malerei vor allem für die Heiden die Stelle der Lektüre ein.«12

Das wird bis in die Gegenwart so rezipiert, als habe Gregor den Analphabeten (bzw. den Idioten und Ignoranten) die Bilder zugeordnet und den Gebildeten die Schrift. Nun ist jedem klar, der mit pädagogischen Prozessen vertraut ist, dass das Bild allein »gar nichts« sagt. Es ist stumm und es ist die Kunst pädagogischer Vermittlung seit der frühesten Zeit der Menschen, Bilder zum Sprechen zu bringen. Mit Bildern allein lässt sich nicht bilden. Daher fährt Gregor auch in seinem Schreiben fort: 11

  Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 21980, 207.   Zitiert nach Gabriele K. Sprigath: Zum Vergleich von scriptura und pictura in den Briefen von Papst Gregor d. Gr. an Serenus Bischof von Marseille, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 41 (2009), 69–111, 83.

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»[D]er ist allzu dumm, der so an den Farben der Malerei klebt, daß er von den Sachen, die gemalt sind, nichts weiß. Wenn wir die Worte [...] umfassen und den Sinn nicht wissen, wissen wir nämlich auch die gemalten Sachen nicht, wenn wir sie allein für Farben halten.«13

Wer von der zu vermittelnden Geschichte noch nie etwas gehört hat, sieht auf den Bildern nur die Farben, er ist auf die pure Materialität verwiesen. Wem aber die Geschichte einmal vermittelt wurde, der kann anhand der Bilder diese immer wieder vergegenwärtigen, eindringlicher vermutlich, als der bloße Text es je könnte. Das begründet den Erfolg der Bilder gegenüber einer reinen Wortkultur. Solange das Wort dabei die Oberhand behält, befinden wir uns noch in der traditionellen Kultur des Mittelalters, in der Bilder nur dazu dienen, Durchgangspunkt zu etwas Höherem (der Idee oder Gott) zu sein. Aber etwa um 1300 beginnt das Bild die Wortkultur selbst zu verändern – sozusagen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Zum ersten Mal wird anhand der Bilder des Künstlers Giotto (1276–1337) deutlich, das die Malerei ein ganzes Weltbild verändern kann, ja die Maßstäbe zur Beurteilung der Welt neu justieren kann. 200 Jahre vor der Reformation Martin Luthers findet in Florenz eine Umwertung der bis dahin dominierenden Werte statt – was bis in die Gegenwart unser Weltbild prägt. Giotto entschließt sich, nicht mehr die metaphysische Welt zum leitenden Gesichtspunkt der Weltwahrnehmung zu machen, sondern den »Maßstab des Menschlichen« zur Geltung zu bringen. Nun gilt mit anderen Worten: Nicht mehr Gott erschafft den Menschen zu seinem Bilde, sondern der Mensch bildet Gott nach dem Maßstab des Kreatürlichen. Hegel sagt es so: »Giotto nun war es, der sich auf das Gegenwärtige und Wirkliche hinausrichtete, und die Gestalten und Affekte, die er darzustellen unternahm, mit dem Leben selbst, wie es sich um ihn her bewegte, verglich.«14 Diese Veränderung in der Frühzeit der Renaissance verändert die Wirklichkeit. Gut 100 Jahre später wird der flämische Künstler Jan van Eyck (gest. 1441) diese Geschichte der Stärkung der Bedeutung von Bildern im Blick auf das Verstehen und Auslegen der Welt noch einmal entscheidend voranbringen. In seinen Werken, die zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit als Ergebnis von Wissenschaft anerkannt werden,15 ist nun der natürliche Blick auf die Welt, der Naturalismus leitend, der dem Betrachter eine neue Unmittelbarkeit im Zugang zum Bild und damit zugleich zur Welt 13

  A.a.O., 91.   Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil, Berlin 21843, 110. 15   Vgl. das Kapitel »Die Entstehung des Kunstbegriffs« in: Hans Belting: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 22013, 105–124. 14

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ermöglicht und dem Subjekt eine neue Bedeutung in der wahrnehmenden Deutung der Wirklichkeit zumisst. In der Folge werden die Philosophen und Theologen beginnen, ihre Sicht der Welt anhand von Bildern und Kunstwerken zu erklären. Das kann man sehr gut an Nikolaus von Kues (1401–1464) und seiner Schrift »De Visione Dei« studieren. Zwischen 1300 und 1500 nimmt die Bedeutung der Bilder in der Deutung der Welt immer mehr zu. Nahezu alle Kunstwerke, die wir als visuelle Metaphern im Kopf haben, stammen aus der zweiten Hälfte des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das kommt mit der Reformation zu einem radikalen Stillstand. Der reformatorische Furor gegenüber den Bildern bringt neue Spannungselemente in das Verhältnis von Bild und Bildung. So sehr man den Fortschritt durch die reformatorische Bewegung in Sachen »Schule«, »formale Bildung« und »Wissensvermittlung« loben kann, so sehr bedeutete er für den Diskurs der visuellen Argumentation einen herben Rückschritt. Auf der einen Seite setzt die Reformation die Bilder frei von jeder religiösen Funktionalisierung, was aber auch bedeutet, dass Bilder als eigenständige Weltdeutung zunächst nicht mehr gefragt sind. Kunst erringt zwar ihre Autonomie, verliert aber an Bedeutung. Auf der anderen Seite führte die Reformation, weil sie zu den Bildern selbst kein Verhältnis mehr hatte, zu einer kalten didaktisch motivierten Funktionalisierung der Bilder im Sinne von Propaganda. Im Vergleich zur Entwicklung der Kunst vor 1500 wird nun das zu Vermittelnde zum zentralen Gegenstand, Bilder werden zur Illustration religiöser Gewissheiten, die neu entstehende Autonomie der Kunst tritt in den Hintergrund. Dennoch kann man das mit der Reformation sich entwickelnde Selbstverständnis der Kunst als »Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion« deuten, wie es der Leiter der Hamburger Kunsthalle Werner Hofmann 1983 in seiner Ausstellung »Luther und die Folgen für die Kunst« getan hat.16 Wie ein Bilddiskurs ausgesehen hätte, der auf der Höhe der Kunst und der Zeit argumentiert hätte, zeigt das 1533 entstandene Bild »Die Gesandten« des Malers Hans Holbein (gest. 1543). Es ist derartig interkulturell, dass man in einem modernen Sinn fast schon von Multi-Kulti sprechen könnte. Aber sehen kann man das nur, wenn man über die Codes interkultureller Sprache der damaligen Zeit verfügt.17 Wir sehen zwei katholische Gesandte am Hof Heinrichs VIII. von England (1491–1547), in der Zeit, in der sich die Trennung von Rom anbahnt. Die Gesandten sind aber als Humanisten dar16

  Vgl. Werner Hofmann: Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: Werner Hofmann (Hrsg.): Luther und die Folgen für die Kunst. Ausstellungskatalog, München 1983, 23–71. 17   Vgl. Andreas Mertin: Das Gesangbuch der Gesandten. Eine kirchenmusikpolitische Erkundung, in: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik 18 (2016), online: www.theomag.de/103/am552.htm (11. Januar 2018).

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gestellt, die sich der Endlichkeit des Lebens bewusst sind und zugleich den Spaltungen Europas entgegenarbeiten. Während die Religion an den Rand gedrängt ist, findet man im Zentrum des Bildes alles, was zur damaligen Zeit für eine hochqualifizierte Bildung notwendig ist. Im Gegenzug zur protestantischen Bild-Kritik und vor allem zur protestantischen Bild-Agitation korrigiert die katholische Kirche ihre bisherige Haltung zu Bildern. Aber es führt nicht zur Stärkung der Bilder in der neuzeitlichen Kultur, vielmehr werden Bilder auch hier wieder stärker dem Wort untergeordnet. Der Eigensinn von Bildern wird als gefährlich erachtet, nur Bildinszenierungen, deren Steuerung die Kirche selbst in der Hand hat, dürfen geduldet werden. Die gerade errungene Interkulturalität und Freiheit der Bilder sollte also wieder begrenzt werden. So gilt von nun an mit dem Konzil von Trient (1545–1563), dass im katholischen Kontext kein ungewöhnliches Bild gezeigt werden darf, »wenn es nicht von dem Bischofe genehmigt ist«18. Und auch inhaltlich werden Vorschriften erlassen, der sich entwickelnde Humanismus im Bild wird gestoppt: »Besonders sorgfältig aber sollen die Bischöfe das lehren, daß durch die in Gemälden oder andern Bildnissen ausgedrückten Geschichten [...] das Volk in den denkwürdigen, und beharrlich zu verehrenden Artikeln des Glaubens unterwiesen und befestiget, sodann aber großer Nutzen aus allen heiligen Bildern geschöpeft werde, nicht nur weil das Volk dadurch an die Wohlthaten und Gnadengeschenke, die ihm von Christus zuertheilt wurden, erinnert wird; sondern auch weil durch die Heiligen den Gläubigen die Wunder Gottes und heilsame Beispiele vor Augen gestellt werden.«19

Dennoch entwickelt sich in der Kunst des Barock trotz und jenseits dieser religiösen Kontrollphantasien eine Bilderwelt, die aus sich heraus über die bloße Wiedergabe von Glaubensinhalten hinausgeht und Menschen bis heute mitnimmt. Werke von Tintoretto (1519–1594), Caravaggio (1571–1610) oder El Greco (1541–1614) sind fester Bestandteil der Hoch- wie der Populärkultur geworden und erweisen sich auch in einer durch und durch globalisierten Welt als sprachkräftig. Denn was mit der gegenreformatorischen Kunst in die visuelle Kultur Einzug hält, ist die Kunst der Verführung und der Inszenierung, Bilder sind performativ geworden. Da nun beide großen Gruppen – Katholiken und Lutheraner – in der pädagogischen Ingebrauchnahme von Bildern für die Bildung (von Religion) 18

  Jodoc Egli: Das heilige, allgültige und allgemeine Concilium von Trient: das ist: dessen Beschlüsse und heil. Canones nebst den betreffenden päpstlichen Bullen, Luzern 21832, 278. 19   A.a.O., 277.

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einig waren, konnte man auch nach und nach daran gehen, Bilder zum pädagogischen Instrument zu machen. Anders, als wir uns das heute vorstellen, wurde nämlich weit in das 17. Jahrhundert das Bild zwar pädagogisch legitimiert, aber keinesfalls pädagogisch systematisch gebraucht. Aber in der Spätfolge der Reformation wird nun auch den einfachen Schichten mit Hilfe von Bildern Bildung vermittelt. Und der zentrale Beleg dafür ist das »Orbis Sensualium Pictus« des reformierten Theologen Johann Amos Comenius (1592–1670) von 1658, ein in Europa vom 17. bis zum 19. Jahrhundert weit verbreitetes Jugend- und Schulbuch. Comenius ist »der« Didaktiker und Pädagoge des 17. Jahrhunderts. Und seine Existenz wie sein literarisches Schaffen sind Paradebeispiele für Interkulturalität. Biographisch wurde er durch ganz Europa getrieben, von Mähren und Böhmen über Polen und Schweden, nach Ungarn und die Niederlande. Und sein Schulbuch mit dem deutschen Titel »Die Sichtbare Welt« erschien anfangs zunächst mit der Gegenüberstellung eines Bildes mit lateinischem und deutschem Text, dann in erweiterter Ausgabe mit klassischer Formenbestimmung bis hin zu viersprachigen Ausgaben, die auf knapp 1.000 Seiten Deutsch, Latein, Französisch und Italienisch visuell vermittelten. Als Lernprinzipien stellte Comenius Lernen durch Tun und Anschauung vor sprachliche Vermittlung, Muttersprache vor Fremdsprache, Vorbild vor Worte in den Vordergrund. Er war der Erste, der die Pädagogik vom Kind her entwarf. Er forderte eine grundlegende, das Wesentliche umfassende Allgemeinbildung für alle. Bildungspolitisch trat er deshalb für die Chancengleichheit für Mädchen, sozial Schwache und Menschen mit geistigen Behinderungen ein. Seine Prinzipien der Anschauung und der Selbstständigkeit, der Erziehung zum Gebrauch der eigenen Vernunft, seine Vorstellung einer lebensnahen, freundlichen Schule und einer gewaltfreien Erziehung sind bis heute gültig, ebenso sein Ziel, Menschen zur Menschlichkeit zu erziehen und dadurch die Welt zu verbessern: »Grundlage der Erziehungslehre des Comenius ist [...] eine allumfassende Wissenschaft, die den Makrokosmos (das Spiegelbild der Schöpfung) mit dem Mikrokosmos (dem Menschen als Ebenbild Gottes) verbindet. Der Mensch ist ein Spiegel-Wesen; die Re-Flexion führt ihn zur Einsicht in das Ganze. Das Ganze — das heißt auch, daß alle Menschen (omnes) über alles (omnia) im Ganzen (omnino) gelehrt werden müssen. Das Ganze, das sind als Bereiche der Bildung Gott, Natur und Kunst, denen drei Erkenntnisquellen entsprechen: die Bibel, die Realia und das Gemüt.«20

20

  Hans-Jürgen Fraas: Bildung und Menschenbild in theologischer Perspektive, Göttingen 2000, 56.

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Schaut man sich sein Buch genauer an, dann kann man schnell erkennen, dass es nicht nur auf die Verwendung im Unterricht hin konzipiert ist, also als Lehrbuch, sondern vor allem auch als anschauliches Lernbuch für den häuslichen Gebrauch, oder wie es Comenius selbst formuliert: »Man gebe es den Knaben unter die Hand sich damit nach eignem Belieben zubelüstigen in Beschauung der Figuren und dieselben ihnen bekannt zu machen auch zu Haus ehe man sie zur Schul schicket«21. Zur Begründung seines sich vor allem an die Sinne und hier vor allem an den optischen Sinn sich wendenden Verfahrens sagt Comenius: »Es ist aber nichts in dem Verstand, wo es nicht zuvor im Sinn gewesen. Wann nun die Sinnen der Sachen Unterschiedenheiten wohl zu ergreiffen fleissig geübet werden, das ist so viel als zur ganzen Weisheit Lehre und weisen Beredsamkeit und zu allen klugen Lebensverrichtungen den Grund legen.«22 Der über 200 Jahre währende Erfolg gibt Comenius Recht. Erst im 19. Jahrhundert begann man dann, das Buch zu modernisieren und auf den Erkenntnisstand und die Wahrnehmung der Zeit zu bringen, wozu nicht zuletzt auch neue Bilder und die Aufnahme der englischen Sprache gehörten.23

Quelle: Bildarchiv des Magazins für Theologie und Ästhetik 21

  Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus. Die sichtbare Welt, Dortmund 1991, o.P. (Vortrag). 22   Ebd. 23     Vgl. Johann Amos Comenius/Jacob E. Gailer: Neuer Orbis Pictus für die Jugend oder Schauplatz der Natur, der Kunst und des Menschenlebens in 322 lithographischen Abbildungen mit genauer Erklärung in deutscher, lateinischer, französischer und englischer Sprache, Reutlingen 1835. 4

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Welche langfristigen Folgen die am Bild und an der Anschauung orientierte Bildung des Johann Amos Comenius hatte, kann man sehr gut an Johann Wolfgang von Goethes ( 1749–1832) Lebenserinnerungen »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« (ab 1811) ablesen. Dort schreibt er gleich in den ersten Kapiteln Folgendes über seine jugendlichen Lektüren und ihre Wirkung: »Man hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder veranstaltet. Die Alten [...] fanden es bequem, ihre eigene Bildung der Nachkommenschaft mitzuteilen. Außer dem ›Orbis pictus‹ des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände; aber die große Foliobibel, mit Kupfern von Merian, ward häufig von uns durchblättert; Gottfrieds ›Chronik‹, mit Kupfern desselben Meisters, belehrte uns von den merkwürdigsten Fällen der Weltgeschichte; die ›Acerra philologica‹ tat noch allerlei Fabeln, Mythologien und Seltsamkeiten hinzu; und da ich gar bald die Ovidischen ›Verwandlungen‹ gewahr wurde [...], so war mein junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt, und ich konnte niemals lange Weile haben, indem ich mich immerfort beschäftigte, diesen Erwerb zu verarbeiten, zu wiederholen, wieder hervorzubringen.«24

Das beschreibt den Grundstock einer elementaren, auf Bilder gestützten Wissensvermittlung des 18. Jahrhunderts. Bildung inkulturiert sich durch ihre enge Verbindung mit einer anschaulichen Bilderkultur. Auch Goethe ist dies bewusst, wenn er in der Kritik anderer Bücher schreibt, dass diese »jener sinnlich-methodischen Vorzüge ermangelt[en], die wir ähnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen müssen.«25 Und es ist eine Kultur der Grenzen überschreitenden Wissensaneignung, bei der Bilder nicht illustrieren, sondern bei der das Bild zum Text führt – was ja vor allem für Comenius wichtig gewesen ist. Erst spätere Generationen werden den »Orbis Pictus« dazu missbrauchen, Wissen abzufragen oder grundsätzlich den Text dem Bild vorzuordnen.26 24

  Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Norderstedt 2016, 22f. 25   A.a.O., 467f. 26   Johann Georg Hamann findet die Ausgaben des »Orbis Pictus« freilich in seiner »Aesthetica in Nuce« von 1760 als »viel zu gelehrte Bücher für Kinder« (Johann Georg Hamann: Aesthetica in Nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose, in: Johann Georg Haman: Schriften und Briefe. Zu leichterem Verständnis im Zusammenhange seines Lebens erläutert und herausgegeben von Moriz Petri. Zweiter Teil, Hannover 1872, 119–141, 125) – da diese doch erst das Buchstabieren üben müssten. Ein klassischer Einwand eines Philologen, der vom Text zum Bild fortschreitet. Und in Wilhelm Raabes Erzählung »Der Schüdderump« von 1869 wird der »Orbis Pictus« dann freilich zum simplen Abfragebuch, bei dem der Lehrer nur noch die unterschiedlichen Übersetzungen ein und desselben Wortes abfragt (und der Kandidat »winselt«, ob er die richtige Antwort weiß; vgl. Wilhelm Raab: Der Schüdderump, Göttingen

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Das 19. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert, an dessen Ende die Bilder laufen lernten, sondern auch jenes, in dem sie auf breiter Basis unmittelbar (und nicht nur als pädagogische Instrumente) in Büchern und Zeitschriften das Volk erreichen und von diesem goutiert werden. Das geschah auch in Gestalt der Satire, der sich durchsetzenden Tageszeitungen und in den illustrierten Volksschriften. Zugleich entkoppelt sich Bildung und Bild, zunehmend wird das Bild bedeutsamer im Bereich der Unterhaltung. (Das wird sich erst um die Jahrhundertwende wieder etwas ausgleichen.) Bilder bekommen nun, wie bereits in der Reformationszeit, Agitations-Charakter, sie dienen fremden Zielen und ihr Eigenwert tritt zurück. Wie sehr der funktionale Charakter die Wahrnehmung der Bilder selbst beeinflusst, zeigt ein Blick auf einen Holzschnitt aus einem Buch des Schriftstellers und Astronomen Camille Flammarion (1842–1925), den man in der öffentlichen Wahrnehmung für ein Dokument des Mittelalters hielt und der angeblich zeigt, dass die »dummen mittelalterlichen« Menschen die Erde für eine Scheibe hielten.27 Es ist aber vor allem die technische Entwicklung, die nun eine Bilderflut auslöst. Durch verschiedene Verfahren wird die Massenproduktion von Bildern möglich. Und weil man auf Massenproduktion setzt und die Massen als Publikum anzielt, wird auch der Gehalt der Bilder flacher und theatraler – man könnte auch sagen: wirkungsästhetischer.

Quelle: Bildarchiv des Magazins für Theologie und Ästhetik

1972, 101). Das hatte sich Comenius nicht so gedacht, ist aber charakteristisch für die Pädagogik des 19. Jahrhunderts. 27   Vgl. Näheres dazu im Artikel »Flammarions Holzstich« der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Flammarions_Holzstich (27. September 2017). 3

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Zugleich aber werden die Bilder auch – ganz im Sinne der naturalistischen Wende Giottos um 1300 – realistischer. Anhand der filmischen Bewegt-Studien konnten Künstler und auch Kinobesucher Bewegungsabläufe im Detail studieren. »Wie im richtigen Leben« – eine Philosophie von Comenius – konnten die Bilder nun sein. Ja, es konnte der Eindruck entstehen, dass die bewegten Bilder ein Spiegel des Lebens seien. Das waren sie freilich am Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht. Sie waren weit mehr von bestimmten pathetischen Formen des Theaters beeinflusst, von Passionsspielen und Volksschauspielen. Der legendäre Film »Leben und Passion Christi« der Gebrüder Auguste (1862–1954) und Louis Lumière (1864–1948) lässt uns heute eher lachen, es ist kein Beitrag zur Bildung, sondern – wie 100 Jahre später Mel Gibsons Schandwerk »Die Passion Christi«28 – eher etwas zur Belustigung bzw. zum Entsetzen. Dabei ist die visuelle Kultur der laufenden Bilder aber nicht stehen geblieben. Der Film hat sich – lange Zeit gegen den lautstarken Protest der Kirchen – zum wirksamsten Medium in der Geschichte der Menschheit entwickelt.29 Ein guter Teil unserer Meinungs-, Werte-, ja sogar der Religions-Bildung findet heute in und mit den visuellen Medien statt.30 Nicht das rechte Wort, sondern das passende Bild will gefunden sein. Dieser Entwicklung sind längst auch die Religionen bzw. die Kirchen gefolgt, ja selbst die Internationale der Terroristen beherrscht das: »Bildern wird in einschlägigen Diskursen eine wichtige Bedeutung für viele alltägliche und außeralltägliche Bereiche des Lebens zugesprochen. Die Verbreitung von technisch-apparativen Bildmedien und Massenmedien im 19. und 20. Jahrhundert hat diese Einschätzung nicht geschmälert, im Gegenteil: Heute werden Bilder mitunter zum Leitmedium westlicher Kulturen erklärt [...], womit impliziert wird, niemand könne sich entziehen. Mit der gängigen Metapher der ›Bilderflut‹ wird dann Sorge und Faszination zugleich zum Ausdruck gebracht: einmal wird die Allgegenwart von Bildern als Bedrohung und Verdrängung geschätzter Kultur, etwa der Buchkultur, gesehen, ein anderes Mal als Ergänzung und neue Möglichkeiten eröffnende Bereicherung kulturellen Lebens.«31

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  Vgl. Michael Wermke: Mad Max goes to Golgatha. Drei Thesen und ein Nachwort, in: tà katoptrizómena – Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik 6 (2004), online: www.theomag.de/29/mw1.htm (11. Januar 2018). 29   Vgl. Jörg Herrmann: Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion, Göttingen 2007; Jörg Herrmann: Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 22002. 30    Vgl. Inge Kirsner/Michael Wermke (Hrsg.): Gewalt. Filmanalysen für den Religionsunterricht, Göttingen 2004; Inge Kirsner/Michael Wermke (Hrsg.): Passion Kino. Existenzielle Filmmotive in Religionsunterricht und Schulgottesdienst, Göttingen 2011; Inge Kirsner/Michael Wermke (Hrsg.): Religion im Kino. Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen, Göttingen 2000.

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Dem entspricht freilich keine Steigerung in der Kompetenz der Wahrnehmung und Deutung dieser Bilderkultur durch die Rezipienten. Es gibt in unserem Schulsystem nur sehr begrenzt eine spezifische Bildung zur Bildwahrnehmung oder Medienkompetenzentwicklung. In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kultur war die Kompetenz im Umgang mit Bildern an sehr wenige Menschen gebunden, sie entsprang »der Erfindungskraft eines homogenen sozialen Milieus [...], dessen Mitglieder alle dieselben Vorstellungen, dasselbe kulturelle Gepäck mitbrachten, [...] die ihre Ausbildung in denselben Schulen empfangen hatten«32. Man braucht hier nur an Bischof Bernward von Hildesheim (gest. 1022) und die Kultur der dortigen Domschule zu denken. Bernwards Bildkompetenz zeigt sich ja an der Gestaltung der Bernwardstür oder der Bernwardssäule im Hildesheimer Dom. Heute ist Kultur zwar demokratisiert, aber die Ausbildung der Fähigkeit in Bildern mehr als Design, mehr als Illustration oder Unterhaltung zu sehen, nimmt ab. In der Schule wird zwar Kunst, nicht aber Bildwissenschaft gelehrt33 und gelernt und man macht sich Gedanken um die Visualisierung von Inhalten, weniger aber um die Bedeutung und Deutung von Bildern an sich. Auch das könnte man ein Erbe der Reformation nennen. Man vertraut auf das rechte Wort und vergisst die Macht der Bilder. Bilder machen uns zu Menschen, der Mensch ist ein Homo pictor – das stand am Anfang meiner Überlegungen. Alle großen Epochenbrüche sind immer auch Medienbrüche und/oder durch Bilderstreitigkeiten begleitet. Oft gehen die Bildentwicklungen den kognitiven Umwälzungen voraus (so wie die Revolution Giottos der Reformation Luthers), manchmal können sie nur darauf reagieren. Entsprechend kommt es in jeder Zeit darauf an, mit Bildern angemessen umgehen zu können. Das Bildungskonzept der Reformation, das uns in vielerlei Hinsicht in die Moderne gebracht hat, hat uns genau in diesem Punkt im Stich gelassen. Es hat uns ein funktionales, kein emanzipatorisches Verständnis von Bildern vermittelt. Hier liegt noch viel Zukunftsarbeit für diejenigen, die im Bildungsbereich arbeiten: 31

»Der Blick auf Bilder und Bildlichkeit eröffnet vielfältige Perspektiven und Forschungshorizonte in der Erziehungswissenschaft, etwa in Bezug auf Funktionen, die Bilder in Zusammenhängen von Bildung und Erziehung haben, haben sollen und haben können. Das betrifft auch eine Ikonographie der Erziehung und 31

    Olaf Dörner/Burkhard Schäffer: Editorial zum Schwerpunktthema »Bild, Bildung und Erziehung«, in: Zeitschrift Bildungsforschung 8 (2011), 7–13, 7. 32   Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980–1420, Frankfurt am Main 21994, 332. 33   Vgl. Franz Billmayer: Kunst ist der Sonderfall – Bildunterricht statt Kunstunterricht, online: www.kunstlinks.de/material/peez/2007-05-billmayer.pdf (27. September 2017).

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Bildung: Inwieweit werden Bildung, Erziehung und Lernen bildlich dargestellt/ abgebildet? Inwieweit unterscheiden sich bildliche Darstellungen von begrifflich-theoretischen Verständnissen? Hinsichtlich einer Ikonologie von Bildung und Erziehung kann danach gefragt werden, in welchen zeit-/sozialhistorischen Zusammenhängen bildliche Darstellungen von Bildung, Erziehung und Lernen stehen, was sie zu Ideen, Gedanken und Erfahrungen hinsichtlich von Bildung und Erziehung, zu Bildungs- und Erziehungswirklichkeiten vermitteln können. Und im ikonischen Verständnis kann nach der Eigenlogik bzw. dem Eigensinn von Bildern gefragt werden. Inwieweit dokumentieren Bilder jenseits und diesseits ausdrücklicher Pädagogik, also auch solche, die nicht primär im Zusammenhang von institutionalisierter Pädagogik stehen, Aspekte von Bildung und Erziehung?«34

Ein schönes Programm für die nächsten 60 Jahre.

34

  Dörner/Schäffer: Editorial, 8.

Jakobus als Lehrer Eine Skizze nach dem Jakobusbrief Karl-Wilhelm Niebuhr

Während die Frage nach Jesus als Lehrer in der neutestamentlichen Exegese geradezu ein Standardthema ist,1 haben andere im Neuen Testament erwähnte Lehrer, seien es namentlich bekannte Einzelne oder anonyme Gruppen, in der Forschung weit weniger Aufmerksamkeit gefunden.2 Die Ausbeute für Erwähnungen eines διδάσκαλος oder mehrerer ist freilich, wenn man Jesus weglässt, im Neuen Testament auch nicht besonders groß: Lk 6,40/Mt 10,24 (»der Schüler steht nicht über dem Lehrer«), Lk 2,46 (der zwölfjährige Jesus im Kreis der Jerusalemer Lehrer), Joh 3,10 (Nikodemus, der »Lehrer Israels«), Apg 13,1 (Propheten und Lehrer in der Gemeinde von Antiochia),3 Röm 2,20 (ein fiktiver »Lehrer der Unmündigen«), 1Kor 12,28f. (Apostel, Propheten, Lehrer in der Gemeinde), Eph 4,11 (Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer), 1 Tim 2,7 und 2 Tim 1,11 (Paulus als »Lehrer der Völker«), 2 Tim 4,3 (Irrlehrer, die den Adressaten »die Ohren kitzeln«) sowie Hebr 5,12 (die Adressaten hätten längst Lehrer sein sollen, bedürfen aber selbst noch der Belehrung).4 Etwas häufiger wird der Akt des Lehrens (διδάσκειν) in Bezug 1

  Vgl. Chris Keith: Jesus’ Literacy. Scribal Culture and the Teacher from Galilee, New York/London 2011; Peter Müller: »Wer ist dieser?« Jesus im Markusevangelium. Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer, Neukirchen-Vluyn 1995; Karl-Wilhelm Niebuhr: Jesus als Lehrer der Gottesherrschaft und die Weisheit. Eine Problemskizze, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 53 (2001), 116–125; Rainer Riesner: Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung, Tübingen 31988; Veronika Tropper: Jesus Didáskalos. Studien zu Jesus als Lehrer bei den Synoptikern und im Rahmen der antiken Kultur- und Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 2012. 2   Vgl. Alfred F. Zimmermann: Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der διδάσκαλοι im frühen Christentum, Tübingen 21988. Als Überblick vgl. auch Hans-Friedrich Weiß: διδάσκω didaskō lehren, διδάσκαλος didaskalos Lehrer, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Band 1 (1980), 764–769. 3   Dies ist der einzige Beleg für das Substantiv in der Apostelgeschichte. 4   Die Eigenständigkeit eines »Lehrstandes« gegenüber dem »Hirtenamt« von Presbytern und Bischöfen in den frühchristlichen Gemeinden wird auf der Grundlage des gesamten neutestamentlichen Befundes kompakt herausgearbeitet von Heinz Schürmann: »… und Lehrer«. Die geistliche Eigenart des Lehrdienstes und sein Verhältnis zu anderen geistlichen Diensten im neutestamentlichen Zeitalter, in: Wilhelm Ernst

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auf Jesus, auf seine Jünger oder auf Mitglieder frühchristlicher Gemeinden thematisiert.5 Im frühen Christentum bis zum 2. Jahrhundert erweitert sich der Kreis der erwähnten Lehrer ein wenig,6 und eine in dieser Zeit entstandene Schrift trägt sogar den Titel »Lehre der zwölf Apostel«.7 Zu dem Lehrer Jakobus allerdings, dem (fiktiven oder tatsächlichen) Verfasser des gleichnamigen neutestamentlichen Briefes, ist bisher recht wenig publiziert worden.8 In einem anderen Beitrag habe ich kürzlich die These zu begründen versucht, dass sich hinter dem Plural διδάσκαλοι in Jak 3,1 der Autor des Briefes verbirgt, der sich in Fortführung des Satzes mit anderen zu einem Jerusalemer Lehrerkollektiv verbindet, dem wir u.a. auch den Brief verdanken:9 »Nicht so viele von euch sollten Lehrer werden, meine Brüder (und Schwestern), weil wir ja wissen, dass wir ein umso schärferes Urteil empfangen werden, denn in vieler Hinsicht straucheln wir allesamt« (Jak 3,1f.).10

Der Autor des Briefes, der sich im Präskript als »Sklave Gottes und des Herrn Jesus Christus« vorstellt (Jak 1,1), rechnet sich hier also zur Gruppe der Lehrer und verbindet das gezielte Niedrigkeitsprädikat »Sklave« mit einem ihn als Lehrer zumindest einschließenden Bekenntnis zur Fehlbarkeit. Wie »Jakobus der Gerechte« – so das im frühen nachneutestamentlichen Chris-

(Hrsg.): Dienst der Vermittlung. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Philosophisch-Theologischen Studiums im Priesterseminar Erfurt, Leipzig 1977, 107–147. 5   Vgl. als Überblick Klaus Wegenast: Lehre, in: Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Band 2 (2000), 1255–1265. 6   Vgl. Zimmermann: Die urchristlichen Lehrer, wo die einschlägigen Belege aus der Didache (a.a.O., 141–143), dem Barnabasbrief (a.a.O., 210f.), dem Martyrium des Polykarp (a.a.O., 213) und dem Hirten des Hermas (a.a.O., 213f.) besprochen werden. 7   Zum Titel der Schrift vgl. Kurt Niederwimmer: Die Didache, Göttingen 21993, 81f. 8   Vgl. Rainer Metzner: Der Lehrer Jakobus. Überlegungen zur Verfasserfrage des Jakobusbriefes, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 104 (2013), 238–267; Joachim Wanke: Die urchristlichen Lehrer nach dem Zeugnis des Jakobusbriefes, in: Rudolf Schnackenburg/Josef Ernst/Joachim Wanke (Hrsg.): Die Kirche des Anfangs. Festschrift für Heinz Schürmann, Leipzig 1977, 489–511; Zimmermann: Die urchristlichen Lehrer, 194–208. 9   Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr: Der erinnerte Jesus bei Jakobus. Ein Beitrag zur Einleitung in einen umstrittenen Brief, in: Michael Labahn (Hrsg.): Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament. Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle, Göttingen 2017, 307–329. 10  Zu den Übersetzungsproblemen vgl. Zimmerman: Die urchristlichen Lehrer, 199–201.

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tentum verbreitete Prädikat des Herrenbruders11 – klingt das nicht gerade, für mich ein wichtiges Argument, die häufig vertretene Spätdatierung des Briefes, verbunden mit der Annahme der Pseudepigraphie, in Zweifel zu ziehen.12 Wie wäre es dagegen, in Jakobus, dem Bruder Jesu (Mk 6,3), der durch seine Begegnung mit dem auferstandenen Christus (1 Kor 15,7) zu einer Zentralgestalt des frühesten Christentums wurde (Gal 1,19; 2,9), das neutestamentliche Urbild eines christlichen Lehrers zu sehen? Im Folgenden gehe ich von dieser Annahme aus den Brief durch und trage zusammen, was für ein Bild von Lehrer, Lehre und Lehren sich daraus ergibt. Ich beschränke mich dabei auf eine textinterne Untersuchung von Jak 3,1–4,10 und lasse alle Fragen der historischen Rekonstruktion, sei es im Blick auf den Verfasser,13 die Situation der Adressaten,14 die sozial- und bildungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen15 oder die religionsgeschichtlichen Einordnungen des Briefes16, hier erst einmal beiseite. Das alles geschieht ohne jeglichen Anspruch religionspädagogischer oder gar bildungstheoretischer Kompetenz und ist nicht mehr als ein freundlicher Gruß des Exegeten an seinen religionspädagogischen Kollegen, dem dieser Beitrag zum 60. Geburtstag gewidmet ist.

1. Wahrhaftigkeit und Fehlbarkeit (Jak 3,1–12) In Jak 3,1f. ermahnt Jakobus die Adressaten, nicht danach zu streben Lehrer zu werden.17 In der Wir-Form bezieht er sich selbst in die Gruppe der Leh11

  Vgl. dazu Roland Deines: Jakobus. Im Schatten des Größeren, Leipzig 2017, 277–358; Wilhelm Pratscher: Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, Göttingen 1987, 102–260. 12   Vgl. Niebuhr: Der erinnerte Jesus, 322–326. 13   Vgl. dazu meinen in Anmerkung 9 genannten Aufsatz. 14   Vgl. dazu Karl-Wilhelm Niebuhr: Der Jakobusbrief im Licht frühjüdischer Diasporabriefe, in: New Testament Studies 44 (1998), 420–443. 15   Umfassend zum antiken Schulwesen vgl. Tor Vegge: Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, Berlin/New York 2006, 3–340. Zimmermann: Die urchristlichen Lehrer, 69–75, 81–83, trägt die wenigen Belege für religiöse oder philosophische Lehrer aus frühjüdischen und griechischen Quellen zusammen und verweist dabei auf Flavius Josephus und auf Jerusalemer Ossuare zu pharisäischen Lehrern. 16   Vgl. dazu Karl-Wilhelm Niebuhr: Glaube im Stresstest. Πίστις im Jakobusbrief, in: Jörg Frey/Benjamin Schliesser/Nadine Ueberschaer (Hrsg.): Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, Tübingen 2017, 473–501; Karl-Wilhelm Niebuhr: Jakobus und Paulus über das Innere des Menschen und den Ursprung seiner ethischen Entscheidungen, in: New Testament Studies 62 (2016), 1–30. 17   Vgl. Zimmermann: Die urchristlichen Lehrer, 201: »Jak 3,1 bezweckt also, ›Kandidaten‹ für das Lehramt von diesem abzuhalten.«

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rer mit ein. Das ist deshalb auffällig, weil der Autor sonst im Brief mit der Wir-Rede (anders als zum Beispiel Paulus) eher sparsam umgeht.18 Es handelt sich also hier um eine gezielte, ins Auge fallende Formulierung, die der Briefschreiber einsetzt, um etwas über sich und sein Verhältnis zu seinen Adressaten auszusagen. Welche inhaltlichen Belange im Blick auf die Lehrerrolle in dieser ein wenig versteckten Selbstbezeichnung des Briefautors mitschwingen, wird nicht explizit gesagt, sondern lässt sich nur bei einer sorgfältigen Lektüre des Briefganzen erhellen. Ich trage im Folgenden einige Ambivalenzen zusammen, die das Bild des Jakobus als Lehrer aufweist. So wendet sich Jakobus in der Weiterführung seines Gedankens in Jak 3,2b der Wahrhaftigkeit im Reden zu und verknüpft dieses Thema mit dem Gesamtanliegen seines Briefes: »Wer beim Reden nicht strauchelt, ist ein vollkommener Mensch, dazu in der Lage, auch den ganzen Leib im Zaum zu halten« (Jak 3,2b).19

Das Idealbild eines solchen vollkommenen, »ganzheitlichen« Menschen hatte er schon im Briefeingang gezeichnet und dem des in sich gespaltenen Zweiflers entgegengestellt: »Ihr wisst doch, dass die Prüfung eures Glaubens Ausdauer bewirkt, die Ausdauer aber ein vollkommenes Werk mit sich bringt, damit ihr vollkommen seid und ganz, ohne irgendwelchen Mangel« (Jak 1,3f.). »Wer zweifelt, gleicht der Wasserwoge, die vom Sturm aufgewühlt wird. Jener Mensch soll nicht meinen, irgendetwas vom Herrn zu empfangen, als zerspaltener, unordentlicher Mann, auf allen seinen Wegen« (Jak 1,6–8).

Dagegen gilt: »Selig der Mann, der die Versuchung erträgt, denn wer sich bewährt hat, wird den Kranz des Lebens empfangen, den Er denen versprochen hat, die Ihn lieben« (Jak 1,12). 18

  Nur in zehn Versen überhaupt (an acht Stellen) kommt die erste Person Plural im Brief vor. Vier Belege beziehen sich auf das gemeinsame theologisch-christologische Grundbekenntnis von Autor und Adressaten (Jak 1,18; 2,1; 3,9; 4,5), ein weiterer auf beide als Nachkommen Abrahams (2,21). Zweimal verwendet Jakobus die Wir-Form zur Kennzeichnung von gemeinsamen Glaubenserfahrungen bzw. religiösen Überzeugungen (5,11.17), nur einmal im Sinne eines rhetorischen »wir«, das dann auch als »man« übersetzt werden kann (3,3). Dazu kommt 4,13–15 in der wörtlichen Rede der Händler. 19   Vgl. zur Argumentation in Jak 3,1–18 ausführlich Susanne Luther: Sprachethik im Neuen Testament. Eine Analyse des frühchristlichen Diskurses im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief, Tübingen 2015, 145–170.

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Jetzt, in Jak 3,2-12, wird dieses im Ganzen positive Menschenbild des Glaubenden in seiner Ambivalenz entfaltet, und zwar mit Blick auf die besonderen Gefahren des Lehrerstandes. Wie schon im Briefeingang gebraucht der Autor auch hier unmittelbar einleuchtende Bilder: »Wenn wir Pferden Zaumzeug ins Maul legen, damit sie uns gehorchen, so lenken wir ihren ganzen Leib. Und sieh nur die Schiffe: wie groß sind sie und werden von harten Winden getrieben, doch gelenkt von einem winzigen Steuerruder, wohin der Impuls des Steuermanns will. So ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich doch großer Dinge« (Jak 3,3–5a).

Dass solche selbstvergessene Rhetorik auch tödliche Gefahren in sich bergen kann, macht sogleich das nächste Bild klar: »Sieh nur, welch kleines Feuer welch großen Wald ergreift! Und die Zunge ist ein solches Feuer, ein Kosmos von Ungerechtigkeit; die Zunge lässt sich in unsern Gliedern nieder, beschmutzt den ganzen Leib und entflammt das Rad des Werdens, selbst enflammt von der Hölle« (Jak 3,5f.).

So muss der einsichtige Lehrer bekennen: »Die gesamte Natur der Landtiere, Vögel, Kriechtiere und Meerestiere lässt sich zähmen und wird gezähmt durch die menschliche Natur. Die Zunge aber kann kein Mensch zähmen; sie ist ein ungeordnetes Böses, voller todbringendem Gift. Mit ihr loben wir den Herrn und Vater und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die doch nach Gottes Ebenbild geworden sind. Aus demselben Mund gehen heraus Segen und Fluch« (Jak 3,7–10a).

Daran schließt sich sein Appell: »Nicht so, meine Brüder (und Schwestern), so darf es nicht sein! Kann denn die Quelle aus derselben Öffnung Süßes und Bitteres hervorsprudeln lassen? Kann denn, meine Brüder (und Schwestern), die Feige Oliven tragen oder der Weinstock Feigen? So kann auch Salzwasser nichts süßen« (Jak 3,10b–12).

Offenkundig wird mit solchen Aussagen der Erfahrungsbereich von Lehrern weit überschritten und es kommen allgemein menschliche Einsichten zur Sprache. Aber die Anrede an die Brüder (und Schwestern) in den Adressatengemeinden hält doch den gesamten Abschnitt zusammen.20 Allen, die unbesonnen danach streben Lehrer zu werden, wird also erst einmal ohne 20

  Die Anrede in Jak 3,1 (ἀδελφοί μου) bildet mit 3,12 (ἀδελφοί μου) eine inclusio.

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Umschweife vor Augen geführt, was da auf sie zukommen kann. Der Lehrer belehrt die angehenden Lehrer aus eigener Erfahrung. Wenn höchste Maßstäbe angelegt werden, Vollkommenheit, und warum sollte das von Lehrern nicht erwartet werden, dann werden auch tiefste Abgründe sichtbar, die Hölle. Und wenn schon für jeden Menschen die Zunge eine Gefahr darstellt, Reden in seinen Folgen oft unabsehbar ist, um wieviel mehr gilt das dann für Lehrer, deren Beruf ja zu weiten Teilen aus Reden besteht. Eine »Einladung zum Lehrerberuf« sieht wohl anders aus! Aber die Warnung vor unbedachter Wahl des Lehrerberufes erschließt sich zugleich als Einsicht in die für alle Menschen geltenden Grenzen eigener Möglichkeiten und Fähigkeiten. Ein realistischer Blick auf die Angeredeten wie auf sich selbst scheint jedenfalls den Lehrer Jakobus auszuzeichnen.

2. Weisheit und Streitsucht (Jak 3,13–18) Jakobus bleibt weiter am Ball und lässt die Adressaten nicht aus seinen Fängen. Im folgenden Abschnitt Jak 3,13–18 geht es zwar um Richtlinien und Erfahrungen, die für alle Menschen gelten, insbesondere für die im Brief von Anfang an angesprochenen Christen.21 Aber die im unmittelbaren Textzusammenhang Angeredeten sind immer noch Gemeindeglieder, die Lehrer werden wollen ohne zu wissen, was da auf sie zukommt. Nicht mehr einleuchtende Bilder werden ihnen allerdings jetzt vor Augen gestellt, sondern eher altbekannte, traditionelle Maßstäbe und Werte. Die Weisheit lehrt sie seit alters, und jeder gute Lehrer lehrt sie immer wieder neu. So auch Jakobus:22 »Wer unter euch ist weise und verständig? Der erweise an einem guten Lebenswandel seine Werke in sanftmütiger Weisheit« (Jak 3,13).

»Guter Lebenswandel« (καλὴ ἀναστροφή) und »Werke« (ἔργα) führen in den Bereich der Ethik und damit zu einem Hauptanliegen des Jakobusbriefes, das freilich nicht gegen sein Verständnis des Glaubens ausgespielt werden darf (ebenso wenig wie gegen ein paulinisches Glaubensverständnis).23 Glaube kann sich nach Jakobus durchaus sehen lassen, kann gezeigt werden 21

  Der Abschnitt greift das schon im Briefeingang eingeführte Stichwort »Weisheit« wieder auf, vgl. Jak 1,5 (dazu Niebuhr: Jakobus und Paulus, 11–13). 22   Zur Weisheitsüberlieferung im Jakobusbrief vgl. Hermann von Lips: Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1990, 409–437. 23   Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr: Gerechtigkeit und Rechtfertigung bei Matthäus und Jakobus. Eine Herausforderung für gegenwärtige lutherische Hermeneutik in globalen Kontexten, in: Theologische Literaturzeitung 140 (2015), 1329–1348 (besonders 1343–1346).

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(δειξάτω),24 ohne dass damit irgendeine Form von selbstgemachtem Glauben oder gar »Werkgerechtigkeit« gemeint wäre.25 Das Gegenteil ist der Fall: Wie kein anderer Autor im Neuen Testament redet Jakobus vom geschenkten Glauben und von einer Passivität des Heilsempfangs, die metaphorisch als Geburtsvorgang geschildert wird, mit Gott als Vater und Mutter zugleich (Jak 1,17f.). Was kann ein Säugling schon beitragen zu seiner eigenen Geburt, außer hinterher zu schreien? Freilich, der offenkundige Widerspruch zwischen geschenktem Glauben und selbst verantworteter ethischer Unzulänglichkeit wird im Jakobusbrief besonders scharf akzentuiert. In unserem Zusammenhang legt der Autor vor allem Wert auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Adressatengemeinden, und zwar auf solche, die, weil nicht immer an äußerlich sichtbare Handlungen gebunden (ähnlich wie der Glaube), oft nur schwer definierbar oder gar justiziabel sind: Eifersucht, Streitsucht, Ruhmsucht, Selbsttäuschung. Dass er dabei immer noch (seit Jak 3,1f.) besonders Lehrer (und Lehrerinnen) anspricht, zu denen er sich selbst rechnet, soll nicht vergessen werden: »Wenn ihr aber bittere Eifersucht und Streitsucht in eurem Herzen tragt, dann prahlt nicht und täuscht euch nicht entgegen der Wahrheit. Das ist nicht die Weisheit, die von oben herabkommt, sondern eine irdische, weltlich-vergängliche, dämonische. Denn wo Eifersucht und Streitsucht herrschen, da gibt es Unordnung und jegliche schlechte Tat« (Jak 3,14f.).

»Jegliche schlechte Tat« (πᾶν φαῦλον πρᾶγμα) ist also das Ergebnis einer niederen Gesinnung, die aus inneren Regungen erwächst, welche nur schwer einzudämmen sind. Jakobus hat durchaus tiefe Einsichten gewonnen in die innere Beschaffenheit des Menschen (Mann wie Frau26), die er seinen ethischen Ermahnungen zugrunde legt. Nach antiken Maßstäben befindet er sich damit auf der Höhe zeitgenössischer Psychologie.27 Diese war allerdings, im Rahmen antiker Popularphilosophie, stark wertorientiert, wie sich auch

24

  Vgl. auch Jak 2,18.   Vgl. Niebuhr: Glaube im Stresstest, 479–486. 26   Die Terminologie »Mann« bzw. »Mensch« im generischen Sinn von »jedermann« wechselt im Jakobusbrief ohne jegliche Bedeutungsunterschiede (vgl. ἀνήρ Jak 1,8.12.20.23; 2,2; 3,2; ἄνθρωπος 1,7.19; 2,20.24; 3,8.9; 5,17), ein schönes, frühes Beispiel für gendersensible Sprache. Deshalb ist auch die briefliche Anrede »Brüder« immer inklusiv zu verstehen. 27   Vgl. dazu näherhin Niebuhr: Jakobus und Paulus, 5–11. 25

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im Jakobusbrief immer wieder zeigt.28 Die Verbindung von biblisch-jüdischer Weisheitstradition und hellenistisch-römischer Popularphilosophie ist prägend für das geistige Milieu, dem auch der Verfasser des Jakobusbriefes zuzurechnen ist.29 Das zeigt sich nun auch an der folgenden positiven Ermahnung der Adressaten, die sich ausdrücklich an einer »Weisheit von oben« (Jak 3,15.17) orientiert: »Die Weisheit von oben ist dagegen zunächst einmal heilig, sodann friedlich, anständig, folgsam, voller Barmherzigkeit und guter Früchte, unerschütterlich, ungeheuchelt. Frucht der Gerechtigkeit in Frieden wird in diejenigen eingesät, die Frieden machen« (Jak 3,17f.).

Die Prädikate, die den von solcher Weisheit geleiteten Lebenswandel auszeichnen, sind auch hier stark wertorientiert und bezeichnen eher umfassende Lebenshaltungen als konkrete Verhaltensweisen. Das entspricht manchen anderen paränetischen Abschnitten im Brief (Jak 1,22f.; 1,26f.), obwohl es auch Passagen mit sehr konkreten Handlungsanweisungen gibt, vor allem im Bereich des Sozialen (2,6f.; 2,15f.; 5,1–6). Mit der Lokalisierung der ethischen Werte bei der »Weisheit von oben« (ἡ σοφία ἄνωθεν) nimmt der Autor ein Vorstellungs- und Denkschema auf, das auch seine Gottesvorstellung bestimmt: Gott ist »oben«, als »Vater der Lichter«, von dem her »alle guten Gaben und jedes vollkommene Werk herabkommen« und bei dem es »kein Abweichen und nicht den Schatten eines Wankens gibt« (1,17).30 Neben die anthropologische Orientierung nach Räumen »innen« und »außen«31 tritt also eine theologische nach Räumen »oben« und »unten«. Dem irdischen, weltlich-vergänglichen, dämonischen Lebensraum (3,15) steht die überirdische

28

  Umfassende Wertbegriffe wie »gut« (Jak 1,17; 3,17), »schön« (2,3.7.8.19; 3,13; 4,17), »vollkommen« (1,4.17.25; 3,2) und »gerecht« (1,20; 2,23; 3,18; 5,6.16), aber auch Negativbegriffe wie »Unordnung« (1,8; 3,8.16), »Ungerechtigkeit« (3,6), »böse« (2,4; 4,16) und »schlecht« (1,13.21; 3,8; 4,3) durchziehen den ganzen Brief. 29   Hierin ist er eng verwandt mit der Sapientia Salomonis, vgl. dazu Karl-Wilhelm Niebuhr: Die Sapientia Salomonis im Kontext hellenistisch-römischer Philosophie, in: Karl-Wilhelm Niebuhr (Hrsg.): Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos), Tübingen 2015, 219–256. 30   Zum Gottesbild im Jakobusbrief vgl. Stefan Wenger: Der wesenhaft gute Kyrios. Eine exegetische Studie über das Gottesbild im Jakobusbrief, Zürich 2011, besonders 105–122, sowie die demnächst abgeschlossene Jenaer Dissertation von Michael Glöckner: Bildhafte Sprache im Jakobusbrief. Untersuchungen zu Form, Inhalt und Erschließungspotential der metaphorischen Rede einer frühchristlichen Schrift: »1. Wie und wer ist Gott? (Theologie in bildhafter Sprache)«. 31   Jak 1,13–15; vgl. dazu Niebuhr: Jakobus und Paulus, 8–10.

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Welt Gottes gegenüber.32 Damit wird auch der Ursprung der Weisheit, die das menschliche Zusammenleben auf Erden bestimmen soll, »oben«, also bei Gott, und somit »außen«, also nicht am Ort innerer Selbstbesinnung des Menschen, verortet. Das unterscheidet die Anthropologie und Ethik des Jakobusbriefes von der stoischen Ethik und verbindet sie mit der frühjüdischen Paränese.33 Entscheidende Grundlage für die ethische Unterweisung und Ermahnung im Jakobusbrief ist damit ein Wertekanon, der bei Gott seinen Ursprung hat, allerdings nicht auf theologischen Höhen verbleibt, sondern sozusagen »heruntergebrochen wird« (κατερχομένη) auf die Ebene menschlichen Zusammenlebens, ja »eingesät« wird in das Irdische, um dort Früchte zu tragen. Man kann also, um im Bild zu bleiben, durchaus sagen: Die religiös begründete Ethik im Jakobusbrief wird »geerdet« in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Adressaten (immer noch: der Glieder der Gemeinden, an die Jakobus schreibt, und im besonderen derer unter ihnen, die Lehrer werden wollen), wird irdisch verwurzelt, um Früchte tragen zu können. Die wichtigste Frucht ist der Friede.

3. Krieg und Frieden (Jak 4,1–10) Äußerst hart folgt allerdings auf den Frieden der Krieg:34 »Woher kommen denn Krieg und Schwert bei euch? Nicht daher, dass in euren Gliedern die Gelüste miteinander streiten? Ihr seid begierig, aber behaltet nichts; ihr mordet und seid eifersüchtig, und könnt doch nichts erreichen; ihr kämpft mit dem Schwert und führt Krieg, doch nichts könnt ihr behalten, weil ihr es nicht für euch erbittet; ihr bittet wohl, aber ihr nehmt nichts an, weil ihr in schlechter Weise um etwas bittet, damit ihr es für eure Gelüste vergeuden könnt« (Jak 4,1–3).

Der Stil ist jetzt schneidend,35 die Polemik heftig. Nicht mehr sachlich abwägende Erwägungen und freundlich korrigierende Hinweise prägen den Ton, sondern schärfste Zurechtweisungen und geradezu vernichtende Urteile. Offenbar bieten die Verhältnisse vor Ort, in den Gemeinden, an die Jakobus schreibt, den Anlass für seine Polemik. Sie ist keineswegs »usuell«, 32

  Vom »Himmel« ist freilich nur in Jak 5,12, wo es um die Schwurinstanzen »beim Himmel« oder »bei der Erde« geht, sowie als Ort, woher der Regen kommt (5,18), die Rede. Auch eine »Unterwelt« gibt es im Jakobusbrief nicht. 33   Vgl. Niebuhr: Jakobus und Paulus, 18–22.27–30. 34    Vgl. den Übergang von Jak 3,18 auf 4,1: »[…] τοῖς ποιοῦσιν εἰρήνην. πόθεν πόλεμοι […]«. 35   In der Regel nennt man das »Diatribenstil«, wenngleich damit keine antike Literaturgattung bezeichnet wird.

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also typisch und üblich für allgemeingültige Paränesen, ohne dass man nach konkreten Anhaltspunkten in der Situation der Angeredeten suchen müsste. Von Streit und Eifersucht unter den Adressaten war ja gerade vorher schon die Rede (Jak 3,14.16), und auch die Bezugnahmen auf Missstände in den Gemeinden an andern Stellen des Briefes deuten darauf hin, dass der Autor ein durchaus präzises Bild von den Gemeindeverhältnissen hat.36 Auch die »inneren Ursachen« des Bösen waren zuvor schon aufgewiesen worden (3,14). Insofern knüpft der Abschnitt unmittelbar an das Vorangehende an, auch in der direkten Anrede an die Adressaten, wechselt aber sozusagen das rhetorische Register. Aus zuredender Beratung wird zurechtweisende Kritik: Alle Orientierung an höchsten Werten nützt gar nichts, alle bloß rezeptive Aufnahme von ethischen Gütern, selbst wenn es höchste Werte sind, ist scheinheilig und führt zu Streit und Eigennutz, ja Vergeudung der Ressourcen, solange die empfangenen Wertorientierungen nicht dauerhaft innerlich verarbeitet werden und zur eigenständigen, am Wohl des Nächsten orientierten Lebensgestaltung führen. Dass hier immer noch speziell angehende Lehrer im Blick sind, wird man kaum mehr sagen können. Gleichwohl bleibt es derselbe Sprecher, Jakobus, der Briefautor und Lehrer, der seinen Adressaten die Konsequenzen ihres verkehrten Tuns und Denkens vor Augen führen will. Sein Lehrersein geht nun deutlich in den Duktus des Moralpredigers über. Und der Ton wird noch schärfer: »Ehebrecher! Wisst ihr nicht, dass Weltfreundschaft Gottesfeindschaft bedeutet? Wer Freund der Welt sein will, erweist sich als Feind Gottes. Oder meint ihr, die Schrift sagt umsonst: ›Der Geist, den er in uns einwohnen lassen hat, drängt nach Neid?‹ Umso größere Gnade aber gibt er. Deshalb heißt es: ›Gott stellt sich den Hochmütigen in den Weg, den Demütigen aber gibt er Gnade.‹« (Jak 4,4–6).37

Das sind nun eindeutig prophetische und nicht mehr weisheitliche Töne.38 Die Differenz zwischen »oben« und »unten«, zwischen der göttlichen Weisung und ihrer Verwirklichung im Leben auf Erden, wird jetzt transformiert 36

  Vgl. nur Jak 1,2–4; 2,1–7; 5,1–6.   »Ehebrecher« ist übrigens im Griechischen ein Femininum (μοιχαλίς) im inklusiven Sinn! Zu den Übersetzungs- und Interpretationsproblemen des Satzes »Der Geist, den er in uns einwohnen lassen hat, drängt nach Neid« vgl. Christoph Burchard: Der Jakobusbrief, Tübingen 2000, 171–174. 38   Insbesondere der Vorwurf des Ehebruchs knüpft an die prophetische Kritik eines Hosea, Jeremia oder Ezechiel an und lässt damit auch die religiöse Seite der Verirrungen anklingen; vgl. nur Hos 3,1; Ez 16,38; 23,45 (μοιχαλίς) sowie Jer 3,1–5. Vgl. auch Deines: Jakobus, 266, zur prophetischen Prägung des Briefautors: »[S]ein eigenes Selbstverständnis [lässt sich] am ehesten als das eines prophetischen Lehrers bestimmen«. 37

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in einen Gegensatz von Gott und Welt (κόσμος), und zwar nicht im platonischen Sinn, als kategoriale Differenz zwischen dem immateriell Intelligiblen und dem Materiellen,39 sondern eher vergleichbar mit zeitgenössischen frühjüdischen und neutestamentlichen Konzeptionen.40 Bindung an Gott und Orientierung an seinen Weisungen impliziert eine Distanzierung von Werten und Haltungen, die allein aus irdischen Lebenszusammenhängen entwickelt worden sind, bzw., noch schärfer abgrenzend: Existentielles Vertrauen auf solche rein innerweltlichen Werte und Perspektiven trennt von der Lebensbeziehung zu Gott, die allein dauerhaft heilsam für den Menschen sein kann. Auch die weiteren Ermahnungen des Abschnitts folgen diesem radikal-prophetischen Duktus: »Unterwerft euch also Gott, widersteht dem Teufel, und er wird vor euch fliehen! Naht euch Gott, und er wird sich euch nahen! Reinigt eure Hände, ihr Sünder, und heiligt eure Herzen, ihr Zwiespältigen! Beklagt euer Elend und trauert und weint! Euer Lachen wird sich in Trauer umkehren und eure Freude in Niedergeschlagenheit. Erniedrigt euch vor dem Herrn, und er wird euch erhöhen« (Jak 4,7–10).

Die Perspektive ist jetzt klar auf die eschatologische Zukunft ausgerichtet, die Parusie des Kyrios (Jak 5,7f.), die auch den weiteren Brief immer stärker bestimmt.41 Die Umkehrung der Gegenwartserfahrungen im bevorstehenden Gericht erinnert an Aussprüche Jesu, auch in ihrer doppelten Zielrichtung auf die, denen es jetzt wohl oder übel geht.42 Jakobus steht hier klar in der Tradition seines »großen Bruders«, des Verkünders der endzeitlichen Gegenwart Gottes. Auch der war ja nicht bloß Weisheitslehrer, sondern zugleich auch Gerichtsprediger!

4. Tora und Nächstenliebe (Jak 4,1–12) Noch in einer weiteren Hinsicht konnte Jakobus der Sache nach bei Jesus und der Jesus-Überlieferung anknüpfen, ganz unabhängig davon, ob man den Briefautor nun mit dem Bruder Jesu historisch identifizieren will oder nicht.43 Wie für Jesus so gibt es auch für Jakobus keinen andern »Gesetzge39

  Vgl. dazu Niebuhr: Sapientia Salomonis, 220–227.   Vgl. auch Jak 1,27; 2,5. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden. 41   Vgl. besonders Jak 4,14; 5,1–6.11. 42   Vgl. Mt 23,12; Lk 6,20–26; 14,11; 18,14. Die lukanische Fassung der Seligpreisungen zusammen mit den Weherufen dürfte ihren Ursprung in der Verkündigung Jesu haben. 43   Zur in der Forschung viel diskutierten Frage nach traditionsgeschichtlichen Beziehungen zwischen dem Jakobusbrief und der Jesus-Überlieferung vgl. Niebuhr: Der erinnerte Jesus, 311–320. 40

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ber« als den einen Gott Israels. Auf ihn kommt Jakobus am Ende seiner Tirade gegen die Missstände in den Adressatengemeinden zu sprechen: »Verleumdet einander nicht, Brüder (und Schwestern). Wer den Bruder verleumdet oder seine Schwester verurteilt, verleumdet und verurteilt die Tora. Wenn du aber die Tora verurteilst, bist du nicht mehr Täter der Tora, sondern ihr Richter. Ein einziger ist Gesetzgeber und Richter, der retten und verderben kann. Wer bist du denn, dass du deinen Nächsten verurteilst« (Jak 4,11f.)?44

Hier wird nun erkennbar, worin Jakobus, der Lehrer und Prophet, alle seine Ratschläge, Weisungen und Kritiken letztlich verankert sieht: in der Tora.45 Auch darin erweist er sich als ein Autor, der tief geprägt ist durch die Glaubensüberlieferungen Israels in hellenistisch-römischer Zeit46 und der sein Bekenntnis zu dem auferstandenen Christus und den Glauben an ihn in der Gemeinschaft mit dem Gott Israels zum Fundament aller seiner Weisungen an die Adressaten seines Briefes macht.47 Die Perspektive des Endgerichts bleibt weiter im Blick (»ein Richter, der retten und verderben kann«), aber die Textpragmatik gilt den hier und jetzt Angesprochenen. Der Akzent der Paränese, der den ganzen Brief durchzieht,48 wird hier stark betont und unmittelbar mit den Weisungen der Tora verbunden. Der Sache nach könnte man V. 12 geradezu als Variante des Doppelgebotes der Liebe verstehen: Gott, die einzig wahre Autorität, verdient die einschränkungslose Zuwendung der Glaubenden, aber wenn sie sich ihm so zuwenden, dann können sie sich nicht mehr vom Nächsten abwenden. Das ist umso eher nachvollziehbar als das Nächstenliebegebot der Tora ja in Jak 2,8 schon ausdrücklich zitiert worden war, und zwar als »königliches Gesetz« Gottes: »Wenn ihr allerdings das königliche Gesetz gemäß der Schrift erfüllen wollt: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹, dann tut ihr gut daran. Wenn ihr aber bestechlich seid, schafft ihr Sünde und überführt euch als Sünder vor dem Gesetz.

44

  In V. 11 wird dreimal ἀδελφός gebraucht, aber gemeint sind natürlich Männer und Frauen in der Gemeinde. 45   Viermal νόμος in V. 11! Vgl. zur Bedeutung der Tora im Jakobusbrief Karl-Wilhelm Niebuhr: Nomos. B. Jüdisch, C. Neues Testament, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 25 (2013), 1006–1061, 1058f. 46   Zum Verhältnis von Tora und Paränese im Frühjudentum vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr: Gesetz und Paränese. Katechismusartige Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur, Tübingen 1987. 47   Seine Selbstvorstellung im Präskript als »Sklave Gottes und des Herrn Jesus Christus« impliziert sein Osterbekenntnis (vgl. 1 Kor 15,7!) und sein christologisch determiniertes Gottesverständnis, vgl. dazu Niebuhr: Der erinnerte Jesus, 309–311. 48   Vgl. Jak 1,22–27; 2,8–13; 4,13–17; 5,13–18.

Jakobus als Lehrer 101

Wer nämlich das ganze Gesetz hält, aber sich in einem (Gebot) verfehlt, der ist allen gegenüber schuldig geworden. Denn der da sprach: ›Du sollst nicht ehebrechen‹, der sprach auch: ›Du sollst nicht töten!‹ Wenn du also zwar nicht die Ehe brichst, aber tötest, bist du zum Gesetzesübertreter geworden« (Jak 2,8–11).49

Kurz zuvor schon hatte Jakobus seinen Lesern als Vorbild eines »werktätigen« Glaubens denjenigen vor Augen gestellt, der die Tora studiert, und ihm die Seligkeit zugesprochen: »Wer sich aber vertieft in das vollkommene Gesetz der Freiheit und dabei bleibt, der ist kein vergesslicher Hörer, sondern ein ›Werk-Tätiger‹; der wird selig sein in seinem Tun« (Jak 1,25).

Die Tora ist im Jakobusbrief nicht in erster Linie Grenzen setzende, Freiheit einengende Forderung, sondern ein »vollkommenes Gesetz der Freiheit«, in das sich die an Jesus Christus Glaubenden vertiefen sollen, also gewissermaßen die Vorlage, in die sie Einblick nehmen sollen, um in ihrem Leben Vollkommenheit und Freiheit zu erlangen.

5. Zusammenfassung Jakobus, der Autor des Jakobusbriefes, gibt sich in Kapitel 3f. als Lehrer für Lehrer zu erkennen. Was ihn auszeichnet, ist eine realistische Einschätzung der Anforderungen an die Lehrertätigkeit und der begrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten, die Menschen dafür von sich aus mitbringen. Dass Jakobus sich um didaktische Konzepte und methodische Kompetenzen nicht weiter kümmert, liegt zum einen an der Textpragmagtik seines Briefes, die nicht die einer schulischen Situation ist, zum andern an der Ausrichtung seiner Unterweisung an Traditionen der Weisheit, die antiken Vorstellungen von Bildung folgt. Stärker in den Vordergrund treten beim Lehrerbild des Jakobus psychologische, anthropologische, ethische und vor allem theologische Aspekte. Leitend für seine Beratung gegenüber angehenden Lehrern ist die Einsicht in die innneren Regungen und Kräfte im Menschen, die keineswegs leicht zu beherrschen sind. Daraus ergibt sich, dass seine beratende Seelsorge eines Lehrers für Lehrer unmittelbar in die ethische Unterweisung und Ermahung übergeht. Beides kann für Jakobus gar nicht voneinander getrennt werden, da ja die inneren Regungen nach seiner Einsicht immer zu auch äußerlich

49

  Für »Verfehlen« in V. 10 ist dasselbe Verb gebraucht (πταίω) wie für die Selbstbenennung des Jakobus als Lehrer in 3,2!

102 Karl-Wilhelm Niebuhr

erkennbaren Verhaltensweisen führen, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Der theologische Aspekt tritt in den Vordergrund, wo das Verhalten der Angesprochenen in den Horizont des göttlichen Gerichts gestellt wird. Hier wandelt sich das Profil des weisheitlichen Lehrers zu dem des Endzeitpropheten. Aus dem Briefganzen ergibt sich allerdings, dass die endzeitlichen Ermahnungen des Jakobus verwurzelt sind in seinem Christusglauben. Vom Präskript her stehen alle Aussagen des Briefes unter dem theologischen Vorzeichen, dass der Gott Israels im Messias Jesus den an ihn Glaubenden neues Leben geschenkt hat, das, wenn sie es denn nur an den Tag legen, auch vor Gottes Gericht Bestand hat. Ein charakteristisches Merkmal der Lehrerrolle nach dem Jakobusbrief ist ihre Ambivalenz. Lehrer tragen besondere Verantwortung, die sie in den Spannungsverhältnissen, die das Leben so mit sich bringt, zu bewähren haben. Darin stehen sie zwar nicht allein, aber doch unter besonderer Beobachtung. Auch Jakobus selbst spiegelt in seiner eigenen Person diese Ambivalenz des Lehrerseins: Als »Sklave Gottes und des Herrn Jesus Christus« und als Lehrer der Gemeinde von Jerusalem tritt er Lehrern in den Gemeinden der Diaspora mit einem besonderen Autoritätsanspruch gegenüber, einem Anspruch, den er freilich sofort mit Verweis auf die besondere Verantwortung und Fehlbarkeit aller Gemeindelehrer relativiert. Diese Selbstrelativierung als fehlbarer Lehrer und die Selbstvorstellung als herausragende Autorität der Urgemeinde passen für Jakobus durchaus zueinander, entsprechen sie doch dem gemeinsamen Glaubensfundament, das ihn mit seinen Adressaten verbindet.

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« Religionspädagogische Perspektiven zum »Erbaulichen Handbüchlein« (1734) von Johann Jacob Rambach Stefanie Pfister

1. Einführung »Wie unser Herr Superintendens und Professor Theologiae primarus, D. Rambach, unermuedet beschaefftiget ist, alle Zeit, die er von seinen schweren AmtsGeschäfften erübrigen kann, auf die Ausarbeitung nuetzlicher Schrifften zu wenden: so hat er hiervon eine neue Probe abgeleget, da er diese Woche eine kleine Schrifft von 10. Bogen in 12. ans Licht gestellet, die hoffentlich wegen ihrer nuetzlicher Einrichtung vielen Beyfall finden, und auch wohl in manchen Schulen eingefuehrtet zu werden, das Glueck haben wird. Sie führt den Titel: Erbauliches Handbüchlein für Kinder.«1

Diese anonyme Rezension aus dem Jahr 1734 zum »Handbüchlein« von Johann Jacob (auch Jakob) Rambach (1693–1735),2 dem »Herr[n] Superintendens und Professor Theologiae primarus«, ließ vermutlich pädagogische Herzen zu dieser Zeit erwartungsvoll höher schlagen: Eine nützliche Schrift für Schulen, die viel Beifall finden und auch noch im zeitgenössisch pietistischen Sinne erbaulich für die Schüler sein würde! In der Tat wurde das »Erbauliche Handbüchlein für Kinder« an verschiedenen Schulen eingesetzt,3 um im pietistischen Sinne den Erwerb einer sog. 1

  N.N.: Giessen, in: Niedersächsische Nachrichten von Gelehrten Neuen Sachen 4 (1734), 411. 2   Rambach war zunächst Schüler an der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen (ab 1708), dann Mitarbeiter August Hermann Franckes (ab 1723) und anschließend dessen direkter Nachfolger als Hochschullehrer in Halle (ab 1726/27), bevor er ab 1731 als Professor und Superintendent in Gießen und seit 1732 als Direktor des dortigen Pädagogiums tätig war. 3   Das »Handbüchlein« wurde – besonders im Kurfürstentum Sachsen – meist in Teilauszügen verbreitet. Zum Beispiel wurden die »Schaetze des Heyls« in Nürnberg 1736 gedruckt und die »Schul-Gebete« aus dem »Gebet-Buechlein« wurden auf einem Bogen als Auszug für die Schulen verteilt; vgl. Ingrid Hruby: Johann Jacob Rambach (1693–1735). Erbauliches Handbüchlein für Kinder, Gießen 1734, in: Theodor Brüg-

104 Stefanie Pfister

christlichen Klugheit zu fördern.4 Zudem erschien das »Handbüchlein« von Rambach ein Jahr vor seinem Tod (1735) und avancierte somit zu seinem pädagogischen Vermächtnis. Doch worin lag der religionspädagogische Mehrwert zu dieser Zeit? Denn aus heutiger Sicht kann einem beim ersten Lesen eher der Gedanke »Die armen Kinder!«5 kommen, wie es in einer gegenwärtigen Rezension zur Edition von 2014 heißt. Der Fokus der folgenden religionspädagogischen Überlegungen liegt vor diesem Hintergrund zunächst auf den inhaltlichen, didaktischen und methodischen Aspekten des »Handbüchleins«, um anzuzeigen, inwiefern dieses eine Weiterführung oder Modifizierung des halleschen Pietismus darstellte. Dann soll überprüft werden, ob Rambach »auch über seine Zeit hinaus religionspädagogische Relevanz und Wirkung beanspruchen darf.«6

2. Inhalt und Aufbau des »Handbüchleins« Auf der Titelseite wird bereits der Aufbau des »Handbüchleins« dargestellt: »I. Die Ordnung des Heyls, II. Die Schätze des Heyls, III. Ein neues GesangBüchlein, IV. Ein neues Gebet-Büchlein, V. Exempel frommer Kinder, VI. gemann (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1570–1750, Stuttgart 1991, 259–279, 278; Johann Jacob Rambach: Erbauliches Handbüchlein für Kinder, Gießen 21734, Vorrede. Einzelne Gebete wurden auch in der Schulordnung von Worfeld 1789 eingesetzt und die Alsfelder Stadtschule schrieb im Jahr 1753 in der 3. Klasse die »Ordnung des Heyls« als Lektüre vor. In Sachsen empfahl die Oberlausitzische Schulordnung (1770) in den ersten beiden Klassen die Exempelerzählungen einzusetzen, ebenso die Sitten- und Lebensregeln. Die letzteren beiden sollten – laut der »Erneuerten Schulordnung für Sachsen« (1773) – auch in den oberen Klassen eingesetzt werden. Einzig die Inspektionsordnung des Fürstentums Hessen-Darmstadt von 1777 empfahl das »Handbüchlein« komplett als Lesebuch. Vgl. auch Hruby: Johann Jacob Rambach, 279. 4   Zum Begriff der christlichen Klugheit vgl. August Hermann Francke: Kurtzer und einfältiger Unterricht. Wie die Kinder Zur Wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind, Zum Behuf Christlicher Informatorum ent­worffen, Halle 1702. Der Unterricht in der Realien-Schule bei Francke förderte die Befähigung, anstehende Lebensaufgaben zu bewältigen, sowie den Erwerb einer christlichen Klugheit und vice versa: Die christliche Klugheit befähigt zum Bewältigen der Lebensaufgaben. Vgl. zur Realien-Schule und zur christlichen Klugheit bei Francke Stefanie Pfister: Religion an Realschulen. Eine historisch-religionspädagogische Studie zum mittleren Schulwesen, Leipzig 2014. 5   Meinert A. Meyer/Diana Franke-Meyer: Rezension von: Rambach, Johann Jacob: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1734). Hg. von Stefanie Pfister und Malte van Spankeren. Leipzig. Evangelische Verlagsanstalt 2014, in: Comenius-Jahrbuch 22–24 (2016), 174–176, 174. 6   Rainer Lachmann: Vom Westfälischen Frieden bis zur Napoleonischen Ära, in: Rainer Lachmann/Bernd Schröder (Hrsg.): Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch, Neukirchen-Vluyn 2007, 78–127, 106.

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 105

Christliche Lebens-Regeln, VII. Nöthige Sitten-Regeln«.7 Rambach spricht dann in seiner Vorrede zum »Handbüchlein« die Schüler8 persönlich an: »In Jesu dem Geliebten, hertzlich geliebte Kinder. Wie ich mich ueberhaupt des Evangelii von Jesu Christo nicht schaeme, so schaeme ich mich auch nicht, euch dasselbe vorzutragen, mich in eure Schwachheit herabzulassen, gantz einfaeltig mit euch zu lallen, und euch den Rath Gottes von eurer Seligkeit bekant zu machen. [...] An euch, ihr lieben Kinder, kan das Wort Gottes seine Kraft viel leichter beweisen.«9

Er erläutert zu Beginn seine didaktisch-methodische Zugangsweise – ein knapper, in seinen Augen leicht verständlicher Frage-und-Antwort-Duktus: »Beyde Stuecke dieses Hand-Buechleins, die Ordnung des Heyls, und die Schaetze des Heyls, sind [...] in Frag und Antwort verfasset, dabey ich mich bemuehet habe, die Antworten so kurtz, als moeglich gewesen ist, zu machen, und sie meistentheils in eigene Worte der heiligen Schrift einzukleiden, damit sie desto wuerdiger seyn moegen, euerm Gedaechtniß einverleibt zu werden.«10

Auch seine Zielsetzung macht Rambach rasch transparent: Er weist darauf hin, dass die Lieder und Gebete als »Anleitung in euern Unterredungen mit Gott« dienen sollen, »bis ihr mit eignen Worten euer Verlangen ihm vortragen lernet.«11 Und insbesondere die nachfolgenden Exempel »koennen euch ueberzeugen, daß es möglich sey, also zu leben, wie die Regeln des Christenthums erfordern.«12 Doch die erste Beschreibung von Exempeln, die »eine grosse Kraft haben, euch zur Nachfolge dieser lieben und frommen Kindern anzureitzen«13, lassen den Leser aufhorchen: »Ihr findet da Exempel frommer, gehorsamer, ehr7

  Vgl. insgesamt zum Aufbau auch Walter Hug: Johann Jacob Rambach. Religionspädagoge zwischen den Zeiten, Stuttgart 2003, 68f., sowie sehr dezidiert Hruby: Johann Jacob Rambach, 259–279. 8   Diese Schüler scheinen zwar noch sehr jung zu sein, da sie noch nicht so gut sprechen können, aber sie dürfen schon die Schule besuchen, denn die Lesekompetenz wird vorausgesetzt. 9   Rambach: Erbauliches Handbüchlein, Vorrede 2–3.1. Beispielsweise »3.1« in der Vorrede meint »3. Blatt, 1. Teil« etc. Im Folgenden werden Hervorhebungen im Original nicht übernommen. Auch die Typografie wurde bei allen Zitaten u.a. mit Binde- statt Ist-Gleich-Zeichen behutsam modernisiert. Alle Zitate stammen aus der 2. Auflage (1734). 10   A.a.O., Vorrede 4.2–5.1. 11   A.a.O., Vorrede 5.2. 12   A.a.O., Vorrede 6.1. 13  A.a.O., Vorrede 6.2.

106 Stefanie Pfister

erbietiger, danckbarer, barmhertziger, keuscher, demuethiger, geduldiger, ja auch solcher Kinder, die um Jesu Christi willen sich haben zu tode martern lassen.«14 Das Ziel des »Handbüchleins« und damit des Unterrichts liegt somit klar auf der Hand: Die Kinder sollen die pietistische christliche Klugheit erwerben, fromme Christen werden und ein gottwohlgefälliges Leben führen, was auch das eigene Leiden oder gar Märtyrertum »um Jesu Christi willen« nicht ausschließt. Die Regeln zu dieser Nachfolge sind auch deutlich definiert, zum Beispiel in den »christlichen Lebensregeln«, »darin ihr angewiesen werdet, wie ihr gegen Gott gottselig, gegen den Naechsten gerecht und liebreich, und gegen euch selbst keusch und zuechtig euch verhalten sollt.«15 Und in den Sittenregeln erhalten die Schulkinder weitere konkrete Hinweise, »wie ihr in dem Hause eurer Eltern, in der Schule, auf der Gasse, in der Kirche und in euerm gantzen Umgange, die gewoehnlichen Unarten der Kinder vermeyden, und ordentlich, sittsam, schaamhaftig, still und artig euch bezeigen sollt.«16 Die Vorrede schließt mit der Aufforderung, den »gegebenen Anweisungen [zu] folgen«, und dem Versprechen, »so versichre ich euch, daß ihr Gnade bey Gott und den Menschen finden, und als Pflantzen der Gerechtigkeit der seligen Ewigkeit entgegen wachsen werdet. Der Herr Jesu mache aus euch allen solche liebenswuerdige Kinder!«17

2.1 Die »Ordnung des Heyls« und  die »Schaetze des Heyls« Diese ersten beiden Hauptstücke (»Ordnung des Heyls« und »Schaetze des Heyls«) sind wie angekündigt didaktisch-methodisch in einem Frage-undAntwort-Modus verfasst, wobei den Kindern die Antworten zugeordnet werden. Inhaltlich wird hier die geballte pietistische Theologie dargestellt, welche die Kinder erwerben sollen: In der »Ordnung des Heyls« wird zunächst das Schöpferwerk Gottes sowie die Trinität entfaltet, dann »der Stand der Unschuld« des Menschen bei der Schöpfung als »recht selige[r] und herrliche[r] Zustande.«18 Die anschließende Sündhaftigkeit wird beschrieben als »Verlust

14

 A.a.O., Vorrede 6.1. Zu den fremden Quellen, derer Rambach sich bedient hat, vgl. Stefanie Pfister/Malte van Spankeren: Einführung, in: Stefanie Pfister/Malte van Spankeren (Hrsg.): Johann Jacob Rambach: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1734), Leipzig 2014, 11–77, 21. 15  Rambach: Erbauliches Handbüchlein, Vorrede 6.2. 16  A.a.O., Vorrede 6.2–letztes Blatt. 17  A.a.O., Vorrede letztes Blatt. 18  A.a.O., 9.

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 107

des göttlichen Ebenbildes«19 und als »leibliche[r] Tod«20. Rambach betont besonders die »Erb-Sünde«21 und das unverdiente Geschenk der Zuwendung Gottes zu dem sündigen Menschen, durch seine Gnade – als Heilsverheißung. Ein – zusammenfassendes – Gebet zum ersten Teil versucht zwar formal durch die Ich-Form einen persönlichen Bezug und damit Identifikationsmöglichkeiten für die Schüler zu bieten, doch inhaltlich ist die Kost schwer: So werden zunächst die Eltern als die vom Satan Verführten und explizit als Träger der Erbsünde beschrieben, die von Gott »ab[ge]fallen«22 seien und daher »[d]ieses Verderben und erbärmliche Elend [...] auch auf ihre Nachkommen fortgepflanzet«23 hätten, so dass das Kind nicht anders konnte, als ebenfalls der Sünde zu verfallen. Auf dieser Grundlage wird dann für das Erlösungshandeln gedankt, der Taufbund betont und um die Vergebung der Sünden und um die Lossagung vom alten Menschen und um Erneuerung gebeten. Die »Schatze des Heyls« versteht Rambach als »[d]iejenigen Gnaden-Gaben des dreyeinigen Gottes, die er denenjenigen, die an Christum glauben, zur Befoerderung ihres ewigen Heyls mittheilet«24. Auch dieser zweite Teil schließt mit einem zusammenfassenden Gebet in Ich-Form: »Ach wer bin ich armes Kind, daß du mir den ganzen Schatz des Heyls, welches mein Erlöser erworben, in meiner Taufe geschencket, und daß ich daselbst in die Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes, und des heiligen Geistes aufgenommen worden.«25

Mit den Bitten, ein gehorsames und frommes Kind zu sein und die »Kraft der neuen Geburt«26, die Reinigung von »anklebenden Suenden«27, die »erquickenden Wirkungen«28 des Heiligen Geistes sowie einen seligen Tod und Auferweckung zu erhalten, schließt das Gebet.

19  A.a.O., 20

10.  A.a.O., 11. 21  A.a.O., 13. 22  A.a.O., 33. 23  A.a.O., 34. 24  A.a.O., 38. 25  A.a.O., 93. 26  A.a.O., 95. 27  Ebd. 28  Ebd.

108 Stefanie Pfister

2.2 Das »Gesang-Buechlein« und das »Gebet-Buechlein« Auf dieser pietistisch-theologischen Grundlage, die die Kinder bis dahin übernommen haben sollen, stellen nun die anderen Kapitel konkrete Anleitungen und Umsetzungsvorgaben für die alltägliche Praxis dar, wobei die theologischen Lehren hier poetisch formuliert sind. Das »Gesang-Buechlein« enthält Lieder für den Jahres- und Tageslauf, zum Wochenbeginn und für den Unterricht, wobei die meisten Lieder von Rambach selber geschrieben worden sind. Das bis heute bekannte Lied »Ich bin getauft auf deinen Namen« auf der Melodie »Wer nur den lieben Gott lässt walten« greift wiederum die eigene Sünde, das Verlorensein, die Gnade Gottes, die Übergabe des Herzens an Gott (»Ich gebe dir, mein Gott, aufs neue Leib, Seel und Herz zum Opfer hin«), die Entsagung an den »Fürst der Finsternissen« und an die »eitle Welt« sowie die Bitte um die Zugehörigkeit zum Bund auf: »Halt’ mich in deines Bundes Schrancken, Bis mich dein Wille sterben heißt. So leb ich dir, so sterb ich dir, So lob ich dich dort für und für.«29 Auch das »Gebet-Buechlein« – in welchem auch einige »Reimgebete« abgedruckt sind, die zum Teil aus älteren Gesangbüchern stammen30 – spiegelt die in den beiden ersten Teilen entfaltete pietistische Theologie Rambachs wider: Die Differenzierung erfolgt in Schul- und Hausgebete. In den Gebeten spielt immer wieder die Bitte um die »[t]ägliche Erneuerung des Taufbundes«31 eine große Rolle. Die Gebetsammlung schließt mit zwei Bekenntnissen: zunächst mit einer »Beichte eines Schülers oder Kindes«32, in welchem das Kind die Übertretung des Taufbundes und seine Sünden bekennt, zum Beispiel dass es seine »Eltern und Lehrer öfters durch Ungehorsam und Widerspenstigkeit betrübt und gezürnt habe.«33 Allein dies ist schon viel verlangt, hinzu kommt, dass die Schüler sogar bereuen sollen, so wenig Reue über ihre Sünden zu haben, so dass nur die Möglichkeit bleibt, Gott dafür auch um Vergebung und Gnade anzurufen. Theologisch ebenfalls schwierig und für die Kinder sicherlich nicht unmittelbar nachvollziehbar ist die Bitte in der »Beichte in Form eines Gebets«34 um »vorhandene Genießung des Leibes und Blutes Jesus, der Sünde immer mehr absterben«35, um dadurch das Leben bessern zu können.

29

 A.a.O., 107f.  Vgl. Hruby: Johann Jacob Rambach, 278. 31  Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 106. 32  A.a.O., 152. 33  Ebd. 34  A.a.O., 153. 35  A.a.O., 154. 30

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2.3 Exempel Konkretisiert werden nun die theologischen Vorgaben in vermeintlich didaktisch anschaulichen 64 »Exempel frommer Kinder, zur Erweckung einer heiligen Nachfolge«36, die Rambach als belehrende und beispielhafte Vermittlung aufgrund der biografischen Erzählweise empfiehlt:37 zum Beispiel »1. Das Exempel des vollkommensten Kindes« (wobei hier Jesus als Vorbild gemeint ist), »2. Exempel gehorsamer Kinder«, »3. Exempel ehrerbietiger Kinder«, »4. Exempel eines Kindes, das seine Eltern sehr zärtlich geliebt«, »5. Exempel eines Kindes, das um seiner Eltern Seligkeit sehr bekümmert gewesen«38 etc. Die Exempel sind sehr anschaulich verfasst, neben den wenigen biblischen Beispielen (zum Beispiel das »Exempel ehrerbietiger Kinder« mit Sem und Japhet, die ihren Vater Noah im Schlaf bedecken, s. Gen 9,20–27, sowie Salomos Ehrerbietung vor Batseba, s. 1. Kön 2,19), werden die Jungen und Mädchen – im Alter von 4–14 – mit ihrem Vor- und auch oft mit ihrem Familiennamen vorgestellt, so dass der Eindruck erweckt wird, dass diese perfekten Wunderkinder als historisch identifizierbare Individuen gelebt haben. Sie sind aus heutiger Sicht nahezu erschreckend vorbildlich charakterisierend beschrieben: »Ein frommes Kind, Johannes Harvey, ward im sechsten Jahr seines Alters mit bösen triefenden Augen von Gott heimgesucht. Obgleich nun der Doktor ihm verboten hatte, in Büchern zu lesen, so ging er doch öfters an einen heimlichen Ort, stellte sich an das Fenster und las die heilige Schrift und andere erbauliche Bücher. Ja, er war so begierig, die heilige Schrift zu lesen, daß er sich oft kaum Zeit nahm, sich anzukleiden, so gar war das Lesen des Wortes Gottes sein Ergötzen. Und ob ihm gleich die Augen dabei sehr wehe thaten, so glaubte er doch, es sey Gottes Befehl, die heilige Schrift zu lesen, und ließ sich durch nichts davon abhalten.«39

Am Ende jeder Themengruppe, die zuweilen nur aus einem Exempel besteht, wird jeweils eine Lehre vorgestellt, zum Beispiel zum »Exempel des vollkommensten Kindes«: »Dieses fromme Kind ruft allen Kindern zu: Folge mir nach, und ich will ihnen zu solcher Nachfolge seinen Geist williglich schenken.«40 Oder zum »Exempel eines Kindes, das sein Ende betrachtet«: 36

 A.a.O., 155.  Vgl. Johann Jakob Rambach: Der wohl-informierte Catechet das ist Deutlicher Unterricht Wie man der Jugend auf allerleichteste Art Den Grund der Christlichen Lehre beybringen könne, darinnen Die wichtigsten Vortheile, die bey dem Catechisiren in acht zu nehmen sind, treulich entdecket werden, Jena 1724, 33. 38  Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 156–160. 39  A.a.O., 169f. 40  A.a.O., 156f. 37

110 Stefanie Pfister

»Weil mehr Kinder, als Erwachsene sterben, so bedenke täglich dein Ende, das wird dich nun von vielen Bösen zurückhalten.«41 Die meisten Lehren zu den Exempeln sind im pietistischen Sinne formuliert: die Mahnung zum Lesen der Bibel, zum fleißigen Lernen des Katechismus, zum Besuch des Gottesdienstes, das Betonen des intensiven Gebets und des starken Glaubens, die Aufforderung dankbar zu sein etc. Doch die »beigegebenen Lehren wirken selbst für diese Zeit ungewöhnlich, wenn den Kindern z.B. angeraten wird, auch Erwachsene, sogar die eigenen Eltern zu ermahnen, wenn sie an ihnen etwas Böses oder Unchristliches bemerken.«42 Dieser Eindruck bestätigt sich insbesondere in den letzten Exempeln, zum Beispiel der Kinder, »die grosse Freudigkeit zu sterben gehabt«43, oder zum Beispiel in dem von Friedrich Eberhard Collin (1648–1727) übernommenen, teilweise sehr detailliert grausam beschriebenen »Exempel kleiner und erwachsener Kinder, die um Christi willen zu Tode gemartert wurden«44: »In der zehnten Verfolgung ward Jalitta, ein Weib von vornehmsten Geschlecht, mit ihrem Kindlein zu Tarsus (dem Vaterland des Apostel Paulus) gegriffen und vor den Richter gesellt. Da sie sich als eine Christin bekannte, ließ er ihr das Kind von den Armen nehmen, und die Mutter erbärmlich geisseln; das Kind aber nahm er auf seinen Schooß, und suchte es durch allerlei Liebkosungen zu stillen. Das Kind aber wollte sich durchaus nicht zufrieden geben, sondern sah mit unverwandthen Augen nach seiner Mutter, ja es fing an, als ein Turteltäubchen ihr nachzugirren und zu sagen: Ich bin ein Christ. Diese Worte waren dem unbarmherzigen Tyrannen ganz unerträglich. Daher ergriff er das kleine unschuldige Kind bei einem Bein, und schlug es mit solcher Gewalt an die Schärfe der Stufen seines Richterstuhls, daß das Blut und Gehirn auf allen Seiten herumspritzte.«45

Selbst für pietistisch erzogene Kinder eine grausame Kost, die hier im Unterricht als beispielhaft behandelt wird. Zur Krönung schließen die Exempel mit einem Gebet in Ich-Form, in welchem sich das Schulkind mit den ExempelKindern vergleichen und sich aufgrund seiner Unzulänglichkeit schämen sollte. Es folgt die Bitte darum, ein »gehorsames, demüthiges, keusches, geduldiges, dankbares Kind« zu werden, den Eltern und Gott die Ehre im Leben und im Tod zu geben, »um deiner heiligen Kindheit willen«46.

41

 A.a.O., 185f.  Hruby: Johann Jacob Rambach, 264. 43  Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 188. 44  A.a.O., 190. 45  A.a.O., 190f. 46  A.a.O., 196. 42

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 111

2.4 Lebens- und Sittenregeln mit dem »Gueldenen ABC eines frommen Kindes« Nach den Exempeln folgen nun 36 konkret-praktische Lebensregeln, die zunächst auf das »Verhalten gegen Gott«47 gerichtet sind, dann 28 Regeln »von dem Verhalten gegen den Nächsten«48. In den weiteren 36 Regeln »von dem Verhalten eines Kindes gegen sich selbst«49 wird das Kind aufgefordert, die Sünde in sich zu hassen, das Gute zu erwählen, den Leib nicht zu sehr zu verzärteln, den Müßiggang meiden, mäßig zu essen, züchtig und schamhaftig zu sein, Schmerzen mit Geduld tragen, in der Bereitschaft zu leben, dass jeder Tag der letzte sein könnte, und eine »lebendige Überzeugung [zu haben] von der Gewißheit der Auferstehung, des künftigen Gerichts und des ewigen Lebens«50, und schließlich den Tod nicht zu fürchten, »[d]enn hast du christlich gelebet, so wirst du auch selig und freudig sterben können«51. Spannend ist das nun folgende »Gueldene ABC eines frommen Kindes«, welches auf der Titelseite und vom Rezensenten bei der Aufzählung zwar nicht eigens genannt wird, aber in pointierter, knapper und eingängiger Form die pietistische Lehre und Erziehungsabsichten Rambachs darstellt. Hier werden jeweils die wünschenswerten christlichen Tugenden aufgezählt und von einer Bibelstelle her begründet. Der Einleitungssatz lautet: »Ein Jünger und Jüngerin des Herrn Jesu soll seyn«, dann folgen die Wörter, die das ABC bilden: »Aufmerksam auf das Wort Christi [...] Brünstig im Geist [...] Christo ganz ergeben [...] Demüthig gegen Gott und Menschen [...] Ehrbar in Gederben [...] Fruchtbar in guten Werken [...] Gläubig an den Herrn Jesum [...] Himmlisch gesinnt [...] Immer fröhlich im Herrn [...] Keusch und reines Herzens [...] Lauter und unanstößig [...] Mitleidig gegen die Elenden [...] Nüchtern zum Gebet [...] Ordentlich in allen Dingen [...] 47

 A.a.O., 197.  A.a.O., 204. 49  A.a.O., 209. 50  A.a.O., 214 (99. Regel). 51  Ebd. (100. Regel). 48

112 Stefanie Pfister

Prächtig in heiligem Schmuck [...] Quitt und los von dem bösen Gewissen [...] Reich an Gaben des heiligen Geistes [...] Sanftmüthig [...] Treu dem Herrn Jesu bis in den Tod [...] Unterthänig unter einander [...] Wacker allezeit [...] Züchtig und schamhaftig [...].«52

Leicht zu lernen, eingängig und anschaulich werden hier die erwünschten Verhaltensweisen der Kinder aufgeführt und anschließend in den folgenden »Sitten-Regeln für Kinder«53 konkretisiert.54 Diese beginnen mit den 50 sehr konkreten »Regeln, wie sich ein Kind in dem Hause seiner Eltern zu verhalten hat«55. Die weiteren »Regeln, wie sich ein Kind in der Schule verhalten soll«56 (insgesamt 15), und die »Regeln, wie sich ein Kind auf der Gasse verhalten soll«57 (insgesamt 11), beschreiben ein achtsames und sorgsames Verhalten im Haus und auf der Straße. Die »Regeln, wie sich ein Kind in der Kirche verhalten soll«58 (insgesamt 9), beinhalten u.a. die Aufforderung, die Bibel und das Gesangbuch mitzubringen, das aufmerksame Zuhören, das ehrerbietige Neigen des Kopfes, wenn der Name Jesu erwähnt wird etc. Die letzten »Regeln, wie sich ein Kind sonst in seinem ganzen Umgange zu verhalten hat«59 (insgesamt 16), betreffen wiederum die Höflichkeit, Demut und Nächstenliebe, Ordnung, zudem das freiwillige Lernen, das Geben von Almosen, ordentliche Kleidung, Gastfreundschaft etc. Sogar äußerst konkrete Anweisungen für den Fall des Niesens oder der Reinigung der Nase werden genannt. Die letzte Regel lautet abschließend: »Was du Gutes und Wohlanständiges an andern christlichen Leuten siehst, das laß dir zum Vorbilde dienen. Ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denke nach. Phil. 4,8.«60

52

 A.a.O., o.P. (217).  A.a.O., 218. 54  Die Sittenregeln gehen vermutlich teilweise zurück auf Johann Sebastian Mitternacht: Paedia. Das ist... Unvorgreiffliches und wolgemeintes Bedencken. Von der Erziehung und Underweisung der Kinder, Leipzig 1657. Vgl. dazu Hug: Johann Jacob Rambach, 186. 55  Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 218. 56  A.a.O., 226. 57  A.a.O., 229. 58  A.a.O., 231. 59  A.a.O., 232. 60  A.a.O., 235. 53

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 113

3. Das franckesche Applikationskonzept als   Grundlage für das »Handbüchlein«? Johann Jacob Rambach als Religionspädagoge ist ohne seine Tätigkeit an den Franckeschen Stiftungen nicht zu verstehen. Die in der Theologie des Pietismus selbstverständliche Verbindung von Glauben und Handeln bildete in den halleschen Anstalten die Grundlage für den Einsatz von Realien im Unterricht, zum Beispiel von Materialien, Modellen, Kunst- und Alltagsgegenständen sowie von anschaulichen Bildern und Lehrbüchern.61 Im Zentrum der Lehrtätigkeit stand das didaktische Prinzip der Applikation – das heißt die Anwendung des Gelernten auf Lebensaufgaben und ein »nützlicher und rechtmäßiger Gebrauch«62 des erworbenen Wissens – mit dem Erziehungsziel des Erwerbs einer christlichen Klugheit (s.o.). Vorbereitet wurde die Applikation durch die »beiden Stufen [...] recitation und explication«63 im Unterricht, dann folgte die Übertragung, Anwendung sowie Überprüfung des Gelernten. Christliche Klugheit bedeutete bei August Herrmann Francke (1663–1727) daher nicht nur einen vertieften Wissenserwerb, die »Schulung und den Gebrauch des eigenen Verstandes«64, sondern insbesondere die Anwendung des erworbenen Wissens und der erworbenen Erfahrungen, welche sich »nur auf der Grundlage eines festen Glaubens« entwickeln konnten und »ohne die enge Verknüpfung mit dem Willen Gottes gar nicht mehr denkbar«65 waren. Als Kompetenz erwarben die Schüler eine praktische Handlungsfähigkeit, denn durch die praxisorientierte Applikation und die eigentätige Bewältigung von Aufgaben (zum Beispiel Erfahrung, Handlung, 61  Daher gab es eigene Schulwerkstätten, ein Schullaboratorium, eine Schulsternwarte und insbesondere die äußerst umfangreiche Naturaliensammlung in der 1698 eigens gegründeten Kunst- und Naturalienkammer. Die zahlreichen praktischen Unterrichtsfächer und das differenzierte Fachklassensystem mit den unterschiedlichen Realien-Fächern ermöglichen eine angemessene Berufsvorbereitung durch eine praxisnahe, berufsvorbereitende Schulbildung (Unterrichtsgänge, Anfertigen von Werkstücken, Praxiserfahrung, Umgang mit Materialien). Vgl. zum Begriff der Realien-Schule und zum Zusammenhang von Realien und Religion Pfister: Religion an Realschulen. 62  August Hermann Francke: Kurtzer und einfältiger Unterricht. Wie die Kinder Zur Wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind, Zum Behuf Christli­cher Informatorum entworffen, Halle 1702, 86–93. 63  Wolf Oschlies: Die Arbeits- und Berufspädagogik August Hermann Franckes (1663–1727). Schule und Leben im Menschenbild des Hauptvertreters des Hallischen Pietismus, Wit­ten 1969, 100. 64  Thomas Müller-Bahlke: Naturwissenschaft und Technik. Der Hallesche Pietismus am Vorabend der Industriealisierung, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Geschichte des Pietismus. Band 4, Göttingen 2004, 357–386, 362. 65  Ebd.

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Problemlösen, Anwendung), konnte der Schüler umfassendere und nachhaltigere Einsichten als bei den ersten beiden Stufen der recitatio und explicatio erwerben. Denn erst durch die Applikation konnte das zuvor erworbene Wissen adäquat zur Geltung kommen. Da die christliche Klugheit u.a. darin bestand, dass der Schüler das Gelernte »am rechten Orte, zu rechter Zeit, bey den rechten Personen anwenden könne«66, führte dies auch zur Ausbildung einer Urteilskompetenz, zu einem kritischen Hinterfragen von Sachverhalten und Gründen für Handlungen. Die Applikation stellte gleichzeitig das Ziel der Katechese dar, die umfassend in Familie, Kirche und im ganzen Tagesablauf stattfand.67 Rambach, der nicht nur das Schulsystem Franckes durchlaufen hatte, sondern auch selber Mitarbeiter Franckes sowie dessen Nachfolger als Hochschullehrer und ab 1732 Direktor des Pädagogiums war, musste diese didaktischen Prinzipien gekannt haben, doch leider ist er »mit seinem didaktischen Konzept [...] hinter das von August Hermann Francke erarbeitete ›Applikationskonzept‹ zurückgefallen […], auch wenn sich die beiden in der theologischen Grundlegung ihrer Erziehungskonzeptionen einig waren.«68 Rambach betonte zwar wie Francke thematisch das Erziehungsziel der christlichen Klugheit und die pädagogische Formbarkeit von Kindern aufgrund der übernommenen Erbsünde, doch der Gedanke der Applikation fand sich dabei nicht, sondern die Kinder »sollen fromme Christen werden, dies sollen sie ständig reflektieren, und dennoch ist die Zielsetzung der Reflexion präzise vorgegeben.«69 Hier zeigt sich, dass Rambach keine Kongruenz von zu vermittelndem Ziel bzw. Thema – etwa der christlichen Klugheit und des sog. wohlgefälligen Lebens vor Gott – und einem didaktischen Prinzip hatte.70 Wie Francke propagierte zwar auch er eine enge Verbindung von Glauben und Handeln und schuf mit seinen beiden katechetischen Lehrstücken eine theologisch-thematische Basis für die Schüler, aber weil keine religionsdidaktische Orientierung für die Kinder – so in Form der franckeschen Applikationsdidaktik –



66

Francke: Kurtzer und Einfältiger Unterricht, 102. Vgl. Lachmann: Vom Westfälischen Frieden, 103. 68  Meyer/Meyer: Rezension, 175. 69  A.a.O., 174. 70  Eine adäquate Fachdidaktik dient als »Schaltstelle zwischen dem Unterrichtsgegenstand/Gehalt/Thema und den Methoden und Medien«, so dass didaktisch-methodische Prinzipien nie »künstlich«, sondern »immer gegenstandsorientiert« sind bzw. »aus dem Gegenstand selbst erwachsen« (Stefanie Pfister/Matthias Roser: Fachdidaktisches Orientierungswissen für den Religionsunterricht, Göttingen 2015, 8). Auch wenn bei Francke und Rambach nicht von einer Fachdidaktik im modernen Sinne gesprochen werden kann, sind doch bei beiden religionsdidaktische und methodische Prinzipien zu erkennen. 67

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 115

gegeben war, wirkten die angeführten Gebete, Lieder, Exempel, Lebens- und Sittenregeln unvermittelt, aufgesetzt und nicht mehr gegenstandsorientiert. So stellen die poetischen Texte und die Aufstellung der Regeln bei Rambach eher eine Zusammenfassung des zuvor Gelernten dar. Der sicherlich von Rambach erhoffte Bezug zum eigenen Leben der Schüler entstand lediglich darin, dass sich die Gebete, Lieder sowie die Lebens- und Sittenregeln umfassend auf den ganzen Tagesablauf, die Familie, Kirche und Schule bezogen und damit ggf. an die umfassende Katechese bei Francke erinnerten. Doch es erfolgte keine Übertragung, Anwendung oder gar eine reflektierte Überprüfung der Sitten- und Lebensregeln. Vielmehr dienten die Gebete, Lieder und Regeln als pauschale Selbstkontrolle über die begangenen Sünden.71 »Methodisch wird so das Kind dazu angeleitet, sich selber zu beobachten und zu kontrollieren. So wie es nie äußerlich ›müßig‹ und untätig sein soll, soll es auch innerlich stets mit Gott [...] beschäftigt sein.«72 Es irritiert daher die »Selbstverständlichkeit, mit der Rambach Benimm-Regeln mit der Erziehung zur Frömmigkeit verbindet«73, und die Vorordnung einer sittsamen Lebensführung vor einer – applikativ-didaktischen erworbenen – Einsicht in diese Regeln. Auch die beispielhaften Exempel setzen inhaltlich unvermittelt ein, so dass keine didaktisch einleuchtende Kohärenz besteht. Vielleicht erhoffte Rambach sich auch anhand der schriftlichen Exempel einen anschaulichen und lebendigen »Beweis der Realisierbarkeit der in den Lebens- und Sittenregeln geforderten Verhaltensweisen«74, doch es ist kaum vorstellbar, wie die Schüler ohne praktische Anwendung und ohne didaktische Unterstützung des Lehrers die Verhaltensweisen einüben konnten. Hinzu kommt, dass manche Verhaltensweisen – wie das propagierte Märtyrerdasein von Kindern – sicherlich nicht erstrebenswert sind. So sollte allein das Auswendiggelernte des »Handbüchleins« buchstäblich zur praktischen Umsetzung in Form eines sittsam-frommen Lebenswandels kommen. Dabei war der Handlungsspielraum jedoch eng: Zunächst konnten die Kinder gar nicht anders als sündig zu handeln, weil ihre Eltern schon sündig waren, und dies weitergegeben haben. Aber wenn die Kinder dies einsahen und ihre Sünde bereuten und im engen Korsett der Lebensregeln handelten, hatten sie einen Anspruch auf Erlösung. Eigener Reflexions- und Handlungsspielraum oder kritische Fragen waren dabei nicht erwünscht. 71

 Vgl. zum Beispiel das Gebet um Bewahrung vor solchen Sünden (vgl. Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 199), der Hinweis auf den zukünftigen Richter, der alles sieht (vgl. a.a.O., 203), oder die Erinnerung des Kindes an die Sanftmut Christi (vgl. a.a.O., 207). Vgl. auch Hruby: Johann Jacob Rambach, 277f. 72  Hruby: Johann Jacob Rambach, 277f. 73  Meyer/Meyer: Rezension, 176. 74  Hruby: Johann Jacob Rambach, 266.

116 Stefanie Pfister

Franckes Applikationsdidaktik erschien Rambach wohl zu frei und kreativ, weil dies Offenheit, Unwägbarkeiten und ggf. auch Kritik im Lernprozess zur Folge hatte. Für Rambach war dies jedoch undenkbar: Seine Lebensbestimmungen, Gebote und Vorgaben, die sich in sämtlichen Textformen wiederfinden, folgen der einer pietistischer Zielsetzung und sollen notfalls auch ohne persönliche Einsicht klar verfolgt werden. Dies schlägt sich auch in seinen didaktischen und methodischen Prinzipien wider.

3.1 Didaktisch-methodische Konsequenzen Da Rambach Franckes Applikationsdidaktik nicht übernommen hatte, stellte er eigene didaktisch-methodische Forderungen75 in seinen pädagogischen Schriften76 auf, die jedoch nicht an ein stimmiges fachdidaktisches Gesamtkonzept erinnern. Gleichwohl sind sie für die kritische Würdigung des »Handbüchleins« interessant. So bietet zum Beispiel die »nach Spenerischen und Frankischen [sic!] Grundsätzen eingerichtete Catechetik«77 Rambachs,78 die auch die »erste Katechetik im eigentlichen Sinne«79 genannt wird, laut Rainer Lachmann »eine systematisierte Reflexion der Hauptfaktoren jedweden Religionsunterrichts: des Lehrers, der Kinder und Jugendlichen, des Inhalts und der Methoden«80, so dass Rambach – im Hinblick auf die Unterrichtsvorbereitung – bis in das 20. Jahrhundert hinein rezipiert wurde.81 Doch im »Handbüchlein« wird Rambach seinen eigenen Forderungen nur teilweise gerecht: Seinen Anspruch von methodisch variierenden Fragen82 in den ersten beiden Hauptteilen setzt er noch weitgehend um. Auch die dann folgenden Gebete, Lieder, Exempel, die Lebens- und Sittenregeln mit dem »Gueldenen ABC eines frommen Kindes« bieten unterschiedliche Textarten 75

 Vgl. insgesamt zu den theoretischen Forderungen Rambachs Christoph Bizer: Johann Jacob Rambach (1693–1735), in: Henning Schröer/Dietrich Zilleßen (Hrsg): Klassiker der Religionspädagogik, Frankfurt am Main 1989, 85–97; Hruby: Johann Jacob Rambach, 273f.; Hug: Johann Jacob Rambach, 59f. 76  Vgl. Johann Jakob Rambach: Wohlunterwiesener Informator, Züllichau 1737, sowie insbesondere Rambach: Der wohl-informierte Catechet. 77  M. Phil Heinrich Schuler: Geschichte des katechetischen Religionsunterrichts unter den Protestanten, von der Reformation bis auf die Berliner Preißaufgabe vom Jahr 1762, Halle 1802, 195. 78  Vgl. Rambach: Der wohl-informierte Catechet. 79  Hans-Jürgen Fraas: Katechismustradition. Luthers kleiner Katechismus in Kirche und Schule, Göt­tingen 1971, 109. 80  Lachmann: Vom Westfälischen Frieden, 106. Vgl. zum Aufbau und Inhalt dieser Schrift auch a.a.O., 106f.; Hug: Johann Jacob Rambach, 59f. 81  Vgl. Christoph Bizer: Rambach, Johann Jacob (1693–1735), in: Theologische Real-Enzyklopädie. Band 28 (1997), 125–129, 128. 82  Vgl. Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 27.

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 117

und damit auch methodisch variierende Einsatzmöglichkeiten an wie Singen, Beten, Vorlesen, Nachlesen lassen, Auswendig lernen, Exempel nacherzählen lassen. Zudem besticht das »Handbüchlein« durch seine in den Lehrstücken zwar sehr nüchterne, aber in den Antworten bzw. in den Gebeten und Liedern sehr emotionale Sprache mit vielen anschaulichen Adjektiven (»hochmütiges Verlangen«83, die Erbsünde als »abscheuliche Verderbniß«84 etc.), Interjektionen (»Ach Leyder!«85, »O herrliche Fruechte!«86 etc.) sowie anschaulich-emotionalen Äußerungen und bildlichen Vergleichen (»Gib mir, oh lieber Gott, das tiefe Verderben meiner Natur, samt allen meinen begangenen Jugend-Sünden, bußfertig zu erkennen«87, »Ach wer bin ich armes Kind, daß du mir den gantzen Schatz des Heyls [...] in meiner Taufe geschencket«88 etc.).89 Aber die von Rambach geforderten – für das Verständnis des Gelernten wichtigen ausführlichen und strukturierenden Erklärungen90 – erfolgen im »Handbüchlein« nicht. Auffällig dagegen ist hier der sprachliche Einsatz von Bibelstellen: So verweisen viele Antworten sehr häufig auf einen Bibelvers91, auf mehrere Verse92 oder die Antwort wird direkt als biblisches Zitat genannt93, so dass den Schülern »die unbestreitbare Autorität des Schriftwortes stets eingeprägt wurde«94. Auch in den Lebens- und Sittenregeln sowie in dem »Gueldenen ABC« ist dieser – teilweise paraphrasierende – Gebrauch von Bibelversen stets zu finden,95 so dass kein Lebensbereich der Schüler, keine Tageszeit, Mahlzeit, Unterhaltung, kein Durch-Die-Straße-Gehen, Aufenthalt in der Schule etc. ohne einen Bibelvers zu denken war. Dabei erfolgten jedoch weder Erläuterungen der Antworten noch Ausführungen zu den Bibelversen, sondern beides steht unvermittelt und ohne eine Chance der Eigenreflexion nebeneinander. Rambach wird wiederum seinen didaktisch-methodischen Forderungen zu den Fragestellungen eines Lehrbuches gerecht, die laut Rambach »1. or-

83

 Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 9.  A.a.O., 13. 85  A.a.O., 9. 86  A.a.O., 21. 87  A.a.O., 35. 88  A.a.O., 93. 89  Vgl. Hruby: Johann Jacob Rambach, 266f. 90  Vgl. Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 37. 91  Vgl. zum Beispiel Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 28 (Frage 205). 92  Vgl. zum Beispiel a.a.O., 30f. (Frage 220). 93  Vgl. zum Beispiel 34 (Zitat von Gen 6,5). 94  Hruby: Johann Jacob Rambach, 267. 95  Vgl. auch ebd. 84

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dentlich, 2. leicht und deutlich, 3. kurtz, 4. gruendlich, 5. erbaulich«96, häufig wiederholt,97 inhaltlich reduziert,98 dem Alter der Kinder angepasst99 und so formuliert sein sollen, dass jüngere Kinder die Fragen entweder bejahen oder verneinen oder in der Antwort den Inhalt der Frage wiederholen können. Selbst formulierte Antworten sollten nur selten gefordert werden.100 Die Fragen sind jedoch nicht immer »erbaulich« formuliert, sondern oft erhalten sie durch die nachfolgenden Antworten eine negativ-ermahnende Wirkung, zum Beispiel Frage 50 »Ist dann der Mensch in diesem seligen Zustande geblieben? Ach leider! Nein«101, oder Frage 65 »Blieb sein Leib unsterblich? Nein, er war dem Tode und mancherlei Schmerzen unterworfen.«102 Zudem gibt es Fragen und Antworten, die die Schüler nicht ohne Hilfestellung durchdrungen haben konnten, zum Beispiel die Antwort auf die Frage 204: »Was wirkt der heilige Geist in ihnen?«: »1) Allerlei göttliche Kraft, christlich zu leben, geduldig zu leiden, und selig zu sterben. 2) Allerlei göttlichen Trost in allen Trübsalen. 2. Petr. 1,3 Ap. Gesch. 3, 31. 2 Cor. 1,4).«103 Ein weiteres Beispiel soll zur Veranschaulichung dienen: »61. Was erfolgte auf diesen Abfall von Gott? Der Verlust des goettlichen Ebenbildes. – 62. Was verlohr der Mensch aus seinem Verstande? Die goettliche Weisheit und Erkenntnis. – 63. Was verlohr er aus seinem Willen? Die Liebe und Heiligkeit, ja das gantze Leben aus Gott. – 64. In was vor einen Zustand stuerzte er sich selbst? In den unseligsten Zustand nach Leib und Seele. – 65. Blieb sein Leib unsterblich? Nein, er war dem Tode und mancherley Schmertzen unterworfen. – 66. Blieb seine Seele aber unsterblich? Ja, sie blieb zwar unsterblich; aber alle Kraefte derselben wurden aufs aeusserte verdorben. – 67. Wie ward sein Verstand verdorben? Er ward gantz ungeschickt, Gott und goettliche Dinge zu erkennen, und hingegen voll Finsterniß, Blindheit und Torheit.«184 96

 Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 65. »Mit ›ordentlich‹ meint Rambach dabei eine Vorgehensweise, die in systematischer Folge jeden Aspekt eines Problems an dem ihm gebührenden Platz behandelt und dabei auch die natürlich-logische Ordnung nicht außer acht läßt« (Hruby: Johann Jacob Rambach, 274, mit Bezug auf Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 66). »›Leicht und deutlich‹ meint konkret, daß man im Unterricht der Kinder auf poetisch-mythologische Umschreibungen, ungebräuchliche Redensarten, Fremdwörter und unbekannte Sprichwörter verzichten soll« (Hruby: Johann Jacob Rambach, 274). Sowie: »Unter ›gruendlich‹ versteht Rambach, daß man eine Frage durch Variation ›von allen Seiten‹ behandelt, mit biblischen Sprüchen beweist, durch Kontradiktion oder Entwurf problematisiert« (ebd.). 97  Vgl. Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 41f. 98  Vgl. Fraas: Katechismustradition, 110. 99  Vgl. Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 28. 100   Vgl. a.a.O., 54. 101   Rambach: Erbauliches Handbüchlein, 9. 102   A.a.O., 10. 103   A.a.O., 28.

»Güldenes ABC eines frommen Kindes« 119

Dieser sehr spezifische, sich langsam zuspitzende Aufbau der Fragen und Antworten geschah eindringlich und um die »richtigen« Antworten geben zu können, war eine »vorausgehende, vom Handbüchlein unabhängige Erarbeitungsphase unabdingbar, die dem Kind den für dessen Verständnis der Fragen notwendigen Wissensstand vermittelt.«105 Doch es ist fraglich, ob diese Erarbeitungsphase im Unterricht umgesetzt wurde. Hinzu kommt, dass sich »Rambachs Fragen nicht auf einzelne, fest umrissene und vor Augen liegende Lehrtexte [beziehen], sondern auf den gesamten Komplex der christlichen Heilslehre; die Antworten [...] greifen auf Altes und Neues Testament zurück und setzen umfassende biblische und dogmatische Kenntnisse voraus, die von Kindern nicht erwartet werden können.«106 Damit stellt sich die Frage nach der Rolle des Lehrers. Im »Catechet« weist Rambach auf die wichtige Funktion des Lehrers hin.107 Doch in dem vorliegenden »Handbüchlein« erfolgen keinerlei didaktische Hinweise für einen Lehrer, der das Schulbuch einsetzen und die Inhalte vermitteln sollte. »Vielmehr deuten häufige Anreden an die Kinder im Text sowie die in den Exempeln beigegebenen ›Lehren‹ [...] darauf hin, daß das Werk zur Eigenlektüre der Kinder gedacht ist.«108 Wenn das Schulbuch jedoch tatsächlich für den Eigengebrauch gedacht sein sollte, wiegen die weniger gut umgesetzten didaktisch-methodischen Vorgaben Rambachs umso schwerwiegender. Denn eigentlich sollten die Kinder laut des »Catechets« »hinsichtlich der Willenserziehung für Sünde sensibilisiert werden durch gute Beispiele, Ermahnungen, Verheißungen und Drohungen, die jedoch nur mit größter Vorsicht eingebracht werden sollen.«109 In dem »Handbüchlein« überwiegen jedoch eher die Drohungen statt die Verheißungen und der oftmals ernste und nüchterne Sprachgebrauch, in welchem zum Beispiel die teilweise grausamen Exempel geschildert werden, ist nicht mit gebotener Vorsicht formuliert. Dass dabei die Exempel und der stete Vergleich mit einem vollkommenen Menschen zudem dazu führen konnte – und dies auch beabsichtigt war –, dass die Schüler ein strafendes und verstörendes Gottesbild erhalten und sich selbst immer als unwürdig und unzulänglich empfinden, ist aus entwicklungspsychologischer Sicht ohnehin fatal. 104

104

  A.a.O., 10f.  Hruby: Johann Jacob Rambach, 275. 106  Ebd. 107  Vgl. Bizer: Johann Jacob Rambach, 93. 108  Hruby: Johann Jacob Rambach, 262. 109  A.a.O., 273, mit Bezug auf Rambach: Der wohl-informierte Catechet, 27. 105

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3.2 Kritische Würdigung Rambach hat in seinem »Handbüchlein« die franckesche Applikationsdidaktik nicht übernommen, sondern eigene didaktisch-methodische Akzentsetzungen entwickelt. Dabei legt er eine thematisch gut durchdachte Schrift vor, welche die Bibelverse thematisch ordnet und für die Schüler strukturiert aufbereitet. So erhalten die Schüler zu verschiedenen Lebensthemen und zu verschiedenen Fragen die jeweiligen Bibelstellen. Ebenso ist Rambachs Engagement für das Singen von Liedern und das Sprechen von Gebeten zu würdigen, ein wichtiger Aspekt für die Religionspädagogik sowie für die christliche und kirchliche Sozialisation: »Rambach dichtet unzählige Lieder und Poetereien, durch die das christliche und gottesdienstliche Ich sich der theologischen Norm entsprechend lebendig-bewegt, manchmal gradezu dramatisch artikulieren kann.«110 So ist Rambachs »Handbüchlein« »nicht nur Programm, sondern zugleich Instrument religiöser, damals kirchlicher Sozialisation.«111 Für den Unterricht ist bedeutsam, dass er versucht, mit »den von ihm erarbeiteten Medien (Handbüchlein, Gesangbuch) [...] auf einer praktischen Ebene die Unterrichtsinhalte festzuschreiben.«112 Für eine Religionspädagogik, die ihre historischen Wurzeln weiter freilegen möchte, ist Rambachs »Erbauliches Handbüchlein« somit nicht zuletzt durch ihren mittelbaren Francke-Bezug eine wichtige Quellenschrift und ihr Autor und seine Intentionen erscheinen, vielleicht nicht nur unter historischer Perspektive, auch heute noch von Interesse. Anhand seines »Handbüchleins« wird auch deutlich, inwiefern er als Schüler Franckes die pädagogischen Impulse des halleschen Pietismus rezipiert, tradiert bzw. für sein pädagogisches Wirken modifiziert hat.

110

 Bizer: Johann Jacob Rambach, 89.  A.a.O., 86. 112  Hug: Johann Jacob Rambach, 189. 111

Der Protestantismus als Bildungsreligion Aspekte religiöser Bildung bei Ernst Troeltsch Gregor Reimann

1. Der Protestantismus und    die Krise der Moderne Der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch (1865–1923), einer der prominentesten Vertreter der sog. Religionsgeschichtlichen Schule,1 verband in seinen Werken oft historisch-kritische Betrachtungen mit Analysen zum aktuellen Geschehen. Dabei hat sich Troeltsch – wie nahezu alle Vertreter der liberalen Theologie um 1900 – nicht theoretisch mit dem Bildungsbegriff auseinandergesetzt.2 Allerdings kam er in seiner historischen Analyse des protestantischen Christentums zum Ergebnis, dass sich innerhalb des Protestantismus im Zuge der Aufklärung eine »philosophische Bildungsreligion«3 entwickelt habe. Diese Form des Protestantismus, die Troeltsch von einem »asketischen Pietismus«4 unterschied, versuche, die Religion mit der 1

  Vgl. zur Religionsgeschichtlichen Schule insgesamt Gerd Lüdemann/Alf Özen: Religionsgeschichtliche Schule, in: Theologische Realenzyklopädie. Band 28 (1997), 618–624. Ernst Troeltsch wird oft als »der« Systematiker dieser theologischen Strömung am Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet, allerdings hat Gerd Lüdemann festgestellt, dass die Religionsgeschichtliche Schule kaum systematisch-theologisch gearbeitet und wiederum Ernst Troeltsch seine wesentlichen Forschungen nicht im Hinblick auf die religionsgeschichtliche Untersuchung der biblischen Religionen durchgeführt hat, vgl. Gerd Lüdemann: Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: Hans Martin Müller (Hrsg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 78–107, besonders 82f. und 99. 2   Vgl. Reiner Preul: Aspekte des kulturprotestantischen Bildungsbegriffs, in: Hans Martin Müller (Hrsg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 150–164, 156. 3   Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Julius Wellhausen/Adolf Jülicher/Adolf Harnack/Nathanael Bonwetsch (Hrsg.): Die christliche Religion. Mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion, Berlin/Leipzig, 1906, 253–458, 423 4   A.a.O., u.a. 407.

122 Gregor Reimann

Welt in Einklang zu bringen.5 Besonders in Westeuropa und Nordamerika habe sich dieser spezifische Protestantismus ausgebildet, der bemüht sei, anknüpfend an die reformatorische Freiheitstradition, durch Immanenz-, Rationalitäts- und Autonomiebetonungen eine Beziehung zur naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung herzustellen.6 Wesentliches Ziel der Aufklärungstheologen sei es gewesen, die Religion in ihren spezifischen Formen aus einem allgemeinen Vernunftbegriff und nicht aus einem konkreten Offenbarungsbegriff abzuleiten. Den damit verbundenen Versuch des Ausgleichs zwischen religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen sah Troeltsch als ein wesentliches Ereignis der neuzeitlichen Kulturgeschichte an: »Diese Umsetzung des Protestantismus in eine philosophische Bildungsreligion befriedigte alle wissenschaftlichen Forderungen und zugleich auch das religiöse Gefühl, das nun in der Religion [...] des Christentums die Offenbarung der Vernunft selbst erschaut«7. Allerdings beurteilte Troeltsch diese historische Entwicklung des Protestantismus ambivalent: Einerseits bilde dieser spezifische Protestantismus »bis heute die Grundform der protestantischen Gläubigkeit in den Bevölkerungen Europas«8, andererseits könne sich aus der philosophischen Bildungsreligion der Aufklärung durchaus auch Skeptizismus, Positivismus und Atheismus entwickeln. Troeltsch konstatierte zudem, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Religion und das Zeitalter der Moderne insgesamt in »einer latenten, zuweilen offen zutage tretenden Krise«9 befinden. Allerdings sah Troeltsch besonders für die evangelische Theologie die Möglichkeit, auf die veränderten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Verhältnisse angemessen reagieren zu können. Für den Protestantismus als Bildungsreligion bestehe durch seine Fähigkeit zur Reflexion die Chance, Religion wieder zur verbindenden Kulturgrundlage zu machen. Jedoch sah

5

  Vgl. Hans Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 252f. Diese Entwicklung sei allerdings nur gegen die offiziellen Kirchenleitungen durchsetzbar gewesen. Die maßgeblichen Protagonisten dieser Entwicklung – Troeltsch nannte in diesem Zusammenhang u.a. Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) – seien »Väter einer neuen Christlichkeit«(Troeltsch: Protestantisches Christentum, 425) gewesen. 6   Vgl. Troeltsch: Protestantisches Christentum, 424f. 7   A.a.O., 426. 8   A.a.O., 425. 9   Drescher: Ernst Troeltsch, 254. Neben dieser eher theologischen Dimension einer Krise der Moderne erörtert Troeltsch eine allgemeine Krise der Kultur und Kulturgeschichte, die sich dadurch auszeichnet, dass mit Blick auf Religion, Kultur und Geschichte – aufgrund der Vielfalt der Sinnangebote – keine allgemeingültigen und -verbindlichen Aussagen und Urteile mehr zu treffen seien. Dies führe zu Gefühlen von Skepsis und Hilflosigkeit, vgl. a.a.O., 257–260.

Der Protestantismus als Bildungsreligion 123

Troeltsch ebenfalls das Risiko, dass die Religion durch naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz einbüßen könne.10 In seiner historischen Analyse des Protestantisums und in seiner Diagnose der zeitgenössischen Kulturkrise bemühte sich Troeltsch dabei stets auch um eine vergleichende Betrachtung der einzelnen Staaten Europas und Nordamerikas. Nach Troeltsch hätten die unterschiedlichen historischen und religiösen Entwicklungen in den entsprechenden Ländern und Regionen zu verschiedenen kulturellen und religiösen Zuständen geführt, so dass aus seiner Sicht auch in Deutschland spezifische theologische, kulturelle und politische Anpassungen vorgenommen werden müssten, um der Krise der Moderne zu begegnen. Vor diesem Hintergrund äußerte sich Troeltsch auch zum schulischen Religionsunterricht.

2. Der schulische Religionsunterricht     in der modernen Gesellschaft Ernst Troeltsch hat sich besonders in zwei Texten der Jahre 1906 und 1919 mit dem schulischen Religionsunterricht auseinandergesetzt11 und lässt in 10

  Vgl. a.a.O., 260. Insgesamt – und dies zeichnet das wissenschaftliche Werk Troeltschs in besonderer Weise aus – enthält er sich begründeter Voraussagen über zukünftige Entwicklungen. Allerdings äußert er die Hoffnung, die verschiedenen Strömungen des Christentums könnten »auf dem Boden der freien geistigen Übereinstimmung«(Troeltsch: Protestantisches Christentum, 451) eine einheitliche religiöse Grundlage der Kultur schaffen, um dem zeitgenössischen Individualismus entgegenzutreten. 11   Einerseits ist hier die Schrift »Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten« zu nennen, vgl. diese kritisch ediert in Trutz Rendtorff (Hrsg.): Schriften zu Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912). Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe. Band 6.1, Berlin/New York 2002, 342–426. Sie geht zurück auf eine Festrede Troeltschs als Prorektor der Universität Heidelberg im November 1906. Im Mai 1919 erschien zudem die Schrift »Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen«, vgl. diese kritisch ediert in Gangolf Hübinger (Hrsg.): Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923). Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe. Band 15, Berlin/New York 2002, 123–146. Der Religionsunterricht war weiterhin bereits in einer der Thesen Troeltschs zur Erlangung der Lizentiatenwürde Thema: 1891 formulierte er in Göttingen als Aufgabe der Praktischen Theologie »die Herstellung einer unverkünstelten Methode und eines ehrlichen Lehrbuches für den Religionsunterricht an Gymnasien«, vgl. Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Troeltsch-Studien. Untersuchungen zu Biographie und Werkgeschichte, Gütersloh 1982, 300. Damit wandte er sich indirekt gegen seinen akademischen Lehrer Albrecht Ritschl (1822–1889), der 1875 sein Lehrwerk »Unterricht in der christlichen Religion« veröffentlich hatte, das ausdrücklich als Schulbuch für die Gymnasien konzipiert war und bis zu seinem Tod drei Auflagen erfuhr, vgl. Kristian Fechtner: Volkskirche im neuzeitlichen Christen-

124 Gregor Reimann

diesem Zusammenhang Aspekte seines Verständnisses von religiöser Bildung erkennen. Der individuelle religiöse Bildungsprozess wurde von Troeltsch lediglich in Bezug auf die akademische Ausbildung von Pfarrern und Religionslehrern thematisiert. Deren Studium sollte einerseits eine wissenschaftliche und lebenspraktische Ausbildung sein und andererseits »eine möglichst lebendige und frische eigene Ausbildung ihres religiösen Denkens und Fühlens«12. Der Religionsunterricht wird von ihm vor dem Hintergrund des Staat-Kirchen-Verhältnisses untersucht – bildungstheoretische Überlegungen lassen sich somit nur implizit ableiten. Troeltsch bezog sowohl 1906 als auch 1919 klar Position für den Erhalt des schulischen Religionsunterrichts und nahm damit Stellung in den religionspädagogischen Debatten am Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen sowohl über methodische und inhaltliche Fragen des Religionsunterrichts als auch dessen Abschaffung diskutiert wurde. Die Forderung der Abschaffung des schulischen Religionsunterrichts wurde aus zwei unterschiedlichen Positionen heraus begründet. Zum einen hatte Arthur Bonus (1864–1941) auf einer Tagung im Jahr 1900 aus theologischer Perspektive die Abschaffung gefordert, da das Christentum als religiöse Praxis nicht lehrbar sei und eine Umwandlung religiöser Glaubensinhalte in schulischen Lehrstoff der Religion nur schaden könnte. Zum anderen hatte 1905 die Bremer Lehrerschaft in einer Denkschrift aus pädagogischer Perspektive die Abschaffung des Religionsunterrichts gefordert. Die dogmatisch-religiöse Unterweisung des konfessionellen Religionsunterrichts lasse sich nicht mit dem Bildungsauftrag der Schule vereinen. Beide Positionen stimmten damit letztendlich in der Unvereinbarkeit von Religion und Pädagogik überein.13

tum. Die Bedeutung Ernst Troeltschs für eine künftige praktisch-theologische Theorie der Kirche, Gütersloh 1995, 154. 12   Zitiert nach Fechtner: Volkskirche, 152. Da diese Ausbildung die Voraussetzung einer religiösen Gemeinschaftsbildung bei Troeltsch ist, hat Kristian Fechtner den praktisch-theologischen Anspruch Troeltschs »als ein individuelles wie soziales Bildungsgeschehen«(a.a.O., 154) interpretiert. Auch die individuellen Gemeindemitglieder sind für Troeltsch zur religiösen Selbstbildung befähigt und werden so zu gleichberechtigten Gesprächspartnern von Geistlichen und Religionspädagogen. Allerdings bleibt der religiöse Bildungsprozess der Individuen in der Gemeinde in diesem Zusammenhang eher unterbestimmt. 13   Obwohl der Religionsunterricht in den Schulen erhalten blieb, geriet er zunehmend unter Legitimationsdruck, sodass sich eine religionspädagogische Diskussion um die pädagogische Vermittlung religiöser Glaubensinhalte entfaltete, vgl. u.a. Achim Plagentz: Religion lehren? Eine theoriegeschichtliche Untersuchung zur liberalen Religionspädagogik im Kontext der Reformpädagogik, Hamburg 2006.

Der Protestantismus als Bildungsreligion 125

Troeltsch stellte dagegen fest: »[K]lar aber ist, daß Bildung und Schule das religiöse Element nicht entbehren können und dürfen, ohne das man unsere Geschichte, Kunst und Philosophie gar nicht versteht, daß sie es aber wesentlich von der historischen und berichtenden Seite her nehmen [müssen].«14 Für Troeltsch konnte der zunehmende Bedeutungsverlust von Religion in der Gesellschaft nicht zu einem religionslosen Schulsystem führen, da Religion ein wesentlicher Bildungsgehalt sei. Ein Verzicht auf religiöse Bildung in der Schule und auf jegliche Form des Religionsunterrichts habe eine »geistige Verarmung«15 der Schule zur Folge. Jedoch wandte Troeltsch sich gegen den kirchlichen Einfluss auf den Religionsunterricht und gegen eine konfessionelle Ausrichtung des Schulwesens überhaupt und trat in diesem Zusammenhang für eine Trennung von Staat und Kirche ein, wobei gleichwohl gilt: »Die Trennung von Staat und Kirche kann keine Trennung von Staat und Christentum sein und daher auch keine unchristliche oder neutrale Schule zur Folge haben«16. Die Forderung nach einem kirchlich ungebundenen Religionsunterricht wurde von liberalen Religionspädagogen dabei verstärkt seit der Jahrhundertwende vertreten. So hatte Otto Baumgarten (1858–1934) sich gegen einen kirchlich-dogmatischen Religionsunterricht in der Schule gewandt. Vielmehr solle in der Schule ein »kirchlich und gottesdienstlich ungebundene[r]«17 Unterricht in christlicher Religion veranstaltet werden. Statt der konfessionellen Unterweisung sollte nach Troeltsch in der Schule nun ein allgemeiner, historisch-phänomenologischer Religionsunterricht eingeführt werden: 14

  Troeltsch: Der Religionsunterricht, 144.   A.a.O., 145. 16   Troeltsch: Die Trennung, 415. 17   Otto Baumgarten: Neue Bahnen. Der Unterricht in der christlichen Religion im Geist der modernen Theologie, Tübingen und Leipzig 1903, 3. Diese religionspädagogische Konzeption Baumgartens wurde zu einer der wirkmächtigsten vor dem Ersten Weltkrieg. Gemeinsam mit Richard Kabisch (1868–1914) und Friedrich Niebergall (1866–1932) trat Baumgarten für eine grundlegende Neukonzeption des schulischen Religionsunterrichts ein. Während Baumgarten und Niebergall aufgrund von pädagogischen Überlegungen einen kindgerechten Religionsunterricht forderten, setzte sich Kabisch intensiv mit dem Religionsbegriff auseinander und stellte die Religiosität der Heranwachsenden in den Mittelpunkt seiner religionspädagogischen Theorie, vgl. Antje Roggenkamp: Das (zweite) deutsche Kaiserreich, in: Rainer Lachmann/Bernd Schröder (Hrsg.): Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch, Neukirchen-Vluyn 2007, 167–202, 190–194. In diesem Zusammenhang kann von der Entwicklung einer spezifischen »Religionspädagogik« gesprochen werden, deren zentraler Gegenstand der schulische Religionsunterricht ist. Diese unterscheidet sich von der traditionellen kirchlich-gebundenen »Katechetik«, die die Ausbildung einer persönlichen Religiosität in den Mittelpunkt der religiösen Erziehung stellt. 15

126 Gregor Reimann

»Der feste Kern [des Religionsunterrichts] bleibe überall das Historische, das auf den obersten Stufen auch durch religionsgeschichtliche Vergleichung verdeutlicht werden mag und von dem aus eine eigene Weltanschauung erstrebt werden mag, die nur eben ihre wesentlichen Wurzeln im Christentum behält. Einen solchen Unterricht könnte nur der Staat allein erteilen, und der Staat wäre hierfür angewiesen auf die Wissenschaft vom Christentum.«18

Auch mit dieser Forderung schloss sich Troeltsch direkt an die konzeptionellen Überlegungen Baumgartens an, der als Ziel des Religionsunterrichts die »Erweckung sachlichen Interesses für die Erscheinungen und Wirkungen der Religion als geschichtlicher Macht«19 formuliert hatte. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Kirche und Religion bei Troeltsch. Anknüpfend an seine historischen und zeitgenössischen Analysen entwarf Troeltsch die Vorstellung eines konfessionell unabhängigen Christentums, das sich von den kirchlichen Traditionen und Lehren emanzipiert habe und zur lebendigen religiösen Grundlage der Gesellschaft werden müsse. Diese allgemeine christliche Religion war für Troeltsch historisch aus der bereits in Kapitel 1 in den Blick genommenen »philosophischen Bildungsreligion« des modernen Protestantismus erwachsen und stellte die ethische Grundlage für Bildung und Erziehung in der Schule dar. Der Zweck des Religionsunterrichts sollte nach Troeltsch vor diesem Hintergrund die »Gewinnung einer modernen Christlichkeit«20 sein. Auf diese Weise verknüpft er die historische Entwicklung des Christentums mit der Zielstellung des schulischen Religionsunterrichts: Um die Religion zur ethisch-geistigen Grundlage der Gesellschaft zu machen, müsse sich die christliche Religion den Anforderungen der Moderne anpassen und sich von überkommenen kirchlich-dogmatischen Traditionen lösen.21 Nach Troeltsch müsse somit der Staat allein Inhalt und Methodik des Religionsunterrichts bestimmen. Allerdings sah er dabei die Gefahr, dass sich im schulischen Religionsunterricht die Religion von einer »Kirchenreligion« hin zu einer »Schulbuchreligion«22 entwickeln könnte. Um diese Entwicklung zu 18

  Troeltsch: Die Trennung, 415.   Otto Baumgarten: Wider die Reformwünsche für den Religions-Unterricht auf dem Obergymnasium, in: Christliche Welt 14 (1900), 855f., 855. Vgl. dazu auch Fechtner: Volkskirche, 156f. 20   Troeltsch: Die Trennung, 415. 21   Vgl. Fechtner: Volkskirche, 162–165. 22   Troeltsch: Die Trennung, 413f. Zwar strebte Troeltsch durchaus eine kirchlich-unabhängige »neue Schulreligion«(Fechtner: Volkskirche, 163) an, allerdings fürchtete er, diese könne eine lediglich abstrakte Religiosität hervorbringen, weil sie ohne »Kultus und ohne positive Anschaulichkeit«(Troeltsch: Die Trennung, 415) vermittelt werden würde. 19

Der Protestantismus als Bildungsreligion 127

verhindern, müsse der Religionsunterricht auf die wissenschaftliche Grundlage der modernen – das heißt religionsgeschichtlich arbeitenden – Theologie gestellt werden.23 Die Schriften von 1906 und 1919 unterschieden sich in ihren grundsätzlichen Ausführungen zum schulischen Religionsunterricht nicht grundlegend. Allerdings wurden die Forderungen nach einer Trennung von Staat und Kirche sowie nach einer Neukonzeption des schulischen Religionsunterrichts aufgrund der teilweise gewaltsamen politischen Veränderungsprozesse der Jahre 1918/19 in der jüngeren Schrift sehr viel zurückhaltender und teilweise resignativ formuliert.24 Troeltsch sprach sich in Anbetracht der noch ungewissen politischen Situation in Deutschland vorerst für eine Beibehaltung der vorrevolutionären Regelungen zum Religionsunterricht und zum konfessionellen Schulwesen aus und hoffte auf eine spätere Lösung dieser Fragen: »In einem Moment, wo die politische Existenz auf dem Spiel steht, darf kein Glaubenskrieg entfesselt werden [...]. Aber auch von den Gefahren des Moments abgesehen, bleibt es immer dabei, daß die große und edle Forderung der Gewissensfreiheit Respekt vor dem religiösen Gewissen und Abwehr religiösen Zwanges zugleich bedeutet und daß dieses doppelseitige Prinzip in eine Schulbildung hineingearbeitet werden muß, die Bildung und Erziehung und nicht bloß äußerliche Fachschule sein will.«25

23

  Vgl. Troeltsch: Die Trennung, a.a.O., 416f.   Vgl. beispielsweise Troeltsch: Der Religionsunterricht, 143: »Eine allgemeine und grundsätzliche Regelung des Problems [der Trennung von Staat und Kirche] ist auch bei der dem religiösen Leben verständnisvollst entgegenkommenden Lösung der Trennungsaufgabe ganz überaus schwierig, ja man kann wohl sagen unmöglich. Und es ist ein schlechter Trost, wenn man sich sagen muß, daß ja auch die bisherige alte Regelung höchst verzwickt und unorganisch, für die Staatschule überall hinderlich und für das religiöse Leben praktisch nicht sehr ertragreich ist. Es scheint hier eines der unlösbaren Rätsel und Wirrsale der modernen Kultur überhaupt vorzuliegen.« 25   Troeltsch: Der Religionsunterricht, 146. Eine endgültige Lösung der Frage nach der konfessionellen Ausrichtung des Schulwesens war in der – zeitlich nach Troeltschs Aufsatz verabschiedeten – Weimarer Reichsverfassung zwar in den Artikeln 146 (Absatz 2) und 174 vorgesehen, zur Verabschiedung eines Reichsschulgesetzes kam es jedoch nicht. Ernst Troeltsch selbst trat 1919 in die Deutsche Demokratische Partei (DDP) ein, die sich für eine Trennung von Staat und Kirche einsetzte und einen Religionsunterricht anstrebte, der religionsgeschichtlich und religionswissenschaftlich ausgerichtet sein sollte. Troeltsch konnte sich entsprechend durchaus mit diesen Forderungen des DDP-Programms identifizieren, wendete sich aber gegen jede ideologische Begründung dieser Parteistandpunkte und setzte sich für eine historische Herleitung der Position ein, vgl. Drescher: Ernst Troeltsch, 470f. und 476f. 24

128 Gregor Reimann

3. Religion als Teil der »Deutschen Bildung« Die umfassendste Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff findet sich in einem Vortrag unter dem Titel »Deutsche Bildung«,26 den Troeltsch zur Eröffnung der Volkshochschule Görlitz im September 1918 hielt.27 Das wesentliche Ziel der in diesem Referat vorgestellten Bildungskonzeption ist die Konzentration und Vereinheitlichung der geistigen Strömungen in Deutschland. So sah Troeltsch als wesentlichen Faktor, der zur Niederlage des Deutschen Reiches im Krieg geführt habe, die »Zersplitterung unseres deutschen geistigen Lebens«28. Auf dem Gebiet der Bildung müssten entsprechend Bildungsziele geschaffen werden, die sich der geschichtlichen Voraussetzung und den nationalen Eigentümlichkeiten Deutschlands bewusst seien, aber nicht überkommene Bildungstraditionen29 aus der jüngeren Vergangenheit übernehmen sollten. Das Ziel müsse eine deutsche Bildung sein. Deutlich wendete sich Troeltsch dabei allerdings gegen eine imperialistische oder nationalistische Bildung, wenn er formulierte: »Was das Schlagwort einer deutschen Bildung will, ist […] im Grunde nichts anderes als [...] Konzentration und Vereinfachung durch Sammlung auf einen bestimmten Mittelpunkt und größere Nähe zu den elementaren und instinktmäßigen Grundzügen unseres eigenen Selbst.«30

26

  Vgl. Ernst Troeltsch: Deutsche Bildung, in: Gangolf Hübinger (Hrsg.): Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923). Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe. Band 15, Berlin/New York 2002, 169–205. 27   Dieser Vortrag, noch während des Krieges gehalten, wurde vor der Drucklegung im Jahr 1919 auf die veränderte politische und gesellschaftliche Lage hin umgearbeitet, dabei wurde jedoch die Argumentation Troeltschs nicht grundlegend verändert. 28   Troeltsch: Deutsche Bildung, 169. 29   In diesem Zusammenhang kritisiert Troeltsch die geistesgeschichtliche Entwicklung Deutschland seit der Gründung des Kaiserreichs 1871, da die kapitalistischen und imperialistischen Strömungen dafür gesorgt hätten, dass »die alten geistigen Grundlagen verfielen«(a.a.O., 170). Zwar seien im Zuge der Industrialisierung und des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts in allen Teilen der Bevölkerung Bildungseinrichtungen – wie etwa die Volkshochschulen – entstanden, die breiten Schichten verschiedenste Inhalte vermittelt hätten, allerdings seien diese Institutionen nicht durch ein einheitliches Bildungsideal gekennzeichnet. Auch nach Kriegsende und Revolution seien Versuche, ein solches Ideal zu formulieren, bislang gescheitert, dies werde besonders an den noch immer ungelösten Fragen zu Aufbau und Zielen des deutschen Schulsystems deutlich, vgl. a.a.O., 172–175. 30   A.a.O., 176.

Der Protestantismus als Bildungsreligion 129

Eine derartige deutsche Bildung ist nach Troeltsch zugleich vornehmlich historische Bildung. Darunter verstand er sowohl die Kenntnis der historischen Überlieferungen und Quellen der geistesgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands als auch die Fähigkeit, diese unterschiedlichen Strömungen bewusst zu vereinheitlichen und begründet auszuwählen. Für Troeltsch bestand in diesem Zusammenhang eine enge Verbindung zwischen historischer Bildung und Charakterbildung – Bildung verstanden als aktiver Handlungsprozess der individuellen Aneignung und Auswahl überlieferter geistiger Ideale.31 Um die bestimmenden Bildungstraditionen weiterhin historisch unterscheiden zu können, nannte Troeltsch drei historisch-systematische Elemente: »de[n] antike[n] Humanismus, die christliche Seelenwelt des Abendlandes und die nordisch-germanische Geistesrichtung«32. Diese drei Elemente hätten seit dem Mittelalter Einfluss auf die geistesgeschichtliche Entwicklung in Deutschland gehabt und lägen bis heute allen geistigen und kulturellen Entwicklungen zugrunde. Dabei verband Troeltsch diese mit bestimmten Attributen und Einstellungen: So sei das erste Element, das an allein mit der hellenistischen Geisteswelt gleichgesetzt wird, verbunden mit dem »Prinzip der Innerlichkeit, der Vergöttlichung des Menschen, der Immanenz der Schönheit in Sinnlichkeit, der Hingabe an das Gegebene und Seiende, der lediglich rationalen und anthropomorphen Formung und Typisierung der Wirklichkeit«33. Das zweite Element ist nach Troeltsch »die von allen konfessionellen Schranken freie, rein auf Seele und Liebe zusammengezogene Christlichkeit«34. Und hinsichtlich des dritten Elementes gilt: »In Wahrheit sind wir durch und durch Nordländer mit dem Heimatsinn und dem Familiengefühl unserer alten Siedlungen und unseres geschlossenen Hauses, mit der grenzenlosen und unplastischen Phantasie der musikalischen Sehnsucht, mit den soziologischen Grundformen der Treue und der Genossenschaft, mit den Rechtsbegriffen des Vertrauens und des Gemeinsinns, dem rätselfrohen Denken eines alles anbohrenden Irrationalismus, dem Ethos des individuellen Trotzes und der leidenschaftlichen Kindlichkeit.«35

31

  Vgl. Preul: Aspekte, 159. Vor diesem Hintergrund schließt Troeltsch bloße naturwissenschaftliche, technische, geschichtliche, wirtschaftliche und politische Wissensbestände sowie »die bestimmten kirchlichen und Sektenideen«(Troeltsch: Deutsche Bildung, 182) als verbindliche Bildungsgüter aus, weil diese keinen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten könnten. 32   Troeltsch: Deutsche Bildung, 189. 33   A.a.O., 195. 34   A.a.O., 190. 35   A.a.O., 192.

130 Gregor Reimann

Diese drei Elemente, die nach Troeltsch die Bildungstradition Deutschlands und ganz Nordeuropas grundlegend beeinflussten, können zwar miteinander in Verbindung gesetzt werden, stehen aber auch in Widerspruch zueinander, wobei es Aufgabe der Bildungsinstitutionen, allen voran der Schule, aber auch Aufgabe der Lernenden sei, diese drei unterschiedlichen Elemente in ein Verhältnis zueinander zu setzen.36 Troeltsch schlug allerdings zugleich eine klare Abstufung vor: »Faßt man sich dazu ein Herz, so ist sonnenklar, daß beherrschend sein muß das religiöse Element. Hat dieses überhaupt eigenen Sinn und Gehalt, dann muß es der Natur der Sache nach im Mittelpunkt der Sache stehen.«37 Die christliche Religion sei das wesentliche Element, um eine einheitliche Bildung und verbindende Geisteshaltung herzustellen, da sie die metaphysische Abhängigkeit des Menschen deutlich mache.38 Und um dies zum Gegenstand einer nationalen Erneuerung machen zu können, bedürfe es nun der Rückbesinnung auf die deutsche Geschichte, die Troeltsch in einem bodenständigen Germanentum wurzeln sah.39 Der antiken Bildungstradition wird im Gegenzug nur eine nachrangige Stellung eingeräumt. Das damit verknüpfte humanistisch-hellenistische Menschenbild lehnt Troeltsch weitgehend ab, es soll lediglich als Korrektiv der anderen Elemente dienen. Nicht in der Antike, der Renaissance oder der Klassik sah Troeltsch entsprechend das Ideal einer deutschen Bildung verwirklicht, sondern im Mittelalter und in der Romantik mit ihrer spezifischen Verbindung von Christen- und Germanentum.40

36

  Vgl. Preul: Aspekte, 161.   Troeltsch: Deutsche Bildung, 190. 38   Der überkonfessionelle Charakter des Begriffs des Christentums bei Troeltsch wird hier erneut deutlich. Entsprechend ist die implizite religiöse Grundlage seiner deutschen Bildung erneut die »philosophische Bildungsreligion« des modernen Protestantismus, auch wenn dies hier nicht ausdrücklich geäußert wird. Zugleich grenzt er sich auch gegen spezifische Konfessionen bzw. religiöse Strömungen ab, wenn er schreibt, dass die deutsche Bildung »insbesondere nicht verknüpft [ist] mit irgendwelchen konfessionellen Neigungen, mit pietistischen oder katholischen Restaurationen« (a.a.O., 199). 39   Vgl. a.a.O., 200. 40   Vgl. Preul: Aspekte, 160. Reiner Preul hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass die Abstufung der drei verschiedenen Bildungsideale nicht nur auf systematisch-historischen Überlegungen, sondern auch auf impliziten subjektiven Kriterien Troeltschs beruht, vgl. a.a.O., 161f. Insgesamt ist Troeltschs Rede dabei nur vor dem Hintergrund der dramatischen Lage Deutschlands in den Jahren 1918/19 zu verstehen. Troeltsch sprach sich zwar wiederholt gegen einen nationalistischen Impetus seiner Bildungskonzeption aus, allerdings lässt seine eher spekulative Darstellung eines nordisch-germanischen Bildungsideals sowie seine Kritik an humanstischen Bildungsgedanken bereits Elemente einer völkischen Erziehung erkennen. 37

Der Protestantismus als Bildungsreligion 131

Die drei von Troeltsch vorgestellten, für Deutschland bestimmenden Bildungstraditionen stellten für ihn allerdings noch keine konkreten Bildungsinhalte dar. Vielmehr sieht er diese Traditionen als Ziel einer persönlichen Bildung, die nicht allein im Schulwesen verwirklicht werden kann, sondern eine Entwicklung der individuellen Persönlichkeit darstellt.41 Dieses Bildungsideal sollte für Troeltsch nach Weltkrieg und Revolution als Basis dienen, um wieder zu einer geistigen Vereinheitlichung und Konzentration in Deutschland zu führen.42

4.

Zusammenfassung

Ernst Troeltsch hat in seinem Werk kein geschlossenes Konzept religiöser Bildung vorgelegt. Die in diesem Beitrag behandelten Veröffentlichungen lassen jedoch zentrale Aspekte seines diesbezüglich relevanten Denkens erkennen. Drei Punkte seien benannt: So ist bei Troeltsch erstens die historische Analyse eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis gegenwärtiger Problemstellungen. Am Anfang der Moderne stand für Troeltsch zweitens mit der Öffnung des (protestantischen) Christentums für wissenschaftliche, philosophische und technische Neuerungen im Zeitalter der Aufklärung ein Bildungsereignis. Und um weiterhin drittens die prognostizierte zeitgenössische Krise der Moderne überwinden zu können, versuchte er ein gemeinsames geistiges Fundament der Gesellschaft zu konstruieren – ein Christentum in überkonfessioneller Gestalt. Die Ambivalenz zwischen der Anerkennung historischer gesellschaftlicher Pluralisierungsphänomene und dem Versuch, der Gesellschaft eine gemeinsame Grundlage zu geben, bestimmte vor diesem Hintergrund auch die Auseinandersetzung mit religionspädagogischen Fragestellungen bei Troeltsch. Exemplarisch wird dies in seinem Beitrag zur »Deutschen Bildung« deutlich: Der sich zunehmend ausdifferenzierenden Moderne, die im Ersten Weltkrieg den vorläufigen Höhepunkt der von Troeltsch bereits zuvor

41

  Vgl. Troeltsch: Deutsche Bildung, 200.   Vgl. a.a.O., 204f. Troeltsch formulierte am Ende seiner Rede pathetisch: »[A]uch bei einer solchen Schwäche kann Deutschland der Staat eines tüchtigen, arbeitsamen und geistig lebendigen Volkes bleiben oder wieder werden. Dazu gehört aber, daß es den Weg zur Vereinfachung, Konzentration und Vermenschlichung seiner Bildung wiederfinde. Einfach bis zur Herbheit und Strenge, konzentriert bis zur Einseitigkeit, menschlich bis zum Weltbrüdertum gegen alle Menschen guten Willens: das müssen wir wieder werden, alles auf der Grundlage deutscher Geistesgeschichte, die ja von selbst ein Kreuzungspunkt aller europäischen Kulturgehalte ist. Das ist die einzige Hoffnung und die einzige Rettung« (ebd.).

42

132 Gregor Reimann

prognostizierten Krise erlebt hatte, wurde ein historisch-systematisches Bildungsprogramm entgegengestellt, das letztlich auf eine Vereinheitlichung und Konzentration unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Einflüsse ausgerichtet war. In diesem Kontext hat Troeltsch zugleich deutlich gemacht, dass historische Reflexion stets eine wesentliche Voraussetzung für religiöse Bildung sein dürfte.

25 Jahre evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen Zur Einführung und Entwicklung eines neuen Schulfachs Andrea Schulte

Im Jahre 2009 wurde am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt das religionspädagogische Projekt »Die Einführung des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen« mit Unterstützung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) auf den Weg gebracht. Ziel des Projekts war es, die Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen von den Anfängen im Jahre 1991 bis zum Jahre 2016, seinem 25jährigen Bestehen, aus kirchlicher Sicht, das heißt aus Sicht der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen (ELKTh) und später der EKM, nachzuzeichnen und aufzuarbeiten. Dazu wurden über die Jahre hinweg die einschlägigen Archive aufgesucht, in denen die kirchlichen Dokumente aufbewahrt waren: das Landeskirchenarchiv sowie die Registratur der EKM in Eisenach und Erfurt. Dort fand sich eine Vielzahl von Quellen, die erst einmal entdeckt und in Augenschein genommen werden wollte. Umfangreiches Quellenmaterial wurde gesichtet, geprüft, geordnet und zusammengestellt: Protokolle der kirchlichen Gremien (Landeskirchenrat, Landessynode), Jahresberichte der Bildungseinrichtungen, Briefe, Gesprächsnotizen und -niederschriften, Diskussionspapiere, Aktennotizen, Informationsmaterialien zum Religionsunterricht. So konnten in den zeitgeschichtlichen Quellen Themen identifiziert werden, die als konfliktträchtige und spannungsreiche Herausforderungen für das Werden und Wachsen des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen eine Rolle gespielt haben und teilweise noch spielen: die Verordnung zur religionspädagogischen Arbeit, der Gestellungsvertrag zum Religionsunterricht, die Vokationsordnung der Landeskirche, das Amt der Schulbeauftragten, Mentoren und Multiplikatoren, der Einsatz und die Abschlüsse der kirchlichen Mitarbeiter, die Konvente der Schulpfarrer und Schulkatecheten, das Pädagogisch-Theologische Zentrum bzw. Institut, die Fachberater und Fachleiter, die Lehrplankommissionen, die Schulbuchfrage, die Schulseelsorge. Die derart entstandene Dokumentation zur Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen ist ein eindrückliches

134 Andrea Schulte

und beredtes Zeugnis über die Neubestimmung religiöser Bildungsarbeit in kirchlicher Verantwortung.

1. Die Einführung des evangelischen Religions  unterrichts im Freistaat Thüringen   – Neubestimmung religiöser Bildungs  arbeit in kirchlicher Verantwortung Die Einführung des schulischen Religionsunterrichts in Thüringen markiert die Neubestimmung religiöser Bildungsarbeit in kirchlicher Verantwortung. 1991 trifft die ELKTh nach heftigem Für und Wider die Entscheidung für die sofortige Einführung des schulischen Religionsunterrichts im Freistaat. Im Frühjahr 1990 hatte man zwar noch die Vorstellung eines sog. Gemeinsamen Grundwerteunterrichts, aber das Schuljahr 1991/92 führte letztlich zu den gleichberechtigten ordentlichen Unterrichtsfächern »Ethik« und »Evangelische Religionslehre«. Thüringen war somit das erste der jungen Bundesländer, das Ethik- und Religionsunterricht als Werte orientierende Fächer an den Schulen institutionalisierte. In Vorbereitung des Schuljahrs 1991/92 schrieb die damalige Kultusministerin Christine Lieberknecht an alle Schulleiter in Thüringen: »In Abkehr von der totalitären, ideologisch ausgerichteten Erziehung der Vergangenheit sollen die Schüler künftig als Person ernst genommen und zu selbständig denkenden Menschen erzogen werden. Der ganzheitliche Erziehungsansatz, der einem von Freiheit und Verantwortung geprägten Menschenbild entspricht, muß, wo es vom einzelnen gewollt ist, auch die religiöse Dimension einbeziehen. Darum nimmt das Grundgesetz den Religionsunterricht als Garantie in seinen Grundrechtskatalog auf. […] Aus dem Charakter als ordentliches Lehrfach folgt, daß der Religionsunterricht zu den Pflichtfächern gehört. Deshalb sind bekenntnisangehörige Schüler zur Teilnahme verpflichtet. […] Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach setzt grundsätzlich Lehrkräfte mit Hochschulabschluß voraus. […] Lehrer bedürfen zur Erteilung des Religionsunterrichts der Berufung durch die Kirchen. […] Lehrer können zur Erteilung des Religionsunterrichts gegen ihren Willen nicht verpflichtet werden.«1

Wo es sachlich und personell möglich war, wurde am 1. September 1991 mit der Einführung des Religionsunterrichts begonnen.2 Dies war in 15 von 40 1

  Schreiben des Thüringer Kultusministeriums vom 2. Juli 1991.   Der damalige Ausbildungsdezernent Oberkirchenrat Ludwig Große legte der vom 8. bis 11. November 1991 tagenden Synode der ELKTh einen ausführlichen Bericht zur Situation des Religionsunterrichts vor. In ihm heißt es: »[A]m 01.09.1991 wurde von KatechetInnen, Pfarrern, Pastorinnen und einigen christlichen Lehrern schrittweise mit der Einführung des Religionsunterrichts begonnen. [...] Wir haben

2

25 Jahre evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen 135

Superintendenturen der Fall. Die ELKTh stand nun vor der gewichtigen Aufgabe, in enger Zusammenarbeit mit dem Thüringer Kultusministerium und dem Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) den Religionsunterricht zu gestalten: Der Einsatz der kirchlichen Mitarbeiter in dem neuen Fach musste vertraglich geregelt werden. Zeitgleich waren kirchliche Mitarbeiter und staatliche Lehrkräfte fortzubilden sowie Lehrplankommissionen ins Leben zu rufen. Am 6. August 1993 wurde das Thüringer Schulgesetz erlassen, in dem das Verhältnis von Ethik- und Religionsunterricht als gleichberechtigt zur Wahl stehende ordentliche Lehrfächer rechtlich verbürgt ist. Aber bis dato fehlten dafür immer noch das geeignete Lehrpersonal und die einschlägige Expertise und Kompetenz, um Lehrkräfte für dieses neue Unterrichtsfach auszubilden. Im Falle des Religionsunterrichts als einer res mixta von Staat und Kirche hatte sich die ELKTh immer wieder vor Augen zu führen, dass sie nun an dieser Aufgabe zu beteiligen war. Sie betrat damit auch kein vollends neues oder fremdes Terrain. Kirche in der DDR hatte immer schon Bildungsarbeit in den Gemeinden betrieben (zum Beispiel durch Christenlehre, Konfirmandenarbeit). Sie konnte somit durchaus wertvolle Bildungserfahrungen einbringen. Aber mit der Einführung des schulischen Religionsunterrichts stand sie vor der neuen Aufgabe und gewaltigen Herausforderung, mit dem Staat zu kooperieren und eine Beziehung aufzubauen, die ehemals zumeist von Abgrenzung und Ablehnung bestimmt war. Über 40 Jahre hinweg wurde Kirche von der gesellschaftlichen Bildungsverantwortung ausgeschlossen. Sie konnte dementsprechend auch keine Bildungsaufgaben der Gesellschaft übernehmen und war mithin auch nicht in die Schule integriert. Hier war Neuland zu betreten und mit Wissen, Knowhow und Sensibilität zu kultivieren, die man sich erst mühsam aneignen und aufbauen musste. Die zeitgeschichtlichen Quellen der 1990er Jahre dokumentieren eindrücklich die Brisanz des Anliegens kirchlicher Beteiligung an der Einführung des evangelischen Religionsunterrichts an den staatlichen Thüringer Schulen und die damit verbundenen Risiken, gesellschaftliche Bildungsmitverantwortung zu artikulieren und zu profilieren, und den gewaltigen Kraftakt, mit dem damit einhergehenden hochexplosiven Zündstoff umzugehen. Hier hatte sich eine Landeskirche in einen Klärungsprozess darüber zu begeben, was sie vor dem Hintergrund der neuen politischen Vorzeichen unter Bildungsmitverantwortung verstehen wollte und wie sie diese zu gestalten beabsichtigte. Im Nachhinein lässt sich sagen, dass es in diesem Prozess viele Vorbehalte, Irritationen, Kränkungen und Verletzungen sowohl innerkirchlich als auch uns nicht auf bestimmte Schul- oder Klassenstufen beschränkt, sondern da begonnen, wo es sachlich und personell möglich war. […] Im Vordergrund steht aber zunächst die Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte für den Religionsunterricht.«

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in der Beziehung zum Land gegeben hat. Schulischer Religionsunterricht war in den Anfangsjahren seiner Einführung und lange darüber hinaus ein risikoreiches Unterfangen.3

2. Die Fortbildung der kirchlichen Mitarbeiter    und staatlichen Lehrkräfte – Schritte    auf dem Weg kirchlicher Bildungs   mitverantwortung in der Schule Vor dem Hintergrund der wohl am dringlichsten zu bewerkstelligenden Aufgabe der ELKTh ist die Gründung des Pädagogisch-Theologischen Zentrums (PTZ), heute: Pädagogisch-Theologisches Institut (PTI), zu sehen. Damit tat die Thüringische Landeskirche einen bedeutenden Schritt auf dem Weg, dem eigenen (Selbst)Verständnis kirchlicher Bildungsmitverantwortung in Gemeinde und Schule ein institutionelles Gesicht zu geben. Im September 1992 fand religiöse Bildungsarbeit in Thüringen institutionell ihren Ort in der Gründung des PTZ in Reinhardsbrunn. Über die Jahre hinweg sollten die unterschiedlichsten Orte das Institut beherbergen. Reinhardsbrunn markierte den Aufbruch in eine neue Zeit kirchlicher Mitverantwortung an allgemeiner und religiöser Bildung. Hier hatte sich ein Institut zu etablieren, das vor allem den neuen Ort der Schule und mithin den Religionsunterricht als Ort öffentlicher religiöser Bildung und religiösen Lernens kirchlicherseits zu erschließen hatte. Religiöse Bildungsarbeit in Thüringen hieß deshalb zunächst einmal und vor allem, kirchlich ausgebildete Religionspädagogen und in den Kirchen verbliebene staatliche Lehrkräfte auf den Einsatz im schulischen Religionsunterricht durch Fort- und Weiterbildung vorzubereiten. Nach einer Zwischenstation auf dem Hainstein in Eisenach konnten im Jahre 2002 die Räume des neuen Gebäudes in Neudietendorf bezogen werden. Am 1. Januar 2005 wurden das PTI in Neudietendorf und das PTI in Drübeck zu einem Institut an zwei Standorten zusammengelegt. Über die Jahre hinweg hatte es immer wieder Gespräche der Landeskirchen über Kooperationsmöglichkeiten der beiden Institute gegeben. Im Zuge der Fusion der ELKTh und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen wurde Mitte des Jahres 2001 dieses Anliegen dringlicher und ernsthafter verhandelt und bekam Konturen durch die Einrichtung eines Kooperationsrats. 3

  Das Schulreferat sieht in seinem Bericht für die vom 23. bis 26. März 1995 tagende Synode der ELKTh die aktuell wichtigste Aufgabe darin, »nun auch die Planung, den Aufbau und die Stabilisierung von Regionalstrukturen in kirchlicher Verantwortung auf den Grundlagen der synodalen Vorgaben und der vom Landeskirchenrat beschlossenen Richtlinien zu gewährleisten.«

25 Jahre evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen 137

Die größte Herausforderung, der sich das PTI anfänglich zu stellen hatte, bestand in der Ausrichtung der Fort- und Weiterbildungskurse zur Erlangung der Unterrichtserlaubnis im Fach »Evangelische Religionslehre«. Durch die Beteiligung kirchlicher Mitarbeiter und staatlicher Lehrkräfte an diesen Maßnahmen konnte die jeweilige Kurszusammensetzung heterogener nicht sein. Einerseits sollten die Lehrer ein theologisches und religionsdidaktisches Grundwissen, andererseits die kirchlichen Mitarbeiter ein eher pädagogisches und schuldidaktisches Basiswissen erwerben. Beide Adressatenkreise mussten allerdings für das neue Unterrichtsfach »Evangelische Religionslehre« und religiöse Bildung als nunmehr Teil der allgemeinen Bildung sensibilisiert werden. In den Anfangsjahren entschied man sich für ein Fortbildungsformat, das inhaltlich passend zum Institutsnamen das Prä des Pädagogischen und Didaktischen vor dem Theologischen erkennen ließ. Dieser seinerzeit eingeschlagene Weg hat sich bis zum heutigen Tage bewährt.

3. Der Einsatz der kirchlichen Mitarbeiter im    Religionsunterricht – die Religions   unterrichtsverordnung von 1995 Über die Jahre hinweg (und bis zum heutigen Tage) entwickelte sich der Einsatz der kirchlichen Mitarbeiter im Religionsunterricht zu einem Dauerthema, einem bleibenden und beständigen Thema in den Kirchengesprächen mit dem Thüringer Kultusministerium, den Briefwechseln der Kirchen untereinander, auf den Synoden und Konventen sowie auf vielen informellen Ebenen. Mit Einführung des Unterrichtsfachs »Evangelische Religionslehre« an den staatlichen Schulen und dem damit verbundenen Einsatz kirchlicher Lehrkräfte ging die Erarbeitung eines Gestellungsvertrags einher. Am 30. Juni 1994 kam es zur Unterzeichnung eines solchen Vertrags zwischen dem Freistaat Thüringen und der ELKTh rückwirkend zum 1. März 1994. Der § 1 dieses Vertrags ist und bleibt der wunde Punkt, an dem sich die Geister immer wieder scheiden werden. Es heißt dort: »Nach Maßgabe dieser Vereinbarung kann der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen in Thüringen von Bediensteten der Kirchen erteilt werden (kirchliche Lehrkräfte).«4 Das kleine Wort »kann« beschäftigt alle Vertragspartner bis heute. Die kirchlichen Mitarbeiter wurden nun im Religionsunterricht eingesetzt und sollten entsprechend ihrem Abschluss vergütet werden. Die Anerkennung der jeweiligen kirchlichen Abschlüsse zog sich allerdings über Jahre hin.

4

  Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen 48 (1995), 38.

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Den wohl ersten »Aufruhr unter Thüringer Pfarrern«5 verursachte die Religionsunterrichtsverordnung vom 16. Mai 1995, wonach Pfarrer zur Erteilung des schulischen Religionsunterrichts verpflichtet werden. Es begann ein jahrelang währender Streit um Fragen der Erteilung dieses Unterrichts, der zu Lasten inhaltlicher und konzeptioneller Fragen geführt wurde. Ungeachtet aller folgender Veränderungen ist diese Verordnung für die Kirche das Herzstück zur Erteilung evangelischen Religionsunterrichts durch Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter geworden.

4. Die Schulbeauftragten, Mentoren    und Multiplikatoren – nachhaltige    Entwicklungen Ab dem Jahre 2001 standen Multiplikatoren, Mentoren und später Schulbeauftragte, fast 50 an der Zahl, den Religionslehrkräften an den Schulen zur Seite. Insbesondere die Schulbeauftragten sollten für die weitere Konsolidierung, die Verbesserung der Qualität und die wünschenswerte Erweiterung des Unterrichtsangebots Sorge tragen. Trotz des anfänglichen Ringens um das Selbstverständnis, die Zuständigkeiten und Arbeitsbereiche sowie das Verhältnis zum zuständigen Dezernat und Schulreferat im Landeskirchenamt konnten die Schulbeauftragten in den Gemeinden und Superintendenturen eine positive Einstellung gegenüber dem neuen Unterrichtsfach erwirken. Im Zuge der Gründung der EKM kam es im Jahre 2008 zur Strukturanpassung der Schulbeauftragtenstellen: Mit Wirkung vom 01. August 2008 wurden vier Schulbeauftragtenstellen auf dem Gebiet des Freistaats Thüringen neu eingerichtet (Standorte in Erfurt, Eisenach, Meiningen, Gera), die sich zu festen und dauerhaften Einrichtungen etabliert haben.

5. Ausblick – Herausforderungen    und Aufgaben Die Einführung des Unterrichtsfachs »Evangelische Religionslehre« im Freistaat Thüringen ist nicht gerade lautlos, sondern eher lautstark vonstattengegangen, und die Entwicklung hin zu einem ordentlichen Unterrichtsfach ist kein leichtes Unterfangen für Staat und Kirche gewesen. Den Verantwortlichen sowie den Synodalen der ELKTh hat die Causa »Religionsunterricht« sicherlich nicht nur eine schlaflose Nacht bereitet. Der massive Widerstand innerhalb der Kirche ist auf Grund der vorgängig erlittenen staatlichen Re5

  Heike Schmoll: Aufruhr unter Thüringer Pfarrern. Evangelische Landeskirche verpflichtet zu Religionsunterricht an Schule, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juli 1995, 156, 3.

25 Jahre evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen 139

pressalien und des daraus erwachsenden Misstrauens zum Teil nachvollziehbar und verständlich, aber nicht zu leugnen bzw. zu ignorieren. Trotzdem hat sich dieser Unterricht in der Stundentafel etabliert. »Dank sei christlichen Lehrkräften, die diesen Unterricht zu ihrer Herzenssache gemacht haben«, so die Äußerung eines der ersten Schulreferenten. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen gab es im Jahre 2001 eine große Festveranstaltung in der Messehalle Erfurt. Zahlreiche Vertreter aus Forschung und Lehre, des Freistaats Thüringen und der Kirchen sowie ein bunt gemischtes Publikum aus unterschiedlichen Bildungsakteuren bekräftigten in ihren Grußworten, Vorträgen, Statements und Podien, »dass von Jahr zu Jahr der Religionsunterricht in den Schulalltag zunehmend eingebunden werden konnte. Mit viel Einfühlungsvermögen ist dieses neue Unterrichtsfach Schülern, Eltern und Lehrern vertraut gemacht worden. Ungeachtet mancher Probleme heißt es inzwischen: ›Wir wollen Religionsunterricht an unseren Schulen, er bietet eine Chance für uns und unsere Gesellschaft!‹«6 Trotz der durchgängig ausgesprochenen Vergewisserung, mit der Einführung des Religionsunterrichts einen guten Weg eingeschlagen zu haben, lässt die Dokumentation über die Festveranstaltung erkennen: Es ist noch viel Überzeugungsarbeit und -kraft auf den unterschiedlichen Ebenen vonnöten, um religiöse Bildung als Teil allgemeiner Bildung am Lernort »Schule« verständlich zu machen. Nichtsdestotrotz kann sich die Bilanz nach 10 Jahren sehen lassen: Ca. 30 Prozent aller Thüringer Schüler besuchen den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. 2.000 staatliche und kirchliche Lehrkräfte haben nach ihrer Ausbildung mit der Vocatio oder der Missio canonica eine kirchliche Bevollmächtigung zur Erteilung des Religionsunterrichts erhalten. Ein Drittel der Schülerschaft im evangelischen Religionsunterricht ist nicht getauft. 1.300 staatliche und kirchliche Lehrkräfte erreichen wöchentlich 64.200 Kinder und Jugendliche im Fach »Evangelische Religionslehre«. Das sind 22,8 Prozent aller Schulpflichtigen im Freistaat. Das Fazit damals hieß: »Das Fach ist in der Schule angekommen.«7 6   N.N.: Einführung, in: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Hrsg.): In der Schule von Gott sprechen. Religionsunterricht – Chance für die Gesellschaft. 10 Jahre Religionsunterricht im Freistaat Thüringen, Bad Berka 2001, 7 (der Text wurde vermutlich von Johannes Ziegner, Liane Engelbrecht und Margret Hahn verfasst, da laut Impressum für den Inhalt verantwortlich). 7   Ebd. In der Dokumentation weht der Geist des Nicht-Schönredens. Alle Beiträge weisen auf das kräftezehrende Ringen um die Einführung des Religionsunterrichts in Thüringen hin. Christine Lieberknecht, damalige Landtagspräsidentin, redet Klartext: »Ich habe als damalige Kultusministerin und bekennende Christin meiner Kirche sehr darum gekämpft, dass wir 1991 den Religionsunterricht wieder einführen konnten. Zum Teil gegen erbitterte Widerstände aus dem Raum der Kirche, aber auch von außerhalb; einschließlich des damals leuchtend gefeierten Beispiel Bran-

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Hatte man seinerzeit im Jahre 2001 das »Zehnjährige« noch angemessen in einer großen Festveranstaltung und unter reger Beteiligung staatlicher und kirchlicher Bildungsprominenz und engagierter Religionslehrer gefeiert, so ließ man im Jahre 2011 die mit 20 Jahren bereits überschrittene »Volljährigkeit« des Fachs unspektakulär und stillschweigend vorüberziehen und geschehen. Vielleicht aus diesem Grund: Evangelische Religionslehre sollte ein ganz normales Schulfach werden, wie Mathematik, Englisch oder Deutsch. Nach 20 Jahren glaubte man vielleicht, dieses Anliegen realisiert zu haben trotz der allgemeinen Einschätzung, dass der Religionsunterricht wegen seiner Verfasstheit und seines Selbstverständnisses eben doch kein Unterrichtsfach wie jedes andere sei. Um die Konsolidierung des Fachs im Fächerkanon der Lehrpläne müsse wohl nicht mehr gebangt werden. Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass am 18. August 2011 immerhin ein kurzer Artikel in der Kirchenzeitung »Glaube + Heimat« erschien, der an die Anfänge dieses Unterrichts erinnert und Perspektiven für die Zukunft aufzeichnet. Oberkirchenrat Ludwig Große stellte in seiner Rückschau fest, »ein Konflikt sei jedoch nicht bewältigt worden: der zwischen Christenlehre und Schule«8. Das ursprüngliche Ziel, die beiden Arbeitsformen, mit Kindern vor Gott in der Gemeinde zu leben und in der Schule christlichem Denken und Handeln zu begegnen, miteinander zu verbinden, sei so nicht gelungen. Mittlerweile sind 25 Jahre seit der Einführung des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen vergangen. Dieses Jubiläum ist selbstverständlich ein Grund zur Freude sowie ein Anlass zum Feiern.9 In diesen Jubeltrubel mischt sich allerdings auch der eine oder andere Missklang. Auch heute noch gilt: Religionslehrkräfte an den Schulen und angehende Lehrer an den Universitäten und Ausbildungsseminaren weisen nachdrücklich immer wiedenburgs, für das sich in Thüringen damals auch problemlos eine Mehrheit gefunden hätte. Aber das wollte ich nicht und die Kirchenleitungen letztlich auch nicht« (Christine Lieberknecht: »…dem Religionsunterricht in Thüringen….weiter Gottes Segen und eine gute Zukunft«, in: Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Hrsg.): In der Schule von Gott sprechen. Religionsunterricht – Chance für die Gesellschaft. 10 Jahre Religionsunterricht im Freistaat Thüringen, Bad Berka 2001, 15–17, 15). Karl Ernst Nipkow hielt den Hauptvortrag »RU – Chance für die Gesellschaft« (vgl. a.a.O., 27–35). Er entfaltet in sieben Thesen die Daseinsberechtigung respektive Notwendigkeit des Unterrichtsfachs »Evangelische Religionslehre« an der Schule. Auf Thüringen und das Jubiläum geht er nicht ein – mussten die Zuhörer noch argumentativ für den Religionsunterricht fit gemacht werden? 8   Dietlind Steinhöfel: Die Chancen nutzen. Thüringen führte vor 20 Jahren als erstes ostdeutsches Bundesland den schulischen RU ein, in: Glaube + Heimat vom 21. August 2011, 1. 9   Die Festveranstaltung zum 25jährigen Bestehen des ordentlichen Unterrichtsfachs »Evangelische Religionslehre« an der öffentlichen Schule im Freistaat Thüringen fand am 7. November 2016 im Landeskirchenamt der EKM in Erfurt statt.

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der auf ihren teilweise schwierigen Einsatz an den Schulen, die ungünstigen Rahmenbedingungen, mangelnde Wertschätzung und die verschiedentliche Skepsis von Schulleitern, Schulamtsleitern oder Eltern hin, die ihre Freude am Fach dämpfen und ihr Engagement einschränken. Die Mitteldeutsche Kirchenzeitung »Glaube + Heimat« hat in ihrer Ausgabe vom 7. August 2016 in einigen Beiträgen an dieses Ereignis »25 Jahre Religionsunterricht in Thüringen« erinnert und mehrere Akteure zu Wort kommen lassen, die damals wie heute auf den unterschiedlichsten institutionellen Ebenen mit dem Religionsunterricht befasst waren bzw. sind.10 Es ist erstaunlich, dass von der gleichen Rhetorik Gebrauch gemacht wird, die schon im Jahre 2001 beim »Zehnjährigen« Anwendung fand. Immer noch heißt es dort, der Unterricht sei in der Gesellschaft bzw. im Kanon der Schulfächer angekommen. Dabei hat das Fach schon längst die Volljährigkeit und ein mittleres Erwachsenenalter erreicht, in dem man eine gewisse »Sesshaftigkeit«, kurz: den »Erwachsenenstatus«, mit allen Rechten und Pflichten sowie Ansprüchen und Erwartungen hätte annehmen können. Nämlich: mit dem Recht, als gleichberechtigtes Unterrichtsfach behandelt zu werden, der Pflicht, an der öffentlichen Schule religiöse Bildung als Teil der allgemeinen Bildung zu vertreten, dem Anspruch, am Bildungsauftrag der Schule emanzipatorisch teilzuhaben sowie last but not least der Erwartung, vollends akzeptiert und angemessen gefördert zu werden. Vor dem Hintergrund der Entwicklung religiöser Bildung in Thüringen und Sachsen-Anhalt, den zwei Bundesländern, für die die EKM zuständig ist, zeigt sich, »dass wir es im Religionsunterricht mit übergreifenden Problemstellungen auf der einen und auch länderspezifischen Herausforderungen auf der anderen Seite zu tun haben.«11 Angesichts dessen, so Matthias Hahns Diagnose nach 15 Jahren Religionsunterricht in Thüringen, sollten wir unsere Erwartungen nicht zu hoch stecken. Nicht allein schnelle Erfolgsgeschichten, sondern gerade auch vorsichtige Erfolgsgeschichten haben ihre prägende Kraft. »Offenkundig haben wir es in der Schule mit Zeiträumen und Entwicklungsgeschwindigkeiten zu tun, für die wir noch längeren Atem als für die vergangenen 15 Jahre benötigen.«12

10

  Vgl. u.a. Mirjam Petermann: Noten für Religion, in: Glaube + Heimat vom 7. August 2016, 1. 11   Matthias Hahn: Vorsichtige und schnelle Erfolgsgeschichten. Ein Essay über den Religionsunterricht im Freistaat Thüringen und im Bundesland Sachsen-Anhalt sowie in der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen und der Ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, in: Hanne Leewe/Reiner Andreas Neuschäfer (Hrsg.): Zeit-Räume für Religion. Fünfzehn Jahre Religionsunterricht in Thüringen, Jena 2006, 106–117, 116 (im Original teilweise kursiv). 12   A.a.O., 117.

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Es bleibt zu hoffen, dass diese Prognose noch heute gilt. Thüringen wie auch Sachsen-Anhalt erleben in ihren Schulsystemen derzeit einen deutlichen Wandel (Gemeinschaftsschulen, gemeinsamer Unterricht, Bildungspläne, neue Lehrplangeneration). Der Religionsunterricht, so mehren sich die Indizien, ist in diesem Prozess nicht umgebaut, sondern abgebaut worden. Noch beruhigt der Blick auf die öffentlich einsehbaren Statistiken der Unterrichtsversorgung mit scheinbar stabilen Zahlen. Aber die Einstündigkeit des Fachunterrichts in Grundschulen nimmt spürbar zu und reduziert somit deutlich den tatsächlich erteilten Unterricht. Die Fortbildungslandschaft verändert sich durch die Reduktion der Fachberater und Fachmoderatoren mit entsprechend abgesenkter Hälfte der bisherigen Abminderungsstunden erheblich. Die Ausbildung steht auf wackeligen Beinen, wenn beispielsweise nicht mehr für alle, die den Studiengang »Evangelische Religion für das Lehramt an Grundschulen« an den Hochschulen erfolgreich abgeschlossen haben, die Fachausbildung in der zweiten Lehrer(aus)bildungsphase gewährleistet wird. So ist jetzt immer noch oder gerade wieder die Zeit, an nachhaltigen Entwicklungen zu arbeiten und den Religionsunterricht in der Öffentlichkeit und Gesellschaft gegenwärtig zu halten. Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen sowie der brennenden Fragen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt in einer hochgradig (funktional) differenzierten Gesellschaft hat der Religionsunterricht mehr denn je die Chance und die Aufgabe, der Artikulationskraft religiöser Bildung in der Öffentlichkeit (das heißt am öffentlichen Ort der Schule) Ausdruck zu verschaffen. Die Einführung und die Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen, das heißt seine nunmehr 25-jährige Geschichte, führen bleibend vor Augen, dass die Verständigung über kirchliche Bildungsmitverantwortung sowie die Gestaltung von Bildungsarbeit in kirchlicher Verantwortung Teil der Kommunikation öffentlicher Religion und mit ihr verbundener religiöser Bildung in der Öffentlichkeit darstellt.

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung (Religions-)Pädagogik im Kontext der Katholischen Aufklärung Werner Simon

»Selbstdenken ist ein zentraler Programmpunkt der Aufklärung. In ihm manifestiert sich das Selbstbewußtsein einer Epoche, die davon überzeugt ist, daß die Wahrheit nur durch den Gebrauch der Vernunft jedes einzelnen erlangt werden kann und nicht durch die bloße Übernahme von Lehrmeinungen, die auf Autorität beruhen.«1

Ziel des pädagogischen Handelns ist es daher, »den Zögling zum eigenen Nachdenken heranzubilden«2. In diesem Zusammenhang entsteht im 18. Jahrhundert ein pädagogisches Interesse an der »sokratischen Lehrart«, wie sie vor allem aus den in den Dialogen Platons überlieferten Lehrgesprächen des Sokrates abgelesen wurde. Es ist die Lesart einer »positiven Mäeutik«: Im »sokratischen Gespräch« soll die bereits im Keim vorhandene »Wahrheit« entbunden und ihr durch Fragen und Antworten zur Geburt verholfen werden.3 Christoph Bizer datiert die »Geburtsstunde der ›pädagogischen Sokratik‹«4 auf das Jahr 1735 mit der Veröffentlichung der »Sitten-Lehre der Heiligen Schrift« des evangelischen Theologen Johann Lorenz Mosheim (1693–1755).5 Als Methode der pädagogischen Gesprächsführung wird die 1

  Ulrich Dierse: Selbstdenken, in: Lexikon der Aufklärung (2001), 381f., 381.   A.a.O., 382. 3   Dabei wird allerdings nur die »halbe« Mäeutik unter Vernachlässigung der »negativen Mäeutik« rezipiert, vgl. Patrick Bühler: Negative Pädagogik. Sokrates und die Geschichte des Lernens, Paderborn/München/Wien/Zürich 2012. 4   Christoph Bizer: Der wohl-unterrichtete Student um 1800. Das Amt des Pfarrers in der Göttinger theologischen Lehre, in: Bernd Moeller (Hrsg.): Theologie in Göttingen, Göttingen 1987, 111–135, 117. 5   Vgl. Johann Lorenz Mosheim: Sitten-Lehre der Heiligen Schrift, Helmstädt 1735. Mosheim lehrte 1723–1747 als Professor an der theologischen Fakultät der Universität Helmstedt und wurde 1747 Kanzler und Professor an der theologischen Fakultät der 1737 gegründeten Universität Göttingen. 2

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»sokratische Lehrart« in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts dann vor allem von den Philanthropen rezipiert.6 Für die evangelische Katechetik ist darüber hinaus die »Sokratik« Johann Friedrich Christoph Graeffes (1754–1816) zu nennen.7 Die katholische Rezeption der »sokratischen Methode« wird angestoßen durch die Bildungsreformen der Katholischen Aufklärung.8 Sie findet ihren literarischen Niederschlag in Veröffentlichungen des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts, die vor allem im Kontext der Reformen Maria Theresias (1717– 1780) und Josephs II. (1741–1790) stehen. Die von dem Abt des schlesischen Augustinerchorherrenstifts Sagan Johann Ignaz Felbiger (1724–1788) entworfene »Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal- Haupt- und Trivialschulen in den sämmtlichen Kaiserl. Königl. Erbländern« vom 6. Dezember 1774 ordnet die Einrichtung von Normalschulen an, die auf provinzieller Ebene die Funktion von Muster- und Ausbildungsschulen wahrnehmen sollen und »nach welche[n] sich alle übrigen Schulen des Landes zu richten haben«9. Zu ihren Hauptlehrgegenständen zählen nicht zuletzt »die Kenntniß der Methode« und »die Uibung im wirklichen Unterweisen«10: »Bey dem Unterrichte muß nicht bloß auf das Gedächtniß gesehen, noch die Jugend mit dem auswendig Lernen über die Nothwendigkeit geplagt, sondern der Verstand derselben aufgekläret, ihr alles verständlich gemacht, und die Anleitung gegeben werden, über das Erlernte sich richtig, und vollständig auszudrücken.«11

Einen weiteren Impuls setzt der von dem böhmischen Benediktinerabt Franz Stephan Rautenstrauch (1734–1785) vorgelegte »Entwurf einer besseren

6   Vgl. Carl Friedrich Bahrdt: Philanthropinischer Erziehungsplan oder vollständige Nachricht von dem ersten wirklichen Philanthropin zu Marschlins, Frankfurt am Main 1776; Christian Gotthilf Salzmann: Ueber die wirksamsten Mittel Kindern Religion beyzubringen, Leipzig 1780. 7   Vgl. Johann Friedrich Christoph Graeffe: Die Sokratik nach ihrer ursprünglichen Beschaffenheit in katechetischer Hinsicht betrachtet, Göttingen 1791. Graeffe lehrte seit 1784 als Privatdozent an der theologischen Fakultät der Universität Göttingen. 8   Vgl. Norbert Jung: Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung, in: Rainer Bendel/Norbert Spangenberger (Hrsg.): Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa, Köln/Weimar/Wien 2015, 24– 51; Harm Klueting (Hrsg.): Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993. 9   Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal- Haupt- und Trivialschulen in den sämmtlichen Kaiserl. Königl. Erbländern, Wien 1774, Nummer 2. 10    A.a.O., Nummer 5. 11   A.a.O., Nummer 8.

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung 145

Einrichtung theologischer Schulen«,12 den Maria Theresia am 1. August 1774 in Kraft setzt. Die Reform der theologischen Studien etabliert das neue Fach der Pastoraltheologie und mit ihm die Katechetik als eine theologische Hauptwissenschaft. Im Hinblick auf die für die »Katechisation« geforderte »Geschicklichkeit« fordert Rautenstrauch: »Allein wenn die Katechisation so eingerichtet werden soll, daß der Katechismus nicht bloß ein Werk des Gedächtnisses verbleibe, so braucht es gewiß viel Geschicklichkeit: Kenntnis des Menschen, Vorbereitung und Übung unter den Augen eines Meisters in dieser Kunst. Man muß nämlich gelernt haben, wie die Religionssätze und Lehren zu zergliedern seien, damit man den Kindern nicht nur bloße Wörter in das Gedächtnis lege, sondern sie vielmehr unvermerkt zum Nachdenken angewöhne und stufenweise zu deutlichen und anschauenden Begriffen, durch welche allein die Religion eine dauerhafte Wirkung auf Herz und Sitten hervorbringen kann, geführt werden!«13

Der am 18. Oktober 1777 eingeführte »Tabellarische Grundriß der in deutscher Sprache vorzutragenden Pastoraltheologie«14 bestimmt als Gegenstand der Katechetik die »echte Art zu katechisieren ihrem ganzen Umfange nach, das ist von der ersten jugendlichen Klasse bis zur letzten Klasse der Erwachsenen«15. Zeitgleich ergeht an die neu bestellten Lehrenden des Faches die Einladung, möglichst zügig Lehrbücher auszuarbeiten, die dann nach Begutachtung durch die Studienhofkommission als Vorlesungsbuch eingeführt werden sollen.16

1. Die »Kunst« der katechetischen   Gesprächsführung Bereits in den beiden folgenden Jahren legte Franz Christian Pittroff (1739– 1814), der 1775 als erster Professor der Pastoraltheologie an die theologische Fakultät der Universität Prag berufen wurde, eine »Anleitung zur prak12

  Vgl. den Abdruck des Textes in Josef Müller: Der pastoraltheologisch-didaktische Ansatz in Franz Stephan Rautenstrauchs »Entwurf zur Einrichtung der theologischen Studien«, Wien 1969, 143–158. 13   A.a.O., 151. 14   Vgl. den Abdruck des Textes in Anton Zottl/Werner Schneider (Hrsg.): Wege der Pastoraltheologie. Texte einer Bewußtwerdung. Band 1, Eichstätt 1987, 27–34. 15   A.a.O., 29 (im Original teils kursiv). 16   Vgl. auch Werner Simon: Katholische »Katechetik« – Anfänge ihrer Institutionalisierung, in: Bernd Schröder (Hrsg.): Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik. Historisch-systematische Studien zu ihrer Genese, Tübingen 2009, 23–51.

146 Werner Simon

tischen Gottes Gelahrtheit« vor,17 die mit Dekret vom 26. Februar 1779 als offizielles Vorlesungsbuch für die pastoraltheologischen Vorlesungen an den Hochschulen der k.k. Erbländer vorgeschrieben wurde. Pittroff thematisiert die »sokratische Methode« als »Lehrart« des katechetischen Gesprächs: »Die Kunst zu katechisieren beruht auf einer geschickten Art zu fragen und die ausfallende Antwort nach dem vorgesetzten Zweck einzuleiten.«18 »Es ist dieses das ganze Geheimniß der sokratischen Gespräche […] welche ganz gewiß die angemessenste Art für den Katecheten sind: wenn man unter der Gestalt einer freundschaftlichen Unterredung einem andern seine Sache so einfach, so kurz und so entwickelt vortrage, als man es seinen Verstandeskräften angemessen glaubt: wenn man hernach erforschet, ob er unsre Meinung ganz eingesehen, oder wie weit er uns verstanden, oder wie viel er von einer neulichen Unterredung behalten. Wenn man endlich seine Bedenklichkeiten faßlich hebet, und den Gang der Fragen so einrichtet, daß sie immer weitere Aussichten nach dem Zweck des Gegenstandes eröfnen.«19 »Die auf die Frage fallende Antwort zu berichtigen, zu ergänzen, zu unterscheiden, einzuleiten, zu erweitern, zu bestimmen, oder aus dem Ganzen zu verbessern, ist der andere Teil des sokratischen, und folglich katechetischen Gesprächs.«20

Nur zwei Jahre später veröffentlichte Joseph Lauber (1744–1810), der seit 1775 als Katechet an der Normalschule in Brünn, seit 1780 als Professor der Pastoraltheologie an der theologischen Fakultät der nach Brünn verlegten Universität Olmütz lehrt, die in lateinischer Sprache abgefassten »Institutiones theologiae pastoralis«,21 die für die Universitäten Lemberg und Buda als Vorlesungsbuch verbindlich gemacht wurden. Ein deutschsprachiges Kompendium erschien 1790 unter dem Titel »Praktische Anleitung zum Seelensorgeramte«.22 In ihm geht Lauber auch auf das »Verfahren bei der sogenannten Sokratik« ein und betont in diesem Zusammenhang: »Die Unterredung selbst muß so geschehen; man befrage das Kind nach seinem Urtheil, es mag schon wahr oder falsch sein: ist es wahr, so bestätiget man es, 17

  Vgl. Franz Christian Pittroff: Anleitung zur praktischen Gottes Gelahrtheit nach dem Entwurfe der Wiener Studienverbesserung verfasset und zum Gebrauche akademischer Vorlesungen eingerichtet. 4 Teile, Prag 1778–1779. 18   A.a.O., 1. Teil, 65, zitiert nach der 4. Auflage, Bamberg und Würzburg 1787. 19   A.a.O., 65. 20   A.a.O., 68. 21    Vgl. Joseph Lauber: Institutiones theologiae pastoralis compendiosae ad normam praescriptam a caesareoregia studiorum commissione exaratae. 3 Bände, Brünn 1780–1781. 22   Vgl. Joseph Lauber: Praktische Anleitung zum Seelensorgeramte für wirkliche und künftige Seelensorger, Brünn 1790.

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung 147

ist es aber falsch, so führe man das Kind auf die Folgen so lange, bis es selbst einsieht, wie es falsch geurtheilet, man machet Einwendungen, deren Falschheit Kinder selbst einsehen können.«23

Zu dem »Nutzen, der aus der Sokratik entspringt«, zählt Lauber, dass sie eigene Einsicht und Selbstdenken ermöglicht: »Der Verstand wird einleuchtender überzeugt: denn die Überzeugung geschieht, wenn man bekannte und ausgemachte Wahrheiten mit unbekannten oder für die Zuhörer noch zweifelhaften Sätzen so genau verbindet, daß der Zuhörer selbst einsieht, jene könnten nicht wahr sein, wenn nicht auch dieser wahr wäre«24. »[E]ndlich lernet die Jugend dadurch selbst denken, und nicht nur allein anderer Menschen Reden und Worte nachsprechen: denn man leitet dieselbe in Hervorbringung und Vervollkommnung der Begriffe, und in Berichtigung der Urtheile und Vernunftschlüsse.«25

2. In der katechetischen Praxis Weitere Veröffentlichungen erwachsen aus der katechetischen Praxis und Praxisausbildung. So veröffentlicht Joseph Miller (1751–1786), Katechet an der Normalschule in Linz, 1785 eine »Anleitung zum Gebrauche des katechetischen Unterrichts«.26 In ihr entfaltet er die Kunst des »Katechisierens« als die »Kunst zu fragen und die Antworten richtig zu beurteilen«27. Als »sokratische Methode« der Gesprächsführung findet sie Anwendung »[b]ey Personen, und Schülern, welche schon manches wissen, die nachzudenken und Schlüße zu machen im Stande sind«28. Miller bestimmt darüber hinaus Reichweite und Grenzen der »sokratischen Methode« beim katechetischen Unterricht: »Die sokratische Lehrart kann hauptsächlich beim katechetischen Unterrichte gebraucht werden. Wenn man den Schülern richtige Begriffe von Gott, von seinen Eigenschaften, von der Seele des Menschen und ihren Kräften, und Fähigkeiten, von Tugend und Laster, von dem wahren Werthe der Dinge u.s.w. beyzubringen sucht; wenn man aus natürlichen Gründen, oder aus solchen Gründen, oder aus

23

  A.a.O., 144f.   A.a.O., 153. 25   A.a.O., 154. 26   Vgl. Joseph Miller, Anleitung zum Gebrauche des katechetischen Unterrichts. 3 Bände, Linz 1785. 27   A.a.O., Band 1, 16. 28   A.a.O., 49. 24

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solchen Säzen, welche die Schüler schon für wahr halten, etwas zu beweisen; wenn man sie durch die natürlichen Folgen der Tugenden, und Laster zu den ersten erweken, und denn von den andern abmahnen will. […] Die sokratische Lehrart läßt sich nicht anwenden bey der Erklärung, und den Beweisen solcher Religionslehren, die nur allein aus der göttlichen Offenbarung erkannt, und bewiesen werden können. Denn da wird alles aus gewissen Schriftstellern herausgenommen.«29

Miller verweist in der Einleitung des Werks auf den »Eifer der Protestanten« für die Verbesserung der deutschen Schulen und den »Werth ihrer Erziehungsschriften«: »Es ist unleugbar, daß sie in diesem Stücke mehr als wir getan, und uns gleichsam vorgearbeitet haben.«30 Die »weis[e] Regierung Josephs« habe nunmehr Voraussetzungen dafür geschaffen, dass ihr Studium nicht länger mit der Furcht verbunden sei, »deßwegen zu dem öffentlichen Unterrichte nicht zugelassen, oder, von selbem gar verdrängt zu werden«31. In einem »Verzeichniß jener Bücher, und Erziehungsschriften, woraus diejenigen, welche sich zu brauchbaren, und nützlichen Katecheten bilden wollen, manche Vortheile einer guten Lehrart erlernen können«32, empfiehlt Miller sowohl Schriften der Philanthropen (Christian Gottlieb Salzmann, 1744–1811, Joachim Heinrich Campe, 1746–1818) als auch katechetische Schriften evangelischer Theologen (Johann Peter Miller, 1725–1789, Adam Friedrich Ernst Jacobi, 1733–1807, Georg Friedrich Seiler, 1733–1807). Seilers »Religion der Unmündigen«33 erlangt dabei einen paradigmatischen Stellenwert für Millers Verständnis der »sokratischen Methode«. Bereits 1780 hatte Alexius Vincenz Pařizek (1748–1822), Katechet an der Normal-Hauptschule in Prag, eine Bearbeitung dieses Werkes Seilers für katholische Seelsorger veröffentlicht.34 29

  A.a.O., 62.   A.a.O., 15. 31   Ebd. Das Toleranzpatent Josephs II. vom 13. Oktober 1781 ermöglichte den durch den Westfälischen Frieden anerkannten protestantischen Kirchen in den habsburgischen Kronländern eine wenn auch mit Auflagen versehene freie Religionsausübung. 32   A.a.O., Band 3, 176–179. 33   Vgl. Georg Friedrich Seiler: Religion der Unmündigen, Erlangen 1772. Das Werk erschien bis 1805 in 18 Auflagen. Seiler lehrte seit 1770 als Professor an der theologischen Fakultät der Universität Erlangen. 34   Vgl. Religion der Unmündigen zum gemeinnützigen Gebrauche der Eltern, und Lehrer. Nach dem Seilerischen Entwurfe auf katholische Art eingerichtet und vermehrt, Prag 1780. 1802 veröffentlicht Augustin Ferdinand Ortmann (1761–1824) auch eine katholische Bearbeitung von Seilers »Katechetischem Methodenbuch«, vgl. Katechetisches Methodenbuch von D. Georg Friedrich Seiler für katholische Seelsorger umgearbeitet von A.F. Ortmann. 2 Teile, Wien 1802. Vgl. auch Alex Pařizek: Uiber Lehrmethode in Volksschulen für Präparanden, Katecheten und Lehrer nebst einem 30

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung 149

In der Tradition Millers steht Joseph Spendou (1757–1840), der von 1782 bis 1785 als Katechet an der Wiener Normal-Hauptschule unterrichtete, 1785 Vizerektor des Wiener Generalseminars wurde und von 1788 bis 1816 Oberdirektor des deutschen Schulwesens war. Auf seine Initiative hin wurde die »sokratische Methode« sowohl für den katechetischen Unterricht als auch für den Unterricht in den übrigen Fächern verbindlich gemacht und löste so die bisherige von Felbiger eingeführte »Normalmethode« der Tabellar- und Literalmethode ab. Spendou veröffentlichte 1791 eine aus der Praxis der Lehrer- und Priesterausbildung erwachsene »Vollständige Anleitung zum Katechisiren«.35 In der Einleitung betont er den hohen Stellenwert des schulischen Unterrichts für die »Aufklärung« des Volkes: »An Aufklärung müssen ohne Zweifel nicht nur Schullehrer sondern auch andere Glieder des Staates Hand anlegen; da aber eine wahre und dauerhafte Aufklärung bei der untersten Klasse von Menschen anfangen muß, so sieht man leicht ein, daß sich derjenige auch um das Beßte des Staates selbst verdienstvoll mache, der sich bei dem Unterrichte der Kinder Verdienste sammlet.«36

Spendou akzentuiert daher auch für den katechetischen Unterricht eine der Entwicklung der Verstandeskräfte der Kinder und der Jugend angemessen Rechnung tragende Verstandesbildung: »[B]esteht der Unterricht blos im Auswendiglernen, dadurch zwar das Gedächtniß geübt, die Vernunft aber vernachlässiget wird, was gewinnt wohl das Kind dabei? gewiß wenig, oder gar nichts! Denn nur durch die Entwicklung der Verstandeskräfte wird das Kind aufgeklärt.«37 Wie Miller fügt auch Spendou der »Anleitung« eine »kleine Anzeige einiger brauchbaren Bücher«38 bei. Er berücksichtigt dabei auch »die neuern Protestanten«39: Johann Peter Miller (1725–1789),40 Christian

Anhange vom Präparandennunterricht für Musterlehrer, Prag 1797, und die dort im Anhang beigefügte »Bibliothek für Katecheten und Schullehrer« (320–340). 35   Vgl. J.S. [Joseph Spendou]: Vollständige Anleitung zum Katechisiren sowohl in Schulen, als in der Kirche. 2 Bände, St. Pölten 1791. 36   A.a.O., Band 1, 4. 37   A.a.O, 6. 38   A.a.O., 212–238. 39   A.a.O., 219. 40   Vgl. Johann Peter Miller: Anweisung zur Katechisirkunst oder zu Religionsgesprächen, Leipzig 1778. Eine österreichische Ausgabe erschien Wien 1788. Miller lehrte als Professor an der theologischen Fakultät der Universität Göttingen.

150 Werner Simon

Gotthilf Salzmann (1744–1811),41 Johann Georg Rosenmüller (1736–1815),42 Georg Jakob Pauli (1722–1795)43 und den Verfasser des anonym erschienenen Werks »Etwas von der catechetischen Methode und ihrer Aehnlichkeit mit der socratischen«.44 In den 1790er Jahren erscheinen weiterhin zahlreiche aus der Unterrichtspraxis erwachsene Sammlungen von nach der »sokratischen Lehrart« eingerichteten Musterkatechesen, die als Praxishilfen teilweise hohe Auflagen erreichen und breit rezipiert werden.45

41

  Vgl. Salzmann: Über die wirksamsten Mittel (s. Anmerkung 6). Eine österreichische Ausgabe des Werkes erschien Wien 1787. 42   Vgl. Johann Georg Rosenmüller: Anweisung zum Katechisiren, Gießen 1783. Rosenmüller lehrte als Professor an den theologischen Fakultäten der Universitäten Erlangen und Gießen. 43   Vgl. Georg Jakob Pauli: Entwurf einer catechetischen oder populairen Theologie zu öffentlichen Vorlesungen, Halle 1778. Eine österreichische Ausgabe des Werkes erschien Cilli in der Steiermark 1794. 44   Vgl. N.N.: Etwas von der catechetischen Methode und ihrer Aehnlichkeit mit der socratischen, Breslau 1783. 45   Vgl. Franz Jaich (1760–nach 1831): Katechetische praktisch abgefaßte Lehrstunden nach Kais. Kön. Vorschrift nebst beygesetzter tabellarischer Uibersicht der in ein System gebrachten christlichen Religionsgegenstände für den ersten Kinderunterricht, Brünn 1794; Franz Jaich: Katechetische praktisch abgefaßte Lehrstunden nach Kais. Kön. Vorschrift nebst beygesetzter tabellarischer Uibersicht der in ein System gebrachten christlichen Religionsgegenstände für den höhern Kinderunterricht, Brünn 1795; Andreas Reichenberger (1770–1854): Christkatholischer Religionsunterricht. Nach der Anleitung des für die Kais. Kön. Erbländer vorgeschriebenen Normal-Katechismus. Zum beliebigen Gebrauche der Schul- vozüglich aber der Kirchenkatecheten, und aller, die den Katechismus zu erklären haben. 2 Bände, Wien 1795 (letzte nachgewiesene Auflage: 1846); Silvester Vogtner (1750–1813): Die Religion in Erklärungen und Gesprächen nach der Anleitung des in kaiserlich-königlichen Staaten vorgeschriebenen Katechismus in vierzig Unterrichte und vier Wiederholungen eingetheilt, practisch abgehandelt, und mit dreyfach biblisch-moralischen Schlußreden versehen. Zum vorzüglichen Gebrauche der Herren Kirchen-, Schul- und Hauskatecheten. 4 Bände, Graz 1793 (91840); Basilius Wagner (1758–1813): Kirchen- und Schulkatechesen nach sokratischer Lehrart auf jede Woche des Schuljahres eingetheilet. 2 Bände, St. Pölten 1790 (31813); Basilius Wagner: Erklärung der sonntägigen Evangelien in historischsokratischen Gesprächen. 4 Bände, St. Pölten 1794– 1795 (21803); Franz Celsus Widermann (gest. nach 1805): Sokratisch-praktischer Religionsunterricht für die Jugend und das gemeine Volk. Nach Anleitung des k.k. Normalkatechismus vorgetragen. 2 Bände, Wien 1793 (21798); Franz Celsus Widermann: Katechismus der natürlichen Religion für die Landjugend. Als Vorbereitung und Einleitung zu meinem sokratisch-praktischen Religionsunterricht, Wien 1799.

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung 151

3. Seelsorgliche Aufklärung des Volkes »Sokrates unter den Christen in der Person eines Dorfpfarrers« – unter diesem Titel erschien in den Jahren 1783 und 1784 pseudonym ein Werk, das der »seelsorglichen Volksaufklärung« zugeordnet werden kann.46 Sein Verfasser ist Joseph Gall (1748–1807).47 Geboren in der schwäbischen Reichsstadt Weil der Stadt, wurde Gall nach dem Studium der Theologie an der katholischen Sektion der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg 1772 zum Priester für die Diözese Speyer geweiht. Im Priesterseminar in Bruchsal hatte er durch den dortigen Regens Johann Andreas Seelmann (1732–1789) Felbigers Unterrichtsmethode kennengelernt und unternahm 1773 eine Studienreise nach Wien zwecks Studium derselben. Dort war er von 1774 bis 1778 Katechet an der Normal-Hauptschule und wurde nach Entlassung aus dem Speyerer Diözesanverband in den Diözesanverband der Erzdiözese Wien inkardiniert. Nach zwischenzeitlicher seelsorglicher Tätigkeit wurde Gall 1784 – als Nachfolger Felbigers und als Vorgänger Spendous – zum Oberdirektor des deutschen Schulwesens berufen. Er übte dieses Amt allerdings nur wenige Jahre aus, da er bereits 1788 zum zweiten Bischof der 1784 gegründeten Diözese Linz ernannt wurde. Gall initiierte in dieser Zeit die Ablösung der bisherigen die Übung des Gedächtnisses akzentuierenden »Normalmethode« Felbigers durch die den Akzent auf die Verstandesbildung verlagernde »sokratische Methode«. In »Sokrates unter den Christen« wählt Gall die Form des »sokratischen Gesprächs« in 21 fingierten, aus konkreten seelsorglichen Gelegenheiten erwachsenden Unterredungen eines Dorfpfarrers mit seinen Pfarrangehörigen und dem Ziel, so zu einer durch eigene Einsicht erlangten Aufklärung des »Dorfvolkes« beizutragen. »Der Pfarrer, von dem die folgenden Gespräche herrühren, hatte beobachtet, daß Mißbräuche, Vorurtheile und Aberglaube unsere heilige Religion entehren. Diese suchte er, wo sich ihm Gelegenheit anbot, auszureuten und richtige Begriffe an ihre Stelle zu setzen: es mochte bei Erwachsenen oder bei Kindern seyn. Dann richtete er seine Gespräche nach der Fassung der Personen ein.«48

46

  Vgl. Johan Leop. [Leopold] Stangl [Joseph Anton Gall]: Sokrates unter den Christen in der Person eines Dorfpfarrers. 3 Bände, Wien 1783–1784. 47   Vgl. auch Siegfried Rudolf Pichl: Joseph Anton Gall. Josephiner auf dem Bischofsstuhl, Frankfurt am Main 2007. 48   Stangl: Sokrates, Band 1, 7.

152 Werner Simon

Die Unterredungen greifen Themen auf, die klassische Kritikpunkte der Katholischen Aufklärung widerspiegeln: die Kritik an unangemessenen Gottesvorstellungen, an gedankenlosem Gebet, an veräußerlichten Frömmigkeitsformen (Wallfahrten, Fasten), übertriebener Heiligenverehrung und konfessioneller Unduldsamkeit sowie die Polemik gegen klösterlichen Müßiggang und päpstliche Autorität. Sie zielen auf eine verinnerlichte Religiosität und Frömmigkeit sowie auf praktizierte Nächstenliebe und Duldsamkeit. Bereits 1779 hatte Gall eine ebenfalls der religiösen Volksaufklärung dienende und in der Folgezeit wiederholt aufgelegte Erziehungsschrift veröffentlicht: »Einleitung zum Religionsunterrichte in Gesprächen der Mutter mit ihrem Kinde«.49

4. Eine sich auf die »Gesetze der menschlichen    Seele« gründende »Katechisirmethode« Bernard Galura (1764–1856)50 gehörte zu den Studenten, die 1787 entsprechend der an die Generalseminarien in Prag, Olmütz, Graz, Innsbruck und Freiburg ergangenen Weisung, je drei Studenten nach Wien zu entsenden, um im »praktischen Jahr« der beiden letzten Semester des Theologiestudiums an der dortigen Normalschule bei Joseph Spendou die neue Methode der Katechese zu erlernen, vom Freiburger Generalseminar nach Wien delegiert wurden. Freiburg war in dieser Zeit Regierungssitz der Provinz Vorderösterreich und Sitz sowohl eines der Universität zugeordneten Generalseminars als auch einer Normalschule. Nach der Rückkehr von Wien wurde Galura zunächst Repetent am Freiburger Generalseminar und Katechet an der Freiburger Normalschule. 1791 übernahm er, von der Universität präsentiert, die Stelle des Freiburger Münsterpfarrers. In einer Buchveröffentlichung entfaltet Galura 1793 »Grundsätze der sokratischen Katechisirmethode«,51 die er 1796 in der als »Einleitung« in die im gleichen Jahr veröffentlichte »Christkatholische Religion«52 publizierten Neuauflage als »die wahre Katechisiermethode« qualifiziert.53

49

  Vgl. [Joseph Anton Gall:] Einleitung zum Religionsunterrichte in Gesprächen der Mutter mit ihrem Kinde, Wien 1779. 50   Vgl. auch Josef Hemlein: Bernard Galuras Beitrag zur Erneuerung der Katechetik, Freiburg im Breisgau 1952. 51   Vgl. Bernard Galura: Grundsätze der sokratischen Katechisirmethode. Eine Einleitung in den Katechismus nach sokratischer Methode für katholische Eltern und Lehrer, Freiburg im Breisgau 1793. 52   Vgl. Bernard Galura: Die ganze christkatholische Religion in Gesprächen eines Vaters mit seinem Sohne. 5 Bände, Augsburg 1796–1799.

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung 153

Galura begründet die »Wahrheit« der »sokratischen Methode« psychologisch: »Die sokratische Methode gründet sich ganz auf die Gesetze der menschlichen Seele.«54 Es ist daher nicht nur »zweckmäßig«, sondern geboten, »daß man die Regeln der Psychologie kenne, nach welchen unsere Seele Begriffe, und Ueberzeugung von einer Sache erlangt.«55 Die lernpsychologischen Grundsätze entfaltet Galura dabei im Anschluss an die empiristische Assoziationspsychologie John Lockes (1632–1704)56 und die sensualistische Erkenntnistheorie Étienne Bonnot de Condillacs (1714–1780)57, die er in einer Fußnote mit dem Axiom der scholastisch-aristotelischen Erkenntnistheorie »nihil est mente, quod non fuerit prius in sensibus«58 korreliert: 53

»Sinn und Erfahrung sind die Grundlage des theoretischen; und die Empfindungen die Grundlage des practischen Urtheils, d.h. der Entschließungen.«59 »Dieß heiß Sokratisieren; die Vorkenntnisse der Kinder benutzen, das Neue, das ich sie erst lehren will, an das Alte, was sie schon wissen, anbauen; die Uebereinstimmung zeigen zwischen jenem, was sie lernen sollen, und dem was sie schon wissen, schon erfahren haben, täglich thun, und in ihrem eigenen Herzen empfinden.«60 »[M]an benimmt so dem Unterrichte selbst, die Gestalt des Unterrichtes, und giebt ihm das Ansehen eines freundschaftlichen Gespräches; am Ende haben Kinder das Vergnügen zu sehen, wie sie so leicht vermittelst ihrer Vorkenntnisse, gleichsam selbst fanden, was man sie lehren wollte.«61

53

  Vgl. Bernard Galura: Grundsätze der wahren (d.i. sokratischen) Katechisirmethode. Eine Einleitung zu den Gesprächen eines Vaters mit seinem Sohne über die christkatholische Religion, Augsburg 1796. Vgl. auch das beigefügte ausführliche Verzeichnis zeitgenössischer katholischer und evangelischer Literatur a.a.O., 98– 103. 54   A.a.O., 83. 55   A.a.O., 16. 56   Er bezieht sich auf Lockes »Essay Concerning Human Understanding« (London 1690) in der deutschen Übersetzung: Locke vom menschlichen Verstande. Zu leichtem und fruchtbaren Gebrauch zergliedert und geordnet von Gottlob August Tittel, Mannheim 1791. 57   Vgl. Étienne Bonnot de Condillac: Essai Sur L’Origine Des Connoissances Humaines, Amsterdam 1746. Eine deutsche Übersetzung erschien 1780: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß. Aus dem Französischen des Abbé Condillac. In zwei Theilen übersetzt von Mag. Michael Hißmann in Göttingen, Leipzig 1780. 58   Galura: Grundsätze der wahren (d.i. sokratischen) Katechisirmethode, 28. 59   A.a.O., 23. 60   A.a.O., 22. 61   A.a.O., 78.

154 Werner Simon

Galura wirft die Frage auf, »ob und wie sich diese Methode auf das Christentum anwenden lasse«62 und beantwortet sie differenzierend. Der geschichtliche Charakter der Offenbarung bedingt die Vorgängigkeit einer erzählenden Präsentation der »Thatsachen«63 der biblischen Geschichte, bevor sich im Gespräch »aus der Geschichte gute Verhaltensregeln abziehen lassen: Dieser Einfluß der Geschichte ist allzeit moralisch, bey dem sich alle bisher aufgestellten Grundsätze bestens anwenden lassen.«64 Dies gilt jedoch nicht nur für die moralischen, sondern auch für die dogmatischen Wahrheiten des Glaubens: Sie sind »um ihres moralischen Einflusses willen von Gott geoffenbaret. Und was ist leichter und angenehmer, als über diesen Einfluß zu sokratisieren?«65 Auch die »Mysterien« müssen dabei nicht ausgelassen werden: »[W]eil der Nutzen der Mysterien nicht von ihrer Dunkelheit, sondern vom Zwecke ihrer Offenbarung abhängt, so sind selbst diese für den Sokratiker ein angenehmer Gegenstand seiner Unterredung mit Kindern.«66

5.

Erziehung im »Geist der Sokratik«

Zeitgleich zu den Reformen der Habsburgermonarchie finden auch im Erzstift Salzburg Bildungsreformen statt, die aus Motiven der Katholischen Aufklärung gespeist werden. Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo-Waldsee (1732–1812) errichtet 1777 eine Musterschule mit der Funktion einer Normalschule und 1790 ein Seminar zur Bildung von Lehrern für die Stadtund Landschulen. Erster Direktor des Salzburger »Schullehrer-Seminars« wird Franz Michael Vierthaler (1758–1827)67, dem 1791 auch die Vorlesungen aus der Katechetik im Priesterseminar und 1792 darüber hinaus ein pädagogischer Lehrauftrag an der Salzburger Benediktineruniversität übertragen werden. Aus seiner Lehrtätigkeit am Priesterseminar erwächst die 1793 veröffentlichte Programmschrift »Geist der Sokratik. Ein Versuch, den Freunden des Sokrates und der Sokratik geweiht«.68 Vierthaler verknüpft die lernpsychologische Perspektive mit dem Interesse, den Zögling zu befähigen, sich selbstständig seines Verstandes zu bedienen: »Soll aber das Gedächtniß getreu werden, so muß alles, was demselben anvertraut wird, Nahrung für den kindlichen Verstand und Stoff zum

62

A.a.O., 86. A.a.O., 87. 64 A.a.O., 88. 65 A.a.O., 89. 66 A.a.O., 90. 67   Vgl. auch Matthias Laireiter (Hrsg.): Franz Michael Vierthaler. Festschrift zum 200. Geburtstag am 25. September 1958, Salzburg 1958. 63

»Sokratische Methode« als Lernweg religiöser Bildung 155

selbstständigen Denken seyn.«69 Er entfaltet die »sokratische Methode« im Modell eines fragend-nachdenkenden Gesprächs und als ein Grundmuster erziehlich-unterrichtlicher Kommunikation. Dabei zeichnet er in der Gestalt des Sokrates das Idealbild eines »sokratischen« Erziehers und Lehrers und formuliert so zugleich Grundsätze für das pädagogische Handeln: 68

»Sokrates verstand sich also auf die Kunst, die Gedanken anderer auszuforschen, ihre Ideen, so dunkel, verworren und unreif sie auch in ihrem Kopfe liegen mochten, an’s Licht zu bringen und sie ihnen ganz entwirrt, deutlich und hell vor’s Auge hin zu stellen! Er verstand sich auf die moralische Entbindungskunst.«70 »Wer ein Sokratiker werden will, beobachte die Menschen, studiere sie, suche ihre rechte und linke Seite, ihre guten und bösen Eigenschaften, Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen zu entdecken, und aus diesen hebe er sich die Materialien zum Gespräch aus. Priester! Lehrer! Erzieher! […] Ein Sokratiker muß die Eigenschaften und die Farben jedes Alters; und da er besonders mit Kindern zu thun hat – der Kindheit kennen. Er muß also wissen, was das Kind, was den Knaben und das Mädchen freuet, und was sie nicht freuet; was sie gern oder ungern thun; gern oder ungern hören, und wann und wie, und in welcher Sprache sie es gern hören.«71

Im Schlusskapitel der »Sokratik« formuliert Vierthaler »sokratische Klugheitsregeln« und mahnt zur Toleranz im Umgang mit Andersdenkenden, die ihre Prägung durch eine andere Erziehung erfuhren: »Es ist ein häßlicher Fehler um die Aufklärungssucht: Sie macht eben so intolerant als der Fanatismus […]. Wer unter ungebildete Leute als Lehrer versetzt wird, betrachte sich nicht als Reformator, sondern als Arzt. Dieser sucht vor allem die Krankheit und die Quelle derselben zu entdecken; beobachtet ihren Gang; hilft ihr zum Ausbruch; und sucht nach und nach die Heilung zu bewirken.«72

68

  Vgl. Franz Michael Vierthaler: Geist der Sokratik. Ein Versuch, den Freunden des Sokrates und der Sokratik geweiht, Salzburg 1793. Vgl. auch Franz Michael Vierthaler: Entwurf der Schulerziehungskunde zum Gebrauche seiner Vorlesungen, Salzburg 1794, 92–109 (»Von der Sokratischen Methode«). Zum Entstehungszusammenhang der »Sokratik« Vierthalers mit der 1791 veröffentlichten »Sokratik« Johann Friedrich Christoph Graeffes (s. Anmerkung 7) vgl. Graeffes Besprechung der »Sokratik« Vierthalers im Katechetischen Journal 3 (1795), 2, 175–192, und Vierthalers Replik in der Zweiten Vorrede der 2. Auflage seiner »Sokratik« 1798, VIII–XXII. 69   Vierthaler: Entwurf, 151, zitiert nach der 2. Auflage, Wien 1824. 70 Vierthaler: Geist der Sokratik, 8. 71 A.a.O., 30. 72 A.a.O., 230.

156 Werner Simon

Es sind nur wenige Jahrzehnte, in denen die Rezeption der »sokratischen Methode« im Kontext der Katholischen Aufklärung zu einem Katalysator der Weitung des pädagogischen Horizonts und der Neuorientierung der katholischen Katechetik und (Religions-)Pädagogik wurde: durch einen neuen Blick auf das Kind und die Entwicklung seiner Seelenkräfte, durch eine Ausrichtung am Erziehungsziel selbstständigen Denkens und Urteilens, durch eine erkenntnis- und lernpsychologische Fundierung der Didaktik und Methodik des Unterrichts und nicht zuletzt durch eine die Konfessionsgrenzen überschreitende Vernetzung der pädagogischen Reflexion. Diese pädagogischen Impulse bleiben auch in der katholischen Katechetik73 und Pädagogik74 der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts lebendig und wirksam, wenn auch ihr ursprünglicher Impetus der Aufklärung im Kontext der politischen und kirchlichen Restauration zunehmend verloren geht.

73

  Vgl. Johann Baptist Hirscher: Katechetik oder der Beruf des Seelsorgers die ihm anvertraute Jugend im Christenthum zu unterrichten und zu erziehen, nach seinem ganzen Umfange dargestellt, Tübingen 1831, 192–208 (»Die bloße Form alles Unterrichtes«). 74 Vgl. M[atthäus] C[ornelius] Münch: Universal-Lexicon der Erziehungs- und Unterrichts-Lehre für ältere und jüngere Volksschullehrer. Band 2, Augsburg 1842, 611–615 (»Sokrates und seine Lehrmethode«).

Vom harten und vom sanften Joch Neutestamentliche Randnotizen zum Verhältnis von Theologie und Bildung Manuel Vogel

In der neutestamentlichen Wissenschaft spielt das Thema frühchristlicher Bildung immer wieder eine Rolle.1 Erkennbar geht es dabei stets auch um die Selbstverständigung des Faches »Neues Testament« wie auch der akademischen Theologie insgesamt im Kontext gegenwärtiger Bildungsdebatten.2 Der vorliegende Beitrag3 stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Er bietet, wie im Titel angekündigt, nicht mehr als Randnotizen. Diese verdanken sich aber einem genuinen neutestamentlichen Impuls, nämlich der paulinischen Kreuzestheologie vor allem des 1. Korintherbriefes, die ich – sachlich im Blick auf die aus dem Brief erschließbare Konfliktsituation m.E. völlig naheliegend, exegetisch jedoch, soweit ich sehe, bisher eine Einzelmeinung – als eine Manifestation theologischer Bildungskritik4 lese, dergestalt nämlich, dass eine Auffassung von Bildung als Distinktionsmerkmal kritisiert wird, weil sie die sozialen Gefüge, auf die sie sich bezieht, schwer beschädigt. Im Unterschied zur üblichen rechtfertigungstheologischen Verzeichnung – was 1

  Als neueste Monographie im deutschsprachigen Bereich ist zu nennen Thomas Söding: Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg im Breisgau 2016. 2   Vgl. hierzu Reiner Preul: Evangelische Bildungstheorie, Leipzig 2013; Friedrich Schweitzer: Bildung, Neukichen-Vluyn 2014. 3   Zugrunde liegt ein Vortrag, den ich 2016 auf dem jährlichen Studientag der Theologischen Fakultät der Universität Jena gehalten habe. Die leicht überarbeitete Fassung eigne ich Herrn Kollegen Wermke herzlich zu. Damit schließt sich insofern ein Kreis, als Kollege Wermke für diesen Studientag das Thema »Bildung« angeregt und denselben aus dem reichen Fundus seiner Forschungen im Rahmen des von ihm gegründeten Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB) maßgeblich mitgestaltet hat. Wichtige Literaturhinweise verdanke ich Herrn Dr. Volker Rabens, Jena. 4   Den Begriff entlehne ich Preul: Evangelische Bildungstheorie, 59ff. Das Gemeinte berührt sich aber auch mit Positionen pädagogischer Bildungskritik, die Preul a.a.O., 33–58, referiert, u.a. mit Bezug auf Nietzsche und Bourdieu. Auf Positionen antiker Bildungskritik, etwa die Kritik an »Vielwisserei« (πολυμαθία), verweist Harald Fuchs: Bildung, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 2 (1954), 346–362, 346f.

158 Manuel Vogel

sich dabei als theologische Überhöhung ausnimmt, ist in Wahrheit ihre Entleerung – sehe ich hier den argumentativen Kern der Kreuzestheologie in 1 Kor 1–4.5 Ein vergleichbarer Ansatz liegt m.E. im Matthäusevangelium vor. Hier wird Jesus als »sanftmütiger und demütiger Lehrer« gegen eine gebildete Elite aufgeboten, die sich den Vorwurf gefallen lassen muss, sich mittels eigener Bildung von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, anstatt lebensdienlich in ihr und für sie zu wirken.6 Bei allem Positiven, was über die Bildung früher Christusverehrer zu sagen ist, darf m.E. dieser kritische Impuls nicht überhört oder relativiert werden. Es handelt sich hierbei um eine Ausprägung dessen, was ich die »soziale Abwärtsorientierung« der frühchristlichen Bewegung nenne.7 Hinzu kommt ein Zweites: Die m.E. unbestreitbare Partizipation früher Christusverehrer an zeitgenössischen Bildungsdiskursen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Bewegung eine fundamentale Konfliktbereitschaft zu eigen war, die sich im Antagonismus gegen den römischen Gottkaiser manifestierte und bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts dramatisch zuspitzte.8 Der vorliegende Beitrag stellt vor diesem Hintergrund den skizzenhaften Versuch dar, frühchristliche Bildung in den doppelten Kontext von sozialer Abwärtsorientierung und fundamentaler Konfliktbereitschaft zu stellen. Im Folgenden gehe ich so vor, dass ich an einen von Udo Schnelle vorgelegten neueren Beitrag zum Thema frühchristlicher Bildung9 anknüpfe und die dort skizzierten Linien zunächst noch weiter ausziehe, um in einem zweiten Durchgang dieselben Quellentexte auf den postulierten doppelten

5   Vgl. näher Manuel Vogel: Theologien des Kreuzes, in: Theologische Literaturzeitung 136 (2011), 723–738. 6   Vgl. Manuel Vogel: Matthew’s post-war mission to Israel. Some observations on a Jewish reading of the First Gospel (im Druck). 7   Gemeint ist eine religiös begründete ethische Grundoption, die in Konkurrenz und Widerstreit zu sozialer Aufwärtsmobilität tritt, die ihrerseits auch für frühe Christusverehrer eine Handlungsoption darstellte. Gemeint ist also nicht, dass die frühen Christusverehrer selbst notwendig den unteren gesellschaftlichen Schichten angehörten, obwohl dies rein zahlenmäßig wohl der Fall war. Der Begriff scheint im Übrigen ein Neologismus zu sein; im Internet ist er jedenfalls so gut wie unauffindbar. Sachliche Überschneidungen bestehen zum sog. Positionswechselmotiv bei Gerd Theißen: Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003, 161f. 8   Es ist das Verdienst des in der deutschsprachigen Forschung wenig geschätzten Empire Criticism, diesen Aspekt in die exegetische Diskussion eingebracht zu haben, vgl. hierzu Scot McKnight/Joseph B. Modica (Hrsg.): Jesus is Lord, Caesar is Not: Evaluating Empire in New Testament Studies, Downers Grove 2013. 9   Udo Schnelle: Das frühe Christentum und die Bildung, in: New Testament Studies 61 (2015), 113–143.

Vom harten und vom sanften Joch 159

Kontext hin zu befragen, den ich für die Konzeptualisierung eines frühchristlichen Begriffs von Bildung für unbedingt beachtlich halte. An den Anfang meiner Ausführungen setze ich ein längeres Zitat aus dem resümierenden Schlussabschnitt des Aufsatzes von Schnelle, das nicht nur wesentliche Thesen daraus bündelt, sondern zugleich auch ein anschauliches Gesamtbild dessen bietet, was bei ihm die Bewegung der frühen Christusverehrer10 als Bildungsphänomen auszeichnete: »Das frühe Christentum entwickelte sich innerhalb bestehender Kulturen und Religionen und muss deshalb über Potenzen/Konzepte verfügt haben, sich im Kontext vorhandener attraktiver Kultur- und Religionsangebote zu entwickeln, sie positiv aufzunehmen und schließlich nach einem jahrhundertelangen Ringen abzulösen. Es gelang den Christen, sich in aktuellen religiös-philosophischen Diskursen zu positionieren sowie neue Einsichten, Verhaltensweisen und Emotionen kulturfähig zu machen. Ein neues kulturelles System wie das frühe Christentum konnte nur entstehen, weil es in der Lage war, sich mit bestehenden kulturellen Strömungen auseinanderzusetzen, sich zu vernetzen und Neuorganisationen von Vorstellungen und Überlieferungen vorzunehmen. All dies setzt Bildung voraus, einen denkenden Glauben, der intellektuell attraktive Angebote machte, die so anziehend waren, dass viele Menschen ihre bisherigen religiösen und sozialen Welten verließen. Daraus ergibt sich eine veränderte, neue Sicht des frühen Christentums: Es war als umfassendes Lebens-, Deutungs- und Denkprogramm von Anfang an auch ein Bildungsphänomen; eine Einladung, sein Handeln zu

10

  Die etwas umständliche Formulierung vermeidet das bündige »Christentum«, das nicht nur für das 1. Jahrhundert quellensprachlich nicht belegt ist, sondern auch reflexartig in einem Gegensatz zum (lexikalisch im 1. Jahrhundert ebenfalls inexistenten) »Judentum« gehört wird, der in neutestamentlicher Zeit und wohl noch weit darüber hinaus nicht gegeben war. Zur Problematik vgl. Steve Mason: Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums, in: Zeitschrift für Neues Testament 19 (2016), 37, 11–22. Die fließenden Grenzen und erheblichen Unschärfen, die sich sofort ergeben, wenn man »Christliches« und »Jüdisches« kategorisch unterscheiden will, lassen sich am besten literaturgeschichtlich veranschaulichen, sofern bei vielen Texten aus christlicher Zeit gar nicht zu entscheiden ist, welcher Seite man sie zuschlagen soll. Instruktiv sind die Erwägungen bei Folker Siegert: Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur, Berlin 2016, 543, wo einige hellenistisch-jüdische Texte unter der Rubrik »Jüdisches Eingehen auf Christliches« abgehandelt werden und ein in den Texten nur schwer fassbarer jüdisch-christlicher Dialog angenommen wird. Wie schwer die Unterscheidung im Einzelnen fällt, zeigt sich daran, dass Siegert außerdem auf 100 Seiten »Texte von unsicherer Zuordnung« (a.a.O., 591–690) behandelt, die er zum Teil bis in byzantinische Zeit hinauf datiert und als »christliche Imitate jüdischen Schrifttums« (a.a.O., 543) charakterisiert. Aber welchen Sitz im Leben sollten solche Imitate haben? M.E. liegt es viel näher, jedenfalls auf literaturgeschichtlichem Feld »jüdisch« und »christlich« als alternative Beschreibungskategorien aufzugeben oder zumindest zu problematisieren.

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verändern und Gott, die Welt, den Nächsten und sich selbst neu zu denken und zu verstehen.«11

Auf dem von Schnelle eingeschlagenen Weg können wir noch weitergehen und zu seinen zahlreichen sachhaltigen und zutreffenden Beobachtungen weitere hinzufügen. In der Tat treten die Christusverehrer bereits in den Quellen des 1. Jahrhunderts als eine auch intellektuell vitale und kreative Bewegung in Erscheinung. Die dafür nötigen bildungsspezifischen Ressourcen hat diese Bewegung freilich in keiner Weise selbst hervorgebracht. Sie waren vielmehr, als sie aufkam, schon längst vorhanden als geistige Leistung des hellenistischen Judentums, dessen Teil sie war. Die geistige Auseinandersetzung des biblisch-jüdischen Glaubens mit der Kultur der hellenistischen Welt war kein »frühchristlicher«, sondern ein hellenistisch-jüdischer Impuls, und die frühen Christusverehrer erweisen sich in dem Maße als dem hellenistischen Judentum zugehörig, wie sie in diese Auseinandersetzung eingetreten sind und sie unter den Bedingungen eines »entgrenzten Messianismus« fortgesetzt haben.12 Das hellenistisch-jüdische Bestreben, den biblisch-jüdischen Glauben mit der griechischen bzw. griechisch-römischen Kultur in ein lebendiges Gespräch zu bringen, wird in seiner reifsten Form durch den alexandrinischen Religionsphilosophen Philo (gest. nach 40 n. Chr.) repräsentiert.13 Philo hat die Methoden der griechischen Homer-Exegese auf den ins Griechische übersetzten Text der Mosetora angewendet und dabei Vers für Vers die Entdeckung gemacht, dass das Gesetz des Mose dem Besten, was die Griechen an Philosophie und Bildung zu bieten hatten, um nichts nachstand.14

11

  Schnelle: Das frühe Christentum, 142.  Vgl. Peter Gemeinhardt/Lieve Van Hoof/Peter Van Nuffelen (Hrsg.): Education and Religion in Late Antique Christianity: Reflections, Social Contexts and Genres, London/New York 2016; Karina Martin Hogan/Matthew Goff/Emma Wasserman (Hrsg.): Pedagogy in Ancient Judaism and Early Christianity, Atlanta 2017. 13  Monographisch zu Philo vgl. Peder Borgen: Philo of Alexandria. An Exegete for His Time, Leiden 1992; Naomi G. Cohen: Philo Judaeus. His Universe of Discourse, Frankfurt am Main 1995; weiterhin aktuell David T. Runia: Philon von Alexandria, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 27 (2016), 605–627. 14  Vgl. Christoph Blönnigen: Der griechische Ursprung der jüdisch-hellenistischen Allegorese und ihre Rezeption in der alexandrinischen Patristik, Frankfurt am Main 1992; aus der neueren Literatur Adam Kamesar: Biblical Interpretation in Philo, in: Adam Kamesar (Hrsg.): The Cambridge Companion to Philo, Cambridge 2009, 65–91; Ekaterina Matusova: Allegorical Interpretation of the Pentateuch in Alexandria: Inscribing Aristobulus and Philo in a Wider Literary Context, in: Studia Philonica Annual 22 (2010), 1–51; Maren Niehoff: Jewish Exegesis and Homeric Scholarship in Alexandria, Cambridge/New York 2011. 12

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Die wohl um die Zeitenwende entstandene Weisheit Salomos15 bringt zweitens diese von Philo so vollendet moderierte Begegnung in formelhafter Verdichtung auf den Begriff, wenn sie vom »πνεῦμα ἅγιον παιδείας«, vom »heiligen Geist der Bildung« spricht: »Denn der heilige Geist der Bildung wird den Betrug fliehen und wird Abstand nehmen von unverständigen Gedanken, und er wird geschändet werden, wenn Unverständigkeit hinzutritt« (SapSal 1,5).16 Der Gottesgeist der biblischen Geschichte geht hier eine Synthese ein mit dem griechischen Ideal der παιδεία.17 Mit der Formel vom »heiligen Geist der Bildung« dürfte die hellenistisch-jüdische Aufgeschlossenheit für den Hellenismus18 und seine kulturellen Versprechen, die die frühen Christusverehrer bereits vorfanden, so bündig wie treffend in Worte gefasst sein.19 Aus dem reichhaltigen hellenistisch-jüdischen Schrifttum20 sei drittens und letztens und ebenfalls in aller Kürze auf das 4. Makkabäerbuch hingewiesen. Mit dieser Schrift befinden wir uns wahrscheinlich bereits am Ende des 1. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung oder noch um einiges später.21 Anders als der traditionelle Titel des Werkes vermuten lässt, handelt es sich 15

15

 Dieter Georgi: Weisheit Salomos, Gütersloh 1980, 396, datiert diese »in die letzten Jahrzehnte des 2. Jhdts. v. Chr.«. Karl-Wilhelm Niebuhr: Einführung in die Schrift, in: Karl-Wilhelm Niebuhr (Hrsg.): Sapientia Salomonis (Weisheit Salomos), Tübingen 2015, 3–37, 32, votiert für »die frühe römische Kaiserzeit (1. Hälfte des 1. Jh.)«. Siegert: Einleitung, 558, nimmt »Zeitgenossenschaft zu Paulus« an. 16  Übersetzung nach Georgi: Weisheit, 403, wo in der o.g. Wendung eine »Kombination des biblisch-weisheitlichen und hellenistischen Bildungsverständnisses« (ebd.) erkannt wird. Die Rede vom »heiligen« Geist ist im Alten Testament freilich sehr selten; vgl. immerhin Ps 51,13; Jes 57,15; 63,10. Heinz-Günther Nesselrath übersetzt παιδεία mit »Erziehung«, vgl. Niebuhr: Sapientia, 41. Rainer Hirsch-Luipold notiert bei Niebuhr: Sapientia, 112 (Anmerkung 7), hierzu: »Der Begriff παιδεία umfasst sowohl den Bereich ›Erziehung/Züchtigung‹ als auch den Bereich ›Bildung‹; beide Aspekte sind für die Sapientia wichtig«. Vgl. auch Mareike V. Blischke: Zur Theologie der Sapientia Salomonis, in: Niebuhr: Sapientia, 155–175, 170f. 17  Für einen geschichtlichen Abriss griechischer Bildungsideale und -konzeptionen vgl. Johannes Christes: Bildung, in: Der Neue Pauly. Band 2 (1997), 663–673, 663– 667. Zum hellenistischen Judentum vgl. aktuell Jason M. Zurawski/Gabriele Boccaccini (Hrsg.): Second Temple Jewish »Paideia« in Context, Berlin/New York 2017. 18  Vgl. hierzu neuerdings Klaus Meister: Der Hellenismus. Kultur- und Geistesgeschichte, Stuttgart 2016. 19  Zur philosophischen Einordnung der Weisheit Salomos vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr: Die Sapientia Salomonis im Kontext hellenistisch-römischer Philosophie, in: Niebuhr: Sapientia, 219–256; Gregory E. Sterling: The Love of Wisdom. Middle Platonism and Stoicism in the Wisdom of Solomon, in: Troels Engberg-Pedersen (Hrsg.): From Stoicism to Platonism. The Development of Philosophy, 100 BCE–100 CE, Cambridge 2017, 198–213. 20  Vgl. hierzu neuerdings erschöpfend Siegert: Einleitung. 21  Vgl. die Diskussion bei Siegert: Einleitung, 580f.

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dem Anspruch nach um einen philosophischen Traktat, der sich ein Grundproblem praktischer Philosophie vorgesetzt hat, für dessen Lösung er den Beweis führen will: »Ein zentrales philosophisches Lehrstück vorzutragen schicke ich mich an. Es geht um die Frage, ob die gottesfürchtige Vernunft souveräne Herrscherin ist über die Leidenschaften« (4 Makk 1,1).22 In der Literatur wird dieses Ansinnen eines hellenistisch-jüdischen Verfassers nicht selten als philosophischer Dilettantismus abgetan. Dem steht das Votum gegenüber, das 4. Makkabäerbuch als ein ernstgemeintes und auch ernst zu nehmendes Stück hellenistisch-jüdischer Popularphilosophie zu würdigen. Der Verfasser will anhand des praktischen Beispiels der makkabäischen Märtyrer, die ihre Treue zur jüdischen Lebensweise auch gegen äußerste körperliche Qualen durchhalten, den Möglichkeitsbeweis führen, dass die menschliche Vernunft, wenn sie denn durch das Regelwerk des mosaischen Nomos geformt wird, auch die stärksten Affekte zu beherrschen vermag. Damit schaltet sich der hellenistisch-jüdische Verfasser in eine Debatte der späten Stoa ein, in der es in Gestalt des Problems von Lust und Schmerz23 um nichts Geringeres ging als um die lebenspraktische Bewährung dieses Denkens. Der Verfasser des 4. Makkabäerbuches präsentiert mit unübersehbarem Selbstbewusstsein das in den makkabäischen Märtyrern verkörperte unbeugsame Festhalten an der jüdischen Lebensweise als lebenspraktischen Beweis für die Stichhaltigkeit des stoischen Vernunftbegriffs, und er präsentiert zugleich die jüdische Lebensweise als höchsten philosophischen Ansprüchen genügend.24

22

 Übersetzung nach Hans-Josef Klauck: 4. Makkabäerbuch, Gütersloh 1989, 686. Vgl. den Abschluss im Griechischen: »εἰ αὐτοδέσποτός ἐστιν τῶν παθῶν ὁ εὐσεβὴς λογισμός.« 23  Vgl. Malte Hossenfelder: Geschichte der Philosophie. Band 3: Die Philosophie der Antike. Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 21995, 51: »Begierde und Furcht ließen sich, da auf die Zukunft gerichtet, in die nur die Vernunft blicken kann, wohl als von dieser abhängig und beherrschbar einsehen. Lust und Unlust dagegen schienen unmittelbare Wertempfindungen zu geben, die vernunftunabhängig sind und auf die wir keinen direkten Einfluss haben. Sie lassen sich nicht hinwegvernünfteln; was immer man gegen sie vorbringen kann, sie bleiben in ihrer Positivität oder Negativität bestehen. Man kann Zahnschmerzen schwerlich durch Argumente kurieren. Lust und Unlust bilden so für die Stoiker das Hauptproblem.« 24  Vgl. Manuel Vogel: Ob Tugend lehrbar sei. Stimmen und Gegenstimmen im hellenistischen Judentum mit einem Ausblick auf Paulus, in: Friedrich Wilhelm Horn/ Ruben Zimmermann (Hrsg.): Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik, Tübingen 2009, 159–176, 160–169.

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Blickt man nun auf die Bewegung der frühen Christusverehrer, zu der Juden wie auch Nicht-Juden gehörten, so ist, wie kürzlich Larry W. Hurtado ausgeführt hat, im Kulturvergleich der hohe Stellenwert von Texten kennzeichnend.25 Hurtados Hauptthesen lauten erstens: Von einem sehr frühen Zeitpunkt an war das Lesen von Texten ein typischer Bestandteil der gottesdienstlichen Zusammenkünfte. In römischer Zeit war dies für religiöse Gruppen unüblich. Die einzige Analogie war der Textgebrauch in den synagogalen Versammlungen. Zweitens: Auch im Blick auf die Produktion eigener Texte war das frühe Christentum eine bemerkenswerte Erscheinung. Nach Hurtados Zählung kennen wir bis zum Jahr 250 mehr als zweihundert Texte aus christlicher Feder. Drittens: Kennzeichnend waren auch die Bemühungen um Vervielfältigung und Verbreitung von Texten. Deren überregionale Verbreitung spiegelte und förderte das Bewusstsein frühchristlicher Kreise, dass sie miteinander eine translokale Gemeinschaft bildeten. Zur Frage der Stellung von Texten in frühchristlicher Zeit ist freilich sogleich anzumerken, dass Bildung von Alphabetisierung unterschieden werden muss. In einer Kultur, in der Texte durch Memorieren von Vorgelesenem angeeignet wurden, genügte es, wenn nur einige wenige lesen und schreiben konnten.26 Wollten wir gar Bildung an dem messen, was an Texten auswendig gewusst wird, hätte vieles von dem, was heute »Bildung« heißt, seinen Namen gar nicht verdient. Damit relativiert sich auch die Frage nach der Literalität Jesu. Sie stellt sich u.a. mit Blick auf die zweimalige Notiz in Joh 8,6.8, Jesus habe mit dem Finger auf die Erde geschrieben. Hieran knüpft sich eine ganze Reihe von Fragen, die hier nur en passant genannt werden können: Konnte Jesus schreiben? Konnte er gar etwas Griechisch, schon von Berufs wegen, wenn er etwa in der unweit von Nazareth gelegenen griechisch geprägten Stadt Sepphoris als Bauhandwerker Arbeiten ausführte? Nach Auskunft der Evangelien gab es in Nazareth eine Synagoge. Hat Jesu Familie am Synagogengottesdienst teilgenommen? Gab es am selben Ort eine Elementarschule? Gab es überhaupt im Galiläa des 1. Jahrhunderts so etwas wie ein Schulwe-

25

 Vgl. Larry W. Hurtado: Destroyer of the Gods. Early Christian Distinctiveness in the Roman World, Waco 2016, daraus Kapitel 4 über das frühe Christentum als »A ›Bookish‹ Religion«. 26  Gegenwärtig gibt es eine angeregte Forschungsdebatte zum frühchristlichen Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, vgl. etwa die Diskussion zwischen Larry W. Hurtado und Kelly Iverson bei Larry W. Hurtado: Oral Fixation and New Testament Studies? ›Orality‹, ›Performance‹ and Reading Texts in Early Christianity, in: New Testament Studies 60 (2014), 321–40; Kelly Iverson: Oral Fixation or Oral Corrective? A Response to Larry Hurtado, in: New Testament Studies 62 (2016), 183–200; Larry W. Hurtado: Correcting Iverson’s ›Correction‹, in: New Testament Studies 62 (2016), 201–206.

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sen? Wie hoch ist die Alphabetisierung im römisch beherrschten Palästina zu veranschlagen?27 Mehr als deutlich ist Jesus jedenfalls in der Zeichnung der Evangelien in der Lage, gegenüber seinen Kontrahenten mit der Schrift zu argumentieren, mit Gelehrten über Fragen der Tora-Auslegung zu diskutieren, nach Lukas gar schon als Zwölfjähriger, und er hat in den Synagogen Galiläas gelehrt. Ganz gleich, wie viel man hiervon für das Wirken des irdischen Jesus verbuchen darf, unabhängig davon also, in welchem Maße dieses Ideal auf Jesus projiziert oder von ihm tatsächlich verkörpert wurde, wird hier doch auf jeden Fall eine frühchristliche Selbstauffassung deutlich, die vom Anspruch getragen ist, in zeitgenössischen schriftgelehrten Debatten nicht nur zu bestehen, sondern diese auch richtungsweisend zu bestimmen. Lesen wir die Evangelien in dieser Weise losgelöst von der historischen Jesusfrage als Quellen eigenen Rechts, stoßen wir im Matthäusevangelium auf einen Trägerkreis, der bei aller Polemik gegen die Schriftgelehrten doch selbst den Anspruch der Schriftgelehrsamkeit erhebt,28 und der Verfasser des Lukasevangeliums empfiehlt sich hier wie auch in der Apostelgeschichte seinem mutmaßlichen Gönner Theophilus als Historiograph erster Güte.29 Was nun Paulus betrifft, so muss man nicht erst auf die Referenzen der Apostelgeschichte verweisen, die ihm nicht nur eine pharisäische Ausbildung von Rang bescheinigt (Apg 22,3), sondern ihn auch auf dem Areopag mit griechischen Philosophen debattieren lässt (Apg 17).30 Dass Paulus Pharisäer war, sagt er im Philipperbrief ja auch selbst (Phil 3,5), und die neuere Paulusforschung diskutiert, ob und wie sein Denken namentlich von Grund27

 Vgl. ausführlich Catherine Hezser: Jewish Literacy in Roman Palestine, Tübingen 2001. Zur Frage, ob Jesus des Lesens und Schreibens mächtig war, vgl. Chris Keith: Jesus’ Literacy. Scribal Culture and the Teacher from Galilee, London 2011; Gerd Theißen/Annette Merz: Der historische Jesus, Göttingen 32001, 318f. 28  Vgl. Aaron M. Gale: Redefining Ancient Borders. The Jewish Scribal Framework of Matthew’s Gospel, New York 2005. Gale lokalisiert die matthäische Gemeinde in Galiläa und beschreibt sie als konservative Gruppe, die nach der Mosetora lebte, zugleich wohlhabend, gebildet und kosmopolitisch war und eine hohe Anzahl von Schriftgelehrten zu ihren Mitgliedern zählte. Vgl. auch Paul Foster: Scribes and Scribalism in Matthew’s Gospel, in: William E. Arnal (Hrsg.): Scribal Practices and Social Structures among Jesus Adherents, Leuven 2016, 157–182. 29  Aus der neueren Literatur vgl. Jörg Frey/Clare K. Rothschild/Jens Schröter (Hrsg.): Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, Berlin/New York 2009; Samson Uytanlet: Luke-Acts and Jewish Historiography. A Study on the Theology, Literature, and Ideology of Luke-Acts, Tübingen 2014. 30  Vgl. Christopher Kavin Rowe: The Grammar of Life. The Areopagus Speech and Pagan Tradition, in: New Testament Studies 57 (2011), 31–50; Clare K. Rothschild: Paul in Athens. The Popular Religious Context of Acts 17, Tübingen 2014; Vítor Hugo Schell: Die Areopagrede des Paulus und Reden bei Josephus. Eine vergleichende Studie zu Apg 17 und dem historiographischen Werk des Josephus, Tübingen 2016.

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annahmen der Stoa geprägt ist.31 Den durchgängigen Schriftbezug, der ja nicht nur hergestellt, sondern auch rezipiert und verstanden sein wollte, teilt Paulus nicht nur mit dem Matthäusevangelisten,32 sondern etwa auch mit dem Hebräerbrief und der Johannesapokalypse. Versteht sich der Hebräerbrief meisterhaft auf die exegetischen Techniken, die wir schon von Philo kennen,33 so gilt von der Johannesoffenbarung, dass der Seher das Geschaute niedergeschrieben hat gewissermaßen mit dem Finger auf dem Text der Propheten: Die Vision schöpft ihre Sprache kenntnisreich und anspielungsgesättigt aus der Sprache der Bibel.34 Freilich zeigt gerade das Beispiel der Johannesoffenbarung, dass mit dem Aufweis frühchristlicher Bildung längst nicht alles gesagt ist, denn das letzte Buch der Bibel ist kein Bildungs-, sondern ein Konfliktprogramm, ein Plädoyer nicht für Bibelkunde, sondern für die Unbeugsamkeit gegenüber einem Weltreich, das erklärtermaßen vom Teufel kommt.35 Gehen wir also den zurückgelegten Weg ein zweites Mal und achten nun auf die beiden eingangs genannten Aspekte der sozialen Abwärtsorientierung und der fundamentalen Konfliktbereitschaft: Philo von Alexandrien steht für ein hellenistisches Judentum, das sich seiner fragilen Stellung in der griechisch-römischen Welt stets bewusst war und sich über die Integrationsleistung seiner mühsam erworbenen Bildung im Konfliktfall keine Illusionen machte. Philo hat es als Teilnehmer einer alexandrinischen Gesandtschaft zum Kaiser nach Rom aus Anlass der Pogrome des Jahres 38 selber leidvoll erfahren müssen, dass antijüdische Stereotype der Mehrheitsgesellschaft immer bei der Hand waren, wenn es galt, die Interessen jüdischer Gemeinwesen in der Diaspora zu beschneiden. Die beiden einschlägigen Schriften Philos, »In Flaccum« und »Le33

31

 Die neuere Debatte hierzu wurde angestoßen von Troels Engberg-Pedersen: Paul and the Stoics, Louisville 2000. 32  Vgl. Matthias Konradt: Die Rezeption der Schrift im Matthäusevangelium in der neueren Forschung, in: Theologische Literaturzeitung 135 (2010), 919–932. 33  Vgl. Stefan Nordgaard Svendsen: Allegory Transformed. The Appropriation of Philonic Hermeneutics in the Letter to the Hebrews, Tübingen 2009. 34  Vgl. Thomas Hieke: Die literarische und theologische Funktion des Alten Testaments in der Johannesoffenbarung, in: Stefan Alkier (Hrsg.): Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, Tübingen 2015, 271–290; Matthias Hoffmann: Kreativer Umgang mit alten Bildern. Das Alte Testament in der Johannesoffenbarung, in: Welt und Umwelt der Bibel 52 (2009), 44f. 35  Vgl. Richard Bauckham: The Economic Critique of Rome in Revelation 18, in: Richard Bauckham: The Climax of Prophecy. Studies on the Book of Revelation, London/New York 1993, 338–383; Shane J. Wood: The Alter-Imperial Paradigm. Empire Studies and the Book of Revelation, Leiden 2016; Paul Henry Yeates: Blaspheming Heaven. Revelation 13:4–8 and the Competition for Heaven in Roman Imperial Ideology and the Vision of John, in: Novum Testamentum 59 (2017), 31–51.

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gatio ad Gaium«, zeigen diese Kehrseite hellenistisch-jüdischer Existenz.36 Jennifer Greenberg hat beide Schriften auf diese Kehrseite hin untersucht und folgende Mechanismem imperialistischer Machtausübung als Erfahrungshintergrund der hellenistisch-jüdischen communities darin identifiziert: »acts of conquest, legal frameworks, land confiscation and reassignment, language of government, enslavement, operation of imperial economy, power imbalances, legal inequalities, abuses/corruption, individual exploitation, brutality, surveillance, economic adaptations, resistance (armed and cultural), redefining of identity, and native agency. I added the following mechanisms to the table since they also can be found in Philo: transgression of rule of law, poverty, racism, and martyrism/mass suicide.«37

Greenberg kommt zu dem Ergebnis, »that the mechanisms were indeed tools of imperialism contained within a colonial relationship between the Jews and Romans« und dass »Philo’s threats, both subtle and unequivocal […] are a product of the colonial violence perpetrated against the Jews of Alexandria«. Philos Schriften sollten mithin, »be considered a voice of a colonized nation living under Roman rule«38. Vor diesem Hintergrund gerät Bildung sozialpsychologisch ins Zwielicht: Die beeindruckenden Geistesleistungen des hellenistischen Judentums im Spannungsfeld von jüdischer Lebensweise, hellenistischer Stadtkultur und römischem Imperialismus werden sichtbar auf dem Hintergrund eines stets empfundenen, massiven Legitimationsdrucks der jüdischen communities, die ihre Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft dadurch unter Beweis stellen zu müssen meinten, dass sie deren kulturellen und politischen Standards in besonderem Maße genügten39 – mit der tra36

 Vgl. Per Bilde: Philo as a Polemist and a Political Apologist. An Investigation of his Two Historical Treatises Against Flaccus and The Embassy to Gaius, in: George Hinge/Jens A. Krasilnikoff (Hrsg.): Alexandria. A Cultural and Religious Melting Pot, Aarhus 2009, 97–114; Erwin Goodenough/Howard Lehman Goodhart: The Politics of Philo Judaeus, New Haven/London 1938; Pieter W. van der Horst: Philo’s Flaccus. The First Pogrom, Leiden 2003. Die Website der Central European University notiert weiter für den 11. Februar 2016 einen Vortrag von Maren Niehoff zum Thema »Philo of Alexandria on Religion and Politics in the Roman Empire«, vgl. online: www.ceu. edu/event/2016-02-11/philo-alexandria-religion-and-politics-roman-empire (7. Oktober 2017). 37  Jennifer Greenberg: ἀγωνιάσωμεν. Philo Judaeus, a Voice of a Colonized Nation, Boulder 2013, 44f. 38  A.a.O., 45. 39  Ohne diesen Legitimationsdruck kann die hellenistisch-jüdische Obrigkeitsparänese, die von den jüdischen communities besondere Loyalität einfordert, nicht verstanden werden. Dies gilt auch für den wirkungsträchtigsten Text dieser Gattung,

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gischen Ironie, dass Juden aus Sicht urbaner Eliten als umso gefährlichere Konkurrenten im Kampf um gesellschaftliche Privilegien und sozialen Statusgewinn wahrgenommen werden konnten. Gewaltsame Konflikte wurden dadurch regelmäßig nicht gemildert, sondern im Gegenteil verschärft. Nicht zufällig war in hellenistisch-römischer Zeit die nordafrikanische Metropole Alexandria, die sich von ihrem ägyptischen Umland durch ein ausgeprägt griechisches Selbstverständnis abgrenzte, nicht nur ein Hort herausragender hellenistisch-jüdischer Bildung, sondern wiederholt auch Schauplatz schwerster Gewaltausbrüche, die im Diaspora-Aufstand der Jahre 115–117 gipfelten.40 Von der gesellschaftlich stets instabilen Stellung des hellenistischen Judentums zu unterscheiden ist auf konzeptioneller Ebene sein »kritischer Monotheismus«41 in alttestamentlich-prophetischer Tradition. Die Idee des einzigen Gottes als Allherrscher hat im antiken Judentum und noch verstärkt in seiner messianisch-universalen Variante der frühen Christusverehrer weithin nicht affirmativ (menschliche Machtfülle als Repräsentation der göttlichen), sondern kritisch gewirkt. So steht etwa, was die Sapientia Salomonis über den »heiligen Geist der Bildung« zu sagen hat, in enger Nachbarschaft zur ausgeprägten Herrschaftskritik dieser Schrift,42 die auch in dieser Hinsicht biblisch-jüdische Tradition und griechisches Denken miteinander verschmilzt: »Höret also, ihr Könige, und begreift; lernt, ihr Richter der Enden der Erde! Leiht euer Ohr, die ihr über die Menge herrscht und die ihr stolz seid auf die Scharen eurer Völker! […] [Ihr habt] nicht recht gerichtet und nicht das Gesetz bewahrt und seid nicht nach dem Ratschluss Gottes euren Weg gegangen. Furchterregend und schnell wird er an euch herantreten, denn sein strenges Gericht gibt es bei

nämlich Röm 13,1–7, vgl. Manuel Vogel: Römer 13,1–7 als Lobrede auf die Verfolger, in: Stefan Alkier/Christfried Böttrich (Hrsg.): Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 221–252. 40  Vgl. William Horbury: Jewish War under Trajan and Hadrian, Cambridge 2014; Sandra Gambetti: The Alexandrian Riots of 38 C.E. and the Persecution of the Jews. A Historical Reconstruction, Leiden 2009; Miriam Pucci Ben Zeev: Diaspora Judaism in Turmoil 116/117 CE. Ancient Sources and Modern Insights, Leuven 2005. 41  Im deutschsprachigen Fachdiskurs ist der Begriff allem Anschein nach nicht gebräuchlich. Vereinzelte Belege finden sich im Internet für das englische »critical monotheism«. 42  Vgl. Sven van Meegen: Der Konflikt zwischen dem Gerechten und den Ungerechten, in: Sven van Meegen/Josef Wehrle (Hrsg.): Macht und Ohnmacht in der Bibel. Prof. P. Dr. Otto Wahl SDB zu Ehren, Münster 2012, 55–90; Friedrich Reiterer: Die Macht und die Mächtigen im Buch der Weisheit, in: Biblische Notizen 161 (2014), 69–75.

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denen, die herausragen. Der Geringste ist ja des Verzeihens wert wegen seines erbarmungswürdigen Zustandes, Mächtige aber werden mächtig geprüft werden« (SapSal 6,1f.4–6).43

Nach der hier aufgerufenen sozialen Binnendifferenzierung darf der »Geringste« wegen seines »erbarmungswürdigen Zustandes«44 im Gericht auf Verzeihung hoffen, nicht dagegen die Eliten, die das Recht, dessen Wahrung ihnen eigentlich obliegt, ständig selbst übertreten. Will man SapSal 1,5 und 6,1f.4–6 paraphrasierend miteinander ins Gespräch bringen, kann man sagen: Nicht von den Ungebildeten zieht sich der »heilige Geist der Bildung« zurück, sondern von den Machthabern, nicht von den bildungsfernen Schichten der einfachen Leute, sondern von den lebensfernen Schichten der Mächtigen, die vor dem Leben, das leben will, und auf dessen Kosten sie leben, keinerlei Ehrfurcht haben. Die Sapientia Salomonis führt beispielhaft vor, dass die Partizipation des hellenistischen Judentums an den Bildungsgütern seiner Zeit auch die Bereitschaft zu fundamentaler Kritik an denjenigen Instanzen impliziert, die über diese Bildungsgüter zu bestimmen beanspruchen. Hohe Akkulturation kann, mit John Barclay gesprochen,45 in einer oppositionellen Ausprägung von Akkomodation jederzeit in einen offenen Antagonismus zur hellenistisch-römischen Kultur treten. Dies zeigt auf eigene Weise auch das 4. Makkabäerbuch, das seinen philosophischen Gedanken am Beispiel der makkabäischen Märtyrer entfaltet, die um der väterlichen Gesetze willen die Konfrontation mit dem seleukidischen Fremdherrscher nicht scheuen. Die aus dem kritischen Monotheismus des antiken Judentums gespeiste Kritikbereitschaft aktualisiert sich hier in der bereits namhaft gemachten fundamentalen Konfliktbereitschaft. Darüber hinaus kommt in der in SapSal 6,6 behaupteten sozialen Binnendifferenzierung des göttlichen Gerichtsurteils zum Tragen, was sich als soziale Abwärtsorientierung beschreiben lässt: Die Kritik am gesellschaftlichen Gesamtgefüge wird auf die Eliten fokussiert, während für die Unterschicht gewissermaßen mildernde Umstände eingefordert werden. Am allerwenigsten kann ihnen angelastet werden, dass sie 43

 Übersetzung nach Nesselrath: Sapientia, 55 und 57. Philosophiegeschichtlich betrachtet lassen sich dabei Verbindungen zum pythagoreischen Topos »περὶ βασιλειάς« ziehen, so Jonathan More: On Kingship in Philo and the Wisdom of Solomon, in: Johann Cook/Hermann-Josef Stipp (Hrsg.): Text-Critical and Hermeneutical Studies in the Septuagint, Leiden 2012, 409–425. 44  Zur Begründung der Übersetzung vgl. Nesselrath: Sapientia, 117 (Anmerkung 100). 45  John Barclay: Jews in the Mediterranean Diaspora. From Alexander to Trajan (323 BCE–117 CE), Edinburgh 1996, 92–98, unterscheidet zwischen assimilation (verstanden als soziale Integration), acculturation (bezogen auf Sprache, Erziehung und Weltanschauung) und accommodation (integrativer oder oppositionell-antagonistischer Gebrauch der erworbenen acculturation).

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nicht gebildet sind. Ihr »erbarmungswürdiger Zustand« trägt ihnen von Gottes Seite nicht Verachtung ein, sondern ein schichtspezifisches Verzeihen, das der Oberschicht verwehrt bleibt. Kommen wir zum Neuen Testament: Zur Frage, ob und in wie weit Jesus gebildet war, hat sich neuerdings Chris Keith in seinem Buch »Jesus Against the Scribal Elite: The Origins of the Conflict« von 2014 geäußert.46 Die Frage nach der Bildung Jesu wäre mit Keith so aufzulösen, dass Jesus sich als Ungebildeter in die Diskurse der Gebildeten eingemischt und dadurch ihr Missfallen erregt hat. Deutlich wird dies, so Keith, etwa in Mk 6,3: Als Ungebildeter maßt sich Jesus die Rolle eines Lehrers an und provoziert damit einen Konflikt mit dem gelehrten Stand. Auch hier geht Bildung mit Konfliktbereitschaft und Machtkritik einher. Solcherart Bildung eignet sich nicht nur deshalb nicht zur Identitätsbildung der Oberschicht (bzw. der oberen Mittelschicht oder des Bildungsbürgertums, oder wie immer im Blick auf unterschiedliche Epochen zu differenzieren und zu spezifizieren ist), weil Bildung hier nicht kompetitiv und exklusiv strukturiert ist, sondern konstruktiv und inklusiv, sondern auch deshalb nicht, weil ein Konzept von Bildung als schichtspezifischer Identity-Marker kritisch in Frage gestellt wird. Sollte das von Keith entworfene Bild etwas Richtiges treffen, können wir namentlich dem Matthäusevangelium eine kongeniale Zeichnung seines Jesusbildes bescheinigen. In der großen Pharisäerpolemik in Mt 23 richtet sich Jesus gegen eine Bildungselite, die die kleinen Leute mit ihrer restriktiven Tora-Auslegung knechtet und ihnen das Reich Gottes zuschließt, von dem sie selbst keinen blassen Schimmer haben. Bildung ist für diese Leute ein soziales Distinktionsmerkmal und ein Machtmittel. Sie legen den Leuten schwere Lasten auf und machen selber keinen Finger krumm. Solcherart Bildung bedarf strukturell immer der Ungebildeten, um sich ihrer selbst zu versichern. Sie beklagt immerzu den kulturellen Tiefstand in der Gesellschaft, und hat doch eigentlich kein Interesse an einer Änderung der Verhältnisse, denn wo blieben sonst die Leute, die zu einem hinaufschauen, und auf die es sich im Gegenzug so trefflich herabblicken lässt. Dass solche Polemik den historischen Pharisäern wohl einiges Unrecht tut, ist unbenommen. Ebenso unbenommen ist, dass man nicht einfach voraussetzen kann, dass die matthäische Gruppe dem von ihr propagierten Ideal ihrerseits gerecht geworden ist.47 Was indes verfängt, ist der sachliche Gegensatz zwischen der schweren Bürde und dem sanften Joch, zwischen einem Bildungshabitus, der andere 46

 Vgl. Chris Keith: Jesus Against the Scribal Elite. The Origins of the Conflict, Grand Rapids 2014. 47  Der unparteiische Blick wird dieses ebenso infrage stellen wie jenes. Zur Analyse des Konflikts der Matthäus-Gruppe(n) mit ihrer pharisäischen Konkurrenz vgl. jetzt Romeo Popa: Allgegenwärtiger Konflikt im Matthäusevangelium. Exegetische und sozialpsychologische Analyse der Konfliktgeschichte, Göttingen 2017.

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einschüchtert, und einem, der Neugier weckt, zwischen einer Pädagogik der Bestenselektion und einer Pädagogik, die das geknickte Rohr nicht abbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht.48 Es war insbesondere Paulus, der gegen ein Verständnis von Bildung als sozialem Distinktionsmerkmal mit aller Wucht des theologischen Arguments eingeschritten ist. Dies ist der Kerngedanke der paulinischen Kreuzestheologie, auch wenn dieser Gedanke unter einer langen Tradition lutherischer Paulusauslegung, die weder Luther noch Paulus gerecht wird, verschüttet liegt. In den kreuzestheologischen Grundtexten des 1. Korintherbriefes geht es nicht um Sünde, Gesetz, Glauben, Gnade und Rechtfertigung, sondern es geht schlicht darum, dass die Christusgläubigen aufhören sollen, sich untereinander auf Kosten anderer mit anderen zu vergleichen. Da Bildung – Paulus spricht im 1. Korintherbrief von »Weisheit« – sich gar zu gut eignet, sich auf Kosten anderer mit anderen zu vergleichen, sagt er ihr den Kampf an mit dem Argument, dass es doch die Gebildeten, Einflussreichen und Wohlgeborenen waren, die Jesus den Prozess gemacht und ihn ans Kreuz gebracht haben. In der Konsequenz und als Reaktion darauf habe Gott, so der paulinische Gedanke, die Ungebildeten und sozial Bedeutungslosen erwählt, um die zu beschämen, die so viel auf sich halten. An der Sozialstruktur der Jesusgemeinden sei dies, so Paulus weiter, direkt ablesbar: Nicht viele Weise haben sich dorthin verirrt, kaum jemand von Rang und Stand. Mögen die Leute außerhalb der Gemeinde angeben, was das Zeug hält, so kommt doch bei den Jesusanhängern alles darauf an, »dass sich kein Fleisch vor Gott rühmt« (1 48

 Ich füge an dieser Stelle ein, was bei Stefan Alkier: Die Zumutung der Schriftauslegung. Sola Scriptura als ihr Grund legendes hermeneutisches und methodisches Prinzip, in: Zeitschrift für Neues Testament 20 (2017), 39/40, 7–24, 16f., zum Verhältnis von Schriftprinzip und akademischer Exegese zu bedenken gegeben wird: »In heutiger Perspektive muss darüber diskutiert werden, ob sich die Professionalisierung der Schriftauslegung nicht an die Stelle des Klerus gesetzt hat und nun in strukturell vergleichbarer Weise als Ort der Wahrheitsfrage stilisiert wird und teils explizit, teils implizit beansprucht, nur wissenschaftliche, d.h. universitäre Bibelauslegung könne die Heilige Schrift ›richtig‹ verstehen. Meine These lautet, dass die Professionalisierung der Schriftauslegung den Zaun um die Bibel neu errichtet hat, den Luther mit seinem institutionenkritischen Ansatz von sola scriptura niederreißen wollte. Nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer und wohl noch mehr Lehrerinnen und Lehrer sind von der Fehleinschätzung betroffen, dass sie selbst gar nicht oder nicht ausreichend die Kompetenz zur Schriftauslegung haben, weil sie gar nicht oder nicht gut genug Griechisch und Hebräisch beherrschen, kaum Zeit finden, exegetische Fachliteratur zu lesen und nicht über die wissenschaftlich-methodischen Kompetenzen verfügen, die Bibel ›wissenschaftlich‹ auszulegen. Genau das aber ist das Gegenteil von sola scriptura. Wenn der nicht professionelle Bibelleser oder -hörer sich selbst abspricht oder es ihm von institutioneller Seite implizit oder sogar explizit abgesprochen wird, die Bibel mit dem ›Geist der Urteilsfähigkeit‹ verstehen zu können, wird die hermeneutische Grundauffassung von sola scriptura aufgegeben.«

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Kor 1,29), dass sich, so paraphrasiere ich diese Aussage, keiner auf Kosten anderer mit anderen vergleicht, sobald Gott ins Spiel kommt. Als letzte Station dieser zweiten Wegstrecke noch ein Wort zum Hebräerbrief. Der grundgebildete Verfasser ist darin ganz und gar ein hellenistischer Jude, dass er einen Begriff und eine Anschauung von sozialer Exklusion hat.49 Aus der Tatsache, dass Jesus außerhalb der Stadtmauern gestorben ist, entwickelt er einen Imperativ jesusgläubiger Selbstpositionierung: »Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen« (Hebr 13,12f.). Im Hebräerbrief ist es ausgerechnet die in 12,2 namhaft gemachte Schande des Kreuzes, die der Verfasser in 12,5ff. mit παιδεία in Zusammenhang bringt. Dieses Zauberwort sozialer Aufwärtsmobilität aus hellenistisch-römischer Zeit wird damit umcodiert in die Forderung sozialer Abwärtsorientierung, die die Jesusnachfolger in einem Bildungsprogramm ganz eigener Art allererst mühsam lernen müssen. Der Göttinger Alttestamentler Reinhard Gregor Kratz hat in der letzten seiner 2015 in Jena gehaltenen Tria-Corda-Vorlesungen wesentliche Teile der alttestamentlichen und antik-jüdischen Texte als »Literatur gebildeter Aussteiger« bezeichnet, eine Charakterisierung, die mir auch auf den Hebräerbrief zuzutreffen scheint. Angesichts dieses Befundes kann man schon fragen, warum es nicht erst seit Schleiermacher und auch nicht nur bis Schleiermacher in der Theologie einen solch hohen Stellenwert hat, sich bei den Gebildeten unter ihren Verächtern bemerkbar und möglichst auch verständlich zu machen. Christliche Bildung, die sich den Gebildeten beweisen will, hat sich ihrer christlichen Freiheit bereits entschlagen. Wie anders klingt da Mt 11,25–30, ein Passus, in dem es um die Weisen und die Klugen geht, und ums Lernen: »Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Bürde ist leicht« (Mt 11,25–30).

49

 Das Folgende nach Eckart Reinmuth: Der Dritte. Eine sozialphilosophische Perspektive auf den Hebräerbrief, in: Zeitschrift für Neues Testament 15 (2012), 57–68.

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Subjekt, Gegenstand und Adressaten von Bildung stehen in dieser Selbstbeschreibung Jesu als Lehrer in einem unauflöslichen Zusammenhang. Die Abgrenzung der Perikope ist in der Forschungsliteratur, soweit ich sehe, nicht strittig. Der Passus ist mithin als Sinneinheit zu lesen. Dann stellt sich zunächst die Frage, wie das in V. 25 angesprochene »Offenbaren« des Vaters (ἀπεκάλυψας), das »Offenbaren« des Sohnes (ἀποκαλύψαι, V. 27) und das »Lernen« von Jesus als dem sanftmütigen Lehrer (V. 29) zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Mein Vorschlag lautet bündig: Die Offenbarung des Vaters (als Subjekt der Offenbarung und als Inhalt der Offenbarung im Offenbaren des Sohnes) konkretisiert sich in der Lehre Jesu. Offenbarung hat die Gestalt von Lehre, und Lehre hat die Qualität von Offenbarung. Hierbei geht es nicht um die Unterscheidung »natürlich/übernatürlich«, sondern um die durch Jesus vermittelte Unmittelbarkeit zum Vater. Jesus handelt dabei als sanftmütiger Lehrer, der eine menschenfreundliche und lebensdienliche Lehre anbietet, das »sanfte Joch«, das heißt Lehre und Person sind von gleicher Art. Zweitens ist zu fragen, wie sich die »Unmündigen« als Adressaten der Offenbarung des Vaters (νήπιοι, V. 25 ) und die, die »mühselig und beladen sind« (κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι, V. 28), als Adressaten der Lehre Jesu zueinander verhalten. Zu beachten ist, dass nicht nur der Adressierung der ersten Gruppe die Exklusion einer anderen Gruppe korrespondiert (die »Weisen und Klugen«) und dass der Vater für beides gepriesen wird, sondern dass vielmehr auch dem Ruf Jesu an die in V. 28 Genannten eine Auswahl vorangeht: Den Vater zu »kennen« wird zuteil, »wem es der Sohn offenbaren will« (V. 27). Um wen es sich handelt, sagt V. 28: Es sind eben diejenigen, die »mühselig und beladen sind«, und die eingeladen werden, von Jesus zu lernen. Auch hier wird ein Bildungsprogramm in sozialer Abwärtsorientierung beschrieben, das in Übereinstimmung mit der paulinischen Kreuzestheologie bestimmte Adressatengruppen explizit ausgrenzt. Mt 11,25 (Exklusion der Weisen und Klugen) ist mit 1 Kor 1,26 (Exklusion der Weisen, Mächtigen und Vornehmen) ebenso sinn- und sachverwandt wie mit der sozialen Binnendifferenzierung zwischen Mächtigen und Geringsten in SapSal 6,6. Die vorangegangen Überlegungen verstehen sich in erster Linie als eine Anknüpfung an den Aufsatz von Schnelle, nicht als Gegendarstellung. Es geht mir nicht um eine Kritik seiner Sicht des frühen Christentums als Bildungsphänomen, die ich weitgehend teile, sondern um die Ergänzung weiterer (m.E. freilich entscheidend wichtiger) Aspekte zum Thema. An einigen Stellen möchte ich aber, ohne im vorliegenden Beitrag ausführlich auf Schnelles Argumente eingehen zu können, gleichwohl kritische Anfragen formulieren. Die erste betrifft den gleich zu Anfang geschlagenen Bogen von Nietzsche über Deissmann zur sozialgeschichtlichen Exegese.50 Zwar ist zutreffend, 50

 Vgl. Schnelle: Das frühe Christentum, 113f.

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dass alle drei die frühe Jesusbewegung in der bildungsfernen Unterschicht ansiedelten, aber doch mit dem gravierenden Unterschied, dass Nietzsche das Christentum dafür verachtete, die sozialgeschichtliche Exegese sich hingegen für diese gesellschaftliche Schicht interessiert und ihr in den neutestamentlichen Texten Stimme und Gestalt geben will. Insofern scheint mir hier ein klassischer Fall der »falschen Freunde« vorzuliegen. Zweitens extrahiert Schnelle den (m.E. ganz geläufigen) antiken Bildungsbegriff u.a. aus Quintilian (gest. 96 n. Chr.), Plutarch (gest. 125 n. Chr.) und Seneca (gest. 65 n. Chr.),51 das heißt aus Quellen, die eindeutig in die Kreise der griechisch-römischen Elite verweisen. Namentlich Seneca war nach heutigen Maßstäben Milliardär und repräsentierte eine gesellschaftliche Schicht, die keinem Brotberuf nachgehen musste.52 Wenn dieser Bildungsbegriff als Maßstab an die frühe Jesusbewegung angelegt wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man an der frühchristlichen Wirklichkeit zumindest teilweise vorbeiredet. Meine dritte Anfrage betrifft die Bemerkung, dass der Passus 1 Kor 1,26–31 »rhetorisch stilisiert« und deshalb – so verstehe ich Schnelle – nicht für den Nachweis geeignet ist, dass die frühe Jesusbewegung mehrheitlich ein Unterschichtphänomen war.53 Hierauf entgegne ich, dass der Passus, der »nicht viele Weise, Mächtige und Vornehme« zur korinthischen Gemeinde rechnet, die dortige sozialgeschichtliche Realität völlig zuverlässig abbildet, mit der Pointe, dass es durchaus einige wenige Personen von Rang und Stand in der korinthischen Gemeinde gab, dass damit aber die Herkunft der Mehrheit aus der Unterschicht nicht in Abrede gestellt ist.54 Eindeutig rhetorisch sti51

 Vgl. a.a.O., 116.  Judith Perkins: Verwehrtes Personsein, in: Zeitschrift für Neues Testament 17 (2014), 34, 25–36, 29, hat demgegenüber auf die Oberschichtaffinität der späten Stoa hingewiesen, die es erlaubte, gegenüber dem Leid der unteren Schichten gleichgültig zu sein: Wenn die wahre Glückseligkeit durch äußere Umstände nicht beeinträchtigt werden konnte, gab es auch keinen Anlass, sich unter Einsatz des eigenen Vermögens dem Elend der Masse anzunehmen. Die stoische »Behauptung, das Leben eines Bettlers sei kein Nachteil, solange der Betreffende seine Rolle gut spielt, schließt jedes Mitleid mit denjenigen, die in bitterer Armut leben, aus und behindert Versuche, die Situation der Armen zu verbessern. Denn es ist ja Sache der Anderen, ihr eigenes Elend dadurch zu bewältigen, dass sie es als Teil eines göttlichen Planes erkennen. Jedes Unterfangen, sich der Not anderer anzunehmen, wird dann gegenstandslos«. Zu antiken Verhältnissen der Erwerbsarbeit vgl. auch Koenraad Verboven/Christian Laes (Hrsg.): Work, Labour, and Professions in the Roman World, Leiden 2016. 53  Vgl. Schnelle: Das frühe Christentum, 115. 54  Hier scheint mir Gerd Theißen: Soziale Schichtung der korinthischen Gemeinde, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 65 (1974), 232–272, 232, nach wie vor das Richtige zu sehen: »Einigen tonangebenden Gemeindegliedern aus der Oberschicht steht die große Zahl von Christen aus den unteren Schichten gegenüber«. Zur Sache vgl. neuerdings auch Alexander Weiß: Soziale Elite und Christentum: Studien zu ordo-Angehörigen unter den frühen Christen, Berlin 2015. 52

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lisiert ist dagegen m.E. als Viertes dies: »Wenn ihr euch heute satt gegessen habt, sitzt ihr und weint wegen des morgigen Tages, woher ihr zu essen bekommen sollt«55. Epiktet (gest. 138 n. Chr.) ruft hier in einer typisierenden Anrede, von der nicht kurzerhand auf die realen Adressaten seiner Lehrvorträge geschlossen werden kann, den gedachten Fall unmittelbarer Nahrungsknappheit auf. Die Stelle beweist keinesfalls, dass »zu den Studenten Epiktets hauptsächlich Mittellose«56 gehörten, mithin ist sie auch nicht geeignet, die pauschale These zu stützen, dass »Bildung im 1. Jh. n.Chr. nicht an Schichtenzuhörigkeit gebunden«57 war. Faktisch war das zu allen Zeiten so, und die Vorstellung, dass antike Menschen, die ständig von Hunger bedroht waren, philosophischen Unterricht genossen, scheint mir doch die antiken Verhältnisse sehr zu verfehlen. Ein Fragezeichen setze ich fünftens und letztens hinter die Verbuchung von Mehrsprachigkeit als Bildungsphänomen,58 und ich erlaube mir, hierzu ein aus der heutigen Zeit gegriffenes, m.E. aber gleichwohl geeignetes Beispiel anzuführen: Türkische Hauptschüler in Berlin oder Bochum, die in der Schule fließend Deutsch und zuhause fließend Türkisch sprechen, sind zwar mehrsprachig, damit jedoch noch lange nicht gebildet, sondern von realistischen Bildungschancen, wie neuere Studien wieder bestätigt haben, faktisch ausgeschlossen. Das Beispiel ist deshalb geeignet, weil es für den antiken Kontext nichts beweisen, wohl aber die Forderung unterstreichen soll, die antiken Kontexte sozialgeschichtlich differenzierter zu behandeln, als dies bei Schnelle der Fall ist.59 Fraglos gibt der aufmerksame Blick auf neutestamentliche Texte die Sicht frei auf eine frühchristliche Situation, die bei weitem nicht nur von Illiteralität und bitterer Armut geprägt war. So konnte etwa Paulus in der korinthischen Gemeinde Geld für Jerusalem sammeln, und die Szenerie in Jak 2,1–9 gibt bei aller gebotenen Vorsicht doch einen Eindruck davon, dass die Gruppen der frühen Christusverehrer auch bei Angehörigen der höheren Schichten auf Interesse stoßen konnten – um nur zwei von zahlreichen Indizien zu nennen. Schließlich impliziert auch die Rede von der sozialen Abwärtsorientierung, dass die frühe Jesusbewegung schon des 1. Jahrhunderts ein sozial heterogenes Gebilde war, denn Abwärtsorientierung kann jedenfalls nicht von denen gefordert werden, die bereits ganz unten sind. Aber Jak 2,1–9 – ausgerechnet der Jakobusbrief kommt an dieser Stelle in nächster Nähe zur paulinischen Kreuzestheologie zu stehen – zeigt doch auch: Gerade der of55

 Epiktet, Diss. 1,9,19.  Schnelle: Das frühe Christentum, 119. 57  Ebd. 58  Vgl. a.a.O., 120. 59  Möglicherweise trägt hierzu der Begriff der popular culture bei, vgl. dazu jetzt das Sammelwerk von Lucy Grig (Hrsg.): Popular Culture in the Ancient World, Cambridge 2017. 56

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fensichtlich gebildete Verfasser des Briefes ruft am Beispiel des Reichen und des Armen, die in den Gottesdienst kommen, dazu auf, die Erwählung der Armen durch Gott zum Maßstab des eigenen Sozialverhaltens zu machen, nicht ohne in 2,6b.7 harte Worte wider »die Reichen« zu verlieren, und dies ebenso pauschal, wie 1 Kor 1 über »die Weisen«, Mt 11 über »die Klugen« und SapSal 6 über »die Mächtigen« urteilt.60 »Die Geringen« aus Röm 12,16, zu denen man sich »mit hinwegziehen« (συναπάγω) lassen soll,61 sind ebenso zu ergänzen, wie »die Kinder«, deren Kindsein in Mk 10,13–16 zur Nachahmung empfohlen wird, die aber zunächst und vor allem als gerade von den Jüngern ausgegrenzte soziale Gruppe präsent sind. Wenn mit allem sachlichen Recht von frühchristlicher Bildung die Rede ist, dann sollte schließlich die paulinische Unterscheidung von »Erkenntnis, die aufbläht«, und »Liebe, die aufbaut« (1 Kor 8,1), als genuiner frühchristlicher Beitrag zum Thema mit gehört werden und nicht nur als Fußnote in die Darstellung einfließen.62 Ich schließe mit zwei poetischen Texten, einer von Jan-Philipp Zymny, den er auf einem Poetry Slam vorgetragen hat, und einem Gedicht von Hans-

60

 Lutherische Normaltheologie, die auch in der Exegese nach wie vor einiges mitredet, und die reflexartig immer nur unterschiedlos von »dem Menschen« als »dem Sünder vor Gott« redet, der unterschiedslos »durch den Glauben gerechtfertigt« wird, kann mit diesen begrifflichen Oppositionen und der damit einhergehenden gruppenspezifischen Exklusion und Inklusion nichts anfangen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sie schlicht zu überlesen oder aber in ein rechtfertigungstheologisches Prokrustesbett zu zwingen. In diesem Fall werden »Reichtum« und »Armut« regelmäßig individualistisch zu je eigenen Geisteshaltungen, die man »vor Gott« einnehmen bzw. nicht einnehmen soll. Der Gegenvorschlag besteht darin, die in den Texten zugegebenermaßen so plakativ wie realitätsfern gegeneinander gestellten Gruppen »der Reichen« und »der Armen« unter Berücksichtigung der erklärten theologischen Parteilichkeit als Idealtypen des eigenen Sozialverhaltens zu lesen, die die eigenen Sozialbeziehungen entsprechend der frühchristlichen Alternative sozialer Aufwärtsmobilität versus sozialer Abwärtsorientierung regulieren. 61  Die Basis-Bibel übersetzt m.E. passend: »Lasst euch auf die Unbedeutenden ein.« 62  An dieser Stelle sei der Nebengedanke gestattet, dass man das lutherische Schriftprinzip auch als Ermächtigung zur Kritik spätmittelalterlicher Expertenkulturen lesen kann, vgl. Manuel Vogel: Sola Scriptura als kritisches Prinzip – Fünf Thesen, in: Zeitschrift für Neues Testament 20 (2017), 39/40, 249–254, 252f.: »Das reformatorische sola scriptura untersteht sich, eine Instanz gegen die Tradition aufzubieten und damit die Autorität ihrer Sachwalter herauszufordern. Die Machthaber der normativen Traditionsbestände werden damit auf eine übergeordnete Größe verpflichtet, die der Interpretation auch der Nichteliten und Nichtexperten zugänglich ist. Der Satz ›Beweise mir aus der Bibel, die auch ich lese und interpretiere, dass du im Recht bist‹, stellt eine radikale Infragestellung der Autoritätsansprüche der Machthaber und elitären Sachwalter der Tradition dar. Expertenmilieus werden auskunftspflichtig gegenüber den Nichtexperten, mit welchen Zielen und aufgrund welcher Legitimation sie warum woran arbeiten.«

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Ulrich Treichel. Bei Zymny geht es darum, dass Erkenntnis dazu gut ist, einander zu stützen, und bei Treichel geht es um die Kinder. »Ich denke: […] [W]ir sind doch alle Menschen, wir sind doch alle grundlegend in derselben Situation. Wir müssen uns doch gegenseitig helfen. Ohne ein Handbuch sind wir geworfen auf einen von einer Fantastilliarde Planeten, der sich mit 1.670 Kilometern pro Stunde um sich selbst dreht, und mit 107.000 Kilometern pro Stunde um die Sonne, die dann wiederum mit 24.000 Kilometern pro Stunde um das galaktische Zentrum rast. Im Angesicht dessen wird uns schwindelig, also stützen wir uns. Der bloße Fakt unserer Existenz ist so unglaublich, so unbegreiflich, dass wir es selbst nach zehntausend Jahren kollektivem Nachdenken immer noch nicht begreifen können, und alles, was wir entdecken oder uns dazu ausdenken, so clever es auch sein mag, macht diesen Umstand immer nur noch komplizierter. Im Angesicht dessen wird uns schwindelig, also stützen wir uns. Wir haben alle Schwierigkeiten mit unseren Gefühlen, mit anderen Gefühlen, mit uns, mit Anderen, mit der Zeit, der Welt, ja, im Angesicht dessen wird uns schwindelig, also stützen wir uns.«63

Dass Erkenntnis eher dazu angetan ist, demütig zu machen als selbstgewiss, und dass sie dazu taugt, einander zu stützen, liest sich wie eine Paraphrase der oben zitierten paulinischen Unterscheidung aus 1 Kor 8,1. Der Text ist auch deshalb wertvoll, weil er den Gedanken »[W]ir sind doch alle Menschen, wir sind doch alle grundlegend in derselben Situation«, den er in einen kosmologischen Horizont stellt, aufbietet gegen den neuen Nationalismus und den vielen damit verbundenen Hass. Und zuletzt das Gedicht »Fotoalbum« von Hans-Ulrich Treichel. Ich denke mir, ich müsste eigentlich jede meiner Lehrveranstaltungen mit einem Gedicht beginnen, einfach, damit ich etwas tue gegen die Verkrustungen meiner eigenen Fachsprache. Sprache darf nicht verkrusten, wenn von Gott die Rede ist. In dem Gedicht geht es, wie gesagt, um Kinder. Ausgerechnet bei den Kindern haben die Jünger, wie wir aus dem Evangelium wissen, schmählich versagt. Die Warnung Jesu ist deutlich: Es genügt noch nicht einmal, den Kindern gerecht zu werden, sondern man muss ja auch selbst werden wie ein Kind, sonst wird das nichts mit dem Reich Gottes.

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 Der Text ist auf der Plattform »Youtube« durch die Suchworte »Zymny, ich bin müde« auffindbar, vgl. online: www.youtube.com/watch?v=FxZs4qX4ZlE (15. Oktober 2017). Der zitierte Ausschnitt findet sich ab Minute 6:08.

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»Fotoalbum Das Kind auf der Schaukel, der Knabe im Anzug, der Idiot mit Hautproblemen, Entwicklung nennt das die Psychologie, im Hintergrund ein Herr mit Dame, sie im viel zu grauen Mantel, er wie immer hart am Bildrand, keine Ahnung von Harmonik, eisenharter Rechtsausleger, ich könnte mich in den leuchtendsten Einzelheiten verlieren, ich könnte mich spielend zum Weinen verführen, einen Kartoffelsalat wie diesen kriege ich so schnell nicht wieder, jawohl, das sind die wahren Katastrophen, wenn die Wäsche tropft, wenn der Eintopf dampft, wenn die Lust sich rührt, erzählt mir bloß nicht, ihr habt nichts gespürt, schaut euch ins Herz, fürchtet eure Kinder: irgendwann waren wir alle mal Menschen, Gnade uns Gott.«64

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 Hans-Ulrich Treichel: Fotoalbum, in: Hans-Ulrich Treichel: Seit Tagen kein Wunder. Gedichte, Frankfurt am Main 1990, 13.

Teil 2: Empirische Perspektiven

»Ein pädagogisches Konzept zur christlichen Orientierung«?1 Einige Überlegungen zu einer Wahlverwandtschaft von religiöser Konzeption und pädagogischer Konzeption nach Montessori im christlichen Kinderhaus Dorothy Bonchino-Demmler

Betrachtet man den Lebensweg Maria Montessoris (1870–1952), so gerät die Verbindung von Naturwissenschaft und pädagogischer Anthropologie in den Blick. Montessori steht in der Tradition von anderen sog. Arztpädagogen. Sie ist im Positivismus ihrer Zeit verwurzelt und in einem Wissenschaftsoptimismus, der sich eine Lösung der grundlegenden Probleme der Menschheit durch eine Erfahrungswissenschaft erhofft.2 Die Grundgedanken ihrer eigenen pädagogischen Theorie gründen auf Überlegungen zu einer »physischen, psychischen, sozialen und politischen Hygiene«3. Montessori ist Kind ihrer Zeit, insofern sie verschiedene geistige Strömungen aufnimmt und neu ausbuchstabiert.4 Das Problem der Aktualität der Ideen Montessoris wird in diesem Beitrag weder anhand ihrer Lebensgeschichte noch ihres Werkes grundlegend beantwortet werden. Vielmehr wird den Verflechtungen von religiöser Konzeption und pädagogischer Konzeption nach Montessori in christlichen Kinderhäusern, die seit Beginn der 1990er Jahre in den neuen Bundesländern neugestaltet bzw. gegründet wurden, nachgegangen. Dabei liegt den Überle1

  Ohne die Bereitschaft der Kinderhausleitungen, sich an den im Folgenden ausgewerteten Interviews zu beteiligen, wäre diese kleine Studie nicht möglich gewesen. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich für die Einblicke in ihre Gedanken und Erfahrungen gedankt. Wo nicht anders ausgewiesen, stammen die entsprechenden Zitate im Text aus den geführten Interviews. 2   Vgl. Winfried Böhm: Maria Montessori. Einführung mit zentralen Texten, Paderborn/München/Wien/Zürich 2010, 29. 3   A.a.O., 31. 4   Beispielsweise sind hier der Neovitalismus, der Evolutionismus und die Psychoanalyse zu nennen, vgl. Stefano Poggi/Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit: Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert, München 1989.

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gungen eine qualitativ-rekonstruktive Untersuchung mit Interviews mit narrativem Fokus zugrunde, die 2017 von der Verfasserin durchgeführt wurde. Dabei sind etwa folgende Fragen wegweisend gewesen: Welche Gedanken der Montessori-Pädagogik werden vordergründig rezipiert? Wie werden religiöse Konzeption und pädagogische Konzeption nach Montessori miteinander verbunden? Worauf beruht die Zusammenstellung beider Konzeptionen? Wie ist sie zustande gekommen? Gibt es eine Trennschärfe zwischen den unterschiedlichen Ansätzen? Kann man in diesem Zusammenhang von einer Wahlverwandtschaft5 sprechen? Wie wird diese Verschränkung in der Praxis mit Leben gefüllt?6

1. Pädagogik nach Montessori   – Konstellationen In Gegenbewegung zu heroisierenden Tendenzen der bisherigen Biografieschreibung zu Maria Montessori liegen seit einigen Jahren Untersuchungen vor, in denen auf der Grundlage neu erschlossener archivalischer Quellen die Hintergründe der Entstehung der ersten Kinderhäuser betrachtet werden, in denen wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen nachgespürt wird, die der Entstehung der »Methode« Montessoris vorausgehen, und in denen das Netz von Beziehungen um ihre Person erhellt wird.7 Diese und ähnliche Arbeiten wurden u.a. ermöglicht durch die Herausgabe einer kritischen Edition des Hauptwerkes von Montessori »Il metodo della pedagogia scientifica applicato all’educazione infantile nelle Case dei 5

  Zum Begriff der Wahlverwandtschaft vgl. Jeremy Adler: »Eine fast magische Anziehungskraft«. Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und die Chemie seiner Zeit, München 1987; auch Georg Schwedt: Chemie und Literatur – ein ungewöhnlicher Flirt, Weinheim 2009, 55–67. 6   Für diese Vorstudie wurde ein »Metaleitfaden« erarbeitet, der einerseits Hypothesen in eine thematische Reihung brachte, andererseits auch dem Anspruch gerecht zu werden suchte, eine selbstläufige Darstellung zu erheben, vgl. Aglaja Przyborski/Monika Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 42014, 126f. Es handelt sich im Weiteren um ein vielfach texthermeneutisches Verfahren. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen kann hier nur ein kleiner Ausschnitt vorgestellt werden. Hiervon zeugen schon allein die umfassenden Bibliographien, die in den letzten Jahren vorgelegt wurden, vgl. Winfried Böhm: Maria-Montessori-Bibliographie 1896–1996. Internationale Bibliographie der Schriften und der Forschungsliteratur, Bad Heilbrunn 1999; Clara Tornar: Montessori. Bibliografia Internazionale 1896–2000. Edizione Opera Nazionale Montessori, Rom 2001; spezifisch für die religiöse Erziehung Harald Ludwig: Literatur- und Forschungsbericht zum Thema ›Religiöse Erziehung und Montessori-Pädagogik‹, in: Montessori. Zeitschrift für Montessori-Pädagogik 46 (2008), 277–299. 7   Vgl. Renato Foschi: Maria Montessori, Rom 2012; Paola Trabalzini: Maria Montessori. Da »Il Metodo« a »La scoperta del bambino«, Rom 2003.

»Ein pädagogisches Konzept zur christlichen Orientierung«? 183

Bambini«.8 Im Sinne der Methode der Konstellationsforschung, »in der Theorieentwicklungen und kreative Impulse untersucht werden, die aus dem Zusammenwirken von unterschiedlichen Denkern in einem gemeinsamen ›Denkraum‹ entstehen«9, und die in den vergangenen Jahren weite Verbreitung in den historischen Wissenschaften gefunden hat, wird dort den sozialen und politischen Zusammenhängen eine größere Bedeutung zugemessen, als dies in früheren Untersuchungen geschehen ist. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf dieser Basis auf die Hintergründe der Entstehung der ersten Kinderhäuser in Italien. Auf diese Weise soll der historische Ort der Entwicklung der Montessori-Pädagogik kurz in den Blick genommen werden.10 Montessori konnte am 6. Januar 1907 im Stadtviertel San Lorenzo in Rom das erste Kinderhaus (Casa dei Bambini) einweihen.11 Die Verstädterung dieses ländlichen Stadtviertels fuori le mura, also außerhalb der Aurelianischen Mauern, datiert auf das Ende des 19. Jahrhunderts, als Rom nach der Einigung Italiens 1871 als Hauptstadt großes Bevölkerungswachstum erfuhr und ehemals agrarische Gebiete erschlossen und insbesondere Arbeiter, Handwerker, Eisenbahner, Dienstpersonal, Arbeitslose, Bettler, mithin soziale Außenseiter dort ansässig wurden. Es gab dort kein Kanalisationsnetz, kein

8

  Vgl. Maria Montessori: Il metodo della pedagogia scientifica applicato all’educazione infantile nelle case dei bambini. Edizione critica, Rom 2000. Eine kritische Edition der deutschen Fassung – seit 1913 lagen unterschiedliche Übersetzungen und Auflagen vor – steht zur Verfügung mit Maria Montessori: Die Entdeckung des Kindes, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2010. Bisher sind neun Bände mit Texten Montessoris in der kritischen Ausgabe erschienen, vgl. Maria Montessori: Gesammelte Werke, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2010ff. 9   Martin Mulsow/Marcelo Stamm: Vorwort, in: Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hrsg.): Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005, 7–12, 7f. (mit Verweis auf Dieter Henrich). 10   Bekanntlich ist die historische Kontextualisierung der Pädagogik Montessoris ein Desiderat; so bemerkt etwa Christine Hofer zur heutigen Adaption der Montessori-Pädagogik kritisch: »Eine Erziehungspraxis hat anscheinend keine Geschichte, sie ist immer und überall gleich, sogar über Jahrhunderte hinweg« (Christine Hofer: Die pädagogische Anthropologie Maria Montessoris oder: Die Erziehung zum »Mittelmaß«, in: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 1, 2001, 3–10, 4). 11   Der Name »Kinderhaus« bzw. »Casa dei Bambini« hat sich als übliche Bezeichnung für Kindertageseinrichtungen mit Montessori-Pädagogik durchgesetzt. Er ist offenbar auf die radikale Feministin und Journalistin Olga Ossani zurückzuführen, die wie Maria Montessori 1899 zur Teilnahme am Internationalen Frauenkongress in London delegiert war, vgl. Ferdinando Cordova: Caro Olgogigi: lettere ad Olga e Luigi Lodi: dalla Roma bizantina all’Italia fascista (1881–1933), Mailand 1999, 390; auch Maria Montessori: Il metodo della pedagogia scientifica applicato all’educazione infantile nelle Case dei Bambini, Rom 1913, 34.

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Wasser, nur »einfache Behausungen für die unterbezahlte und oft arbeits. lose Arbeiterklasse«12. Die politische Führung setzte auf eine Allianz, die Demokraten, katholische wie laizistische, sozialistische wie liberale Kräfte zusammenbrachte, und die die Volksbildung und die öffentliche Schule als Schwungrad von Modernisierung, von sozialer und ökonomischer Entwicklung voranzubringen trachtete. Auf kommunaler Ebene war es Ernesto Nathan (1845–1921), der als Anführer einer linken Blockpartei, die Radikale, Republikaner und Sozialdemokraten vereinte, von 1907–1913 Bürgermeister von Rom war und sich für die Gründung von kommunalen Kindertageseinrichtungen und Schulen einsetzte. In das Netzwerk um Nathan war durch zahlreiche Kontakte auch Montessori eingebunden. U.a. gehörte dazu auch Edoardo Talamo (1858– 1916), der als Ingenieur und Direktor der römischen Wohnungsbaugesellschaft »Istituto Romano di Beni Stabili« (IRBS) mit Montessori das Anliegen teilte, die sozialen Probleme in diesem von Armut und (Jugend-)Kriminalität gezeichneten Viertel anzugehen. Sozialer Wohnungsbau umfasste die Einrichtung von Gärten, öffentlichen Bädern, Waschräumen, medizinischen Ambulatorien, Kindereinrichtungen, Schulen und Bibliotheken. In den Jahren, die der Gründung der ersten Kinderhäuser vorausgingen, hatte sich Montessori mit experimenteller Methodik in den Humanwissenschaften befasst und war als Dozentin für Anthropologie zunächst an einer Pädagogischen Hochschule für Frauen, später dann an der Universität Rom tätig.13 Ihr beruflicher Weg war davon geprägt, dass sie zur Wortführerin verschiedener italienischer Frauenvereinigungen wurde und namentlich eine Art Beraterin in Fragen der psychosozialen Politik dieser Frauenbewegungen, so dass sie in viele nationale und internationale Initiativen eingebunden war (Gründung von Frauenvereinigungen, Teilnahme an Kongressen, Veröffentlichungen in feministischen Periodika und öffentlichen Flugblättern).14 So hatte sie etwa im Laufe des Jahres 1906 in der Zeitschrift »La Vita« eine 12

 Paola Trabalzini: Il quartiere die San Lorenzo e le »Case dei Bambini«, in: Leonardo De Sanctis (Hrsg.): Le ricette di Maria Montessori cent’anni dopo. Alimentazione infantile a casa e a scuola, Rom 22012, 25–30, 25 (als Zitat von Mario Sanfilippo, eigene Übersetzung). 13  Vgl. Foschi: Maria Montessori, 46. 14  Vgl. a.a.O., 29 und 43. Für Ausführungen zur Rolle von Maria Montessori in der feministischen Bewegung bzw. bei der Etablierung der Schulbildung für Mädchen und der pädagogischen Berufe in Italien als Tätigkeitsbereich von Frauen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. insbesondere Valeria P. Babini/Luisa Lama: Una donna nuova. Il femminismo scientifico di Maria Montessori, Mailand 2000. In den »Gesammelten Werken« (s. Anmerkung 8) umfasst Kapitel 2 des dritten Bandes Vorträge und Zeitschriftenpublikationen »Zur Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft«, vgl. Maria Montessori: Erziehung und Gesellschaft. Kleine Schriften aus den Jahren 1897–1917, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2011, 92–208.

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Auseinandersetzung über die Reform des Jugendstrafrechts initiiert, in der sie sich um die Berücksichtigung biographischer und anthropologischer Voraussetzungen in der Beurteilung des psychophysischen Entwicklungsstandes straffälliger Jugendlicher bemühte.15 Dass sie von Talamo um die Leitung der Kinderhäuser in den Häusern der städtischen Wohnungsbaugesellschaft angefragt wurde, verdankte sich wohl auch dem Umstand, dass der anthropologische Ansatz Montessoris nicht bei der Betreuung und Unterweisung der Kinder endete, sondern auf eine Verbesserung der hygienischen Bedingungen und des Lebens aller Bewohner abzielte. 1908 aber bereits zeichnet sich ein Konflikt zwischen Talamo und Montessori ab, so dass sich beider Wege 1909 trennen. Beide gründen weiterhin Kinderhäuser, so dass dieser Begriff zu einem allgemeinen Synonym für moderne, avantgardistische Bildungsorte für Kinder wird. Während Montessori daran interessiert war, eine innovative pädagogische Methode voranzubringen, die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Anerkennung findet, war Talamo dabei mehr an hygienischen Zielen interessiert und den Interessen des Bauingenieurswesens und der unterschiedlichen Anteilseigner verpflichtet.16 Für Montessori folgte eine Phase, in der die Gründung von weiteren Kinderhäusern in besonderer Weise im Rahmen der katholischen Vorschulbildung stattfand, und in der etwa das Kinderhaus in der Via Giusti in Rom mit den Schwestern der Marien-Franziskaner-Missionarinnen gegründet wurde (1910), wo dann ab 1913 auch die ersten entsprechenden Kurse gehalten wurden.17 Montessori setzte diese Zusammenarbeit um 1915 in Barcelona fort. Winfried Böhm hat darauf hingewiesen, dass Montessori wohl weniger als »eine Kinder liebende ›geniale Praktikerin‹«18 zu sehen sei, als vielmehr eine »durch das harte Studium der Naturwissenschaften und der Medizin disziplinierte wissenschaftliche Forscherin und [...] gelehrte Universitätsprofessorin«, die ihr Leben »am Schreibtisch und an Rednerpulten verbracht hat und nicht im praktischen Umgang mit Kindern«19. Betrachtet man die Publikationen Montessoris in den Jahren, die der Kinderhaus-Gründung 15

 Vgl. Foschi: Maria Montessori, 48, und das Kapitel 3 »Kinder in Not – Zu sozialen Problemen von Erziehung und Bildung« in: Maria Montessori: Erziehung und Gesellschaft. Kleine Schriften aus den Jahren 1897–1917, Freiburg im Breisgau/Basel/ Wien 2011, 209–328. 16  Dieser Konflikt spitzte sich offenbar so weit zu, dass es Maria Montessori verboten war, einen Fuß in die Kinderhäuser des IRBS zu setzen, vgl. Foschi: Maria Montessori, 59. 17  Vgl. Foschi: Maria Montessori, 62ff. 18  Böhm: Maria Montessori, 12. 19  A.a.O., 15.

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vorausgehen, so wird deutlich, dass ihre Methode »einem außerordentlich gründlichen Studium der zeitgenössischen wissenschaftlichen Lehrmeinungen [entsprungen ist] und auf einer ebenso soliden eigenen natur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsleistung beruht.«20 Beachtlich für diese Zeit und für Italien war Montessoris Unternehmergeist: Mit Geschick bewegt sie sich in der italienischen Gesellschaft und versucht eine zukunftsweisende Dienstleistung anzubieten, mit der sie einer potentiellen Nachfrage entsprechen kann. Ab 1913 bietet die Montessori-Bewegung private Weiterbildungskurse für Pädagogen an, entwickelt und vermarktet maßgenaue Möbel und Lehrmaterialien.21 Ein gläsernes Klassenzimmer wird eingerichtet, so dass die »Methode« Besuchern demonstriert und Kinder ohne Störung bei der Arbeit beobachtet werden können. Auf verschiedenen Reisen durch Europa und auch in die Vereinigten Staaten hält Montessori Konferenzen, zeigt Lehrfilme und wirbt für ihren Ansatz – sie trifft damit zwar auch auf Kritik, kann aber insbesondere in den USA in der Verbreitung ihrer »Methode« erhebliche Fortschritte machen.

2. Beobachtungen auf Grundlage der in den christlichen Kinderhäusern geführten Interviews Im Folgenden widmet sich der vorliegende Beitrag den Überlegungen von Praktikerinnen, die die konzeptionelle Entwicklung ihrer Einrichtungen als christliche Kinderhäuser mit Montessori-Konzeption verantworten. Der hier gewählte Ansatz stützt sich auf Methoden der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung und die Interpretation von Datenmaterial aus Experteninterviews mit Leitungskräften christlicher Montessori-Kinderhäuser, die 2017 im Sinne einer Vorstudie entstanden sind. Die Kindertageseinrichtungen wurden nach Kontrastkriterien ausgewählt: Im Sample vertreten sind eine evangelische und eine katholische Einrichtung in Trägerschaft von Kirchgemeinden und eine weitere (evangelische) Einrichtung in Trägerschaft der Diakonie; diese drei Einrichtungen befinden sich im Bundesland Sachsen. Da es nicht möglich ist, die Ergebnisse in extenso darzustellen, werden hier nur einzelne ausgewählte Beobachtungen vorgestellt.

20

 A.a.O., 30.  Vgl. Foschi: Maria Montessori, 75f.

21

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2.1  »Und wir haben bei der Montessori-Pädagogik    einfach diese Parallelen gesehen beziehungsweise    keinen Widerspruch« – Kinderhaus A Die konzeptionelle Gestaltung wie die Geschichte der christlichen Kinderhäuser werden von den Befragten in einem engen Zusammenhang mit den Transformationen des Bildungswesens in den neuen Bundesländern gesehen. Die neue Konzeptualisierung, transparent und offen, wird in Kontrast gesetzt zu zentralen direktiven Vorgaben vor 1990, deren Abschaffung eine gewisse Orientierungslosigkeit gefolgt sei: »Es fiel ja erst mal alles ab. Wir haben gesagt, jetzt machen wir gar nichts mehr. Wir brauchen das nicht mehr tun. Ist sicherlich auch eine Phase, die auch ganz gut ist, um sich wieder neu zu besinnen und zu sagen, wir wollen etwas und wir entwickeln etwas Neues.«

Im Fall der Neugründung des Kinderhauses A Anfang der 2000er werden die politischen Verhandlungen mit der Kommune, mit den Jugendämtern zu einer jahrelangen »kleinen Odyssee«, der die konzeptionelle Grundlagenarbeit einer von der derzeitigen Leiterin initiierten bzw. fortgeführten Arbeitsgruppe, bestehend aus dem Ortspfarrer, engagierten Eltern und Interessenten, vorausgeht. Auf kommunaler Ebene ist man der Meinung, am Ort brauche man keine »kirchlichen Kindergärten«, doch die Initiatoren sehen das anders: »[Unsere Stadt] ist noch sehr grau, also da gibt es noch nicht so wirklich, ja, andere Konzepte« – also sieht man das Potential, den Bedarf und das öffentliche Interesse für ein konfessionelles Kinderhaus. Nach einigem Beharren weist der Stadtrat eine kommunale Einrichtung aus, deren Räumlichkeiten und Personal übernommen werden könnten. Eine solche Überleitung ist zwar gesetzlich geregelt, hier scheitert sie aber am »massiven Widerstand« des Personals. Die Verhandlungen kommen erneut ins Stocken, der zunehmende Bedarf an Kindergartenplätzen bewirkt aber endlich ein Umlenken der Stadtverwaltung, so dass leere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, deren Grundsanierung und räumliche Umgestaltung bereits in enger Abstimmung mit dem Träger erfolgen können. Auf diese Weise können auch konzeptionelle, pädagogische Aspekte Eingang in die bauliche Umsetzung finden: Es ist erforderlich, »Wände [herauszunehmen]« und etwas gegen »viele, viele [abgeschlossene] Türen« zu unternehmen. Die Trägerschaft übernimmt die örtliche Kirchengemeinde, die Personaleinstellungen erfolgen in eigener Regie, für die baulichen und finanziellen Rahmenbedingungen steht die Kommune ein. In den Verhandlungen mit den Jugendämtern erweist sich die Fachberatung des Diakonie-Landesverbandes als gute Unterstützung.

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2.1.1 »Okay, wir brauchen das pädagogische Konzept    zu der christlichen Orientierung« Christliche und pädagogische Konzeption nach Montessori lassen sich, so die befragte Leiterin, »eigentlich nicht trennen«: Die Rahmenvorgaben wie Raum- und Materialstruktur, Gruppenstruktur und insbesondere die Anforderung an die Pädagogen werden an der Pädagogik Montessoris orientiert. Eine Schlüsselrolle und zugleich auch Schwierigkeit kommt dabei der Befähigung der pädagogischen Fachkräfte zu. Während die Kirchenzugehörigkeit vorausgesetzt wird (in Form der Mitgliedschaft bei einer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche), so sind die Anforderungen hier von unterschiedlichen Bedarfen her bestimmt: Da die Einrichtung auch integrativ arbeitet, werden Mitarbeiterinnen benötigt, die eine heilpädagogische Ausbildung mitbringen, weiterhin legt einerseits die christliche Trägerschaft die Anstellung von Fachkräften mit einer religionspädagogischen Qualifizierung (etwa einer Kinderdiakonenausbildung) nahe, andererseits verlangt die pädagogische Konzeption wiederum die Anstellung von Fachkräften, die sich mit der Montessori-Pädagogik vertraut gemacht und in einem zweijährigen Lehrgang das Montessori-Diplom erworben haben. So ist eine Situation entstanden, in der konzeptioneller Ansatz, grundsätzliche Aussagen und Vorgehensweise von der Mitarbeiterschaft getragen werden, viele der pädagogischen Fachkräfte aber den Mehraufwand der Montessori-Qualifizierung scheuen und arbeitsrechtliche Druckmittel weder vorhanden sind noch adäquat erscheinen. Die Gruppe der pädagogischen Fachkräfte, die im Gefüge des christlichen Kinderhauses »beides verkörpert«, das heißt mit »Herzblut« Montessori-Pädagogen und zugleich »von ihrem Glauben her so fest verankert« sind, ist eine kleine. Die konzeptionelle Arbeit nach Montessori erfährt in dieser Konstellation immer wieder Verunsicherung und bedarf der aktiven Auseinandersetzung und Vergewisserung. 2.1.2 »Dem Kind dienen« Das Mandat, als Pädagoge »dem Kind zu dienen«, wird als Anknüpfungspunkt zwischen religiöser und pädagogischer Konzeption genannt. Die Rolle des Pädagogen wird dabei in unmittelbaren Zusammenhang zu Aussagen zur Selbsttätigkeit des Kindes, die Montessori in dem an sie gewandten Satz eines Mädchens »Hilf mir, es selbst zu tun« (»Aiutami a fare da solo«), eingefangen hat, gebracht. Damit werden anthropologische Annahmen über das Kind in Handlungsempfehlungen für die pädagogischen Fachkräfte übersetzt. Trotz der Zurücknahme ihres unmittelbaren Einwirkens ist die Fachkraft konstitutiver Bestandteil der pädagogischen Situation: Im Zusammenwirken mit dem »Raum als zweitem Erzieher« hat die Pädagogin im Hintergrund zu agieren,

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als »Waiter« oder wie die Befragte mit Montessori sagt, in der Position Johannes des Täufers: »Ich muss abnehmen und er muss wachsen.« Sie setzt an dieser Stelle fort: »Klar sind unsere, uns anvertrauten Kinder alles keine kleinen Jesuskinder, aber dort sehe ich auch so einen Punkt. Also ich muss in der Zeit stark sein und muss dem Kind einfach auch Begleitung und Unterstützung geben, wo es meine Hilfe braucht. Und [ich] muss aber [auch] erkennen, [da ist ein] Punkt, wo es keine Unterstützung [mehr] braucht.«

Neben der Zurücknahme der eigenen Person ist dabei die genaue Beobachtung jedes einzelnen Kindes, das Wissen um seine Entwicklungsbedürfnisse und anstehende Entwicklungsschritte bedeutend: »Das ist, also für uns ein sehr wichtiger Punkt, dass man wirklich beobachtet: Wo steht das Kind? Damit ich ihm wirklich auch da helfen kann und ihm bei seiner Entwicklung eigentlich dienen. Das klingt immer so ein bisschen so wie Bückling, aber es hat schon etwas damit zu tun. Also ich diene und ich bin nicht nur derjenige, der ansagt, sondern ich nehme mich zurück. Ich nehme mich zurück, dort an der Stelle, wo das Kind mich nicht braucht. Und [greife] nur dort wirklich auch ein [...], wo Kinder mir signalisieren, hier brauche ich deine Hilfe. Kannst du mir erklären, wie das geht? Oder: Kannst du mir hier in der Situation helfen?«

Rezipiert werden in diesem Zusammenhang auch die Aspekte der äußeren und inneren Ordnung: Kinder werden in die Lage versetzt, sich in den Räumen zu orientieren, sich Materialien selbständig zu nehmen und sie wieder aufzuräumen. Die äußere Ordnung ermöglicht innere »Aufgeräumtheit« und Konzentration. 2.1.3 Kein Zwang, aber »zwangsläufig mit dabei« Im christlichen Kinderhaus A kommen etwa 50 % der Kinder aus christlichen Elternhäuser, 50  % aus nicht- und andersreligiösen. Schon im Namen der Einrichtung spiegeln sich ein Willkommen für alle Kinder und eine weltanschauliche Offenheit und Anschlussfähigkeit wider. Und diese setzt sich in anderen Antworten fort, beispielsweise in dieser: »Wir sagen immer, wir laden ein. Wir laden ein zum Gebet, wer möchte, kann dazu die Hände falten. Also man merkt eben auch schon so, wie es formuliert ist.« Oder in dieser: »Wir sehen eher Verbindendes als Trennendes« – dabei auch mit Blick auf die christlichen Konfessionen. Auch Kinder ohne Konfession sind »zwangsläufig mit dabei«, bei Andachten, Festen im Jahreskreis u.a. Die befragte Leiterin macht die Beobachtung, dass sie gerne und neugierig mit dabei sind

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und wissen wollen, was da passiert: »Jedes Kind fragt: Woher kommen wir? Wo gehen wir hin? Warum ist das so?« Und die pädagogischen Fachkräfte sehen vor diesem Hintergrund ihren »missionarischen Auftrag« auch darin, »ein Stück einfach von Gott zu erzählen«, den Kindern einen Wissens- und Erfahrungsschatz weiterzugeben und die »Möglichkeit, einfach sich erst einmal hier auch damit auseinanderzusetzen.« Auch Eltern ohne Konfession kommen »über diese Schwelle der Montessori-Pädagogik eigentlich auch mit hier hinein in unsere, ja, in unsere Strukturen und unser Leben.« Oft bringen sie Berührungsängste und Skepsis mit, aber machen positive Erfahrungen damit, wie christlicher Glaube im Kinderhaus gelebt wird. 2.1.4 »Dass wir nicht ausgebrannt werden« Die Herausforderung schlechthin vor der jegliche konzeptionelle Arbeit steht, ist die der knappen Personalressourcen. Noch ist es in Sachsen so, dass der Betreuungsschlüssel bei 12:1 im Kindergarten- und 5,5:1 im Krippenbereich liegt. Wenn man dann berücksichtigt, dass die Öffnungszeiten der Kindertageseinrichtungen bei 10–11 Stunden täglich liegen, die Arbeitszeiten der einzelnen Fachkräfte bei 8 Stunden, daneben Weiterbildungs-, Krankheits- und Erholungszeiten personell abgedeckt werden sollten, dann erschließt sich die folgende Aussage: »Ich sage immer, die [eng gestrickte Personaldecke ist eine] Tischdecke, die ist immer gerade so, dass sie hier die Kanten bedeckt. Sobald ich an der ziehe, schwupps fehlt es da an der Seite.« Unter diesen Bedingungen eine beziehungsintensive pädagogische Arbeit, nah am Kind, zu gewährleisten ist schwierig. Die Befragte sieht ihre Leitungsaufgabe darin, ihre pädagogischen Fachkräfte »zu schützen«, ihnen eine »wertschätzende Basis« zu geben, zu ermöglichen, dass sie ihre Kräfte vor Ort einsetzen können und nicht in Zertifizierungen, Audits und Qualitätsmanagement-Maßnahmen stecken – »dass wir nicht ausgebrannt werden«.

2.2 »Montessori passt eigentlich    überall hin« – Kinderhaus B Ein stärkerer Fokus auf Marketingstrategien und einer öffentlichen Klarstellung leitender Werte begegnet in den Ausführungen der Befragten im Montessori-Kinderhaus in Trägerschaft der Diakonie. Betrachtet man weitere Kitas unter dem Dach des regionalen Diakonieträgers entsteht der Eindruck, dass man bereits bei der Namensgebung auf einen religiösen (christlichen) Beiklang eher verzichten möchte. Die Einrichtungen sind durch einen fachlichen, im Einzelfall auch personellen Austausch und ein gemeinsames Qualitätsmanagementsystem verbunden. Die pädagogische Arbeit wird vor allem

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durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen gemäß dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und die fachliche Anknüpfung an den »Sächsischen Bildungsplan« und den entsprechenden Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag definiert. Insbesondere die Charakterisierung als Montessori-Kinderhaus erfüllt in der konzeptionellen Außenkommunikation die Aufgabe, sich von anderen Einrichtungen zu unterscheiden. Für die Eltern müsse erkennbar gemacht werden, welche Leistungen und Lernangebote das Kinderhaus bereithalte. 2.2.1 »[Wir] haben dann in ganz kleinen Schritten     mit Montessori angefangen« Das Kinderhaus wurde in der Wendezeit gebaut und bereits 1990 eröffnet. Auch hier stand die konzeptionelle Gestaltung unter dem Vorzeichen der Verunsicherung durch die politische Transformation: »[U]nd nach der Wende war es ja so, unser Bildungsplan [...] wurde ja sofort weggetan und alle standen so ein bisschen hilflos da und wir haben nun gemacht, ja, alles haben wir nicht fallen lassen, aber erst einmal das Politische alles weg und standen aber da ohne Konzeption und haben überlegt, was machen wir nun?«

In der Rekonstruktion wird die Beständigkeit der bisherigen Sozialisation und Qualifikation der Fachkräfte nicht eigens hinterfragt, deutlich wird jedoch, dass es galt, die Anforderungen des Alltags, des Handelns bzw. »Machens« – die alltägliche Betreuung der Kinder – zu bewältigen, obgleich die Frage des (neuen) »Wie« gemeinsam nicht unmittelbar zu beantworten war. Ein Umdenken war zunächst wohl nicht auf der Handlungsebene anzusetzen, hier dominiert in der Wahrnehmung der Einrichtungen ein »Situationsansatz«. Die vormals staatliche Kindereinrichtung wird zunächst in kommunaler Trägerschaft weitergeführt, vor allem veränderte Förderrichtlinien und finanzielle Überlegungen der Kommune begründen dann die Überführung in freie Trägerschaft. Die über zwei Jahre in enger Zusammenarbeit mit Eltern und Fachkräften erarbeitete Übernahme durch einen diakonischen Träger erfolgt 2002. Einer konzeptionellen Neubesinnung gehen Besuche von Fachkräften in Kindereinrichtungen mit unterschiedlichen Ansätzen in den alten Bundesländern voraus. Es werden Filmaufnahmen gemacht; Eltern werden in Entscheidungsprozesse eingebunden. Pädagogische Fachkräfte nehmen an Montessori-Qualifizierungskursen teil, Entwicklungsmaterialien werden eigens hergestellt oder gekauft. Man geht den mühsamen Weg der Audits zur Zertifizierung als Montessori-Kinderhaus. Beim Übergang in die Träger-

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schaft der Diakonie müssen aber auch andere Weichenstellungen etwa personalrechtlicher Art durchdacht werden: »Was wird denn mit unseren Dienstjahren, was wird aus unserer Bezahlung?« 2.2.2 »Montessori passt eigentlich überall hin« Die pädagogischen Elemente, die in besonderem Maße auf die Montessori-Konzeption zurückgeführt werden, sind die Achtung der Selbständigkeit des Kindes, die Zurückhaltung der pädagogischen Fachkräfte in der pädagogischen Situation und die Aufgabe der Beobachtung sowie des Erkennens der Zonen der nächsten Entwicklung des Kindes. Die befragte Kinderhausleiterin weist darauf hin, dass es gelte, Maria Montessori in ihrer Zeit zu sehen und ihre Pädagogik in die heutige Zeit zu übersetzen, das heißt etwa aktuelle Erkenntnisse über frühkindliche Bildung einzubeziehen und gegenwärtige Herausforderungen im Licht des historischen Ansatzes kontrovers zu diskutieren. Wenn auch implizit, hätten viele Ideen Maria Montessoris Eingang in den »Sächsischen Bildungsplan« gefunden, so dass darin gute fachlich-orientierende Standards vorgegeben seien. 2.2.3 »Die Kirche gehört zum Dorf wie der Kindergarten« Betrachtet man die Aussagen der Befragten entsteht der Eindruck, dass einerseits die Identifikation als christliches Kinderhaus hintergründig, aber wirksam ist und andererseits religionspädagogische Arbeit im Kinderhaus eine kirchgemeindliche Verankerung hat und nach außen delegiert wird. So wird von der Kinderhausleiterin unterstrichen, dass in der Außenwirkung eine weltanschauliche Offenheit sichtbar werden solle, es sich eben um »kein christliches Haus« handele, sondern um eines in »christlicher Trägerschaft«. Während bei einem Großteil der Familien offenbar eine traditionelle Kirchlichkeit vorauszusetzen sei (die Familien seien »sehr christlich geprägt« und ein Großteil der Kinder getauft), so werde bei den pädagogischen Fachkräften eine Kirchenzugehörigkeit nicht zur Anstellungsbedingung gemacht, stattdessen seien hohe Fachlichkeit und gute Passung im Team entscheidend: »Man kann das einfach nicht zur Bedingung machen [...], mir nützt ne Erzieherin, die nicht in der Kirche [ist], die gut mit den Kindern arbeitet mehr, als wie eine die vielleicht in der Kirche ist und die, wo die Arbeit überhaupt nicht klappt, das haben wir auch schon gehabt, und also so lange wie ich Leiterin bin, eh wird das nicht passieren, das ich da solche strengen Kriterien rausgebe. Es muss einfach im Team dann passen, sie muss einfach zum Team passen und das ist wichtig.«

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Religionspädagogische Arbeit im Kinderhaus gibt es seit den Gründungsjahren. Verantwortet wurde sie von der damaligen Pfarrerin, die auch Kindergärtnerin gewesen und mit Geschichten, Liedern und Gitarre ins Kinderhaus gekommen sei. Diese Praxis setzt sich bis heute fort. Der derzeitige Pfarrer am Ort kommt ins Kinderhaus und gestaltet beispielsweise thematische Morgenkreise (»[die Kinder] wissen, dass der mit zu uns gehört«). Einige Feste gestaltet das Kinderhaus für die »Kinderhausgemeinde« und die Kirchgemeinde in der Kirche am Ort. Damit kann auch eine beträchtliche Außenwirkung erreicht werden: »Wenn wir in der Kirche sind, ist die Kirche knackevoll, da kommen Eltern, Großeltern, die man sonst nie in der Kirche sieht. Und das finden wir einfach schön, dass wir durch solche Aktionen dann auch die Leute auch mal in die Kirche kriegen und die dann einfach mal schauen, was machen die denn eigentlich dort?«

Pfarrgarten und Kirche werden mit den Kindergruppen besucht. Die nicht formalisierte Kooperation findet auch in der Mitarbeit einzelner Fachkräfte im Kirchenvorstand ihren Ausdruck. 2.2.4 »Dass es meinen Erzieherinnen auch gut geht« Die befragte Leiterin problematisierte ebenfalls die Belastungen der pädagogischen Fachkräfte, insbesondere hinsichtlich des Zeitmanagements und des Personalschlüssels. Als bedeutende Leitungsaufgabe sieht sie es an, »Freiräume zu schaffen« und insbesondere Vorbereitungs- und Dokumentationszeiten, aber auch Zeiten für Elterngespräche während der Dienstzeit freizuhalten. Entlastung wird zum einen dadurch herbeigeführt, dass Horterzieherinnen, deren Arbeitszeit schwerpunktmäßig am Nachmittag liegt, während der Vormittagsstunden im Kinderhaus eingesetzt werden und darüber hinaus auch die Leitung regelmäßig Gruppenzeiten übernimmt. Teammaßnahmen und Klausurtage haben immer auch die Aufgabe, berufliche Inanspruchnahme zu regulieren und für das Wohlergehen der pädagogischen Fachkräfte zu sorgen. Als weitere Herausforderung wurde eine hohe Personalfluktuation, insbesondere auch durch elternzeitbedingte Auszeiten benannt. Bei der Neueinstellung sei nur selten davon auszugehen, dass man »gutes Personal [finde], was sofort alles [habe]«. Es gelte also, ein fortbildungsförderliches Arbeitsklima und Rahmenbedingungen zu schaffen, die ermöglichen, dass Qualifikationen nachgeholt würden.

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2.3 »In der Freiheit begegnest du   dir selbst« – Kinderhaus C »So, und die [frühere Kindergartenleiterin], die hatte gerade [Anfang der 1990er Jahre], hatte die sich neu ausgerichtet und hat gesagt: ›Nein, wir suchen, wir müssen was anderes machen.‹ Und die war so gefangen von der Montessori-Pädagogik und hat [...] ihr [Montessori-]Diplom gemacht. Und dann hat die natürlich Fäden gelegt im Team und dann haben alle auch das Diplom gemacht. Und waren so in den Kinderschuhen, praktisch auf dem Weg der Montessori-Pädagogik und haben das umgekrempelt.«

Eine drittes Kinderhaus blickt auf eine über einhundertjährige Geschichte zurück und auf Anfänge, die bereits im 19. Jahrhundert liegen: Aus einem Haus für Waisenkinder in der Hand einer neu angesiedelten katholischen Ordensschwesternschaft gingen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Kindergarten und ein Kinderhort hervor. In den Kriegsjahren wurde diese Einrichtung vorübergehend aufgelöst und die Räumlichkeiten für die Beherbergung und Verpflegung von geflüchteten Menschen genutzt, später in ein Behelfskrankenhaus umgewidmet. Nach Kriegsende konnte der katholische Kindergarten seine Arbeit wiederaufnehmen. Als kirchgemeindliche Kindertageseinrichtung in privaten Räumlichkeiten wurde dieser Kindergarten mit etwa 50 Kindergarten- und 25 Hortkindern auch während der DDR-Zeit geduldet. Die Trägerschaft und die kirchgemeindliche Ausrichtung blieben erhalten (»für unsere katholischen Kinder [in der Stadt und in der Umgebung]«), aber auch hier steht nach der Wende ein konzeptionelles Umdenken an. Neben der Qualifikation einzelner Fachkräfte in Montessori-Kursen werden Umbau und Neugestaltung des Hauses und die Anschaffung von Entwicklungsmaterialien mithilfe von Stiftungsgeldern ermöglicht. Kinderhaus und Kinderhort erfahren starken Zulauf: »Es war wie so ein Selbstläufer [...], dass einfach Eltern gesucht haben, dass Kinder in der anderen Art lernen konnten. In dieser Art der Freiheit und in der Selbsttätigkeit, in dieser Selbstbestimmtheit.« 2.3.1 »Das ist wie so ein roter Faden« Im Kinderhaus C macht die Befragte deutlich, dass Erziehung und religiöse Erziehung in eins gesetzt werden und strukturell verankert sind: »Es ist nicht so irgendwo, dass man sagt, ja, jetzt müsste man da auch mal dran denken, an die religiöse Sache.« Neben einer expliziten Verankerung in der Gestaltung des Kinderhauses nach liturgischen Kriterien des Kirchenjahres, in alltäglichen und besonderen Ritualen, in der Benennung der Gruppen (und spielerischen Identifikation) mit Heiligenfiguren und der Gestaltung eines

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»Mitte-Platzes«22, werden auch implizite Aspekte deutlich herausgestellt. Als Themenbereiche benennt die Befragte beispielhaft Natur, Sprache, soziales Miteinander, Friedenserziehung, aber auch das morgendliche Ankommen, die Begrüßung, die Rituale rund um das Mittagessen. Zur strukturellen Verankerung gehören neben der Zugehörigkeit zu einer der Kirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland auch weitere formale Qualifikationen: In der Regel haben die pädagogischen Fachkräfte neben der Erzieherinnenausbildung o.ä. auch das Montessori-Diplom und die »kleine Missio«. In einem weitestgehend konfessions- und oft auch religionslosen Umfeld wird es schwieriger, solcherart qualifizierte pädagogische Fachkräfte zu finden. 2.3.2 »Weil das so natürlich ist« Als zentrale anthropologische Ankerpunkte für religiöse Erziehung nach Montessori werden die Polarisation der Aufmerksamkeit und der immanente Bauplan des Menschen gedeutet. Das Kind bringe in der Fähigkeit des Sich-In-Eine-Tätigkeit-Versenkens eine tiefe Spiritualität und Religiosität mit, es komme gewissermaßen mit diesem inneren Reichtum auf die Welt. Die pädagogischen Fachkräfte arbeiteten vordergründig nicht religiös-didaktisch mit den Kindern, sondern würden die eigene Religiosität in ihrem »Echtsein« in sämtliche Bildungsprozesse einbringen. Gegenüber dem Kind nehme die Pädagogin die Rolle der Beobachterin ein und habe in Achtsamkeit und Anerkennung am Kind zu verwirklichen, dass »Acht auf mich gegeben wird, so wie ich bin.« Die leitende Frage sei: »Kind, was bringst du mit auf deinem Weg? Was bist Du? Das kannst Du leben!« Es gehe also darum, eine bewusste Einstellung zum Leben zu gewinnen und die Voraussetzung zur Verantwortung zu schaffen. In diesem Sinne sei auch das Ziel der pädagogischen Arbeit im Kinderhaus, den Kindern zu ermöglichen, sich selbst gut kennenzulernen, Mitverantwortung in allen Prozessen auszuüben und über die vorbereitete Umgebung und die strukturierten Abläufe zu lernen, »wie das Leben geht«:

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 Dieser »Mitte-« oder »Jesus-Platz« wird als Alternative zum »Atrium« genannt, das Montessori-Kinderhäuser insbesondere in der Tradition Sophia Cavalettis für die religionspädagogische Arbeit bereithalten, vgl. Deborah Presser-Velder: Die Katechese des guten Hirten: Religiöse Erziehung im Rahmen der Montessori-Pädagogik, in: Montessori. Zeitschrift für Montessori-Pädagogik 46 (2008), 26–61. Neben jahreszeitlichen Materialien stehen dort Materialien zu biblischen Geschichten, aber auch etwa zu Taufe und Beerdigung zur Verfügung. Diese Materialien können die Kinder im Rollenspiel nutzen.

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»Wenn man einem Kind in der Freiheit begegnet [...], hat es immer auch was mit tief religiösen Dingen zu tun. Wenn der Mensch frei ist, nicht, wenn er verkopft ist oder sonst irgendwo unterwegs oder hat so irgendein Heiligtum für sich. Oder ist extrem in irgendwelchen Dingen, also, da gibt es ja viele Sachen. Dann nicht, aber wenn der frei ist, ja, in den Entscheidungen, in seinem Selbst, dann ist das nicht mehr zu trennen von Montessori. Weil Montessori das ja an sich sagt, nur in der Freiheit begegnest du dir selbst und kannst das tun, was du in deinem inneren Bauplan hast, was dein Schöpfergott dir gegeben hat. Deswegen sagt man ja auch, dass die Montessori-Erziehung eine Friedenserziehung ist, eine Erziehung zum Frieden. Weil diese Dinge grundgelegt sind, nur in der Freiheit kann ich dort zum Frieden gelangen und weitergehen.«

3. Wahlverwandtschaft? In ihrer christlich-theosophischen Eigenart, in der Verbindung von Naturwissenschaft und pädagogischer Anthropologie beziehungsweise ihrer Rezeption der im 19. Jahrhundert im Entstehen begriffenen positiven Wissenschaften ist die pädagogische Theorie Montessoris offen und anschlussfähig, aber auch unbestimmt in der Amalgamierung unterschiedlichster Ideen, deren Provenienz oft undeutlich bleibt. In synkretistischer Offenheit, metaphorischer Anschlussfähigkeit und konzeptioneller Differenzierung – der Bündelung von Qualifizierungs- und Weiterbildungskursen, didaktischen Materialien, theoretischen und praktischen Schriften – hat sich in der konzeptionellen Gestaltung von Kindereinrichtungen in den Neuen Bundesländern die Montessori-Pädagogik für eine Neubesinnung als geeignet erwiesen. Diese ist in einem engen Zusammenhang mit der »Phase des langen, schnellen Übergangs«23 bzw. den Transformationen des Bildungssystems in den Neuen Bundesländern zu sehen. Betrachtet man christliche Kinderhäuser, so erscheinen sie als Organisationen, in denen religiöse Kommunikationen neben anderen eine bedeutende Rolle spielen. Ein christliches Kinderhaus wird allerdings nicht ausschließlich über religiöse Kommunikationen gesteuert werden, vielmehr stehen konzeptionelle Entscheidungen im Schnittpunkt unterschiedlicher Rationalitäten. Im pädagogischen Alltag werden organisatorische Herausforderungen als dringlicher erlebt, wie etwa der problematische Personalschlüssel in der Region, der in einer hohen Belastung der Pädagogen resultiert, oder die Suche nach gut qualifizierten Fachkräften mit der Bereitwilligkeit, sich im Sinne des jeweiligen Konzeptes weiterzubilden. Andere Herausforderungen 23

 Vgl. u.a. Monika Wohlrab-Sahr/Uta Karstein/Thomas Schmidt-Lux: Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt am Main/New York 2009, 351.

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liegen in der Gestaltung der alltäglichen Abläufe, der Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, in den Anforderungen der Betreuung von Kindern im Altersbereich von 0 bis 3 Jahren etc. Der vorliegende Beitrag konnte hier nur einen skizzenhaften Einblick geben und letztlich darauf hindeuten, dass mit einer genaueren Unterscheidung der verschiedenen Rationalitäten und Ebenen auch die »Übersetzungskompetenzen« zwischen den verschiedenen konzeptionellen Strängen, aber auch den damit verbundenen Zielen, Erwartungen und Lösungsansätzen deutlicher hervortreten könnten. Wird Montessori-Pädagogik als implizite religiöse Erziehung gedacht, so bedarf sie eines anderen Pendants – Montessori-Konzeption und christliche Konzeption sind dann nicht ohne weiteres gegenüberzustellen und die Frage einer Wahlverwandtschaft wird anders beantwortet werden müssen. Bei der weiteren Erforschung wird ein stärkeres Augenmerk auf begriffliche Unterscheidungen zu legen sein. Von den befragten Leitungskräften wurde eine hohe Stimmigkeit der pädagogischen Konzeption nach Montessori und der christlichen Ausrichtung der Kinderhäuser geschildert. Dabei wurde in allen drei Einrichtungen eine enge kirchgemeindliche Anbindung sichtbar. Die anthropologischen Überlegungen Montessoris, die das Kind in eine kosmische Ordnung eingebunden sehen und auf eine göttliche Absicht zurückführen, wurden breit rezipiert. Eine besondere Aufnahme findet in diesem Zusammenhang auch die Idee des Sich-Verbindens, der Versenkung bzw. der Polarisation der Aufmerksamkeit des Kindes in der Konzentration auf eine Tätigkeit (nicht nur, aber auch in den sog. Übungen der Stille). Der Gedanke einer Sakralität des Kindes bzw. seiner Selbstentwicklung, wird nicht in einem Spannungsverhältnis, sondern im Einklang zur christlichen Tradition gesehen; diese Paradigmen werden an die christlich geprägte Kultur und ihre Sprache angeglichen. Eine angemessene Begleitung auch in religiöser Hinsicht muss, indem sie vom Kind her gedacht wird, freiheitlich sein: Mit welchen Fragen kommen die Kinder? Wie sehen ihre eigenen Erklärungen aus? Wie können wir dem Kind dienen? Wie können wir Raum schaffen für Rituale, Stille, Konzentration, Respekt? Es ist zu vermuten, dass eben in diesen impliziten religiösen Annahmen eine diffuse Anziehungskraft liegt: Auch nicht und anders religiöse Familien »kommen über diese Schwelle der Montessori-Pädagogik eigentlich auch mit hier hinein in unsere, ja, in unsere Strukturen und unser Leben [...], dass wir unseren christlichen Glauben natürlich auch leben hier im Haus«. Ob eine (religiöse) Zugehörigkeit zur »Kinderhausgemeinde« auch eine Bindung an die Kirchgemeinde vor Ort bedeutet, ist an anderer Stelle zu beantworten.

»Lernt ihr denn gar nichts in der Schule?« Initiationsrituale im Film Inge Kirsner

1. Einleitung »Lernt ihr denn gar nichts in der Schule?«, fragt, etwas entnervt bis verzweifelt, ein sich an eine ihm unsichtbare Zuhörerschaft wendender Vater in dem Film »Rainig Stones«. Er will seiner Tochter erklären, was Eucharistie ist und sie somit auf ihre bevorstehende Aufnahme in die katholische Gemeinde vorbereiten. Also auf das, was man ethnografisch Initiation nennen würde: Die Aufnahme einer Person in eine (Religions-)Gemeinschaft. Betrachten wir im Folgenden die Initiationsrituale der jeweiligen religiösen Gemeinschaften der monotheistischen Religionen. Zunächst zum Judentum: Jüdisch ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum konvertiert, das heißt übertritt (in dem er sich bewusst entscheidet, als Jude unter den Geboten zu stehen, in einer Mikwe untertaucht sowie, falls es sich um einen Mann handelt, sich beschneiden lässt). Der Eintritt in die Glaubensgemeinschaft als Erwachsener erfolgt durch die Bar Mitzwa (»Sohn des Gesetzes«) bzw. die Bat Mitzwa (»Tochter des Gesetzes«). Im Islam ist jeder Mensch als Muslim geboren. Der muslimische Vater flüstert traditionsgemäß seinem neugeborenen Kind den islamischen Ruf zum Gebet (Adhān) und das Glaubensbekenntnis (Schahada) ins Ohr. Ein Junge wird, wie im Judentum, beschnitten. Die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft wird durch die Taufe begründet. Sie geschieht durch Eintauchen oder Übergießen mit Wasser und die Anrufung des dreieinigen Gottes über dem Täufling gemäß dem Auftrag Jesu (Mt 28,19f). Bestätigt wird das meist als Kindertaufe vollzogene Ritual in der katholischen Kirche durch die Feier der Ersten Heiligen Kommunion, die mit der Firmung bestätigt wird, und in der evangelischen Kirche durch die Konfirmation (beides im ähnlichen Alter mit 13–14 Jahren). Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Christentum und den anderen beiden abrahamitischen Religionen besteht darin, dass man zum Christen wird und

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nicht geboren wird, wie es schon Tertullian formulierte: »Fiunt, non nascuntur Christiani.«1 Das Stichwort »Initiation« sucht man in der »Religion in Geschichte und Gegenwart« – als entsprechendem Standardwerk – vergeblich. Man wird dafür auf die Rites de passage verwiesen, jenen französischen Begriff für Übergangsriten, den Arnold van Gennep 1909 eingeführt hat.2 Er beschreibt damit die Feier oder Zelebration von Passagen zwischen zwei Lebensstufen oder Seinszuständen. Die von ihm entworfene Dreiphasenstruktur des Initiationsritus wurde schulbildend: Der Ablösung aus der Gemeinschaft oder Separation folgt die Umwandlung und danach die Angliederung.3 Die Funktion der Rites de passage ist dabei die Kontrolle der Dynamik des sozialen Lebens, die gerade im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenendasein prekär ist. Dieser Umwandlungsphase wollen wir nun anhand von verschiedenen Filmausschnitten nachgehen: Die vorgestellten Filme stellen drei Schwellensituationen in den drei großen monotheistischen Religionen dar.

2. Filmbeispiele 2.1 »Raining Stones« (Ken Loach, Großbritannien 1993) Die jüngste Initiandin lernen wir in Ken Loachs Arbeiterdrama »Raining Stones« kennen. Die Familie hat nicht genügend Geld, um die einzige Tochter angemessen für ihre Kommunion auszustatten. Der Vater wird schließlich einen Weg finden – zuvor möchte er aber seiner Tochter erklären, um was es in der Eucharistie eigentlich geht: Der Vater: »Also..., du weißt doch, dass unser Herr gekreuzigt worden ist... Am Abend, bevor man ihn gekreuzigt hat, da hat er alle seine Freunde versammelt um einen großen Tisch rum und dann haben sie Tee getrunken... Der Grund, warum er alle seine Freunde versammelt hatte, war, dass er wusste, dass er sterben würde.« Die Tochter: »Wie konnte er das wissen?« »Weil er Christus ist, Christus weiß alles.« »Warum ist er dann nicht weggerannt?« »Oh, auch das noch, … kriegt ihr in der Schule denn gar nichts beigebracht?« »Also, er setzte sich zu seinen Freunden und nahm ein Stück Brot. Und er hielt es vor seinen Freunden hoch und sagte: ›Das bin ich. Dies ist mein Leib!‹ – Verstanden?« (Tochter nickt zögernd.) »Und dann nahm er seine Tasse hoch und sprach: ›Dies ist mein Blut!‹« »Ja, aber 1

  Zitiert nach Heribert Weinbrenner: Die Beschneidung im Judentum und im Islam unter dem Aspekt der Initiation, online: www.heribert-weinbrenner.de/resources/Aufsatz+Beschneidung.pdf, 18 (25. Oktober 2016). 2   Vgl. Axel Michaels/Hans-Günter Heimbrock: Rites de passage, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 7 (42004), 534f. 3   Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt am Main 32005, 243.

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ich will doch nicht Christus’ Blut trinken!« »Ach, das ist doch kein richtiges Blut, das ist doch nur ein Glas Wein.« »Aber du hast doch gesagt, das ist das Blut von Christus!« »Na ja, es ist symbolisch, es ist Christus’ Blut, es stellt es sozusagen dar. Es ist sozusagen Blut als auch Wein… Verstehst Du’s jetzt, Schätzchen?« (Kopfschütteln der Tochter) »Also, wenn du tot bist, kommst du in den Himmel. Na ja, und wenn du die Heilige Kommunion nicht erhalten hast, dann kommst du da nicht rein – verstehst du jetzt, wovon ich spreche?« »Nö.« »Also, er schenkt dir dein Leben, damit du, wenn du stirbst, in den Himmel kommst. Und wenn du keine Heilige Kommunion erhältst, dann kannst du auch nicht in den Himmel kommen, hast du das jetzt verstanden?« »Nein.« »Ach, zur Hölle damit!«4

Für die Tochter scheint die anstehende Feier weniger eine Schwellensituation zu sein als vielmehr für den Vater. Dieser soll etwas erklären, was er selbst bisher nur »angenommen«, aber niemals wirklich selbst begriffen hat. An diesem Filmbeispiel wird damit deutlich, dass die gängige funktionale Perspektive – die kirchlichen Amtshandlungen als Mittel zur Krisenbewältigung persönlicher oder familiärer Übergangssituationen zu betrachten – zu kurz greift. Die Kommunion stellt für das Mädchen selbst kein Problem dar: Sie glaubt dem Pfarrer, der im Gottesdienst (der in der Szene zuvor zu sehen war) gesagt hat, die Heilige Kommunion sei »der Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit Christus«. Diese erfährt der Vater Bob selbst, später, am eigenen Leib. Das, was mit der Kommunion zugesagt wird – nämlich die vorauseilende Gnade Gottes und die Vergebung der Sünden, das unbedingte Angenommensein des Menschen – wird ihm in einer sehr schwierigen Krisensituation zuteil. Er hat, um das Geld für eine angemessene Ausstattung der Tochter zusammen zu bekommen, Geld geliehen, ausgerechnet bei dem im Dorf gefürchtetsten Kredithai. Dieser bedroht, als die Zahlungsfrist überschritten ist, die Familie Bobs. Daraufhin sucht dieser ihn auf, der gerade stark alkoholisiert eine Bar verlässt. Im Verlauf der darauf folgenden Auseinandersetzung in einer Tiefgarage geschieht ein Autounfall; Bobs Gegner fährt gegen eine Säule und ist sofort tot. Bob untersucht ihn kurz und nimmt dann das kleine Notizheft an sich, in dem die Schuldner mit Namen aufgeführt sind. Mit diesem begibt er sich nun zum Pfarrer, um zu beichten.5 Doch anstatt nach dem Geständnis Bob zur Polizei zu schicken, nimmt ihm der Pfarrer das Schuldenbuch ab und verbrennt es in der Spüle. Ganz materiell vollzieht sich hier der Schuldenerlass, die Vergebung der Sünden, die in der Eucharistie und im Abendmahl zugesprochen, ausgeteilt und sinnlich erfahrbar wird. Bob begreift und ergreift die Chance zur Wiedergeburt; er will werden, was ihm zugesagt wird: dass er »ein guter Mann« ist – ein 4

  Vgl. Ken Loach: Raining Stones, Großbritannien 1993, 32.40–34.40.   Vgl. a.a.O., 1.20.00–1.22.50.

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Märchenschluss, der in einer Alltagsgeschichte das Mysterium des Glaubens zugänglich macht. Die Einweihung der Tochter in das Glaubensmysterium wird zu einer für den Vater; eine ähnliche Familienaufstellung findet sich im nächsten Filmbeispiel und zeigt die vielfältigen Verschränkungen einer Glaubensgemeinschaft, hier der ältesten monotheistischen.

2.2 »A Serious Man« (Ethan und Joel Coen, USA 2009) Wir befinden uns im Westen der USA, im Minneapolis der 1960er Jahre. Danny, Sohn des Physikprofessors Larry Gopnik, hat demnächst seine Bar Mitzwa. Die entsprechenden Lehrstunden bringt er meist mit Kopfhörern hinter sich; doch eines Tages wird ihm die Musik samt Gerätschaft beschlagnahmt und dem obersten Rabbi übergeben. Das Schlimmste daran ist, dass in der Hülle des Recorders Geld steckte, das Danny nun einem Mitschüler schuldet. Dies bringt ihn nun zunehmend in Schwierigkeiten, die jedoch nichts sind im Vergleich zu denen des Vaters. Der Gipfel der Krise ist erreicht, als Dannys Feier beginnt; um das Ganze zu überstehen, greift Danny zu einem Hilfsmittel. Die heimliche Kifferei auf der Toilette entspannt ihn zwar, doch dreht sich der ganze Synagogenraum um ihn und er kann kaum mehr den zu lesenden Abschnitt aus der Tora vortragen. Schließlich schafft Danny es gerade noch – mithilfe wohlmeinender jüdischer Gemeindemitglieder – die Zeremonie zu meistern.6 Die Gemeinschaft der erwachsenen jüdischen Gemeinde, der er nun angehört, trägt ihn. Sie spricht ihm für die Zukunft das zu, was er erst so langsam zu begreifen beginnt: mit der religiösen Mündigkeit beginnt die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben und das der Mitmenschen. Als die Coenbrüder für ihren Film um Dreherlaubnis in der jüdischen Gemeinde baten, wollte diese zunächst wissen, ob es im Film darum ginge, die jüdischen Rituale in irgendeiner Weise lächerlich zu machen; doch als sie sich trotz ihrer Befürchtung auf das Anliegen einließ, konnten die Mitglieder die Erfahrung machen, dass die Coens im Gegenteil die Zeremonie als eine würdige zeigten, gerade indem sie den um Aufnahme bittenden Adepten im Haschrausch zeigen. Die Gemeinde wird als etwas dargestellt, was stärker ist als der einzelne und stellvertretend für den Einzelnen handeln kann, wenn dieser in irgendeiner Weise eingeschränkt ist. Zwar klingt hier auch die repressive Seite einer religiösen Gemeinschaft an – Danny befürchtet eine harte Strafe für seine Unaufmerksamkeit während des Toraunterrichtes. Doch wird ihm am Ende sein Walkman wieder übergeben – samt dem Kommentar des alten Weisen, der wie Yoda in seiner Höhle sitzt und die Songs aufmerk6

  Vgl. Ethan Coen/Joel Coen: A Serious Man, USA 2009, 1.24.28–1.31.30.

»Lernt ihr denn gar nichts in der Schule?« 203

sam studiert und selbst einiges daraus mitgenommen hat. Nach Dannys Bar Mitzwa geht es dabei auch für den Vater Larry wieder aufwärts; seine Frau, die ihn gerade noch verlassen wollte, wird nun doch bei ihm bleiben; seine befristete Stelle an der Uni wird in eine feste verwandelt. Ähnlich wie in »Raining Stones« klingt die Botschaft einer Art von Gottvertrauen durch, das sich durch die Absurditäten des Daseins und die Kapriolen der Lebensläufe hindurch bewähren muss. Grundsätzlich gilt die Annahme des Menschen durch Gott, der sein Ja zu ihm spricht, wie weit auch immer dieser sich – aus eigener oder fremder Schuld – entfernt haben mag. Die Gemeinde handelt hier stellvertretend, wenn sie den bekifften Danny zum vollwertigen Mitglied erklärt.

2.3 »Die große Reise« (Ismaël Ferroukhi,   Marokko/Frankreich 2004) Die große Reise, auf die Ismael Ferroukhi uns mitnimmt, führt von Frankreich aus über Italien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien, die Türkei, Syrien und Jordanien nach Saudi-Arabien. Dort liegt Mekka, das Ziel der Pilgerreise für einen in Frankreich lebenden Muslim, der von seinem zunächst sehr widerwilligen Sohn mit dem Auto dorthin gebracht werden möchte. Reda weiß wenig über Religion, er versteht auch seinen Vater nicht und erst recht nicht dessen Anliegen. Im Vergleich zu den Adepten in »Raining Stones« und »A Serious Man« ist er schon fast erwachsen, ein entsprechendes Initiationsritual für Kinder und Jugendliche ist nicht vorgesehen. Zwar gibt es im Judentum wie im Islam die Beschneidung, aber diese ist meist wie die Kindertaufe der bewussten Einwilligung des Initianden entzogen. So holt der Vater den Religionsunterricht für seinen westlich und weltlich aufgewachsenen Sohn unterwegs nach. Dieser will wissen, warum es für den Vater so wichtig ist, mit dem Auto die weite Strecke zu fahren, wo es doch mit dem Flugzeug schneller und viel unkomplizierter zu bewältigen sei. Daraufhin erwidert der Vater: »Wenn das Wasser der Meere zum Himmel aufsteigt, verliert es seine Bitterkeit und es wird wieder rein. Das Wasser der Meere muss verdunsten, um zum Himmel aufzusteigen und indem es verdunstet, wird es wieder süß. Deshalb ist es besser, die Pilgerreise zu Fuß anzutreten und nicht zu Pferde; und besser zu Pferde als mit einem Auto; und besser mit dem Auto als mit einem Schiff und besser als mit einem Schiff als mit einem Flugzeug.«7

7

  Vgl. Ismael Ferroukhi: Die große Reise, Marokko/Frankreich 2004, 32.00–34.35.

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Je länger die Reise also dauert, umso besser für die Seele – der Sohn beginnt zu verstehen, dass das, was für ihn bisher ein für den Vater wichtiges Ritual war, dessen Sinn ihm selbst verschlossen blieb, vielleicht der Sinn von Religion selbst ist: Beziehung zu stiften zu dem, was einen selbst übersteigt und zu denen, mit denen man lebt. Das Muslimsein ist in erster Linie definiert durch das individuelle Gottesverhältnis des Einzelnen, wie es Redas Vater für sich entwickelt hat. Dieses Verhältnis wird begründet durch die Anerkenntnis Gottes als einzigem Gott und die Unterwerfung unter seinen Willen. Der Muslim, die Muslima definiert sich nicht durch die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft. Deshalb fehlt im Islam auch ein dem Judentum und dem Christentum eigenes Initiationsritual wie die Bekräftigung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in der Bar oder Bat Mitzwa und in der Kommunion oder Konfirmation. So erfährt Reda eine stufenweise Initiation in unterschiedliche Ausdrucksformen des Glaubens, die er auf seiner Reise kennenlernt. Er lernt das Gebet als Strukturierung des Alltags kennen, fragt den Vater nach dem Sinn der Pilgerreise und streitet mit ihm, als er einmal einer Bettlerin Geld gibt, als es ihnen schon fast ausgegangen ist. Der Vater gewinnt zunehmend an Sicherheit, je weiter sie sich vom säkularisierten Frankreich entfernen. Der sich in Frankreich selbstsicher und selbstverständlich bewegende Sohn hingegen verliert sie; so treffen sie sich in einem Niemandsland dazwischen, wo sich der eine der Frage und der andere der Antwort öffnen kann. Der Vater ist ein strenger Glaubender, doch lernt Reda in Mustafa auch eine andere Möglichkeit kennen, den Glauben zu leben. Sie treffen Mustafa auf dem Weg nach Istanbul, und er schließt sich ihnen eine Weile lang an. Am Abend lädt er Reda ein, mit ihm etwas zu trinken; als er für beide Bier bestellt, wundert sich Reda. Mustafa meint, Reda müsse noch eine Menge über Religion lernen und erzählt ihm folgende Geschichte: »Eines Tages fragt jemand einen Sufi-Meister, der Wein trank: Verbietet der Islam nun den Alkohol oder nicht? Der Sufi-Meister gibt ihm zur Antwort: Es hängt von der Größe deiner Seele ab. Er sagte, wenn du ein Glas Wein in eine Schüssel mit Wasser schüttest, verfärbt sich das Wasser, aber wenn du dasselbe Glas Wein ins Meer schüttest, da verändert sich überhaupt nichts... Verstehst du?«8

Reda ist überrascht, dass etwas zusammengeht, was er bisher als Entweder-Oder aufgefasst hat. Die (angebliche) Sufi-Geschichte erweitert seinen bisher am Vater orientierten religiösen Horizont. Religion kann auch etwas nicht Sinnen- oder Lebensfeindliches sein, vielleicht erhöht sie sogar den 8

  Vgl. a.a.O., 50.30–51.22.

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Genuss am Leben – das Reinheitsgebot gibt eine Richtung an, keine absolute Wahrheit. Der Regisseur sagt dazu: »Ich bin dem Sohn näher als dem Vater, denn wie der Sohn bin auch ich nicht religiös, aber ich habe gelernt, die anderen und ihre Spiritualität zu respektieren. […] Die Autofahrt nach Mekka hatte mein Vater in meiner Kindheit gemacht, und das hat mich fantasieren lassen. Ich wollte diese Geschichte eines Tages erzählen, aber ich wollte vor allem einen Film machen, in dem alle sich wiederfinden können, sei es in Bezug auf ihre Herkunft oder ihre Religion. […] Die Geschichte handelt von der Begegnung zweier gegensätzlicher Menschen in einem Wagen. Beide legen den halben Weg zueinander zurück. Der Sohn lernt etwas über die Werte seines Vaters und dieser lernt auch und viel über den Sohn.«9

Ferroukhis »Große Reise« handelt nicht nur von der Initiation eines jungen Mannes, der zumindest Toleranz und Verständnis für seine religiöse Herkunft gewinnt; der Film soll auch eine Einführung für Menschen sein, die den Islam vorschnell aburteilen, was gerade nach dem 11.9.2001 oft geschah – unmittelbarer Anlass für den Regisseur, den Film zu drehen: »Le Grand Voyage behandelt nicht den Islam als Religion. Die Reise nach Mekka ist zunächst einmal ganz einfach ein Vorwand, um zwei gänzlich entgegengesetzte Figuren, einen Vater und einen Sohn, in einen Wagen einzuschließen und sie zu zwingen, miteinander zu kommunizieren. Darüber hinaus hatte ich Lust, eine menschliche Geschichte zu erzählen über zwei muslimische Figuren, damit man endlich damit aufhört, Klischees spazieren zu führen über eine friedliebende und tolerante Gemeinschaft. Ich wollte eine Gemeinschaft rehabilitieren, deren Ruf durch eine extreme Minderheit beschädigt wurde, die die Religion zu politischen Zwecken missbraucht. Es gibt über eine Milliarde Muslime auf der Welt. Falsche Bilder verformen den Islam, und ich fühle mich direkt davon betroffen.«10

3. Rückblick: Kino als Initiationsort Toleranz heißt nicht einfach Duldung einer anderen Ansicht; sondern sie entspricht einer Aussage Ferroukhis, der sagt, er sei nicht religiös, aber er habe gelernt, die anderen und ihre Spiritualität zu respektieren. Um etwas zu respektieren, muss man es kennengelernt haben, ohne es sich deshalb zu Eigen machen zu müssen.

9

  Ismaël Ferroukhi: Ohne Titel, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_große_ Reise_(2004) (26. Oktober 2016). 10  Ebd.

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Reda respektiert seinen Vater anfangs sozusagen zähneknirschend (selbst noch, als dieser ihm das Handy wegwirft), aus familialer patriarchaler Tradition. Daraus wird wirklicher Respekt, als er beginnt, etwas von dessen Religion zu begreifen. Seine eigene Religion begreift der Vater in »Raining Stones« erst, als er daran scheitert, sie seiner Tochter zu erklären, und dann den Sinn der Religion – mit Schuld und Angst umgehen zu können und einen Neuanfang zu machen, also: Lebenshilfe zu sein – in einem Augenblick der ihm zugesprochenen Vergebung findet. Initiationen sind nicht länger auf Lebensalter festgelegt in einer Zeit der älter werdenden Gesellschaft und der Verwischung und Vermischung früher klarer getrennter Lebensabschnitte. Danny merkt, dass das Judentum mehr ist als ein mechanisches Abspulen oft unverständlicher Abläufe; er wird getragen und aufgenommen von der Gemeinschaft und bekommt dann noch einen sehr ungewöhnlichen Segen durch den weisen Rabbi, der die Popkultur als Medium des Geistes Gottes entdeckt hat. Filme sind ein ausgezeichnetes Medium, um uns mit dem Fremden in uns und dem Eigenen im Fremden vertraut zu machen. Filme können zum eigenen Initiationsritual in Horizonte werden, die uns ansonsten verschlossen geblieben wären. Auch äußerlich gleicht ein Kinobesuch strukturell einem Initiationsritual, wie es van Gennep beschrieben hat:11 Der Phase der Ablösung oder Separation folgt vor der nächsten klar strukturierten Phase eine der Unstrukturiertheit, der Ambiguität und des Paradoxen. Die Initianden sind in dieser Zwischenphase, der Umwandlung Personen, die einen Seinswechsel durchlaufen und der alten Kategorie nicht mehr und der neuen noch nicht zugehören. Ihre Körper sind in dieser Zeit prima materia, die Protagonisten gelten als tot, bevor sie zu neuem sozialem Leben erweckt werden.12 Die negativen Aspekte dieses Zwischenzustandes werden mit Hilfe von Symbolen des Todes, die positiven in Analogie zu Schwangerschaft, Geburt und Wachstum dramatisiert.13 Nun ist der Körper während eines Kinobesuches in einer Weise ruhig gestellt, dass eine Bearbeitung der Seele in diesem Schlaf- oder gar Todeszustand umso effektiver wird.14 Unser Geist aber 11

 Vgl. van Gennep: Übergangsriten, 70–113.  Vgl. Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main/ New York 1989, 102 und 162. 13  Vgl. Victor Turner: Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage, in: June Helm (Hrsg.): Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Association, Seattle 1964, 4–20. 14  Vgl. Manfred Josuttis: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991, 53, 66 und 68ff.; 12

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ist wach und »erneuert sich«. So wird jeder Kinobesuch potentiell zu einem (kleinen) Initiationsritual.

4. Ausblick: Jenseits des Films Van Gennep, aus dem 19. Jahrhundert kommend, beschrieb die moderne Gesellschaft als eine, in der die Trennung zwischen säkularer und religiöser Welt klar erkennbar sei, dazwischen bestehe Unvereinbarkeit.15 Mag man letzteres aus spätmoderner Perspektive anzweifeln, wenn man einem funktionalen Religionsbegriff folgt, so ist eine Trennung zwischen Säkularem und Religiösem in heutiger Zeit erst recht gescheitert. So schreibt Bruno Latour im Katalog zur Ausstellung des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe »reset Modernity!« zum Abschnitt »ENDLICH WELTLICH«: »Die Modernen haben vielleicht gelernt, die Fesseln der Religion abzuschütteln, doch sie finden sich nun inmitten neuer Religionskriege wieder. Sie sind nicht länger sicher, was ›säkular‹ überhaupt bedeutet. Sind sie immer noch zu religiös, um sich auf dieser Erde zu verorten? Oder nicht religiös genug? Es ist schwierig, die Kräfte der Religion – oder die der Politik – zu bändigen. Welche Gewalten sich entfesseln lassen, wenn diese aufeinandertreffen! Wir scheinen einige Schwierigkeiten damit zu haben, uns tatsächlich weltlich zu geben – im Sinn einer Achtsamkeit gegenüber der Welt.«16

Ein letztes Filmbeispiel aus dem Film »Von Menschen und Göttern« (Xavier Beauvois, Frankreich 2010) führt vor diesem Hintergrund über den Begriff der Initiation hinaus und dafür mitten in die Begriffe der Toleranz und Achtsamkeit hinein: »Sie wissen, der heutige Abend ist nicht wie jeder andere!« Was an die Einleitungsfrage zum (jüdischen) Sederabend erinnert, ruft der Prior eines Trappistenklosters dem Anführer einer islamistischen Rebellengruppe nach. Wir befinden uns in Algerien, im Jahr 1996, und soeben ist eine schwer bewaffnete Truppe von Männern ins Kloster eingedrungen und hat die Herausgabe des Arztes samt Medikamenten verlangt. Prior Christian verweigert die Auslieferung und weist den Rebellenführer Ali Fayattia dabei auf die Koransure 5,82 hin. Diese bringt auch Inge Kirsner: Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen, Stuttgart 1996, 34. 15  Vgl. van Gennep: Übergansriten, 13f., mit weiterführender Kritik auch 249: Statt »sakral«/»weltlich« eher »sakral«/»religiös«? 16  Bruno Latour: Ohne Titel, in: Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe: reset MODERNITY! Field Book Deutsch, o.P. (51). Im o.g. Abschnitt wurden Filmausschnitte zum Thema »Religion im Film« gezeigt.

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die Achtung Mohammeds vor Christen und insbesondere Priestern und Mönchen zum Ausdruck, welche »die Gläubigen lieben…« Fayattia nimmt die Sure auf, führt sie weiter: »Sie sind nicht hochmütig…«, und fügt hinzu: »Ich bin das Leben. Es gibt keinen Größeren.« »Deswegen stehen wir unseren Nachbarn so nah«, beschließt Christian das Gespräch. Fayattia will daraufhin das Kloster verlassen. Der Zuruf Christians lässt ihn umkehren und fragen: »Warum?«Christian antwortet, dass an diesem Abend die Geburt des Friedensfürsten gefeiert würde. »Jesus?«, fragt Fayattia, geht auf Christian zu und bittet um Entschuldigung. Dieser zögert zunächst, die ausgestreckte Hand des anderen zu ergreifen, tut es dann doch.17

Dieser Handschlag ist der erste Höhepunkt des auf historischen Ereignissen basierenden Films »Von Menschen und Göttern«. Er beschreibt die Ereignisse, die der Entführung und Ermordung sieben der neun Trappistenmönche, die im Einklang mit der muslimischen Bevölkerung im Kloster Notre-Dame de l’Atlas in Tibhirine im algerischen Atlas-Gebirge lebten, vorangingen. Es bleibt unklar, ob die für den Mord Verantwortlichen zu derselben Gruppe gehörten, die Weihnachten 1996 das Kloster überfiel; aber deutlich wird, warum der Prior kurz zögerte, die Hand zu ergreifen, die zuvor an der Ermordung 14 kroatischer Gastarbeiter beteiligt war. Was diesen Handschlag letztlich ermöglicht, beantwortet die Frage, was den Begriff »Toleranz« ausmacht. In diesem Fall geht er über seine wörtliche Übersetzung aus dem lateinischen tolerare (dulden, erdulden) hinaus – die Immanuel Kant aufnimmt und Toleranz als die Forderung gegenseitiger Duldung definiert –, was lediglich ein Gelten- und Gewährenlassen fremder Überzeugungen und Handlungsweisen einschlösse, und steigert sich zu einer Akzeptanz, die eine verstehende Haltung gegenüber einer Person oder Einstellung meint. (Der Dialog war entsprechend auch ein entscheidendes Stilmittel Lessings und kam seiner Intention entgegen, eine Sache stets von mehreren Seiten zu betrachten und auch in den Argumenten seines Gegenübers nach Spuren der Wahrheit zu suchen.) Die niedrigste Form der Duldung (»Jeder, wie er denkt«), die eigentlich Indifferenz, Gleichgültigkeit, bedeutet, ist in dem geschilderten Fall nicht möglich, wo (verbale) Bedrohung und Waffengewalt auf ein unbewaffnetes, friedliches Gegenüber treffen. Die Verteilung von Macht und Geist scheinen ebenso klar zu sein wie Sieg und Niederlage, bis der »Nazarener« (wie die Christen im Koran manchmal genannt werden) den Nachfolger Mohammeds fragt, ob er den Koran kenne. Bevor der andere richtig wütend werden kann, fängt der Christ an, daraus zu zitieren, beginnt also einen interreligiösen Dialog und zieht den Muslim auf die Seite des Geistes, der Macht des Wortes. Er wird mit eigenen Waffen geschlagen, mit anderen Waffen als denen, die er 17

  Vgl. Xavier Beauvois: Von Menschen und Göttern, Frankreich 2010, 41.10–42.00.

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in der Hand hält. Und doch ist er nicht der Verlierer. Erstens kann er zeigen, dass er den Koran durchaus kennt; zweitens anerkennt er Isa, Jesus, als großen Propheten; drittens weiß er um die Bedeutung des Festes Weihnachten, die »Geburt des Friedensfürsten«, für die Christen. Er besitzt die Größe, um Entschuldigung zu bitten (und der andere die Größe, diese anzunehmen). Beide werden zu gleichberechtigten Partnern unterschiedlicher Überzeugungen, aber mit einem entscheidenden Fixpunkt. Auf der Basis der Nächstenliebe, Forderung sowohl der Bibel als auch des Koran, findet für einen Augenblick Versöhnung statt, wird der Begriff »Toleranz« Fleisch. Dies wiederum kann nur stattfinden, weil die christlichen Brüder die muslimische Dorfbevölkerung schon lange als Brüder und Schwestern ansehen, an deren Festen wie der Beschneidung teilnehmen, auf deren Märkten ihre selbst erwirtschafteten Produkte verkaufen und nicht zuletzt den Koran so gut kennen wie die Bibel. Der Moment des Handschlags enthält ein utopisches Element, das stärker bleibt als die Tatsache des gewaltsamen Todes am Ende; es nimmt eine Passage aus dem Abschiedsbrief Christians vorweg, in welcher er »dem Freund des letzten Augenblicks« vergibt.18 So wird der Tod als letzte große Initiation in eine andere Form des Daseins gezeigt.

18

 Der Schlussteil des Briefes lautet: »In dieses mein Dankeschön, mit dem fortan alles über mein Leben gesagt ist, schließe ich euch natürlich mit ein, Freunde vergangener Tage und Freunde von heute. Und auch dich, den Freund der letzten Minute, der du nicht gewusst haben wirst, was du tust. Ja, auch dir wünsche ich den göttlichen Dank und seine Herrlichkeit, da du mich zu Gott geführt hast. ›A’DIEU‹. Und möge es uns vergönnt sein, uns wieder zu begegnen, glückliche Schächer, im Paradies, wenn Gott, der unser beider Vater ist, es will. Amen. Inschallah.« Der Brief wird an das Ende des Films gestellt; er findet sich auch in dem der DVD begelegten Filmheft und unter www.vonmenschenundgoettern-derfilm.de/mobile/abschiedsbrief.html (29. Januar 2018).

Bildungsbürger oder Traditionalisten? Soziologische Betrachtungen zum Verhältnis von Bildung und Religiosität Gert Pickel

1. Einleitung – Bildung und Religion   als schwierige Frage Die religionssoziologische Sicht auf das Verhältnis zwischen Bildung und Religion ist zwiespältig. Zum einen wird seit Max Weber, und auch (unter einem vorwiegend empirischen Bezug) in Teilen der Säkularisierungstheorie, ein Spannungsverhältnis zwischen Bildung und Religiosität ausgemacht. So wie Not scheinbar beten lehrt, untergräbt ein zunehmender Erwerb von Wissen und Bildung scheinbar den persönlichen Glauben. Vor allem die höhere Reflexionsfähigkeit gebildeter Menschen wird als Problem für eine Religiosität angesehen, welche auf Glauben ohne empirisch überprüfbares Wissen beruht. Mit zunehmendem Wissen werden bislang gültige Glaubensüberzeugungen hinsichtlich ihrer Passförmigkeit in einer rationalen Welt hinterfragt und bei Fehlen empirischer Belege und darauf beruhender Begründungen in Frage gestellt. Dies geschieht mit einer fortschreitenden Ausbreitung von Bildung in modernen Gesellschaften immer häufiger. Zudem passt ein rationalistisches Weltbild, welches heute in modernen Gesellschaften gelehrt wird, nicht zu so etwas auf den ersten Blick Irrationalem wie Glauben. Diese Diskrepanzen werden u.a. in den Überlegungen der Säkularisierungstheorie thematisiert, welche den Gegensatz zwischen Modernisierung und Religiosität aufmacht.1 Dabei wird immer eine Verbindung zwischen dem übergreifenden Prozess der Rationalisierung und zunehmender Bildung angenommen. Gleichzeitig werden auch immer wieder gegenläufige Befunde thematisiert und Kontradiktionen zu dieser einfachen Annahme eines negativen Zusammenhangs zwischen Bildung und Religiosität hervorgehoben. So irritiert eine in Einzelstudien aufgefundene, oft hohe Verbreitung von Religiosität und Glauben bei Naturwissenschaftlern genauso, wie intellektuelle Formen des Kulturprotestantismus nicht zur Gleichung »Bildungszuwachs ist gleich 1

  Vgl. zusammenfassend Gert Pickel: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, 137–177.

212 Gert Pickel

Abnahme an Religiosität« passen. Und würde eine solche Annahme nicht irgendwie einer akademischen Theologie entgegenstehen, welche sich ja explizit der Schaffung von Wissen widmet? Nun scheint die Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Religiosität nicht so einfach zu beantworten zu sein. Dies zeigen auch die vielfältigen Bemühungen in Theologie und Sozialwissenschaften, das Verhältnis zwischen Bildung und Religiosität zu entschlüsseln. Wichtig ist, es geht dabei in diesem Diskurs vor allem um die individuelle Religiosität. So ist es gesellschaftlich gesehen vollkommen unproblematisch, Wissen und Fakten über eine Religion und deren Sinnsystem zu sammeln, zu vertiefen und zu vermitteln. Auch Aussagen über die in Religionen angelegten normativen Systeme sind zwar in ihrer Richtigkeit diskutabel, aber erst einmal kein Glaubensproblem. Diese Aussagen liegen auf der kognitiven Ebene und können somit auch Rationalität für sich beanspruchen. Die Ergebnisse dieser Betrachtungen können zwar manchmal Glaubensüberzeugungen belasten, sie stellen sie aber nicht per se in Frage. Zu einem kritischen Thema wird der Erwerb von Wissen (über Religion) erst, wenn darin enthaltene Rationalisierungen in einen Gegensatz zu einer subjektiven persönlichen Religiosität geraten. Letztere ist nämlich alles andere als eine rein kognitive Beziehung zu Religion, es ist vorwiegend eine emotionale oder affektive Verbindung. Natürlich muss die subjektive Religiosität nicht grundsätzlich mit dem kognitiven Wissen in Konflikt geraten, bleibt es doch jedem Menschen selbst überlassen, seine Religiosität selbst zu bestimmen und diese Beziehung herzustellen oder nicht. Gleichwohl wird es historisch gesehen schwieriger in einer weitgehend durch Rationalität geprägten Umwelt, diese Beziehung vollständig außerhalb persönlicher Evaluation zu lassen. Wie die Entwicklungen der gesellschaftlichen Religiosität der letzten Jahre zeigen, scheint das Verhältnis zwischen Wissen und Religiosität (nicht Religion) für viele Menschen in modernen (oder sich in Modernisierung befindlichen) Gesellschaften dann auch nicht problemfrei. Eingebettet in weitere Faktoren des sozialen Wandels findet sich in Teilen eine Diffusion des Glaubens, sicher aber ein Bindungsverlust an die Sozialgestalten der Religionen.2 Folgt man der eher pessimistischen Sichtweise der Säkularisierungstheorie hinsichtlich der Auswirkungen einer Bildungsexpansion, dann stellt sich die praktische Frage, was für eine Bildung im Religionsunterricht eigentlich vermittelt werden sollte. Dient der Religionsunterricht einer Vertiefung der persönlichen Frömmigkeit? Zielt er ab auf ein reines (aber auch für das 2

  Vgl. Gert Pickel: Religiosität in Deutschland und Europa – Religiöse Pluralisierung und Säkularisierung auf soziokulturell variierenden Pfaden, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 1 (2017), 37–74; Detlef Pollack/Rosta Gergely: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt am Main 2015.

Bildungsbürger oder Traditionalisten? 213

Sinnsystem »Religion« nur begrenzt konfliktäres) Faktenwissen über Glaubensangelegenheiten, welches übermittelt werden sollte? Oder intendiert er die kritische Hinterfragung religiöser Systeme im Sinne der zentralen Prämissen moderner Bildungsarbeit als einer Erziehung zu eigenständigem Denken, verbunden mit dem Risiko einer zunehmenden Desillusionierung des frühen Kinderglaubens? Fast wichtiger als die Frage, was vermittelt werden sollte, ist: Was für eine Bedeutung und Wirkung hat welche Form der religiösen Bildung auf die Nachhaltigkeit von Religiosität? Wenn die Vermittlung reinen Faktenwissens über Religion für die persönliche Religiosität kaum Bedeutung besitzt, was nützt diese dann? Lässt sich überhaupt über die Vermittlung von religiösem Wissen etwas zu subjektiver Religiosität beitragen? Wie sich anhand der bisherigen Auffächerung der Fragestellung zeigt, öffnet sich mit der Thematisierung der allgemeinen Frage der Beziehung zwischen Bildung, Rationalisierung und Religiosität ein breites Feld an Detailfragen. Voraussetzung für viele erst einmal lose Schlussfolgerungen ist dabei die Annahme, dass zwischen Bildung und Religiosität eine Art Spannungsverhältnis besteht. Doch ist dies empirisch überhaupt so?

2. Empirische Befunde zum Verhältnis    formaler Bildung und Religiosität Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Bildung und Religion geht es weniger um die Frage, was man über Religion oder Religionen weiß, als wie zunehmende Bildung die persönliche Religiosität beeinflusst. Nimmt man eine einfache Beziehungsanalyse zwischen Indikatoren der Religiosität und dem formalen Bildungsstand vor, dann wird die Annahme der Säkularisierungstheorie bestätigt.3 Menschen mit formal niedrigerer Bildung sind in der Regel religiöser als Menschen mit formal höherer Bildung. Aber so einfach ist die Beziehung nun auch wieder nicht. Es zeigt sich konsistent über verschiedene Datensätze, dass der geringste Anteil an Kirchgängern und Menschen, die sich selbst als religiös bezeichnen, unter Deutschen mit einem formal mittleren Bildungsstand zu finden ist. Konfessionslosigkeit ist vergleichbar aufgeteilt. Dabei ist diese Form der Verteilung in den neuen Bundesländern etwas stärker als in den alten Bundesländern ausgeprägt, strukturell aber gleich (s. Tabelle 1).

3

  Vgl. Pickel: Religionssoziologie, 175.

214 Gert Pickel

Tabelle 1: Religiosität nach Bildungsstand Formaler Bildungsstand

Anteil Konfessionslose

Regelmäßiger Kirchgang

Subjektive Religiosität Niedrig

Subjektive Spiritualität

Hoch Niedrig

Hoch

Niedrig

19 %

20 %

37 %

37 %

72 %

13 %

Mittel

38 %

13 %

53 %

30 %

72 %

15 %

Hoch

29 %

17 %

49 %

37 %

64 %

21 %

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) 2012; regelmäßiger Kirchgang = mindestens einmal Gottesdienstbesuch im Monat; hohe Religiosität (Spiritualität) = Kategorien 10–7 auf einer 10-Punkt-Skala der Selbsteinschätzung; niedrige Religiosität (Spiritualität) = Kategorien 1–4 auf einer 10-Punkt-Skala der Selbsteinschätzung; formaler Bildungsstand niedrig = keine oder Hauptschulabschluss; mittel = Realschulabschluss; hoch = Fachhochschul- oder Hochschulabschluss.

Wie ein niedriger Bildungsstand eine eher traditionale Frömmigkeit zu stützen scheint, finden sich bei einem höheren Bildungsstand ebenfalls Gruppen, welche religiös sind. Genau genommen wenden sich viele höher Gebildete allerdings einer anderen Form persönlicher Religiosität – der Spiritualität – zu. Dieser zur Individualisierungstheorie des Religiösen passende Befund ist allerdings in die Relation zu setzen: So übersteigt die Zahl der sich kaum bis gar nicht religiös einschätzenden Deutschen die der sich als stärker religiös einschätzenden Deutschen.4 Auch eine eigene Spiritualität gesteht sich nur eine kleine Minderheit der Deutschen zu.5 Natürlich sind dies nur generelle Beziehungen, die auf Mehrheiten in der Gesellschaft beruhen und weder religiöse Menschen mit hoher Bildung noch unreligiöse Menschen mit niedriger Bildung ausschließen. Aber es geht ja um strukturelle Zusammenhänge zwischen zwei sozialen Gegebenheiten – und diese bestehen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. In diese Richtung deuten auch länderübergreifende Analysen zum Zusammenhang zwischen Modernisierung und Religiosität.6 Ob es sich um einen direkten Effekt von Bildung und Rationalisierung auf Religiosität handelt, ist empirisch nicht klar herauszuarbeiten, korrespondieren doch verschiedene Modernisierungsfaktoren (Einkommen, Wohlstand, Werte, Urbanisierung, Familienverhältnisse) stark mit dem Bildungsgrad. 4

  Vgl. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991.   Vgl. Gert Pickel: Evangelische Spiritualität und Säkularismus oder Atheismus, in: Peter Zimmerling (Hrsg.): Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 2: Theologie, Göttingen 2017, 627–647. 6   Vgl. Pippa Norris/Ronald Inglehart: Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004. 5

Bildungsbürger oder Traditionalisten? 215

Anders gesagt: Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob der Bildungsstand, damit verbundene soziale Statusdifferenzen im Wohlstand oder sozialer Vernetzung bzw. sogar regionale Unterschiede die beobachtbaren Effekte herbeiführen. Diese verschiedenen Einflüsse sind in ihrer Wirkungskraft systematisch kaum voneinander zu unterscheiden – vermutlich unterstützen sie sich wechselseitig in ihrer realen Wirkung. Allerdings deuten die Ergebnisse darauf hin, dass über eine in modernen Gesellschaften vermittelte rationale Bildungssteigerung auch Rationalisierung vorangebracht wird. Subjektive Religiosität wird auf diese Weise nicht erleichtert. Die Rationalisierungsentwicklung befördert den viel zitierten Wertewandel zur Selbstverwirklichung, der eine als traditional verstandene Religiosität für Individuen immer mehr als unzeitgemäß erscheinen lässt.7 Nimmt man die Maslowsche Bedürfnishierarchie früherer Zeiten, auf der die Überlegungen zum Wertewandel von Ronald Inglehart beruhen, allerdings ernst, dann passt auch die Ausprägung einer (allerdings übersichtlichen) Gruppe von Menschen mit einer individualistischen spirituellen Prägung bei höher Gebildeten ins Bild. Als eine Massenbewegung, wie es die Säkularisierung ist, darf man diese Entwicklung vermutlich allerdings nicht einschätzen. Dies zeigen auch die Verteilungen in Tabelle 1. Diese allgemeine Betrachtung ist aus Sicht einer religiösen Bildung zwar in Teilen ernüchternd, aber noch nicht vollständig dramatisch. Letztlich geht es im Religionsunterricht ja um eine spezifische Form von Bildung, um religiöse Bildung. Nun hatte ich bereits die Differenz zwischen Wissen über Religion und Wissen und Religion aufgezeigt. Letztlich ist gerade auch im Protestantismus der eigenständig denkende Mensch das Ziel. Solche allgemeinen Aussagen helfen weiter, wenn es um die Vermittlung spezifischen Wissens geht. Sie werden dann (allerdings auch nur dann) zu einer schwierigen Aufgabe, wenn man diese Wissensvermittlung mit dem Wunsch der Stärkung einer nachhaltigen Bindung an das Religiöse, oder gar eine spezifische Religion verbindet. Hier geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um Bindung an Religion, religiöse Sozialisation und Akkulturation. Dieser Aspekt ist aus Sicht von Kirchen von großer Bedeutung, zeigen doch viele Studien übereinstimmend, dass gerade der religiösen Sozialisation eine bedeutende Rolle für den Erhalt von Religion und Religiosität zukommt. Aber speziell auf diesem Gebiet sieht es in modernen Gesellschaften eher schlecht aus. So ist in Deutschland, wie in den meisten anderen europäischen Ländern, die religiöse Sozialisation rückläufig – zumindest, wenn man den Befragten selbst glauben mag. Über die Alterskohorten (oder Generationen) 7

  Vgl. Ronald Inglehart: Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt am Main 1989; Ronald Inglehart/Scott Flanagan: Value Change in Industrial Societies, in: American Political Science Review 81 (1987), 1289–1319.

216 Gert Pickel

hinweg sinkt die Selbstaussage, eine religiöse Sozialisation erhalten zu haben.8 Dies gilt nicht nur für die Gesamtbevölkerung, sondern auch innerhalb der jeweiligen Mitgliedschaft der christlichen Kirchen: Bei den Mitgliedern der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) fällt die Aussage, eine religiöse Sozialisation erhalten zu haben, von über 80 % Zustimmung in den ältesten Gruppen auf unter 50 % in der jüngsten Gruppe ab (s. Diagramm 1). Sicher kann diese Eigeneinschätzung hinsichtlich der Realität religiöser Sozialisation täuschen, ist doch das, was religiöse Sozialisation in den Augen des Einen darstellt, in den Augen eines Anderen möglicherweise völlig ungenügend, und umgekehrt. Doch auch andere Indikatoren stützen die Aussage eines über die Generationen stattfindenden kontinuierlichen Abbruchs in der religiösen Sozialisation im Elternhaus. Zum einen fällt der Vergleich zwischen dem Gottesdienstbesuch und religiösen Praktiken in der Jugend und zu einem späteren Lebenszeitpunkt ungünstig aus, zum anderen finden sich massive Differenzen in den religiösen Praktiken zwischen Eltern und Kindern. Diagramm 1: Selbstaussagen zu religiöser Sozialisation unter Mitgliedern der Evangelischen Kirche und Konfessionslosen

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD; Antwortvorgabe »Wurde religiös erzogen«; ausgewiesen sind zustimmende Werte (stark und eher zustimmend auf einer 4-Punkte Skala).

Es scheint also vor allem im Elternhaus zu einem Einschlafen der Weitergabe religiöser Traditionen, Praktiken, aber auch Überzeugungen zu kommen. Ungünstigerweise ist aber genau das Elternhaus aus Sicht der Betroffenen – fragt man wie in der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD Mitglieder der evangelischen Kirche nach der wichtigsten Sozialisationsinstanz 8

  Vgl. Detlef Pollack/Olaf Müller: Religionsmonitor 2013 – verstehen was verbindet, Gütersloh 2013.

Bildungsbürger oder Traditionalisten? 217

– immer noch die primäre Sozialisationsquelle (s. Diagramm 2). Danach folgen zwar bereits religiöse Experten wie Pfarrer und Religionslehrer, sie stehen aber in ihrer Bedeutung für die religiöse Sozialisation in der Regel doch etwas zurück (was nicht ausschließt, das einzelne Personen ihre Religiosität durch diese Sozialisationsagenten begründet ansehen). Setzt man ins Kalkül, dass die empirischen Beziehungen zwischen der Eigeneinschätzung einer religiösen Sozialisation und anderen Indikatoren der Religiosität (Praxis, Glauben, Konsequenzen, Wissen) erheblich sind, dann kann dieser Sozialisationsabbruch in seiner Wirkung auf die Religiosität der Menschen und späterer Generationen nicht unterschätzt werden. Und dies bezieht sich dann keineswegs nur auf religiöse Praktiken oder die von vielen für moderne Gesellschaften oft gerne als sowieso überholt angesehene Kirchlichkeit, sondern betrifft eine christliche Religiosität im Ganzen. Diagramm 2: Haltung zu Sozialisationsinstanzen bei evangelischen Kirchenmitgliedern

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD; Antwortvorgabe »Bitte geben Sie für die folgenden Personen, Gruppen oder sozialen Zusammenhängen an, ob ihre Einstellung zu Religion, Glauben und Kirche durch sie eher positiv, eher negativ oder gar nicht beeinflusst wurde«; ausgewiesen sind zustimmende Werte (stark und eher zustimmend auf einer 4-Punkte Skala).

Die Abwendung von Kirche (und teilweise auch vom christlichen Glauben) vollzieht sich dabei nicht sprunghaft. Sie wird in der immer diffuser und schwächer werdenden Sozialisation angelegt, setzt dann aber konkret zumeist erst später, in der biographischen Übergangsphase der Postadoleszenz, ein. So kann man seine Beteiligung an der kirchlichen Jugendarbeit, den Konfirmandenunterricht sowie den Religionsunterricht rückwirkend sehr positiv bewerten (was gerade mit Blick auf den Religionsunterricht nicht immer der Fall ist), und gleichzeitig mit 25 Jahren aus der Kirche austreten,

218 Gert Pickel

sich kirchlicher Praktiken enthalten und eine eher gleichgültige Haltung zum Glauben einnehmen. Man hat nichts gegen Religion, nur benötigt man eben in der modernen Gesellschaft keine mehr für sich selbst. Die Konstruktion der eigenen Identität begründet sich auf anderen Aspekten des Lebens. Die Zukunft ist absehbar: Die Kinder dieser ehemaligen Kirchenmitglieder werden nicht mehr bewusst im Glauben erzogen, ja sehen im Gegenteil ein gewisses Desinteresse an Glaubensdingen bei ihren Eltern, welches bei ihnen den Eindruck erweckt, Religion und Religiosität sei, wenn überhaupt noch wichtig, etwas Nachrangiges für den Lebensalltag. Es kommt zu dem von der Säkularisierungstheorie thematisierten generationalem Abbruch in der Religiosität. Nicht aus Bosheit, bewusster Abwendung oder aufgrund kirchlicher Defizite, sondern überwiegend aus fehlender Sozialisation und religiöser Akkulturation. Dazu trägt dann auch die soziale Umwelt, so ebenfalls wenig religionsaffine Peers, eine Verdrängung religiöser Argumente aus den meisten Bereichen des Lebensalltages sowie ein relativ schlechtes Image von Kirche (als überalterte Großorganisation) wie auch Religion (als Grund für innergesellschaftliche Konflikte und für eine fehlende Kompromissbereitschaft in Wertefragen bei bestimmten Personengruppen) nachhaltig bei.

3. Bedeutung für die religiöse Bildung Was bedeuten diese in modernen Gesellschaften für Religion ungünstigen Rahmenbedingungen nun für die religiöse Bildung? Zum einen ist sie zwingend notwendig, will man nicht die zentrale Instanz des Erhalts von christlicher Religiosität – und damit ist nicht Kirchlichkeit gemeint – immer mehr aufgeben. Ohne religiöse Sozialisation kommt es zu einer Erosion der Religiosität in den Bevölkerungen. Dies haben die letzten vierzig Jahre in allen westeuropäischen Ländern, wenn auch mit unterschiedlichen Phasenaufteilungen und Zeitverschiebungen und auf unterschiedlichen Niveaus, eindrücklich gezeigt. Kirchlichkeit und die soziale Bedeutung von Religion erodiert, abgesehen vielleicht von ihrer Konflikte hervorrufenden Präsenz in jüngerer Zeit; subjektive Religiosität im Sinne des Christentums verblasst und wird diffuser. Allein unklar ist, ob sich Formen von bekannten religiösen Sozialgestalten in unabhängigen Formen hoch individualistischer Religiosität ausbilden und überdauern. Manch Theologe setzt auf eine solche Entwicklung. Deren Existenz ist allerdings weder gesichert, noch als nachhaltig zu erwarten – und vor allem kaum von Relevanz für die Umsetzung religiöser Bildung (und wenig weiterführend aus Sicht spezifischer Religionen). Für eine konfessionelle religiöse Sozialisation kann es entsprechend kaum befriedigend sein, auf diffuse Vorstellungen von Religiosität hinzuwirken, die sich je nach Individuum und Lebensphase bei geringer Lebensbedeutung manifestieren können – oder eben nicht. Letztlich steht doch die Vermittlung

Bildungsbürger oder Traditionalisten? 219

christlicher Religiosität (oder muslimischer im entsprechenden Kontext) im Zentrum des Interesses. Man muss ja auch entsprechende konkrete Elemente eines Glaubens vermitteln können. Dies setzt aber strukturell voraus, dass religiöses Wissen mit subjektiver Religiosität und Glauben in einer Beziehung steht – vom Vermittlungsverständnis (oder aus dem Blickwinkel von religiösen Institutionen) her natürlich in einem positiven Verhältnis. Folgt man den Überlegungen von Charles Glock zu den Dimensionen der Religiosität, dann ist diese Annahme durchaus berechtigt.9 Glock identifiziert religiöses Wissen als eine eigenständige Dimension, die aber mit vier anderen Dimensionen (religiöse Praktiken, religiöse Erfahrungen, Glauben und religiöse Konsequenzen) systematisch verbunden ist.10 Damit gesteht Glock dem religiösen Wissen eine nicht unwesentliche Bedeutung für die Ausbildung von Religiosität zu. Und die empirische Prüfung der Bezüge zwischen diesen Faktoren in der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD bestätigt diese Annahme in beeindruckender Manier (s. Diagramm 3): So ist eine Eigeneinschätzung des religiösen Wissens hoch mit den Indikatoren der anderen Dimensionen der Religiosität korreliert. Statistische Zusammenhänge von r (Korrelationskoeffizient nach Pearson) > 0,6 sind keine Seltenheit, was für Individualdatenanalysen schon nahe an eine Deckungsgleichheit im Antwortverhalten heranreicht. Anders gesagt, religiöses Wissen ist eine Voraussetzung für Glauben wie auch Praktiken – oder zumindest mit diesen stark verschränkt, will man keine Kausalkette konstruieren. Allein die selbstbekundeten Kenntnisse über andere Religionen sind weniger stark mit den Indikatoren für religiöse Erfahrungen, religiöse Praxis (individuell als Gebet, kollektiv als Gottesdienstbesuch) und Glauben korreliert. Unter den Dimensionen der Religiosität besteht noch zwischen dem religiösen Wissen und den religiösen Erfahrungen der geringste Zusammenhang, aber auch diese beiden Dimensionen sind noch hochsignifikant miteinander verbunden. Weniger überraschend ist die starke Prägung des religiösen Wissens durch die Sozialisation. Sie ist hier mit der Eigenaussage über die erfahrene religiöse Sozialisation, wie der Kirchenverbundenheit der Mutter, über zwei Indikatoren erfasst. Wissen wird eben beigebracht. Gleichzeitig ist die Auswirkung auf die Weitergabe von Religiosität erheblich. Bemerkenswert ist auch die noch einmal besonders starke Beziehung zwischen dem selbstzugestandenen religiösen Wissen und dem Gottesglauben wie der Eigeneinschätzung subjektiver Religiosität. Religiöses Wissen spielt somit dann doch eine große Rolle für die Etablierung und Vertiefung subjektiver Religiosität – und damit Glaubenssicherheit. Dies drückt sich übrigens auch in der Auskunftsfähigkeit über den eigenen Glauben aus, 9

  Vgl. Charles Glock: Towards a Typology of Religious Orientation, New York 1954.  Vgl. Pickel: Religionssoziologie, 323–325.

10

220 Gert Pickel

wo (hier nicht ausgewiesen) faktisch übereinstimmende Strukturen bei vergleichbaren statistischen Korrelationen berechnet werden können. Diagramm 3: Religiöses Wissen und andere Indikatoren der Religiosität

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD; Pearsons Produkt-Moment-Korrelationen; Indikatoren siehe Legende Diagramm 1 und 4; »Du-Erfahrung« = »Ich glaube schon einmal mit Gott in Kontakt gewesen zu sein«; »Welterfahrung« = »Ich dachte schon einmal, dass ich mit der Welt eins bin«; »Gottesglaube« = Glaube an einen persönlichen Gott.

Betrachtet man losgelöst von diesen Beziehungen einzelne Selbsteinschätzungen religiösen Wissens, so wird zum einen deutlich, dass die meisten Befragten meinen, über ihre Religion ganz gut Bescheid zu wissen (s. Diagramm 4). Dies lässt im Detail (Bibel und Kirchenlieder) etwas nach. Zum anderen wird erneut die starke Differenz zwischen den Generationen erkennbar: Je jünger ein Kirchenmitglied der evangelischen Kirche ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer positiven Eigeneinschätzung von Kenntnissen über die eigene Religion. Selbst wenn man an den einzelnen in dieser Untersuchung gestellten Fragen sicher Kritik äußern kann und skeptisch gegenüber Selbsteinschätzungen ist, kann man die erhebliche Diskrepanz zwischen 40 % in der jüngsten Untersuchungsgruppe, welche angeben, die Bibel gut zu kennen, und fast 90 % in der ältesten Gruppe nur schwer in ihrer Aussagekraft ignorieren. Zwar können einige dieser Kenntnisse im Laufe des Lebens anwachsen, wie zum Beispiel die Kenntnis von Kirchenliedern, allerdings verweisen die vorgelegten sowie andere hier nicht ausgeführte empirische Ergebnisse doch auf einen Traditionsabbruch hinsichtlich des religiösen Wissens. Am Rand bemerkt seien noch zwei Befunde: Erstens gesteht sich nur eine Minderheit der Protestanten Kenntnisse über zumindest

Bildungsbürger oder Traditionalisten? 221

eine andere Religion zu. Hier könnte ein Zukunftspotential gerade für den Religionsunterricht in religiös immer pluraler werdenden Gesellschaften liegen. Zweitens sind die Kenntnisgrade bei den Konfessionslosen extrem gering, auch wenn sich immerhin noch ein Drittel von ihnen zuerkennt, sich gut mit dem Christentum auszukennen. Bei letzteren ist zu befürchten, dass diese Angabe vor allem dem Christentum gegenüber ablehnende Positionen rechtfertigen soll. Diagramm 4: Religiöses Wissen nach Selbstauskünften von Kirchenmitgliedern der EKD

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD; »Kenntnisse Christentum« = »Ich weiß gut über das Christentum Bescheid« (Gegensatz: »Ich weiß kaum etwas über das Christentum«); »Auskunft über Glauben« = »Wenn ich danach gefragt werde, kann ich über meinen Glauben Auskunft geben« (Gegensatz: »Wenn ich gefragt werde, kann ich über meinen Glauben keine Auskunft geben«); »Kenntnis Bibel« = »Ich weiß gut, was in der Bibel steht« (Gegensatz: »Ich weiß kaum, was in der Bibel steht«); »Kenntnis Kirchenlieder« = »Ich kenne viele Kirchenlieder« (Gegensatz: »Ich kenne kaum Kirchenlieder«); »Kenntnisse andere Religion« = »Ich kenne mich mit mindestens einer anderen Religion gut aus« (Gegensatz: »Ich kenne mich mit keiner anderen Religion aus«); ausgewiesen sind zustimmende Werte (stark und eher zustimmend auf einer 4-Punkte Skala); »Klos« = Konfessionslose.

Zudem ist davon auszugehen, dass die Selbstzuordnungen die Wirklichkeit beschönigen. Eigeneinschätzungen können angepasst werden. Fühle ich mich als Protestant, denn um diese geht es in der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, dann empfinde ich es vielleicht als peinlich, kein religiöses Wissen zu besitzen. So dürften manchem Religionslehrer die recht beruhigenden Werte der Eigeneinschätzung religiösen Wissens als konträr zu eigenen Erfahrungen vorkommen. Geht man von diesem Effekt aus, dann sind die Ergebnisse in den jüngsten Untersuchungsgruppen möglicherweise sogar noch zu hoch geschätzt. Konservative Schätzung nennt sich dies in der

222 Gert Pickel

empirischen Sozialforschung. Trotzdem sagt diese Eigeneinschätzung etwas aus: Selbst bei zurückhaltendem Wissen über seine Religion und einer geringen religiösen Praxis, hält relativ lange ein Zugehörigkeitsgefühl (eine Identität) vor. Diese Zugehörigkeit wird schon durch die bloße Teilnahme an einem konfessionellen Religionsunterricht befördert. Eine eigene soziale Identität ergibt sich nun in der Regel aus der Abgrenzung zu anderen sozialen Gruppen. Da sind Wissenselemente, die Ähnlichkeit wie auch Unterschiede zu anderen religiösen Sozialgruppen ermöglichen, willkommen. Zudem eröffnet sich im Religionsunterricht die Chance, sowohl Argumente für eine soziale Bedeutung des Religiösen zu finden als auch die soziale Identität sichtbar werden zu lassen. Gleichzeitig sollte man sich nicht in die Tasche lügen. Allein die nachrangige Ansetzung des Religionsunterrichtes markiert für seine Besucher die Stellung von Religion im sozialen Leben. Religion ist in den stark durch Säkularität geprägten modernen Gesellschaften eben nachrangig. Diese Bedeutung wird in den meisten anderen in der Schule besuchten Fächern noch inhaltlich bestärkt. So ist eben Bildung und Ausbildung in modernen Gesellschaften ein Geschäft, das überwiegend einen neutralen, damit aber aus Sicht der meisten Beteiligten säkularen Charakter aufweist. Dies bekommen auch die Schüler mit.

4. Fazit – Religion in einer pluralistischen    Welt, aber mit Anforderungen Fassen wir dies zusammen, so wird deutlich, dass zwischen Bildungszuwachs und Religiosität nicht zwingend ein Spannungsverhältnis vorliegen muss, dies aber oft der Fall zu sein scheint. Es bedarf eben einer Anstrengung, Rationalisierung und Religiosität miteinander in Einklang zu bringen, und manch einer fragt sich, ob er diesen Aufwand bei der für ihn offensichtlichen Nachrangigkeit von Religion für das Alltagsleben in modernen Gesellschaften betreiben muss – und will. Und nicht wenige beantworten diese Frage mit einem Nein. Einen Grund hierfür stellt der soziale Wandel dar, wo Religion zu einer, möglichst noch einer auf den persönlichen Bereich reduzierten, Nebensache wird. Jeder Mensch lebt in einer sozialen Umwelt. Vermittelt diese einem aber den Eindruck einer Nachrangigkeit und Unwichtigkeit von Religion, dann ist es wenig überraschend, dass Religion immer mehr Menschen gleichgültig wird. Man braucht sie ja nicht für den Lebensalltag. Natürlich kann man sich sowohl seinen Glauben als auch seine Religiosität erhalten, dies bedarf aber einer größeren Anstrengung und Investition vor dem Hintergrund eher ungünstiger sozialer Rahmenbedingungen. Wer will denn schon dauernd erklären, warum er religiös ist, was dies bedeutet und warum man so etwas Unmodernes und Uncooles gut finden kann? Wer will auch in einer sozialen Gruppe schräg angeschaut werden und Gefahr laufen, zu einem als

Bildungsbürger oder Traditionalisten? 223

sonderlich eingestuften Außenseiter zu werden? Zumindest bedarf es großer persönlicher Kraft, sich jenseits der Gemeinschaft zu bewegen. Oder es bedarf einer religiösen Sozialisation und religiösen Bildung, die dies ermöglicht. So ist es sinnvoll, junge Christen in der Überzeugung zu unterstützen, dass es sich lohnt, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, wie es sich auch lohnt, ihre Kenntnisse hinsichtlich religiöser Pluralität zu erweitern. Es ist immer die Religion in ihrer Sozialgestalt, welche Menschen zu Gesicht bekommen und beurteilen. Dies impliziert auch immer die Beschäftigung mit sich selbst und mit den Anderen. Wo anders als im Religionsunterricht findet diese Beschäftigung an Schulen noch statt. Persönliche Probleme, aber auch ihr Bezug zu Religion und eigener Religiosität rücken dabei ins Zentrum der Diskussionen. Damit sind Form und Inhalt des Religionsunterrichts betroffen. So hilfreich dort entwicklungspsychologische Modelle der religiösen Entwicklung sind, so fatal kann es sein, auf eine quasi eigenläufige Entwicklung zu einem religiös reifen Menschen zu setzen – und dabei die möglicherweise viel prägenderen sozialen Rahmenbedingungen der Schüler kaum zu berücksichtigen. Derzeit prägen Debatten über religiöse Pluralität, Islam und religiös motivierte Attentäter die Umwelt der Kinder und Jugendlichen deutlich stärker als mögliche eigenständige Beschäftigungen mit einer sich entwickelnden, eigenen individualisierten Religiosität. Will man auf lange Sicht nicht die Ausweitung an Bildung als einen weiteren Faktor der Säkularisierung wirken lassen, dann sollte man die sozialen Komponenten der Religion vielleicht stärker zum Zentrum des Religionsunterrichtes machen. Doch das ist nur eine Meinung.

»Wo in der Schule haben wir den Ort, wo wir über Sinn und Unsinn dieser Welt uns austauschen?« Zum Beitrag des Religionsunterrichts für die schulische Bildung in der Sicht von Lehrkräften Uta Pohl-Patalong

1. Die Frage nach dem Beitrag des Faches   »Religion« zur schulischen Bildung Wesentlich stärker als andere Fächer wird der Religionsunterricht daraufhin befragt, welchen Beitrag er für die schulische Bildung leistet. Die kritischen Anfragen zielen einerseits auf seinen Charakter als »ästhetisches« Fach, für das Bildungsstandards schwer zu formulieren sind und dessen gesellschaftlicher Nutzen sich weniger unmittelbar erschließt als bei Englisch, Geschichte oder Physik – hier wird ein zweckorientiertes Verständnis schulischer Bildung vorausgesetzt. Andererseits zielen sie auf den konfessionellen Charakter des Faches, aus dem die Forderung abgeleitet werden kann, die Beschäftigung mit religiösen Themen in einer Binnenperspektive auf die Familie und die religiösen Institutionen zu beschränken – hier wird ein auf subjektive Neutralität zielendes Bildungsverständnis vorausgesetzt. Beiden Voraussetzungen in Bezug auf das Bildungsverständnis wird seitens der Religionspädagogik vehement widersprochen. Gleichzeitig erfolgt in den religionspädagogischen Diskursen seit langem eine eingehende Auseinandersetzung mit der Frage, was der Religionsunterricht für die schulische Bildung leistet, wozu nicht zuletzt die Werke von Michael Wermke einen wichtigen Beitrag liefern.1 Wichtige Aspekte bilden dabei die Rolle der Kom-

1

  Vgl. zum Beispiel Michael Wermke (Hrsg.): Aus gutem Grund: Religionsunterricht, Göttingen 2002; Martin Rothgangel/Michael Wermke: Wissenschaftspropädeutik und Lebensweltorientierung als didaktische Kategorien, in: Michael Wermke/Gottfried Adam/Martin Rothgangel (Hrsg.): Religion in der Sekundarstufe II. Ein Kompendium, Göttingen 2006, 13–40.

226 Uta Pohl-Patalong

petenzorientierung und das Verständnis von Bildungsstandards.2 Gegenwärtig wird als Begründung des Religionsunterrichts häufig einliniger die im Kontext der sog. PISA-Studie 2000 formulierte Unterscheidung verschiedener Modi der Weltbegegnung und -erschließung genannt, die neben einer kognitiven, einer moralisch-evaluativen und einer ästhetisch-expressiven Rationalität auch eine religiös-konstitutive Rationalität als Bestandteil schulischer Bildung erfordert.3 Gemeinsam mit dem Fach »Philosophie« komme dem Religionsunterricht die Aufgabe zu, letztere zu repräsentieren und damit die Schüler anzuregen, sich auf rationale Weise mit den Fragen der Letztbegründung von Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Dies zielt auf ein mehrdimensionales Bildungsverständnis in einer postsäkularen Gesellschaft,4 das in der Tat das Fach »Religion« als integralen Bestandteil schulischer Bildung begreift, jedoch bestimmte Aspekte eher setzt als begründet5 und im Blick auf die konkrete Praxis des Religionsunterrichts relativ abstrakt bleibt. Welchen Beitrag das Fach »Religion« in der Sicht derjenigen zur schulischen Bildung leistet, die hauptsächlich mit ihm befasst sind, wird hingegen häufig eher vermutet als erforscht. Im Rahmen der ReVikoR-Studie, die unter dem Fokus des Umgangs mit religiöser Vielfalt empirische Einblicke in die Perspektiven von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern auf das Fach »Religion« eröffnet,6 wurden jedoch die Lehrkräfte u.a. auch nach diesem Aspekt gefragt. Ihre Äußerungen können einen Beitrag dazu leisten, die religionspädagogischen Überlegungen zum Beitrag des Faches »Religion« zur schulischen Bildung enger mit der schulischen Praxis zu verzahnen. Offen bleibt dabei nach wie vor, wie dies die Schülerinnen und Schüler als

2

  Vgl. zum Beispiel Michael Wermke: Bildungsstandards im evangelischen Religionsunterricht, in: Michael Wermke (Hrsg.): Bildungsstandards und Religionsunterricht. Perspektiven aus Thüringen, Jena 2005, 51–65. 3   Vgl. Jürgen Baumert (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, 21. Vgl. dazu auch Mirjam Schambeck sf: Warum Bildung Religion braucht… Religionspädagogische Einmischungen in bildungspolitisch sensiblen Zeiten, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 9 (2010), 1, 249–263, 254f. 4   Vgl. Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016. 5   Vgl. Peter Kliemann: Performativer Religionsunterricht? Beobachtungen und Rückfragen aus der Perspektive eines südwestdeutschen Studienseminars, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 66 (2014), 366–375, 374f. 6   Vgl. Uta Pohl-Patalong u.a.: Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt. Eine empirische Studie zum evangelischen Religionsunterricht in Schleswig-Holstein, Stuttgart 2016; Uta Pohl-Patalong u.a.: Konfessioneller Religionsunterricht in religiöser Vielfalt II. Perspektiven von Schüler*innen, Stuttgart 2017.

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 227

Subjekte der Bildungsvorgänge selbst erleben.7 Die Perspektive der Lehrkräfte bildet dabei jedoch eine wichtige didaktische Nahtstelle zwischen der religionspädagogischen Theoriebildung mit ihrem normativen Anspruch und dem Erleben des didaktischen Ertrags. Das zwischen 2013–2017 laufende Projekt »ReVikoR« (»Religiöse Vielfalt im konfessionellen Religionsunterricht«) folgte der Forschungsfrage: »Wie wird mit religiöser Heterogenität im konfessionellen Religionsunterricht (in Schleswig-Holstein) umgegangen?« Sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler wurden jeweils qualitativ (in Einzel- bzw. Gruppeninterviews) und quantitativ (mit Fragebogen in einer Vollerhebung bzw. mit dem »Klumpenschema«) befragt. Zunächst wurden 33 halbstrukturierte Leitfrageninterviews mit Lehrkräften geführt, ausgewählt nach den Kriterien »Alter«, »Geschlecht«, »Ausbildung« (mit oder ohne Facultas), »Schulart«, »Schullage« und »gegenwärtige Form des Religionsunterrichtes« (im Klassenverband oder in getrennten Lerngruppen). Die Auswertung folgte dem von Christiane Schmidt entwickelte Ansatz der Kategorienbildung »am Material«, mit dem sich Muster quer zu den Äußerungen in den einzelnen Interviews identifizieren lassen.8 Parallel dazu wurde auf der Grundlage der Interviews ein Fragebogen entwickelt, der diverse Aspekte zur Wahrnehmung religiöser Vielfalt, zum Umgang mit dieser und zu den Vorstellungen von der Zukunft des Religionsunterrichts abfragte. Dieser ging an alle Lehrkräfte aller Schularten, die in Schleswig-Holstein evangelische Religion unterrichten und wurde von 33,9 % der Lehrkräfte (und damit einer hohen Quote) beantwortet. Anschlie-

7

  Bei den Schülerinnen und Schülern hat die Forschungsgruppe nach längerer Diskussion darauf verzichtet, nach ihren Eindrücken und Erleben des Religionsunterrichts allgemein zu fragen, da aufgrund des Umfangs der Fragen eine stärkere Fokussierung erforderlich war. 8   Vgl. Christiane Schmidt: »Am Material«: Auswertungstechniken für Leitfadeninterviews, in: Barbara Friebertshäuser/Annedore Prengel (Hrsg.): Handbuch qualitative Methoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/München 1997, 544– 568; Christiane Schmidt: Analyse von Leitfadeninterviews, in: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch, Reinbek 2000, 447–456. Bei diesem sich zwischen der Grounded Theory und der Qualitativen Inhaltsanalyse von Philipp Maying bewegenden Ansatz wird das gesamte Material nach Auswertungskategorien sortiert, die im Zuge der Auswertung generiert und permanent am Material modifiziert und verfeinert werden. Anschließend wird das gesamte Material auf der Grundlage des Kodierleitfadens kodiert, also den erstellten Auswertungskategorien zugeordnet. Für jede Kategorie werden inhaltliche Ausprägungen identifiziert, welche die eher formalen Kategorien inhaltlich füllen. Diese richteten sich teilweise nach den Antwortmöglichkeiten aus dem Fragebogen, teilweise ergaben sie sich aus der Arbeit an den Daten, indem sich bestimmte Muster zeigten. Auf dieser Grundlage wird die eigentliche Auswertung verfasst.

228 Uta Pohl-Patalong

ßend erfolgte eine sowohl quantitative als auch qualitative Befragung von Schülerinnen und Schülern ausgewählter Klassenstufen und Regionen, in der eine quantitative Befragung der gesamten Lerngruppen mit Gruppeninterviews einzelner Schülerinnen und Schüler verbunden wurde. Für den Fokus des Beitrags sind vor allem die Äußerungen interessant, die im Kontext von zwei Leitfragen der Interviews getätigt wurden, die über den Fokus der religiösen Vielfalt hinaus auf den Beitrag des Faches zur schulischen Bildung zielen: »Was würde Ihrer Meinung nach fehlen, wenn es den Religionsunterricht nicht gäbe?« Sowie: »Was glauben Sie, welche Bedeutung hat der Religionsunterricht für Ihre Schüler und Schülerinnen?« Die beiden unterschiedlichen Frageformulierungen eröffnen ein breiteres Spektrum von Antwortansätzen als dies eine einzige Frage ermöglichen würde und liegen gleichzeitig inhaltlich so nahe beieinander, dass die Äußerungen dazu in einem hohen Maße konvergieren und somit gemeinsam ausgewertet werden können. Dabei ergaben sich insgesamt acht Aspekte des Beitrags des Faches »Religion« zur schulischen Bildung in der Sicht der Lehrkräfte, die im Folgenden dargestellt werden sollen.9 Diese werden alle auch in den religionspädagogischen Diskursen angesprochen, was in den Literaturverweisen jeweils erkennbar wird, hier jedoch nicht weiter verfolgt wird, da die Perspektive der Lehrkräfte im Vordergrund stehen soll – daher kommen diese auch relativ ausführlich in Zitaten zu Wort.10

2.

Religionsunterricht als Bestandteil schulischer Bildung in der Perspektive von Lehrkräften

2.1  Der Religionsunterricht sichert die Präsenz     von Religion in Schule und Öffentlichkeit Als eine wesentliche Leistung des Religionsunterrichts sehen die Lehrkräfte zunächst, dass das Fach die Dimension der Religion in der Schule gesichert vorkommen lässt.11 Dies benötigt die Schule, um ihren Bildungsauftrag umfassend erfüllen zu können:

9

 Diese folgen den sich während des Kodiervorgangs herausschälenden neun Ausprägungen der Kategorie »Relevanz des Religionsunterrichts«, wobei hier noch einmal das religiöse und das kulturelle Grundwissen zu einer Kategorie zusammengefasst wurden. 10   Als Quelle des Zitats wird der jeweilige in der ReVikoR-Untersuchung vergebene Codename sowie die Seiten- und Zeilenzahl im Interview genannt. Die vollständigen Interviews können eingesehen werden unter www.revikor.de (11. Januar 2018).

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 229 »Grundsätzlich glaube ich natürlich, dass eine Schule ohne Religionsunterricht eine ganz schlechte Schule wäre. […] Grundsätzlich braucht es ein Fach, in dem das Nachdenken über unsere religiösen Fragen und über all das, was Religion auszeichnet, zu Hause ist und darauf zu antworten […] Also, im Biologieunterricht, wenn sie Genetik behandeln, dann kommen sie eben nicht zu den speziellen Fragestellungen« (Peter 17,34–40).

11

Zwar gibt es gewisse thematische Überschneidungen mit anderen Fächern, diese bearbeiten aber gerade nicht die spezifischen Dimensionen des Faches »Religion«. Diese allerdings sind nach Einschätzung der Lehrkräfte gerade für die Schülerinnen und Schüler von besonderer Bedeutung: »Ich glaube, dass eine ganze Reihe von Schülern das sagen würden: ›Wo in der Schule haben wir den Ort, wo wir über Sinn und Unsinn dieser Welt uns austauschen?‹ […] Da würden viele Schüler sagen, das wäre ein Verlust, wenn wir dafür keinen Ort in der Schule mehr hätten. […] Viele Schüler, die nach Philo wechseln, bemerken sehr deutlich, dass ihnen was fehlt, und ich interpretier’ das jetzt mal, dass ihnen was fehlt, was damit zu tun hat, wir begeben uns gemeinsam auf eine neugierige Reise interessanten Inhalten dieser Welt gegenüber, die aber sehr schnell einen Ort in unserem eigenen Leben haben könnten« (Peter 17,20–32).

Dieser Punkt, dass das Fach »Religion« eine eigenständige Größe im Kontext der Schule präsent sein lässt, kann auch stärker in transzendenten Kategorien formuliert werden: »Mir würde einfach der Bereich des Metaphysischen auch fehlen, also der Glaubensaspekt und dessen, worum es in der Religion geht: das Unfassbare zu einem Lebensraum zu machen, der in unserer Welt eine wichtige Rolle spielt – und die Kinder davon nicht in Kenntnis zu setzen, das wär’ eine Verarmung« (Chris-Martin 14,4–9).

Die Formulierungen »das Metaphysische« oder »das Unfassbare« benennen gerade als Substantive noch stärker als in ihrer adjektivischen Form eine eigenständige Wirklichkeit jenseits der immanenten Welterfahrung, die als Kerninhalt des Faches »Religion« genannt wird. Gleichzeitig wird die in der Religionspädagogik gegenwärtig häufig genannte Perspektive des »Rechtes

11

  Vgl. zu diesem Aspekt in der religionspädagogischen Diskussion auch Friedrich Schweitzer: Religiöse Bildung als Aufgabe der Schule, in: Gottfried Adam/Rainer Lachmann/Martin Rothgangel: Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 7 2012, 92–105, 100f.

230 Uta Pohl-Patalong

des Kindes auf Religion«12 angesprochen – Schülerinnen und Schülern sollte der das Leben bereichernde religiöse Aspekt nicht vorenthalten werden, da dieser zu einem umfassenden Bildungsbegriff dazugehört: »[D]iese Bilderwelt, die Religion immer bietet, das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil des Erwachsenwerdens, wenn man darin begleitet wird und die Rationalisierung von Leben, […] da würde ein Stückchen Kälte kommen und die Kinder würden das so nicht äußern, aber sie würden nach einem Stückchen […] Wärme, glaube ich, zumindest fragen – da war doch mal was« (Chris-Martin 14,24–29)?

Eine Begleitung der Heranwachsenden in dieser Dimension jenseits des Rationalen und Fassbaren ist biografisch erforderlich, insofern sie das Erwachsenwerden fördert; diese wird in der Schule einzig durch den Religionsunterricht gewährleistet. Verblieben die Bestimmungen bisher noch im Bereich von Religion insgesamt, kann diese durch das Fach »Religion« repräsentierte Dimension auch expliziter mit bestimmten christlichen Traditionszusammenhängen gefüllt werden: »Was fehlen würde, ist eine Stimme, die darauf aufmerksam macht, dass alles auch ganz anders sein könnte, dass man umkehren kann, dass es mehr gibt, als das, was vorfindlich ist. Also, um mit Johannes am Jordan zu stehen: ›Tut Buße, ändert euer Leben!‹ Ich glaube, die wichtigste Aufgabe des Religionsunterrichts ist es, den Horizont zu weiten. Es muss nicht so sein, wie es ist. Es kann alles auch anders sein und es lohnt sich, eine Vision zu haben. Vielleicht ist der Religionsunterricht der einzige Ort, wo man über das bessere Leben nachdenkt. Also theologisch gesprochen: ›Das Reich Gottes‹. Was wollen wir eigentlich? Und ich spür’ bei so vielen Schülern sozusagen eine Resignation: ›Es ist eben so, wie es ist.‹ […] Ich komm’ aus einer Stunde, wo mir ein Schüler gesagt hat: ›Wir sind hier im Westen eben alles Egoisten!‹ Und ich glaube, wir im Religionsunterricht sind die letzten, […] die es noch gibt, die sagen: ›Vielleicht hat der Mensch in sich auch noch mehr.‹ […] Und da bietet der Religionsunterricht mit seinen Geschichten, mit seinen Menschen, die großen Ideen, die Idee vom Frieden, von der

12

  Ursprünglich stammt diese interessanterweise nicht aus dem theologischen Kontext, sondern aus dem »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 20. November 1989, online: www.national-coalition.de/pdf/UN-Kinderrechtskonvention.pdf, 15 (15. Dezember 2014). Religionspädagogisch aufgenommen wurde sie zum Beispiel von Friedrich Schweitzer, zunächst in seiner Habilitationsschrift, vgl. Friedrich Schweitzer: Die Religion des Kindes. Zur Problemgeschichte einer religionspädagogischen Grundfrage, Gütersloh 1992, sowie in jüngerer Zeit ausgeführt in Friedrich Schweitzer: Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2013.

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 231 Versöhnung, vom guten Leben […], dass der Mensch mehr ist als Konsument, Arbeitnehmer und ich weiß nicht was…, also, dass der Mensch sich selber findet« (Dora 31,12–37).

Auf der Basis der christlichen Tradition eröffnet das Fach eine alternative Perspektive der Gesellschaft und des Zusammenlebens in ihr.13 Diese wendet sich ab von der ökonomischen und rationalistischen Logik und sieht den Menschen damit als Menschen in sozialer Verantwortung und im sozialen Miteinander. Somit hält das Fach »Religion« eine Dimension im Kontext der Schule präsent, die einen zentralen Bestandteil eines klassischen Bildungsbegriffs darstellt und in anderen Fächern gerade nicht in dieser Weise vorkommt.

2.2  Der Religionsunterricht vermittelt    religiöses Grundwissen Als einen zweiten wesentlichen Beitrags des Religionsunterrichts zur schulischen Bildung nennen die Lehrkräfte die Vermittlung grundlegenden Wissens über Religion. Eine solche grundlegende Wissensvermittlung entspricht einerseits den klassischen Aufgaben schulischer Fächer, ist aber in diesem Fach andererseits eigentlich erst in der Gegenwart in dieser Weise erforderlich. So sei der Religionsunterricht… »ziemlich wichtig gerade in Zeiten, […] wo die Kinder nicht mehr religiös sozialisiert sind […]. Und wenn sie zum Beispiel nicht in ’ner Kirche oder in ’ner anderen Gruppe sind, in einer Glaubensgemeinschaft, dann haben sie wenigstens den Religionsunterricht, wo sie ein bisschen was davon mitkriegen« (Tanja 8,41–9,3).

Konnte der Religionsunterricht in früheren Generationen stärker als andere Fächer auf einer familiären oder institutionellen religiösen Sozialisation aufbauen, ist es heute gerade die Leistung des Faches, grundlegende Kenntnisse im Bereich von Religion zu vermitteln. Als Ziel dieser Arbeit kann die »Sprachfähigkeit über Religion, Religiosität« (Henning 19,3) als Bestandteil religiöser Grundbildung angesehen werden.14 Ein solches grundlegendes 13

  Einen solchen Charakter des Religionsunterrichts als »Heterotopie« hat in der religionspädagogischen Diskussion beispielsweise Rolf Schieder formuliert, vgl. Rolf Schieder: Der Religionsunterricht zwischen Zivilreligion und Heterotopie, in: Thomas Klie/Dietrich Korsch/Ulrike Wagner-Rau: Differenz-Kompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012, 139–157, 156f. 14   Auch in den religionspädagogischen Diskursen wird betont, dass es »eine ihrer [sc. der religiöse Bildung] vordringlichen Aufgaben [ist], die Sprachlosigkeit – das Sich-nicht-differenziert-äußern-Können in Angelegenheiten letzter Lebensorientie-

232 Uta Pohl-Patalong

Wissen ist in der Sicht der Lehrkräfte nicht nur für konfessionell gebundene Schülerinnen und Schüler relevant, sondern alle benötigen »die Information über […] ein ganz wichtiges kulturelles Erbe unserer Gesellschaft« (Henning 19,1f.). Konkret wird dies beispielsweise als Aufklärung über die Inhalte religiöser Feste: »Fehlen würde wahrscheinlich das, […] was, ich sag’ mal, ’nen Stück weit ja auch die Gesellschaft ausmacht. […] Wir feiern Weihnachten, wir feiern Ostern, warum feiern wir das eigentlich? Ich glaube, das muss auf jeden Fall mit aufgenommen werden, dass die Kinder am Ende auch ’ne Ahnung davon haben, warum tun wir das, nicht« (Olaf 13,16–20)?

Das Fach leistet so auch, sich als Bürger in Gesellschaft und Kultur besser zurechtzufinden, deren Phänomene einordnen zu können, und kritisch-konstruktiv damit umzugehen, insofern Religion ein Bestandteil der Kultur ist.

2.3  Der Religionsunterricht fördert das    Zusammenleben der Religionen Weiter sehen es die Lehrkräfte als wichtige Leistung des (konfessionellen) Religionsunterrichts an, zu einem gelingenden Zusammenleben der Religionen beizutragen.15 Als ersten Schritt dazu erachten sie Kenntnisse über un-

rung – zu durchbrechen und deren bleibende Relevanz für private und öffentliche Lebensgestaltung ins Bewusstsein zu heben« (Martina Kumlehn: Vielfalt und Verschiedenheit. Religionspädagogik im Zeichen von Pluralität und Heterogenität, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67, 2015, 3–14, 7f.). 15   In quantitativer Perspektive zeigt sich eine ausgesprochen breite Zustimmung zu dieser These: 97 % der befragten Religionslehrkräfte sind davon überzeugt oder tendenziell davon überzeugt, dass der Religionsunterricht den Respekt zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser Einstellungen fördert (vgl. Pohl-Patalong: Konfessioneller Religionsunterricht I, 105). Auf theoretischer Ebene postuliert diesen Aspekt besonders die jüngste Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), vgl. Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend (Hrsg.): Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche Deutschland, Gütersloh 2014, 103f.: »Ein Religionsunterricht, der dem Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit dient, sollte gleichzeitig als Ort verstanden und ausgestaltet werden, an dem die in der eigenen Schule vorhandene sowie mehr oder weniger bewusst gelebte Vielfalt reflexiv aufgenommen und eingeholt werden kann. […] Damit bezieht sich der Religionsunterricht auf eine Lebenspraxis, die in ihren religiösen und weltanschaulichen Hintergründen in der Schule sonst kaum einmal thematisch wird. Durch die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Pluralität trägt der Religionsunterricht auch in dieser Hinsicht zum allgemeinen Bildungsauftrag der Schule bei.«

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 233

terschiedliche Religionen. Auf dieser Basis kann eine Akzeptanz des oder der »Anderen« gefördert werde. Denn ohne das Fach… »würde eine Akzeptanzebene fehlen, um den vermeintlich Anderen und Fremden auch verstehen zu können. Weil das ja sonst ein Mathe- oder Deutschunterricht eher nicht thematisiert, sodass hier vielleicht ein gesellschaftliches Problem ent-stehen könnte. Das ist bisschen hoch gehängt, aber wenn man jetzt die Gesellschaft als Klassenzimmer sieht, dann entstehen da ja auch Probleme und Meinungsverschiedenheiten. Da bietet es sich als Chance oder als Möglichkeit, das auszutauschen« (Rolf 11,5–11).

Der Religionsunterricht kann demnach ein gesellschaftlicher Lern- und Erprobungsraum sein, der die in der multikulturellen Gesellschaft vorhandenen Differenzen und ihre Probleme zum Thema macht und gegenseitige Akzeptanz und ein gegenseitiges Verständnis einübt. Noch einen Schritt weiter wird es als gravierender Beitrag des Religionsunterrichts bezeichnet, religiöse Toleranz einzuüben: »Es würde aber auch dieses Fach fehlen, was die Grundlagen für eine religiöse Toleranz legt, und das halte ich für ganz, ganz wichtig« (Nora 7,15f.). Nach Überzeugung der Lehrkräfte kommt dem Religionsunterricht damit eine zentrale Aufgabe für das Zusammenleben der Religionen und Kulturen in einer pluralen Gesellschaft zu, das ebenfalls ein wichtiges Ziel schulischer Bildung ist.

2.4 Der Religionsunterricht vermittelt Werte    und ermöglicht soziales Lernen Als weitere wichtige Leistung des Religionsunterrichts wird die Thematisierung von Werten in Theorie und Praxis genannt,16 die ein soziales Lernen der Schüler einschließt. Ohne den Religionsunterricht würde fehlen: »[e]ine Plattform, über Werte und Normen zu sprechen. Über die Frage ›Was ist denn richtig? Was ist denn falsch? Und wer bestimmt denn das‹« (Rolf 11,4f.)? Dies lässt sich an bestimmten Themen konkretisieren, die im Religionsunterricht verhandelt werden: »Fehlen würde ein Raum, um auch über menschliche Beziehungen zu sprechen, das heißt, über Freundschaften, über Streits, über Verhalten in der Gesellschaft, das heißt zum Beispiel: Was sind Lügen? Wann jetzt, wann lüge ich? Wann kann ich vielleicht auch mal lügen? Wann muss ich die Wahrheit sagen« (Erik 12,32– 35)?

16

  Vgl. zu dieser Dimension Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012, 543f.

234 Uta Pohl-Patalong

Der Religionsunterricht behandelt also nach Überzeugung der Lehrkräfte basale Werte des Zusammenlebens und sichert damit eine soziale Dimension. Er vermittelt Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in der Schule, die aber weit über die schulische Situation hinaus zum gelingenden Leben in der Gesellschaft beitragen – ebenfalls ein wichtiges Bildungsziel.

2.5 Der Religionsunterricht thematisiert    existentielle Fragen Weiter wird von den Lehrkräften als besonderer Beitrag des Religionsunterrichts in der Schule angeführt, dass in diesem Fach existentielle Fragen und Themen der Schülerinnen und Schüler angesprochen werden, die ansonsten in der Schule kaum oder gar keinen Raum finden.17 Es ist nur das Fach »Religion«, in dem »die Schüler in der Schule eine Chance haben, im Unterricht über Dinge nachzudenken und zu sprechen, die sie in ihrem tiefsten Inneren angehen: Glaubensfragen und Lebensfragen« (Dirk-Michael 12,8–10). Fragen des Glaubens sind mit Fragen des alltäglichen Lebens eng verbunden und beides sind Dimensionen, die die Kinder und Jugendlichen existentiell betreffen. Ihre Bearbeitung wird durch neuere religionspädagogische Ansätze wie die Kindertheologie18 unterstützt, die… »die Kinder dazu anzuregen: ›Was glaube ich eigentlich, wie glaube ich, was gibt es’ und darüber nachzudenken. Also nicht umsonst ist ja jetzt auch das Stichwort ›Theologisieren mit Kindern‹ wieder ganz im Vordergrund, […] und […] das ist auch das, was Kinder wollen, […] die machen sich ja doch stark Gedanken: ›Wer hat uns eigentlich geschaffen? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Warum stirbt mein Opa oder meine Oma? Und […] warum ist Mama krank? Oder Papa hat uns verlassen oder wie auch immer‹ – das sind ja ganz, ganz existentielle Fragen, die die Kinder haben und da habe ich wohltuend wahrgenommen, dass der Religionsunterricht […] da eine Plattform bietet, sich damit zu beschäftigen, auseinanderzusetzen« (Britt-Marta 5,26–39). 17

  Dies betont auch a.a.O., 543f., sowie Kammer der EKD: Religiöse Orientierung, 38: »Als religionsbezogene Bildung ergänzt der Religionsunterricht das Spektrum der schulischen Bildungsmöglichkeiten. Durch die Aufnahme grundlegender Lebensfragen bietet er den einzelnen Kindern und Jugendlichen Zuwendung und Unterstützung.« Vgl. dazu auch Gottfried Adam/Rainer Lachmann: Begründungen des schulischen Religionsunterrichts, in: Gottfried Adam/Rainer Lachmann/Martin Rothgangel: Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 72012, 144–159, 147ff. 18   Zur Kindertheologie vgl. zum Beispiel Mirjam Zimmermann: Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2 2012. Eine Einführung bietet Mirjam Zimmermann: Kindertheologie, in: Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon, online: www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/100020 (8. Juli 2016).

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 235

Mit diesem Ansatz ist eine Ergebnisoffenheit verbunden, die eine besondere Qualität des Faches ausmacht: »Aber es ist eben etwas anderes, wenn ich mich da unterhalten kann mit anderen Kindern darüber, diskutieren kann, das ist einfach besser, […] auch für die eigene Ich-Stärkung und das ist in anderen Unterrichten nicht so der Fall, denn in Deutsch will ich ein Ergebnis haben oder in Mathe auch. […] Wenn ich mit Kindern theologisiere, könnte ich nicht immer ein fassbares Ergebnis schreiben und will das ja auch gar nicht und die Kinder haben eben auch die Möglichkeit zu sehen: Ja, der glaubt so – das ist aber nicht falsch, denn und wenn ich so glaube, sondern das steht daneben und jeder geht seinen eigenen Weg mit Gott, und die Bibel ist ja auch voll mit Beispielen, da […] gehen sie ja auch nicht […] alle den Trampelpfad, den der Vorgänger gemacht hat und das […] denk’ ich, ist […] einfach wichtig für Kinder« (Britt-Marta 5,26–6,8).

Im Gegensatz zu anderen Fächern muss im Fach »Religion« nicht immer ein inhaltlich umrissenes Lernziel erreicht werde, das für alle verbindlich ist. Die Schülerinnen und Schüler erleben, dass ihre Antworten auf Lebens- oder Glaubensfragen wertgeschätzt werden, ebenso aber die der anderen, die anders sein dürfen (»ja, der glaubt so – das ist aber nicht falsch«). Sie bleiben nebeneinander stehen und zwar nicht nur aufgrund der pragmatischen Einsicht, dass dies in religiöser Pluralität nicht anders möglich ist, sondern aufgrund der theologischen Einsicht, dass es unterschiedliche Wege mit Gott gibt. Auch unabhängig von religionsdidaktischen Ansätzen können existentielle Themen mit dem didaktischen Ziel verhandelt werden, religiöse Antworten auf die persönlichen Lebensfragen aufzuzeigen, sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Bereich.19 Solche religiösen Antworten fordere auch die säkulare Gesellschaft ein,20 ohne sie jedoch selbst geben zu können: »Also in einer zunehmend säkularisierten Welt, die aber auch häufig religiöse Angebote einfordert, Mitschüler ist gestorben, Haustier tot, Katastrophe draußen, Überschwemmungen in [Ort] und so weiter, Dürreperioden, da kommen ja solche 19

  Dies entspricht auch dem stärker im katholischen Bereich diskutierten religionspädagogischen Ansatz der Korrelationsdidaktik, vgl. Hans-Georg Ziebertz/Stefan Heil/Andreas Prokopf (Hrsg.): Abduktive Korrelation. Religionspädagogische Konzeption, Methodologie und Professionalität im interdisziplinären Dialog, Münster 2003, zusammengefasst bei Stefan Heil: Korrelation, in: Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon, online: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100015 (8. Juli 2016). 20   In diesem Zusammenhang wird immer wieder hingewiesen auf die Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, vgl. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media. php/1290/2001_habermas.pdf (8. Juli 2016).

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existentiellen Fragen auch hoch, auch bei Kindern und Jugendlichen. Da kann Religion auch mit Antworten geben, oder kann zumindest […] Richtungen mit angeben« (Ingo 13,8–14).

Auffallend ist in dieser Formulierung die vorsichtige Formulierung eines religiösen Antwortcharakters: Selbst die Wortwahl »mit Antworten geben«, die sich ja bereits von einem möglichen Absolutheitsanspruch distanziert, wird noch einmal relativiert mit der Formulierung »zumindest […] Richtungen mit angeben«. Dass konfessioneller Religionsunterricht nicht als Darstellung fertiger oder verbindlicher Antworten auf existentielle Fragen begriffen wird, sondern Denkanstöße in Auseinandersetzung mit einer Tradition vermittelt, wird auch in den gegenwärtigen religionspädagogischen Diskursen betont.21 Insofern Bildung letztlich immer Selbstbildung ist, die durch Impulse von außen angestoßen wird, ist dies ein wichtiger Aspekt schulischer Bildung.

2.6 Der Religionsunterricht nimmt die Schüler   innen und Schüler als Menschen wahr Dass das Fach »Religion« im Vergleich zu den anderen Fächern persönlicher orientiert ist, wurde hinsichtlich der Bearbeitung von existentiellen Themen bereits angesprochen. Davon ist jedoch noch einmal der Aspekt wenn auch nicht ganz zu trennen, so doch zu unterscheiden, dass es im Religionsunterricht »um die Schüler gehen« (Olaf 14,40) soll.22 Im Fach »Religion« besteht nach Ansicht der Lehrkräfte in besonderer Weise für die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zur Selbsterfahrung und zum vertieften Kennenlernen der Mitschülerinnen und -schüler: »Und ich denke, wenn es den Religionsunterricht nicht gäbe, dann würden wir ganz viele Dinge von Schülern nie erfahren, die auf einer Gefühlsebene ablaufen, die wir sonst nie miteinander teilen könnten. Und Erfahrungen, Erfahrungsaus21

  Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise die Formulierung von Martina Kumlehn, die von einem »Erprobungsraum für die Artikulation und Diskussion existenzieller Grundfragen« (Kumlehn: Vielfalt, 8) spricht, oder die klare Abgrenzung von Frank Lütze: »Es ist aus meiner Sicht ein Gebot der Redlichkeit, in der Kommunikation dieses Glaubens im Unterricht ebenso wie in der Predigt auf jeden Anschein ultimativer Antworten zu verzichten« (Frank Lütze: »Tiefgründig darüber Nachdenken […] ist im Reliunterricht ein bisschen zu kurz gekommen«. Zur religionsdidaktischen Bedeutung offener Fragen, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67, 2015, 58–67, 61). 22   Vgl. aus der religionspädagogischen Literatur dazu zum Beispiel Friedhelm Kraft: Wie viel Religion verträgt die Schule?, in: Michael Herbst/Roland Rosenstock/ Frank Bothe (Hrsg.): Zeitumstände: Bildung und Mission. Festschrift für Jörg Ohlemacher zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 2009, 91–104, 100–102.

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 237 tausch, auch was Kinder mit Eltern, Großeltern, in anderen Gruppen, Verbänden, in anderen Gemeinschaften, sei es Pfadfinder oder was auch immer, Sportvereine ... denn in keinem anderen Unterricht bleibt so viel Platz und Zeit, wie der Austausch über ›Was empfindest du?‹, ›Wo möchtest du hin?‹, ›Wer willst du sein?‹, ›Wer ist dein Vorbild?‹. Dafür hat man, mein anderes Fach ist Englisch, dafür hab’ ich keine Zeit. Das bleibt mir halt im Religionsunterricht, dass ich ein Kind auf einer komplett anderen Ebene kennenlernen kann. Und ich würd’ es absolut schade finden, wenn uns diese Möglichkeit geraubt wird, auch den ganzheitlichen Menschen […] dabei zu sehen« (Maria 16,6–17).

Während Lehrkräfte in anderen Fächern die menschliche Ebene häufig vernachlässigen müssen, bietet das Fach »Religion« Zeit und Raum für die Menschen jenseits ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler. Dies gilt nicht nur, aber besonders dann, wenn Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen stehen, für die sonst in der Schule wenig Raum ist: »Wenn ich so denke, mit welchen Geschichten auch manche unserer Schüler mit Migrationshintergrund hier herkommen, das auch anzuerkennen, dass das überhaupt nicht lustig ist, sein Zuhause hinter sich zu lassen und seine Eltern und Großeltern, um hier das angeblich so tolle Leben in Deutschland zu haben, ohne dass man eben die Sprache kann« (Karla 13,25–30).

Dass es um die Schülerinnen und Schüler als Menschen geht, gilt aber nicht nur für die explizite Behandlung persönlicher Themen, sondern wird auch als Aspekt bei der Bearbeitung von Sachthemen, beispielsweise biblischer Traditionen, verstanden: »Also wenn ich jetzt über Abraham rede und sage, so hat der Herr damals gelebt oder so und dann die Geschichte erzähle, dann bringt’s nichts. Es muss ja immer einen persönlichen Bezug [geben]. Zuerst muss die Geschichte da sein und […] dann nachher, was lernen wir daraus« (Cornelia 12,5–8).

Neben der persönlichen Ebene in der Behandlung des Unterrichtsstoffes bietet das Fach auch die Möglichkeit, dass sich die Schülerinnen und Schüler selbst mit ihren Fragen und Themen einbringen: »Den Schülern würde […] die Möglichkeit [fehlen], ihre Fragen und ihre Themen auch mal zur Sprache zu bringen. Auch mal in einem geschützten Raum über ihre Ansichten zu sprechen, über ihre, ja manchmal auch Ängste oder über ihre Hoffnung« (Zacharias 12,10–13).

238 Uta Pohl-Patalong

Dies kann verbunden werden mit einer seelsorglichen Funktion des Religionsunterrichts: »[W]eil ich religionspädagogisch ausgebildet bin, bin ich auch ganz häufig in Kontakt mit dieser Fragestellung Tod und Trauer. Wir haben an dieser Schule sehr viele Kinder, die, ja, todkrank sind und wir auch Kinder mit Behinderungen haben, die auch plötzlich sterben, auch jung, und da ist dieses Thema halt auch für viele ganz virulent. Und da bin ich, ja, so mit einigen Kollegen so eine Art Notfallseelsorger. Und deswegen habe ich auch […] in diesem religiösen Bereich auch ein ganz enges Verhältnis zu den Schülern, glaube ich, zu vielen. Also ich fordere das jetzt nicht von den Schülern, aber dass wir auch über ganz menschliche Dinge sprechen können. Und das würde mir ohne Religionsunterricht fehlen« (Zacharias 12,23–31).

Die Religionslehrkraft übernimmt in der Schule häufig – institutionell oder informell – schulseelsorgliche Aufgaben.23 Diese können sich mit dem Religionsunterricht verbinden: Das in ihrer seelsorglichen Tätigkeit wurzelnde enge persönliche Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern setzt sich im Religionsunterricht fort, indem sie auch dort über die persönlichen Themen sprechen, die Anlass zur Seelsorge bieten. Insofern das Subjekt immer eine zentrale Größe jeglicher Bildungsvorgänge darstellt, trägt das Fach »Religion« zu diesem Aspekt in besonderer Weise bei.

2.7 Der Religionsunterricht unterstützt    die  Persönlichkeitsentwicklung Mit dem letztgenannten Aspekt hängt die nächste von den Lehrkräften genannte spezifische Leistung des Religionsunterrichts eng zusammen, setzt jedoch noch einmal einen anderen Akzent, wenn sie den Wert des Faches für die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler betont.24 Denn: Ohne den Religionsunterricht würde der Schule »ein ganz wichtiges Fach zur Begleitung der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Leuten fehlen« (Nora 7,14f.). Dieses Fach bietet die Chance, »die Kinder in der Persönlichkeit […] zu unterstützen« (Gudrun 11,11f.), und stellt eine »Ich-Stärkung« (Britt-Marta 5,40) dar. Dadurch, dass es einerseits um persönliche Themen geht und der ganze Mensch im Blick ist und andererseits nicht nur Stoff vermittelt, son-

23

  Zum Thema Seelsorge als religionspädagogischer Aufgabe und ihrer (Nicht-) Verortung im schulischen Kontext vgl. besonders Ralf Koerrenz/Michael Wermke (Hrsg.): Schulseelsorge – Ein Handbuch, Göttingen 2008. 24   Vgl. dazu Adam/Lachmann: Begründungen, 146.

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 239

dern zur Auseinandersetzung mit sich und anderen angeregt wird, werden Kompetenzen über das fachliche Wissen hinaus erworben: »Ich glaube, dass der Religionsunterricht auch ganz viel Sozialkompetenz, Selbstwertgefühl fördert, ’nen ganz wichtigen Beitrag dazu leistet, dass Schüler sich mit sich selbst […] auseinandersetzen und mit dem anderen« (Yvonne 8,7–9).

Wesentlich sind dabei auch die Anregungen zur Selbstreflexion, die einen Raum dazu bieten, bisherige Erkenntnisse zu formulieren und Impulse zu einer Erweiterung der Perspektiven zu erhalten: »Dieser Unterricht bietet ja mal die Möglichkeit über mich nachzudenken. […] Dass das Kind über sich nachdenken kann, auch mal Fragen formulieren kann, Ängste formulieren kann oder auch nochmal neue Perspektiven gezeigt bekommt« (Anna-Lena 20,7–10).

Neben konkreten Impulsen ist aber auch die Wertschätzung der Schülerinnen und Schüler eine ganz wichtige Basis für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit, die sie im Religionsunterricht stärker als in anderen Fächern erleben: »Dann ist es tatsächlich, dass sie mal sich ernst genommen fühlen, wertschätzt fühlen mit ihrer Meinung und dass mit ihnen was passiert. […] Also ich glaube, das würde denen fehlen, aber vor allem diese Wertschätzung auch, diese bewusste Persönlichkeitsentwicklung dadurch, dass wir an diesem Bereich arbeiten« (Jana 19,13–18).

Der Religionsunterricht leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung, die zum klassischen Bildungsbegriff gehört, aber auch im Kontext einer umfassenderen Kompetenzorientierung gefordert wird.

2.8 Der Religionsunterricht bildet einen Kontrapunkt     zur Leistungsorientierung der Schule Schließlich stellt es nach Meinung etlicher Lehrkräfte einen besonderen Beitrag des Faches »Religion« dar, dass es trotz seines Charakters als ordentliches Lehrfach einen gewissen Kontrapunkt zu den sonstigen Fächern und auch zur sonstigen schulischen Kultur bietet.25 Das gilt zunächst für die The25   Genannt wird dies in der religionspädagogischen Literatur zum Beispiel von Mirjam Zimmermann/Hartmut Lenhard: Praxissemester Religion. Handwerkszeug für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger, Göttingen 2015, 64: »Guter RU ent-

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men, die der Religionsunterricht behandelt, insofern die Teilnehmenden hier »über Dinge reden können, über die man sonst nicht redet«, und »da Fragen gestellt werden können, die man sonst nicht stellt« (Britt-Marta 11,40–42; vgl. auch Veronika 16,15f.), und die Schülerinnen und Schüler »über viele Dinge etwas erfahren, die […] sonst so gar nicht im Bewusstsein sind« (Nora 7,23f.). Neben dieser thematischen Differenz gehört zu dem Kontrapunktcharakter aber auch eine andere Taktung als sie sonst in der Schule gängig ist: »Ich glaub’, den Kindern würde was fehlen… vielleicht auch ein Fach, wo man gefühlt zumindest, nicht so unter dem Bewertungs-, Leistungsdruck steht wie es in Mathe, Englisch, Deutsch, die ja für die Abschlüsse relevant sind, der Fall ist, […] ich hatte vorhin […] auch ›Entschleunigung‹ gesagt, ne? Und das ist, glaub’ ich, auch im Schulalltag wichtig, auch für die Schülerinnen und Schüler und auch für die Lehrer« (Henning 18,29–34).

Das Fach »Religion« lässt Schülerinnen und Schüler weniger Leistungs- und Bewertungsorientierung und den damit verbundenen Druck erleben, offenbar unabhängig davon (»gefühlt«), ob tatsächlich bewertet und Leistung erbracht wird. Dies bewirkt eine »Entschleunigung« im Schulalltag, der sonst von dieser leistungsorientierten Taktung dominiert ist. Das Fach »Religion« bietet Möglichkeiten, eine »Insel« im Schulalltag zu kreieren, die zum Durchatmen und Erholen während des seit den PISA-Studien noch anstrengender gewordenen Schulalltags einlädt. Damit wird durchaus ein Kontrapunkt gesetzt zu der sonstigen primär an Leistung orientierten Schulkultur der Gegenwart: »Es ist immer so fachlicher, also diese Leistungsgesellschaft [….] und auch diese Bildungsbulimie, wie ich es nenne, also ich muss wahnsinnig viel in mich aufnehmen und dann spucke ich es zum richtigen Zeitpunkt wieder aus, aber dann ist es eigentlich auch weg und überhaupt nichts hat mein subjektives Konzept irgendwie berührt – das merke ich an den Schülern, wie sie das genießen, dass sie ein Fach haben, wo es mal wichtig ist, was eigentlich bei ihnen drinnen passiert und was das, was wir besprechen mit ihnen drinnen macht und was dann wieder rauskommt, dass das wichtig ist fürs Gesamte, was sie auch zu sagen haben, dass das was auch mit anderen macht, das würde da fehlen« (Jana 18,34–19,4).

Der Charakter als Kontrapunkt wird auch dadurch verstärkt, dass es im Fach »Religion« weniger um richtige oder falsche Antworten geht als um Auseinandersetzung und Urteilsbildung: wickelt eine eigene Lern- und Leistungskultur, die sich durch eine theologisch und pädagogisch verantwortete Differenzierung zwischen Person und Werk bestimmen lässt.«

»Wo in der Schule haben wir den Ort« 241 »Also ich glaube auch, dass sie sich oftmals ganz befreit fühlen im Religionsunterricht, weil sie eben oft auch merken, dass es hier nicht darum geht, ich meld’ mich und es ist was richtig oder falsch oder ›nein, setz dich bitte, du hast die Aufgabe nicht verstanden‹. Es gibt ja im Religionsunterricht nicht in dem Sinne meistens ›ja‹ oder ›nein‹, sondern es gibt ’ne Meinung. Und ganz viele […] vermeintliche schwache Schüler, die in vielen anderen Unterrichtsfächern nicht so viel sagen können, blühen oftmals ja richtig auf im Religionsunterricht, weil sie sich auch angenommen fühlen und ganz anders auch mit ihrer Meinung umgehen können und oftmals auch ganz viel positive Resonanz von Seiten ihrer Mitschüler erfahren, wenn sie mal auf ’ner nicht intellektuellen Ebene […] gefordert sind, […] sondern ihre Meinung entwickeln können« (Maria 16,26–36).

Da es im Fach »Religion« nicht primär um Wissen geht, sondern um eigenständige Urteilsbildung, werden andere Fähigkeiten als in den übrigen Fächern gefordert.26 Mit diesem Charakter sichert das Fach einen umfassenderen Bildungsbegriff als die Schule ihn sonst bieten könnte, der sich jenseits des Sichtbaren und Fassbaren und vor allem jenseits der Funktionalität des Menschen bewegt. Dabei stellt es ein Korrektiv zu bestimmten schulischen Tendenzen dar (die seit den PISA-Studien noch einmal deutlich dominanter sind), jedoch nicht gegen die Schule, sondern im Blick auf ihren umfassenden Bildungsauftrag in ihrem Sinne.

26

  Diese Dimension des Religionsunterrichts reflektiert auch Lütze: Tiefgründig, 63: »Eine einseitig auf die Vermittlung kultureller kanonisierter Wissensbestände fokussierte Schulbildung verweigert insbesondere Schülerinnen und Schülern den Respekt, deren lebensweltlich geprägte Ideale wenig anschlussfähig sind an den Wissensdiskurs, d.h. Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien.«

Religionslehrkräfte in Ostdeutschland Empirische Befunde an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen Steffi Völker

1. Konfessionslosigkeit und der evangelische Religionsunterricht in Sachsen-Anhalt und Thüringen – eine einleitende Bestandsaufnahme Nach Michael Domsgen bezeichnet Konfessionslosigkeit »eine nicht (mehr) vorhandene Bindung an organisierte Religion«1. Auch wenn festzuhalten ist, dass in Ost- wie Westdeutschland und auch in anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden und Spanien die konfessionelle Gebundenheit seit 1980 abnehmend ist, befindet sie sich in Ostdeutschland auf einem vergleichsweise sehr geringen Niveau. Als Grund hierfür wird die kirchenfeindliche Politik des DDR-Staates angeführt, aufgrund derer sich eine agnostische Weltsicht bei einer Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern entwickelte. Mangelnde kirchliche Bindung müsse zwar nicht gleich religionslos bedeuten, mit dem Rückgang der Kirchlichkeit sei aber auch ein Rückgang alternativer Religiosität beobachtbar.2 Die allgemeine Konfessionslosigkeit habe in Ostdeutschland selbst schon einen Einfluss auf die Sozialisation entfaltet und sich zu einer Tradition entwickeln können, die so selbstverständlich übernommen würde, wie andere die Zugehörigkeit zu einer Kirche übernehmen.3 Im Jahr 2010 wurden 17 % der Bevölkerung West-

1

  Michael Domsgen: (Ost)Deutschland und die Herausforderung der Konfessionslosigkeit. Einleitende Überlegungen zu einem immer wichtiger werdenden Thema, in: Michael Domsgen (Hrsg.): Konfessionslos – eine religionspädagogische Herausforderung. Studien am Beispiel Ostdeutschlands, Leipzig 2005, 9–22, 13. 2   Vgl. ebd. 3   Vgl. Michael Wermke: Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zur Teilnahme thüringischer Schülerinnen und Schüler, Jena 2006, 114.

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deutschlands als konfessionslos eingeschätzt, 1991 waren es lediglich 11 %. In Ostdeutschland liegt die Quote bei 75 % im Vergleich zu 65 % 1991.4 Obwohl also bereits Anfang der 1990er Jahre die Konfessionslosigkeit der Ostdeutschen bei einem sehr hohen Prozentsatz lag, setzten sich die politischen Kräfte durch, die Religion als Schulfach neu installieren wollten.5 In Thüringen wurde der evangelische Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen ab 1991 eingeführt und gleichzeitig staatliche sowie kirchliche Lehrkräfte qualifiziert.6 Im Schuljahr 2010/11 nahmen rund 28  % der Schüler am evangelischen Religionsunterricht teil (2016/17: 26 %).7 In Sachsen-Anhalt erschwerte die Bedingung, dass Ethik- sowie katholischer und evangelischer Religionsunterricht gleichzeitig angeboten werden mussten, die Einführung dieser Fächer insgesamt. Die Einführung des Religionsunterrichts ging daher schleppender voran. Im Schuljahr 2010/11 lag die Teilnahmequote am evangelischen Religionsunterricht bei 17,8 % (2016/17: 17,2 %).8 Heute gilt der Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen als etabliert und empirisch gut untersucht.9 4

  Vgl. Gert Pickel: Religion, Religiosität, Religionslosigkeit und religiöse Indifferenz. Religionssoziologische Perspektiven im vereinigten Deutschland, in: Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Konfessionslosigkeit heute. Zwischen Religiosität und Säkularität, Leipzig 2014, 45–80, 57. 5   Vgl. Raimund Hoenen: Erwartungen in den neuen Ländern, in: Rainer Lachmann/ Reinhold Mokrosch/Erdmann Sturm (Hrsg.): Religionsunterricht – Orientierung für das Lehramt, Göttingen 2006, 24–30, 24. 6   Vgl. Helmut Hanisch: »Sie sollten die Möglichkeit haben, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen.« Die Schule als Lernort des Glaubens im ostdeutschen Kontext, in: Michael Domsgen (Hrsg.): Konfessionslos – eine religionspädagogische Herausforderung. Studien am Beispiel Ostdeutschlands, Leipzig 2005, 185–240, 194. 7   Vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport/Statistisches Informationssystem Bildung: Schüler im Religions- bzw. Ethikunterricht (Unterpunkt der Kategorien »Schüler«, »Unterricht«, »Religion/Ethik«), online: www.schulstatistikthueringen.de (20. September 2017). 8   Diese Zahlen beruhen auf einer Auskunft des Ministeriums für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt (Referat Bedarfsplanung), angefragt per E-Mail am 18. September 2017. 9   Vgl. für Thüringen zum Beispiel Michael Wermke: Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zur Teilnahme thüringischer Schülerinnen und Schüler, Jena 2006; für Sachsen-Anhalt zum Beispiel Michael Domsgen/ Frank M. Lütze: Schülerperspektiven zum Religionsunterricht. Eine empirische Untersuchung in Sachsen-Anhalt, Leipzig, 2010; weiterhin für Sachsen zum Beispiel Heide Liebold: Religions- und Ethiklehrkräfte in Ostdeutschland. Eine empirische Studie zum beruflichen Selbstverständnis, Münster 2004; Christoph Gramzow/Helmut Hanisch (Hrsg.): Das Fach Evangelische Religion im Freistaat Sachsen aus der Sicht der Unterrichtenden. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung und eines Symposions, Leipzig 2015.

Religionslehrkräfte in Ostdeutschland 245

Allerdings lassen weder die Teilnahmezahlen noch die empirischen Studien für den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in den neuen Bundesländern ein ähnliches Bild zeichnen. So nahmen hinsichtlich der Teilnahmezahlen im Schuljahr 2010/11 nur rund 1,5  % aller Schüler in SachsenAnhalt (2016/17: 2,1 %) und rund 2 % aller Schüler in Thüringen (2016/17: 3 %) am Berufsschulreligionsunterricht teil. Hinsichtlich seiner empirischen Beforschung lässt sich nur eine Studie nennen: die in den Jahren 2011–2013 durchgeführte Untersuchung »Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Eine empirische Studie«. Diese Untersuchung bestand aus drei Befragungen: einer mündlichen Lehrer-, einer mündlichen Schüler- sowie einer schriftlichen Schülerbefragung, die eine beträchtliche Anzahl der Akteure des Berufsschulreligionsunterrichts erreichte (per Interview 22 Religionslehrkräfte und 25 Berufsschüler sowie per Fragebogen 809 Schüler). Interessensgebiete aller drei Teilstudien waren zum Beispiel Inhalte, Lehr-Lernformen, Lebensrelevanz und Berufsbezug des Berufsschulreligionsunterrichts, die Motivation zur Teilnahme, die Einschätzung der Lehrkraft sowie ihr Glaube. An anderer Stelle wurden bereits zentrale Ergebnisse aus den Schüler- wie Lehrerbefragungen ausführlich sowie zusammengefasst dargestellt.10 Im Zentrum der folgenden Betrachtung stehen nun die Ergebnisse aus der mündlichen Befragung der Religionslehrkräfte, dabei mit einem Fokus auf den Einfluss der Konfessionslosigkeit einer Mehrheit der Ostdeutschen auf den Berufsschulreligionsunterricht. An geeigneten Stellen erfolgen konkrete Bezüge zur Schülerbefragung.

2. Konfessionslosigkeit und Schülerschaft Auf die Frage nach der Konfessionsgebundenheit ihrer Schüler sowie nach deren Vorkenntnissen zu Glaube, Religion und Kirche beschrieben die Religionslehrkräfte in der Mehrheit eine sehr heterogene Schülerschaft. Die Vermutung der Lehrer, dass die Unterschiede hinsichtlich der konfessionellen Zusammensetzung der Klasse und der jeweiligen Vorkenntnisse in Bezug zur besuchten Berufsschulform und in Abhängigkeit zur Region stehen, 10

  Vgl. Steffi Völker (unter Mitarbeit von Helmut Stauche): Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Eine empirische Studie. Mit einem Vorwort von Thomas Heller und Michael Wermke, Leipzig 2015; Steffi Völker/Thomas Heller/Michael Wermke: Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen im konfessionslosen Kontext. Hintergründe, Methodik, zentrale Befunde und bildungspolitische Schlussfolgerungen des Forschungsprojekts »Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt und Thüringen«, in: Reinhold Boschki/ Matthias Gronover/Monika Marose/Michael Meyer-Blanck/Hanne Schnabel-Henke/ Friedrich Schweitzer (Hrsg.): Person – Persönlichkeit – Bildung. Aufgaben und Möglichkeiten des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen, Münster/New York 2017, 163–174.

246 Steffi Völker

bestätigte die schriftliche Schülerbefragung. Die konfessionell gebundenen Schüler waren mit 67 % in Thüringen und mit vergleichsweise geringen 31 % in Sachsen-Anhalt zu finden; ein Verhältnis, welches die unterschiedliche Konfessionsgebundenheit in Thüringen und Sachsen-Anhalt mit 36 % bzw. 22 %11 abgeschwächt widerspiegelt. Weiterhin bestätigte sich der Eindruck der Religionslehrkräfte, dass die Gymnasiasten über mehr Vorkenntnisse verfügten, was leicht dadurch erklärt werden kann, dass sie im Vergleich zu den Schülern der anderen Schulformen den Religionsunterricht vor der berufsbildenden Schule bereits deutlich länger besuchten. Aussagen zur Zusammensetzung konkreter, einzelner Lerngruppen hinsichtlich der konfessionellen Bindung konnten auf Grundlage der Schüler- wie Lehrerbefragung nicht getroffen werden. Sie variierte je nach Region, Berufsschulart und auch über Jahrgänge hinweg. Dennoch beschrieben die Religionslehrkräfte, dass sie nahezu in jeder Lerngruppe bzw. Klasse mit Schülern arbeiten, die konfessionell nicht gebunden sind bzw. keine Vorkenntnisse mitbringen. Während drei Lehrpersonen diesen Umstand explizit als positiv wahrnahmen, verdeutlichten hingegen bereits am Beginn der Interviews acht Lehrkräfte die Herausforderungen, welche damit verbunden sind. Auf die beschriebene Heterogenität hinsichtlich konfessioneller Bindung sowie der Vorkenntnisse in Bezug auf Glaube, Religion und Kirche reagierten sie mit einer konsequenten Schülerorientierung. Sie zeigte sich als zentrale Unterrichtsstrategie, da die Lehrkräfte auf diese Besonderheit ihres Unterrichts oft gleich am Anfang, aber auch an verschiedenen weiteren Stellen der Gespräche zu sprechen kamen. Sie beinhaltete generell die Orientierung an der Schülerschaft hinsichtlich der Größe der Klasse bzw. Lerngruppe, der Schulform, dem Intellekt der Schüler und ggf. dem Ausbildungsbereich, jedoch wurde sie von den befragten Lehrpersonen zugleich hauptsächlich in Zusammenhang mit der beschriebenen Heterogenität in Bezug auf die Konfessionslosigkeit bzw. mangelnden Vorkenntnisse eines Teils der Schülerschaft thematisiert. Auf diese Heterogenität gingen die Lehrkräfte bei der Auswahl der Themen, Methoden und Medien ein. Das folgende Zitat macht den Einsatz verschiedener Unterrichtsmethoden sowie die Unterschiedlichkeit der Klassenzusammensetzung anschaulich:12 11

  Vgl. Statistisches Bundesamt: Erste Ergebnisse des Zensus 2011 nach verschiedenen Merkmalen wie zum Beispiel Bildung, Erwerbstätigkeit, Migration und Religion für Kreise und kreisfreie Städte bzw. Bundesländer, online: www.destatis.de/DE/ PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2013/Zensus2011/soziodemo_excel.html (26. September 2013). 12   Als Quelle der folgenden Zitate wird das jeweilige anonymisierte Interview angeführt. Die Transskripte wurden nach Buchstaben des Alphabets sortiert und nach Geschlecht getrennt. Die Zeilennummern im Transskript machen den jeweiligen Auffundort nachvollziehbar.

Religionslehrkräfte in Ostdeutschland 247

»[...] und sie (.) nehmen/(.) diese modernen Unterrichtsmethoden, das gefällt ihnen auch (.) in Kombination mit dem Frontalunterricht und dann bringen sie sich auch ein. Also Gruppenarbeit, das wird sehr ernst genommen (.), Schülervorträge, das finden sie gut (.), Projektarbeit, die Aufgaben dazu, das nehmen sie gerne an (.). Natürlich ist es sehr begrenzt, die Möglichkeiten, das muss ich auch sagen, denn eine Stunde pro Woche (..), dann die Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Ich habe jetzt zum Beispiel auch, also in jeder Gruppe sind Schüler, die noch gar keinen Religionsunterricht hatten (.), zwei oder ein Jahr nur und dann im Gegensatz zehn oder elf Jahre. [holt tief Luft] Ja dann muss man doch erst wieder den Einstieg finden, dass die anderen auch wissen, wovon man redet« (Frau F., 157–174).

Die Mischung der Schüler hinsichtlich der konfessionellen Bindung ebenso wie das teilweise konfessionslose Schulumfeld wurden weiterhin im Zusammenhang mit der Bedeutung des eigenen Glaubens der Religionslehrkräfte in den Interviews thematisiert, was folgend genauer ausgeführt wird.

3. Konfessionslosigkeit und    Religionslehrkräfte Keine der befragten Religionslehrkräfte konnte sich einen Religionsunterricht ohne eigenen Glauben als Grundlage ihrer Lehrtätigkeit vorstellen. Solch ein Unterricht mag zwar erteilt werden, wie einige Lehrpersonen zu berichten wussten, er ist aber für das Sample nicht beschreibbar. Die Befragten sahen es als ausgeschlossen an, ohne eigenen Glauben über Gott, Jesus Christus und die Auferstehung sprechen zu können. In diesem Zusammenhang wurde die eigene Authentizität, vor allem in Glaubensfragen, von einem Teil der Lehrer als besonders bedeutsam hervorgehoben. Die Schüler würden danach fragen, welche Bedeutung die Inhalte des christlichen Glaubens für die Lehrpersonen haben und inwiefern dieser Glaube in ihrem Leben eine Rolle spielt. Damit gaben die Religionslehrkräfte oftmals mehr von sich als Person, von ihrem Alltagsleben preis, als sie dies in anderen Fächern oder an anderer Stelle tun würden: »Also ohne so ein Selbstverständnis und Glauben oder mein Selbstverständnis und Glauben, also würde ich mich jetzt nicht vor Schüler stellen wollen. Und man wird danach gefragt, also die merken das natürlich auch, aber man wird eben konkret danach gefragt. Also man muss schon selbst eigentlich davon überzeugt sein, also sonst halte ich das für Heuchelei. Also ich könnte das dann nicht« (Frau A., 498–507).

Den Religionslehrern war weiterhin wichtig, ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis und eine Atmosphäre zum gegenseitigen Austausch zu schaffen:

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»[…] und was ganz wichtig ist, was die Schüler nur im Religionsunterricht spüren, sagen sie mir, dass sie erleben, dass ihre Ehre und Würde nicht verletzt wird. Es gibt keine dummen Fragen und es wird auch nicht über irgendjemanden gelacht. Da erleben sie, dass ich sofort dazwischen gehe und so. Und da bildet sich, da bildet sich eine Atmosphäre heraus, die einmalig ist, die die Schüler sonst nicht kennen. Also die kippen dann mitunter auch innere Geheimnisse aus, vor denen sie anschließend erschrecken« (Herr B., 476-482).

Die Förderung der Schüler geschehe vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes der Lehrkraft. Dieses Menschenbild zeige sich durch ein authentisches Vorleben im Rahmen des Unterrichts und der Schule sowie durch das Ablegen persönlichen Zeugnisses. Nach Auswertung der Interviews können dabei zwei Gruppen von Lehrpersonen beschrieben werden: die Gruppe der tendenziell »zurückhaltenden Lehrkräfte« und die Gruppe der tendenziell »offensiven Lehrkräfte«. Personen beider Gruppen gehen davon aus, dass der eigene Glaube und das eigene Selbstverständnis durch die Handlungen der Religionslehrkraft vor allem im Unterricht, aber auch im Schulumfeld deutlich werden. Ebenso gleich ist ihnen, dass sie ihre eigene Haltung zu Glaube und Religion auf explizite Nachfrage der Schülerschaft in den Unterricht einbringen. Die Gruppe der offensiven Lehrkräfte betonen darüber hinaus die besondere Bedeutung der Darstellung der eigenen Haltung zu Glaube, Religion und Kirche auch ohne explizite Nachfrage durch die Schülerschaft. Egal, welcher Gruppe die Befragten zugeordnet werden können, sie begreifen die Darstellung ihres Glaubens als Anregung zur Reflexion. Der eigene Standpunkt soll als Reibungsfläche dienen. Sie wollen vorleben und persönliches Zeugnis ablegen, aber keinen Glauben oktroyieren. Der Religionsunterricht sei kein Missionsfeld – dagegen wird sich explizit ausgesprochen. Ohne eine Analyse der Persönlichkeit der Religionslehrkräfte im psychologischen Sinn vorgenommen zu haben, ist nach den Aussagen der Befragten die Zuordnung zur Gruppe der offensiven oder zurückhaltenden Lehrkräfte offenbar abhängig von Persönlichkeitsmerkmalen. Für die offensive oder zurückhaltende Vertretung des eigenen Glaubens scheint weiterhin die Zusammensetzung der Schülerschaft hinsichtlich ihrer religiösen Sozialisation eine Rolle zu spielen. Einerseits agieren in Schülergruppen mit vorwiegend atheistischem Hintergrund Lehrkräfte deutlich zurückhaltender. Andererseits gibt es Religionslehrer, die auch in solchen Schülergruppen bereit sind, ihren eigenen Glauben sehr viel deutlicher zu vertreten. Nachfolgend findet sich je ein Statement, welches die offensive bzw. zurückhaltende Lehrerpersönlichkeit im o.g. Sinn charakterisiert:

Religionslehrkräfte in Ostdeutschland 249

»Also das ist ja das Wunderbare am Religionsunterricht, ich kann mich hinstellen und kann sagen, das ist diese biblische Geschichte, und ich persönlich stehe dazu so und so. Also ich glaube an Gott. Jesus hat für mich verbindlich und vorbildlich das vorgelebt und das hat für mich die und die Konsequenzen. Und dann kann ich sagen, an dieser Meinung könnt ihr euch reiben, ihr müsst die ja nicht annehmen. Aber dass sich überhaupt jemand hinstellt und Flanke bietet, da sind die Schüler dankbar« (Herr B., 68–73). »Ich gehe damit nicht gleich in die erste Stunde rein. Das mache ich nicht. Also man sollte damit auch nicht hausieren gehen (.), ich bin (.) diejenige welche. Sondern wenn es sich ergibt, im Unterrichtsgespräch, vom Thema her oder man wird gefragt, dann (.) finde ich es wichtig, dass man ehrlich dazu steht« (Frau F., 801–810).

Fragen nach dem eigenen Glauben gingen dabei explizit wie implizit nicht allein von der Schülerschaft aus, sondern auch vom Kollegium. Auch auf solche Nachfragen reagierten die Religionslehrkräfte unterschiedlich. So sahen dies einige als positiv an, andere fühlten sich zu einer Legitimation gedrängt. Dabei war von Bedeutung, ob sie sich von der Schulleitung und dem Kollegium akzeptiert und/oder unterstützt fühlten. Wurde eine mangelnde Akzeptanz bzw. fehlende Unterstützung wahrgenommen, so kann dies wiederum mit der Lage der berufsbildenden Schulen im weithin konfessionslosen Osten in Zusammenhang gebracht werden. Viele Lehrkräfte und Schulleitungen wurden in der DDR sozialisiert und bezweifeln die Notwendigkeit eines solchen Unterrichts, sicher nicht nur an den berufsbildenden Schulen, dort aber insbesondere.

4. Konfessionslosigkeit und religions   pädagogische Kompetenz Für die Religionslehrerbildung existiert mittlerweile eine Reihe an Anforderungs- und Kompetenzprofilen bzw. Kerncurricula,13 die festhalten, welche Kompetenzen Lehrkräfte ausbilden und wie diese in den einzelnen Phasen der Lehrerbildung entwickelt werden sollen. Ein Meilenstein hierfür waren die in der Schrift »Im Dialog über Glauben und Leben« im Jahr 1997 vorgelegten Überlegungen zur sog. religionspädagogischen Kompetenz.14 Rainer 13

  Vgl. spezifisch für die Religionslehrerbildung in Thüringen: Susanne Jeuk/Eveline Trowitzsch/Michael Wermke: Auf dem Weg zur guten Lehrerbildung. Thüringer Kerncurriculum für den religionspädagogischen Anteil in der evangelischen Religionslehrerbildung, Jena 2014. 14   Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Im Dialog über Glauben und Leben. Zur Reform des Lehramtsstudiums Evangelische Theologie/ Religionspädagogik. Empfehlungen der Gemischten Kommission, Gütersloh 1997.

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Lachmann betrachtet diese in verschiedenen Dimensionen, anhand derer die Ergebnisse der hier im Blick stehenden Untersuchung weiter geordnet und diskutiert werden sollen:15 a) Hinsichtlich der (fach-)didaktischen und methodischen    Dimension religionspädagogischer Kompetenz Im Hinblick auf die Heterogenität der Schülerschaft in Bezug auf die konfessionelle Bindung und auf Vorkenntnisse zu Glaube, Religion und Kirche reagierte die Lehrerschaft mit einer Schülerorientierung, welche die Voraussetzungen ihrer Schüler diesbezüglich bei der Auswahl der Inhalte, Methoden und Medien berücksichtigte. Als Voraussetzung einer solchen Schülerorientierung arbeitete bereits Helmut Hanisch die Notwenigkeit einer entsprechenden Diagnostik heraus. Bei der Erhebung der anthropogenen und sozial-kulturellen Bedingungen der Schüler solle besonders auf deren religiöse Sozialisation und Glaubensentwicklung geachtet werden, um ihren Lernvoraussetzungen besser gerecht werden zu können. Die Erwartungen an den Religionsunterricht sollten erfragt werden, denn einige Schüler könnten den Unterricht als reine Informationsvermittlung über das Christentum wahrnehmen, andere hingegen meinen vielleicht, der Religionsunterricht sei zur Mission da.16 Auch Michael Wermke stellte fest, dass es zwei unterschiedliche Erwartungen an den Religionsunterricht gibt: Zum einen würde von ihm tendenziell eine kirchliche Beheimatung gewünscht, zum anderen ein deutlich distanziertes Verhältnis zur Kirche.17 Aufgrund der unterschiedlichen Erwartungen sei eine Verständigung über die Ziele des Religionsunterrichts sehr wichtig.18 So kann einer didaktischen Unsicherheit der Religionslehrkraft vorgebeugt werden.19 Damit muss die konfessionelle Heterogenität der Schülerschaft Berücksichtigung finden in einer (fach-)didaktischen und methodischen Dimension religionspädagogischer Kompetenz. b) Hinsichtlich einer fachwissenschaftlich-theologischen    Dimension religionspädagogischer Kompetenz Die Schüler in Thüringen und Sachsen-Anhalt bescheinigten ihren Religionslehrkräften methodisch-didaktisches »Know-how«. Ihre Lehrpersonen 15   Vgl. Rainer Lachmann: Einführung in den Beruf einer Religionslehrkraft, in: Rainer Lachmann/Reinhold Mokrosch/Erdmann Sturm (Hrsg.): Religionsunterricht – Orientierung für das Lehramt, Göttingen 2006, 13–50, insbesondere 30–32. 16   Vgl. Hanisch: Sie sollten die Möglichkeit haben, 225f. 17   Vgl. Wermke: Evangelischer Religionsunterricht, 115. 18   Vgl. Hanisch: Sie sollten die Möglichkeit haben, 226ff. 19   Vgl. Liebold: Religions- und Ethiklehrkräfte, 90.

Religionslehrkräfte in Ostdeutschland 251

unterrichteten verständlich (88 %) und interessant (80 %). Sie hatten in der Mehrheit die Klasse »im Griff« (78 %). 87 % der Schüler erwarben im Berufsschulreligionsunterricht mehr Wissen über die christliche Religion. In Bezug auf eine fachwissenschaftlich-theologische Dimension ist daher von einem fundierten theologischen Expertenwissen der befragten Lehrkräfte auszugehen, welches den Erfordernissen des Unterrichts angemessen ist. Jedenfalls die Schüler attestierten der Lehrerschaft fachliche Kompetenz (96 %). Für sie wurde das Interesse der Lehrperson am Thema deutlich (95 %). c) Hinsichtlich einer pädagogisch-humanwissenschaftlichen    Dimension religionspädagogischer Kompetenz Auch eine pädagogisch-humanwissenschaftliche Dimension religionspädagogischer Kompetenz wurde in Teilen sehr ernst genommen. Den Religionslehrkräften war eine vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehung sehr wichtig, die einen ungezwungenen Austausch unter den Schülern ermöglicht. In den Interviews wurde anschaulich, dass die Lehrer ihre Schüler als lern- und kommunikationsfähige Subjekte achten und ihnen Respekt und Toleranz entgegenbringen. Auf die Schülerschaft wirkten die Religionslehrkräfte sympathisch (86 %). Sie wurden als Personen ernst genommen (80 %). Die Schüler waren sich sicher, dass sie von ihrer Lehrkraft Hilfe erwarten können, wenn sie solcher bedürfen (64 %). d) Hinsichtlich einer rechtlich-institutionellen Dimension und einer    persönlichen Dimension religionspädagogischer Kompetenz Insbesondere wurden und werden in Thüringen und Sachsen-Anhalt jedoch eine rechtlich-institutionelle Dimension und eine persönliche Dimension religionspädagogischer Kompetenz herausgefordert. Bereits seit den 1970er Jahren wurden die entsprechenden Erwartungen an Religionslehrkräfte durch Schüler, Eltern, Staat, Kirche und Wissenschaft vielfach beschrieben,20 wobei aus den unterschiedlichen Erwartungen für Religionslehrer eher eine Rollenproblematik als für Lehrer anderer Fächer entsteht. Insbesondere erwächst jedoch eine Spannung aus der Doppelzuständigkeit von Staat und Kirche für den Religionsunterricht, wie sie sich aus Artikel 7.2 und 7.3 GG ergibt. Einerseits ist der Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach mit versetzungsrelevanter Notengebung und hat den Bildungsanspruch der Schule gerecht zu 20

  Vgl. zum Beispiel Gottfried Adam: Religionslehrer: Beruf und Person, in: Rainer Lachmann/Gottfried Adam (Hrsg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 2003, 163–175; Friedrich Schweitzer: Religionspädagogik. Lehrbuch Praktische Theologie. Band 1, Gütersloh 2006, 186–196.

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werden. Er unterliegt der Aufsicht des Staates und wird von ihm finanziert. Andererseits muss er in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden, was einen nach Konfessionen getrennten Religionsunterricht bedeutet. Die Kirchen bestimmen die Inhalte des Religionsunterrichts und haben Mitspracherecht bei der Einstellung der Lehrer. Mit diesem Widerstreit zwischen kirchlichem Einfluss, Konfessionalität und schulischem Lehrfach müssen Religionslehrkräfte umgehen. Sie sollten deshalb zu produktiver Kooperation mit Kollegen, Schulleitung, staatlichen Ämtern und kirchlichen Verantwortungsträgern fähig sein.21 Eine Kooperation setzt aber auch ein kooperationsbereites Gegenüber voraus. Wie gezeigt werden konnte, kann es aufgrund mangelnder Akzeptanz des Faches durch Kollegen und Schulleitung auch für Religionslehrkräfte mit langjähriger Berufserfahrung schwierig werden, die Beziehungen produktiv zu gestalten, besonders in einem konfessionslosen Schulumfeld, was zu Legitimationen herausfordert. Allerdings ist an dieser Stelle noch einmal festzuhalten, dass die Konfessionslosigkeit einiger oder mehrerer Schüler ebenso wie die der Kollegen und/oder Schulleitungen zwar für eine große Anzahl, jedoch nicht für alle Religionslehrkräfte Hindernisse im Berufsalltag darstellte, was auf die große Bedeutung einer persönlichen Dimension religionspädagogischer Kompetenz verweist. In dieser wird zunächst eine positive Grundeinstellung zu Religion, christlichem Glauben und Kirche als Voraussetzung für den Religionsunterricht zu nennen sein. Eine solche kann ohne weiteres den Religionslehrkräften Sachsen-Anhalts und Thüringens attestiert werden. Religionsunterricht ist vor allem aufgrund von Artikel 7.3 GG parteilicher Religionsunterricht. Ein Rückzug in einen religiös und weltanschaulich neutralen Religionsunterricht im Sinne einer Religionskunde sei daher nicht möglich.22 Dem stimmten auch die befragten Lehrer zu. Die konfessorische Rede, das Bekennen, Zeugnis ablegen, Stellungnehmen, ob »zurückhaltend« oder »offensiv« (s.o.), war den Religionslehrkräften sehr wichtig. Wenn es zur konfessorischen Rede im Unterricht käme, hätten die Schüler durchaus das Recht auf den Lehrer als religiöse Person23 und dieses Recht räumten die Lehrpersonen ihren Schülern ein. Erhält die personale Dimension und Repräsentanz des Unterrichtens im Religionsunterricht damit ein höheres Gewicht als in anderen Fächern,24 so nimmt dieses Gewicht noch einmal zu, wenn man sich die Religionslehrkräfte vor einer in weiten Teilen konfessionslosen Schülerschaft vorstellt. Hierbei kam es bei einigen Lehrpersonen zu Unsicherheiten, inwieweit ein Bekennen durch den Religionslehrer die Schüler abschrecken 21

  Vgl. Lachmann: Einführung, 20.   Vgl. a.a.O., 37. 23   Vgl. a.a.O., 38. 24   Vgl. a.a.O., 37. 22

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kann. Auch Wermke beschreibt, dass sich Religionslehrer in einem Zwiespalt befinden: Einerseits sollen sie eine bekenntnisbestimmte Positionalität einnehmen, andererseits dürfe die Religionslehrkraft nicht indoktrinieren.25 Studien zum Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen in Thüringen und Sachsen-Anhalt kamen dabei zu dem Ergebnis, dass getaufte wie ungetaufte Schüler in großen Teilen ihre Lehrkraft als nicht-indoktrinierend erleben.26 Schüler könnten auch zwischen Positionalität und Indoktrination unterscheiden.27 Wenn Lehrer oft sagen, was sie glauben, sind Schüler sogar aktiver, aufmerksamer und häufiger am Unterricht beteiligt.28 Bei ungetauften Schülern kann die im Einzelfall subjektiv empfundene Indoktrination jedoch zu einem Abmeldegrund werden,29 so dass die in den Gesprächen mit den Religionslehrkräften deutlich gewordene Sensibilität in Bezug auf die bekennende Rede vor einer konfessionell heterogenen Schülerschaft durchaus angebracht ist, auch wenn die Jugendlichen nach Aussagen der Lehrerschaft oftmals selbst nach den Einstellungen ihrer Lehrpersonen bzgl. Glaube, Religion und Kirche fragen. Ihre Glaubwürdigkeit erhielten Religionslehrer insbesondere dadurch, dass auch sie ihre Zweifel und Anfragen äußern und verdeutlichen, dass sie sich mit ihrem Glauben ebenso noch auf dem Weg befinden.30 In der schriftlichen Schülerbefragung zeigte sich, dass die Religionslehrkräfte von ihren Schülern als Menschen wahrgenommen werden, die an Gott glauben (86 %) und als Ansprechpartner in Glaubensfragen (62 %). 35 % wünschten sich einen Austausch über Glaubensfragen mit dem Lehrer und den Mitschülern und 45 % wünschten Gespräche über die eigenen Zweifel im Zusammenhang mit Religion. Nicht nur durch die Jugendlichen selbst, sondern auch durch ihre Kollegen waren die Religionslehrer zum Stellungnehmen herausgefordert, was vor dem atheistischen Schulumfeld einerseits als positives Interesse an den Glaubensinhalten wahrgenommen, teilweise aber auch als zur Legitimation herausfordernd und belastend empfunden wurde. So kann noch einmal mehr festgehalten werden, dass »[d]ie Entscheidung für das Fach Religion in Ausbildung und Beruf […] aus der Perspektive der neuen Länder besonderen Einsatz und hohes Engagement [verlangt].«31

25

  Vgl. Wermke: Evangelischer Religionsunterricht, 77.   Vgl. ebd.; Domsgen/Lütze: Schülerperspektiven, 170. 27   Vgl. Wermke: Evangelischer Religionsunterricht, 78. 28   Vgl. Domsgen/Lütze: Schülerperspektiven, 171. 29   Vgl. Wermke: Evangelischer Religionsunterricht, 78. 30   Vgl. Lachmann: Einführung, 38. 31   Hoenen: Erwartungen, 30. 26

254 Steffi Völker

5. Schlussfolgerungen Obwohl es in den neuen Bundesländern und im Arrangement der berufsbildenden Schulen nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn der Berufsschulreligionsunterricht kritisch gesehen würde, wollte die große Mehrheit der befragten Schüler nicht auf den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen verzichten (91 %). Sie befürworteten weder eine Trennung nach den beiden Konfessionen (59 % Ablehnung) noch ein Zusammengehen mit dem Ethikunterricht (72 % Ablehnung). Weiterhin zeigte sich, dass die Wahrnehmung der Effizienz und der Akzeptanz des Berufsschulreligionsunterrichts maßgeblich von der positiven Einschätzung der Religionslehrkraft beeinflusst waren.32 Die Religionslehrer an berufsbildenden Schulen wurden von ihren Schülern anerkannt, wertgeschätzt und als Ansprechpartner bei möglichen Problemen wahrgenommen.33 Ihnen wurde ein hohes Engagement attestiert.34 Aufgrund solcher Befunde wird immer wieder die Unterstützung der Religionslehrkräfte in Ausbildung und Beruf gefordert. So gut und wichtig es ist, den angehenden Lehrpersonen mittels Kompetenzprofilen und Anforderungskatalogen bereits früh vor Augen zu führen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten im Laufe des Studiums und auch in den folgenden Phasen der Lehrerbildung zu erwerben sind, so wichtig ist auch deren Begleitung auf diesem Weg. Gläubigkeit und die Berufsidentität als Religionslehrer sind als unabgeschlossene Prozesse zu betrachten,35 weshalb auch Lehrkräften im langjährigen Schuldienst passende Formen der Fort- und Weiterbildung anzubieten sind. Insbesondere auf der Ebene der (fach-)didaktischen und methodischen Dimension schätzten die befragten Religionslehrer die Weiterbildungsangebote des landeskirchlichen Instituts sowie der Länderinstitute als sehr gut und ausreichend ein. Um die eigene Position im Spannungsfeld unterschiedlichster Erwartungen an Religionslehrkräfte immer wieder zu festigen bzw. ggf. zu verändern oder anzupassen, könnten Supervisionsangebote ebenso dienlich sein, genauso wie zur Unterstützung der Lehrperson bei dem »hochsensiblen Balanceakt zwischen ›gelebter und gelehrter Religion‹, zwischen Authentizität und Selbstschutz«36.

32

  Vgl. zum Beispiel auch Jochen Sautermeister: Religionsunterricht an der berufsbildenden Schule. Eine exemplarische Studie zur Wahrnehmung und Einschätzung des Faches Religion durch Schülerinnen und Schüler, Norderstedt 2006, 267ff. 33   Vgl. zum Beispiel auch Klaus Kießling: Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen, Ostfildern 2004, 155. 34   Vgl. zum Beispiel auch Anton Bucher: Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe. Eine empirische Untersuchung zum katholischen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2001, 112. 35   Vgl. Lachmann: Einführung, 33.

Religionslehrkräfte in Ostdeutschland 255

Obwohl gezeigt werden konnte, dass der Bedarf für ein solches Angebot gerade im weitgehend konfessionslosen Osten des Landes gerechtfertigt wäre, fragten die Religionslehrer solche Angebote allerdings nicht nach. Sie wünschten sich aber einen Austausch unter »ihresgleichen«, also mit anderen Lehrkräften für den Berufsschulreligionsunterricht. Damit setzten sie ein Grundverständnis ihrer Kollegen voraus, welches sie von Religionslehrern an allgemeinbildenden Schulen nicht erwarten. Austauschmöglichkeiten zu schaffen, ist dabei auch deshalb angezeigt, weil die Religionslehrkräfte häufig als einzige an ihrer Schule das Fach unterrichten und deshalb vor Ort keine Fachgruppe zum Austausch existiert und das Fach selbst im Fächerkanon immer wieder legitimiert werden muss. Solche Gesprächsoptionen könnten auch in Form von Supervisionsangeboten geschaffen werden. Als weitere Unterstützungsquellen wären Formen von Coaching und Seelsorge für Einzelpersonen denkbar oder Seminare, die gezielt zur Stärkung des eigenen Glaubens ausgewählt werden. Die Forderung einer eigenständigen Aus- und Weiterbildungsperspektive hinsichtlich der Entwicklung der Persönlichkeit der Religionslehrkräfte, nach Stärkung und Profilierung der Religionslehrerpersönlichkeit, ist dabei nicht neu,37 findet aber weitere Unterstützung durch die hier im Blick stehende Untersuchung. Obwohl andere Studien eine positive Befindlichkeit und Berufszufriedenheit bei Religionslehrkräften ermitteln,38 ist die Gefahr einer Berufsmüdigkeit oder eines Burn-Out aufgrund der o.g. Anforderungen und Erwartungen nicht zu unterschätzen, weshalb auch deshalb Supervisionsangebote sinnvoll sein können. Anzeichen für solche Überforderungen lassen sich dabei auch in einzelnen Lehrerinterviews erkennen. Weitere Untersuchungen sollten darum das Wohlbefinden und die Berufszufriedenheit der Religionslehrkräfte sowie deren Umgang mit Grenzen und Hindernissen im Berufsalltag in den Blick nehmen und dabei nach dem Zusammenhang zur Konfessionslosigkeit im ostdeutschen Raum fragen. Trotz des erneuten Beleges, dass der Religionsunterricht, dort wo er die Schüler erreicht, ein Erfolgsmodell ist, kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass insbesondere die Teilnehmerzahlen am Berufsschulreligionsunterricht sehr gering sind. Anzuführende Gründe hierfür sind: seine nur sehr bedingt vollzogene Einführung nach der Wiedervereinigung und die 36

36

  Meinfried Jetzschke: Fort- und Weiterbildung von (Religions)Lehrer/innen an berufsbildenden Schulen, in: Gesellschaft für Religionspädagogik/Deutscher Katechetenverein (Hrsg.): Neues Handbuch Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, Neukirchen-Vluyn 22006, 625–645, 638. 37   Vgl. zum Beispiel Domsgen/Lütze: Schülerperspektiven, 187f. 38   Vgl. zum Beispiel Helene Miklas/Helmar-Ekkehardt Pollitt/Georg Ritzer: »Ich wünsche mir aufrichtige Anerkennung unserer Arbeit«. Berufszufriedenheit, Belastungen und Copingstrategien evangelischer ReligionslehrerInnen in Österreich, Münster/New York 2015, 30-47.

256 Steffi Völker

weiter zunehmende Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands sowie die generelle Überalterung des Kollegiums an berufsbildenden Schulen, welche nach gut ausgebildeten Nachwuchskräften fordern lässt und zwar auch in anderen Fächern. Denn Berufsschulreligionsunterricht kann oft deshalb nicht erteilt werden, weil die Religionslehrer zunächst in ihren berufsrelevanten Fächern eingesetzt werden. Mit Hilfe von mehr Personal und Unterstützung durch die Schulleitungen könnten auch andere Hindernisse, wie zum Beispiel die häufige Einstündigkeit und Einjährigkeit des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen sowie ein klassen- und berufsgruppenübergreifender Unterricht abgebaut werden. Es fehle hier an (finanzieller) Unterstützung durch die Landesregierungen, so jedenfalls beschrieben dies die Religionslehrer, weshalb sie sich in besonderem Maße eine Unterstützung der Landeskirchen wünschen.

Teil 3: Systematische Perspektiven

Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts Heiner Alwart

1. Glückwunsch und Dank Mit Michael Wermke, dem dieser Artikel zum 60. Geburtstag gewidmet ist, ergab sich in den letzten Jahren mehrfach die glückliche Gelegenheit zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Das begann im Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Teil dieses Forschungszentrums war eine Doktorandenschule. Einer ihrer Jahrgänge wurde von Wermke vorbildlich betreut. Der Wissenschaftspädagoge war jedem zugewandt, ohne den gebotenen Respekt vor der Freiheit des einzelnen Nachwuchswissenschaftlers außer Acht zu lassen.1 Die Zusammenarbeit, die ich stets als besonders fruchtbar erlebt habe, setzte sich fort, als Wermke für das bereits erwähnte Forschungszentrum ein öffentliches Podiumsgespräch zur religiös motivierten Knabenbeschneidung durchführte und mich dazu einlud, juristische und rechtsphilosophische Aspekte beizusteuern.2 Den bisherigen Schlusspunkt unserer Begegnungen bildete eine Veranstaltung zum brisanten Problem der Leihmutterschaft und dem Wandel familiärer Leitbilder.3 Entfesselte Technik und eine damit einhergehende naturwissenschaftliche Hybris können den erfahrenen Religionspädagogen Wermke naturgemäß nicht kalt lassen. Nicht zuletzt auf solchen Feldern werden auch in Zukunft noch manche Herausforderungen auf gewohnte Lebensformen und den individuellen Freiheitsbestand zukommen. Es ist Aufgabe 1

  Für einen juristischen Ertrag des Wermke-Jahrganges sorgte Ines Matthes-Wegfraß: Der Konflikt zwischen Eigenverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, Berlin 2013. 2   Daraus entstand ein von Michael Wermke herausgegebener Sammelband, vgl. Michael Wermke (Hrsg.): Säkulare Selbstbestimmung versus religiöse Fremdbestimmung? Zur Kritik an der öffentlichen Debatte um das Beschneidungsritual, Leipzig 2014. 3   Die Drucklegung des betreffenden Tagungsbandes – herausgegeben von Edward Schramm und Michael Wermke – befindet sich in Vorbereitung. Mein Beitrag trägt den Titel »The Minimum Content of Natural Law«. Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus dem rechtstheoretischen Werk von Herbert Lionel Adolphus Hart.

260 Heiner Alwart

der Theologen und Juristen wie aller Geistes- und Sozialwissenschaftler die sich scheinbar ausweglos zuspitzenden gesellschaftlichen Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. Was sich als furioses Finale eines Emanzipationsprozesses geltend macht, könnte in Wahrheit auf einen seelisch-geistigen Rückschritt hinauslaufen.

2. Religiöse Abstinenz als Problem Gleichwohl muss ich meinen Beitrag zu Ehren von Michael Wermke mit einem Eingeständnis beginnen: Von meinem schon vor Monaten frei gewählten Religionsthema fühle ich mich wider Erwarten überfordert. Deshalb muss und darf ich mich hoffentlich wenigstens kurz fassen. In dem Augenblick nämlich, wo ich dazu etwas Verbindliches zu Papier bringen möchte, kommt es mir jetzt allzu persönlich und geradezu unwissenschaftlich vor. Zwar finde ich sofort individuelle religiöse Spuren mindestens bis in meine frühe Kindheit hinein, die eine Reflexion geradezu herausfordern. Aber in Jahrzehnten wissenschaftlichen Bemühens habe ich – bewusst oder unbewusst – stets versucht, die Themen »Religion« und »Metaphysik« weitgehend auszuklammern. So meinte ich schon vor 30 Jahren, mich auf Jacob Burckhardt berufen zu sollen: Der ganze moderne Geist dränge auf eine Deutung der Lebensrätsel unabhängig von der Religion.4 Und mit Max Weber war mir schon sehr früh klar, dass ich innerhalb meiner juristischen Bemühungen auf keinen Fall versuchen werde, jemandem das Recht als ein unabänderliches Heiligtum zu verkaufen.5 Was das Recht wirklich ist, muss ohne falsches Pathos jedem klar vor Augen gestellt werden können, gleichviel, ob er nun Christ sei oder Atheist. Auch wäre ein Unternehmen wenig glaubwürdig, das darauf hinausliefe, das Rechtsdenken mittels obsoleter philosophischer Methoden aus seinen realen Kontexten zu lösen. Aus dem Recht darf kein bleiches Gerippe für Belange des Elfenbeinturms gemacht werden. Die Theorie darf weder die Augen davor verschließen, dass das Recht um der Rechtssicherheit willen faktisch dazu tendiert, Gewalt zu monopolisieren, noch dem Irrtum verfallen, dass dieser innere Zusammenhang die moralische Qualität des Rechts – seinen Gerechtigkeitsgehalt – per se diskreditieren würde. Leider gibt es nicht wenige Philosophen, die meinen, das wirkliche Recht zugunsten ihrer eigenen, abstrakten Gerechtigkeitskonstrukte missachten zu sollen, oder die sich unter dem Deckmantel von Wissenschaft und Philosophie bloß in politischer Korrektheit üben. Manchem mag es noch gelingen, ein modisches Schlag4

  Vgl. Heiner Alwart: Recht und Handlung, Tübingen 1987, 1f. (mit dem entsprechenden Nachweis). 5   Vgl. Alwart: Recht, 2 (mit Belegstelle).

Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts 261

wort für das Feuilleton eine Zeit lang in Umlauf zu bringen. Wer jedoch so ansetzt, denkt von vornherein an Wirklichkeit und Wahrheit vorbei. Indem er so tut, als ob er nach etwas Handfestem greifen würde, verstrickt er sich dabei letztlich nur in eine besondere Variante von Korruption. Meine religiöse Abstinenz dürfte noch andere Wurzeln haben, Wurzeln, die immer schon da waren und über die ich nicht verfügen kann. Bestenfalls kann ich mir entsprechende Zusammenhänge bewusst machen. Aber ich kann sie nicht einfach kappen. So empfinde ich Religion nicht von ungefähr irgendwie als eine Privatsache, mit der ich meine Mitmenschen nicht konfrontieren und die ich nicht vor mir hertragen möchte. Erwarte ich das in Deutschland auch von anderen, womöglich auch von Zugewanderten mit ganz anderer Prägung?6 Zumindest jedes missionarische oder ähnlich aufdringliche Auftreten in der Öffentlichkeit erscheint mir überaus seltsam oder sogar obszön. Ich meinerseits will mich jedenfalls partout nicht outen. Es kommt mir sogar peinlich vor, wenn ich neben meinen Mitmenschen gelegentlich, ehrlich gesagt: etwa zu Weihnachten, das Vaterunser bete. Warum ist das so? Weil mein Leben sonst so wenig religiöse Elemente in sich trägt und ich an meiner Integrität zweifeln muss, wenn ich anfange, mich als einen gläubigen Menschen zu inszenieren, um, jeweils den äußeren Umständen angepasst, nicht weiter aufzufallen und akzeptiert zu werden? Wo endet auf diesem Feld die anzustrebende intellektuelle Redlichkeit? Und wo soll das alles einmal hinführen? Auch wüsste ich in aller gebotenen Bescheidenheit nicht, warum meine freiwillig eingegangenen religiösen Bindungen, wenn es sie denn gibt, andere überhaupt interessieren sollten. Meinem Beruf als Rechtswissenschaftler jedenfalls kann ich nur dadurch gerecht werden, dass ich den Zeitgenossen ein Licht aufstecke, und nicht dadurch, dass ich sie mit Weihrauch beneble. Wenn es mir gelänge, die Welt, in der wir heute alle gemeinsam leben, ein Stück weit auszuloten, das heißt das Recht als eine wichtige Wechselbedingung kulturell gehaltvollen Zusammenlebens verständlich zu machen, dann wäre damit schon viel gewonnen. Im Übrigen lautet mein wenig originelles Credo, dass jeder nach seiner Fasson selig werden soll. Ich kultiviere meine Unsicherheit. Weder brauche ich andere, um mich stark oder wenigstens bestätigt fühlen zu können, noch, um meine Ängste im Zaume zu halten. Mein Individualismus, oder genauer mein zurückhaltender Existenzialismus, ist nicht verhandelbar. Niemand sollte sich durch mich in seinen eigenen Grundüberzeugungen tangiert füh6

  Die Frage nach der Legitimität solcher Erwartungen ist damit nicht gestellt. Zur Kategorie »Zuwanderer« im Kontext staatlicher Sozialkontrolle vgl. Frank Neubacher: Kriminologie, Baden-Baden 32017, 157–163.

262 Heiner Alwart

len müssen. Und umgekehrt lehne ich Übergriffe auf mein Selbstverständnis ab. Mit Friedrich Nietzsche bleibt freilich zu konzedieren, dass »mit Zweien«7 die Wahrheit erst beginnt. Ja, viele Rätsel werden wohl für immer ungelöst bleiben.

3. Erzählstrukturen und Wunschprojektion Aber meine religiöse Abstinenz war und ist wahrscheinlich trotzdem falsch. Wenn man glaubt, die schwierigen Grundfragen ausklammern zu können, dann muss man unweigerlich in eine Sackgasse geraten. Das Problem beginnt ja schon bei dem Wort, das heutzutage in aller Munde ist: »Religion«. Was heißt das denn überhaupt – »Religion« oder »eine Religion«? Ernst Tugendhat hat auf diese Frage eine für mein Dafürhalten maßgebliche Antwort gegeben. Tugendhat verbindet den Sinn von Religion mit dem Glauben an »übermenschliche personale Wesen, also Götter«8. Als Nachfahre Sigmund Freuds führt er weiter aus, dass dieser Götterglaube eine bloße Wunschprojektion sei und damit an der Barriere des intellektuellen Gewissens scheitern müsse: »[D]ie Macht, die die Menschen umgibt, wird zu diskreten Wesen verdichtet, von deren Wirken man sich vorstellen kann, daß das eigene Glück oder Unglück abhängt, und die als von uns beeinflußbar angesehen werden. […] [E]s ist naheliegend, sich diese machtvollen Wesen personalisiert vorzustellen, so daß man sich zu ihnen auf analoge Weise verhalten kann wie zu mächtigen Mitmenschen: bittend, dankend, ihre Macht anerkennend und sich ihnen gegenüber für verantwortlich ansehend«9.

Ganz ähnlich übrigens, und das mag durchaus etwas überraschen, klingen Sätze, die ich im Werk von Michael Wermke gelesen habe. Wermke setzt sich mit der Gewalt auseinander, wie sie im Kino erlebt werden kann. Er konfrontiert verschiedene filmische Strickmuster mit der »Hoffnung der großen Erlösungsreligionen«. Diese Hoffnung bestehe darin, »dass am Ende alles gut ausgehe und auf lange Sicht das Gute sich lohne und belohnt werde«. Es werde die Erwartung gehegt, »dass alle Geschehnisse irgendwo und irgendwie einen Regisseur haben, unter dessen Regie auch Alltägliches, Banales und Schreckliches innerhalb der großen Welt- und Menschheitsgeschichte seinen Platz habe – auch wenn wir das jetzt noch nicht sehen.« Wermke und seine 7

  Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Textausgabe Hamburg 2013, 168. Weiter heißt es dort: »Einer kann sich nicht beweisen: aber Zweie kann man bereits nicht widerlegen« (ebd.). 8   Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, 115. 9   A.a.O., 122.

Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts 263

Mitautorin Inge Kirsner fügen hinzu: »Diese Weltsicht setzt eine Linearität und somit Ordnung der Dinge innerhalb der großen Geschichte voraus.«10 Kirsner und Wermke scheuen sich nicht, sich in ihren Filmanalysen explizit auf »die Grundstruktur der christlichen Großerzählung«11 zu beziehen, obwohl jemand, der in einer Religion ernsthaft nach existenzieller Wahrheit sucht, sich kaum von einer bloßen »Erzählung«, und sei sie noch so großartig und phantasievoll, verführen lassen möchte. Die Vorstellung, dass sich alle Geschehnisse in schlichter Linearität sinnhaft aneinander reihen, tritt übrigens in fast jedem Kriminalfilm auf idealtypische Weise zutage. Der Ermittler findet einen roten Faden und entschlüsselt, wer an dem Mord beteiligt war und wie und warum alles, wie erzählt, passiert ist. Hier verschafft die Figur des Kommissars dem Publikum die Gewissheit, dass sich die Welt in der Perspektive eines sozusagen begnadeten Menschen von Grund auf durchschauen lässt und dass – ganz im Sinne der »christlichen Großerzählung« – am Ende alle Rätsel gelöst sind und für Gerechtigkeit gesorgt wird. Obwohl Friedrich Dürrenmatt bereits im Jahre 1958 nicht davor zurückschreckte, derartige, blasphemisch anmutende Analogien zwischen Erzählstrukturen und biblischer Offenbarung zu ziehen, sind besagte personale Konstruktionen in den letzten Jahrzehnten mehr denn je in die Konsumentengehirne eingebrannt worden. Eine gelungene Personifizierung ist der entscheidende Erfolgsfaktor. Mit Personen, Gesichtern lässt sich zudem alles optimal bebildern. Demgegenüber versuchte Dürrenmatt offensichtlich vergeblich, ein Requiem auf den Kriminalroman anzustimmen12 und die Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten zu hinterfragen. Vor allem das primitive Fernseh-Kriminalfilm-Programm und das ökonomische Gewicht der Einschaltquote zementieren die alten Muster. Das Fernsehen führt sein Publikum überall in eine beklagenswerte kulturelle Regression hinein. Das gilt nach meinem Dafürhalten auch für die politische Kultur. Diese Entwicklung erscheint inzwischen fast unumkehrbar. 10

  Inge Kirsner/Michael Wermke: Film als Gewalt und Gewalt im Film, in: Inge Kirsner/Michael Wermke (Hrsg.): Gewalt – Filmanalysen für den Religionsunterricht, Göttingen 2004, 31–42, 36. 11   Inge Kirsner/Michael Wermke: Zum Einstieg: Filme – Animation oder Analyse?, in: Inge Kirsner/Michael Wermke (Hrsg.): Gewalt – Filmanalysen für den Religionsunterricht, Göttingen 2004, 7–11, 10. 12   Vgl. Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman, in: Friedrich Dürrenmatt: Werkausgabe in dreißig Bänden. Band 22, Zürich 1986, 9–163. Vgl. näher dazu Heiner Alwart: Aufklärung durch Provokation – über Dürrenmatts »Requiem auf den Kriminalroman« und das Kino, in: Ingo Saenger/Walter Bayer/Elisabeth Koch/Torsten Körber (Hrsg.): Gründen und Stiften. Festschrift zum 70. Geburtstag des Jenaer Gründungsdekans und Stiftungsrechtlers Olaf Werner, Baden-Baden 2009, 687–700.

264 Heiner Alwart

4. Das Recht auf Kultur und    auf Protoreligiosität Gewiss fehlt Wermkes Filmanalysen die definitiv religionskritische Komponente, wie sie für Tugendhat typisch ist. Trotzdem wird man an dieser Stelle die vielleicht überspitzte Frage stellen dürfen, ob die Vorstellung eines personalen Gottes etwas für Kinder sei, während sie dem Erwachsenen eher den Weg dazu versperre, die Kraft des Göttlichen gegen alle Widerstände in sein Leben und in das der Gemeinschaft hineinzutragen. Über den epochalen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) wird berichtet, wie er in seiner Zeit als Volksschullehrer die Kinder beten ließ und dabei stets mit gefalteten erhobenen Händen und geschlossenen Augen sehr inbrünstig mitbetete.13 In die damalige Zeit führt auch ein besonderes Traumerlebnis mit Gott, das Wittgenstein in einer Tagebuchaufzeichnung festhielt.14 Einen typischen Religionsphilosophen wird man ihn deshalb noch nicht nennen können. Aber wie dem auch sei und wie auch immer sich Wittgensteins Denken und seine Einstellung zu Glaubensfragen zueinander verhalten mögen, die von mir angedeutete Skepsis gegenüber der Vorstellung eines personalen Gottes darf nicht dahin missverstanden werden, dass mit diesem Zweifel das Göttliche als solches – das Göttliche selbst – automatisch geleugnet werde. Das Gegenteil ist der Fall. Der entscheidende Gedanke dürfte aus meiner Sicht vielmehr darin bestehen, dass man »dem Göttlichen« nur durch erhebliche kulturelle Anstrengungen oder gar, mit Blick auf die krisenhaften Symptome der Gegenwart, nur durch echte kulturelle Erneuerungen näher kommen kann. Aber man braucht mit Wittgenstein die Hoffnung selbst dann nicht fahren zu lassen (und die folgende Spekulation scheint mir wichtig), wenn aus kultureller Diversität ein einziger großer »Aschenhaufen« geworden ist, denn »es werden Geister über der Asche schweben«!15 Ist das kein Trost? Dass Hochkultur und ein Bemühen um eine im weitesten Sinne religiös gesteigerte Realität eng miteinander zusammenhängen, sei an drei Beispielen illustriert: Im 18. Jahrhundert, das heißt in seinem berühmten Brief vom 10. Juli 1794, schrieb Friedrich Hölderlin an Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Ich bin gewis, daß Du indessen zuweilen meiner gedachtest, seit wir mit der

13

  Vgl. Konrad Wünsche: Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein, Frankfurt am Main 1985, 202. 14   Vgl. näher über Wittgensteins Verhältnis zu Gott und Religion die Kommentare von Ilse Somavilla in dem von ihr herausgegebenen Band: Ludwig Wittgenstein, Licht und Schatten, Innsbruck-Wien 2004. Wittgensteins oben im Haupttext erwähnte Tagebuchaufzeichnung findet sich dort auf 20f. 15   Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1977, 15f.

Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts 265

Loosung – Reich Gottes! von einander schieden. An dieser Loosung würden wir uns nach jeder Metamorphose, wie ich glaube, wiedererkennen.«16 Demgegenüber mag es etwas befremden, wenn Hans Henny Jahnn im 20. Jahrhundert meinte, sich nicht mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit, seiner Arbeit als Dramatiker und Orgelbauer usw. begnügen zu können, so dass er darüber hinaus die Glaubensgemeinde »Ugrino« gründete. Dafür plante er sogar die Errichtung neuartiger Sakralbauten. Aber das Unternehmen sollte schnell in Konkurs gehen.17 Der Maler Henri Matisse (1869–1954) hingegen hatte größeren Erfolg. Die von ihm gestaltete Rosenkranzkapelle in Vence, Frankreich, ist berühmt geworden. In einer seiner Schriften heißt es: »Ob ich an Gott glaube? Ja, wenn ich arbeite.«18 Diese Andeutungen illustrieren, dass religiöse Zweifel, wenn überhaupt, nur durch kulturelle Ingeniosität ein Stück weit überwunden werden können. Nach einer Jahrhunderte langen Geistesgeschichte, die darin bestand, dass faszinierende Gesprächspartner einander kommentierten und ablösten, und im Anschluss an die Aufklärung mit ihren grandiosen Mündigkeits- und Freiheitsversprechen würde ein kurzer, bekenntnishafter Sprung in eine bestimmte Religion hinein keinerlei intellektuelles Vorbild schaffen können. Es kommt vielmehr darauf an, grundsätzliche Infragestellungen anzunehmen, und vor allem darauf, es auszuhalten, dass letzte Gewissheiten für unser heutiges Bewusstsein wohl kaum einmal erreicht werden können. Diese Zeiten sind für uns ein für alle Mal vorbei. Eine Annäherung an das Göttliche kann nur über ein raum- und zeitgemäßes kulturelles Niveau generiert werden. Bei jeder Frau, die ich etwas näher kenne, würde es mich extrem wundern, wenn sie mir plötzlich in einer Burka gegenüberträte. Aber um beim Thema zu bleiben und den roten Faden nicht zu verlieren: Man darf trotz aller Skepsis nicht vergessen, dass es bei allen bedeutsamen kulturellen Leistungen stets um das Ganze der menschlichen Existenz einschließlich möglicher metaphysischer Dimensionen geht. Mit einem Wort Tugendhats möchte ich solche Annäherungsversuche an das Göttliche daher »Protoreligiosität«19 nennen. Wenn demgegenüber Politiker Bürgern in Deutschland empfehlen, soweit diese sich durch die ostentative, nicht-christliche Religiosität etwa von Zugewanderten vor den Kopf gestoßen fühlen, doch ihrerseits einfach wieder öfter in die Kirche zu gehen, fehlt es zumindest an dem für solche schwierigen Fragen notwendigen Ernst. Wie sehr muss man sich eigentlich an Korruption gewöhnt haben, wenn man noch im 16

  Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Band 2, München/Wien 1992, 540. 17   Vgl. Elsbeth Wolffheim: Hans Henny Jahnn, Reinbek bei Hamburg 1989, 52–81. 18   Henri Matisse: Über Kunst, Zürich 1982, 201. 19   Tugendhat: Egozentrizität, 119.

266 Heiner Alwart

21.  Jahrhundert glaubt, mit einer solch vordergründigen Empfehlung denkende Menschen beeinflussen zu können?20 Als Recht der Religion im Sinne des Grundgesetzes will ich also zuallererst mein Individualmenschenrecht auf Protoreligiosität verstanden wissen. Es kommt mir nicht auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis an, auch mit meinem »Glauben« ist es wohl nicht weit her, sondern mir kommt es darauf an, durch intensive Analysen und einige Vorschläge auf verschiedenen kulturellen Feldern zu einem fruchtbaren Zusammenleben hier und heute beizutragen und dabei mit mir selbst im Reinen zu bleiben. Authentizität kann für unsere Gegenwart nur dadurch hergestellt werden, dass eine subtile Sinn- und Wahrheitssuche selbstbewusst in ein besonderes »Überlieferungsgeschehen«21 eingebettet wird. Ich für meine Person vermag zunächst einmal nur an die geistige Substanz anzuknüpfen, die mich und meine Lebensführung seit Schulzeiten geprägt hat, und an die Sichtweise, die ich auf der Universität kritisch reflektiert an »meine« Schüler weitergegeben habe. Ein in dieser Weise geformtes »Einrücken« in Vorgefundenes wird man in unserer Weltgegend als exemplarisch bezeichnen dürfen. Politik und Regierung sollten es nicht zulassen bzw. das Menschenmögliche dagegen tun, dass andere mir ihre Gewissheiten einfach so um die Ohren schlagen – schlimmstenfalls durch Sprengsätze. Ich möchte in meinem grundsätzlichen Zweifel, in meiner intellektuellen Vorsicht, in meiner protoreligiösen Suche, in meinem spätmodernen Versuch, von Freiheit einen im Sinne Hegels »sittlichen« Gebrauch zu machen, geschützt und gefördert werden. Ich fände mich auf keinen Fall damit ab, wenn das, was mir vor dem Hintergrund meines Bildungsprozesses erstrebenswert erscheint und existenziell hilft, kurzerhand opportunistisch entsorgt würde. Der Staat muss großzügig und auch mutig in die Kultur investieren, wenn er Niedergang abwenden will. Mut bedeutet hier, Geld auszugeben, ohne sich inhaltlich einzumischen und die Produkte zu antizipieren. Das gilt insbesondere für die Universitäten. Erfolgsgarantien gibt es selbstverständlich nie. »Protoreligiosität« könnte man schlicht und einfach auch mit »Bildung« übersetzen, wenn man darunter nichts Totes oder Unnützes versteht. Mit Ronald Dworkin ließe sich hier sogar von einem »Recht auf ethische Unabhängigkeit«22 sprechen. Ich plädiere also im Kontext des Religionsthemas zwar für Bildung, aber nicht für ein abgelebtes, selbstgefälliges Bildungsbürgertum. Es kann nicht damit getan sein, alles aufzusammeln, was einmal 20

  Wohl noch harmloser wäre die Empfehlung, man möge doch vermehrt in politische Parteien eintreten und dort Zeit verbringen; vgl. in diesem Sinne aber Christoph Möllers: Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur 71 (2017), 5–16, 16. 21   Das ist bekanntlich ein Schlüsselbegriff bei Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. 22   Ronald Dworkin: Religion ohne Gott, Frankfurt am Main 2014, 95–131, 116.

Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts 267

an einen Strand gespült worden ist. Ich teile überdies die Binsenweisheit, dass sich das Menschsein weder auf ökonomische noch auf transzendentale Wahnvorstellungen reduzieren lässt. Heute wissen wir, auch wenn es manchmal vergessen wird, dass alles viel komplizierter und ausdifferenzierter ist. Zum Glück jedoch verfügt der Mensch über die Fähigkeit, ganz unterschiedliche Antennen auszubilden. Ob es der Bildungspolitik gelingt, das immer in Rechnung zu stellen, steht auf einem anderen Blatt. Ein Scheitern aber wäre gewiss ein Verbrechen – und man wird sagen dürfen: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

5. Religion des Rechts? Das Ei des Kolumbus für die Gestalt einer prinzipiell harmonischen multikulturellen Gemeinschaft ist noch nicht gefunden. Darin bestand auch nicht das Arbeitsprogramm des vorliegenden Textes. In der Praxis liegt hier eine große Aufgabe für Pädagogen wie Michael Wermke. In der Theorie wird derzeit vielfach ausgewichen auf das Grundgesetz von 1949: »Verfassungspatriotismus« lautet bekanntlich die gängige Zauberformel.23 Offenbar soll die Rechtsordnung, namentlich das Grundgesetz, zum Heiligenschein für alle, zu einer Art Religion hochgestuft werden. Da braucht es niemanden wunderzunehmen, dass dem für die Auslegung des Grundgesetzes primär zuständigen Bundesverfassungsgericht aus allen Richtungen die Rolle des unfehlbaren Papstes und nicht die einer vernunftbegabten Institution zugeschrieben wird. Und im Allgemeinen scheinen sich die Richter des Bundesverfassungsgerichts wider alle Vernunft gerne an diesem absurden Spiel zu beteiligen. Eine »Religion des Rechts« zu etablieren versuchen, heißt aber vor allem, unvermittelt einzugestehen, wie leer und kraftlos »wir« in »unserem« überlieferten kulturellen Bestand inzwischen geworden sind. Das gilt übrigens auch für die wichtige Rechtskultur.24 Denn als ein Allgemeines ist das Göttliche bestenfalls eine Frucht kultureller Arbeit und nicht ein Ableger politischer Glaubensbekenntnisse oder juristisch-technischer Rahmenbedingungen. Aus einer Verfassung lässt sich nun einmal keine »Religion« 23

  Vgl. etwas näher dazu Heiner Alwart: Radbruchsche Formel. Rückwirkungsverbot und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, in: Walter Pauly (Hrsg.): Wendepunkte – Beiträge zur Rechtsentwicklung der letzten 100 Jahre, Stuttgart/München/ Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2009, 217–227, 226f. 24   Zur Krise der (Gerichts-)Öffentlichkeit vgl. zum Beispiel die öffentliche Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 29. März 2017. Im Wortprotokoll findet sich ein von mir mündlich vorgetragenes Statement, das mit folgendem unbelegten Zitat beginnt: »Früher wollten die Leute in den Himmel, heute wollen sie ins Fernsehen« (online: www.bundestag.de/ausschuesse18/a06/anhoerungen/emoegg/494270, 10. September 2017).

268 Heiner Alwart

stampfen.25 Das wird nur derjenige anders sehen, der sich mit schmerzlichen Verlusten schon abgefunden hat. Geradezu einfältig bis lächerlich mutet es an, wenn Politiker erklären, sie würden sich auf die Veränderungen in Deutschland freuen, die durch den jüngsten Zustrom von Flüchtlingen ausgelöst werden. Das mutet deshalb so merkwürdig an, weil diese Politiker nicht zugleich erklären, worauf sie sich freuen, das heißt, wie das »neue Deutschland« aussehen wird oder welche Vision sie von einer multikulturellen Gesellschaft haben. Sie reden ohne Inhalt, schüren dadurch allgemeines Misstrauen und beschädigen in der Folge die Demokratie. Sie wedeln mit dem Grundgesetz in der Hand, um von der Größe der eigentlichen Aufgabe abzulenken. Eine solche Engführung des Problems erscheint völlig unglaubwürdig. Aus dem Werk Ernst-Wolfgang Böckenfördes wird gerne und oft der Satz zitiert, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne.26 Bezieht man diesen Satz auf die Situation der Zeit, dann erinnert er daran, dass Staat und Grundgesetz zwar nicht die Lösung für Diversität und soziale Anbindung sind, aber dass sie die Möglichkeit für ein gedeihliches Zusammenleben ganz unterschiedlich geprägter Menschengruppen bieten. Das ist schon sehr viel. Gewiss hat das Grundgesetz naturrechtliche Forderungen kodifiziert, wie sie etwa im Zeitalter der Aufklärung entwickelt worden sind, und es hat versucht, ein Gegenbild zum Nationalsozialismus zu zeichnen und Rechtsstaatlichkeit zu verankern. Aber das beantwortet keineswegs alle Fragen, die sich heute stellen. Gemeinschaft einerseits und Toleranz ohne Gleichgültigkeit andererseits müssen die Bürger aus sich heraus entwickeln. Sie können die Regeln dafür nicht aus dem Grundgesetz ableiten. Vielmehr sind sie in viele konkrete Bildungsprozesse eingebunden, zu denen selbstverständlich auch, jedoch nicht allein und nicht einmal in erster Linie die Bekanntschaft mit Rechtsordnungen gehört. Kultur und Multikultur konstituieren sich nun einmal nicht als Ergebnisse von Rechtsanwendungen. Das wäre viel zu simpel gedacht. Vor allem muss berücksichtigt werden, dass das Recht, das heißt die Philosophie des Rechts, noch gleichsam über dem Grundgesetz steht. Oder anders ausgedrückt: Erst der Rechtsbegriff vermag eine Perspektive zu definieren, in der auch die Einzelregelungen einer Verfassung einen Platz finden und im richtigen Licht gesehen werden können. Derzeit müsste es beispielsweise um eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses von Recht und Menschenrechten gehen. Aber von solchen Problemstellungen sind wir meilenweit 25   Auch Dworkin: Religion, 14, warnt davor, einer bloß metaphorischen Verwendungsweise des Wortes »Religion« zum Opfer zu fallen. 26   Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, 112.

Über das Recht der Religion und die Religion des Rechts 269

entfernt. Die rechtsphilosophischen Defizite sind nicht nur schlecht für die Theoriebildung als solche. Sie beeinträchtigen darüber hinaus den öffentlichen Diskurs und die Eindeutigkeit und Stabilität des Rechtssystems. Daher fällt zumindest ein Teil der Vorwürfe, die, wie auch im vorliegenden Text, der Politik gegenüber erhoben werden, auf die Rechtswissenschaft selbst zurück.

6. Ausblick: Recht als ein übergeordnetes Spiel Die Klärung des Rechtsbegriffs kann nur auf einem überaus weiten Feld stattfinden. Wollte man an dieser Stelle mehr als Bruchstückhaftes bieten, so müsste das unweigerlich den Rahmen sprengen. Um einer multikulturellen oder multireligiösen Gesellschaft von der Seite des Rechts und der zuständigen Funktionsträger aus gerecht werden zu können, müsste man eine – zunächst notwendig sehr vage und abstrakte – Vorstellung von einem gemeinsamen Spiel entwickeln. In einer Metapher ausgedrückt: Das Zusammenleben dürfte kaum funktionieren, wenn jede Gruppe – wenn auch jeweils mit viel Spaß – immer nur versucht, ihr eigenes Spiel zu spielen und bei den anderen Gruppen immer nur auf die Spielfelder läuft, um dort alles zu zerstören. Was also zuallererst dringend benötigt wird, ist eine verbindende Spielidee. Sie würde den Boden bereiten, auf dem unterschiedliche Lebensformen nach und nach zu hinreichend familienähnlichen Kulturen mutieren. Ob das noch die Spätmoderne wäre oder ein Projekt für die Postmoderne, bedürfte einer genaueren Klärung. Sogar ein gelungener utopischer Entwurf könnte helfen. Stattdessen soll heute jeder den Text des Grundgesetzes in der Hand halten. Glaubt man denn wirklich, alle auf den sog. Verfassungspatriotismus verpflichten zu dürfen? Jemand kann doch aus ganz anderen Quellen und mehr oder weniger kurzfristigen Überlieferungen leben, ohne deshalb ein Feind der Rechtsordnung und des gesellschaftlichen Fortschritts sein zu müssen. Das gilt sicherlich sogar für die meisten. Jede Art von kollektivem Fundamentalismus ist also fehl am Platze – auch ein Verfassungsfundamentalismus. Wer damit anfängt, sein Bekenntnis (gleichgültig welches) für alle als verbindlich zu erklären, hat schon damit begonnen, Kriege zu führen. Abschließend sei noch einmal klargestellt, dass das Grundgesetz selbstverständlich keine Bibel ist. Aus einer Verfassung, also aus einem durch und durch profanen Dokument, eine zeitlose Offenbarung machen zu wollen, zeugt nicht zuletzt von geringem intellektuellen Standard. Können wir uns Integration in dem Sinne vorstellen, dass wir alle, gleichgültig welcher Religion oder Weltanschauung wir angehören oder ob wir als traditionsbewusste Mitteleuropäer erst einmal darauf angewiesen sind, Protoreligiosität zu pflegen, wirklich dasselbe Menschheitsspiel spielen? Also gleichsam am

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selben Kleid zu stricken? Genau das scheint mir die entscheidende Frage zu sein. Bei einem solchen Spiel gewinnt jeder, dem es gelingt, ein sinnvolles Leben auf eigene Rechnung zu führen, also ohne sich zum Tyrannen über andere aufzuschwingen, sondern der allen dieselben Rechte zuschreibt. Die Sehnsucht nach »Reinentsprungenem« (Friedrich Hölderlin) verdient durch alle Lebensalter hindurch und quer durch alle Kulturen Anerkennung und Unterstützung. Das Recht darf dem nicht im Wege stehen, sondern sollte dabei mithelfen, eine für das gemeinsame Spiel geeignete Gestalt zu finden, eine Gestalt, die am Ende sogar mehr sein muss als ein Spiel oder eine bloße »Großerzählung«.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit des religiösen Wandels Zur Verschränkung gesellschaftsund geschichtswissenschaftlicher Zugänge in der Religionspädagogik David Käbisch/Henrik Simojoki

Wenn Religion sich verändert, kann religiöse Bildung nicht bleiben, wie sie ist. Daher ist es für die Religionspädagogik mittlerweile selbstverständlich, handlungsorientierende Impulse in religiöse Situationsanalysen einzubetten. In diesem Aufsatz stehen zwei Deutungsvarianten des religiösen Wandels im Fokus, die in der religionspädagogischen Debatte eine wachsende Rolle spielen, aber noch nicht in ihrem wechselseitigen Zusammenhang bedacht worden sind: zum einen das Konzept der Säkularisierung, an der sich die religionspädagogische Lagediagnostik im ostdeutschen Kontext mehrheitlich ausrichtet, zum anderen die wachsende Globalisierung von Religion in der Gegenwart, die im Zuge der jüngsten Migrationsbewegungen in Deutschland und Europa in neuer Intensität ins öffentliche Bewusstsein gelangt ist. Bislang stützen sich religionspädagogische Kontext- und Situationsanalysen vorwiegend auf soziologische Theorien und empirische Befunde, während historische Zugänge kaum zur Geltung kommen. Der vorliegende Beitrag spricht sich dafür aus, soziologische und historische Analyseperspektiven stärker zu verschränken. Der erste Teil des Aufsatzes hat einen religionssoziologischen Fokus und soll für die Schwierigkeiten sensibilisieren, die sich unweigerlich einstellen, wenn für eine Sicht auf den religiösen Wandel – ob nun Globalisierung oder Säkularisierung – ein universaler Erklärungsanspruch erhoben wird. Die Notwendigkeit, beide Deutungsmodelle stärker historisch zu kontextualisieren, wird anschließend unter Rückgriff auf David Martins Modell der historischen Pfadabhängigkeit des religiösen Wandels konzeptualisiert und am Beispiel Ostdeutschlands veranschaulicht. Der zweite Teil nimmt wiederum einen geschichtswissenschaftlichen Blickwinkel ein. Ausgehend von modernisierungstheoretischen Ansätzen

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in der historischen Religionspädagogik sollen mit Ansätzen der Globalgeschichte und transnationalen Geschichte Forschungsperspektiven aufgezeigt werden, die das soziologische Interesse an Makrostrukturen (zum Beispiel an übergeordneten Organisationen und Religionskulturen) um historische Fallstudien auf der Mikroebene (zum Beispiel zu Individuen und deren interpersoneller Interaktion) ergänzen. Im Mittelpunkt stehen hier die Beziehungen, Akteure, Netzwerke und Medien, die einen grenzüberschreitenden Transfer religiöser Ideen und Praktiken ermöglicht haben.

1. Säkularisierung oder/und Globalisierung?   Akzentverlagerungen im neueren   religionssoziologischen Diskurs 1.1   Säkularisierung versus Globalisierung     – oder: Das Comeback nach der Obduktion In der wissenschaftlichen Debatte um den neuzeitlichen Gestaltwandel von Religion ist es Gang und Gäbe, das religiöse Feld entlang polar strukturierter Prozessbegriffe zu ordnen. Allerdings ist die hier gewählte Paarung noch immer eher ungewöhnlich. Üblicherweise wird das klassische Leittheorem der Säkularisierung in der religionssoziologischen1 und auch religionspädagogischen Debatte2 mit den zusammengehörigen Deutungsmodellen der religiösen Individualisierung und Pluralisierung kontrastiert. Dagegen hat es der zeitdiagnostische Schlüsselterminus der Globalisierung ungeachtet seines begriffsgeschichtlichen Welterfolges bislang nicht in den Rang eines mit der Säkularisierungstheorie vergleichbaren Analysekonzepts für den religiösen Wandel gebracht.3 Blickt man auf die Geburtsstunde der soziologischen Globalisierungsdebatte, hätte das durchaus auch anders sein können. Weil Globalisierung ja als ökonomischer Verheißungs- und Kampfbegriff zu Berühmtheit gelangte, wird oft vergessen, dass die sozialwissenschaftliche Erstingebrauchnahme

1

  Vgl. beispielsweise Karl Gabriel (Hrsg.): Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, Gütersloh 1999. 2   Vgl. u.a. das mit »Von der Säkularisierung zur Pluralisierung? Zur Notwendigkeit einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik« überschriebene Eröffnungskapitel in Friedrich Schweitzer/Rudolf Englert/Ulrich Schwab/Hans-Georg Ziebertz (Hrsg.): Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Freiburg im Breisgau/Gütersloh 2001, 15–85. 3   Vgl. Gert Pickel: Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, 135–225.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 273

dieses Begriffs in einem religionssoziologischen Kontext erfolgte.4 In ihrem 1985 erschienenen Aufsatz »Humanity, Globalization, and Worldwide Religious Resurgence« machten Roland Robertson und JoAnn Chirico auf Entwicklungen und Eruptionen in der damaligen Religionslandschaft aufmerksam, die überraschend aktuell anmuten.5 Mit dem globalen Einflusszuwachs fundamentalistischer Strömungen, mit weltweit sich verschärfenden Spannungen zwischen Staat und Kirche und mit dem Aufkommen transnationaler religiöser Bewegungen wie besonders der Befreiungstheologie sahen sie sich mit neuartigen sozioreligiösen Phänomenen konfrontiert, die sich in gleich zweierlei Hinsicht den eingespielten Deutungsroutinen der Religionssoziologie entzogen: Zum einen ließen sie sich mit einer nationalstaatlich orientierten Analyseperspektive nur unzulänglich erfassen, zum anderen standen sie in einer offenkundigen Spannung zur damals noch weitgehend unhinterfragten Säkularisierungsthese. Die eigentliche Pointe des Aufsatzes war jedoch grundsätzlicherer Art: Robertson und Chirico stellten die auffällige Häufung religiöser Aufbrüche und Konflikte in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem unaufhörlich dichter werdenden Geflecht von Interdependenzen, das sie als »Globalisierung« bezeichneten. Angesichts der ständigen Horizonterweiterungen und wechselseitigen »Relativierungen« im globalen Feld werde die Beschäftigung mit »telischen« Grenz-, Ziel- und Sinnfragen für Individuen und Gesellschaften zunehmend unausweichlich.6 Als sich Robertson, nun einer der Wortführer des sozialwissenschaftlichen Globalisierungsdiskurses, 22 Jahre später der Säkularisierungsthematik noch einmal annahm, geschah dies bereits in der Form einer abschließenden »Obduktion«, bei der es nur noch um die Feststellung der Todesursachen ging.7 Die polemische Metaphorik war sorgsam gewählt: Nachdem in Säkularisierungstheorien älterer und jüngerer Provenienz wahlweise Gott oder die Religion für tot erklärt worden waren,8 war nun das Säkularisierungsparadigma selbst auf dem Autopsie-Tisch gelandet. 4

  Vgl. Hartmann Tyrell: Singular oder Plural – Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschaft, in: Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell (Hrsg.): Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen, Stuttgart 2005, 1–50, 19. 5   Vgl. Roland Robertson/JoAnn Chirico: Humanity, Globalization, and Worldwide Religious Resurgence: A theoretical Exploration, in: Sociological Analysis 46 (1985), 219–242. 6   Vgl. a.a.O., 233f. 7   Vgl. Roland Robertson: Global Millennialism: A Postmortem on Secularization, in: Peter Beyer/Lori Beaman (Hrsg.): Religion, Globalization and Culture, Leiden/Boston 2007, 9–34. 8   Vgl. besonders Steve Bruce: God is Dead: Secularization in the West, Oxford 2002.

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Das Selbstbewusstsein, mit der Robertson die Säkularisierungsthese soziologisch ad acta legen wollte, speiste sich aus vier Verschiebungen in der religionssoziologischen Großwetterlage, die seiner bereits früh artikulierten These einer leittheoretischen Wende »from secularization to globalization«9 zu neuer Plausibilität verhalfen: • Infolge gesteigerter Mobilität, beschleunigter Migrationsbewegungen und der medialen Dauerpräsenz des Religiösen nach »9/11« hatte das Bewusstsein für die fortdauernde Vitalität von Religion in der Weltgesellschaft in der öffentlichen Wahrnehmung merklich zugenommen. • Je mehr auch die Religionssoziologie ihre lange Zeit selbstverständliche Fixierung auf westliche Kulturkreise zugunsten globaler Perspektiven aufbrach, desto deutlicher trat der implizite Eurozentrismus der Säkularisierungsthese zutage. Für viele galt die rückläufige Bindungskraft organisierter Religionen in Westeuropa nicht mehr als Regelfall, sondern als Ausnahmeerscheinung der globalen Religionsentwicklung.10 • Damit rückte das exponentielle Wachstum nicht nur des Islam, sondern auch des Christentums im globalen Süden verstärkt ins Blickfeld der wissenschaftlichen Religionsforschung – besonders nachwirkend durch den englischen Historiker Philip Jenkins, der diese geographischen und religionskulturellen Schwerpunktverlagerungen zum Anlass nahm, das »neue Zeitalter des ›südlichen Christentums‹«11 auszurufen. • Schließlich führte der Aufschwung des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus in aller Härte vor Augen, dass die Grundthese eines unaufhaltsamen Bedeutungsverlusts der Religionen im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung kaum mit den politischen Realitäten des 21. Jahrhunderts übereinzubringen war – und das umso weniger, als neuere Studien die ambivalente Modernität fundamentalistischer Bewegungen überzeugend herausgearbeitet hatten.12

Freilich erwies sich Robertsons Totsagung der Säkularisierung im Namen der Globalisierung als ebenso verfrüht wie es die vielen Abgesänge auf die Religion im Namen der Säkularisierung gewesen waren. Das hat auch mit einer eminenten Begründungsschwäche seines Aufsatzes zu tun: Zwar gelingt es Robertson durchaus, den Zusammenhang von beschleunigter Globalisierung, gesteigerter Fraglichkeit und religiöser Vitalisierung soziologisch einsichtig zu machen. Jedoch bleibt seine Auseinandersetzung mit Theorien, 9

  Roland Robertson: Religion and the Global Field, in: Social Compass 41 (1994), 121–135, 127–131. 10   Vgl. Grace Davie: Europe: The Exceptional Case. Parameters of Faith in the Modern World, London 2003. 11   Philip Jenkins: Die Zukunft des Christentums. Eine Analyse zur weltweiten Entwicklung im 21. Jahrhundert, Basel 2006, 14. 12   Vgl. besonders Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, München 2000.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 275

noch mehr aber mit Phänomenen und Kontexten rückläufiger Religiosität viel zu unspezifisch.13

1.2 Europäische Säkularisierungstheorien und    außereuropäische Religionsentwicklung Aus den bisher dargelegten Gründen gewinnen jüngere Versuche einer Reformulierung des Säkularisierungstheorems für unsere Fragestellung an Bedeutung, die sich ebenfalls in einem globalen Referenzrahmen bewegen, allerdings ohne ihre Grundannahme eines langfristigen Verschwindens von Religion dadurch grundsätzlich entkräftet zu sehen. Besonders zu nennen ist hier der schottische Soziologe Steve Bruce, der in seiner 2011 veröffentlichten Verteidigungsschrift »Secularization: In Defence of an Unfashionable Theory«, die »aus der Mode geratene« Säkularisierungstheorie vor populären Verkürzungen in den Schutz nimmt, dies dann am Beispiel des für den Ansatz paradigmatischen Kontexts von Europa schrittweise plausibilisiert, um schließlich – worauf es hier vor allem ankommt – in den drei letzten Kapiteln auf die außereuropäische Religionsentwicklung einzugehen.14 Zwei Klarstellungen sind für ihn wichtig: Erstens zielen Theorien der Säkularisierung nicht darauf, die gegenwärtige Beschaffenheit der globalen Religionslandschaft kleinteilig zu kartographieren. Vielmehr geht es ihnen um den langfristigen Prozess eines sukzessiven Bedeutungsverlustes von Religion, weshalb religiöse Vitalität in bestimmten Weltregionen nicht per se dieser Annahme widersprechen muss, sondern auch auf eine Phasendifferenz zu stärker säkularisierten Regionen zurückgehen könnte. Gleichzeitig räumt er ein, dass die Erhärtung der Säkularisierungsthese an außereuropäischen Beispielen komplex ist, weil es sich hier mehr um antizipierte als um wirklich empirisch verifizierte Entwicklungen handle: »the arguments are more about the future than the past«15. Unter den Prämissen dieser Selbstbeschränkung relativiert er sämtliche o.g. Perspektivenverschiebungen: • Bruce macht darauf aufmerksam, dass die Beobachtung einer gestiegenen Öffentlichkeitsbedeutung der Religion lediglich im Blick auf die konfliktbestimmte Medienberichterstattung zutreffe. Dagegen sei beispielsweise das (lokale) Christentum in den meisten industrialisierten Gesellschaften kaum mehr massen-

13

 Vgl. dazu ausführlich Henrik Simojoki: Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft, Tübingen 2012, 25–63. 14  Vgl. Steve Bruce: Secularization. In Defence of an Unfashionable Theory, Oxford 2011. 15  A.a.O., 177.

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medial präsent,16 was der Entfremdung insbesondere der jüngeren Generation künftig weiter Vorschub leisten dürfte. • Auch die These von der Säkularisierung als einem europäischen Sonderweg lässt Bruce so nicht gelten. Am ausführlichsten setzt er sich mit den Vereinigten Staaten auseinander, die in der Religionsforschung oft als das Gegenbeispiel zur Säkularisierungsthese ins Feld geführt, von ihm aber unter der Überschrift »Unexceptional America« verhandelt werden.17 Zwar lägen Kirchenzugehörigkeit und Religiositätswerte in den USA ungleich höher als in anderen westlichen Industriegesellschaften. Gleichzeitig seien auch hier insbesondere auf doktrinaler Ebene Tendenzen zur Abschwächung religiöser Identifikationen zu beobachten.18 • Auch die christlichen Aufbrüche in Lateinamerika und Afrika liegen für Bruce keineswegs derart konträr zur Säkularisierungsthese, wie es oft den Anschein hat. So deutet er den Aufschwung der Pfingstbewegung in Lateinamerika als einen mit der Reformation vergleichbaren Individualisierungsschub, der das geschichtlich verankerte Ineinander von Kultur und Katholizismus aufgebrochen habe und in langer Sicht ähnliche Säkularisierungsprozesse einleiten könnte, wie sie für den individualistisch strukturierten europäischen Protestantismus charakteristisch sind.19 Die religiöse Vitalität afrikanischer Gesellschaften führt er, wahrlich nicht unproblematisch, weitgehend monokausal auf deren Modernisierungsdefizite zurück.20 • Schließlich wird auch das Aufkommen des islamischen Fundamentalismus von Bruce nicht so sehr als Anzeichen religiöser Intensivierung, sondern als Widerspiegelung von modernisierungsbedingter Frustrationen, partikularer politischer Konstellation und wenig funktional differenzierter bzw. intoleranzaffiner Gesellschaftsstrukturen gedeutet.21

Freilich hat auch diese Verteidigung der Säkularisierungsthese ihre Begründungslücken. Diese treten umso deutlicher zutage, je weiter sich die Analysen von dem von Bruce primär bearbeiteten Untersuchungskontext Großbritanniens wegbewegen. Wie Robertson, der bei seiner Relationierung von 16

 Vgl. a.a.O., 98.  Vgl. a.a.O., 157–176. 18  Bruce selbst bleibt bei der empirischen Konkretisierung dieser Abschwächung eher vage. Jedoch tritt sie in Christian Smiths Studien zur Religiosität amerikanischer Jugendlicher und junger Erwachsener differenziert zutage. Vgl. Christian Smith/Melinda Lundquist Denton: Soul Searching: The Religious and Spiritual Lives of American Teenagers, Oxford/New York 2005; Christian Smith/Patricia Snell: Souls in Transition: The Religious and Spiritual Lives of Emerging Adults, Oxford/New York 2009. 19  Vgl. Bruce: Secularization, 186f. 20  So schließt der entsprechende Absatz mit der summarischen Feststellung ab: »Education is rare, science hardly a feature of the culture, and there is little or no technological production« (a.a.O., 189). 21  Vgl. a.a.O., 190–193. 17

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 277

Globalisierung und Religion fast ohne Bezüge auf partikulare Kontexte oder distinkte Regionen auskommt, bedient sich auch Bruce im Fall des globalen Südens einer wenig nuancierten Makroperspektive, die ihm erlaubt, in teilweise nur wenigen Seiten ganze Kontinente umfassende Lagebeurteilungen und Entwicklungspostulate vorzunehmen.

1.3 »The World’s Most Secular Society«    – oder: Zur historischen Spezifizität   der Säkularisierung in Ostdeutschland Es ist genau diese Großformatigkeit, von der sich der britische Religionssoziologe David Martin absetzt, wenn er sich für eine stärkere historische Kontextualisierung des globalen religiösen Wandels ausspricht. Wie Bruce hat sich auch Martin über Jahrzehnte hinweg mit der Säkularisierungsfrage auseinandergesetzt,22 kommt dabei aber zu dem Ergebnis, dass sich die Annahme eines universalen Säkularisierungsprozesses angesichts der religiösen Aufbrüche besonders in der südlichen Hemisphäre23 unmöglich aufrechterhalten lasse.24 Das bedeutet für ihn nun aber längst nicht, dass die globale Wirksamkeit von Säkularisierungsdynamiken damit negiert wäre. Wie die klassische Säkularisierungsthese setze sich auch die Gegenposition einer weltweiten De-Säkularisierung über die Kontextualität des religiösen Wandels hinweg. In seinen oft komparativ angelegten Regional-, Länder- und Kontinentalstudien fördert Martin eine Vielfalt unterschiedlicher Entwicklungspfade zutage, die insbesondere einen fortwährend starken Einfluss nationalgeschichtlicher Faktoren belegen und sich nicht einmal für Europa zu einer generellen Tendenz verdichten lassen. Das Wechselspiel von Säkularisierung und religiöser Vitalisierung nimmt also je nach Land, Region und kulturellem Umfeld stets eigengeprägte Formen und Muster an. Das gilt nach Martin in besonderer Weise für den Kontext, der im Zentrum der religionspädagogischen Arbeit Michael Wermkes steht: Wenn Martin in seiner einschlägigen Fallstudie Ostdeutschland als »The World’s Most Secular Society« bezeichnet,25 tut er das nicht, um die paradigmatische Bedeutung dieses Kontextes religionshermeneutisch herauszustreichen. Viel22

 Vgl. bereits David Martin: A General Theory of Secularization, Oxford 1978.  Besonders intensiv hat sich Martin mit der globalen Pfingstbewegung befasst. Vgl. David Martin: Tongues of Fire. The Explosion of Pentecostalism in Latin America, Oxford 1990; David Martin: Pentecostalism: The World Their Parish, London 2001. 24  Vgl. David Martin: On Secularization. Towards a Revised General Theory, Aldershot 2005. 25  Vgl. David Martin: East Germany: The World’s Most Secular Society, in: David Martin: The Future of Christianity. Reflections on Violence and Democracy, Religion and Secularization, Farnham 2011, 149–164. 23

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mehr geht es ihm darum, die Spezifizität der ostdeutschen Entwicklung erklärlich zu machen, gerade auch im Vergleich zu den benachbarten Regionen (Westdeutschland, Dänemark, Polen und Tschechien). Dabei macht er darauf aufmerksam, dass es in den heute ostdeutschen Regionen bereits vor dem Ersten Weltkrieg distinktive Säkularisierungsdynamiken gegeben hat und die im globalen Vergleich singuläre Säkularität dieser Religion folglich nicht allein auf die Religionspolitik der DDR-Ära zurückgeführt werden darf.26 Er verweist auf den im Vergleich zu Westdeutschland geringeren Gottesdienstbesuch und höheren religiösen Individualisierungsgrad sowie auf die besondere Zugkraft positivistischer Strömungen, freidenkerischer Bewegungen und auch sozialistischer Parteien im Gebiet des heutigen Ostdeutschlands während der wilhelminischen Ära. Dass die religionskritische Politik des SED-Staates so durchschlagenden Erfolg hatte – im Unterschied etwa zu den antireligiösen Kampagnen in anderen osteuropäischen Staaten und Regionen –, liege nicht zuletzt an diesen szientistischen Dispositionen begründet, die unter den ideologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus noch einmal verstärkt worden seien.27 Damit wird deutlich, dass ein religionspädagogisch anschlussfähiges Verständnis ostdeutscher Säkularität auf eine doppelte Kontextualisierung angewiesen ist: Zum einen bedarf es einer historischen Kontexterhellung, welche die spezifischen Bedingungen, Prägefaktoren und Konstellationen dieser Säkularisierungsspur einsichtig macht, zum anderen muss der Blick auf andere Entwicklungspfade im europäischen oder globalen Kontext ausgeweitet werden, um die ostdeutschen Entwicklungen in ihrer Spezifität zu erfassen. Beides aber ist mit soziologischen Mitteln alleine nicht zu leisten, sondern verweist im Sinne unserer Ausgangsthese auf die Notwendigkeit einer stärkeren Verschränkung gesellschafts- und geschichtswissenschaftlicher Zugänge bei der Analyse und handlungsorientierten Auswertung religiöser Transformationenprozesse.

26

 Vgl. a.a.O., 151f.  Vgl. a.a.O., 163f.

27

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2. Soziologische Modernisierungstheorien    und Historiographie 2.1 Die »Herausforderungen der Moderne«   – ein alternativloser Analysehorizont   der Religionspädagogik? Auf ihrer Suche nach anschlussfähigen Rahmentheorien hat sich die Religionspädagogik in den vergangenen 25 Jahren unterschiedlich akzentuierter Modernisierungstheorien bedient, um die »Herausforderungen der Moderne« für die Institutionen, Inhalte, Ziele und Methoden religiöser Bildung möglichst präzise beschreiben und praktikable Antworten auf diese Herausforderungen entwickeln zu können. Als richtungweisend haben sich in diesem Zusammenhang die historischen und komparativen Arbeiten von Friedrich Schweitzer erwiesen. In Abgrenzung zu simplifizierenden Darstellungen der Fachgeschichte, die eine Abfolge religionspädagogischer »Konzeptionen« in Abhängigkeit zu systematisch-theologischen Positionen konstruieren (kirchliche Katechetik, liberale Religionspädagogik, evangelische Unterweisung etc.), hat Schweitzer bereits 1992 dafür plädiert, die gemeinsame Geschichte der Katechetik und Religionspädagogik in eine modernisierungstheoretische Perspektive zu rücken. Die Katechetik und Religionspädagogik werden auf diese Weise »eingebunden in den der Theologie als ganzer abverlangten Versuch, auf die Herausforderungen von Moderne und Aufklärung zu reagieren.«28 Dieser Ansatz konnte inzwischen in einer Reihe an Fallstudien erprobt werden. So hat es sich als problematisch erwiesen, anhand modernisierungstheoretischer Kriterien einen kategorialen Unterschied zwischen der Katechetik und der Religionspädagogik in Jena ausmachen zu wollen. Modernisierungstheorien verführten in älteren Darstellungen der Fachgeschichte nicht selten zu der Mutmaßung, dass sich »die« Katechetik und »die« evangelische Unterweisung den Herausforderungen der Moderne verschlossen, »die« Religionspädagogik hingegen geöffnet habe.29 Solche Darstellungen lassen sich dabei von der Semantik der religionspädagogischen Reformer – Wilhelm Rein (1847–1929), Otto Baumgarten (1858–1934), Friedrich Niebergall (1866–1932) etc. – leiten, welche die Selbstbezeichnung als »modern« gewählt haben, um sich von der älteren Katechetik abgrenzen zu können. 28

 Friedrich Schweitzer: Religionspädagogik als Projekt von Theologie nach der Aufklärung – Eine Skizze, in: Pastoraltheologische Informationen 12 (1992), 211– 222, 221. 29  Vgl. David Käbisch/Johannes Wischmeyer: Die Praxis akademischer Religionslehrerbildung. Katechetik und Pädagogik an der Universität Jena 1817 bis 1918, mit einem Forschungsausblick von Michael Wermke, Tübingen 2008, 220f.

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Diese oft auch standespolitisch motivierte Reformrhetorik verdeckt zahlreiche Kontinuitäten zwischen der Katechetik und Religionspädagogik, nicht nur in Jena. Während Schweitzer in diesem Zusammenhang u.a. auf die Ideengeschichte der »Religion des Kindes« seit der Aufklärung verweist, hat dieser Ansatz bei Michael Wermke eine professionstheoretische Zuspitzung erhalten: »So wie die Religionspädagogik ideengeschichtlich als Reaktion auf Aufklärung und Moderne zu verstehen ist, stellt sie auch professionstheoretisch einen Reflex auf den Modernisierungsschub des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts dar.«30 Soziologische Modernisierungstheorien gehören heute zum Lehrbuchwissen der Religionspädagogik, wie sich bereits an dem 1998 erschienenen Standardwerk von Christian Grethlein aufzeigen lässt. Ausgehend von den politischen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, dem rasanten Bevölkerungswachstum, der Industrialisierung, der konfessionellen Ausdifferenzierung und Verwissenschaftlichung des Erziehungswesens beschreibt er die Religionspädagogik als eine »Krisenwissenschaft«, die als Reaktion auf ebendiese Herausforderungen zu verstehen sei.31 Auch Richard R. Osmer und Friedrich Schweitzer geben ihrer 2003 erschienenen Untersuchung zu den religionspädagogischen Reformbewegungen in den USA und Deutschland einen modernisierungstheoretischen Rahmen.32 Im Anschluss an Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Ulrich Beck konstruieren sie dafür eine »consensus theory of modernization«. Diese umfasst u.a. die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme in den USA und in Deutschland, die vergleichbare Pluralisierung von Religion, die Individualisierung von Lebensläufen, die Relativierung traditioneller religiöser Lebensformen, die Unterscheidung einer privaten von der öffentlichen Sphäre, die Entstehung einer Zivilgesellschaft mit Vereinen und Zeitungen sowie die alle Lebensbereiche durchdringende Reflexivität.33 Der Darstellung liegt dabei eine dreigliedrige Struktur zugrunde: In einem ersten Schritt werden die 30

 Michael Wermke: Die akademische Pfarrer- und Lehrerbildung in Jena und die Aufgaben einer religionspädagogischen Professionsgeschichte, in: David Käbisch/ Johannes Wischmeyer: Die Praxis akademischer Religionslehrerbildung. Katechetik und Pädagogik an der Universität Jena 1817 bis 1918, mit einem Forschungsausblick von Michael Wermke, Tübingen 2008, 231–261, 253. 31  Vgl. Christian Grethlein: Religionspädagogik, Berlin/New York 1998, 1–41 und 96. 32  Vgl. Richard R. Osmer/Friedrich Schweitzer: Religious Education between Modernization and Globalization. New Perspectives on the United States and Germany, Grand Rapids 2003; Richard R. Osmer/Friedrich Schweitzer: Religious Education Reform Movements in the United States and in Germany as a Paradigmatic Response to Modernization, in: International Journal of Practical Theology 1 (1997), 227–254. 33  Vgl. Osmer/Schweitzer: Religious Education between Modernization and Globalization, 39f.; Osmer/Schweitzer: Religious Education Reform Movements, 233.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 281

Herausforderungen der Moderne in soziologischer Perspektive beschrieben, um in einem zweiten Schritt die »paradigmatic responses to modernity« bei einzelnen Autoren in den USA und in Deutschland analysieren zu können. In einem dritten Arbeitsschritt werden schließlich die untersuchten Einzelautoren miteinander verglichen – wie etwa George Albert Coe (1862–1951) und Friedrich Niebergall. Auch weitere konfessions-, religions- und ländervergleichende Studien der Religionspädagogik basieren häufig auf diesem Dreischritt. Bei allen Unterschieden im Detail fungieren soziologische Modernisierungstheorien in diesen Untersuchungen als tertium comparationis.34 Modernisierungstheoretische Ansätze sind anschlussfähig an die sozialhistorisch akzentuierte Geschichtsschreibung und haben die Entwicklungsdynamiken der Moderne in ihrer Bedeutung für die Theorie und Praxis religiöser Bildung anschaulich vor Augen geführt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die »ehemals so fruchtbare Allianz zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft« heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist und einer Neuausrichtung bedarf.35 Insbesondere die Annahme eines tertium comparationis, das per definitionem nicht Teil der zu vergleichenden »ersten« und »zweiten« Konfession, Religion oder Region etc. ist, hat sich als eurozentrische, zuweilen auch nationale Engführung erwiesen. Inzwischen stehen mit der Globalgeschichte, vor allem aber mit den verschiedenen Zugängen der transnationalen Geschichte alternative, von soziologischen Modernisierungstheorien weitgehend freie Forschungsansätze zur Verfügung.36 Diese verzichten auf die Annahme eines tertium comparationis bzw. dritten Standpunktes und stellen u.a. die Prozesse wechselseitiger Wahrnehmung in das Zentrum von Mikrostudien. Ausgehend von der historiographischen Kritik an Modernisierungstheorien sollen daher im Folgenden neuere Ansätze der Geschichtswissenschaft in ihrer Relevanz für die Religionspädagogik vorgestellt werden.

34

 Zu den verschiedenen Formen und Erkenntnisinteressen der historischen Komparatistik vgl. David Käbisch/Johannes Wischmeyer: Transnationale Dimensionen religiöser Bildung. Methodik und Forschungsstand, in: David Käbisch/Johannes Wischmeyer (Hrsg.): Transnationale Dimensionen religiöser Bildung in der Moderne, erscheint Göttingen 2018. 35  Mit dieser Einschätzung beginnt Benjamin Steiners sein 2015 erschienenes Buch zu der Frage, ob soziologische Modernisierungstheorien überhaupt für historische Analysen geeignet sind, vgl. Benjamin Steiner: Nebenfolgen in der Geschichte. Eine historische Soziologie reflexiver Modernisierung, Berlin/München/Boston 2015. 36  Dazu ausführlich Käbisch/Wischmeyer: Transnationale Dimensionen.

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2.2 Die historiographische Kritik an Modernisierungs   theorien – oder: Sind Lokalstudien realitätsnäher? Als einer der Väter der sozialhistorisch akzentuierten Geschichtsschreibung in Deutschland kann Hans-Ulrich Wehler gelten. Dieser hat bereits 1975 das Potential, aber auch die Gefahren soziologischer Modernisierungstheorien für die Historiographie herausgestellt, ohne diese selbst in seinen Arbeiten hinreichend vermieden zu haben.37 Mit Andreas Rödder lassen sich insbesondere drei Kritikpunkte an der historischen Erschließungskraft soziologischer Modernisierungstheorien zusammenfassen: • »Modernisierungstheorien zielten auf die Makroebene und beschrieben einen übergeordneten gleichgerichteten Prozeß. Zugleich standen sie in der Tradition von Evolutionstheorien, nicht zuletzt mit ihrer scharfen Dichotomisierung von ›Tradition‹ und ›Moderne‹. Gerade diese Dichotomie kritisierte Wehler als oftmals empirisch nicht unterfütterbare Figur, in der ›zuerst Modernität als das vermeintlich Vertraute definiert und dann erst der traditionale Gegensatz dazu gesucht oder konstruiert worden ist‹ […]. • Dasselbe gilt für einen zweiten Einwand, daß nämlich über der Konzentration auf objektive Strukturen der Faktor Persönlichkeit und Individualität, überhaupt die subjektive Dimension von Sinn und Erfahrung verloren ging. Dieses Problem geht über das einer bloß perspektivischen Verkürzung hinaus […]. • Drittens stellt sich die Frage nach dem normativen bias bzw. der Werturteilsfreiheit: ›Modernisierungstheorie und Geschichte‹ argumentiert zunächst ganz analytisch. Am Schluß aber bekennt sich Wehler zu seinem ›explizite[n] liberaldemokratische[n] Wertmaßstab‹, der diese Historische Sozialwissenschaft in eine substantielle Nähe zu Habermas’ Konzept der Moderne rückt.«38

Die von Wehler und Rödder beschriebene Gefahr, die Geschichte als Anschauungsmaterial für die eigenen (normativen) Modernisierungs- und Fortschrittsvorstellungen heranzuziehen, haben in der Vergangenheit nicht alle Pädagogen und Pädagoginnen erkannt. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf marxistisch grundierte Säkularisierungstheorien, die von einer Unvereinbarkeit von Moderne und Religion ausgehen und die den er37

 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. 38  Andreas Rödder: Sonderwege. Hans-Ulrich Wehlers »Modernisierungstheorie und Geschichte« (Göttingen 1975), 2–4, online: www.zfmod.uni-koeln.de/fileadmin/ zfmod/bilder/Wehler_Modernisierungstheorie_und_Geschichte.pdf (21. Dezember 2017). Eine kürzere Fassung des Beitrags bietet Andreas Rödder: Sonderwege. Modernisierungstheorien aus Bielefelder Sicht, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/ Martin Sabrow (Hrsg.): Fünfzig Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 140– 143.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 283

ziehungswissenschaftlichen Diskurs – zumindest unterschwellig – bestimmt haben.39 Aber auch in der historischen Religionspädagogik sollte bedacht werden, wie die Entscheidung für eine soziologische Modernisierungstheorie die anschließende Analyse der Quellen beeinflussen kann. Es ist daher kein Mangel an Theoriebewusstsein, bei der Analyse von historischen Fallbeispielen zunächst von soziologischen Modernisierungstheorien als Interpretationsrahmen abzusehen. Gerade Quellenbefunde, die nicht mit vorausgesetzten Modernisierungsdynamiken übereinstimmen, eröffnen die Möglichkeit, die subjektive Wahrnehmung der untersuchten Akteure und individuelle Handlungsspielräume zu beschreiben, kurz den Faktor »Persönlichkeit und Individualität« ernst zu nehmen. In diesem Zusammenhang sei auf Fallstudien aus der Feder Michael Wermkes verwiesen, die sich mit subjektiven Wahrnehmungen und lokalen Handlungsspielräumen in Thüringen beschäftigen, ohne einen gleichgerichteten, globalen Modernisierungsprozess vorauszusetzen oder vorschnell der Dichotomisierung von »Tradition« und »Moderne« zu verfallen. Insbesondere die Thüringer evangelische Parochialpublizistik hat sich in diesem Zusammenhang als ein aufschlussreiches Quellenkorpus erwiesen.40 Früher als in anderen Regionen Deutschlands gab es etwa in den Industriezentren Ostthüringens bereits vor dem Ersten Weltkrieg proletarische Freidenkerverbände, die für den Kirchenaustritt warben und vielfältige Formen der öffentlichen Religionskritik organisierten.41 Gerhard Bohne (1895– 1977), der nach dem Ersten Weltkrieg im ostthüringischen Altenburg als Studienrat arbeitete, hat sich in den 1920er Jahren in einer Reihe von kleineren Schriften mit den proletarischen Freidenkerverbänden seiner Region auseinandergesetzt. Auch im Altenburger Gemeindeblatt hat er dazu Artikel veröffentlicht. Im Unterschied zu den zeitgleichen Gesellschaftsdiagnosen

39

 Vgl. Käbisch/Wischmeyer: Transnationale Dimensionen, mit Bezug auf Rosa Bruno-Jofré: History of Religious Education. A Transnational and Trans-temporal Journey: Rescuing the Longue Durée and Moving Beyond Theories of Secularization, in: International Journal for the Historiography of Education 5 (2015), 218–221; Mette Buchardt: Grasping the category »religion« when explored in the education system across time and space, in: International Journal for the Historiography of Education 5 (2015), 207–211; Ezequiel Gomez Caride: What if? Opening the Door to Religion in Social Sciences, in: International Journal for the Historiography of Education 5 (2015), 215–217. 40  Vgl. Thomas Heller/Michael Wermke (Hrsg.): Thüringer evangelische Parochialpublizistik. Im Spiegel der »Mitteilungen für die Thüringer Heimatglöckner« (1917– 1919), Leipzig 2013. 41  Vgl. Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981, 46.

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von Friedrich Delekat (1892–1970)42 oder Friedrich Gogarten (1887–1967)43 geht Bohne hier auf den lokalen, Thüringer Kontext ein, ohne den Terminus der Säkularisierung zu benutzen. Auch in seinem 1929 in Jena abgeschlossenen Hauptwerk »Das Wort Gottes und der Unterricht« kommt der Begriff nicht vor. Gleichwohl umfasst Bohnes Gegenwartsdeutung viele Aspekte heutiger Säkularisierungstheorien, da er die Prozesse der Rationalisierung und Urbanisierung in seine Gesellschaftsanalyse einbezieht und Religion als Teilsystem neben der Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Sittlichkeit und Politik beschreibt, das mit deren Wertansprüchen konkurriert und in Spannung zu diesen steht.44 Neuere Modernisierungstheorien berücksichtigen, wie das Kapitel zu David Martin zeigen konnte, stärker die Effekte der historischen Pfadabhängigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Daher ist es mit Martin folgerichtig, für den Thüringer Kontext auch die »diktaturstaatliche Doppelschädigung der mitteldeutschen Kirchen«45 in den Jahren 1933 bis 1989 in die Betrachtung einzubeziehen. Die braune und die rote Diktatur haben je auf ihre Weise die vorhandenen Kirchenaustrittsbewegungen verstärkt und an die älteren Traditionen der proletarischen Freidenkerverbände in Thüringen angeknüpft. Die Denkfigur der organisierten und staatlich forcierten Säkularisierung besitzt damit einen hohen Erklärungswert für den ostdeutschen Kontext, ohne damit den Anspruch zu erheben, ein Analysemodell für den gesamtdeutschen, europäischen oder globalen Maßstab zu liefern.

2.3 Aspekte einer Globalgeschichte religiöser Bildung   – oder: Lässt sich methodologischer Nationalismus   und Eurozentrismus vermeiden? Mit der Globalgeschichte und den verschiedenen Zugängen der transnationalen Geschichte stehen heute Forschungsansätze zur Verfügung, die das Ver42

 Vgl. Friedrich Delekat: Von Sinn und Grenzen bewußter Erziehung. Ein Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Erziehung, Leipzig 1927 (Heidelberg ²1967). Vgl. dazu Henrik Simojoki: Evangelische Erziehungsverantwortung. Eine religionspädagogische Untersuchung zum Werk Friedrich Delekats (1892–1970), Tübingen 2008, 78–87. 43  Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Friedrich Gogartens Deutung der Moderne. Ein theologiegeschichtlicher Rückblick, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 100 (1989), 169–230, 196f. 44  Vgl. David Käbisch/Michael Wermke: Einleitung, in: Gerhard Bohne: Religionspädagogik als Kulturkritik. Texte aus der Weimarer Republik, Leipzig 2007, 15–141. 45  Kurt Nowak: Staat ohne Kirche? Überlegungen zur Entkirchlichung der evangelischen Bevölkerung im Staatsgebiet der DDR, in: Gert Kaiser/Ewald Frie (Hrsg.): Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR, Frankfurt am Main/New York 1996, 23–43, 40.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 285

hältnis soziologischer Modernisierungstheorien zur Geschichtsschreibung anders als komparative Ansätze akzentuieren. Die globalen »Herausforderungen der Moderne« dienen hier nicht mehr als tertium comparationis für den anschließenden Vergleich von Einzelautoren, Konzepten oder nationalen Bildungssystemen. In Übereinstimmung mit der Globalgeschichtsschreibung kritisiert die transnationale Religions- und Bildungsforschung zudem zwei weitere Engführungen der älteren Forschung: »die Festlegung auf den Nationalstaat als primären (mitunter einzigen) Beobachtungsrahmen und den damit einhergehenden ›methodologischen Nationalismus‹ sowie einen tief sitzenden Eurozentrismus, der für die Geschichtswissenschaft einen unverrückbaren Blickpunkt und festen Maßstab darstellte.«46 Wie in der allgemeinen Geschichtsschreibung mangelt es in der Religionspädagogik bislang an einer Operationalisierung globalhistorischer Fragen, der es gelingt, eine »Brücke zwischen theoretischem Anspruch und empirischer Umsetzung«47 zu schlagen. Ausgehend von diesem Desiderat sollen im Folgenden Aspekte einer Globalgeschichte religiöser Bildung skizziert werden: • Globalgeschichte als Verbindungsgeschichte. Die Frage nach transnationalen Verbindungen und den dafür maßgeblichen Akteuren, Netzwerken und Medien ist der Ausgangspunkt aller globalgeschichtlicher Fragestellungen. Während Sebastian Conrad in diesem Zusammenhang kritisiert, dass sich die neuere Geschichte »zu viel mit bloßen Verbindungen« und »zu wenig mit deren strukturellen Verfestigungen« beschäftigt habe, ist Roland Wenzlhuemer der Ansicht, dass sich die Globalgeschichte »bisher viel zu wenig mit globalen Verbindungen auseinandergesetzt hat; und zwar zu wenig genau, zu wenig analytisch differenziert.«48 Wie auch immer diese unterschiedlichen Einschätzungen unter Allgemeinhistorikern einzuschätzen sind: In der Religionspädagogik, die sich unter dem Vorzeichen der Internationalisierung vor allem komparativen Methoden verpflichtet gefühlt hat, standen transnationale Verbindungen bislang nicht im Zentrum. Dies gilt auch für die vielfältigen Phänomene globaler Mobilität. • Globalgeschichte als Mobilitätsgeschichte. Die wachsende Mobilität und die damit einhergehende Beschleunigung ist nicht nur eine »Herausforderung der Moderne«, auf die Akteure in religionspädagogischen Handlungsfeldern aus der Beobachterperspektive reagieren, sondern an der sie selbst teilhaben. Eine Globalgeschichte religiöser Bildung sollte daher die Mobilität der Akteure in ihre Untersuchungen einbeziehen. Unter raumbezogener Mobilität ist dabei nicht nur die Beweglichkeit von Personen, sondern auch von religiösen und pädagogischen 46  Roland Wenzlhuemer: Globalgeschichte schreiben. Eine Einführung in 6 Episoden, Konstanz 2017, 9, mit Verweis auf Sebastian Conrad: What is Global History?, Princeton 2016, 3f. 47  Wenzlhuemer: Globalgeschichte, 13. 48  A.a.O, 21, mit Bezug auf Conrad: What is Global History?, 90f.

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Ideen und Praktiken von einem Ort an einen anderen zu verstehen: Was macht globale Mobilität eigentlich aus? Wie verändert sie religiöse und pädagogische Ideen und Praktiken? Was unterscheidet sie von lokaler oder regionaler Mobilität? Und worin besteht die besondere Qualität globaler Mobilität, die es rechtfertigt, die Globalgeschichte als eigenständige Perspektive auf Fragen religiöser Erziehung, Bildung und Sozialisation auszuweisen? Neben der räumlichen verdient zudem die soziale Mobilität Beachtung, die u.a. den sozio-ökonomisch beschreibbaren Aufstieg durch Bildung bei Migranten beschreibt. Davon zu unterscheiden ist nochmals die virtuelle Mobilität durch Briefe, Bilder, Bücher und vor allem die technischen Möglichkeiten digitaler Medien.49 • Globalgeschichte als Migrationsgeschichte. In öffentlichen Debatten, in kirchlichen Erklärungen, in Bildungsinitiativen und in der Religionspädagogik steht heute in der Regel das Außergewöhnliche der im Jahr 2015 in Deutschland und Europa abrupt angestiegenen Migration im Vordergrund. Demgegenüber macht nicht nur die soziologische, sondern auch die historische Migrationsforschung darauf aufmerksam, dass es sich nicht nur um eine situative, zeitlich begrenzte Herausforderung, sondern um ein Grundmoment des gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Wandels in der Moderne handelt.50 Die freiwilligen Arbeits- und Siedlungswanderungen im 20. Jahrhundert sind daher für eine Globalgeschichte religiöser Bildung ebenso von Interesse wie die erzwungene Flucht, Vertreibung und Deportation von Menschen im Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriegsfolgewanderungen nach 1945 sowie die Migrationswellen aus der DDR in die Bundesrepublik.51 Diese betraf prinzipiell alle Milieus und Gesellschaftsschichten, hat aber besonders zu einer Abwanderung kirchennaher Menschen geführt, die für sich und ihre Kinder keine Aufstiegschancen in der SED-Diktatur sahen. • Globalgeschichte als Missionsgeschichte. Der Anspruch, andere Menschen von den eigenen (politischen, religiösen etc.) Einstellungen dauerhaft zu überzeugen, ist neben der Mobilität und Migration ein weiteres Merkmal der Moderne. Dabei ist nicht nur an die gut dokumentiere Arbeit von Missionsgesellschaften zu denken, sondern auch an die Expansion des British Empires, die deutsche Kolonialpolitik oder die Ausbreitung des kommunistischen Sowjetimperiums mit seinen verheerenden Folgen für das religiöse Leben in der DDR.52 Die hier beobachtbare Verbindung von Fortschrittsgläubigkeit und Sendungsbewusstsein führt dazu, dass 49  Vgl. David Käbisch: Mobilität und religiöse Bildung in der Moderne. Eine Zwischenbilanz in religionspädagogischer Perspektive, in: David Käbisch/Michael Wermke (Hrsg.): Transnationale Grenzgänge und Kulturkontakte. Historische Fallbeispiele in religionspädagogischer Perspektive, Leipzig 2017, 411–423. 50  Vgl. Sara Haen/David Käbisch/Henrik Simojoki/Mirjam Zimmermann: Einführung in den Thementeil: Migration – Religion – Bildung. Wege zu einer migrationssensiblen Religionspädagogik, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 16 (2017), 2, 10–14, mit Verweis auf Regina Polak (Hrsg.): Religion im Wandel: Transformation religiöser Gemeinschaften in Europa durch Migration. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 2015. 51  Vgl. Jochen Oltmer: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München ²2016.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 287

sich politische, religiöse und wirtschaftliche Motive der verschiedenen (Zivilisierungs-)Missionen in der Moderne nur schwer auseinanderhalten lassen.52 • Globalgeschichte als Übersetzungsgeschichte. An den verschiedenen Medien des Wissenstransfers, die durch Mobilität, Migration und Mission von einem Land in ein anderes gelangten, lässt sich abschließend der Unterschied der Komparatistik zur Globalgeschichte anschaulich zusammenfassen. Im Zentrum stehen hier Bildungsmedien aller Art, die aus einer Sprache in eine andere übersetz wurden, darunter Luthers Kleiner Katechismus, der Heidelberger Katechismus sowie Kinder- und Schulbibeln, aber auch beispielsweise sowjetische Lehrpläne, Unterrichtsmaterialien und Lehrbücher, die aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt und in der DDR spezifisch angeeignet wurden.53 Neben Übersetzungen textbasierter Bildungsmedien (im engeren Sinn) ist auch an Übersetzungen politischer, religiöser und pädagogischer Praktiken (im übertragenen Sinn) zu denken. Translation Studies eröffnen in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit, die damit einhergehenden Transferprozesse präziser als bisher zu untersuchen. Im Unterschied zur Komparatistik fragt die übersetzungsorientierte Globalgeschichte »nach Wissensordnungen, Konzepten und Begriffen oder nach sozialen Praktiken, die – vermittelt über Sprache und spezifische Träger von Sprache – von einem kulturellen Kontext in den anderen übertragen werden und sich dabei selbst (teilweise grundlegend) wandeln, aber auch die Kontexte beeinflussen und verändern können.«54

Wie in einem Brennglas lassen sich die genannten Forschungsperspektiven an einem Fallbeispiel aufzeigen, das Michael Wermke im Zusammenhang seiner Studien zur 1927 gegründeten Pädagogischen Akademie in Frankfurt am Main ausgeführt hat.55 Im Zentrum stehen hier die deutsch-jüdischen 52

 Vgl. Jürgen Osterhammel: »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, 363–426. 53  Vgl. Anja Kirsch: Weltanschauung als Erzählkultur. Zur Konstruktion von Religion und Sozialismus in Staatsbürgerkundeschulbüchern der DDR, Göttingen 2016. 54  Simone Lässig: Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), 189–216, 191. Vgl. dazu David Käbisch: Religionspädagogik und Translation Studies. Die Bedeutung des Übersetzens für die Theorie und Praxis religiöser Bildung, in: Andrea Schulte (Hrsg.): Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und  Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 71–87. 55  Vgl. Michael Wermke: Transfer pädagogischen Wissens. Die Absolventen der Frankfurter Pädagogischen Akademie (1927–1933) im geteilten Nachkriegsdeutschland, in Palästina/Israel und in der Türkei, in: David Käbisch/Johannes Wischmeyer (Hrsg.): Transnationale Dimensionen religiöser Bildung in der Moderne, erscheint Göttingen 2018.

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und türkisch-muslimischen Absolventen der Akademie, die nach dem politischen Umbruch 1933 u.a. nach Palästina auswanderten bzw. in die Türkei zurückkehrten. Wermke nimmt damit eine akteursbezogene Perspektive ein, um transnationale Transferprozesse beschreiben zu können: »Bei aller Unterschiedlichkeit der deutsch-türkischen und deutsch-jüdischen Transferbeziehungen lässt sich als Gemeinsamkeit erkennen, dass die Transferabsichten der Akteure und der hinter ihnen stehenden staatlichen oder auch prästaatlichen Institutionen darauf gerichtet waren, das Bildungswesen eines relativ jungen bzw. erst noch in Entstehung befindlichen staatlichen Gebildes zu sichern und zu entwickeln: Konkret diente der Transfer pädagogischen Wissens zur Stabilisierung der kemalistischen Herrschaftsordnung in der Türkei und der Entwicklung eines zionistischen Gemeinwesens in Palästina.«56

Es ist ein Anliegen der Globalgeschichtsschreibung, individuelle Handlungsspielräume zu rekonstruieren und den Faktor »Persönlichkeit und Individualität« in der Bildungsgeschichte ernst zu nehmen. Neben der Ebene der pädagogischen Theoriebildung und der akademischen Lehre lassen sich in diesem Zusammenhang vielfältige Handlungsspielräume auf der Organisationsebene des Bildungs- und Schulwesens in der Türkei und Palästina sowie auf der Ebene der pädagogischen Praxis unterscheiden. Auf allen drei Ebenen weist Wermke darauf hin, dass das in Frankfurt erworbene Wissen subjektiv angeeignet und in neue Kontexte übersetzt wurde.57 So zeigte er an der späteren Dissertationsschrift des türkischen Absolventen Bedi Ziya auf, wie die in Deutschland gelehrte Verhältnisbestimmung von Individuum (»der neue Mensch«) und Gemeinschaft (»Volk«) zu einem neuen Konstrukt nationaler Bildung im »völkischen Kemalismus« führte.58 Weitere Transfer- und Aneignungsprozesse lassen sich zwischen der Landschulpädagogik der 1920er Jahre und der Kibbuzpädagogik in Palästina bzw. Israel beobachten. Inwieweit sich mit globalgeschichtlichen Zugängen der vielfach beklagte methodologische Nationalismus und Eurozentrismus wirklich ver56

 Wermke: Transfer.  Als Fallbeispiele für die erste Ebene nennt Wermke die Absolventen Robert Alt, Bedi Ziya Egemen, Gottfried Hausmann und Rosa Katzenstein/Rachel Manor, für die zweite Ebene Hans Herbert Hammerstein, Kurt Silberpfennig und Kemal Kaya Schulen, Karl Bungardt, Mahmut Münir Raşit Öymen und Eva Seligmann. Alle weiteren Absolventinnen und Absolventen, die in der Regel in den Schuldienst gingen, lassen sich der dritten Ebene zuordnen. 58  Vgl. Wermke: Transfer, mit Verweis auf Bedi Ziya: Grundlegung einer türkischen Erziehung aus türkischem Volkstum. Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde bei der Philosophischen Fakultät der Ludwigs-Universität zu Gießen, Gießen 1937. 57

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meiden lässt, werden erst weitere Studien erweisen können. Deutlich wird an den türkischen und jüdischen Absolventen der Frankfurter Akademie jedoch schon heute die historische Pfadabhängigkeit religiösen Wandels und seiner pädagogischen Reflexion. Aufschlussreich für den ostdeutschen Kontext ist in diesem Zusammenhang auch die Biographie von Robert Alt (1905–1978). Nach seinem Frankfurter Studienabschluss 1929 war er u.a. an der konfessionell nicht gebundenen Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln tätig. Als Jude wurde er 1933 aus dem staatlichen Schuldienst entlassen, konnte aber an verschiedenen jüdischen Privatschulen als Lehrer weiterarbeiten. Im Jahr 1941 wurde er deportiert und überlebte die NS-Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern. In der DDR begann er schließlich eine wissenschaftliche Karriere als Pädagoge. Wermke fragt in diesem Zusammenhang, inwieweit Alt totalitäre Erziehungsvorstellungen des Nationalsozialismus angeeignet und in der DDR unter anderen ideologischen Vorzeichen umgesetzt hat.59 Zudem stellt er die Frage, wie das Verhältnis des DDR-Schulwesens zu reformpädagogischen und sozialistischen Erziehungsvorstellungen der Weimarer Republik zu bestimmen ist.60 Die Biographie von Robert Alt führt damit in den Kontext zurück, der abschließend im Mittelpunkt stehen soll: die spezifischen Rahmenbedingungen religiöser Bildung in Ostdeutschland und die damit zusammenhängende Frage nach historischen Pfadabhängigkeiten.

3. Religionsunterricht in der »Post   säkularität«? Zur Leistungsfähigkeit    soziologischer Modernisierungstheorien    – ein Ausblick Zu den Deutungsvarianten des religiösen Wandels, die gegenwärtig für den ostdeutschen Kontext diskutiert werden, ist das Konzept der Postsäkularität getreten. Insbesondere Jürgen Habermas hat in diesem Zusammenhang mit seiner metaphorischen Rede von postsäkularen Gesellschaften vielfach Resonanz in der Religionspädagogik gefunden. Die meisten religionspädagogischen Überlegungen stehen dabei im Kontext der Forderung Habermasʼ, 59

 Vgl. Wermke: Transfer, mit Bezug auf Ulrich Wiegmann: Robert Alt – Reformpädagogik und Erziehungsbegriff, in: Norbert H. Weber/Wolfgang Keim (Hrsg.): Reformpädagogik in Berlin – Tradition und Wiederentdeckung, Frankfurt  am  Main/ Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1998, 291–320, 297. 60  Vgl. Wermke: Transfer, mit Bezug auf Wilfried Brevogel/Martin Kamp: Weltliche Schulen in Preußen und im Ruhrgebiet. Forschungsstand und statistische Grundlagen, in: Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg Werner Link/Hanno Schmitt (Hrsg.): ›Die alte Schule überwinden‹. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1993, 185–220.

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religiöse Gehalte in eine nicht-religiöse Sprache zu übersetzen.61 In diesem Sinn spricht auch Manfred L. Pirner von der »Übersetzung« als Schlüsselkategorie der Religionspädagogik, und Bernhard Dressler zeigt die Grenzen der Übersetzbarkeitsforderung in schulischen Kontexten auf.62 Von diesen eher sozialphilosophisch orientierten Beiträgen sind nochmals entwicklungs- und lernpsychologisch orientierte Studien zu unterscheiden, die alle religiösen Lernprozesse metaphorisch als Übersetzungsprozess deuten.63 Bereits diese Beispiele zeigen: Das Interesse an Habermas und seinem Konzept der Postsäkularität verdankt sich vor allem einem didaktischen Vermittlungsinteresse. Das Konzept der Postsäkularität dokumentiert darüber hinaus einen dreifachen Bewusstseinswandel, wie er auch in unserem Beitrag für die Religionssoziologie nachgezeichnet werden konnte: Zum Ersten führt es vor Augen, dass die in Ostdeutschland beobachtbare Säkularisierung nicht generalisiert werden kann und damit im globalen Maßstab relativiert werden muss. Zum Zweiten verweist das Konzept auf die bleibende Bedeutung von Religion in der Öffentlichkeit, vor allem in der Politik. Und zum Dritten macht es deutlich, dass mit der gestiegenen Mobilität und globalen Migration auch in den ostdeutschen, weitgehend säkularisierten Kontext Lebensformen einsickern, die sich einer bestimmten Religion (etwa dem Islam) stark verbunden fühlen.64 In unserem Beitrag haben wir argumentiert, dass die Leistungsfähigkeit soziologischer Modernisierungstheorien für religionspädagogische Situationsanalysen u.a. davon abhängt, wie es diesen gelingt, die historische Pfadabhängigkeit des religiösen Wandels in die Theoriebildung einzubeziehen. 61

 Vgl. dazu die Einzelbeiträge in Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016. 62  Vgl. Manfred L. Pirner: Repräsentation und Übersetzung als zentrale Aufgaben einer Öffentlichen Theologie und Religionspädagogik, in: Evangelische Theologie 75 (2015), 446-458; Bernhard Dressler: Grenzen der Übersetzbarkeit. Oder: Worüber man nicht argumentieren kann, darüber muss man erzählen, in: Tobias Braune-Krickau/Katharina Scholl/Peter Schüz (Hrsg.): Das Christentum hat ein Darstellungsproblem. Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 2016, 44–61. 63  Vgl. zum Beispiel Andrea Schulte: Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht – Eine Hinführung, in: Andrea Schulte (Hrsg.): Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und  Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 7–20; Andrea Schulte: Translating Religion between Parents and Children, in: Michael DeJonge/Christiane Tietz (Eds.): Translating Religion. What is Lost and Gained?, New York 2015, 70–85. 64  Vgl. dazu Monika Wohlrab-Sahr: Forcierte Säkularität und Postsäkularität oder: Das Postsäkulare ist das Postkonfessionelle, in: Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016, 37–55, 38.

Säkularisierung, Globalisierung und die historische Pfadabhängigkeit 291

Diese Einschätzung gilt nicht nur für Konzepte der Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung von Religion, sondern auch für die neuerliche Rede von den Bildungsherausforderungen in postsäkularen Gesellschaften. Daher plädieren wir dafür, mit der Globalgeschichte und den verschiedenen Zugängen der transnationalen Geschichte stärker Forschungsansätze zu rezipieren, die historische Pfadabhängigkeiten auf der lokalen, regionalen und globalen Ebene analysieren. In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch unser Vorschlag, die Übersetzungsmetapher handlungsanalytisch auszulegen und damit zu historisieren: Wer hat einen Text wann, wo, wie und mit welcher Absicht aus einem Kontext in einen anderen übersetzt? Die systematische und didaktische Erschließungskraft der Übersetzungsmetapher wird damit nicht in Abrede gestellt. Das historiographische Konzept der Translation Studies eröffnet aber die darüber hinausgehende Möglichkeit, transnationale Transfers und damit einhergehende Übersetzungsprozesse präzise zu analysieren: Indem sie vorhandene Übersetzungen aus einer Sprache in eine andere untersuchen, nach den Funktionen einer Übersetzung in konkreten Handlungsfeldern fragen (Handel, Mission, Bildung, Politik etc.) und sich mit den vielfältigen Akteuren und Prozessen des Übersetzens selbst beschäftigen.

Erzählkultur Narrativität, narrative Identität und religiöse Bildung Martina Kumlehn

Prolog: Die »Macht der Erzählung« als ambivalente Herausforderung religiöser Bildung In einem Interview, das am 14.10.2017 in der Zeitschrift »Der Spiegel« erschienen ist, hat Emmanuel Macron die »Macht der Erzählung« beschworen: »Wenn man so will, war die Postmoderne das Schlimmste, was unseren Demokratien passieren konnte. Diese Idee, man müsse alle großen Erzählungen dekonstruieren, kaputt machen, ist keine gute. Seither wird allem und jedem misstraut. [...] Kritik ist notwendig, aber was soll dieser Hass auf die sogenannte große Erzählung? […] Warum weigern sich moderne Demokratien heutzutage ihre Bürger träumen zu lassen?«1

Macron war Assistent bei dem Philosophen und Erzähltheoretiker Paul Ricoeur und versucht offensichtlich, dessen Einsichten zur Symbolik und zur kulturellen Relevanz der Erzählung auf seine Deutung des politischen Feldes zu übertragen. Er setzt auf die Macht, die starke Erzählungen und ihre Lektüre im Sinne des Eröffnens von Möglichkeitsräumen entfalten können, indem sie die Grenzen des bisher individuell Vorstellbaren und die Grenzen (politischer) symbolischer Ordnung so verschieben, dass daraus im Sinne narrativer Ethik auch neue Handlungsoptionen erwachsen können. Ohne symbolisch und narrativ vermittelte Träume und ihre prophetische Deutungsmacht gibt es keine (politische) Veränderung in Europa, so Macrons These. Die Macht der Erzählung demonstriert er dann im weiteren Verlauf des Interviews auch anhand der Konstruktion seiner eigenen narrativen Identität, in die er die Prägekraft bestimmter deutscher und französischer Autoren

1

  Klaus Brinkbäumer/Julia Amalia Heyer/Britta Sandberg: »Ich bin nicht arrogant. Ich sage und tue, was ich mag.« Interview mit Emmanuel Macron, in: Der Spiegel vom 14. Oktober 2017, 12–20, 14.

294 Martina Kumlehn

einzeichnet. Ich bin, was ich lese, so ließe sich der rote Faden seiner Selbstinszenierung pointieren.2 Dieser aktuelle und prominente Ruf nach einer Wiederbelebung orientierender Erzählungen, in dem der Zusammenhang von Macht und Sinnstiftung aufscheint,3 lässt aufhorchen und verdeutlicht zugleich, welche durchaus ambivalenten Herausforderungen nicht nur für politische Bildung, sondern gerade auch für religiöse Bildungsprozesse im Umgang mit solchen Erzählungen erwachsen: Auf der einen Seite ist in der Tat das Potential der Wirklichkeitserschließung durch verschiedene Formen der Narration und ihre spezifischen Deutungs- und Orientierungsleistungen zu erheben und mit den Bildungsaufgaben narrativer Identität zu verknüpfen. Das ist religionspädagogisch umso mehr grundsätzlich geboten, als es zum Grundzug der kommunikativen Verfasstheit von Religion überhaupt und von christlicher Religion im Besonderen gehört, wesentlich narrativ vermittelt zu sein. Die Macht der Erzählung, Leben umzudeuten und möglicherweise auch zu verändern, verlangt aber zugleich den kritischen Blick, den Macron zwar zugesteht, aber doch auffällig zurückstellt bzw. mit einer Kritik an der Kritik der als postmodern bezeichneten Praxis der Dekonstruktion von Erzählungen verbindet. In religionspädagogischer Perspektive, die die Deutungsmacht religiöser Erzählungen freilegt, ist jedoch immer auch die machtkritische Frage miteinzubeziehen, wie solche Erzählungen nicht nur etwas Neues ermöglichen, sondern auch anderes verunmöglichen, indem sie zum Beispiel in einer bestimmten Weise selektieren, exkludieren oder gar stigmatisieren. Dazu gehört ein differenzierteres Verhältnis zur Postmoderne, als Macron es in seiner Polemik erkennen lässt, und damit vor allem zur Pluralität von Erzählkulturen. Das heißt, die ideologiekritischen Einsichten, die Jean-François Lyotard mit Blick auf mögliche totalisierende Ansprüche von großen Erzählungen, die das Ganze der Wirklichkeit zu deuten beanspruchen, herausgearbeitet hat, sind durchaus weiter ernst zu nehmen, können aber differenziert zu den pluralisierenden Interpretationsweisen dieser großen Erzählungen, deren vermeintliches Ende keineswegs zwingend zu postulieren ist, und ihrer bleibenden Resonanz in kleinen Erzählungen ins Verhältnis gesetzt werden.4 Ohne eine kritische Frage nach den jeweiligen Geltungsansprüchen wirkmächtiger 2

  Vgl. a.a.O., 20: »Und das Lesen habe ich nie aufgegeben. Ich lese jeden Abend, nachts und wann immer es mir tagsüber auf Reisen möglich ist. Ich habe immer gelesen.« 3   Vgl. Byung-Chul Han: Was ist Macht?, Stuttgart 2005, 38. 4   Im Kontext des Diskurses um Inklusion zeichnet zum Beispiel Katharina Kammeyer: Inklusion als Narration. Zum Spannungsverhältnis von großen und kleinen Erzählungen, in: Gerhard Büttner/Hans Mendl/Oliver Reis/Hanna Roose (Hrsg): Narrativität, Babenhausen 2016, 87–98, ein solch differenziertes Bild der Aufnahme Lyotards.

Erzählkultur 295

Erzählungen und nach dem Zusammenhang von Fiktionalität, Wirklichkeitsreferenz und Wahrheitserfahrungen wird man dem Potential von Narrativität für religiöse Bildung nicht gerecht.

1. Narrativität als Grunddimension    religiöser Bildung Den im Prolog skizzierten Anforderungen entsprechend gilt es, im Kontext religiöser Bildung auf unterschiedlichen Ebenen über Narrativität nachzudenken. So ist das Erzählen zuerst als fundamentaler kultureller Vollzug in den Blick zu nehmen, der auch in das kulturelle System der Religion elementar eingezeichnet ist; sodann ist die Bedeutung des Erzählens für die Ausbildung einer religiösen narrativen Identität darzustellen und schließlich konkret religionsdidaktisch zu überlegen, wie sich unterschiedliche biblische, lebensweltliche und literarische Erzählwelten sowie individuelle Lebensgeschichten themenbezogen miteinander verschränken lassen und wie das in hermeneutischen, ästhetischen, performativen und diskursiven Dimensionen religiöser Bildungsprozesse zum Tragen kommt. Aufgrund des begrenzten Umfanges dieses Beitrags wird die didaktische Ebene hier allerdings zum Schluss nur angedeutet.

1.1 Erzählen als kultureller Deutungsprozess   und religiöser Kommunikationsmodus In unterschiedlichen Varianten wird kultur- und narrationstheoretisch auf die Ubiquität diverser Erzählformen verwiesen, prägnant zum Beispiel bei Roland Barthes: »Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen […]. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt.«5

5

  Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, 102–143, 102.

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Transkulturelle, globalisierende und überzeitliche Bestimmungen dieser Art können grundsätzlich skeptisch stimmen, weil sie Unterschiede und Spezifika einzuebnen drohen. Deshalb ist unter dem Vorzeichen dieser allgemeinen Präsenz des Phänomens gerade jeweils genauer nach dem kulturellen Kontext und der jeweiligen Form und Funktion des Erzählens zu fragen. Gegenwärtig ist in diesem Sinne zum Beispiel zu reflektieren, wie die digitale Kultur das Erzählen verändert, indem Interaktivität ins Zentrum rückt. Rezipienten können jetzt nicht nur imaginativ, sondern real aktiv Teil der Erzählung werden, indem sie u.a. in Computerspielen in Erzählverläufe eingreifen und Erzählentscheidungen treffen, die alternative Verläufe initiieren.6 Die Einsicht, dass Erzählen und Spielen, homo narrans und homo ludens, eng verwandt sind, ist dabei auch Teil der narrativen Theoriebildung.7 Zu den Grundanliegen des Erzählens gehört es, die Erfahrungen der eigenen Zeitlichkeit und Endlichkeit zu strukturieren und zu verarbeiten: »[D]ie Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.«8 Das Ausgespanntsein des Lebens zwischen Erinnerung, Augenschein und Erwartung bzw. zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird narrativ in mitteilbare Handlungsstrukturen überführt, die vom einfachen Plot bis zur komplexen Erzählstruktur reichen. Der Prozess des Erzählens erstreckt sich dabei im Anschluss an Paul Ricœur über eine erste Vorstrukturierung/Präfiguration (Mimesis I) und die folgende bewusste Gestaltung/Konfiguration (Mimesis II) bis zur aktiven Rezeption/Refiguration (Mimesis III), in der die Erzählung in der individuellen Resonanz ihre Bedeutung entfaltet.9 Dabei verhalten sich Erzählungen in vielfältiger Weise zu den Kontingenzen des Lebens. Sie tun dies keineswegs nur in der Form der Kontingenzbewältigung, der Sinn- und Ordnungsstiftung, sondern ebenso in Formen der Inszenierung oder Verstärkung von Kontingenzerfahrungen und der Destabilisierung verfestigter Sinnformen und Ordnungsstrukturen. In besonderer Weise sind Erzählungen dabei durch die Erfahrungen des Todes herausgefordert. Dabei führt die semantische Unbestimmbarkeit des 6

  Vgl. Dennis Eick: Digitales Erzählen. Die Dramaturgie der Neuen Medien, Konstanz/München 2014; David Lochner: Storytelling in virtuellen Welten, Konstanz/ München 2014. 7   Vgl. dazu Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 42017, 13–15. 8   Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung, München 1988, 13. 9   Vgl. dazu ausführlich Martina Kumlehn: Geöffnete Augen – gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneutische Studien zur Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik, Berlin/New York 2007, 253–279.

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Todes jedoch nicht einfach ins Schweigen, sondern setzt vielmehr gerade die ganze Fülle der Imaginationskraft aus sich heraus. Vom Ende zu erzählen, heißt auch, die menschliche Zeit in unterschiedlicher Weise zu bewerten und dabei möglicherweise bis zur Entwicklung von Vorstellungen eines Jenseits der Zeit vorzudringen, die sich fragmentarisch verbildlichen und erzählend entfalten.10 Man kann die Erzählung als einen »sozialen Begegnungsort« begreifen: »Wie auf einem großen Forum gibt sie divergenten Stilhaltungen, Sprechweisen, Redepositionen und Fokalisierungen Raum […]; sie kann sich bei der Konstruktion der erzählten Welt sogar noch selbst beobachten und kommentieren.«11 Dabei ist besonders relevant, dass Erzählungen in verschiedenen Schichten wachsen können und in besonderer Weise in der Lage sind, Dynamik und Wandel zum Ausdruck zu bringen. Sie können eine Vielfalt nicht harmonisierter Stimmen in sich aufnehmen und gerade dadurch ihre Wirkmächtigkeit erhöhen.12 Zudem können durch Weitererzählen, Umerzählen, Neuerzählen kreative Geflechte des In-, Mit- und Gegeneinanders verschiedener Narrative entstehen, die über bestimmte Motive und Erzählfäden vielstimmig verwoben und spannungsreich aufeinander bezogen sind. Erzählungen sind als komplexe Deutungen von Selbst und Welt zu begreifen und sie partizipieren damit an dem, was von Deutungen als interpretativen Welterschließungsakten zu sagen ist, ja sie sind in »einen impliziten oder expliziten Streit um Deutungen«13 eingebunden. Deutungen generieren Bedeutung und konstruieren Phänomene der Wirklichkeit im Repräsentationsmodus, indem etwas als etwas gedeutet wird. Sie sind »bewusste, meist intentionale (also gerichtete […]) Erschließungen von Teilen objektiver, subjektiver und fiktionaler Wirklichkeit«14. Sie können als Antwort, als Reaktion auf das verstanden werden, was uns widerfährt, begegnet, gegenübertritt. Das heißt, das andere der Deutung wird aufrechterhalten, es fordert heraus und ist widerständig, aber es ist uns eben nur in der Deutung zugänglich. Es ist nicht alles Deutung, aber ohne Deutung – und sei der Vorgang noch so elementar – ist für uns nichts von Bedeutung. Dabei ist ein wechselseitiges Verhältnis vorauszusetzen: Vorgängige Erfahrungen beeinflussen Deutungen, 10

 Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit, München 1991, 422. 11  Koschorke: Wahrheit, 20. 12  Vgl. a.a.O., 21. 13  Gerhard Büttner: Von der religiösen Wirklichkeit erzählen. Narratologische Impulse für die Religionspädagogik, in: Gerhard Büttner/Hans Mendl/Oliver Reis/Hanna Roose (Hrsg): Narrativität, Babenhausen 2016, 9–22, 12. 14  Heiner Hastedt: Was ist ›Deutungsmacht‹? Philosophische Klärungsversuche, in: Philipp Stoellger (Hrsg.): Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014, 89–102, 91.

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aber Deutungen können auch allererst die Überführung von Erlebnissen in kommunizierbare Erfahrungen bzw. die Erneuerung oder Umcodierung von bisherigen Erfahrungen ermöglichen. Das ist in (religiösen) Bildungsprozessen höchst relevant: Deutungsmuster prägen Erfahrungsmöglichkeiten und -welten, wenn diese sich erweitern, verändert sich auch die Möglichkeit der Weltbegehung. In modaler Hinsicht sind narrative Deutungen einerseits dann besonders mächtig, wenn es ihnen gelingt, in diesem Sinne ganze Ordnungsgefüge in Frage zu stellen bzw. Grenzen des Gefüges zu verschieben oder neu zu justieren, um so neue Möglichkeitsräume und Perspektiven auf die Wirklichkeit zu eröffnen; andererseits sind sie es konträr auch dann, wenn sie in stiller Weise und quasi selbstverständlich anerkannt unsere Handlungsoptionen steuern. Deutungen sind immer fragmentarisch, selektiv, perspektivisch und je komplexer sie werden, umso strittiger sind sie. Dass wir das Ganze der Welt nicht in einer Deutung erfassen können oder dass keine Erzählung die Komplexität der Wirklichkeit darstellen kann, spiegelt auf der Ebene der Form die Grunderfahrung der Fragmentarität und Unverfügbarkeit von Wirklichkeit wider, zu der sich Religionen in spezifischer Weise verhalten und für die sie entsprechende Deutungsmuster anbieten. Religion als ein eigener Modus der Weltbegegnung kann als eine »geschichtlich gewordene Weise sprachlicher Selbstdeutung«15 des Menschen verstanden werden, und zwar als »Deutung von Erfahrung im Horizont des Unbedingten«16, die sich im Akt der religiösen Kommunikation verwirklicht: »Erst durch die religiöse Beschreibung des Sich-Verstehens, also die Aneignung von symbolischen Formen und deren Benutzung für die Selbstdarstellung des Sich-Verstehens, bildet sich Religion als eine Sinnform in der Kultur heraus und setzt sich durch Kommunikation fort.«17 Zu diesen elementaren Sinnformen, in denen sich religiöse Kommunikation ereignet und vermittelt, gehören neben symbolischen, metaphorischen und rituellen Praxen vor allem narrative Traditionen. Damit verbindet sich die Einsicht, »dass die Figurationen unseres Glaubens letztlich nur in narrativer Gestalt zu haben sind und die Frage nach einer dahinter liegenden ›Wirklichkeit‹ […] nicht endgültig zu beantworten ist.«18 Biblisch wird Gott nicht primär erklärt, sondern es wird von Erfahrungen erzählt, die mit Gott in Verbindung gebracht werden und das in vielfältiger Weise, wobei die 15

 Christian Danz: Sprache, Kommunikation, Religionsunterricht. Theologische Annäherungen, in: Andrea Schulte (Hrsg.): Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht, Leipzig 2018, 21–38, 27. 16  Ulrich Barth: Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung, in: Ulrich Barth: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–27, 10. 17  Danz: Sprache, 29. 18  Büttner: Von der religiösen Wirklichkeit, 11.

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exegetische Forschung nicht nur die klassischen Erzählstoffe im Blick hat, sondern narrative Elemente zum Beispiel auch in der Prophetie, der Weisheit und in der paulinischen Theologie herausarbeitet.19 Dabei kann die Bibel als Ganze als »ein Narrativ mit Welt erzeugender Funktion« verstanden werden, das umfassende Weltdeutungen anbietet, die bestimmte Lebensstile und Handlungsoptionen aus sich heraussetzen, ohne dabei einstimmig oder eindimensional zu sein. Vielmehr ist die Bibel ein Paradebeispiel für spannungsreiche Vielstimmigkeit des Erzählens, das sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gott anbietet und dabei zum Teil diametral entgegengesetzte Weltdeutungen kommuniziert.20 Diese wenigen Andeutungen zum Hintergrund der elementaren Bedeutung des Erzählens für menschliche Kultur lassen bereits Bezüge zur religiösen Bildung entdecken. Um ihr Potential für das Verstehen religiöser Kommunikation zu erfassen, ist immer wieder zu fragen, welchen Beitrag biblische und andere religiös valente Erzählungen zur Verarbeitung von Zeitlichkeit und Kontingenz leisten und wie sie Vielstimmigkeit erzeugen, um darin die zentralen Motive und Schlüsselkategorien der jüdisch-christlichen Erzählwelten zu umkreisen und spannungsreich aufeinander zu beziehen. Sodann ist zu erschließen, wie der Streit um die Deutungen narrativ inszeniert wird und Anregungen für Positionierungen im Bildungsprozess bietet. Dabei ist wesentlich zu beachten, welche Perspektivenwechsel, Umwertungen und Ordnungsirritationen sowohl innerhalb einer Erzählung als auch in den größeren Erzählzusammenhängen zu entdecken sind und worin jeweils ihr Ermöglichungs- und Verunmöglichungspotential bestimmter Selbst- und Weltdeutungen liegt. Ebenso ist zu erheben, welche Aspekte personaler und non-personaler Deutungsmacht die Wirkung einer Erzählung bestimmen und wie mit offenen und verdeckten Deutungsmachtansprüchen umzugehen ist.21 Schließlich ist zu fragen, wie das Potential von Umerzählung, Neuerzählung und Weitererzählung in spannungsreichen Kombinationen mit medial vermittelten Gegenwartsnarrativen hermeneutisch zu entfalten ist. Dieser erste und allgemeine Zugriff lässt sich mit Blick auf einen 19

 Vgl. Mirjam Zimmermann: Erzählen, in: Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann (Hrsg.): Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2013, 475–482, 476; weiterhin zum Beispiel Stefan Alkier: Paulus erzählt. Narrativität, Intertextualität und Rezeptionsästhetik der paulinischen Briefe, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 63 (2011), 38–47. 20  Vgl. Irmtraut Fischer: Dokumentierte Welt versus Welt erzeugende Erzählung. Aspekte zur Sinn stiftenden Funktion der Bibel, in: Gerhard Büttner/Hans Mendl/ Oliver Reis/Hanna Roose (Hrsg): Narrativität, Babenhausen 2016, 23–32, 25. 21  Vgl. Martina Kumlehn: Deutungsmacht und Deutungskompetenz – Deutungskonflikte im Kontext religiöser Bildung, in: Philipp Stoellger (Hrsg.): Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014, 539–561, insbesondere 555–561.

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wesentlichen Bereich religiöser Bildung, nämlich den kritischen Umgang mit den Geltungsansprüchen religiöser Erzählungen bzw. ihrem möglichen Wahrheitsgehalt, vertiefen.

1.2 Fiktionalität und Wirklichkeitsreferenz Es gehört zu den elementaren Anliegen religiöser Bildung zu vermitteln, dass der Wahrheitsbegriff selbst vieldimensional zu verstehen ist und dass es im Erschließen religiöser Kommunikation und ihrer Bedingungen nicht darum gehen kann, »vorwissenschaftliche Sachverhaltsbehauptungen für wahr halten zu sollen«22 bzw. den Wahrheitsbegriff auf verifizierbare Tatsachenüberprüfung zu reduzieren. Zugleich ist jedoch auch festzuhalten, dass damit die Wahrheitsfrage nicht suspendiert oder erledigt ist, sondern dass vielmehr zu differenzieren ist, wie sich religiöse Rede auf die Wirklichkeit beziehen und Gewissheitserfahrungen in sich kohärent kommunizieren kann.23 Religiöse Bildung bedeutet demnach »die Einsicht in den Zusammenhang und in die notwendige Unterscheidung von Wirklichkeitsdeutung und Wahrheitsgewissheit« und sie »klärt über die Modi des Erkennens von Wahrheit auf.«24 Dazu gehört angesichts der narrativen Struktur religiöser Rede gerade auch im biblischen Kontext ein offener und produktiver Umgang mit den fiktionalen Anteilen und ihrem Potential einer vielstimmigen und verdichteten Wirklichkeitsrepräsentanz. Denn der religiöse Weltzugang ist wesentlich dadurch bestimmt, dass er auf Transzendenzerfahrungen rekurriert, die über das Vorfindliche hinausführen und die in ihrer Darstellung auf Imagination angewiesen sind. Die Kommunikationsmodi religiöser Rede sind von daher unhintergehbar auf die Innovationskraft von Metaphern und vor allem Erzählungen angewiesen, um das Unsagbare sagbar zu machen und darin als Unsagbares bewusst zu halten. Sie partizipieren vielfältig an der modalen Macht des Fiktionalen, die in ganz besonderer Weise mit den Grenzen des Möglichen und Unmöglichen spielt bzw. den »Möglichkeitssinn« anregt.25 Fiktionen können mit Ricœur

22

 Bernhard Dressler: Wahrheiten und Vielfalt der Weltzugänge im Kontext religionspluraler Bildung, in: Ilona Nord/Thomas Schlag (Hrsg.): Renaissance religiöser Wahrheit. Thematisierungen und Deutungen in praktisch-theologischer Perspektive, Leipzig 2017, 171–184, 172. 23  Zum Kohärenzkriterium vgl. Christof Landmesser: Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 68 (2016), 19–30. 24  Michael Meyer-Blanck: Unterscheiden, was zusammengehört. Zum Verhältnis von Wahrheitsfrage und Wirklichkeitsdeutung im Kontext religiöser Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 68 (2016), 7–18, 8f.

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als Laboratorien der Existenz verstanden werden, die unseren Existenzhorizont erweitern. Sie eröffnen Möglichkeiten des Neu- und Anders-Sehens der Wirklichkeit; Möglichkeiten, in die hinein das Selbst sich probeweise, experimentell entwerfen kann.26 Sie bilden das Gegebene nicht ab, sondern verdichten Erfahrungen und entwerfen neue Wahrnehmungsmodi. Dabei lösen sie sich jedoch nicht einfach von der Welt. Auch in religiösen Erzählungen sind Fiktion und Realität nicht einfach strikte Gegensätze, sondern es gibt verschränkte Referenzen, Fiktionalisierung der historischen Referenzen und Historisierung des Fiktionalen.27 Es geht um gleitende Übergänge zwischen Fiktion und Realität, die das »Wirkliche im Horizont vorstellbarer Alternativen erscheinen lässt«28. Dabei ist »Glaubhaftigkeit, nicht Objektivität«29, das entscheidende Erfolgskriterium einer Erzählung. Paradoxerweise scheinen die möglichen Welten mit der Zunahme der Radikalität ihrer Umcodierungen, die sie bezüglich unserer Welterfahrung vornehmen, an Faszinationskraft zu gewinnen statt zu verlieren, weil mit dem Zusammenbruch gewöhnlicher Wahrnehmungsbedingungen die Aufmerksamkeit für die konstruierte Botschaft und die Lust, sie zu entschlüsseln, zunehmen.30 Interessant ist zum Beispiel, wie gerade die Erzählgattungen des Gleichnisses und des Wunders dieses spannungsreiche Ineinander von inszenierter Fiktionalität und Realität in die eigene Erzählweise aufnehmen. So kann man bei Wundern »die Erzählweise als historisch bzw. faktual, den Erzählinhalt als phantastisch bzw. fiktiv betrachten.«31 Und bei Gleichnissen verhält es sich umgekehrt: »Die Erzählweise ist fiktional, der Erzählinhalt ist insofern durch Faktizität geprägt, als die erzählten Ereignisse passieren könnten und z.T. täglich passieren.«32 Diese Spannungen müssen in der hermeneutischen Erschließung selbst zum Thema werden: Warum wird so erzählt, dass die Pole nicht in einander aufgelöst werden? Wie soll unsere Wahrnehmung dessen, was wir für möglich halten, und wie soll unsere Wirklichkeitsdeutung durch 25

25

 Vgl. dazu jüngst wieder Georg Langenhorst: »… darüber muss man dichten«. Plädoyer für die theologische Beachtung poetischer Wahrheit, in: Ilona Nord/Thomas Schlag (Hrsg.): Renaissance religiöser Wahrheit. Thematisierungen und Deutungen in praktisch-theologischer Perspektive, Leipzig 2017, 89–102, 93. 26  Vgl. Ricœur: Zeit. Band I, 127. 27  Vgl. Ricœur: Zeit. Band III, 162f. 28  Koschorke: Wahrheit, 397. 29  A.a.O., 335. 30  Vgl. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München 21999, 272. 31  Ruben Zimmermann, zitiert nach Hanna Roose: Wundererzählungen und Gleichnisse im Geflecht von Faktualität und Fiktionalität. Narratologische, theologische und didaktische Perspektiven, in: Gerhard Büttner/Hans Mendl/Oliver Reis/Hanna Roose (Hrsg): Narrativität, Babenhausen 2016, 62–72, 65. 32  Ebd.

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diese Verschränkung gelenkt werden? Wie soll das Fiktionale Hoffnung offenhalten und wie soll im Realen das Transzendente aufscheinen?33 Entsprechend ist im Kontext religiöser Bildung zu fragen, wie im Horizont der Gottesidee diese Welt als andere erzählt wird und wie diese Erzählungen sich in der je eigenen Lebenswirklichkeit bewahrheiten können, indem sie Leben neu und anders erfahren, deuten und verstehen lassen und damit alternative, tragfähige Lebensentwürfe ermöglichen. Dass sie in ihrer lebenserschließenden Kraft glaubhaft erscheinen oder religiös gesprochen Glauben ermöglichen, ist dabei in theologischer Deutungsperspektive unverfügbar und didaktisch nicht operationalisierbar. In religiösen Bildungsprozessen gilt es zunächst, das Identitätsbildungspotential des Fiktionalen zu heben, jedoch zugleich Reflexionsprozesse über die Wirkweise der Erzählungen und ihre Geltungsansprüche einzubauen. Das Spannungsfeld von Fiktionalität und Realität kann nicht aufgelöst werden, aber religiöse Bildung kann dazu beitragen, sich in ihm grenzbewusst zu bewegen. Religion ist eine spezifische Kultur der Pflege des welterschließenden Potentials von Erzählungen im Horizont von Transzendenzerfahrungen und muss als Gebildete zugleich immer Religions- und Fiktionalitätskritik mit sich führen.

2. Ausbildung religiöser narrativer Identität Bisher ist über die Erzählung im Kontext religiöser Bildung vom Pol der Sache aus nachgedacht worden. Vieles von dem, was über den Charakter des Erzählens ausgeführt worden ist, lässt sich jedoch auch auf die Subjekte und ihre biographischen Erzählungen übertragen, die sich ebenfalls zwischen »Dichtung und Wahrheit« bewegen. Diese Erkenntnisse bündeln sich in der Vorstellung einer narrativen Identität, die sich im konstitutiven Erzählen vom eigenen Leben ausbildet und dabei – wie am Beispiel von Macron schon angedeutet – auf die Erzählungen zurückgreift, in deren Spiegel das eigene Leben gedeutet wird.34

2.1 Die Dynamik narrativer Identität Die Rede von narrativer Identität setzt eine fluide Identität im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel voraus. In der Korrelation der Prinzipien »erkenne dich selbst« und »erzähle dich selbst«35 werden die anthropologi33

 Vgl. Roose: Wundererzählungen, 69–72, die etwas anders akzentuiert.  Vgl. ausführlicher zum Folgenden Martina Kumlehn: Leben (anders) erzählen: Narrative Identität als religionspädagogische Bildungsaufgabe, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 64 (2012), 135–145. 35  Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Frankfurt am Main 2007, 10. 34

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schen Bestimmungen des homo narrans entfaltet, die auf das unauflösliche Verstricktsein der menschlichen Existenz und ihres Selbstverständnisses in lebensdeutenden Geschichten, die niemals einen absoluten Anfangs- und Endpunkt haben, verweisen. Selbsterzählungen hängen dabei zum einen durchaus von der Deutungsmacht kulturell prägender Erzählungen ab, insbesondere auch von akzeptierten Erzählstrukturen, zum anderen von den materiellen und kulturellen Ressourcen bzw. dem »Set von relativ andauernden und integrierten fundamentalen Überzeugungen, Prinzipien und Entscheidungen«36, auf die das Selbst aktuell zurückgreifen kann. Die Ausbildung narrativer Identität zeigt sich also nicht als »singuläre Großtat, sondern als unablässige Positionierungsarbeit«37, während der das Selbst seine Freiheitsgrade im symbolischen Raum des Erzählens in Relation zu den Vorgaben seiner sozio-kulturellen Umwelt auslotet und gestaltet. Erfahrungen von Identität und Alterität, Analogie und Differenz, Fragmentarität und Brüchen sind in die Selbsterzählungen gleichermaßen aufzunehmen und sie finden eine Entsprechung in der Erfahrung des Selbst, dass Erzählungen von sich oder dem eigenen Leben im Rahmen von Kontingenzbewältigungsstrategien, die Zufälliges in eine »nachträgliche narrative Kontrolle«38 überführen, zugleich etwas enthüllen und verbergen. Diese Erfahrung, dass immer auch etwas nicht gezeigt wird bzw. sich dem Erzählen entzieht, spitzt sich in der Einsicht zu, dass sich das Selbst im Prozess des Erzählens damit immer auch entzogen bleibt. In christlich-religiöser Deutungsperspektive kann diese Grunderfahrung vielfältig reformuliert und damit auch noch einmal anders erzählt werden, indem Identität im Letzten als verdankte gedacht wird, die eben nicht nur durch eigene Anstrengung selbst hergestellt werden muss, sondern vom Zuspruch und vorgängig Gewährtem lebt. In dieser Weise können Erzählungen von Rechtfertigung in die Selbsterzählungen verstrickt werden. Entsprechend kommt der Ressourcenbildung für die Formen der Selbsterzählung in (religiösen) Bildungsprozessen erhebliche Bedeutung zu. Von den geprägten und vorgefundenen Erzählungen, »mit denen uns das Leben vertraut gemacht hat«39, erwartet Ricoeur, dass sie insbesondere die individuel36  Heiner Keupp/Thomas Ahbe/Wolfgang Gmür/Renate Höfer/Beate Mitzscherlich/Wolfgang Kraus/Florian Sraus: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 1999, 224. 37  Wolfgang Kraus: Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz der narrativen Identität, in: Jürgen Straub/Joachim Renn (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt am Main 2002, 159–186, 182. 38  Brigitte Bothe: Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess, Stuttgart 2011, 7. 39  Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 199.

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le Verarbeitung von Neuanfängen und Brüchen bzw. Beendigungen von Lebensabschnitten, die ihnen in der Regel vorausgehen, erleichtern. In diesem Zusammenhang kommen dann auch die ethischen Implikationen der Erzähltheorie besonders in den Blick, da mit »performativen Rückkopplungen«40 zu rechnen ist. Erzählungen entstehen nicht nur aus den lebensweltlichen Zusammenhängen, sondern sie wirken vielfältig auf diese zurück. Erzählungen können praktisch werden und soziale Verhaltensweisen prägen, indem aus der Erzählvorlage ein Skript wird, »an dem sich die Verhaltensweisen, Selbstdefinitionen und dadurch vermittelt auch Objektwahrnehmungen ausrichten.«41

2.2 Religionsdidaktische Impulse zur Horizont    erweiterung individueller narrativer Identität Nimmt man die dargestellten Konstitutionsbedingungen und die hermeneutischen Potentiale narrativer Identität in religionsdidaktischer Perspektive wahr, so lassen sich verschiedene Handlungsimpulse zur Unterstützung ihrer Ausbildung avisieren, ohne Theologie als Ganze narrativ begreifen42 oder die Religionspädagogik einseitig narrativ rekonstruieren zu wollen. In dem Fokus narrativer Identitätsbildung sind jedoch gezielt Freiräume für Experimente des Sich-Erzählens im Horizont der christlichen Erzähltraditionen zu eröffnen.43 Man könnte den Religionsunterricht auch als Arbeit am Erzählrahmen individueller narrativer Identität begreifen, der die Möglichkeiten des Sich-Erzählens bzw. des Vom-Leben-Erzählens im kulturellen Umfeld des Christentums zu erweitern versucht. Es gilt mit den Jugendlichen selbst zu eruieren, was es für sie heißt, dass sie sich in einer permanenten narrativen Positionierungsarbeit befinden. Selbstverständlich gehören dazu auch Formen der begleiteten Selbstreflexion mit Blick auf das eigene Erzählverhalten. Es ist mit den Jugendlichen zum Beispiel zu erheben, wie sie die Möglichkeiten und Gefahren wahrnehmen, die sich durch die auf Dauer gestellte Selbsterzählung in Erzählforen wie Blogs, Facebook und Twitter ergeben. In diesem Zusammenhang wäre eine enge Vernetzung mit den Bildungsbemü-

40

 Korschorke: Wahrheit, 23.  A.a.O., 23f. 42  Vgl. dazu exemplarisch Knut Wenzel: Zur Narrativität des Theologischen. Prolegomena zu einer narrativen Texttheorie in soteriologischer Hinsicht, Frankfurt am Main 1997. 43  Vgl. Heinz Streib: Erzählte Zeit als Ermöglichung von Identität. Paul Ricoeurs Begriff der narrativen Identität und seine Implikationen für die religionspädagogische Rede von Identität und Bildung, in: Dieter Georgi/Michael Moxter/Hans-Günter Heimbrock (Hrsg.): Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994, 181–198. 41

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hungen im Rahmen medialer Identitätsinszenierung und den Authentizitätsdebatten anzustreben. Setzt man bei der narrativen Verortung der Schülerinnen und Schüler in der Gegenwartskultur an, dann hat eine erfahrungsorientierte Religionspädagogik nicht nur nach den gegenwärtig relevanten Foren des Erzählens zu fragen, sondern zugleich auch nach den komplexen, die Alltagswelt selbst oft gerade durchbrechenden narrativen Erfahrungen und Weltentwürfen zu suchen, die die Jugendlichen in der Art und Weise, wie sie von sich und ihrem Leben erzählen, nachhaltig beeinflussen. Dazu gehört die Wahrnehmung wirkmächtiger Erzählungen im gesamten Feld der Gegenwartskultur, insbesondere natürlich auch im Rahmen der Verhältnisbestimmungen von Kinderund Jugendliteratur und Religion.44 Diese Erzählungen sind in verschiedenen didaktischen Settings in eine spannungsreiche Relation zu den christlichen Erzähltraditionen zu bringen, so dass sich sowohl aus den Analogien als auch vor allem aus den Differenzen eine anregende Ressourcenbildung für die erweiterte Art und Weise, vom eigenen Leben erzählen zu können, ergibt. Religionsdidaktisch dynamisch erweisen sich dabei gegenwärtig vor allem auch thematische Felder, die in besonderer Weise mit der Verarbeitung gesteigerter Heterogenität zu tun haben, wie zum Beispiel im Kontext von Fluchterfahrungen45, interreligiösen Begegnungen46 und Inklusion47.

44  Vgl. Mirjam Zimmermann/Jana Mikota (Hrsg.): Doppelinterpretationen – Religion in der Kinder- und Jugendliteratur, Baltmannsweiler 2018. 45  Vgl. zum Beispiel Martina Kumlehn: Perspektivenwechsel und narrative Verdichtung: Hermeneutische Zugänge zum Thema Flucht im Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), 48–58. 46  Vgl. Christoph Gellner/Georg Langenhorst: Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013; Mirjam Zimmermann: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen 2015. 47  Vgl. Katharina Kammeyer/Bernt Roebben/Britta Baumert (Hrsg.): Zu Wort kommen. Narration als Zugang zum Thema Inklusion, Stuttgart 2015.

Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie Erarbeitet an Forschungen über die Bildungsklassiker Christian Gotthilf Salzmann (1934/1966) und Adolph Diesterweg (2016) Rainer Lachmann

1. Thematische Einführung Historische Pädagogik bzw. Religions-Pädagogik, in denen das Zusammenspiel von Religion und Bildung seit den Anfängen eine nicht zu übersehende und übergehende thematische Relevanz besitzt, begegnen bei ihren Forschungen zu den großen Persönlichkeiten, den sog. Klassikern ihrer Disziplin, immer wieder dem Phänomen, dass diese Pädagogen bzw. Religionspädagogen ganz dezidiert im Lichte einer anderen Wissenschaftsdisziplin gesehen werden. Meist sind das mehr oder weniger verwandte Nachbarwissenschaften, die wissenschaftstheoretisch gleichsam als Bezugswissenschaften im interdisziplinären Konnex und Kontext fungieren. In der wissenschaftlichen Diskussion fristen solche Arbeiten – oft titelmäßig verbunden mit der Konnotation »gesehen im Lichte von« – ein eher marginales Dasein. Gerade deswegen kann eine intensivere Beschäftigung mit solchen Forschungsarbeiten im Fragenhorizont der (religions-)pädagogischen Klassiker interessante Perspektiven eröffnen. Konzentrieren wir uns hier auf die Psychologie als interdisziplinäre Bezugswissenschaft von und für primär in der Wissenschaftsdisziplin »Pädagogik« beheimatete Klassiker, so könnte sich etwa die Frage stellen, auf welchem wissenschaftstheoretischen Hintergrund die Religions-Pädagogik in bezugswissenschaftlicher Interdisziplinarität mit der Psychologie kooperiert und davon möglicherweise auch sachdienlich profitiert? Sobald man sich auf diese Forschungsaufgabe einlässt, vermittelt sie Einsichten unter dem Doppelaspekt zweier Wissenschaften: hier der psychologisch betrachteten Pädagogik und da der betrachtenden Psychologie. Das macht diese interdisziplinäre Perspektive so interessant, zumal unter der wissenschaftlichen Literatur zu den (religions-)pädagogischen Klassikern kaum Veröffentlichungen existieren, die insbesondere die psychologische

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Fremdsicht an das pädagogisch bestimmte und thematisierte Werk anlegen und es so gleichsam interdisziplinär »belichten«. Als aktuelles Beispiel kann hier das von Lotte Köhler aus Anlass des 150. Todesjahres Adolph Diesterwegs geschriebene Buch »Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866). Psychoanalytische Betrachtungen zu seiner Biografie« stehen, das – herausgegeben von Horst F. Rupp – 2016 im Psychosozial-Verlag (Gießen) erschienen ist.1 Die besondere Würze erfährt diese 144-seitige Studie durch ihre Autorin Lotte Köhler; denn diese ist nicht nur »›gelernte‹ Medizinerin und Psychoanalytikerin«2, sondern auch »direkte Nachfahrin Diesterwegs«3, dessen Tochter Julie (1820–1874) – verheiratet mit dem Arzt Heinrich Köhler – ihre Urgroßmutter war. Das verschaffte Köhler Zugang zum reichhaltigen Familienarchiv und gab ihrer fachlich kompetenten psychoanalytischen Betrachtungsweise noch eine zusätzliche eigene Note. Diese Köhler’sche Schrift erinnert Salzmann-Kenner an die Marburger Dissertation von Margot Hochheim aus dem Jahr 1934 mit dem Titel »Der Pädagoge Salzmann gesehen im Lichte der Integrationstypologie« (55 Seiten), erschienen im Julius Beltz-Verlag (Langensalza).4 Nicht nur, dass diese Arbeit genau die eben anvisierte Forschungsperspektive in den Blick rückt, indem sie einen großen Pädagogen – in vielerlei Hinsicht aufklärerischer Vorgänger Diesterwegs – im psychologischen Licht betrachtet, sondern auch weil es sich bei der Verfasserin Margot Hochheim um eine »direkte Nachfahrin« Christian Gotthilf Salzmanns (1744–1811) handelt.5 Etwas älter als Lotte Köhler widmet sie ihre Dissertation »dem Andenken meines Urahnen Christian Gotthilf Salzmann zum 150jährigen Stiftungsfest seiner Erziehungsanstalt«6, das am 7. März 1934 in Schnepfenthal gefeiert wurde. Ihre Doktorarbeit wurde am 20. Juni 1934 von der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität zu Marburg angenommen und nach erfolg1   Vgl. Lotte Köhler: Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866). Psychoanalytische Betrachtungen zu seiner Biografie, Gießen 2016. 2   Horst F. Rupp: Vorwort des Herausgebers, in: Lotte Köhler: Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866). Psychoanalytische Betrachtungen zu seiner Biografie, Gießen 2016, 7–13, 11. 3   Ebd. 4   Vgl. Margot Hochheim: Der Pädagoge Salzmann. Gesehen im Licht der Integrationstypologie, Marburg 1934 (Inaugural-Dissertation). 5   Sie leitete ihre Salzmann-Nachkommenschaft ab von Bertha Hochheim geb. Ausfeld, welche die Tochter von Wilhelm Ausfeld (1848–1880), dem 3. Direktor der Erziehungsanstalt Schnepfenthal (1848–1880), und Enkelin der Salzmann-Tochter Johanna (1790–1870) war. Geboren wurde Margot Hochheim (verheiratet Langerbein) am 28. September 1903 als Tochter des Studienrats Franz Hochheim in Weißenfels und studierte ab 1928 zuerst in Leipzig und dann in Marburg, wo sie auch promovierte. 6   Margot Hochheim: Der Pädagoge Salzmann. Gesehen im Licht der Integrationstypologie, Berlin 1939. Widmung.

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reicher mündlicher Prüfung noch 1934 im Julius Beltz Verlag (Langensalza) gedruckt.7 Berichterstatter und Prüfer in diesem Promotionsverfahren war der Marburger Professor Dr. Erich Rudolf Jaensch (1883–1940), der die Doktorarbeit auch betreut hatte. Genaueres Hinsehen lässt schnell die interessante, ja pikante Note erkennen, welche uns Hochheims Betrachtung des Pädagogen Salzmann »mit den Hilfsmitteln, die die moderne Psychologie in der Form der Typenlehre der Marburger Schule von E. R. Jaensch«8 zur Verfügung stellt, bietet. Denn Jaensch war zu seiner Zeit ein sehr einflussreicher Psychologe und Hochschulprofessor, der der nationalsozialistischen Ideologie und Bildungspolitik mehr als nahe stand! Verglichen mit Lotte Köhlers psychoanalytischen Betrachtungen zum Lebens- und Bildungslauf ihres Ururgroßvaters, die sie in persönlich wie politisch und wissenschaftlich relativ ruhiger Zeit zu Beginn des neuen Jahrtausends anstellt, begegnet uns im Jahr 1934 ein total anderes politisches Szenarium, auf dessen Hintergrund Margot Hochheim aus »[e]rerbte[r] Neigung«9 und eigener pädagogischer Erfahrung und »Mitarbeit«10 in Schnepfenthal ihre psychologische Belichtung Salzmanns wissenschaftlich angeht. Kaum zu vergleichen, will man meinen, und doch soll ein solcher Vergleich in komparativer (religions-)pädagogischer Historiographie gewagt und gefragt werden, was jeweils die psychologischen bzw. psychoanalytischen Betrachtungen mit und aus Salzmanns und Diesterwegs (Religions-)Pädagogik in interdisziplinärer Bezogenheit »gemacht« haben. Hermeneutisch öffnet solches Fragen den Blick auf Möglichkeiten und Grenzen von Werkbetrachtungen aus der Sicht fremder Wissenschaften, in unserem Fall der humanwissenschaftlichen Nachbarwissenschaft »Psychologie« mit dem großen psychologisch-pädagogischen Überschneidungsfeld.

7

  Das in der »C. G. Salzmann-Bibliographie« von Wolfgang Pfauch und Reinhard Röder (Weimar 1981, 255f.) angegebene Dissertationsdatum vom 14. Februar 1940 ist ebenso falsch wie das Erscheinungsjahr der Druckfassung im Beltz Verlag 1939, vgl. Margot Hochheim: Der Pädagoge Salzmann. Gesehen im Licht der Integrationstypologie, Marburg 1934 (Inaugural-Dissertation). Die »auch im Buchhandel bei J. Springer« erhältliche Ausgabe erschien ohne Verweis auf die Dissertation auch 1939 in Berlin. Danach wird im Folgenden zitiert! 8   Hochheim: Der Pädagoge, Vorwort. 9   Ebd. 10   Ebd.

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2. Christian Gotthilf Salzmann mit und    ohne interdisziplinärer »Belichtung« 2.1 Christian Gotthilf Salzmann »im Lichte   der Integrationstypologie« Richtungsweisender Ausgangspunkt soll Hochheims Dissertation »Der Pädagoge Salzmann gesehen im Lichte der Integrationstypologie« von 1934 sein. Forschungsmäßig hätten wir sie gern noch durch die Dissertation von Wilhelm Schwab »Die Religiosität des Christian Gotthilf Salzmann gesehen im Lichte der Integrationstypologie« (Berlin 1941) ergänzt,11 weil sie wie Hochheims Arbeit bei Erich Rudolf Jaensch in Marburg geschrieben wurde. Der hier zur Verfügung stehende Platz lässt das aber leider nicht zu. Schon im knappen »Vorwort« erklärt Margot Hochheim, was sie sich von der psychologischen Belichtung des Pädagogen Salzmann verspricht: »eine Unterbauung mit den Hilfsmitteln, die die moderne Psychologie in der Form der Typenlehre der Marburger Schule von E. R. Jaensch darbietet«12, was »von größtem Nutzen für die Klärung pädagogischer Probleme sein müsste.«13 Danach wäre hier Jaenschs Integrationstypologie eine Art Hilfswissenschaft, um Salzmanns Pädagogik besser zu erfassen. Dabei belässt es Hochheim freilich nicht, sondern setzt noch eins drauf und erklärt die Marburger Integrationstypologie zum »logische[n] Ansatzpunkt […], zur tiefsten und vollständigen Erfassung der pädagogischen Gedanken und pädagogischen Arbeit Salzmanns, mit der er seiner Zeit bahnbrechend vorauseilte.«14 Das zeigt den hohen Anspruch und die große Wertschätzung, die Hochheim mit der integrationstypologischen »Erkenntnis und Darstellung der psychischen [nicht biographischen] Struktur Salzmanns, […] seine[r] pädagogische[n] Lehre und Arbeit«15, verbindet. Nach Meinung Hochheims wird damit auch »der Beweis geführt […], daß das neu propagierte, unter der Last fremder Gedankensysteme jahrhundertelang verschüttet gewesene ideale Leitbild aller Jugenderziehung, die organische Einheit von Geist und Körper, schon in den Zeiten westlicher Überfremdung des deutschen Denkens in Salzmann seinen begeisterten Vorkämpfer fand.«16 Diese angedeutete kulturkritisch weltanschauliche Attitüde ist hier zunächst den Zeitumständen von 1934 und der stark nationalsozialistisch be11

 Vgl. Wilhelm Schwab: Die Religiosität des Christian Gotthilf Salzmann gesehen im Lichte der Integrationstypologie, Berlin 1941. 12  Hochheim: Der Pädagoge, Vorwort. 13  Ebd. 14  Ebd. (im Original teils in Kapitälchen). 15  Ebd. 16  Ebd. (im Original teils in Kapitälchen).

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stimmten psychologischen Typenlehre des in diesen Jahren sehr einflussreichen Psychologen Erich Rudolf Jaensch geschuldet, dessen Arbeit sich von einem eher experimentellen Ansatz wahrnehmungspsychologischer Provenienz ab den 1920er Jahren mehr und mehr hin zu einer kulturanthropologischen Form geisteswissenschaftlicher Psychologie entwickelte, der die deutsch-völkische Ideologie des nationalsozialistischen Staates die leitende inhaltliche Struktur und Gestalt verlieh. Jaenschs bekanntestes Werk in dieser Richtung wurde sein 1938 in Leipzig erschienenes Buch »Der Gegentypus. Psychologisch-anthropologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie, ausgehend von dem was wir überwinden wollen«.17 Wes Geistes Kind diese Psychologie ist, wird dann unverhüllt offenbar in der Schrift »Das Wahrheitsproblem bei der völkischen Neugestaltung von Wissenschaft und Erziehung«, die Jaensch 1939, zwei Jahre vor seinem Tod, verfasste!18 Es fällt nicht schwer, sich die Rolle und Funktion einer so geprägten Psychologie für den Umgang mit pädagogischen Werken und Klassikern vorzustellen: Sie werden über den kritischen Leisten dieser ideologisch fixierten psychologischen Theorie gespannt, von daher verstanden, kritisiert, benutzt, verbogen oder auch verworfen. Ihre scharfe »Rasierklinge« mutiert dann im bezugswissenschaftlichen Prozess interpretativer Belichtung zum absoluten Leitmaßstab, der Eigenart und Wesen des klassischen Pädagogen und seiner Pädagogik eher verzeichnet als, wie erhofft, erhellt und tiefer erfasst. Hochheims Dissertation kann als Fall der psychologischen Integrationstypologie von Jaensch zum Exempel und Muster bezugswissenschaftlichen Umgangs mit einer leitend von der nationalsozialistischen Weltanschauung bestimmten Psychologie werden. Dabei ist die Salzmann-Nachfahrin immerhin darum bemüht, sowohl der Typologie ihres »verehrten Lehrers E. R. Jaensch«19 möglichst gerecht zu werden als auch den wissenschaftlichen Ansprüchen als Dissertation im Rahmen der Salzmannforschung zu genügen. In denkbar knapper Form von fünf Seiten beginnt die Dissertation mit dem ersten Kapitel »Vorbemerkungen über die Integrationstypologie und Abgrenzung des I3-Typus gegen die übrigen Typen«.20 Danach geht die Integrationstypologie davon aus, »daß die psychische Persönlichkeit einen Stufenbau verschieden hoher Schichten darstellt«.21 »Nach Grad und Art der Verkoppelung dieser Schichten und Funktionen, der Integration, unterscheidet die 17

 Vgl. Erich Rudolf Jaensch: Der Gegentypus. Psychologisch-anthropologische Grundlagen deutscher Kulturphilosophie, ausgehend von dem was wir überwinden wollen, Leipzig 1938. 18  Vgl. Erich Rudolf Jaensch: Das Wahrheitsproblem bei der völkischen Neugestaltung von Wissenschaft und Erziehung, Langensalza 1939. 19  Hochheim: Der Pädagoge, Vorwort. 20  Vgl. a.a.O., 1–5. 21  A.a.O., 1.

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Integrationstypologie die einzelnen Typen.«22 Zentraler Stellenwert kommt dem sog. I3-Typus zu, für den seine »stark[e] Innenintegration«23 grundlegend wichtig ist, denn in ihm gründen seine »wesentlichen Merkmale«.24 Differenziert beschreibt Hochheim diese »Wesensmerkmale«, um auf dieser Basis den Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann »in seiner Weltanschauung, seiner Pädagogik, seiner Unterrichts- und Erziehungsmethode«25 darzustellen, denn Salzmann gehört diesem Typus an, was Hochheim allerdings erst im Schlussteil »Typologische Auslegung« ausdrücklich sagt.26 Unsere wissenschaftstheoretische Fragestellung nach Stellenwert, Art und Funktion der Psychologie im pädagogischen Verwendungszusammenhang macht es nötig, die »wesentlichsten Merkmale«27 des I3-Typus genauer in Augenschein zu nehmen. Dieser… • »ist stark auf das Wirkliche eingestellt. Er ist Empirist [und] Abstraktionen […] abgeneigt«, • »besitzt einen ausgesprochenen Sinn für praktische Tätigkeit. Wille, Tat und Handeln überwiegen bei ihm«, • betrachtet die »Umwelt […] unter dem Gesichtswinkel der Leistung«, • »neigt zu einer moralischen Bewertung seiner Mitmenschen«, • besitzt einerseits »einen ungestümen Drang in die Weite, will alles kennenlernen und sich nutzbar machen, andrerseits läßt eine gewisse Enge des Blickes den Schulmeister und Pedanten erkennen«, • »neigt zur Einsamkeit, aber nie zur Einsiedelei«, denn dazu »ist er zu fest in der realen Welt verankert«, • kann hingebungs- und stimmungsvoll die Natur erleben und daraus »die feste Lebenslinie gestiftet« bekommen, • »besitzt das Merkmal der Erdhaftigkeit«, • ist in »Heimat und Volkstum […] fest wie eine Eiche verwurzelt« und so »langsam, wie die Eiche wächst, wachsen auch seine Entschlüsse« erdnah und »ebenso unerschütterlich wie eine Eiche«, • besitzt Dauereinstellungen »der Ideen von Volk, Vaterland, Heimat, Gemeinschaft, Freundschaft, Echtheit, Gesundheit usw.«, wonach er handelt, • bevorzugt im religiösen Leben »Selbstdisziplin und sittliche Vervollkommnung« und sein »Gott lebt nicht im Beschauen, sondern im Tun«, so dass er entsprechend ihn weniger »erleben als sich ihm durch Taten nähern« will, denn »Religiosität [ist für ihn] Tat«,

22

 A.a.O., 2.  A.a.O., 4. 24  Ebd. 25  A.a.O., 5. 26  Vgl. a.a.O., 39. 27  A.a.O., 4. 23

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• ist, was die Kunst betrifft, zwar »unproduktiv«, aber – »besonders für Musik« – durchaus »empfänglich«, wobei die »Werk[e] der bildende Kunst« in natürlicher »Klarheit, Einfachheit und Realistik« vor allem »das eigene Erleben berühren und gewisse Dauervorstellungen auflockern.«28

Ohne auch nur andeutungsweise auf Salzmann Bezug zu nehmen, schafft Hochheim mit dieser Charakterisierung des I3-Typus bei gleichzeitiger Abgrenzung von den übrigen Typen so die Voraussetzungen, um den Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann im Lichte der Integrationstypologie zu sehen. Das zweite Kapitel bietet mit 35 Seiten Werk-Analyse dann den Hauptteil der Untersuchung über den Pädagogen Salzmann.29 Es geht dabei erstens um »seine Weltanschauung«30 und zweitens um »seine Pädagogik«31, die Hochheim unterteilt nach »a) Salzmann als Tatpädagoge«32, »b) Seine Unterrichtsmethode« mit den Fächern »Lese-, Schreib- und Rechenunterricht«, »Naturkunde«, »Geographie«, »Geschichte«, »Mythologie«, »Kunst«, »Religion« und »Turnen«33 und schließlich »c) Seine Erziehungsmethode«.34 Alles, was Hochheim hier schreibt, ist durchgängig quellenbasiert und -belegt und bietet eine zwar knappe, aber authentische Darstellung der Salzmann’schen Pädagogik! Querverweise auf die Integrationstypologie fehlen völlig. Geradezu ›pur und stur‹ rekrutiert sich auch die Salzmann’sche »Weltanschauung«, wie sie Hochheim präsentiert, vorrangig aus Salzmanns Schrift «Der Himmel auf Erden«,35 nur gelegentlich ergänzt durch den Bezug auf andere Salzmann-Schriften. Dasselbe gilt auch für die Einlassungen zu Salzmanns »Tatpädagogik«. Hochheim ist deutlich darum bemüht, der Pädagogik Salzmanns in seiner Eigenheit und seinem genuinen Anliegen gerecht zu werden – besonders in ihrer Darstellung der einzelnen Unterrichtsfächer, die ganz Salzmann gemäß dem Zusammenspiel von Erziehung und Religion den meisten Platz einräumt, was nicht unbedingt der Belichtung durch die Integrationstypologie entgegenkommt. Zweifelsohne ist Margot Hochheim mit dieser Kurzdarstellung der Pädagogik ihres Vorfahren Salzmann eine historisch angemessene Quellenarbeit gelungen, die wesentliche Züge des Salzmann’schen pädagogischen Werkes und Wirkens einzufangen vermag – und das, noch einmal sei es gesagt, unter völligem Absehen von der integrationstypologischen Belichtung, 28

 A.a.O., 4f.  Vgl. a.a.O., 5–39. 30  Vgl. a.a.O., 5–11. 31  Vgl. a.a.O., 11–39. 32  Vgl. a.a.O., 11–14. 33  Vgl. a.a.O., 14–29. 34  Vgl. a.a.O., 29–39. 35  Vgl. Christian Gotthilf Salzmann: Der Himmel auf Erden, Schnepfenthal 1797. 29

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wie sie im Vorwort angekündigt und mit den »Vorbemerkungen über die Integrationstypologie«36 zu erwarten gewesen wäre. Der dritte Teil »Typologische Auswertung«37 setzt nun die quellenmäßig erarbeitete Pädagogik Salzmanns der integrationstypologischen Belichtung aus und lässt von daher Rolle und Funktion der pädagogischen Bezugswissenschaft »Psychologie« wissenschaftstheoretisch aufscheinen. Unter der Frage, welche typologischen »Strukturmerkmale«38 der Pädagoge Salzmann aufweise, beginnt Hochheim mit der These: »Aus Salzmanns Weltanschauung und Pädagogik geht deutlich hervor, daß er dem I3-Typus angehört.«39 Bisher beziehungslos nebeneinander stehende Integrationstypologie und Salzmann-Pädagogik werden hier jetzt durch eine thesenartige Setzung zusammengeführt, um diese These dann an für Salzmann typischen pädagogischen Merkmalen mehr oder weniger einleuchtend und zutreffend zu verifizieren. Funktion dieser psychologischen Typisierung ist dabei, wie im »Vorwort« vermerkt, die »tiefst[e] und vollständig[e] Erfassung der pädagogischen Gedanken und pädagogischen Arbeit Salzmanns«, was für die psychologische Integrationstypologie hieße, als belichtende und klärende Hilfswissenschaft für die Pädagogik zu fungieren. Der perfektionistische Superlativ, den Hochheim mit dieser psychologischen Hilfsfunktion verbindet, verleiht der Integrationstypologie allerdings einen Stellenwert mit geradezu absoluten Zügen, was sie weit über ihre Funktion als bloße Hilfswissenschaft hinaus zur leitend bestimmenden Wissenschaft im interdisziplinären Zusammenhang werden lässt. Damit wird dann die nationalsozialistische Ideologie der Integrationstypologie zu einem wesentlichen Interpretament »der pädagogischen Gedanken und pädagogischen Arbeit Salzmanns«, was die werktreue hermeneutische Erfassung der Salzmann’schen Pädagogik ideologisch transzendiert und den typologischen Kategorien der Jaensch-Psychologie aussetzt und unterwirft. Das verlangt von Hochheim gemäß ihrer These aufzuweisen, dass Salzmanns »Grundstruktur […] jedenfalls I3«40 ist und dass das, was sie im vorangegangenen »Sach-Kapitel« zu dem Pädagogen Salzmann herausgearbeitet hat, zum typischen Strukturmerkmal des I3-Typus passt, den Salzmann in beinahe idealer Deckungsgleichheit verkörpere. Selbst die den Philanthropen für gewöhnlich attestierte Nähe zu Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), den die dem französischen Geiste eigene sog. S-Komponente (bzw. den sog. Synästhetikertypus der »extremen Rassenmischung«41) cha36

  Vgl. Hochheim: Der Pädagoge, 1–5.   Vgl. a.a.O., 39–49. 38   A.a.O., 39. 39   Ebd. (im Original teils in Kapitälchen). 40   A.a.O., 40. 41   A.a.O., 2. 37

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rakterisiert, gilt nach Hochheim für Salzmann und sein Wesen »sicher nur schwach«, hat er doch »die Ideen Rousseaus mehr ins Deutsche übersetzt«42. Zugegebenermaßen besitzt Hochheims »Unterbauung« des Pädagogen Salzmann als I3-Typus »mit dem Hilfsmittel« der Integrationstypologie Anhalt am Werk Salzmanns. Dieser grundlegende Unterbau qua ideologischem Überbau, durch den die Integrationstypologie sich zum dominanten Analyseinstrument wandelt und umwertet, äußert sich dann allerdings in überdeutlicher bezugswissenschaftlicher »Dysfunktionalität«, wenn Hochheim »linientreu« fragen muss, inwieweit Salzmanns »Methode die Forderungen einer artgemäßen Erziehung«43 erfüllt. Jetzt gerät Hochheim und »ihr« Salzmann unter die Räder der »nationalsozialistischen Schulreformer« wie etwa eines Ernst Krieck (1882–1947) oder auch ihres Lehrers Erich Rudolf Jaensch. Jetzt wird der Pädagoge Salzmann eingeschleimt und überschwemmt mit deutschvölkischem Vokabular, dem sich die Integrationstypologie voll und ganz ausliefert und so verschreibt, dass alle Grenzen und Schranken, die mit dem Werk und Wirken Salzmanns gezogen sind, fallen. Jetzt geht es pädagogisch um die Erziehung des Kindes »zum deutschen Menschen, zum nordischen Menschen, zur nordischen Rasse.«44 Ihr »Wesen ist Leistung, Kämpfertum, ist Kraft.«45 Dazu soll das Kind erzogen werden und von Anfang an »auch zum völkisch denkenden, fühlenden und handelnden Menschen gemacht werden«.46 Erst am Schluss wendet Hochheim »den Blick zurück auf Salzmann«47 und sucht bei ihm – eher zögerlich – »Ansätze einer Erziehung zum deutschen Menschen«48. Und dieses Zögern kommt nicht von ungefähr, sperrt sich doch Salzmanns Bekenntnis zur allgemeinen Menschenliebe – aufklärerisch bestimmt und religiös begründet – entschieden gegen eine nationalistisch konzentrierte Verengung auf eine Erziehung zum deutschen Menschen und sprengt damit an wesentlicher Stelle die rassistisch-völkische Ideologie der Integrationstypologie als »Unterbauung« der pädagogischen Arbeit Salzmanns. Entsprechend spärlich und teilweise sogar widerstreitend sind denn auch Hochheims Belege für Salzmanns Pädagogik des deutschen Menschen – so etwa, wenn die »Vaterlandsliebe« bei ihm, dem evangelischen Pfarrer, nicht, wie für den deutschen Menschen selbstverständlich, als »die

42

 A.a.O., 40.  A.a.O., 46f. 44  A.a.O., 46. 45  Ebd. 46  A.a.O., 47. 47  Ebd. (im Original teils in Kapitälchen). 48  A.a.O., 48. 43

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höchste Pflicht«, sondern nur als »heilige Pflicht«49 galt. Wie bei Hochheims Darstellung der Salzmann’schen Pädagogik mit ihrem Verzicht auf direkte Bezüge zur Integrationstypologie – und damit dem Vermeiden des Verdachts unsachgemäßer Anpassung und ideologischer Verbiegung –, deutet auch diese kritisch vorbehaltliche Einschränkung des Programms der Erziehung zum deutschen Menschen an, dass Hochheims Belichtung des Pädagogen Salzmann durch die Integrationstypologie nicht zu einer ideologischen Totalvereinnahmung und Anpassungswillkür geworden ist. Zwar muss eine bedachte Typisierung mit vorgegebenen Typen nicht zwangsläufig zu unsachgemäßen Ergebnissen führen, darf aber nicht wie bei Jaenschs Integrationstypologie massiv ideologisch ›frisiert‹ und dominiert sein. Wissenschaftstheoretisch sind damit die Schranken gesetzt zwischen einer produktiv förderlichen Bezugswissenschaft, die ergänzend, erhellend und bereichernd wirkt, und einer ideologischen Bezugswissenschaft, die zu werkfremden Zwecken missbraucht wird. Den Weg, den Hochheim mit ihrer Dissertation gegangen ist, könnte man bezugswissenschaftlich etwa als kritisch selektiv integriertes Trennungsmodell beschreiben, das mit Darstellung der sachthematisch ›unbezogenen‹ Integrationstypologie beginnt, seine Fortsetzung mit der psychologisch jetzt ebenso »unbezogenen« sachanalytischen Vorstellung des Pädagogen Salzmann findet und mit der kritisch integrierenden Synthese von Salzmann-Thematik und Integrationstypologie seinen wissenschaftlichen Ertrag und Abschluss sucht.

2.2 Christian Gotthilf Salzmann ohne    integrationstypologische »Belichtung« Mit dem Ende des sog. Dritten Reichs und seiner nationalsozialistischen »Weltanschauung« verschwand die Integrationstypologie wieder aus der Psychologie und endete auch ihre bezugswissenschaftliche Wirkungsgeschichte im Kontext der Religionspädagogik. Eindrücklich dokumentiert ist dieses sang- und klanglose Ende für Hochheim mit ihrem Beitrag in dem Sammelband über »Thüringer Erzieher«.50 Laut Vorwort des Herausgebers Günther Franz lag diesem bereits »1941 ein Manuskript druckfertig vor«, wobei es dann aber erst 1966 in völlig anderem politischen Kontext erschien. Dass das eine erneute Durchsicht der alten Manuskripte verlangte, versteht sich von selbst. Da Margot Hochheim, inzwischen verheiratete Langerbein, noch lebte, konnte sie diese Revisionsarbeit selbst vornehmen. Für unser Anliegen ist 49

 Ebd. (im Original teils kursiv).  Vgl. Margot Langerbein (geborene Hochheim): Christian Gotthilf Salzmann, in: Wilhelm Flitner/Günther Franz (Hrsg.): Thüringer Erzieher, Köln/Graz 1966, 88– 101.

50

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das höchst interessant, begegnet uns doch damit von derselben Autorin ein Artikel über Salzmann, der gewissermaßen integrationstypologisch bereinigt ist, auch wenn Hochheim ihre »Dissertation Marburg 1934« scheinbar ohne Skrupel unter »Quellen und Literatur« aufführt.51 Im Übrigen ist aber diese »Bereinigung« perfekt durchgeführt und es finden sich nicht einmal in Spuren integrationstypologische Elemente. So widersinnig das auch klingen mag, verdankt sich dieser Befund doch zu einem guten Teil der Art und Weise der bezugswissenschaftlichen Arbeit Hochheims, wonach die pädagogische Sachanalyse der Salzmann’schen »Weltanschauung« relativ unbezogen neben dem integrationstypologischen »Unterbau« mit seiner völkischen Ideologie stand. Das ermöglichte Hochheim die inhaltlich im Wesentlichen unveränderte Übernahme der Ergebnisse ihrer Forschungen mit so gut wie allen Themen, die in der Dissertation angesprochen worden sind – teils sogar wörtlich, meist aber gekürzt und ohne die Quellen-Belege der Doktorarbeit. So gesehen zeitigt also der bezugswissenschaftliche Verzicht auf die Belichtung durch die Integrationstypologie in Langerbeins Artikel keinen Verlust an pädagogischem und wissenschaftlichem Gehalt. Das bezugswissenschaftliche Trennungsmodell, das Hochheim in der pädagogischen Sachanalyse ihrer Doktorarbeit gleichsam ›unter der Hand‹ angedeihen ließ, verhinderte deren nationalsozialistisch-völkische Ideologisierung und Vereinnahmung, wie sie im »Vorwort« proklamiert und in der »Typologischen Auswertung« manifest wurden und Salzmanns Pädagogik typologisch verfremdeten und ideologisch instrumentalisierten. Die im Vorwort vollmundig angekündigte »Unterbauung« der Salzmann-Forschung »mit den Hilfsmitteln« der modernen Psychologie qua Integrationstypologie52 bleibt so gesehen eher zeitbedingt taktierende politische Proklamation als dass sie für Hochheims Salzmann-Rezeption wirklich zum »logische[n] Ansatzpunkt […], zur tiefsten und vollständigen Erfassung«53 geworden wäre. Hochheims Verdienst ist es, dass sie den Pädagogen Salzmann in Dissertation und Artikel durch strikten Quellenbezug in seinem religiös fundierten Wirken und Werk sachkundig vorzustellen weiß und Salzmanns originellen Geist und sein grundständiges religiöses Bildungsanliegen im Wesentlichen und Ursprünglichen wahrt. Dieses Beharren auf der Salzmann eigenen philanthropischen Pädagogik ohne deutschvölkische Anpassung dürfte Hochheim auch getröstet haben, als sie miterleben musste, wie die Erziehungsanstalt Schnepfenthal nach dem Tod ihres letzten Direktors Friedrich Ausfeld (1879–1934) im Stiftungsfest-Jahr 1934 im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik mit ihrer 51

 Vgl. a.a.O., 101.  Vgl. Hochheim: Der Pädagoge, Vorwort. 53  Ebd. 52

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Eigenständigkeit auch zunehmend die Eigenart Salzmann’scher Erziehungsprinzipien verlor!54 Dessen ungeachtet gehörte Hochheim mit ihrer integrationstypologischen Dissertation – trotz bezugswissenschaftlicher Trennung – in den Dunstkreis nationalsozialistischer Bildungspolitik; denn sie war wissenschaftlich eingebunden in die »Schule« eines verehrten Lehrers, der verständnisvoll geführt und gefördert hatte, was wohl oder übel eine gewisse Nähe zur nationalsozialistischen Bewegung, der eben dieser Professor engagiert anhing, bedingte. Totale Verweigerung oder auch nur mehr oder weniger große Vorbehalte gegen die (hochschul-)politischen Auffassungen und Umtriebe des verehrten Professors wären schwer vorstellbar und noch viel weniger praktisch umsetzbar gewesen, wollte man wissenschaftlich reüssieren, promovieren oder gar Karriere machen. Hochheims Arbeit ist hier ein Beispiel für eine Gratwanderung zwischen einer Verpflichtung gegenüber dem pädagogischen Erbe des großen »Urahnen« Christian Gotthilf Salzmann und den Ansprüchen einer Bezugswissenschaft, die über ihren Schöpfer und einflussreichen Hauptvertreter Erich Rudolf Jaensch als bekennendem Befürworter Hitlers und seiner völkischen Ideologie engstens mit dem Nationalsozialismus verbunden war – eine Gratwanderung, die dem »saturierten« Nachfahren und Kritiker zunächst Verständnis abgewinnen sollte, bevor er sich historisch-kritisch dem politischen Kontext mit seiner bezugswissenschaftlichen Anpassungsmacht und -notwendigkeit zuwendet.

3. Psychoanalytische Betrachtungen zur    Biografie des Reformpädagogen    Adolph Diesterweg Ein gutes Dreivierteljahrhundert liegt zwischen Margot Hochheims Salzmann-Veröffentlichung und dem Erscheinen der Schrift von Liselotte Köhler »Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866)« – politisch sicher Welten: zwischen hier nationalsozialistisch totalitärer Herrschaft und da leidlich funktionierender Demokratie westlicher Prägung! Wissenschaftlich sieht das schon anders aus: Da geht es in beiden Studien um einen berühmten Pädagogen und Bildungspolitiker, der psychologischer Belichtung und Betrachtung ausgesetzt wird, bei Hochheim der Integrationstypologie von Erich Rudolf Jaensch und bei Köhler der Psychoanalyse von der Art und Richtung »der Selbstpsychologie Heinz Kohuts«.55 Eine Vorstellung dieser 54

 Vgl. Inge Pfauch/Wolfgang Pfauch: Dr. Friedrich Ausfeld (1879–1934). Biographie eines Direktors der Erziehungsanstalt Schnepfenthal von der Kaiserzeit bis zu den Anfängen des Nationalsozialismus in Salzmannscher Tradition, Jena 2014, besonders 219–232. 55  Köhler: Der Reformpädagoge, 20.

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psychoanalytischen Richtung, die von dem 1913 in Wien geborenen und 1981 in Chicago verstorbenen Heinz Kohut in den 1960er Jahren als »Psychologie des Selbst« entwickelt wurde, sucht man in Köhlers Studie vergeblich; hier hilft das Vorwort des Herausgebers weiter. Immerhin gibt Köhler in ihren »Vorüberlegungen«56 Auskunft über ihre »psychoanalytisch motivierte Fragestellung«57, beginnt dann aber ihre »psychoanalytischen Betrachtungen« (s. Untertitel) relativ unvermittelt: »Diesterwegs Kindheit würde man heute als schwer traumatisiert ansehen«58, woraus sich dann Köhlers leitende Fragestellung ableitet, wie nämlich Diesterweg angesichts solcher traumatischen Kindheit zu einem derart »begeisterten und begeisternden, von seiner Sache überzeugten und überzeugenden Kämpfer für den Fortschritt werden«59 konnte. »Aus der Sicht der Selbstpsychologie Heinz Kohuts«60 nimmt Köhler auf knapp vier Seiten die Antworten auf diese Frage gleichsam schon vorweg, was unter unserer wissenschaftstheoretischen Sicht ausführlichere Beachtung verdient: • Diesterwegs Kindheit hat nach Köhlers selbstpsychologischem Interpretationsparameter »die Möglichkeit, eine ›charismatische‹ und ›messianische Persönlichkeit‹ zu entwickeln«. • »Aus Kohut’scher Sicht war Diesterweg überdies ein Tragischer Mensch […], der jenseits des Lustprinzips […] seine Ziele, seine Ideale und damit seine Selbstvorstellung zu verwirklichen sucht [und noch] im ›Schiffbruch‹ [Diesterweg] seinen Stolz erleben kann, solange er sich selbst bzw. seinem Selbst treu bleibt.« • Gemäß der Freud’schen Ichpsychologie – so Köhler – versuchte der Knabe Diesterweg nach dem frühen Tod der Mutter »dem Vater die Mutter zu ersetzen«, indem er sich mit ihr identifizierte. Durch die »Aufspaltung der Vaterfiguren – auf der einen Seite der leibliche Vater, den er rührend umsorgte, auf der anderen ältere, konservative Vorgesetzte, die er bekämpfte –«, gelang es ihm, »seine ödipale Rivalität ohne jegliche Schuldgefühle auszufechten.« • Diesterwegs rastlose »Tätigkeit hatte aber auch durchaus manische Züge«, die sich freilich dadurch, dass er stets Realist blieb, nicht zu krankhafter Manie auswuchsen. • »Beachtenswert« für Köhlers selbstpsychologische Betrachtung Diesterwegs ist schließlich noch das von ihm betonte »Recht, ja die Pflicht zur eigenen Meinung und zur Selbstrechtfertigung«.61

56

 Vgl. a.a.O., 17–20.  A.a.O., 20. 58  Ebd. 59  Ebd. 60  Ebd. 61  A.a.O., 20–22 (im Original teils kursiv). 57

320 Rainer Lachmann

Mit diesem selbstpsychologischen Instrumentarium gibt Liselotte Köhler Betrachtungsrichtung, Interpretationsmuster und Verstehenshorizont für die nachfolgende Beschäftigung mit ihrem berühmten Vorfahren vor. Bezugswissenschaftlich lässt das neue Einsichten zur Persönlichkeit Diesterwegs erwarten, die durch die spezifische medizinische Kompetenz von Lotte Köhler ebenso erlangt werden sollten wie durch wichtige Dokumente aus dem Köhler’schen Familienarchiv, was auch die »explizite familiengeschichtliche Orientierung Lotte Köhlers«62 erklärt, welche ihren psychoanalytischen Betrachtungen noch zusätzlich eine besondere Note verleiht, insofern sie Religion und Bildung bei Diesterweg vor allem biographisch »verpackt« behandelt. Entsprechend ist Köhlers Studie lebenslauforientiert gegliedert und beginnt mit einem ersten Kapitel »Familie, Jugend und Elternhaus«.63 Schon die Überschriften der einzelnen Abschnitte – »Tod der Mutter 1798«, »Diesterweg sucht, dem Vater die Mutter zu ersetzen«, »Die Melancholie des Vaters«, »Der Vater als Vorbild«64 etc. – verweisen nicht nur auf das vorgegebene psychoanalytische Summarium, sondern fordern auch – fett gedruckt – eine »erste Analyse der Psychodynamik aus Sicht der Selbstpsychologie«.65 Hier bietet diese Bezugswissenschaft Erklärungen zu Diesterwegs Charakterbildung. Mit der früh verstorbenen »empathischen Mutter« und dem »bewundernswerten Vater« gereicht die familiäre Konstellation zur Deutung der Entwicklung Diesterwegs in Richtung »einer messianischen oder charismatischen Persönlichkeit«.66 Für die pädagogische Diesterweg-Forschung sind das fremde Töne und Perspektiven, die gleichsam als interdisziplinäres Ergänzungsprogramm aus der psychoanalytischen Betrachtung resultieren. Das entbirgt bisher so noch nicht wahrgenommene Seiten an einem wohlbekannten Bildungsklassiker, ohne damit das Projekt pädagogischer Lebenslauf-Forschung zu dominieren. Das zweite Kapitel »Studienzeit und Berufseinstieg«67 lässt über Studium und erste Tätigkeiten als Lehrer in Mannheim und Worms Diesterwegs Lebenslauf in elementarem Sinne zum »Bildungs-Gang« werden, eröffnet 1812 durch seinen Entscheid für den Lehrerberuf. Referentiell durchsetzt sind hier die Ausführungen immer wieder durch psychoanalytische Schlaglichter, Interpretationen und Berichte, die mehrenteils aus dem Köhler’schen Familienarchiv stammen und nicht zuletzt von daher thematisch Unerwartetes und überraschend Intimes bereithalten. Das schuldet sich der psychoana62

 A.a.O., 11.  Vgl. a.a.O., 25–35. 64  Vgl. a.a.O., 27f., 29, 29f., 30f. 65  A.a.O., 35, vgl. das entsprechende Kapitel a.a.O., 35–37. 66  A.a.O., 36. 67  Vgl. a.a.O., 37–49. 63

Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie 321

lytischen Sichtweise Köhlers, gepaart mit ihrer medizinischen Kompetenz und ihrem familiär-persönlichen Interesse an ihrem Vorfahren Diesterweg und seinen Selbstzeugnissen. Dazu gehört die unauslöschlich prägende Begegnung mit dem Pädagogen Johann Friedrich Wilberg (1766–1846), die Diesterweg detailliert schildert und von Köhler im »Kohut’schen Sinne« dahingehend interpretiert wird, dass sie Wilberg für Diesterweg zum »idealisierbaren Selbstobjekt« werden lässt, dessen ihm geschenkter Tabaksbeutel dann als »Übergangsobjekt«68 verstanden wird. Breiten Raum nehmen auch Diesterwegs »Liebesbriefe« mit seiner künftigen Frau ein, in denen auch erstmals Religion und Frömmigkeit Diesterwegs thematisiert sind. In diesem Zusammenhang handelt Köhler dann in guter psychoanalytischer Tradition vom »Geschlechtstrieb«69, der sich bei Diesterweg rührt und ihm Bange macht, was Köhler mit einem sehr intimen Brief an seinen Arzt publik macht.70 Bildungsmäßig bedeutsam wird dann 1813 Diesterwegs »Berufung als Lehrer an [die] Musterschule in Frankfurt«71, wo er erste didaktische Unterrichtsprinzipien entwickelt und mit der Gründung der »Polytechnischen Gesellschaft« erstmals die bildungspolitische Bühne betritt. Zu Frankfurt notiert Diesterweg in sein Tagebuch: »Frankfurt: Kampf gegen innere und äußere Feinde. Entzweiung mit mir selbst und Unmuth und Unheil. – Streben nach vielseitiger Ausbildung, nach festem Lande im Wissen durch inneren Lebensdrang. Allzu großes Fundament. Ich rettete mich selbst.«72 Die Jahre 1818 bis 1847 werden dann im folgenden Kapitel umfassend und quellenreich geschildert.73 Sie handeln von Diesterwegs Jahren als Lehrer in der Elberfelder Lateinschule 1818 bis 1820,74 von seiner »Tätigkeit als Seminardirektor in Moers 1820–1832«75 und als Berliner Seminardirektor 1832–184776 und haben – sich steigernd – das Zeug zu einem spannenden Drama mit tragischem Helden! Religion und Bildung sind dabei wesentliche Spannungselemente und Triebkräfte einer knapp dreißigjährigen Entwicklung in Leben und Beruf, die angesichts der Fülle berichtenswerter Ereignisse, Erfahrungen und Konfliktstoffe spezifisch psychoanalytische Betrachtungen nur scheinbar in den Hintergrund treten lassen. In Wirklichkeit sind aber gerade diese hintergründig präsent, meist unausgesprochen, manchmal aber auch als ausdrückliche Voten und profilierte selbstpsychologische Kom68

 A.a.O., 40.  A.a.O., 43. 70  Vgl. a.a.O., 44. 71  Ebd. 72  Zitiert nach a.a.O., 48f. 73  Vgl. a.a.O., 53–104. 74  Vgl. a.a.O., 53–64. 75  Vgl. a.a.O., 64–66. 76  Vgl. a.a.O., 66–68. 69

322 Rainer Lachmann

mentierungen, in denen die humanwissenschaftliche Nachbarwissenschaft »Psychologie« für die Pädagogik neue Einblicke und Sichtweisen bereitstellt und – nicht selten – überraschend präsentiert. Religions-pädagogisch wurde für Diesterweg dabei der (nach Kohut) »Tragisch[e] Mensch«77 Wilberg immer wichtiger. Hatte er ihm schon in Frankfurt geholfen, »den Ödipuskomplex gegenüber seinem Vorgesetzten Seel ohne Gewissensbisse auszuagieren«78 – eine wichtige Voraussetzung für die Konfliktverarbeitung und -bewältigung, die ihn gerade im Bildungsbereich für sein künftiges Berufsleben erwartete –, so wurde er ihm jetzt, gleichsam im Frühling seiner pädagogischen Karriere, an der Elberfelder Lateinschule, »die dem Scholarchat der reformierten Gemeinde unter Pfarrer Krummacher«79 unterstand, zum vorbildlichen Gewährsmann seiner aufklärerischen Religions-Pädagogik. Denn hier ging es massiv um das wahrlich konfliktreiche Verhältnis von Religion und Bildung, dem sich Diesterweg durch die orthodox biblische Theologie von Pfarrer Krummacher und deren fundamentalem Glaubenssatz der Erbsünde ausgesetzt sah. In der Tradition philanthropischer Pädagogik schlug sich Diesterweg kompromisslos auf die Seite Wilbergs und seiner kinderfreundlichen Erziehungsauffassung. Damit stellte er sich erstmals – und das sollte nicht das letzte Mal gewesen sein! – gegen das Bekenntnis seiner Kirche und deren Geistlichkeit und damit auch gegen die preußische Regierung. Schon hier zeichnete sich ansatzweise ab, was 1847 zur vorzeitigen Entlassung aus seiner Direktorentätigkeit führen sollte. Das ging einher mit der Herausbildung seiner eigenen religiösen Einstellung und theologischen Auffassung. Dazu gehörten seit seiner Jugend religiöse Visionen, von denen er – besonders ausführlich für das Jahr 181880 – in seinem Tagebuch berichtete, genauso aber auch Naturbeobachtungen mit mystischen Anklängen und »Unterricht bei Nacht« mit Erleben des Sternenhimmels und einer persönlichen Frömmigkeit, die spätestens seit seinen Elberfelder Erfahrungen verbunden war mit einer zunehmend kritischeren Haltung gegenüber den orthodox traditionellen Glaubensinhalten und der Amtskirche, die diese im Einverständnis mit der staatlichen Bildungspolitik pflegte und – nicht nur im Religionsunterricht – an den Schulen durchzusetzen suchte. Aus Köhlers psychoanalytischer Sicht stellt sich angesichts von Diesterwegs Frömmigkeit die Frage, ob in diesem religiösen »Erleben der Natur, des Himmels bei Nacht, Erlebnisse der frühen Einheit mit der Mutter«81 wiedererweckt worden sein könnten. 77

 A.a.O., 54.  A.a.O., 51. 79  A.a.O., 53. 80  Vgl. a.a.O., 57–63. 81  A.a.O., 64. 78

Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie 323

Mit der »Tätigkeit als Seminardirektor in Berlin 1832–1847«, die er selbst als »Geschichte meines amtlichen Schiffbruchs bezeichnete«82, waren die Konflikte mit preußischem Ministerium und, in dessen bildungspolitischem Gefolge, der Kirche, gleichsam vorprogrammiert. Ursache dafür war Diesterwegs Schriftstellerei zu Fragen der Lehrerbildung, die er in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und Buchpublikationen, vor allem dem »schulpraktischen Bestseller des 19. Jahrhunderts«83, dem »Wegweiser zur Bildung für Lehrer«,84 veröffentlicht hatte. Dieser Schriftstellerei – für Diesterweg ein unverzichtbares »göttliches Mittel zur Fortbildung und Anregung«85 – wird »aus Sicht der Selbstpsychologie«86 ein langer Exkurs gewidmet,87 der eben diese Schriftstellerei in Kohut’scher Diktion als »selbst-bestätigenden Aspekt der Kreativität«88 interpretiert. Solchem relativ einlinigen Interpretament subsummiert Köhler die komplexe Auseinandersetzung, die Diesterweg besonders in seinen Berliner Jahren um die »Selbständigkeit der Schule« und ihre »Befreiung […] von der Beaufsichtigung durch Nicht-Sachkenner« sowie die »Notwendigkeit der Erziehung der unteren Klassen«89 mit Ministerium und Konsistorium bis zu seiner vorzeitigen Dienstentlassung führte. Ein wesentliches Monitum der Regierung gegenüber Diesterwegs Schriften und seiner Rolle als »Vorsteher einer Schullehrer-Bildungsanstalt« waren seine »Urteile über das Verhältnis der Kirche zur Schule und der Schullehrer zu den ihnen vorgesetzten Geistlichen«90, die – wie das »Hohe Ministerium« richtig vermerkte – ihren Grund in Diesterwegs aufklärerisch-neologisch begründetem Verständnis und Verhältnis von Religion und Bildung hatten. Eben das ermöglichte einen passgenauen Verbund von Theologie und Pädagogik und ließ – wie etwa bei dem Philanthropen Salzmann – auch bei Diesterweg die Pädagogik im tiefsten Sinne zur Religions-Pädagogik werden. Köhlers psychoanalytische Betrachtung handelt davon höchstens implizit. Ihr Fokus liegt auf dem Versuch, das Geschehen und Ergehen Diesterwegs in seiner Lehrerbildungs-Tätigkeit in Berlin selbstpsychologisch als erwachsen

82

 Zitiert nach a.a.O., 66.  Horst F. Rupp: Fr. A. W. Diesterweg. Pädagogik und Politik, Sudheim/Göttingen 1989, 66. 84  Vgl. Adolph Diesterweg: Wegweiser zur Bildung für Lehrer und die Lehrer werden wollen, und methodisch-praktische Anweisung zur Führung des Lehramtes, Essen 1835. 85  Zitiert nach Köhler: Der Reformpädagoge, 68. 86  Ebd. 87  Vgl. a.a.O., 68–104. 88  A.a.O., 68. 89  A.a.O., 70f. (im Original kursiv). 90  Zitiert nach a.a.O., 75. 83

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aus seiner »›Selbsttätigkeit‹ und Kreativität«91 zu erklären und diese kreative Aktivität für Diesterweg dann mit »Kohuts Beschreibung der charismatischen und der messianischen Persönlichkeit«92 zu vermitteln, wie sie uns bereits in der ersten psychodynamischen Analyse für Diesterweg begegnete.93 Gerade bei der folgenreichen Massivität des Konflikts wird wie Wilberg auch Diesterweg zum »Tragischen Menschen« und dabei, wie er selbst bezeugt, zum »Rebell«, dessen »innerstes Bewusstsein«, dessen »Gott im Menschen«94 bzw. »psychoanalytisch ausgedrückt: das Überich«95 sich gegen die von Staat und Kirche getragene Entscheidung seiner Dienstentlassung empörte! In seinem großartigen Credo aus dem »Schiffbruch« bezeugt er mit engagiertem Herzblut den Grund seiner Empörung: die »ewig festzuhaltenden Grundsätze der freien Entwicklung und ungehemmten Bildung« und daraus erwachsend seine »Opposition gegen die Bevormundung der Schule durch die Kirche und in ihrem Namen durch die konfessionellen Geistlichen.«96 Hier verbinden sich pädagogische und religiöse Argumentation über die institutionskritische Schiene zu Diesterwegs religions-pädagogischer Haltung. Was Köhler im Schlusskapitel »Die letzten Lebensjahre nach der endgültigen Pensionierung: 1850–1866« berichtet,97 zielt auf Diesterwegs fortgesetzte Schriftstellerei und seine bildungspolitischen Aktivitäten als unverdrossenem Kampf und Einsatz für seine pädagogischen Prinzipien ab. So stritt er zum Beispiel vehement gegen die 1854 in Kraft gesetzten Stiehl’schen Regulative und deren u.a. durch das Thema »Sünde« bestimmte Lehrauffassung, nach der es in der Ausbildung und der »Anwendung durch den Elementarlehrer nur einiger Hülfssätze aus Pädagogik und Anthropologie«98 bedürfe. Das war für Diesterweg Inbegriff und Verkörperung reaktionärer Lehrerausbildung – eine, so Köhler, »Antipädagogik«.99 Auch seine »Tätigkeit als Stadt- und Landtagsabgeordneter 1859–1866«100 nutzte Diesterweg als Bühne, um seine pädagogischen Ansichten bildungspolitisch zu verbreiten und, wo möglich, durchzusetzen. Psychologisch wird hier von Köhler Diesterwegs Tendenz bemerkt und vermerkt, sich ob seiner unzeitigen Dienstentlassung zu wiederholten Malen rechtfertigen zu müssen. Im Sinne Kohuts erweist auch das wieder, wie kurz zuvor festgehal91

 A.a.O., 77.  A.a.O., 79. 93  A.a.O., 35–37. 94  Zitiert nach a.a.O., 103. 95  Ebd. 96  Zitiert nach a.a.O., 102. 97  Vgl. a.a.O., 104–124. 98  Zitiert nach a.a.O., 109. 99  Ebd. 100  Vgl. a.a.O., 119–121. 92

Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie 325

ten, Diesterweg als »Tragischen Menschen«.101 Auffälligerweise bleibt das die letzte Kommentierung in psychoanalytischer Perspektive, die Köhler in ihrer Diesterweg-Biografie bietet. Weder die »Epikrise – Was wurde aus Diesterwegs Nachkommen?«102 noch das abschließende »Resümee«103 schienen Anlass zu besonderer psychoanalytisch-selbstpsychologischer Bezugnahme zu geben. Nicht zuletzt könnte das Auskunft erteilen über Rolle, Rang und Funktion, welche der Psychologie und Psychoanalyse in dieser Bildungsbiographie zukommen.

4. »Auswertung« und Ausweitung: Religions   auffassung und Bildungsanliegen im    interdisziplinären Verbund Die Bildungsklassiker Christian Gotthilf Salzmann und Adolph Diesterweg, die beide auch begründetermaßen als »Klassiker der Religionspädagogik« gewürdigt werden,104 begegneten – historiographisch und wissenschaftstheoretisch analysiert – im interdisziplinären Bezug zur Psychologie/Psychoanalyse. Dabei präsentierten sich Pädagogik und Psychologie bzw. Psychoanalyse unter dem übergreifenden, gemeinsamen humanwissenschaftlichen Dach einer Orientierung am Menschen zunächst als Nachbarwissenschaften, die je ihr eigenes wissenschaftsspezifisches Profil haben und entwickeln. Die interdisziplinäre Inbeziehungsetzung von Pädagogik und Psychoanalyse belässt damit bei Diesterweg beiden Wissenschaften ihre Eigenständigkeit und Eigenheit, ergänzt sie aber durch eine andere wissenschaftliche Perspektive, die dem pädagogischen Sachverhalt neue Seiten und Sichten abgewinnt. Das geschieht wissenschaftstheoretisch weniger auf dem Weg als unverzichtbare Hilfswissenschaft, sondern im Vollzug als interdisziplinäre Bezugswissenschaft, die den Lebens- und Bildungsgang Diesterwegs, wo es sich ergibt, mit passgenauen psychologisch-psychoanalytischen Einlassungen, Betrachtungen und Erklärungen bereichern will. Nicht selten eröffnet das unerwartete und überraschende Einsichten, die durchaus auch verfremdend und befremdend wirken können, nicht aber den pädagogischen Gegenstand psychologisch vereinnahmen und dominieren wollen. Auch eine pädagogisch-psychologische Durchmischung oder Verschränkung, geschweige denn unter leiten101

 Vgl. a.a.O., 114.  Vgl. a.a.O., 125–136. 103  Vgl. a.a.O., 136–141. 104  Vgl. Rainer Lachmann: Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811), in: Henning Schröer/Dietrich Zilleßen (Hrsg.): Klassiker der Religionspädagogik, Frankfurt am Main 1989, 98–114; Karl Dienst: Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg (1790–1866), in: Hennig Schröer/Dietrich Zilleßen (Hrsg.): Klassiker der Religionspädagogik, Frankfurt am Main 1989, 135–148. 102

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dem ideologischem Interesse, findet sich bei der bezugswissenschaftlichen Interdisziplinarität nicht, wie sie Lotte Köhler mit ihren psychoanalytischen Betrachtungen zu Diesterwegs Biografie bietet. Anders liegt die Sache bei der Dissertation von Margot Hochheim, welche den Pädagogen Salzmann im Lichte der Integrationstypologie »sehen« will. Hier beansprucht eine Psychologie gleichsam die Hoheit über den Verstehens- und Belichtungsprozess der einschlägigen Salzmann-Forschung, die besonders im Auswertungsprozess dominiert wird durch eine nationalsozialistisch-völkische Typologie, mit der sich die bezugswissenschaftliche Interdisziplinarität der Integrationstypologie zur hinter- und untergründig bestimmenden Typologie mit letztendlich totalitärem Auslegungsanspruch wandelt. Zum Schluss muss wissenschaftstheoretisch noch einmal die ReligionsPädagogik in den Blick genommen werden, als die wir – richtig verstanden – sowohl Salzmanns als auch Diesterwegs Pädagogik meinten bezeichnen zu können. Unter besonderem Vorzeichen stellt sich in dieser Beziehung insofern noch einmal die Frage nach der Art der Interdisziplinarität als wir die Religionspädagogik als Verbund- bzw. Integrationswissenschaft zwischen Theologie und Pädagogik oder in unserem Fall genauer: zwischen Religionsauffassung und Bildungsanliegen definieren. Wissenschaftstheoretisch kommen sich hier entgegen und begegnen sich eine menschenorientierte aufklärerisch-neologische Theologie bzw. Religionsauffassung und die neue kindzentrierte Pädagogik und verbinden sich in gemeinsamem Interesse zu einem interdisziplinären Konvergenzraum oder Verbund auf Augenhöhe. Salzmanns Religionsverständnis ermöglichte einen solchen bezugswissenschaftlichen Ansatz105 als religions-pädagogische Verbundwissenschaft und Diesterweg stand spätaufklärerisch in dieser philanthropisch neologischen Tradition und verband seine Salzmann’sche Nachfolgeschaft mit seiner fortschrittlich weiterentwickelten Pädagogik und Bildungsintention.106 Wissenschaftstheoretisch repräsentieren Salzmann wie auch Diesterweg recht früh ein Verbund- bzw. Konvergenzmodell, das bis in die heutige Religions-Pädagogik nichts an kritischer Relevanz verloren hat. Das war, historisch gesehen, nicht immer so. Schon Salzmann und Diesterweg selbst mussten ihren religionspädagogischen Ansatz gegen einen kirchlich orthodoxen Religionsunterricht verteidigen, der dann im 19. Jahrhundert im dogmatisch biblischen Katechismusunterricht der Kirchen und danach mit der evangelischen Unterweisung seit den 1930er Jahren des 105

 Vgl. Rainer Lachmann: Die Religions-Pädagogik Christian Gotthilf Salzmanns. Ein Beitrag zur Religionspädagogik der Aufklärung und Gegenwart (AHRp 2), Jena 2005, 307–324. 106  Vgl. Horst F. Rupp: »Jeder Lehrer – ein Religionslehrer«. Religion und ihre Didaktik bei Fr. A.W. Diesterweg. Ein Kapitel einer Geschichte der Religionsdidaktik im 19. Jahrhundert, Würzburg 22016.

Interdisziplinarität zwischen Religions-Pädagogik und Psychologie 327

vergangenen Jahrhunderts seine kirchlich mächtige Fortsetzung und Gefolgschaft fand.107 Hier herrschte uneingeschränkt ein »Autarkiemodell«, wonach die Theologie sich selbst genug war und die Humanwissenschaften, wenn überhaupt, als bloße Hilfswissenschaften angesehen wurden. Mit der hermeneutischen Religionspädagogik erfuhren Pädagogik, Bildungstheorie und Didaktik eine wegweisende Aufwertung, die sie aus einer rein dienenden Hilfswissenschaft zu einem zunehmend angesehenen und bald unverzichtbaren Partner im religionspädagogischen und -didaktischen Geschäft werden ließ. Wurde besonders in den Jahren des Übergangs und der Absetzung von der evangelischen Unterweisung noch demonstrativ an der Dominanz der Theologie gegenüber der Pädagogik festgehalten, so änderte sich das bald und wurde immer mehr zu einer Partnerschaft in wechselseitiger Kooperation. Damit war der Weg in Richtung eines Konvergenzmodells bereitet und eingeschlagen, wobei die Frage nach der ›wert-würdigen‹ Dominanz eigentlich gleichberechtigter Partner im religions-pädagogischen Verbund auch diesem bezugswissenschaftlichen Modell nicht erspart bleibt. Was – gerade bei gelungener interdisziplinärer Konvergenz – klargeworden sein sollte, ist die Erkenntnis, dass nicht jede Pädagogik mit jeder Theologie und Religionsauffassung konvertierbar ist, woraus folgt, dass religions-pädagogisch die interdisziplinäre Konvergenz von Religion und Bildung eine mindestens annäherungsweise gemeinsame Wertebasis und Zielintention voraussetzt, die einer Klärung der Dominanzproblematik die Richtung weisen kann. Sowohl Christian Gotthilf Salzmann als auch Adolph Diesterweg haben mit ihrer Religions-Pädagogik und Reform-Pädagogik interdisziplinäre Verhältnisbestimmungen präsentiert und vertreten, die durchaus geeignet sind, um aus der Geschichte der Religionspädagogik zu lernen.

107

 Vgl. u.a. Henning Schröer: Humanwissenschaften und Religionspädagogik, in: Der evangelische Erzieher 29 (1977), 150–177, besonders 167–177.

Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? Ein Beitrag zum Reformationsjahr Reinhold Mokrosch

Im 500. Gedenkjahr wird die Reformation des ausgehenden Spätmittelalters bzw. der anbrechenden Neuzeit häufig als »Reformation der Bildung« bezeichnet.1 Martin Luther und Philipp Melanchthon hätten die Bildungsprogramme der Scholastik, die für das Seelenheil nur weniger angehender (natürlich männlicher) Kleriker und Mönche bestimmt gewesen seien, »verweltlicht« und für einen großen Kreis an Jungen, Mädchen und Erwachsenen geöffnet. Ja, die Wirkungsgeschichte dieser Bildungsreformen sei so revolutionär gewesen, dass diese noch heute vom Kindergarten bis zur Hochschule und von den Septem Artes bis zum heutigen Fächerkanon nachspürbar seien. Stimmt das? Haben Luther und Melanchthon wirklich das Tor zur neuzeitlichen Bildung aufgestoßen? Gehen Bildung und Erziehung zur Verantwortung, zur Moral, zum verantwortlichen Gebrauch des Willens, der Vernunft und des Gewissens und zu religiöser Kompetenz in irgendeiner Weise auf Luther und Melanchthon zurück? Sind deren Bildungsprogramme – oder zumindest Teile von diesen – noch heute aktuell? Schon diese Frage mag mancher Pädagoge/Religionspädagoge für absurd halten. Denn für Luther und Melanchthon gehörten Bildung und Glaube eng zusammen – eine These, die heute anachronistisch wirkt. Auch Bildung und Moral hielten beide für eine Einheit – was nach dem Grauen des 20. und 21. Jahrhunderts absurd wirkt. Außerdem waren beide überzeugt, dass un1

  Vgl. in jüngster Zeit Friedrich Schweitzer: Das Bildungserbe der Reformation. Bleibender Gehalt – Herausforderungen – Zukunftsperspektiven, Gütersloh 2016; besprochen von mir in der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), 92–95; vgl. dort weitere neuere Literatur zum Thema »Bildung und Reformation«. Vgl. weiterhin auch Reinhold Mokrosch: Erziehung und Bildung aus Luthers Sicht – heute noch aktuell?, in: Patrick Mähling (Hrsg.): Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit, Münster 2010, 172–185; Reinhold Mokrosch: Philipp Melanchthon als (Religions)Pädagoge – noch aktuell für Evangelische Bildung heute?, in: Marco Hofheinz/Harry Noormann (Hrsg.): Was ist Bildung im Horizont von Religion?, Stuttgart 2014, 117–130.

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sere inneren Affekte der äußeren Anordnung der Wissenschaften entsprechen würden (ordo affectuum correspondit ordinem doctrinarum) und richteten dementsprechend Bildung und Erziehung am Wesen des Menschen aus – auch das hat sich im Laufe der Jahrhunderte als obsolet erwiesen. Und schließlich verstanden beide unter Bildung nicht Selbstbildung, sondern Bildung durch Gottes Geist und Rechtfertigung – eine Vorstellung, die heute nur noch von wenigen Gläubigen geteilt wird. Darf man angesichts solcher Einwände überhaupt fragen, ob die reformatorischen Bildungsprogramme des ausgehenden Mittelalters bzw. der anbrechenden Neuzeit noch heute aktuell sind? Ich wage keine Antwort, auch nicht am Ende dieses Aufsatzes. Sondern ich möchte das Urteil dem Leser bzw. dem Jubilar Michael Wermke überlassen. Ich selbst versuche nur, die Bildungsvorstellungen von Luther und Melanchthon zu skizzieren, zunächst dabei zu Luther.

1. Martin Luthers Verständnis von    Erziehung und Bildung als »ein weltlich    Ding – unter dem Evangelium« Was meinte Martin Luther, wenn er von Erziehung (eruditio) und Bildung (formatio) als einem »weltlichen Ding« redete, das aber »unter dem Evangelium« stünde? Das lässt sich am besten aus seinem Widerspruch gegen das hochmittelalterlich-scholastische Bildungsverständnis eruieren, was an fünf Punkten entfaltet sei: a) Bildung und Erziehung waren nach    scholastischem Verständnis  heilsnotwendig. Es gab vom 13. bis zum 15. Jahrhundert zwar viele Schulformen: Die Pfarrbzw. Rats-, Dom- und Klosterschulen waren für die zukünftigen Kleriker vorgesehen; die Laien besuchten Elementar-, Trivial-, Grammatik- oder Lateinschulen. Aber die Zahl der Schüler war minimal. Nur 2–4 % der männlichen Jugendlichen (Kinder und Mädchen waren nicht im Blickfeld) besuchten eine Schule. Und auch die Zahl der Schulmeister war gering. Hätte man in Wittenberg eine gesamtdeutsche Lehrerkonferenz einberufen, so wären vermutlich weniger als 100 Personen zusammengekommen. Mehr Lehrer gab es in Deutschland nicht. Ihre Ausbildung war schlecht bzw. fand gar nicht statt. Die meisten beherrschten weder Grammatik noch Latein, was sie aber lehren und sprechen sollten. Alle Schulen waren von der Kirche verwaltet. Warum? Weil Erziehung und Bildung für »heilsnotwendig« gehalten wurden. Die scholastische Theologie hatte gelehrt, dass Menschen nur durch Erziehung von Begierlichkeit

Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? 331

(concupiscentia), Sünde (peccatum) und Irrtum (error) abgehalten und zum rechten Gebrauch ihrer von Gott geschenkten Vernunft (ratio), ihres Gewissen (conscientia) und ihres Willen (voluntas) angehalten werden könnten.2 Das alles sei notwendig, um zum Heil zu finden und die von Gott durch Christus angebotene Gnade annehmen zu können. Jeder Mensch, so war man im Hoch- und Spätmittelalter überzeugt, sei erziehungsbedürftig und auch erziehungsfähig, um diese Gnade Gottes anzunehmen. Deshalb wurden Erziehung und Bildung für eine geistliche Angelegenheit und als Sache der Kirche angesehen. Erziehung war ein »verdienstliches Werk«, weil man damit Jugendliche von Sünde abhalten könne. Schule war eine heilsnotwendige, religiöse Unterweisung und Verkündigung. b) Luther protestierte gegen die Heilsnotwendigkeit von Bildung. Dem widersprach Luther entschieden: Erziehung war für ihn ein »weltlich Ding« und nicht heilsnotwendig.3 Sie betreffe nämlich den äußeren (homo exterior) und nicht den inneren Menschen (homo interior), denn sie forme ihn als Leib und Geist, nicht als Seele, was dem Evangelium aufgetragen sei. Und sie forme ihn als Bürger des »Reiches der Welt«, nicht des »Reiches Gottes«, was wiederum Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums sei. Und schließlich führe sie ihn zum Verstehen »bürgerlicher« (iustitia propria et civilis), nicht »göttlicher Gerechtigkeit« (iustitia aliena et Dei), was die Aufgabe der Predigt sei. Deshalb gehörten Erziehung und Bildung, so folgerte er, in den Bereich der weltlichen und nicht der geistlichen Obrigkeit. Nicht Bischöfe, sondern Fürsten und Ratsherren hätten dafür Sorge zu tragen, dass überall Schulen eingerichtet würden und dass Kinder, Jungen und Mädchen (!) diese Schulen pflichtgemäß besuchen sollten.4 Luther wollte durch Erziehung und Bildung zu weltlichen Berufen und freilich auch zum Verstehen der Heiligen Schrift und des Evangeliums hin erziehen, während die Scholastiker zum Heil und zum Glauben erziehen wollten. 2

  Dahinter stand die Vorstellung der Antike, dass jeder Mensch niedere und höhere Eigenschaften besitze und dass man die niederen zugunsten der höheren unterdrücken könne. 3   Vgl. u.a. Weimarer Ausgabe. Band 34/1 (1908), 415 (Zeile 26f.). 4   Vgl. Luthers Schulschrift von 1524 in der Weimarer Ausgabe. Band 15 (1899), 9–53, dort besonders 34 und 46: »Manche Eltern verhärten sich wie der Vogel Strauß seinen Jungen gegenüber, der es dabei bewenden lässt, dass er die Eier von sich geworfen und Kinder erzeugt hat. Weiter tun sie nichts! [...] Andere Eltern haben nichts gelernt als den Bauch und nicht die Seelen ihrer Kinder zu versorgen. […] Darum gebührt es dem Rat und der Obrigkeit, die allergrößte Sorgfalt und Mühe auf das junge Volk zu verwenden.« Und dann wiederholte er, »dass die Knaben täglich eine Stunde oder zwei […] und auch Mädchen täglich eine Stunde zur Schule gehen sollten.«

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c) Gottes Menschwerdungs-Pädagogik war    Luthers Leitbild für unsere Pädagogik. Leitbild jeder Pädagogik war für ihn die »Pädagogie Gottes«. Sein klassisches Argument lautete: »Gott, weil er Menschen ziehen wollte, ist Mensch geworden. Wollen wir Kinder ziehen, so müssen wir mit ihnen lallen.«5 Er verstand die Menschwerdung Gottes als pädagogisches, das heißt als Erziehungs- und Bildungsgeschehen. Und unsere menschliche Erziehung solle, so forderte er, ein Nachvollzug bzw. eine Nachfolge der Menschwerdung Gottes sein. Wie Gott uns Menschen ein Mensch wurde, so sollen wir den Kindern ein Kind werden – natürlich ohne kindisch zu sein. Erziehung ist damit Imitatio Dei in Gestalt einer Imitatio Christi. Allerdings: Gottes Pädagogie sei eruditio absoluta, während unsere Erziehung eruditio relativa sei.6 Als solche gehe sie unserer menschlichen Erziehung immer voraus. Deshalb nennt Luther jede Erziehung zwar ein »weltlich Ding«, aber eben »unter dem Evangelium der Menschwerdung Gottes«. Ich erkenne in dieser Aufgabe von Lehrern eine Funktion des »Priestertums aller Gläubigen«. Sie waren für Luther sozusagen säkulare Didaktik-Priester. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Sie leisteten nach Luthers Verständnis (nur) Hebammendienste, weil sie der von Gott geschenkten Gnade und Rechtfertigung jedes Schülers zum Durchbruch und Verstehen verhelfen sollten. Jeder Lehrer sollte jeden Schüler als von Gott gerechtfertigtes und geliebtes Geschöpf respektieren und annehmen. d) Das Ziel christlicher Bildung und Erziehung war für Luther    eine verantwortliche Wahrnehmung christlicher Freiheit. Ich muss vorsichtig sein: Luther wollte keineswegs durch Erziehung und Bildung christliche Freiheit verkünden oder gar Menschen befreien. Nein, Lehrer sollten ihren Eleven nur die Bedingungen für die Annahme christlicher Freiheit zum Verstehen bringen. In seiner Freiheitsschrift von 1520 hatte er ja die unvergleichliche These aufgestellt: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.«7 Der erste Teil dieser Antithese betraf den inneren Menschen als Seele, der durch Verkündigung frei wird; der zweite Teil den äußeren Menschen als Leib und Geist, der durch Erziehung und Bildung »frei zum Dienen« wird. 5

  Kompilation aus: Weimarer Ausgabe. Band 19 (1897), 78 (Zeile 13ff.), und Weimarer Ausgabe. Band 30/1 (1910), 143 (Zeile 9f.). 6   Vgl. Weimarer Ausgabe. Band 5 (1892), 411. 7   Weimarer Ausgabe. Band 7 (1897), 21 (Zeile 1–4).

Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? 333

Und in seiner bereits erwähnten Schulschrift von 1524 betonte er diesen zweiten Teil seiner Freiheits-Antithese gegenüber den Ratsherren, dass Christen Bildung bräuchten, um die Dialektik christlicher Freiheit überhaupt verstehen zu können. Sie müssten sich die Bedingungen aneignen, um die von Gott geschenkte Freiheit auch wirklich entdecken, anwenden und praktizieren zu können. Welche Bedingungen sind das? Ich nenne einige: So war Luther erstens besonders wichtig, dass schon jeder Jugendliche zwischen »Reich Gottes« und »Reich der Welt« unterscheiden könne. Christen lebten zwar noch im Reich der Welt, gehörten aber kraft der Rechtfertigung Gottes schon jetzt dem Reich Gottes an und könnten für sich persönlich schon jetzt nach der Bergpredigt leben, das heißt die andere Wange hinhalten, nicht richten und nicht sorgen – aber als Weltbürger müssten sie natürlich sich und andere verteidigen, Recht sprechen und Vorsorge üben. Schon Jugendliche sollten erkennen, dass Gott ein weltliches und ein geistliches Regiment führe. Und dementsprechend solle auch jeder Jugendliche zweitens erkennen, dass er sowohl vor Gott als auch vor der Welt Rechenschaft ablegen müsse. Er wird von Gott und von der Welt gefragt: Wie bist Du mit der Bergpredigt, dem Dekalog und dem Gesetz Gottes umgegangen? Und wie hast Du das in das weltliche (römische) Gesetz eingebracht? Hast Du Dich für so wenig Gewalt, Zwang wie möglich und für Frieden eingesetzt? Das heißt auch, dass jeder drittens zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden müsse. Mit dem (göttlichen und weltlichen) Gesetz solle er handeln, mit dem Evangelium solle er sich seiner Geschöpflichkeit, Rechtfertigung und Erlösung durch Gott und Christus stets neu bewusst werden. Ferner solle jeder viertens zwischen Gottes Gerechtigkeit und weltlicher Gerechtigkeit unterscheiden: Gottes schenkende Gerechtigkeit, mit welcher Gott uns vergibt und nicht straft, könne nicht ohne weiteres Maßstab weltlichen Handelns sein, solle aber so weit wie möglich in die weltliche Gerechtigkeit Eingang finden. Und schließlich solle jeder Schüler fünftens sich darüber im Klaren sein, dass er Geschöpf Gottes ist und als solches selbst Schaffender, nicht Schöpfer sein kann und soll. Er solle seine Aktivität aus der dankbaren passiven Annahme seiner Geschöpflichkeit gewinnen. Diese Bedingungen müssten erlernt werden, damit auch Jugendliche die Freiheits-Antithese begreifen und mit christlicher Freiheit verantwortlich umgehen können. e) Ein besonderes Ziel christlicher Bildung war für Luther der Gebrauch  evan   gelischer Gewissensfreiheit bzw. der Gebrauch eines getrösteten  Gewissens. Gewissenserziehung gehörte für Luther zu den wesentlichsten Aufgaben evangelischer Erziehung und Bildung. Als er selbst am 18. April 1521 vor Kaiser und Reich in Worms stand, hatte er dem Kaiser und 1.500 Jahren Christentumsgeschichte mit seinem Gewissen widerstanden und erklärt:

334 Reinhold Mokrosch

»Mein Gewissen ist in Gottes Wort gefangen, und ich kann und will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Ich kann nicht anders (hier stehe ich), Gott helfe mir. Amen.«8 Dieses Zitat zeigt, dass er natürlich nicht zu einer autonomen Gewissensfreiheit im Sinne unserer Neuzeit erziehen wollte und konnte. Im Gegenteil! Luther war fern jeder Vorstellung von einem souveränen, autonomen Menschen. Er hielt den Menschen für einen »Madensack« und ein »Reit-Tier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird«. Souveränität und Autonomie kannte er nicht. Seine Anthropologie war spätmittelalterlich! Und folglich kannte er auch kein autonom-freies Gewissen. Sondern er kannte nur ein von Gott getröstetes Gewissen. Er war nämlich überzeugt, dass jedes Gewissen nur zum Bösen fähig sei und nur dann Gutes tun könne, wenn es sich von Gott befreien und trösten lassen würde.9 Um das zu verstehen, brauche jedes Kind und jeder Jugendliche und Erwachsene Bildung und Lebensbegleitung bei seinen Gewissenskonflikten. Denn nur wenn dem im Gewissen Zweifelnden und Verzweifelten von einem Mitmenschen mitgeteilt wird: »Erinnere Dich, wie Christus jetzt handeln würde und lass Dich durch Christus von allen Bindungen und Begierden Deines Gewissens befreien«, könne er mit »getröstetem Gewissen« entscheiden und handeln. Eine Vermittlung der Bedingungen von Gewissenströstung und Gewissensbefreiung waren nach Luther damit zentrale Aufgaben christlicher Erziehung und Bildung.

2. Zur Aktualität von Luthers    Erziehungs- und Bildungsverständnis Ist Luthers Erziehungs- und Bildungsverständnis noch heute aktuell? Luther wollte zur »Verantwortung aus Freiheit« erziehen. Jeder solle zu der Einsicht kommen, dass er durch Gottvertrauen von weltlicher Abhängigkeit befreit und unabhängig werden könnte, um frei zu werden für verantwortliche Entscheidungen, Urteile und Handlungen im Alltag. Eine solche Erziehung zum rechten Gebrauch der Freiheit für eine verantwortliche Lebensführung ist m.E. noch heute hoch aktuell. Ja, sie entspricht m.E. Klafkis Konzept einer Erziehung zum verantwortlichen Umgang mit Schlüsselproblemen unserer Zeit – freilich ohne die Bindungen des Gottvertrauens und des Glaubens an 8

  Vgl. Weimarer Ausgabe. Band 7 (1897), 838 (Zeile 7–9).   Vgl. zu Luthers Beschreibung der Tröstung und Befreiung des Gewissens durch Gott in seiner Schrift »De votis monasticis Martini Lutheri iudicium« (»Von den Mönchsgelübden, Urteil Martin Luthers«) von 1521 (Weimarer Ausgabe. Band 8, 1889, 573–669) meine Auslegung in Reinhold Mokrosch: Gewissen und Adoleszenz. Christliche Gewissensbildung im Jugendalter, Weinheim 1996, 284–292.

9

Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? 335

eine Rechtfertigung jedes Schülers als Ermöglichungsgrund freier Verantwortung. Damit stellt sich die Frage: Kann man auf Luthers Bedingungen christlicher Freiheit verzichten und ihn säkularisieren? Zunächst: Ja, Luthers Bedingungen für die Einsicht in die Freiheit sind heute für viele obsolet geworden. Luther betonte damals, dass Schüler zur Einsicht geführt werden sollten, dass sie einerseits Geschöpfe Gottes sind und von Gott erhalten und befreit werden, dass sie andererseits aber auch ihr Leben selbst schaffen und gestalten müssen; dass sie schon jetzt dem Reich Gottes angehören und deshalb sich mühen sollen, das Recht des Reiches Gottes im Alltag so weit wie möglich auszubreiten; dass sie die Bergpredigt exemplarisch für sich praktizieren sollen, in der Verantwortung für andere aber weltliches Recht anwenden müssen; dass sie als innerer Mensch von Gott befreit und gerechtfertigt worden sind, als äußerer Mensch aber der Erziehung und weltlichen Obrigkeit bedürfen; und dass Gott sie als Christperson mit dem Evangelium und als Weltperson mit dem Gesetz anspricht. Diese Einsichten sind heute für die meisten Pädagogen, selbst Religionspädagogen, nicht mehr nachvollziehbar. Aber könnte das nicht aktualisiert und säkularisiert heißen: Sie sollen zu der Einsicht erzogen werden, dass menschliche Vernunft, Intelligenz, Gewissens- und Willensfähigkeit begrenzt sind und nicht überschätzt werden dürfen; dass jedes Konzept, jede Ideologie und jede Überzeugung nur einen relativen und keinen absoluten Charakter haben kann; und dass sie, die Schüler, deshalb kritisch sein müssen gegenüber sich absolut setzenden Ideologien, Religionen, Weltanschauungen, Rechtssätzen und Gesellschaften? Karl Ernst Nipkow redet von der Fähigkeit zu »freisetzender Unterscheidung«10: Erzieher sollten das Mögliche vom Unmöglichen, das Lehrbare vom Unlehrbaren unterscheiden und sich damit vom Zwang zu absoluter Richtigkeit befreien. Sie sollten auf dogmatische und didaktische Verabsolutierungen verzichten und sich der Begrenztheit ihrer Erziehung bewusst werden. Das mache sie (selbst)kritikfähig und offen für andere Positionen. Das Eingeständnis des Scheiterns der Erziehung gehöre dazu. Deshalb sollte ein »evangelischer« Erzieher keine absoluten Urteile über Weltanschauungen, Religionen, Konfessionen und Philosophien und auch nicht über Schlüsselfragen unserer Zeit im Bereich von Ökologie, Ökonomie, Gen- und Biotechnik, Pazifismus, Bellizismus etc. äußern. Persönliche klare Stellungnahmen sind zwar unbedingt nötig! Aber mit eschatologischem Vorbehalt! Nicht Menschen, sondern Gott spricht das letztgültige Urteil. Dessen sollten sich Erzieher bewusst sein. Und sie sollten auch ihre Schüler entsprechend unterrichten.

10

  U.a. Karl Ernst Nipkow: Erziehung, in: Theologische Realenzyklopädie. Band 10 (1982), 232–254, 245 (im Original kursiv).

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Wir sollen unseren Schülern bei der Umsetzung ihrer Freiheit zu verantwortungsvollem Handeln und Entscheiden Hilfestellung leisten. Viele brauchen diese Hilfe, weil sie zwar verantwortungsbereit, aber orientierungslos sind. Um ein Beispiel zu nennen: Viele sind bereit, die Schöpfung zu schützen – in der Ökologie, in der Bio- und Gentechnik, bei verbrauchender Embryonenforschung, bei der Reproduktionsmedizin, bei der Sterbehilfe etc. Immer wieder argumentieren sie mit der »Schöpfung«. Aber es ist nicht klar, was Schöpfung ist. Ist sie der Status quo? Ist sie ein ständiger Entwicklungsprozess? Gehört menschliche Forschungskraft auch zur Schöpfung? Fragen über Fragen! Die Bereitschaft, notfalls mit einer sich als falsch erweisenden Antwort leben und vor Gott Rechenschaft ablegen und um Vergebung bitten zu können, ist in solchem Fall dringend notwendig. Solche Bereitschaft, notfalls auch zu scheitern oder gar schuldig zu werden, entspricht einer »Verantwortung aus Freiheit«. Ist ein solcher Verzicht auf Luthers Bedingungen christlicher Freiheit zugunsten einer säkularisierten Pädagogik möglich? Ich möchte das endgültige Urteil dem Leser und auch dem Jubilar Michael Wermke überlassen.

3. Philipp Melanchthons humanistisch   reformatorisches Bildungsprogramm Philipp Melanchthon vertrat eine liberalere Anthropologie als Luther. Für ihn war der Mensch kein »Madensack« und kein »von Gott oder vom Teufel gerittenes Tier«, sondern ein Wesen, das zu Vernunft, Verantwortung, freiem Willen und freiem Gewissen fähig wäre, wenn diese nicht durch Sünde vernebelt wären. Aber Bildung war für ihn ein Instrument, um diese in der Schöpfung mitgegebenen Fähigkeiten erkennen und wieder frei legen zu können. Das war eine für Luther unvorstellbare, ja häretische Vorstellung! Melanchthon war eben Humanist, Luther nicht. Ist Melanchthons Bildungsprogramm uns deshalb näher als dasjenige Luthers? Ich neige zu dieser Auffassung, möchte aber wiederum das letzte Urteil dem Leser überlassen. Dazu referiere ich die Eckpunkte von Melanchthons Bildungsprogramm in drei Punkten: a) Melanchthons Vorstellung von einer Erziehung zu einem freien Willen Melanchthon hatte durch seinen Oheim Johannes Reuchlin (1455–1522) und aufgrund seiner Kontakte zu Humanisten in Tübingen ein, wie gesagt, relativ positives Menschenbild nach Wittenberg mitgebracht. Es war zwar nicht das südalpine Menschenbild eines Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) oder eines Marsilio Ficino (1433–1499), Lorenzo Valla (gest. 1457) oder Francesco Petrarca (1304–1374). Sondern es war die nordalpine Vorstellung, dass der Mensch als Gottes Geschöpf und Ebenbild trotz des Sünden-

Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? 337

falls noch göttliche Züge und zumindest einige »Funken« (scintillae) seines Gewissens, seiner Vernunft, seines Verstandes und seines Willens in sich trage. Und an diese »Funken« müssten Erziehung und Bildung anzuknüpfen, um der Schöpfung und damit einer Öffnung für die Rechtfertigungsgnade Raum zu geben. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass Melanchthon, als er Luther seit 1518 schätzen lernte, sich auch von dessen Zweifel an den Fähigkeiten des Menschen und von dessen Kritik am Humanismus beeinflussen ließ. So schrieb er 1521 in seinen »Loci communes«: »Wenn du den menschlichen Willen unter dem Blickwinkel der Vorherbestimmung begutachtest, gibt es weder in äußeren noch inneren Werken irgend eine Freiheit, sondern alles geschieht aufgrund göttlicher Bestimmung.« Aber er fuhr dann in humanistischer Weise fort: »Wenn du den Willen unter dem Gesichtspunkt der äußeren Werke beurteilst, scheint es nach dem Urteil der Natur eine gewisse Freiheit zu geben.«11 Und auch dem Gewissen sprach er Freiheit in weltlichen Dingen zu: »Du hast in der Schrift klare Sätze, die lehren, dass die Gewissen nicht an Menschensatzungen gebunden sind […]. Die werden aber Sklaven von Menschen, denen die Gewissensfreiheit durch Menschensatzungen entrissen wurde. Denn wie die christliche Freiheit eine Freiheit des Gewissens ist, so ist auch die Versklavung der Christen eine Versklavung des Gewissens.«12 In geistlichen Fragen des Heils gestand er dem Menschen keinerlei Willensoder Gewissensfreiheit zu, wohl aber in weltlichen Angelegenheiten. Diese Position erkenne ich auch in Artikel 18 der Confessio Augustana »Vom freien Willen«, wenn Melanchthon konzediert: »Vom freien Willen wird folgendermaßen gelehrt: dass der Mensch in gewissem Maß einen freien Willen hat, nach dem er äußerlich ehrbar leben und unter den Dingen wählen kann, die die Vernunft begreift«13. Von Willensunfreiheit redete er allein in Heilsangelegenheiten und nicht in weltlichen Dingen. Allerdings verstand auch er seit den »Loci« gute Werke als eine Folge und nicht Voraussetzung der Gnade Gottes und des Glaubens an Christus. Melanchthon behauptete also nicht, dass jeder Mensch in weltlichen Angelegenheiten einen freien Willen und ein freies Gewissen habe, sondern dass er mittels Bildung und Erziehung beides entfalten könne. Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen gebildet werden, um freie Willens- und Gewissensentscheidungen fällen zu können. Wie gesagt: Er ging nicht so weit, dass er sagte, jeder Mensch könne sich frei für oder gegen Gott, für oder 11

  Philipp Melanchton: Loci communes, Gütersloh 1993, 45 (Übersetzung von Horst Georg Pöhlmann). 12   A.a.O., 151 (Übersetzung von Horst Georg Pöhlmann). 13    Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelischen- lutherischen Kirche, Gütersloh 62013, 59 (Übersetzung von Notger Slenczka).

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gegen den Glauben entscheiden. Der Glaube war auch für Melanchthon ein Geschenk Gottes. Aber Menschen können mit ihrem weltlich freien Willen und Gewissen die Bedingungen schaffen, damit sie das Gottesgeschenk des Glaubens erkennen und schätzen lernen. Mit dieser humanistischen Position stand Melanchthon dem Tor der Neuzeit entschieden näher als Luther. Es lag in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts aber auch geradezu in der Luft, dem Menschen coram mundo einen freien Willen in seiner Entdeckerfreude zuzugestehen: Johannes Gutenbergs (gest. 1468) Buchdruckerkunst hatte Europa erobert. Die Erfindung der Uhr gab den Menschen Macht über die Zeit. Die Seewege nach Indien und Amerika waren von Vasco da Gama (1469–1524) und Christoph Kolumbus (gest. 1506) entdeckt worden. Das heliozentrische Weltbild hatte sich durchgesetzt. Die Wirtschaft boomte durch den Bergbau. Und das Kriegs- und Kampfmaterial wurde aus Eisen und Stahl produziert. Der Mensch wurde mit seinen Fähigkeiten als »Krone« der Schöpfung verstanden. Und damit wurde ihm Willens- und Gewissensfreiheit zugestanden. Übersteigerte Lobeshymnen über die Göttlichkeit des Menschen lagen in der Luft. Aber vor solcher Übersteigerung wollten Luther und Melanchthon freilich die Gesellschaft bewahren, indem sie immer wieder auf die Sündhaftigkeit der Menschen hinwiesen. b) Erziehung zum Gebrauch des freien Willens für »gute und gerechte Werke« Ein gebildeter Mensch, so war Melanchthon überzeugt, sei in der Regel auch ein guter und gerechter Mensch. Denn Bildung sei notwendig, damit ein Mensch das weltliche Gesetz und die weltliche Gerechtigkeit (iustitia civilis) begreifen und praktizieren könne. Der Weg zu einem guten Menschen sei der doppelte Gebrauch des Gesetzes: der usus legis theologicus und der usus legis civilis. Im ersteren Fall sei mit Gesetz das göttliche Gesetz gemeint, zum Beispiel die Bergpredigt oder der Dekalog. Die Forderungen »Liebt eure Feinde«, »Widersteht nicht dem Bösen«, »Richtet nicht«, »Sorgt euch nicht« oder »Tötet nicht« würden jedem, der sie zu erfüllen versucht, seine totale Unfähigkeit vor Augen führen und ihm deutlich machen, dass er ohne Gottes Hilfe diese Gesetze und Forderungen niemals erfüllen könne. Er kann sie nur – und wenn überhaupt, dann nur teilweise und in abgemilderter Form – erfüllen, wenn er an Gottes Beistand und Hilfe glaubt. Das ist der »theologische« Gebrauch des Gesetzes. Er führt zum Glauben an Gottes Beistand. Der »zivile, weltliche« Gebrauch des Gesetzes bezieht sich auf das weltliche Gesetz, so auf das Römische Recht. Die Aufforderung zum Beispiel, dass der Fürst Frieden stiften und nicht Krieg führen solle, zeigt diesem, dass zwar auch er auf Gottes Hilfe angewiesen ist, aber im Sinne des weltlichen Rechts und weltlicher Mittel. Der weltliche Gebrauch des Gesetzes öffnet die

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Augen für die von Gott geschenkten weltlichen Gesetze und Mittel, um Frieden und Ordnung zu erhalten. Beide Arten des Umgangs mit weltlichen und mit göttlichen Gesetzen sind nach Melanchthon der Weg, um den Willen zu guten und gerechten Taten und Verhalten anzuleiten. Dieser Weg solle durch Erziehung und Bildung beschritten werden. c) Sprachfähigkeit (eloquentia), Denkfähigkeit (prudentia) und Spiritualität/    Frömmigkeit (pietas) sind Basis und Ziel der Bildung. Sprachfähigkeit ist für Melanchthon ein Grundelement von Bildung. Warum? Zum einen, weil auch Gott sich der Sprache bediene, wenn er uns in den Worten des Evangeliums begegnet. Zum anderen, weil die Prägung des Geistes (mentis character) und die Gestalt der Sprache (orationis forma) übereinstimmen. Sprachfähigkeit werde durch Grammatik, Rhetorik und Dialektik eingeübt. Das alles sei Aufgabe von Erziehung und Bildung. Denkfähigkeit sei notwendig, um unsere innere Affektwelt mit der Anordnung der Wissenschaften in Übereinstimmung zu bringen. Denn Melanchthon war überzeugt: ordo affectuum correspondit ordinem doctrinarum. Es müsse eine Balance hergestellt werden zwischen innerem Denken und äußerem Sein, weil Denken und Sein sich entsprechen würden. Das könne nur durch Bildung hergestellt werden. Spiritualität bzw. Frömmigkeit seien Ziel, aber auch Basis von Bildung. Durch Gottesdienst, Gebet, Chorsingen, Sakramentsempfang und Bibellektüre würde man seine Geschöpflichkeit und seine Rechtfertigung erkennen und möglicherweise sogar neu erwerben können. Vielleicht erinnerte Melanchthon sich auch noch an den Spruch, der während seiner Studienzeit in Tübingen an der Burse hing: »Kirchen gehen seumet nicht! Almosen geben armet nicht! Unrecht Gut faselt nicht [unrechtmäßig erworbene Güter gedeihen nicht]!« Eloquentia, prudentia und pietas waren für Melanchthon also Fähigkeiten, um zum Glauben und zu einem humanen Gebrauch der Vernunft, des Willens und des Gewissens zu gelangen. Er wollte den Menschen damit nicht – wie Erasmus von Rotterdam (1466–1536) und andere Humanisten – in den ursprünglichen Stand der Schöpfung zurückführen, sondern er wollte ihn befähigen, glauben und gute Werke aus Glauben tun zu können.

4. Zur Aktualität von Melanchthons    Bildungsprogramm Ist Melanchthons Bildungsprogramm noch heute aktuell? Vieles spricht dagegen: Melanchthons Überzeugung, dass Bildung zum Glauben führen kön-

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ne, ist seit der Aufklärung obsolet geworden. Ja, das Gegenteil ist seitdem der Fall: Bildung führt vom Glauben weg und macht religionskritisch. Ebenso war Melanchthon überzeugt, dass Bildung zur Moral führe. Dieses Ideal ist nicht zuletzt in den Grauen des 20. Jahrhunderts endgültig untergegangen. Bildung und Wissenschaft wurden oft genug in den Dienst der Vernichtung der Menschheit gestellt. Hier bestätigt sich eher Luthers Anthropologie, dass der Mensch von Natur aus nur zum Bösen fähig sei. Schließlich glaubte Melanchthon, dass das innere Seelenvermögen der äußeren Ordnung der Welt entsprechen müsse. Auch dieses Ideal ist im Verlauf der chaotischen Wissenschaftsgeschichte untergegangen. Kunst und Wissenschaft befinden sich keineswegs in einer verständlichen Ordnung und entsprechen keineswegs dem menschlichen Seelenvermögen. Auch hier ist wahrscheinlich Luthers Klage über die Unfähigkeit der Wissenschaft und über die »Hure Vernunft« aktueller als Melanchthons Hoffnungen. Manches spricht aber auch dafür, dass Melanchthon noch aktuell ist: Sprachliche Bildung als Erbe protestantischer Pädagogik ist heute angesichts der Verwahrlosung von Sprache zum restringierten Code wichtiger denn je. Freilich stimmen Denken und Sein in der Sprache niemals überein, sondern gerade in der Sprache wird man sich des Auseinanderklaffens beider schmerzlich bewusst. Aber vielleicht ist gerade deshalb Erziehung zu Wort und Sprache enorm wichtig. Auch die optimistische pädagogische Anthropologie Melanchthons ist ein hilfreiches Korrektiv zu Luthers Negativbild vom Menschen. Die Überzeugung, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu wirklich befreitem Gewissen, Willen und Vernunft und zu verantwortlichem, humanem Gebrauch derselben herangebildet werden könnten, bewirkt eine große Ermutigung für alle Lehrer. Freilich sollten besonders die christlichen Lehrer und Pfarrer überzeugt sein, dass ihre Schüler nur durch Gottes Rechtfertigung und nicht von sich aus zum Guten fähig sind. Aber gerade diese Einsicht, dass alle Schüler von Gott gerechtfertigt seien, führt zu einem großen Respekt vor ihnen. Unter religionspädagogischem Gesichtspunkt halte ich auch Melanchthons – wie auch Luthers – Unterscheidung zwischen einer Erziehung zu weltlicher Gerechtigkeit (durch einen weltlichen Gebrauch des Gesetzes) und einer zu göttlicher Gerechtigkeit (durch einen theologischen Gebrauch des Gesetzes) für aktuell. Diese befreit Religionslehrkräfte von dem Anspruch, zum Glauben erziehen zu sollen. Es geht um die Bedingungen des Glaubens, nicht um den Glauben selbst. Aber es geht um christliche Ethik und Moral. Diese sollten im Zentrum des Religionsunterrichts stehen. Diese Elemente sprechen m.E. für die Aktualität der Bildungsprogramme Philipp Melanchthons.

Sind Luthers und Melanchthons Bildungsprogramme noch heute aktuell? 341

5. Fazit Sind Luthers und/oder Melanchthons Bildungsprogramme noch aktuell? Ich möchte mich, wie gesagt, eines abschließenden Urteils enthalten. Ob man – wenn überhaupt – Luther oder Melanchthon den Vorrang gibt, hängt m.E. wesentlich von der Einschätzung ihrer Anthropologie ab. Unterscheidet man mit Luther zwischen innerem und äußerem Menschen, zwischen der doppelten Verantwortung des Menschen vor Gott und vor der Welt, zwischen innerer, von Gott geschenkter Gerechtigkeit und äußerer, weltlicher Gerechtigkeit und auch zwischen Gesetz und Evangelium, und vertritt die Meinung, dass der äußere Mensch auch nach seiner Rechtfertigung weiterhin zum Bösen und zur Sünde tendiere, dann wird man Luther in vielem den Vorzug geben. Verzichtet man aber mit Melanchthon auf diese bleibenden Unterscheidungen angesichts der Rechtfertigung und ist überzeugt, dass Menschen durch Bildung grundlegend zum Guten befähigt werden können, dann tendiert man eher zu Melanchthon. Ich möchte die Entscheidung den Lesern und unserem Jubilar Michael Wermke und dessen Einsichten in die Reformation überlassen.

Bildung als theologisches Thema Dogmatische Begründungen und Perspektiven Miriam Rose

Zum Selbstverständnis evangelischen Christentums gehört es, bildungsaffin zu sein und der Bildung einen hohen Wert im religiösen Leben einzuräumen. Das konkretisierte sich in der Erwartung an das evangelische Pfarrhaus, eine Institution umfassender kultureller und literarischer Bildung zu sein. Umso mehr kann der Befund erstaunen, dass zur Begründung, zum Sinn und zum Status von (kultureller) Bildung wenig aus dogmatischer Sicht entfaltet wurde. Warum und wozu soll es gut sein, dass Menschen sich bilden und Bildung erwerben? Warum soll es aus theologischen Gründen ein Menschenrecht auf Bildung und Bildungsgerechtigkeit geben? Warum ist es kirchlicherseits sinnvoll, sich weltweit für ein gutes Schulwesen einzusetzen? Da gegenwärtig die Religionspädagogik sich vor allem an der komplexen Herausforderung misst, religiöse Bildung und Religionsunterricht als sinnvollen Teil der allgemeinen (schulischen) Bildung zu begründen, mag es wie ein Glasperlenspiel erscheinen, die öffentliche Überzeugung von der Bedeutung allgemeiner Bildung auch noch spezifisch theologisch zu fundieren. Doch damit das Thema »Bildung« verstärkt zu einem Thema aller theologischer Fächer wird, mag eine Skizzierung der theologischen und dogmatischen Verankerung des Bildungsthemas hilfreich sein.1 Zunächst folgen daher einige wenige allgemeine Überlegungen zu Grundeinsichten theologischer (und nicht nur theologischer) Bildungstheorien, dann werden dogmatische Begründungen von Bildung auf der Grundlage theologischer Anthropologie skizziert. Als Ausblick dienen Überlegungen zur Bedeutung des Bildungsthemas für die evangelischen Kirchen in Europa.

1

  Eine Vorfassung dieser Überlegungen ist in den Arbeitsprozess der Südosteuropa-Regionalgruppe der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa zum Thema »Bildung« eingeflossen.

344 Miriam Rose

1. Grunddifferenzierungen in theologischen    Bildungstheorien Wer nach theologischen Bildungstheorien oder präziser nach theologischen Perspektiven auf Bildung fragt, intendiert eine Einordnung des Themas »Bildung« in eine theologische Wirklichkeitsdeutung, insbesondere in eine theologische Anthropologie. Das Hauptcharakteristikum theologischer Anthropologie besteht darin, den Menschen von daher zu deuten, wie Gott sich auf den Menschen bezieht und wie der Mensch in dieser Gottesbeziehung lebt. Daraus ergeben sich für die Bildung folgende spannungsvolle theologische Grundeinsichten:2 • Subjekt der Bildung: Gott muss theologisch als das eigentliche Subjekt aller Bildung gedacht werden, um Gott als Gott zu denken. Ob dies nun mittels der Gottesvorstellung »Gott als alles bestimmende Wirklichkeit« oder »Gott als Grund des Seins« etc. geschieht, ist an dieser Stelle zweitrangig. Andererseits müssen die Menschen als Subjekte ihrer eigenen Bildung und als Subjekte des Bildungshandelns an anderen gedacht werden, um Menschen überhaupt als menschliche Personen zu verstehen. In theologischer Perspektive sind bei jedem Bildungsgeschehen Gott als Subjekt, Mitmenschen als mitwirkende Subjekte und das Individuum als Subjekt seiner eigenen Bildungsgeschichte in differenzierter Weise als beteiligt zu konzipieren. • Unverfügbarkeit und Gestaltbarkeit: Bei aller reflektierten Mühe, die sich Menschen mit ihrem Bildungshandeln an anderen oder an sich selbst geben, bleibt jeweils offen, ob und welche Wirkung es auf die zu Bildenden hat. Insofern ist das Bildungsgeschehen einerseits als dem Menschen unverfügbar zu verstehen, andererseits als ein Geschehen, welches gerade alle Anstrengungen des Menschen erfordert und mobilisiert. Bildung soll und kann gestaltet werden. • Ambiguität von Bildung: So sehr Bildung als ein hohes Gut einzuschätzen ist, so sehr ist andererseits die vielfache Verwendbarkeit von Bildung realistisch zu sehen. Ein hohes Maß an Wissen, Kompetenzen und entfalteten Fähigkeiten kann für destruktive, problematische Zwecke eingesetzt werden, wie auch für prosoziale und zukunftsförderliche Ziele.3 Eigene Bildung kann zur Abgrenzung gegenüber Menschen mit weniger Bildung, aber auch zur Öffnung für Menschen mit 2

  Die Spannungen, Polaritäten oder gar Risse, von welchen Bildung sonst noch her zu verstehen ist, werden im Folgenden nicht eigens thematisiert, aber vorausgesetzt. Vgl. dazu beispielsweise Alfred Schäfer: Das Versprechen der Bildung, Paderborn 2011, vor allem 21–40. 3   Die biblische Rede von den »Gaben des Geistes« macht Wilfried Härle in diesem Sinne fruchtbar – durch das Wirken des Heiligen Geistes werden die (vorhandenen) Begabungen und Fähigkeiten neu ausgerichtet hin für ein Wirken im Geiste der Liebe (vgl. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 22000, 378). Selbstredend gilt die prinzipielle Ambiguität von Bildung auch für theologisch-wissenschaftliche Fachkompetenz.

Bildung als theologisches Thema 345

verschiedenen Fähigkeiten, Hintergründen und kulturellen Prägungen führen. Häufig sind das keine ausschließenden Alternativen, sondern Momente in einer einzigen Bildungsbiographie. Die Ambiguität von Bildung lässt sich konkret aufzeigen, sie leitet sich jedoch auch prinzipiell ab von der ambigen Grundstruktur der Wirklichkeit aus theologischer Sicht.4 Die entscheidende Frage lautet, wie mit dieser Ambiguität von Wirklichkeit und hier konkret der von Bildung umzugehen ist, da sie nicht aufhebbar ist. Theologische Bildungskonzepte stimmen dabei mit vielen anderen Bildungstheorien darin überein, dass sie Bildung mit etwas Umfassenden verbinden wollen, was man als »Persönlichkeitsbildung«, »Herzensbildung« oder auch »Werteerziehung« bezeichnen kann. Das ist sinnvoll, insofern man sich nicht der Illusion hingibt, damit wäre die Ambiguität von Bildung überwunden. • Heil und Bildung: Glaube setzt eine Bildungsbewegung des Einzelnen und der Kirche frei; Bildung ist Ausdruck und Vollzug des im Glauben geschenkten Heils. Doch Bildung kann niemals ein Maß oder ein Kennzeichnen von Glauben sein. Gottes Rechtfertigungszusage gilt allen Menschen unabhängig von ihrem Bildungsstand und ihrem Bildungsbemühen. Die Gemeinschaft der Glaubenden, die auf Gottes Rechtfertigungszusage in Jesus Christus vertrauen, übergreift alle Unterschiede an Bildung, Wissen und Fähigkeiten. Daher hat die Theologie sowohl auf den engen Zusammenhang von Glaube und Bildung (aus der Perspektive des Glaubens), aber auch auf ihre notwendige Differenz aufmerksam zu machen und Tendenzen zu religiöser Überhöhung der Bildung zu kritisieren.5 • Vertiefung und Kritik des Glaubens durch Bildung: Glauben setzt einen Bildungsprozess frei, in dem der Mensch seinen Glauben und sich als Glaubenden tiefer verstehen lernt. Bildung kann dann auch zu Kritik an bestimmten Glaubensformen und zu Engagement für Veränderung führen. Doch Kritik kann auch Verunsicherung im Glauben bedeuten, bis hin zur Abkehr von Glaube und Kirche. Vertiefung und Kritik des Glaubens durch Bildung stehen in einem engen, unauflöslichen Zusammenhang. Diese Kritik kann auch solche Ausmaße annehmen, dass Bildung und Glauben für Menschen als einander ausschließende Alternativen erscheinen. Theologische Bildungstheorien sollten daher betonen, dass nicht nur Bildung, sondern auch Glaube ein vielschichtiger Prozess ist. Zweifel und Anfechtungen gehören zum Glauben und sind nicht sein Gegenteil. Theologie kann in diesem Prozess des Glaubens dahingehend unterstützen, indem sie zeigt, dass Glaube auf der einen Seite und Wissenschaft, Vernunft, Moderne auf der anderen Seite sich überhaupt nicht widersprechen und in einem vielschichtigen, engen Verhältnis stehen.

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  Die vielleicht prägnantesten Erörterungen dazu finden sich bei Paul Tillich: Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), Berlin/New York 2005, 223–250. 5   Vgl. dazu auch Eberhard Harbsmeier: Glaube und Bildung – Glaubensbildung, in: Martin Friedrich/Hans Jürgen Luibl (Hrsg.): Glaubensbildung. Die Weitergabe des Glaubens im europäischen Protestantismus, Leipzig 2012, 48–68, 56–58.

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2. Theologisch-anthropologische    Begründungen: Bildung und die    Individualität des Menschen Wenn theologische Anthropologie den Menschen in seinem Gottesverhältnis deutet, unterscheidet sie drei bzw. vier Dimensionen dieses Verhältnisses. Sie kommt dann auf einen Zusammenhang von drei bzw. vier Grundaussagen: der Aussage von der Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit des Menschen, der Aussage von dem Sündersein des Menschen und von dem zur Erlösung Bestimmtsein des Menschen – und der Aussage von dem Menschen in seiner Heiligung. Mit diesen drei bzw. vier Grundaussagen verbunden ist auch eine in sich christliche Überzeugung von einem differenzierten Verhältnis Gottes zu den Menschen. Gott wird gedacht als Schöpfer von Welt und Menschheit, als von der Sünde Erlösender und damit den Menschen Heiligender. Traditionell spricht die theologische Dogmatik dann von den drei Werken der göttlichen Trinität nach außen: von der Schöpfung, der Erlösung und der Heiligung. Diese drei oder vier Perspektiven theologischer Anthropologie sind in keiner Weise gleichgewichtig, aber sie gelten für die konkrete Existenz des Menschen in unauflösbarer Gleichzeitigkeit. Diese unauflösbare Gleichzeitigkeit von Perspektiven betrifft auch das Thema »Bildung«. Aus jeder einzelnen Perspektive lässt sich eine Begründung von Bildung entwickeln, wobei jeweils andere Aspekte von Bildung in den Fokus kommen. Skizzenartig seien diese Begründungen nun vorgeführt.

2.1 Schöpfungstheologische Begründung Die schöpfungstheologische Begründung kann sich in zwei verschiedenen Argumentationslinien artikulieren, entweder über den Gedanken der Gottebenbildlichkeit und darin Gottbezogenheit des Menschen, oder über den Gedanken der Geschöpflichkeit des Menschen und damit über die Natur des Menschen. Eine zentrale biblische Aussage lautet: Der Mensch ist geschaffen als Gottes Ebenbild (s. Gen 1,26f.). Seine unverlierbare Bestimmung liegt darin, Gottes Ebenbild zu werden.6 Auf diese Struktur trifft zu: »Werde, was du bist«. Der Mensch ist Gottes Ebenbild, insofern er unverlierbar und unveränderlich die Bestimmung hat, Gottes Ebenbild zu werden – unabhängig davon, wie der Mensch sich selbst zu dieser Bestimmung verhält. Der Mensch wird Got6

  Zur Geschichte und inhaltlichen Bedeutung der Rede von der Bestimmung des Menschen vgl. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie. Band 2, Göttingen 1991, 232–266.

Bildung als theologisches Thema 347

tes Ebenbild in dem Sinne, dass er, christlich gesprochen, durch Heiligung Gott in seinem Leben mehr und mehr Raum gibt. Darin wird er immer mehr Ausdruck und Zeugnis von Gottes umfassender Liebe. Dies geschieht stets auf individuelle Weise und in Bezug auf andere Menschen in ihrer Individualität. Um in solcher Weise Individualität kommunikativ und sozial leben zu können, bedarf es eines lebenslangen Prozesses. Dieser Prozess ist ein Bildungsprozess, der alle Dimensionen des Menschseins betrifft. Zur Gottebenbildlichkeit des Menschen gehört auch sein Herrschaftsauftrag, seine Bestimmung zur verantwortlichen Weltgestaltung. Dies erfordert Bildung im umfassenden Sinne. An der Erfüllung seiner Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit ist der Mensch durch Sünde gehindert; der Mensch lebt nicht als Gottebenbild und versteht nicht einmal, was das wirklich bedeuten würde. In und durch Christus ist zu sehen, was wahre Gottebenbildlichkeit bedeutet. Auch mit der Geschöpflichkeit des Menschen ist der Bildungsgedanke eng verbunden. Der Mensch ist geschaffen als sozial bezogenes Individuum und als Wesen endlicher Freiheit.7 Als solches bedarf jeder Mensch Bildung, weil Freiheit eine Erkenntnis des anderen, der Welt und der eigenen Möglichkeiten und Grenzen erfordert. Ein theologischer Bildungsbegriff im Horizont der Schöpfungslehre könnte dann wie folgt lauten: Bildung ist »gesteigerte Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungskompetenz und mithin [...] die Realisierung von mehrdimensional begriffener Freiheit«8. Schöpfungstheologische Begründungen zielen vor allem auf die ethische Verpflichtung, allen Menschen Bildung zu ermöglichen, insbesondere auch eine elementare Schulbildung. Das umfasst weibliche und männliche Menschen, Menschen mit und ohne Behinderung, Menschen in Friedens- und in Kriegssituationen, in Flüchtlingslagern wie in stabilen Wohnverhältnissen. Was theologisch mit dem Begriff »Schöpfungstheologie« ausgedrückt wird, hat viele Schnittflächen mit dem Menschenwürdediskurs, mit würdebasierten Ethiken und mit Menschenrechtsdiskursen. Das Menschenrecht auf Bildung, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gefasst ist, entspricht daher ganz dem theologischen Anliegen, auch wenn lange Zeit die lutherische und die katholische Kirche »Menschenrechte« als Idee und Institution abgelehnt haben. Dass sich das radikal geändert hat, ist eine höchst erfreuliche Entwicklung seit den 1960er Jahren.

7

  Die konsequenteste und ausführlichste theologische Theoriebildung auf der Grundlage des Begriffs »Wesen endlicher Freiheit« hat Eilert Herms vorgelegt (vgl. Eilert Herms: Systematische Theologie. 3 Bände, Tübingen 2017). 8   Peter Bubmann: ›Glaubensbildung‹ – terminologische und theoretische Annäherungen, in: Martin Friedrich/Hans Jürgen Luibl (Hrsg.): Glaubensbildung. Die Weitergabe des Glaubens im europäischen Protestantismus, Leipzig 2012, 89–104, 95.

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2.2 Hamartiologische Begründung Hamartiologische Begründungen von Bildung findet man häufiger in der lutherischen Tradition; sie sind aber in den letzten Jahrzehnten selten geworden. Bildung und Sünde stehen dabei in einem doppelsinnigen Zusammenhang. So ist Bildung einerseits zur Begrenzung der Auswirkungen der Sünde notwendig. Bildung trägt bei zu mehr Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand in einem Gemeinwesen und mindert so die Folgen der Sünde. Diese Auffassung von Bildung verbindet sich in der lutherischen Tradition mit einer theologischen Theorie von der Aufgabe des Staates und der Obrigkeit.9 Laut der sog. Zwei-Regimente-Lehre dient die Herrschaftsausübung dazu, die sozialen Auswirkungen der Sünde zu begrenzen, während in der Kirche die Evangeliumsverkündigung die Sünde selbst überwindet und Erlösung schenkt. Aus dieser höchst folgenreichen Grunddifferenzierung entwickelt Luther viele Impulse für die einzelnen, sich daraus ergebenden Konstellationen und Verbindungen. Bildung wird hier eng mit Obrigkeit, mit institutionalisierter Sozialität und konkreten Ämtern im Gemeinwesen assoziiert. Bildung ist dann daran zu messen, inwiefern sie zur Begrenzung der Auswirkung von Sünde, also zu Frieden und Gerechtigkeit beiträgt. Hierbei fokussiert sich Bildung auf ihre Sozialdienlichkeit und ihre Leistungsfähigkeit in einem Gemeinwesen. Für Luther gilt aber auch: Bildung wird selbst von der Sünde pervertiert; sie wird dann zum Instrument von Ausbeutung und Selbststeigerung, von Selbstlegitimation und Ausgrenzung anderer. Dann vertieft und verschärft Bildung die Sünde. Nur in der Überwindung falscher Bildung und der Überwindung falscher Instrumentalisierung von Bildung kann es wahre Bildung geben. Bildung als solche ist zweideutig und ambivalent. Daraus folgt für eine Theologie der Bildung: Sie muss kritisch die Zweideutigkeit von Bildung thematisieren – Bildung kann das Gute vertiefen und Bildung kann Ungerechtigkeit stabilisieren. Wenn man die hamartiologische Begründung noch stärker auf das Selbstverhältnis des Menschen bezieht, gewinnt sie eine weitere Bedeutung: Bildung hat dann immer auch zu tun mit der Selbst-Erfahrung des Subjekts in der Weise der Selbstentfremdung, der inneren Nicht-Stimmigkeit, des Schuldiggewordenseins auf der einen Seite und der Erfahrung des Subjektes, selbst Opfer von Ungerechtigkeit, Gewalt und Destruktion (geworden) zu sein. Bildungsprozesse finden statt zwischen von Sünde geprägten Individuen und in von Sünde bestimmten, sozialen Zusammenhängen. Theologische 9   Zu Luthers Theologie der Obrigkeit und ihren geschichtlichen Rezeptionsgestalten vgl. Christopher Spehr/Michael Haspel/Wolfgang Holler (Hrsg.): Weimar und die Reformation. Luthers Obrigkeitslehre und ihre Wirkungen, Leipzig 2016.

Bildung als theologisches Thema 349

Bildungstheorien reflektieren das angemessen, wenn sie auch und gerade die religiöse Bildung in dieser ihrer strukturellen Ambivalenz bedenken und den Umgang mit dem individuell und kollektiv Destruktiven explizit zu einem wichtigen Thema von Bildungsprozessen machen.

2.3 Rechtfertigungstheologische Begründung Der Zusammenhang von Glaube, Rechtfertigung, Heil und Bildung bedarf wichtiger Unterscheidungen. Bildung kann Glauben nicht herbeiführen oder lehren, aber Bildung kann zum Glauben hinführen und auf ihn vorbereiten. Bildung kann insbesondere dazu beitragen, dass eine Offenheit für den Glauben nicht verstellt wird und Hindernisse abgetragen werden. Bildung gehört also nicht in den Konstitutionszusammenhang des Glaubens, sondern in den Lebenszusammenhang des Glaubens. Solche Lebensvollzüge des Glaubens lassen sich mit folgenden Beispielen umreißen: selbst in der Bibel lesen können, den eigenen Glauben verstehen, Grundtexte des Glaubens kennen und sich aneignen, den Glauben im Horizont von Kritik verantworten und eigene Glaubensüberzeugungen kommunizieren. Glaube, verstanden als eine Neukonstitution der Person, ermöglicht gerade Bildungsund Entfaltungsprozesse. Glaube schenkt Freiheit zur Bildung. Im Glauben wird der Mensch neu bezogen auf Gott, die Mitmenschen und die gemeinsame Welt – diese Bezogenheit thematisiert und reflektiert Bildung. Sie macht Menschen zu mündigen Christen und Bürgern. Zu dieser geschenkten Freiheit gehört zentral das lebensprägende Innesein, dass der Wert der eigenen Person nicht an der Bildung, ihren Fortschritten oder der Entfaltung der eigenen Gaben hängt. Leben aus der Rechtfertigung heraus ermöglicht so ein angst- und druckfreies Bildungsgeschehen. Der Rechtfertigungszuspruch im Gottesdienst kann dann auch verstanden werden als stets erneuerte und neu empfangende Ermöglichung, sich angstfrei und freudig auf Bildungsprozesse einzulassen. Für diesen Bildungsbegriff im Horizont von Glaube und Rechtfertigung hat Hans Jürgen Luibl den Begriff »Glaubensbildung« eingeführt und wie folgt definiert: »Glaubensbildung ist jene Bildung, die sich ihres Grundes und der eigenen Entwicklungen vergewissert, ist ein bewusstes, reflexives Sich-Verhalten zur Religion und eigenen Religiosität«10.

10

  Hans Jürgen Luibl: Glaubensbildung als Zukunftsweg? Glaube & Bildung in nachmodernen Zeiten, in: forum erwachsenenbildung 13 (2009), 12–16, 14. In dieser Definition kommt m.E. der gemeinte Unterschied zum Begriff »Religiöse Bildung« nicht klar genug heraus. Doch kann der Begriff der Glaubensbildung gerade dazu dienen, Bildung als Entfaltung einer eigenen Identifikation mit Religion von Bildung als reflektierter Auseinandersetzung mit dem Phänomen »Religion« zu differenzieren.

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Dieser Begriff kann den engen Zusammenhang von Glaube und Bildung aus evangelischer Sicht eindringlich ins Bewusstsein rufen.11 Diese theologischen Bildungsbegründungen ließen sich unschwer erweitern durch eine christologische, pneumatologische und eschatologische Perspektive. In der mittelalterlichen Theologie hatte die eschatologische Perspektive besonderes Gewicht, insofern das ewige Heil und damit die ewige Glückseligkeit als ein ewiges Erkennen Gottes durch den Menschen im Sinne einer beständigen Intensivierung der Gotteserkenntnis entworfen wurde.

3. Theologisch-anthropologische    Begründungen: Bildung und die    Sozialität des Menschen Die drei in Kapitel 2 vorgestellten theologischen Bildungsbegründungen basieren auf der theologischen Anthropologie. Dabei war bisher davon die Rede, was für den einzelnen Menschen und daher auch für jeden Menschen oder jedenfalls potentiell für jeden Menschen gilt. Diese Zentrierung auf den Einzelnen stellt jedoch eine einseitige Abstraktion dar, insofern die theologische Anthropologie Individualität und Sozialität des Menschen als gleichursprünglich betrachtet. Im Nachfolgenden seien daher drei zentrale Bildungsbegründungen vorgestellt, welche sich aus der Sozialität des (glaubenden) Menschen herleiten und sich auf diese richten. Diese starke Unterscheidung von Individualität und Intersubjektivität verdankt sich darstellungslogischen Überlegungen, aber auch der Erfahrung, dass der einzelne Mensch, unter bestimmten Bedingungen, in der Bindung an das Evangelium, oder allgemeiner an sein Gewissen oder seine Überzeugungen, sich auch gegen die konkrete Gemeinschaft wenden muss, in welcher er lebt. Auch dazu schenkt der Glaube Freiheit.

3.1 Ekklesiologische Begründung Nach evangelischer Auffassung gilt: Jeder Glaubende ist zugleich auch Priester, gemeinsam mit allen anderen Glaubenden. Zum Priestertum gehört die Verkündigung des Evangeliums, also die Kommunikation des Glaubens, sowohl in der Gemeinschaft der Glaubenden als auch gegenüber Nicht-Glaubenden. Die Kommunikation des Evangeliums erfordert Bildung als Ausdrucksfähigkeit des Glaubens. Dabei kann sich Ausdrucksfähigkeit auch auf 11

  Davon zu unterscheiden sind Konzepte, welche »Glaube, Hoffnung und Liebe als pädagogische Kategorien« betrachten, so Marian Heitger: Bildung als Selbstbestimmung, Paderborn 2004, 75. Seiner Intention, die Dialogizität und Individualitätsorientierung von Bildungsprozessen zu begründen, ist jedoch zuzustimmen.

Bildung als theologisches Thema 351

künstlerische, ethische, politische Formen beziehen. Das allgemeine Priestertum zeigt sich auch darin, die Predigt und Lehre in der Kirche daraufhin zu beurteilen, ob sie dem Evangelium entspricht. Dafür braucht es religiöse Urteilsfähigkeit, aber vor allem auch das eigenständige Lesen der Bibel. Beides setzt Bildung voraus. Kirche braucht auch die öffentliche Evangeliumsverkündigung und verschiedene Dienste. Daher ist die entsprechende Ausbildung und Bildung für diese Aufgaben ein zentrales Anliegen. Was diese Aufgaben für Kompetenzen, Wissen und Gaben erfordern, hängt an den sich beständig weiter verändernden, konkreten Herausforderungen, mit denen sich Kirchen im Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes auseinanderzusetzen haben.

3.2 Homiletische Begründung Um das Evangelium verständlich zu predigen und Menschen unserer Gegenwart zum Glauben einzuladen, ist es förderlich, sich in ein gebildetes Verhältnis zu setzen zum Zusammenhang von Bildung und Religion, wie er für Neuzeit und Moderne sich als Frage entwickelt hat. Bildung in Verbindung mit Kultur wird im Laufe der Neuzeit für viele Menschen zu einem prägenden Lebenskonzept. Damit übernimmt im Laufe der Neuzeit Bildung Funktionen, die eigentlich Religion und Glauben zukommen: Ganzheitsorientierung, Vermittlung von Lebenssinn, Krisenbewältigung. Das passiert in der Renaissance, dann verstärkt in der Aufklärung, im 19. Jahrhundert und in der Gegenwart. Bildung tritt scheinbar in Konkurrenz zu Religion; hohe (formale) Bildung und Religionsdistanz scheinen manchen Menschen zusammenzugehören. Umso wichtiger, dass Christen verständlich machen, wie sich Bildung und Religion verbinden lassen und warum sie miteinander zu tun haben. Das Thema »Bildung« kann zum Fokus werden, um evangelische, christliche Perspektiven in konfessionslosen, betont säkularen Gesellschaften einzubringen. Es eröffnen sich den Kirchen in Europa damit neue Chancen auf Dialog.

3.3 Ethische Begründung Bildung ist auch und wesentlich ethisch zu begründen. Wenn man von der bereits genannten Zwei-Regimente-Lehre ausgeht, dann ist es Aufgabe des Menschen, an den zwei Regierweisen Gottes mitzuwirken, mit den jeweils individuellen Gaben und am Ort des eigenen Lebens. Dieses Mitwirken setzt Sachkenntnis, Selbstreflexionsfähigkeit und Handlungskompetenz voraus – also Bildung. Aus den zwei Regierweisen Gottes kann aber auch gefolgert werden, dass man für die Bildung der anderen zu sorgen habe, insbesondere als Eltern und in politischen Ämtern.

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In neueren ethischen Entwürfen steht Gerechtigkeit im Zentrum. Bildung und die ungleichen Bildungschancen von Menschen rufen sich zunehmend als Gerechtigkeitsproblem ins öffentliche Bewusstsein. Die schöpfungstheologische Bildungsbegründung impliziert den Zusammenhang von Bildung und Bildungsgerechtigkeit,12 insofern sie die prinzipielle Gleichheit aller Menschen vor Gott und ihrer gleichen Bestimmung zum Ebenbild aussagt. Christlicher Einsatz für Gerechtigkeit muss dann auch Bildungsgerechtigkeit enthalten. Bildungsgerechtigkeit bedeutet, dass Menschen unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft und ihrem Geschlecht Bildungschancen erhalten, dass behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam lernen, dass allen Menschen lebenslanges Lernen ermöglicht wird. Das Engagement für Bildungsgerechtigkeit erscheint immer dringlicher, da die Partizipation an der Gesellschaft, auch an Politik, immer mehr von Bildung und vom kompetenten Zugang zu modernen Medien abhängt. Aus theologischer Sicht ist Bildung mit allen Aspekten des Glaubens verbunden. Der Vielzahl der Glaubensaspekte entsprechen auch eine Fülle an Bildungsfokussierungen: die Mehrdimensionalität von Bildung, das lebenslange Lernen, das integrative Lernen, die Intersubjektivität von Bildungsprozessen, die politische und soziale Dimension von Bildung, informelle Bildung und Alltagsbildung. Auch das Thema der Tugend-Bildung gehört dazu, das seit den 1990er Jahren auch wieder in der evangelischen Theologie positiv angeeignet wird. Was aber folgt aus den entwickelten theologischen Bildungsbegründungen für die evangelischen Kirchen der Gegenwart in Europa?

4. Ausblick: Der Bildungsauftrag der    evangelischen Kirchen in Europa Die theologische Begründung und das konkrete kirchliche Engagement für Bildung variiert sehr stark nach Kontexten, geschichtlichen Situationen und konkreten Herausforderungen. Die Situation der evangelischen Kirchen in Europa unterscheidet sich nach religiösen Kontexten, politischer Öffentlichkeitsstruktur und Tradition stark, aber eine Grunderfahrung verbindet fast alle evangelischen Kirchen: Menschen wenden sich von Kirche und Gemeinden ab, viele getaufte Kinder wachsen nicht mehr in Gemeinden hinein und in Familien werden religiöse Traditionen nicht mehr gepflegt. Vieles Kostbare geht dabei – so die Sicht insbesondere der älteren Generation – verlo12

  So fordert Christoph Markschies zu Recht, dass ein theologischer Bildungsbegriff das Thema »Bildungsgerechtigkeit« als notwendiges Implikat enthalten müsste (vgl. Christoph Markschies: Zur Freiheit befreit. Bildung und Bildungsgerechtigkeit in evangelischer Perspektive, Frankfurt am Main 2011, vor allem 64–102).

Bildung als theologisches Thema 353

ren, und was künftig werden soll, ist offen. Immer anspruchsvoller wird die Aufgabe, in den pluralistischen Gesellschaften dialogisch und interessiert mit Menschen zusammenzuleben, welche andere religiöse, kulturelle und ethische Orientierungen leben. Den Umgang mit Fremdheit,13 mit der eigenen und mit der der anderen, zu lernen und einzuüben, stellt die zentrale Herausforderung dar, um Frieden und Demokratie zu wahren. Bildung steht für die Hoffnung, die kirchlichen Transformationsprozesse zukunftsweisend zu gestalten. Die kirchlichen Bildungsdebatten bieten Chancen für Neubesinnung und Neuaufbrüche, sind aber in vielen Gemeinden auch mit Sorgen und Skepsis verbunden. Daher ist es wichtig, kirchliches Bildungshandeln theologisch zu reflektieren, je nach kirchlicher Situation zu fokussieren und zwischen den Kirchen sich darüber auszutauschen. Auch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa erkennt die zentrale Bedeutung von Bildung für die Zukunft von Kirche. Sie selbst versteht sich als »Lerngemeinschaft«14. Einige wenige Themen seien exemplarisch genannt: • Zunächst betrifft Bildung die Kirchen hinsichtlich ihrer eigenen Amtsträger: Für Kirchen ist es wichtig, die Ausbildung der Pfarrer, die Bildung zum ordinierten Amt zu bedenken und immer wieder neu auf die jeweils gegenwärtigen Aufgaben in der Kirche auszurichten. • Der Vollzug des Allgemeinen Priestertums ist ein beständiges Sich-Bilden und gegenseitiges Bilden aller. Das sollte einerseits beständig gefördert werden; andererseits dürfen Kirchen selbstbewusst darum wissen, dass sie in all ihren Vollzügen (Predigt, Kasualien, Gebet, Taufe, Abendmahl, Diakonie) auch bildend wirken. • Kirchen haben schon allein durch ihre Existenz eine politische Dimension und Wirkung: Kirchen in ihrer ökumenischen, europäischen und weltweiten Zusammenarbeit eröffnen ihren Mitarbeitenden grenzüberschreitende Bildung und Erfahrungen. Die Kirchen tragen auf diese Weise bei zu einem europäischen und einem globalen Bewusstsein. Auch unabhängig von konkreten Reisen und Begegnungen: Christen wissen sich im Glauben bezogen auf die Gemeinschaft aller Glaubenden in Jesus Christus, unabhängig von Geschlecht, Nation, Bildungsgrad und Herkunft. Kirchen vermitteln auf diese Weise eine globale Bildung und können nationalistischen Bildungsideen entgegenwirken.

13

  Sehr bedenkenswert sind hier Bildungskonzepte, welche Bildung generell als Umgang mit Fremdheit bzw. als Transformationsprozess im Angesicht von Fremdheit verstehen. Vgl. dazu Hans-Christoph Koller/Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hrsg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2017. 14   Michael Bünker: Der europäische Protestantismus. Eine Lerngemeinschaft des Glaubens und das Entstehen einer europäischen Bildungsgesellschaft, in: Martin Friedrich/Hans Jürgen Luibl (Hrsg.): Glaubensbildung. Die Weitergabe des Glaubens im europäischen Protestantismus, Leipzig 2012, 19–33, 24.

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• Kirchen entdecken, dass Bildung und Bildungsangebote eine Brücke zum christlichen Glauben sein können, dass Bildung ein Ort der Auseinandersetzung mit Christentum und Religion für konfessionslose Menschen ist.15 Insofern öffnet sich Kirche einladend für potentiell alle Menschen in der Gesellschaft mittels ihres Bildungsangebotes. Über die Gestaltung solcher Bildungsangebote findet viel kreatives Nachdenken statt. Hier können die Kirchen viel voneinander lernen. • In ihrem Engagement für die Armen und sozial Schwachen hat Kirche sich für Bildungsgerechtigkeit in der Gesellschaft zu engagieren. Armut wird immer mehr zu einer Exklusion vom kulturellen Leben und von Bildungschancen. Die Option für die Armen bedeutet in der Gegenwart auch, für Bildung von sozial benachteiligten Kindern, von behinderten Menschen und nicht-erwerbstätigen Menschen einzutreten.

Bildungsdebatten werden außerhalb und innerhalb der Kirche intensiv, wenn soziale Transformationsprozesse zu gestalten sind und die Bedeutung von gewachsenen Bildungsstrukturen zur Disposition steht. Bildungsforschung ist daher in besonderer Weise Transformationswissenschaft und zukunftsorientierte Wissenschaft. Sie erfordert von den Forschenden besonders sensible Kulturhermeneutik, Interesse für die vielfältig nachwirkende Geschichte der Bildung und Zukunftsoffenheit.16 Mögen alle theologischen Fächer die wesentliche Bedeutung des Themas »Bildung« für Theologie und Kirche würdigen.

15

  Vgl. dazu Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016. 16   Michael Wermke, dem mit diesem Beitrag zum 60. Geburtstag gratuliert sei, lebt diese wissenschaftlichen Tugenden wegweisend. Die Verfasserin verdankt ihm viele wichtige Impulse und Perspektiven.

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz Interdisziplinäre Bezüge der Religionspädagogik Michael Wermkes Martin Rothgangel

Blickt man auf das Inhaltsverzeichnis des religionspädagogischen Repetitoriums, das der Jubilar Michael Wermke gemeinsam mit Thomas Heller und David Käbisch verfasst hat, so weist dieses auf geradezu mustergültige Weise interdisziplinäre Bezüge der Religionspädagogik aus: In Teil 1 »Religionspädagogik als Theorie religiöser Bildung« werden kapitelweise historische, theologische, soziologische, psychologische, rechtliche und erziehungswissenschaftliche Aspekte erörtert1 und in der Einleitung wird unter Bezugnahme auf Stephan Leimgruber2 die Religionspädagogik als Verbundwissenschaft charakterisiert.3 Dieser Hinweis auf die vielfältigen interdisziplinären Bezüge der Religionspädagogik ist keineswegs zufällig, vielmehr stellt Michael Wermke auch in seiner Begrüßungsrede zur Eröffnung des Jenaer Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung sogar noch einmal umfassender fest: »Die Religionspädagogik vereinigt theologische, allgemein- und schulpädagogische, didaktische, psychologische, soziologische und medienwissenschaftliche, aber auch philologische, historische, philosophische und selbst juristische Forschungsansätze und Erkenntnisse. Diese unterschiedlichen und vielfältigen Forschungslinien überkreuzen und zentrieren sich in der Religionspädagogik, wenn

1

  Vgl. Thomas Heller/David Käbisch/Michael Wermke: Repetitorium Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch für Studium, Referendariat und Vikariat, Tübingen 2012, 1–91. 2   Vgl. Stephan Leimgruber: Religionspädagogik als Verbunddisziplin, in: Friedrich Schweitzer/Thomas Schlag (Hrsg.): Religionspädagogik im 21. Jahrhundert, Gütersloh/Freiburg im Breisgau 2004, 199–208. 3   Vgl. Heller/Käbisch/Wermke: Repetitorium, IXf.

356 Martin Rothgangel

sie sich forschend und lehrend mit ihrem Gegenstand, religiösen Bildungsprozessen, auseinandersetzt.«4

Die nachstehenden Überlegungen setzen sich vor diesem Hintergrund in ihren beiden Teilen damit auseinander, wie Religionspädagogik als interdisziplinäre Verbundwissenschaft verstanden werden kann und wie religionspädagogische Forschung als eine interdisziplinäre Verbundwissenschaft operiert. Im ersten Teil wird dabei zunächst das konvergenztheoretische Modell Karl Ernst Nipkows sowie im Anschluss daran der auf wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Niklas Luhmann basierende differenztheoretische Ansatz des Verfassers skizziert. Im zweiten Teil wird im Sinne einer exemplarischen Fallstudie anhand ausgewählter Publikationen des Jubilars analysiert, auf welche Weise er in seinen religionspädagogischen Arbeiten die interdisziplinären Bezüge herstellt.

1. Vom konvergenztheoretischen zum    differenztheoretischen Ansatz5 1.1    Der konvergenztheoretische Ansatz Im religionspädagogischen Diskurs ist es unstrittig, dass Interdisziplinarität ein konstitutives Merkmal der Religionspädagogik ist. Ungeachtet dessen gibt es relativ wenige Publikationen, welche die Interdisziplinarität der Religionspädagogik eigens reflektieren. Eine vielzitierte Ausnahme und wegweisende Bearbeitung dieser Thematik wurde von Karl Ernst Nipkow in seinen »Grundfragen der Religionspädagogik« geleistet. Auch in gegenwärtigen Publikationen kann sein konvergenztheoretischer Ansatz als konsensfähig im deutschsprachigen Kontext bezeichnet werden.6 Nipkow benennt auf der einen Seite eine ganze Fülle an potentiellen Bezugswissenschaften der Religionspädagogik, gleichwohl gilt in vielen seiner Argumentationsgänge der Theologie sowie der Erziehungswissenschaft eine besondere Aufmerksamkeit.7 Dies zeigt sich auf verdichtete Weise im nachfolgenden Zitat: 4

  Michael Wermke: Begrüßung, in: Ralf Koerrenz/Gisela Mettele/Michael Wermke (Hrsg.): Bildung und Religion. Dokumentation der Gründungsveranstaltung des »Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung«, Jena 2012, 11–16, 13. 5   Die nachstehenden Ausführungen dieses Teils basieren auf Martin Rothgangel: Religionspädagogik im Dialog I. Disziplinäre und interdisziplinäre Grenzgänge, Stuttgart 2014, besonders 15–20 und 267–284. 6   Vgl. Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012, 268. 7   Vgl. Karl Ernst Nipkow: Grundfragen der Religionspädagogik. Band 1, Gütersloh 1975.

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz 357

»Eine gleichzeitig theologisch und erziehungswissenschaftlich verantwortete Religionspädagogik muß verschiedene, methodisch gleichrangige Zugänge verfolgen und die Lösungen in den Schnittpunkten eines vielperspektivischen (mehrdimensionalen) Koordinatengefüges suchen. Die Forderung multipler Zugänge ist in der neueren Erziehungswissenschaft selbstverständlich geworden. Ebenso wichtig ist, daß die Zugänge methodisch als gleichrangig angesehen werden. Von keiner Fragestellung (gesellschaftspolitisch, pädagogisch, psychologisch, soziologisch, theologisch) sollte im Vorhinein eine geringere oder größere Ergiebigkeit der Sachproblematik angenommen werden.«8

Mit dem im Hintergrund stehenden konvergenztheoretischen Modell Nipkows geht letztlich die Forderung einher, dass religionspädagogische Kriterien auf doppelte Weise »theologisch und gesellschaftspolitisch-pädagogisch«9 zu verantworten sind. Dabei hebt Nipkow die Dialektik in seinem konvergenztheoretischen Orientierungsmodell hervor; er betont, dass es ihm um die »Frage nach konvergierenden und divergierenden Elementen«10 geht. Letztlich kann er seinen dialektisch-konvergenztheoretischen Ansatz auf folgende pointierte Formel bringen: »Die pädagogische Sachgemäßheit muß gleichsam vom Theologen theologisch gefordert, die theologische Sachgemäßheit vom Pädagogen pädagogisch gefordert werden können; andernfalls ist der Entwurf bedenklich.«11 Obwohl diese Feststellung auf den ersten Blick plausibel erscheint, wirft die konkrete religionspädagogische Forschungspraxis die Frage auf, ob dieser Ansatz durchweg befolgt werden kann bzw. ob nicht daraus eine unnötige normative Einengung religionspädagogischer Forschung resultieren kann. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Spezialisierung religionspädagogischer Forschung verschärft sich diese Problematik: Inwieweit können Religionspädagogen diesen hohen regulativen Anspruch der »gleichzeitigen«12 (theologischen und pädagogischen) Verantwortung des konvergenztheoretischen Modells in ihren historischen, empirischen, vergleichenden und systematischen Fragestellungen, Erkenntniswegen und Forschungsprozessen überhaupt befolgen? Zwar hat Nipkow diesen Grundgedanken anhand der Freiheitsproblematik mustergültig veranschaulicht,13 gleichwohl musste der Verfasser bei der wissenschaftstheoretischen Reflexion seiner eigenen religionspädagogi-

8

  A.a.O., 177f.   A.a.O., 173f. (im Original teils kursiv). 10   A.a.O., 177 (im Original teils kursiv). 11   A.a.O., 178. 12   A.a.O., 174, 177 und 212. 13   Vgl. a.a.O., 168–222. 9

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schen Forschungsarbeiten feststellen,14 dass die gegenwärtige religionspädagogische Forschungspraxis oftmals einer anderen Logik zu folgen scheint, in der die gleichzeitige theologische sowie pädagogische Verantwortung in vielen Fällen nicht realisiert wird – und vielleicht im Blick auf die jeweils zugrunde liegende Forschungsfrage auch nicht realisiert werden muss. Dies wirft die Frage auf, ob nicht ein anderer wissenschaftstheoretischer Ansatz der gegenwärtigen religionspädagogischen Forschungspraxis eher gerecht wird. Bei alledem sei ausdrücklich die großartige geschichtliche Leistung Nipkows gewürdigt, die er mit seinem konvergenztheoretischen Ansatz vollbrachte: In einer turbulenten religionspädagogischen Phase und einer Zeit mit gravierenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umbrüchen vermochte er mit dem konvergenztheoretischen Ansatz ein integratives Modell auszuarbeiten, in dem er damals aktuelle theologische, so insbesondere von Klaus-Wenzel Lohff, Trutz Rendtorff und Paul Tillich, sowie philosophische Entwürfe, so insbesondere von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas konsistent verarbeitete.

1.2 Der differenztheoretische Ansatz Im Folgenden werden Grundzüge einer differenztheoretisch orientierten Wissenschaftstheorie der Religionspädagogik vorgestellt, die weitgehend auf der Systemtheorie Niklas Luhmanns beruht15 und nach Ansicht des Verfassers gerade aufgrund ihrer deskriptiven Weise sehr gut geeignet ist, die Interdisziplinarität der Religionspädagogik zu analysieren. Fundamental für die religionspädagogische Rezeption des differenztheoretischen Ansatzes Luhmanns ist dabei die Unterscheidung zwischen drei Ebenen: erstens der Praxis religiöser Bildung (Ebene 1), zweitens religionspädagogischen Beobachtungen dieser Praxis (Ebene 2) sowie drittens wissenschaftstheoretischen Beobachtungen, die wiederum die religionspädagogischen Beobachtungen der Praxis religiöser Bildung beobachten (Ebene 3).16 Hinsichtlich der Praxis religiöser Bildung (Ebene 1) ist hier zu bedenken, dass diese Praxis nicht einfach objektiv als ein Gegenstand vorliegt, sondern dass die jeweilige religionspädagogische Beobachtung (Ebene 2) mit ihren spezifischen theoretisch bzw. methodisch generierten Unterscheidungen

14

  Vgl. Rothgangel: Religionspädagogik.   Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992. 16   Wissenschaften zeichnen sich entsprechend mit Niklas Luhmann durch eine »Beobachtung zweiter Ordnung« (Luhmann: Die Wissenschaft, 274) aus. 15

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz 359

und Bezeichnungen die Wahrnehmung der Praxis bedingt.17 Pointiert gesagt: Vergleichbar wie es zum Beispiel in der Physik je nach Beobachtungsperspektive davon abhängt, ob man den Ort oder den Impuls eines Teilchens misst, stellt sich bezüglich der von der Religionspädagogik beobachteten Praxis grundsätzlich die Frage, wie die Wahrnehmungen der Praxis von den Unterscheidungen der religionspädagogischen Beobachtung bedingt sind und in welchem Verhältnis diese zueinander stehen. So kann zum Beispiel die Praxis religiöser Bildung mit verschiedenen religionspädagogischen Methoden (historisch, empirisch, systematisch, vergleichend sowie handlungsorientierend)18 und Theorien19 beobachtet werden,20 das heißt sie wird mit bestimmten Unterscheidungen bezeichnet, analysiert, gedeutet, kritisiert und (re-)konstruiert. Im Sinne des differenztheoretischen Ansatzes wird eine Wissenschaftstheorie der Religionspädagogik (Ebene 3) nun nicht normativ gesetzt, sondern dadurch generiert, dass beobachtet wird, mit welchen Unterscheidungen die religionspädagogischen Beobachter die Praxis religiöser Bildung beobachten.21 Es handelt sich gewissermaßen um eine Beobachtung dritter Ordnung. Dabei zeigen die Beobachtungen der Beobachtungen, dass die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems sich in der Religionspädagogik selbst in einer Pluralität an religionspädagogischen Methoden und Theorien widerspiegelt. Zudem besteht eine Pluralität von wissenschaftlichen (Teil-) Disziplinen, die relevant für den religionspädagogischen Dialog sind, weil sie Beobachtungskategorien bereitstellen, mit deren Hilfe die Praxis religiöser Bildung erhellt werden kann. Die Sachgemäßheit religionspädagogischer Theorien hängt demnach gemäß dem differenztheoretischen Ansatz nur in bestimmten Fällen davon ab, ob sich pädagogische Theorien auch theologisch verantworten oder theo17

  Auch für Luhmanns o.g. wissenschaftstheoretische Publikation ist »Beobachtung« eine wesentliche Kategorie. Er definiert sie »als Operation des Unterscheidens und Bezeichnens« (a.a.O., 73) – das Beobachten »verwendet eine Unterscheidung, um etwas durch sie Unterschiedenes zu bezeichnen« (a.a.O., 79). 18   Vgl. Schröder: Religionspädagogik. 19   Vgl. Rudolf Englert: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2012. 20   Die gleichzeitige Verwendung von Theorien und Methoden an dieser Stelle lässt sich mit Luhmann dahingehend begründen, dass Wissenschaften sich durch den Code »wahr/unwahr« (Luhmann: Die Wissenschaft, 401) auszeichnen, wobei die beiden Programme »Theorie« und »Methode« wiederum bestimmen, »welche Erkenntnisse welchem der beiden Wahrheitswerte zugeordnet werden« (ebd.). Im System »Wissenschaft« sind »die Regeln richtigen Entscheidens entweder theoretischer oder methodischer Art« (a.a.O., 403). 21   Dieses folgt, wie bereits oben festgestellt, aus Luhmanns allgemeinen Bemerkungen zur Wissenschaftstheorie (vgl. Luhmann: Die Wissenschaft, 508–512).

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logische Theorien auch pädagogisch verantworten lassen. Entscheidender für den religionspädagogischen Dialog mit anderen Disziplinen und für die Sachgemäßheit religionspädagogisch relevanter Theorien ist es, ob die theoretischen oder methodischen Beobachtungen bestimmter wissenschaftlicher Disziplinen (Theologie, Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Fachdidaktik usw.) die Praxis religiöser Bildung auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Weise erhellen, deuten, erklären oder nicht. Die Ermöglichung von Konvergenz zwischen diesen verschiedenen disziplinären Beobachtungen der Praxis religiöser Bildung hängt dabei von bestimmten Voraussetzungen ab: In manchen Frage- und Problemstellungen ist sie sinnvoll, in anderen unnötig oder nicht möglich. In diesem Sinne stellt auch Friedrich Schweitzer fest: »Die Praxis erfordert stets eine multiperspektivische Orientierung, während die Forschung sich häufig auf nur wenige Fragen, manchmal sogar auf nur eine einzige Perspektive beschränken muss, um zu verlässlichen Erkenntnissen zu gelangen.«22 Religionspädagogik aus differenztheoretischer Perspektive impliziert in wissenschaftstheoretischer Hinsicht damit, dass man anders als beim konvergenztheoretischen Ansatz Nipkows auf Letztbegründungen, auf deduktive Verfahren etc., verzichtet. Vielmehr operiert man, wie gesagt, mit Beobachtungen von religionspädagogischen Beobachtungen, das heißt bezeichnenden Unterscheidungen methodischer und theoretischer Art. Diese Unterscheidungen sind bis zu einem gewissen Grad kontingent und können auch anders getroffen werden: »Differenzschema[ta] enthalten […] immer ein Moment der Kontingenz. Das ›andere‹ der Differenz, das ›woraufhin‹ der Unterscheidung, muß gewählt werden und ist auch anders möglich. Man muß die Wahl des Beobachtungsschemas dem autopoietischen System des Beobachters überlassen.«23 Genau in diesem Sinne wird im folgenden Teil analysiert, mit welchem Beobachtungsschema Michael Wermke aus der religionspädagogischen Beobachterebene (Ebene 2) die Praxis religiöser Bildung (Ebene 1) beobachtet. Diese Beobachtung der religionspädagogischen Beobachtung Michael Wermkes erfolgt gemäß dem differenztheoretischen Ansatz aus der wissenschaftstheoretischen Beobachtungsebene (Ebene 3), wobei der Fokus vor allem darauf gerichtet wird, auf welche Weise Wermke interdisziplinäre Bezüge vornimmt, um die Praxis religiöser Bildung zu beobachten. 22

  Friedrich Schweitzer: Das lernende Subjekt – zwischen Konstruktion und Biographie: Überlegungen zu Sinn und Grenzen systemischer Ansätze in der Religionspädagogik, in Michael Domsgen (Hrsg.): Religionspädagogik in systemischer Perspektive. Chancen und Grenzen. Leipzig 2009, 93–112, 109. 23   Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, 654f.

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz 361

2. Interdisziplinäre Bezüge der    Religionspädagogik Michael Wermkes 2.1   Zur Auswahl und Vorgehensweise Nicht nur wegen des begrenzten Raums im Rahmen dieser Festschrift, sondern auch im Blick auf die Publikationsleistung des Jubilars kann keine umfassende Analyse der interdisziplinären Bezüge seiner religionspädagogischen Arbeiten erfolgen. Von daher ist auf der Basis bestimmter Kriterien eine begründete Selektion vorzunehmen. Dabei wurde wie folgt vorgegangen: Auf der Publikationsliste von Wermkes Homepage findet sich vor dem thematischen sowie chronologischen Verzeichnis seiner Publikationen eine Auswahl von dreizehn Publikationen.24 Von diesen wurden jene Studien ausgewählt, die von ihm allein als Autor verfasst wurden, was letztlich für die drei unten analysierten Veröffentlichungen gilt. Diese Entscheidung bewährt sich auch insofern, als dass sie zum einen verschiedene Forschungsbereiche des Jubilars abdeckt und zugleich biographisch betrachtet diese Werke von seiner Dissertation aus dem Jahr 1999 bis 2016 reichen. Entsprechend der obigen Ausführungen zum differenztheoretischen Ansatz geht es in methodischer Hinsicht im Folgenden nicht darum, die Inhalte der ausgewählten Studien Michael Wermkes wiederzugeben. Vielmehr richtet die sog. Beobachtung dritter Ordnung den Blick primär darauf, auf welche Weise die religionspädagogische »Beobachtung« Michael Wermkes erfolgt, wobei ein Fokus auf seinen interdisziplinären Bezugnahmen liegen wird.

2.2  Fallstudien Die folgenden Fallstudien beinhalten jeweils eine exemplarische Studie des Jubilars aus den Bereichen »Holocaust als Thema im Religionsunterricht«, »Empirische Religionspädagogik« sowie »Historische Religionspädagogik«: a)  »Jugendliteratur über den Holocaust«25 Bereits der Untertitel seiner Dissertation markiert interdisziplinäre Bezüge – er lautet wie folgt: »Eine religionspädagogische, gedächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung«. Als Ausgangspunkt dieser Arbeit markiert Wermke die »Kernfrage nach dem Anteil des Holocaust an unserer 24

  Vgl. online: www.theologie.uni-jena.de/Michael_Wermke.html (19. September 2017). 25    Vgl. Michael Wermke: Jugendliteratur über den Holocaust. Eine religionspädagogische, gedächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung, Göttingen 1999.

362 Martin Rothgangel

Identität als Deutsche und Christen«26, wobei er pointiert fortfährt: »Die Frage, wie man sich als Christ, als Deutscher an Auschwitz zu erinnern habe, verschärft sich durch die Überlegung, daß die eigene Erinnerung die zutiefst beschämende des Täters ist, der sich um das Vergessen bemüht«27. Wermke verortet seine Studie »inhaltlich und methodisch im interdisziplinären Überschneidungsfeld von Theologie resp. Religionspädagogik und Literaturwissenschaft«28, wobei näher betrachtet deutlich wird, dass die interdisziplinären Bezüge vielfältiger sind. Im ersten Kapitel »Einführung in die Gedächtnistheorie. Die kulturstiftende Leistung kollektiver Gedächtnisse«29 erfolgt insbesondere ein Dialog mit soziologischen,30 kulturtheoretischen31 sowie kulturanthropologischen Theorien,32 um »die soziale Bedingtheit v.a. kollektiver Gedächtnisse darzustellen.«33 Auch im zweiten Kapitel »Grundlegungen einer Theologie und Pädagogik der Erinnerung«34 werden soziologische und kulturwissenschaftliche Studien dann keineswegs gänzlich ausgeblendet, der Schwerpunkt liegt jedoch in der theologischen Verantwortung der Erinnerungen des Volkes Israel. Diese erfolgt vor allem unter Bezugnahme auf die alttestamentliche Wissenschaft,35 die jüdische Theologie und Literatur36 sowie die systematisch-theologischen Überlegungen Bertold Klap-

26

  A.a.O., 14.    Ebd. 28   A.a.O., 15. 29   Vgl. a.a.O., 20–43. 30   Zu erwähnen sind Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985; Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1991. 31   Zu nennen ist Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 32   Herangezogen wird Claude Levi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 9 1994. 33   Wermke: Jugendliteratur, 42. 34   Vgl. a.a.O., 43–80. 35   Genutzt werden u.a. Jürgen Ebach: Verstehen, Lernen und Erinnerung in der hebräischen Bibel, in: Der evangelische Erzieher. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 38 (1986), 106–117; Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments. Band 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung Israels, München 81982; Willy Schottroff: ›Gedenken‹ im Alten Orient und im Alten Testament. Die Wurzel zakar im semitischen Sprachgebrauch, Neukirchen 1964. 36   Herangezogen werden u.a. Alicia Appleman: Alicia. Überleben, um Zeugnis zu geben, München 1992; Shalom Ben-Chorin: Narrative Theologie des Judentums anhand der Pessach-Haggada, Tübingen 1985; Ernst Ludwig Ehrlich (Hrsg.): Der Umgang mit der Shoah. Wie leben Juden der zweiten Generation mit dem Schicksal der Eltern?, Gerlingen 1993. 27

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz 363

perts.37 In thematischer Hinsicht beinhalten diese theologischen Reflexionen pädagogische Aspekte, es erfolgt jedoch keine Rezeption pädagogischer Literatur. Demgegenüber liegt der Schwerpunkt des dritten Kapitels »Zur Didaktik der Erinnerung und das Konzept von Facing History and Ourselves«38 auf pädagogischen und geschichtsdidaktischen Reflexionen, wobei das im Titel genannte Konzept im Vordergrund steht.39 Des Weiteren erfolgen Bezüge auf die Antisemitismusforschung40 sowie die Gedenkstättenpädagogik.41 Das vierte Kapitel »Die Erinnerung an den Holocaust als literarisches und literaturpädagogisches Problem«42 stellt nach den gedächtnissoziologischen, theologischen und pädagogischen Reflexionen der vorhergehenden Kapitel dann eine wichtige Überleitung zum abschließenden fünften Kapitel dar. In literarischer Hinsicht erfolgt insbesondere eine Rezeption von Elie Wiesel43 und literaturpädagogisch wird die Auseinandersetzung um das Bilderbuch »Rosa Weiss« von Roberto Innocenti44 reflektiert. Auch in diesem Kapitel findet sich zumindest teilweise eine Verschränkung mit theologischen45 und entwicklungspsychologischen Überlegungen.46 Das fünfte Kapitel »Der Holocaust als Thema deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur«47 stellt schließlich das umfassendste dar und setzt mit spezifischen literaturdidaktischen sowie -ästhetischen Überlegungen zu dieser Thematik48 und einem 37

  Vgl. Bertold Klappert: Die Juden in einer Christlichen Theologie nach Auschwitz, in: Günther Ginzel (Hrsg.): Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, Heidelberg 21993, 481–512. 38   Vgl. Wermke: Jugendliteratur, 81–107. 39   Genutzt werden hier u.a. Michael Berenbaum: Zur Geschichte und Konzeption des United States Holocaust Museum, in: Michael Wermke (Hrsg.): Die Gegenwart des Holocaust. ›Erinnerung‹ als religionspädagogische Herausforderung, Münster 1997; Franklin Bialystok: Perspektiven auf die Amerikanisierung des Holocaust, Hamburg 1995. 40   Zu erwähnen ist u.a. Werner Bergmann/Rainer Erb: Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung 1946–1989, Opladen 1991. 41    Zu nennen ist u.a. Annegret Ehmann/Wolf Kaiser/Thomas Lutz/Hanns-Fred Rathenow/Cornelia vom Stein/Norbert W. Weber (Hrsg.): Praxis der Gedenkstättenpädagogik. Erfahrungen und Perspektiven, Opladen 1995. 42   Vgl. Wermke: Jugendliteratur, 108–117. 43   Vgl. Christian Feldmann: Elie Wiesel – ein Leben gegen die Gleichgültigkeit, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1998. 44   Vgl. Roberto Innocenti: Rosa Weiss, Frankfurt am Main 51982. 45   Genutzt wird Robert McAfee Brown: Elie Wiesel. Zeuge für die Menschheit, Freiburg im Breisgau 1990. 46   Herangezogen wird Judith Kestenberg: Als eure Großeltern jung waren. Mit Kindern über den Holocaust sprechen, Hamburg 1993. 47   Vgl. Wermke: Jugendliteratur, 118–208. 48   Vgl. a.a.O., 118–122.

364 Martin Rothgangel

entsprechenden Literaturüberblick ein.49 Auf dieser Basis erfolgt eine literaturwissenschaftliche und theologische Analyse von vier ausgewählten Kinder- und Jugendbüchern zum Thema »Holocaust«.50 Der Kreis dieser Untersuchung schließt sich, wenn in einem zusammenfassenden Vergleich der Frage nachgegangen wird, wie in den Erinnerungskonzepten dieser vier Werke »der Holocaust im kollektiven Gedächtnis aufbewahrt bzw. erinnert werden soll«51, womit die Überlegungen des ersten Kapitels wieder aufgegriffen werden. Resümierend ist so festzustellen, dass sich in dieser Arbeit eine Vielfalt von interdisziplinären Bezügen aufweisen lässt und insgesamt betrachtet durchaus im Sinne von Nipkows konvergenztheoretischem Ansatz eine theologische wie pädagogische Verantwortung dieser Thematik angestrebt wird. b) »Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland«52 Wie der Untertitel »Empirische Befunde zur Teilnahme thüringischer Schülerinnen und Schüler« dieser Monographie besagt, handelt es sich in methodischer Hinsicht um eine empirische Studie, genauer gesagt um eine quantitative Studie, die mit deskriptiver Statistik verfährt. Somit dient in methodischer Hinsicht die empirische Soziologie als Bezugswissenschaft. Auch inhaltlich dient die (Religions-)Soziologie als Dialogpartnerin, indem Studien zur Kirchlichkeit, Religiosität, Konfessionslosigkeit und Religionslosigkeit in Ostdeutschland von Olaf Müller, Gerd Pickel, Detlev Pollack53 und Monika Wohlrab-Sahr54 rezipiert werden. Einen wichtigen Bezugspunkt der Umfrage stellt eine von Helmut Hanisch und Detlev Pollack in Sachsen durchgeführte empirische Studie55 dar, die sich der interdisziplinären Leipziger Zusammenarbeit von Religionspädagogik und Soziologie verdankte.

49

  Vgl. a.a.O., 122–125.   Vgl. a.a.O., 126–189. 51    A.a.O., 189. 52   Vgl. Michael Wermke: Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zum Teilnehmerverhalten thüringischer Schülerinnen und Schüler, Jena 2006. 53   Zu erwähnen ist Olaf Müller/Gerd Pickel/Detlev Pollack: Kirchlichkeit und Religiosität in Ostdeutschland: Muster, Trends, Bestimmungsgründe, in: Michael Domsgen (Hrsg.): Konfessionslos – eine religionspädagogische Herausforderung. Studien am Beispiel Ostdeutschlands, Leipzig 2005. 54   Zu nennen ist Monika Wohlrab-Sahr: Konfessionslos gleich religionslos? Überlegungen zur Lage in Ostdeutschland, in: Götz Doyé/Hildrun Keßler (Hrsg.): Konfessionslos und religiös: Gemeindepädagogische Perspektiven, Leipzig 2002. 50

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz 365

Die Fragestellung von Wermkes Untersuchung lautet, »dass die Teilnahme am Religionsunterricht in Thüringen auf einer besonderen Motivationsstruktur der konfessionsgebundenen wie ungebundenen Schülern beruht, die in der vorliegenden Untersuchung zu erheben ist.«56 Aus diesem Grund wird eingangs die Situation des Religionsunterrichts im Freistaat Thüringen skizziert, wobei der Jubilar vor allem auf religionspädagogische Artikel zur Einführung des Religionsunterrichts in den Neuen Bundesländern sowie auf empirische Studien von Religionspädagogen Bezug nimmt.57 Nach der Darstellung der empirischen Befunde zieht er resümierend Schlussfolgerungen58 hinsichtlich einer religionspädagogischen Konzeption, die ostdeutschen Verhältnissen gerecht wird. Zusammenfassend kann so konstatiert werden, dass in dieser Studie zum einen der Dialog mit religionspädagogischen Arbeiten zum Religionsunterricht in Ostdeutschland sowie zum anderen in methodischer wie inhaltlicher Hinsicht ein interdisziplinärer Dialog mit (religions-)soziologischen Untersuchungen geführt wird. Diese Vorgehensweise entspricht der Fragestellung der Studie – jedoch nicht dem konvergenztheoretischen Postulat, dass religionspädagogische Forschung theologisch wie pädagogisch zugleich verantwortet werden muss. 55

c) »Die Konfessionalität der Volksschullehrerbildung in Preußen«59 Bei dieser 427seitigen Studie mit dem Untertitel »Ein Beitrag zum Schulkampf in der Weimarer Republik« handelt es sich um eine umfängliche wie akribische Arbeit historischer Religionspädagogik, welche zugleich einen Beitrag zur historischen Bildungsforschung sowie speziell zur jüdischen Bildungsgeschichte leistet. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die »Auseinandersetzung um die Reform der Volksschullehrerbildung in Preußen während der Zeit der Weimarer Republik, vertieft am Beispiel der Pädagogischen Akademie in Frankfurt a. Main […]. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche bildungspolitischen und bildungstheoretischen Motive dazu beigetragen haben, dass die preußische Volksschullehrerbildung entgegen Art. 143,2 der Reichsverfassung (RV) an nicht universitären und konfessionell gebundenen 55

  Vgl. Helmut Hanisch/Detlev Pollack: Religion – ein neues Schulfach. Eine empirische Untersuchung zum religiösen Umfeld und zur Akzeptanz des Religionsunterrichts aus Sicht von Schülern und Schülerinnen in den neuen Bundesländern, Leipzig/Stuttgart 1997. 56   Wermke: Evangelischer Religionsunterricht, 13. 57   Vgl. a.a.O., 9f. 58   Vgl. a.a.O., 105–116. 59   Vgl. Michael Wermke: Die Konfessionalität der Volksschullehrerbildung in Preußen. Ein Beitrag zum Schulkampf in der Weimarer Republik, Leipzig 2016.

366 Martin Rothgangel

Hochschulen eingerichtet wurde«60. Forschungsgeschichtlich kann Wermke kritisch Bezug nehmen61 auf bildungshistorische Studien des Religionspädagogen Helmuth Kittel zum Volksschullehrerwesen62 sowie zu Pädagogischen Hochschulen,63 auf entsprechende bildungshistorische Studien von Rita Weber64 und Wolfgang Werth65 sowie auf zahlreiche Studien zur jüdischen Bildungsgeschichte.66 Bei der Erläuterung des methodischen Vorgehens67 wird ein ausdrücklicher Vergleich mit der gegenwärtigen Herausforderung der Gestaltung des Bildungswesens in Anbetracht einer »sich auch religiös pluralisierenden und modernisierenden Gesellschaft«68 vorgenommen, der jedoch im Resümee nicht weiter ausgeführt wird. Als Ziel der Studie wird herausgestellt, dass »modellhaft an der Bildungspolitik der Weimarer Republik studiert werden [soll], wie die unterschiedlichen bildungstheoretischen Entwürfe auf die Herausforderung der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung [...] zu reagieren versuchten.«69 Zu diesem Zweck nimmt Wermke die für die Bildungskonzeptionen maßgeblichen Akteure in den Blick, insbesondere Verantwortliche des preußischen Kultusministeriums, der evangelischen, katholischen und jüdischen Religionsgemeinschaften sowie entsprechender Lehrerverbände. Eine entscheidende Leistung dieser Arbeit liegt in der dafür erforderlichen Aufarbeitung von Quellen aus diversen Archiven,70 was in methodischer Hinsicht geschichtswissenschaftlicher Forschung entspricht.

60

  A.a.O., 11.   Vgl. a.a.O., 18–28. 62   Vgl. Helmuth Kittel: Der Weg zum Volksschullehrer. Über die Entwicklung der Pädagogischen Akademie, Jena 1932. 63   Herangezogen werden Helmuth Kittel: Die Entwicklung der Pädagogischen Hochschulen 1926–1932. Eine zeitgeschichtliche Studie über das Verhältnis von Staat und Kirche, Berlin/Hannover/Darmstadt 1957; Helmuth Kittel (Hrsg.): Die Pädagogischen Hochschulen. Dokumente ihrer Entwicklung, Weinheim 1965. 64   Genutzt wird Rita Weber: Die Neuordnung der preußischen Volksschullehrerbildung in der Weimarer Republik, Böhlau/Köln/Wien 1984. 65   Herangezogen wird Wolfgang Werth: Die Vermittlung von Theorie und Praxis an den Preussischen Pädagogischen Akademien 1926–1933 – dargestellt am Beispiel der Pädagogischen Akademie Halle/Saale (1930–1933), Frankfurt am Main 1985. 66   Genutzt werden u.a. Britta Rang/Maria Maris: Jüdische Lehrerinnen an öffentlichen Schulen der Stadt Frankfurt am Main (1880–1935), in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 12 (2006), 37–64. 67   Vgl. Wermke: Die Konfessionalität, 28f. 68   A.a.O., 28. 69   Ebd. 70   Vgl. a.a.O., 30–34. 61

Vom konvergenz- zum differenztheoretischen Ansatz 367

Auf dieser Basis sind auch die weiteren (inter-)disziplinären Bezüge zu verstehen: Insbesondere erfolgt der Rekurs zum einen auf bildungspolitische,71 pädagogische72 sowie religionspädagogische Literatur73 des untersuchten Zeitraums und zum anderen auf bildungshistorische Studien der Pädagogik74 sowie Religionspädagogik.75 In der Aufarbeitung jüdischer Bildungsgeschichte in Deutschland und der Verarbeitung entsprechender Sekundärliteratur sowie Quellenmaterials76 leistet diese Arbeit einen weiteren wichtigen Forschungsbeitrag. Bei alledem wird deutlich, dass die hier genannten primären Bezugsquellen konsequent aus der Forschungsfrage hervorgehen. Am Rande und primär aus historischem Interesse werden zwar auch Vertreter systematischer Theologie zitiert,77 keineswegs aber in dem Sinne, dass damit pädagogische Kriterien auch theologisch verantwortet würden.

71

   Zu nennen sind u.a. Carl H. Becker: Die Pädagogische Akademie im Aufbau unseres nationalen Bildungswesen, Leipzig 1926; Hans Richert: Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens. Denkschrift des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Berlin 1924. 72   Herangezogen werden u.a. Eduard Spranger: Gedanken über die Lehrerbildung, Leipzig 1920; Erich Weniger: Die kulturpolitische Stellung der pädagogischen Akademien in Preußen, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2 (1931), 566–573. 73   Zu erwähnen sind u.a. Gerhard Bohne: Die gegenwärtige Lage des evangelischen Religionsunterrichts, in: Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur und Erziehung in Wissenschaft und Leben 8 (1933), 612–620; Kittel: Der Weg. 74   Genutzt werden u.a. Sigrid Blömeke: »… auf der Suche nach festem Boden«. Lehrerausbildung 1945/46 – Professionalisierung versus Bildungsbegrenzung, Münster/New York/München/Berlin 1999; Heinz-Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken, in: Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V 1918–1945, München 1989, 111–153. 75   Zu nennen sind u.a. Rainer Lachmann: Die Weimarer Republik, in: Rainer Lachmann/Bernd Schröder (Hrsg.): Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch, Neukirchen-Vluyn 2007, 203–232; Antje Roggenkamp-Kaufmann: Religionspädagogik als ›Praktische Theologie‹. Zur Entstehung der Religionspädagogik in Kaiserreich und Weimarer Republik, Leipzig 2001; Bernd Schröder (Hrsg.): Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik. Historisch-systematische Studien zu ihrer Genese als Wissenschaft, Tübingen 2009. 76   Vgl. Wermke: Die Konfessionalität, 350–357. 77   Zu erwähnen sind u.a. Kurt Krenn: Katholizismus und die Philosophie des deutschen Idealismus, in: Albrecht Langer (Hrsg.): Katholische und philosophische Strömungen in Deutschland, Paderborn 1982; Christoph Schwöbel: Gottes Stimme und die Demokratie. Theologische Unterstützung für das neue demokratische System, in: Richard Ziegert (Hrsg.): Die Kirchen und die Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1994, 37–68; Klaus Tanner: Protestantische Demokratiekritik in der Weimarer Republik, in: Richard Ziegert (Hrsg.): Die Kirchen und die Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1994, 23–36.

368 Martin Rothgangel

3. Resümierende Überlegungen Es wäre viel zu spekulativ, wenn man in Anbetracht dieser drei Fallstudien den Titel dieses Beitrags »Vom konvergenztheoretischen zum differenztheoretischen Ansatz« auch als eine religionspädagogische Entwicklung Michael Wermkes verstehen würde, weil er im Rahmen seiner Dissertation noch dem konvergenztheoretischen Ansatz gefolgt, dies jedoch in seinen jüngeren Arbeiten nicht mehr der Fall sei. Gleichwohl wäre in einer eigenen Arbeit zu prüfen, ob nicht die zunehmende religionspädagogische Spezialisierung und die gestiegenen methodischen Ansprüche dazu geführt haben, dass empirische und historische Arbeiten der Religionspädagogik seltener als früher konvergenztheoretisch verantwortet werden. Ungeachtet der Frage, ob der konvergenztheoretische Anspruch einer gleichzeitigen pädagogischen und theologischen Verantwortung überhaupt in jeder religionspädagogischen Forschungsarbeit notwendig ist, sind die veränderten Zeitumstände zu bedenken: Nipkow formulierte seinen konvergenztheoretischen Ansatz in einer Zeit, in der eher die Gefahr bestand, dass problematische Alternativen zwischen Bibel- oder Problemorientierung bzw. theologischer oder pädagogischer Begründung aufgestellt wurden. Vor diesem Hintergrund war das konvergenztheoretische Modell ausgesprochen fruchtbar und trug maßgeblich zur Konsolidierung der religionspädagogischen Diskussion ab Mitte der 1970er Jahre bei. Gegenwärtig stellen sich jedoch – in Anbetracht der Spezialisierung und Ausdifferenzierung von theologischer und bildungswissenschaftlicher Forschung – gänzlich andere religionspädagogische Herausforderungen, wofür auch Michael Wermkes empirische und historische Studien ein Indiz sind. Es gibt gute Gründe dafür, dass sich die interdisziplinären Bezüge religionspädagogischer Studien nach der zugrundeliegenden Forschungsfrage ausrichten und nicht schematisch einem konvergenztheoretischen Postulat zu entsprechen suchen – so sehr dies in bestimmten Fällen notwendig und berechtigt ist. Erst recht gilt dies auch für religionspädagogische Qualifikationsarbeiten, die im Rahmen von strukturierten Promotionsprogrammen striktere zeitliche Vorgaben als zu früheren Zeiten besitzen, wobei sich zugleich der zeitliche Aufwand für die Einarbeitung in empirische Methoden vergrößert hat. Ungeachtet der Tatsache, wie diese Umstände im Detail zu bewerten sind und wie insbesondere der enzyklopädische Zusammenhang der Theologie gewährleistet bleibt (eine Frage, die sich gleichermaßen für andere theologische Teildisziplinen stellt), ist es ein lohnendes Unterfangen, im Sinne der differenztheoretischen Wissenschaftstheorie Niklas Luhmanns deskriptiv vorzugehen und die Art und Weise zu analysieren, wie gegenwärtige religionspädagogische Theorie die Praxis religiöser Bildung beobachtet.

»Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Strafbewehrte Solidarität unter Geschwistern Edward Schramm

Die in der Überschrift zitierte Frage richtet Kain an Gott, als dieser ihn bittet, mitzuteilen, wo denn Abel sei (Gen 4,9).1 Es ist gleichsam eine Vernehmungssituation. Gott hat den Brudermord, den Kain an Abel kurz zuvor begangen hatte, beobachtet. Er führt eine Art Strafverfahren gegen Kain und schreitet zur Beschuldigtenvernehmung. Kain scheint die Frage des richtenden Gottes mit einer normativen Gegenfrage zu replizieren: Bin ich denn verantwortlich für ihn? Oder wie das »Soll« zum Ausdruck bringt: Ist das Behüten eines Bruders etwa ein Gebot für Menschen? Auf den ersten Blick scheint Kain damit ausdrücken zu wollen, dass er sich geirrt und gar nichts von einem solchen Gebot gewusst habe. Doch ist die Frage ganz offensichtlich eher eine trotzigverlegene Reaktion, von der Kain selbst wusste, wie die Antwort darauf lauten musste. Denn wenig später bemerkt Kain selbst: »Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte.«2 Mag er damit auch die Ermordung meinen, erstreckt sich dies doch auch und allgemein auf die Geschwisterstellung des Opfers (»meines Bruders«) und das darauf gerichtete Behüten (»soll ich der Hüter sein?«). Gott erwidert auf die Gegenfrage von Kain: »Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde« (Gen 4,10).

1.

Die Kränkung

Die Geschichte von Kain und Abel führt uns zum Anfang der Menschheitsgeschichte zurück, wie sie in der Bibel erzählt wird. Mag diese story auch sehr alt sein3 und es dabei »nicht um eine historisch korrekte Darstellung der Vor1

  Wo nicht anders angegeben, stammt die deutsche Übersetzung der Bibelstellen aus der Lutherbibel 2017. 2   So in der Einheitsübersetzung des Katholischen Bibelwerks. Die Lutherbibel 2017 übersetzt den Text anders, und zwar auch mit einem anderen Inhalt: »Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.« 3   Wann Genesis 1 verfasst wurde, ist noch nicht historisch gesichert festgestellt; man vermutet zwischen 1.000–600 v. Chr.; vgl. Matthias Millard: Genesis, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, online: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/11602 (25. November 2017).

370 Edward Schramm

und Frühgeschichte der Menschheit, sondern um Wesensaussagen über die für den Menschen und seine Welt grundlegenden Ordnungen«4 gehen: Einen Strafrechtswissenschaftler der heutigen Zeit kann sie unmittelbar ansprechen und ihre zeitlose Aktualität beweisen. Dies beginnt bereits bei der Erforschung des Motivs für Kains Tat. Dieses Motiv bildet das psychische »Epizentrum« Kains und wahrscheinlich akuteste Thema der Brudergeschichte. Kain war ein Ackerbauer, Abel ein Schäfer. Abel brachte Gott ein Opfer in Gestalt von Erstlingen seiner Herde und von Fett, Kain dagegen in Form von Früchten seines Feldes. Gott gefiel das Opfer Abels, nicht aber dasjenige Kains: »Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick« (Gen 4,4–6). Warum hat Gott Kain so gekränkt? Warum hat er Abel mehr geliebt als ihn? Wir erfahren es nicht. Gottes Entscheidung, das Opfer des Schäfers Abel demjenigen des Ackerbauers Kain vorzuziehen, erscheint, da der Text nicht explizit benennt, was Kain falsch gemacht haben soll, sondern höchstens theologisch sublim andeutet,5 willkürlich und ungerecht. Vater und Mutter sollten ihre Kinder gleichbehandeln; geschieht dies nicht, so wird sich das womöglich ein Leben lang rächen. Doch Gott ist eher jemand, der Kain durch sein »nicht gnädiges« Verhalten einer (womöglich fast unmenschlichen) Prüfung unterzieht, welcher Kain aber nicht gewachsen ist (oder sein konnte): Gott sah, wie sich Kains Blick verfinsterte, als jener erkannte, dass Gott sein Opfer nicht gefiel, und ermahnte Kain, er möge fromm sein und nicht der Sünde erliegen. Kain erreicht diese Warnung nicht. Stattdessen fordert Kain seinen Bruder Abel auf, aufs Feld zu gehen. »Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot« (Gen 4,8). Abel zahlt den Preis dafür, dass Gott das Opfer von Kain nicht anerkannt hat: Die dadurch ausgelöste Kränkung, die Kain erfahren hat, sitzt so tief, und seine Eifersucht auf Abel wird so groß, dass er seinen Bruder (wohl hinterrücks) erschlägt. Gerichtspsychiater können zu Genüge davon berichten, dass tiefe Kränkungen einen Menschen das Leben lang begleiten und der wahre Grund für Grausamkeiten und Morde sein können. »Kränkungen sind Ursache sehr vieler Verbrechen. […] Viele Verbrechen stellen bösartige Kränkungsmecha-

4

  Renate Brandscheidt: Kain und Abel, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, online: www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/23040 (25. November 2017). 5   Nach Renate Brandscheidt soll es aber einen Grund gegeben haben: Allein das Opfer Abels wird als ein Erstlingsopfer bezeichnet, womit es einen »Aspekt der ganzheitlichen Übereignung an Gott« (Brandscheidt: Kain) enthalte, den das Opfer des Kain vermissen lasse.

»Soll ich meines Bruders Hüter sein?« 371

nismen dar«6, wie der Gerichtspsychiater Reinhard Haller in seinem Buch »Die Macht der Kränkung« ausgeführt hat. Die psychische Vulnerabilität für Kränkungen ist ebenso ein anthropologisches Faktum wie die Maßlosigkeit der Reaktion für manche Gekränkte. Sind Kränkungen womöglich die Auslöser menschlicher Destruktivität schlechthin, vielleicht sogar die Antwort auf die Frage, woher das Böse im Menschen kommt? Die Schweizer Journalistin Andrea Köhler meinte unlängst in einem Artikel zum Todesschützen von Las Vegas, der im Oktober 2017 von einem Hotelzimmer aus 59 Menschen erschoss und über 500 verletzte: »Man muss nicht unter Geschwistern geboren sein, um zu wissen, wie brennend das Gefühl, ins zweite Glied geschoben worden zu sein, einen nagenden Wunsch in die menschliche Seele pflanzt: das Bedürfnis, den anderen zu verdrängen, das tiefe Verlangen, dass dort, wo jetzt der Bevorzugte ist, wenn nicht man selber, doch besser gar nichts sei. Seit Kains Kränkung durch Gott sind die Eifersucht und die Rache ein entscheidender Grund für Mord und Zerstörungswut.«7

Nach heutigem Rechtsverständnis hätte Kain, der Frevler, einen Mord an Abel, dem Gerechten, begangen, und zwar aus zweierlei Gründen: Indem er bewusst und mit feindseliger Willensrichtung Abel auf das Feld lockte und sodann hinterrücks oder zumindest unversehens ihn als arg- und wehrloses Opfer erschlug, verwirklichte Kain das Mordmerkmal der Heimtücke (vgl. § 211 Abs. 1,2 Gr. 2 Var. 1 StGB). Hass und hemmungslose Eifersucht sind zudem Motive, die als Grund für die Tötung eines anderen schlechterdings inakzeptabel und ethisch besonders verwerflich sind,8 weshalb Kain zudem einen Mord aus niedrigen Beweggründen beging (vgl. § 211 Abs. 1,2 Gr. 1 Var. 4 StGB). Man muss die Geschichte von Kain und Abel daher zugleich als einen Appell an die menschliche Selbstbeherrschung verstehen: Kränkungen und Enttäuschungen, so tief sie auch gehen mögen, dürfen nicht alles beherrschen, vielmehr muss man, mit Friedrich Hölderlin, seine »Seele schonend zusammennehmen«.9 6

  Reinhard Haller: Die Macht der Kränkung, Salzburg 2017, 179.   Andrea Köhler: Der Schütze von Las Vegas: Er tötete, wie er lebte, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. Oktober 2017, online: www.nzz.ch/feuilleton/der-schuetze-vonlas-vegas-er-toetete-wie-er-lebte-ld.1321279 (25. November 2017). 8   Vgl. die Nachweise bei Albin Eser/Detlev Sternberg-Lieben: § 211, in: Schönke/ Schröder. Strafgesetzbuch. Kommentar (292014), § 211, Randnummer 18b. 9   Vgl. Friedrich Hölderlin: Mnemosyne. Erste Fassung, in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Studienausgabe in zwei Bänden. Erster Band, Wiesbaden 21989, 362f., 363. Vgl. weiterhin auch ebd.: »Unwillig nämlich/Sind Himmlische, wenn einer nicht die Seele schonend sich/Zusammengenommen, aber er muß doch; dem/Gleich fehlet die Trauer.« 7

372 Edward Schramm

2. Die Nachsicht Nach heutiger Rechtslage spielt es für das verwirklichte Unrecht keine Rolle, dass Kain mit Abel seinen Bruder, das heißt einen Angehörigen umgebracht hat. In den vergangenen Jahrhunderten hat man dies noch anders gesehen. Nach der Constitutio Criminalis Carolina (CCC), der zentralen frühneuhochdeutschen, lutherdeutschen Strafrechtskodifikation Kaiser Karls V. von 1532, konnte der Mord unter nahen Angehörigen mit einer verschärften Todesstrafe geahndet werden, indem vor der eigentlichen Tötung die Körperglieder des Täters mit Zangen ausgerissen wurden oder eine Ausschleifung vorgenommen wurde.10 Auch in den Partikularstrafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts wurde der Angehörigenmord mit einer qualifizierten Todesstrafe geahndet, so etwa die Mordtat an leiblichen Geschwistern nach den Artikeln 147 und 6 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 dergestalt, dass der zu Enthauptende eine halbe Stunde lang von dem Scharfsrichterknechte an den Pranger gestellt wird.11 Seit Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 stellt die Tötung eines Bruders oder einer Schwester in ganz Deutschland aber keinen Strafschärfungsgrund mehr dar. Ganz modern wiederum ist Gott, wenn er Rache und Ehrenmord an Kain dadurch verhindert, dass er ihn mit dem Kainsmal versieht. Damit ist er zwar einerseits als Mörder gekennzeichnet, andererseits aber auch geschützt.12 Denn jeder weiß, dass er unter dem besonderen Schutz Gottes steht. Hat Gott sich beim Opfer Kains noch ungnädig gezeigt, zeigt er nun Verständnis für ihn: Quasi »erläßt« er ihm die Todesstrafe. »So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten« (Gen 4,16). Bedenkt man, dass in Deutschland seit jeher auf Mord die Todesstrafe stand und diese in Deutschland erst seit 1949 durch das Grundgesetz abgeschafft wurde (vgl. Artikel 102 GG), so zeigt sich, dass das heutige (Straf-)Recht des postsäkularen Zeitalters manchmal sehr viel näher an den Schriften der Bibel ist als die Rechtsvorstellungen der Jahrhunderte davor. Auf Mord folgt heute eine lebenslange Freiheitsstrafe, doch die verhängte 10

 Vgl. den Abdruck der CCC zum Beispiel bei Arno Buschmann: Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, München 1998, 103ff. Artikel 137 der CCC lautet: »Vnd man mag inn fürgesetztem mordt, so der an hohen trefflichen personen des thetters eygen herrn, zwischen eheleuten oder nahend gesipten freunden geschicht, durch etlich leibstraff als mit zangen reissenn oder außschleyffung vor der entlichen tödtung vmb grösser forcht willen die straff meren.« 11  Vgl. den Abdruck des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 zum Beispiel bei Buschmann: Textbuch, 447ff. 12  Nach Renate Breidscheidt »versinnbildlicht das Zeichen« dagegen »parabolisch die Hinwendung Gottes zum Sünder, der in den göttlichen Plan einbezogen bleibt und dem somit ein Raum für die Umkehr zugewiesen wird« (Breidscheidt: Kain).

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Strafe und die Dauer ihrer Vollstreckung sind meist nicht gleich lang: Denn die Vollstreckung kann (frühestens) nach 15 Jahren Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, sofern nicht die besondere Schwere der Schuld eine längere Haftverbüßung erforderlich macht. Dabei handelt es sich nicht um eine einzelfallorientierte Gnadenentscheidung des Staates, sondern eine zwingende gesetzliche Vorgabe (vgl. § 57a StGB). Diese Begrenzung des Vollzugs der lebenslangen Freiheitsstrafe ist die Folge einer zentralen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1977: »Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.«13

3. Das Behüten Damit ist das »juristische Potential« von Gen 4,1–16 freilich noch nicht ausgeschöpft. Denn die Frage von Kain weist – über die Situation eines heimtückischen, zugleich aus niedrigen Beweggründen, durch aktives Tun begangenen Mord hinaus – auf eine weitere strafrechtliche Grundsatzfrage: Müssen Geschwister einander »hüten«, also beschützen? Ist es Ihnen nicht nur verboten, sich gegenseitig durch aktives Tun zu schädigen (also beispielsweise sich gegenseitig zu beleidigen, sich zu misshandeln, zu schlagen oder gar zu töten), sondern ist es für sie auch geboten, nicht tatenlos zuzuschauen, wenn dem anderen ein Schaden droht? Damit gelangt man zu einem großen Thema der Strafrechtsdogmatik, den sog. Garantenstellungen.

3.1 Beschützen und Überwachen Hierzu bedarf es zunächst eines kleinen Exkurses in die Strafrechtslehre. Die Straftatbestände des deutschen Strafrechts sind überwiegend darauf ausgerichtet, ein aktives Tun für die Tatbestandsverwirklichung zu verlangen; sie umschreiben mithin Begehungsdelikte (wie etwa die Tötungs- und Körperverletzungstatbestände nach § 211ff. und § 223ff. StGB). Dennoch können auch diese Tatbestände ausnahmsweise durch ein Unterlassen verwirklicht werden, sofern der Täter zum Handeln verpflichtet ist und das Unterlassen dem Tun entspricht. Das in § 13 StGB verlangte »rechtliche Einstehenmüssen« dafür, »dass der Erfolg nicht eintritt«, wird als Garantenpflicht bzw. Garantenstellung bezeichnet. Diese Stellung beruht auf einem besonderen Rechtsverhältnis, aus dem die Handlungspflicht fließt. Eine nicht rechtliche, sondern »nur« sittliche, ethische, moralische oder theologisch begründete Pflicht 13

 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Band 45 (1978), 187, Leitsatz Nummer 3 Satz 1.

374 Edward Schramm

zum Handeln genügt hierfür nicht. Solche Delikte, die durch ein Unterlassen nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB verwirklicht werden können, nennt man auch die sog. unechten Unterlassungsdelikte. Durch diese besondere Strafbarkeitsvoraussetzung wird das kriminalpolitische Ziel verfolgt, dass sich nicht jedermann strafbar macht, der einen strafrechtlich unerwünschten Erfolg abwenden könnte, dies aber unterlässt, sondern nur der Garantenpflichtige. Beispiele für solche unechten Unterlassungsdelikte wären etwa der Totschlag durch Unterlassen nach § 212 in Verbindung mit § 13 StGB (Mindestfreiheitsstrafe 5 Jahre) oder die Körperverletzung durch Unterlassen nach § 223 in Verbindung mit § 13 StGB (Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe). Die Pflicht, in einer akuten Notsituation einem anderen zu helfen, wird hingegen jedermann auferlegt, egal, ob er ein Angehöriger des Opfers ist oder sich beide erstmals in ihrem Leben in der kritischen Situation begegnen: Der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe) ist ein sog. Jedermanndelikt, das demjenigen eine strafbewehrte Solidaritätspflicht auferlegt, der bei einem Unglücksfall oder gemeiner Not zumutbar dem Opfer zur Hilfe eilen kann. Dagegen macht sich ein Garant nicht bloß nach § 323c StGB, sondern vielmehr wegen (versuchter) Körperverletzung oder sogar, bei entsprechendem Tötungsvorsatz, wegen (versuchten) Totschlags strafbar, wenn er einem Angehörigen, der in Gefahr geraten ist, nicht die rechtlich gebotene Hilfe zukommen lässt. Im Zentrum der heute vorherrschenden Unterlassungsdogmatik steht die von Armin Kaufmann14 entwickelte, später auch von der Rechtsprechung15 aufgegriffene Funktionenlehre mit ihrer Unterscheidung zwischen dem sog. Beschützergaranten mit Obhutspflichten und dem sog. Überwachungsgaranten mit Sicherungspflichten.16 Dem Beschützergaranten obliegt es, bestimmte Rechtsgüter gegen Angriffe aus allen Richtungen zu schützen. Der Überwachungsgarant hingegen muss dafür Sorge tragen, dass sich Risiken, die aus einer Person oder Sache resultieren, nicht zu einem Schaden oder besonders qualifizierten Risiko verdichten. Muss ein Beschützergarant auf einen Menschen aufpassen, so hat er etwa Risiken für dessen Leben und die Gesundheit entgegenzutreten. Die Schutzpflicht kann sich aber auch auf andere Rechtsgüter, so etwa dessen Eigentum oder Vermögen, erstrecken. Ist ein Überwachungsgarant für einen bestimmten Menschen zuständig, der 14

 Vgl. Armin Kaufmann: Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959, 282ff. 15  Vgl. Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen. Band 48 (2004), 77. 16  Vgl. Karsten Gaede: § 13, in: NomosKommentar. Band 1 (52017), § 13, Randnummer 32.

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eine Gefahrenquelle darstellt (etwa für Leib und Leben von Dritten), muss er ihn dergestalt beherrschen, dass sich diese Gefahr nicht realisiert. Die Überwachungsgarantie kann etwa darauf gerichtet sein, dass der zu überwachende Mensch keine Straftaten begeht. Der Beschützergarant hat somit eine besondere, verantwortungsbegründende Beziehung zum Gefährdeten, der Überwachungsgarant eine besondere, verantwortungsbegründende Beziehung zum Gefährlichen.17 Der Frage, ob Geschwister füreinander Überwachungsgaranten sind, soll nachstehend nicht näher nachgegangen werden; sie wäre unter erwachsenen Geschwistern ohnehin mit »Nein« zu beantworten, wenn nicht besondere Umstände vorliegen (zum Beispiel die Beaufsichtigung eines bekanntermaßen zu Aggressionen neigenden Geschwisterteils übernommen wurde).18 Vielmehr interessiert im Folgenden die eingangs aufgeworfene Frage, ob Brüder und Schwestern einander behüten und beschützen müssen.

3.2 Der beschützende Bruder Will man eine Antwort auf diese Frage finden, liegt ein Blick auf das Rechtsgebiet nahe, in dem die rechtlichen Beziehungen in der Familie vor allem geregelt sind, nämlich die Primärordnung des Familienrechts im 4. Buch des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Das Strafrecht ist eine Sekundär- und Sanktionsordnung, die letztlich auf Pflichten aus der Primärordnung Bezug nimmt (wie zum Beispiel § 1618a BGB) und insofern von dieser abhängt. Man spricht auch von der Akzessorietät (Abhängigkeit) des Strafrechts von außerstrafrechtlichen Wertungen.19 § 1618a BGB statuiert die Pflicht, dass Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schulden. Er betrifft somit in erster Linie das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern. Allerdings lässt sich der Wortlaut des § 1618a BGB (»Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig«), wenn man die beiden ersten Wörter (»Eltern und«) gedanklich streicht (»Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig«), durchaus so deuten, dass die gegenseitige Beistands- und Rücksichtspflicht auch die Kinder trifft, also auch Geschwister untereinander vom Normappell angesprochen werden sollen.20

17

 Vgl. Georg Freund: Erfolgsdelikt und Unterlassen, Köln/Berlin/Bonn/München 1992, 156. 18  Vgl. Edward Schramm: Ehe und Familie im Strafrecht. Eine strafrechtsdogmatische Untersuchung, Tübingen 2014, 271. 19  Vgl. Edward Schramm: Strafrecht Besonderer Teil 1. Eigentums- und Vermögensdelikte, Baden-Baden 2017, § 1, Randnummer 26. 20  Vgl. Karl August Prinz von Sachsen Gessaphe: § 1618a, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Band 9 (72017), § 1618a, Randnummer 4.

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Die herrschende Meinung im familienrechtlichen Schrifttum misst der Vorschrift diese Bedeutung unter Geschwistern bei.21 Die Vorschrift habe die Funktion, den Familienverband der heutigen Kleinfamilie zu stabilisieren; aufgrund dessen – und weniger aufgrund des mittelbaren Beistands für die Eltern – seien auch Beistand und Rücksichtnahme unter Geschwistern geschuldet. Auch Geschwister könnten aus dieser Vorschrift unmittelbar Rechte ableiten; dies entspräche dem Normzweck der Vorschrift, der Stärkung der Familiensolidarität, und auch der Wortlaut lasse eine solche Interpretation durchaus zu.22 Zumindest solange die Geschwister in Hausgemeinschaft miteinander leben, begründe § 1618a BGB auch eine Solidaritätspflicht der Geschwister untereinander. Dies folge aus dem durch § 1618a BGB betonten Gemeinschaftsaspekt und der (zumindest teilweise) gemeinsamen Abstammung von den Eltern.23 In Anknüpfung an die in § 1618a BGB gesetzlich normierte Familiensolidarität schulden erwachsene Geschwister einander Beistand und Rücksicht auch in strafrechtlicher Hinsicht. Diese Garantenstellung ist auf Beistand ausgerichtet, das heißt auf solche Situationen, in denen es um den physisch-tatsächlichen Bereich geht, in dem Pflichten zur Nothilfe bestehen können. Damit ist aber noch nicht die Frage entschieden, ob Geschwister einander lebenslang Beistand schulden, oder diese Handlungspflicht nur solange andauert, wie eine häusliche Gemeinschaft besteht. Die herrschende Meinung im strafrechtlichen Schrifttum fordert zu Recht ein solches »Zusammenleben unter einem Dach«.24 § 1618a BGB statuiert zwar eine lebenslange Beistandspflicht. Bei intakten Familienverhältnissen werden es Geschwister als zumindest sittliche, intuitiv empfundene Pflicht ansehen, in akuten Krisensituationen, sofern Hilfe möglich und zumutbar ist, einander beizustehen. Dies wird selbst dann gelten, wenn sie schon lange aus dem Elternhaus ausgezogen sind und sich nur noch selten sehen sollten.

21

 Vgl. Katharina Hilbig-Lugani: § 1618a, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen. Band 4 (Neubearbeitung 2015), § 1618a, Randnummer 27. 22  Vgl. Hans-Wolfgang Strätz: § 1618a, in: Soergel. Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Band 8 (121987), § 1618a, Randnummer 2. 23  Vgl. Hilbig-Lugani: § 1618a, Randnummer 27. 24  Vgl. Kristian Kühl: Strafrecht Allgemeiner Teil, München 82014, § 18, Randnummer 60a; Rolf Rengier: Strafrecht Allgemeiner Teil, München 92017, § 50, Randnummer 16; Walter Stree/Nikolaus Bosch: § 13, in: Schönke/Schröder. Strafgesetzbuch. Kommentar (292014), § 13, Randnummer 18; dagegen eine Garantenstellung zum Beispiel ganz ablehnend Helmut Frister: Strafrecht Allgemeiner Teil. Ein Studienbuch, München 72015, § 22, Randnummer 42.

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Es spricht aber alles dafür, dass eine strafbewehrte Hüterstellung unter erwachsenen Schwestern und Brüdern im Regelfall das Fortbestehen einer häuslichen Gemeinschaft verlangt. Nicht bereits die »Blutsbande«, sondern erst das geschwisterliche Zusammenleben erzeugt die enge personale Verbundenheit, die den rechtsverbindlichen Charakter gegenseitigen Beistands zu legitimieren vermag. Sodann sind heute nach dem Auszug aus dem Elternhaus die Bindungen unter Geschwistern im Regelfall nicht mehr so groß, dass die familienrechtlichen Beziehungen von einem generell bestehenden persönlich engen Verhältnis, aus dem heraus Fürsorge und Schutz erwachsen, ausgehen können, von der vielfachen geografischen Ferne der Geschwister untereinander einmal ganz abgesehen. Ethisch mag man eine Handlungspflicht auch unter erwachsenen Geschwistern bejahen, selbst wenn sie nicht unter einem Dach zusammenleben; doch rechtlich besteht sie im Regelfall nicht.25 In ganz ähnlicher Weise hat jüngst der Bundesgerichtshof für Strafsachen in einem vergleichbaren Fall entschieden,26 in dem eine (volljährige) Tochter ihrer offensichtlich schwerkranken, vor sich hinsiechenden Mutter nicht half und die Mutter schließlich deshalb verstarb. Vom Tatgericht zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren wegen Totschlags durch Unterlassen verurteilt, blieb die Revision der Angeklagten vor dem Bundesgerichtshof ohne Erfolg. Ihren Einwand, sie sei als erwachsene Tochter gegenüber ihrer Mutter nicht garantenpflichtig, ließ der 3. Strafsenat des obersten deutschen Strafgerichts nicht gelten: § 1618a BGB postuliert eine innerfamiliäre Pflicht zu Beistand und Rücksicht, die als Leitbild und Wertmaßstab auch für die Beurteilung von strafrechtlichen Garantenpflichten maßgeblich ist. Mutter und Tochter lebten hier tatsächlich in einer häuslichen Gemeinschaft zusammen, die durch § 1618a BGB ihre spezifische rechtliche Ausgestaltung erhielt. Die Frage Kains an Gott müssten wir, begriffen wir sie als juristische Frage, aus heutiger Sicht so beantworten: Kain ist der Hüter seines Bruders, solange er mit Abel, seiner Mutter Eva und seinem Vater Adam in einer häuslichen Gemeinschaft lebt. Da nach dem biblischen Schöpfungsmythos Adam und Eva die beiden ersten Menschen, Kain und Abel mithin überhaupt die ersten Kinder waren und die beiden Brüder offenbar noch keine Familie gegründet hatten, könnte man die Erzählung so »ergänzen«, dass sie mit ihren Eltern noch unter einem Dach zusammengelebt haben; ein (straf)richtender Gott müsste dann antworten: »Ja, Kain, du bist der Hüter deines Bruders.«

25

 Vgl. Schramm: Ehe, 270.  Vgl. Bundesgerichtshof für Strafsachen: Garantenstellung von Kindern gegenüber Eltern, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 37 (2017), 401 (Beschluss vom 13. Oktober 2016). 26

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4. Adam raised a Cain Ist die Geschichte von Kain und Abel heute noch Gemeingut, und die »berühmte« Frage, die Kain an Gott gestellt hat, überhaupt noch bekannt? Der amerikanische Rocksänger Bruce Springsteen würde wahrscheinlich mit »Ja« antworten, hat er doch 1977 auf seinem Album »Darkness on the Edge of Town« den Song »Adam Raised a Cain« veröffentlicht. Springsteen »singt« – oder, man sollte eher sagen, schreit nahezu als »verzweifelter Sohn« gen Himmel – dabei folgende Zeile: »In the Bible Cain slew Abel/And East of Eden he was cast/You’re born into this life paying/For the sins of somebody else’s past.« Die Cineasten unter uns erinnern sich an Elia Kazans Verfilmung von John Steinbecks Roman »Jenseits von Eden« aus dem Jahre 1955, in dem der junge James Dean den Cal(eb) spielt: Ohne seine Mutter, die angeblich gestorben ist, wächst Cal gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Aron bei seinem Vater Adam auf. Adam liebt seinen (»braven«) Aron aber mehr als den (»wilden«) Caleb, was für stetig zunehmende Spannungen und Konflikte in der Familie sorgt. Cal »bringt« in gewisser Weise später seinen Bruder symbolisch »um«, indem er Aron darüber aufklärt, dass ihre Mutter noch lebt und als Prostituierte ein Bordell leitet – mit diese Tatsache konfrontiert, bricht für Aron nicht nur die Welt zusammen, sondern er erleidet daraufhin auch einen schweren Schlaganfall, der ihn für immer zu einem Pflegefall macht. Trotz dieser Popularität des Kain und Abel-Motivs in der amerikanischen Pop- und Kinokultur würde ich für Deutschland vermuten, dass – würde man eine repräsentative Umfrage starten – die Geschichte von Kain und Abel sowie die für diesen Beitrag verwendete Überschrift nur noch wenigen etwas sagen wird. Auf keinen Fall soll dies aber der Anlass für ein »C-Moll«, einen melancholischen Ausklang dieses Beitrags sein. Er ist dem Jubilar Michael Wermke gewidmet, der in seinem Zentrum an der Universität Jena mit Leidenschaft und großem Erfolg »im postsäkularen Zeitalter« (Jürgen Habermas) religionspädagogische Inhalte erforscht und vermittelt, durch seine Anstiftung zur »kritisch-konstruktiven Beschäftigung mit religiösen und säkularen Argumentationsmustern« die »Mündigkeit des Menschen«27 fördert und, last but not least, dank seiner wissenschaftlichen Neugierde auch die Brücke zu manchem Forschungsgebiet seiner rechtswissenschaftlichen Kollegen schlägt, wovon diese juristische Miniatur Zeugnis ablegen soll.

27

 Michael Wermke: Religiöse Bildung in der postsäkularen Gesellschaft: Eine bildungstheoretische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, in: Doron Kiesel/Ronald Lutz (Hrsg.): Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Frankfurt am Main/New York 2015, 287–302, 300.

Bildung oder »Education«? Überlegungen zur Frage nach Leitbegriff und Konzept einer Religionspädagogik im Zeitalter der Globalisierung im Gespräch mit John Dewey Bernd Schröder

Seit Anfang der 1980er Jahre ist Bildung (wieder) zum Leitbegriff religionspädagogischer Theoriebildung im deutschsprachigen Raum avanciert – seinerzeit grundgelegt durch begriffsgeschichtliche und systematisch-konzeptionelle Überlegungen von Peter Biehl, Reiner Preul u.a., maßgeblich befördert namentlich durch die programmatische Ingebrauchnahme des Begriffs durch Karl Ernst Nipkow, der diesen kraft seiner vielfältigen Funktionen sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in den Verlautbarungen der Evangelischen Kirche in Deutschland zu platzieren vermochte.1 Die Rede von Bildung in einschlägigen kirchlichen wie wissenschaftlich-religionspädagogischen Texten im Zusammenhang mit Religion soll seitdem verschiedene Funktionen erfüllen: Zuerst und vor allem soll sie das wissenschaftliche Reflektieren auf religionsbezogenes Lehren und Lernen in bildungsgeschichtliche Zusammenhänge des deutschen Sprach- und zum Teil des europäischen Kulturraums einzeichnen, sodann die Bezugnahme auf Debatten und Konzepte in der Erziehungs- oder, wie es seit einigen Jahren bisweilen heißt, Bildungswissenschaft erleichtern. Zudem sollen durch den Ausweis religiöser Bildung als Teil allgemeiner Bildung Religionsunterricht und andere Formate religionsbezogener Bildung coram publico – namentlich gegenüber Schulpolitik, Schulangehörigen und Öffentlichkeit – begründet und plausibilisiert werden. Keineswegs zuletzt soll sie einerseits der Theologie, andererseits der katechetischen Traditionslinie religiösen Unterrichts gegenüber Dignität und Selbständigkeit sowie eine bestimmte inhaltliche und prozessuale Qualität religionsbezogenen Lehrens und Lernens verdeutlichen. Die Rede von Bildung erfüllt somit deiktische, legitimatorische, diskursive und normative Funktionen; sie dient – anders formuliert – gewissermaßen 1

  Vgl. hier nur Friedrich Schweitzer/Volker Elsenbast/Christoph Th. Scheilke (Hrsg.): Religionspädagogik und Zeitgeschichte im Spiegel der Rezeption von Karl Ernst Nipkow, Gütersloh 2008; Friedrich Schweitzer/Volker Elsenbast/Peter Schreiner (Hrsg.): Religionspädagogik und evangelische Bildungsverantwortung in Schule, Kirche und Gesellschaft. Mit Karl Ernst Nipkow weiterdenken, Münster 2016.

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der Sicherung von »Identität und Verständigung(sfähigkeit)« religionspädagogischer Theorie. Bemerkenswerter Weise vermag sie dies trotz des Umstandes, dass der Bildungsbegriff im Laufe seiner Verwendungsgeschichte so viele unterschiedliche Akzentuierungen wie kaum ein anderer Terminus erfahren hat2 und deshalb keineswegs als eindeutig bestimmt und bestimmbar gelten kann (auch wenn es nicht an Versuchen fehlt, die »Essenz« dessen herauszudestillieren, wofür dieser Begriff steht)3. Im Zusammenhang solcher Metareflexionen auf den Begriffsgebrauch kann man indes den Eindruck gewinnen, die Einmütigkeit im Blick auf die Tauglichkeit, den Gehalt und die Dignität des Bildungsbegriffes sei ein Proprium deutschsprachiger evangelischer Religionspädagogen: • Schon in der katholischen Katechetik und Religionspädagogik sowie in den Verlautbarungen der römisch-katholischen Kirche spielt der Begriff eine deutlich geringere Rolle. • Die gegenwärtige Erziehungswissenschaft verwendet zwar den Begriff, gebraucht ihn jedoch weithin in einem technischen Sinne – »[empirische] Bildungsforschung« und »Bildungsstandards« seien pars pro toto als typische Vokabeln aufgerufen – und damit geradezu ostentativ nicht-normativ und nicht im Rückgriff auf geistesgeschichtliche Traditionen; zumeist auch nicht so, dass er religiöse Bildung inkludiert. Auch im Kontext bildungsgeschichtlicher Forschung kommt der Terminus vor allem wegen seiner Qualität als Dachbegriff zum Zuge, nicht wegen einer bestimmten inhaltlichen Deutungslinie.4 • Vollends irritiert wird die Orientierung am Bildungsbegriff beim Blick in nicht-deutsche Sprachräume: Bekanntlich kennt kaum eine Sprache überhaupt einen vergleichbaren Begriff – literacy, culture oder ‫( אוריינות‬hebräisch) u.a. zielen tendenziell mehr auf das Gebildet-Sein als Habitus oder Status, aber eben nicht auf den Prozess des Sich-Bildens und dessen existentiell-humanistische Dimension. Im derzeit dominanten wissenschaftlichen Diskursraum, dem englisch-amerikanischen, aber auch im Französischen und in den anderen soeben angeklungenen Sprachen dominiert für die Bezeichnung von Lehr-Lern-Prozessen – auch dann, wenn diese auf Religion als ihren Gegenstand bezogen sind – vielmehr unstrittig die Rede von education (französisch: formation/education, hebräisch: ‫ חינוך‬usw.).

2   Die Literatur dazu ist Legion; vgl. hier nur die Angaben bei Schröder: Religionspädagogik (s.u.), § 13. 3   Vgl. in religionspädagogischer Perspektive Karl Ernst Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 1990; Reiner Preul: Evangelische Bildungstheorie, Leipzig 2013; Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012; Friedrich Schweitzer: Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014. 4   Vgl. etwa Peter Gemeinhardt: Bildung und Religion als interdisziplinäres Forschungsthema. Ein neuer Sonderforschungsbereich in Göttingen und seine Agenda, in: Theologische Literaturzeitung 142 (2017), 164–179.

Bildung oder »Education«? 381

Dieser Artikel greift die Differenzen im internationalen Sprachgebrauch auf und geht folgender Hypothese nach: Indem Religionspädagogen im deutschen bzw. englisch-amerikanischen Sprachraum mit dem Begriff der Bildung bzw. demjenigen der education operieren und dementsprechend von religiöser Bildung bzw. religious education sprechen, führen sie in tiefgreifender Weise unterschiedene Axiome mit – und dies nicht allein wegen des schillernden Charakters des Religionsbegriffes (der hier außer Betracht bleiben soll), sondern wegen der unterschiedlichen Traditionen und Konnotationen, die in den Begriffen »Bildung« bzw. »Education« zur Geltung kommen. Allerdings muss bewusst bleiben, dass hier lediglich die Leitbegriffe gegenübergestellt und damit manche Differenzen überzeichnet werden. Unbeschadet dessen ist im Begriffsrepertoire deutschsprachiger Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft neben Bildung auch etwa Erziehung,5 im Begriffsrepertoire US-amerikanischer Religionspädagogen und Philosophers of Education auch etwa formation, literacy, learning und civilisation zu finden.

1. »Education« und ihre gegenwärtig    dominanten Traditionslinien im englisch   sprachigen Diskursraum am Beispiel der USA In seiner wohl schon klassisch zu nennenden, erstmals 1968 erschienenen Darstellung »History of Education in America« rekonstruiert John D. Pulliam in eindrücklicher Weise die US-amerikanische Schulgeschichte von ihren Anfängen bis in die 2000er Jahre.6 Diesem Abriss stellt er ein ausführliches Kapitel voran, in dem unter der Überschrift »Shaping the Schools: Philosophical and Psychological Foundations« u.a. bildungstheoretische Überlegungen, dem amerikanischen Sprachgebrauch entsprechend philosophy of education genannt, zur Geltung kommen, denn: »Shaping any school system [sc. and any single school] requires knowledge of the historical forces in play, a clear understanding of goals determined by philosophy«7. Im Blick auf die USA zeichnet er ein klares, typisiertes Bild dieses Nachdenkens über Erziehung: 5

  Vgl. dazu in historischer Perspektive Bernd Schröder: Eruditio – Unterricht – Erziehung – Emanzipation – Bildung: Wechselnde Leitbegriffe in der Geschichte der Religionspädagogik, in: Michael Domsgen (Hrsg.): Religionspädagogik in systemischer Perspektive. Chancen und Grenzen, Leipzig 2009, 47–71; in systematischer Hinsicht Henrik Simojoki: Theorie evangelischer Erziehungsverantwortung. Ein Beitrag zur Wiedererschließung einer religionspädagogischen Reflexionsdimension, in: International Journal of Practical Theology 12 (2008), 88–103. 6   Vgl. John D. Pulliam/James J. van Patten: History of Education in America, Upper Saddle River/Columbus 92007 (ab der 10. Auflage von 2013 unter dem Titel »The History and Social Foundations of American Education«). 7   A.a.O., 32 (vgl. das o.g. Kapitel 31–80).

382 Bernd Schröder

»American educational philosophy developed slowly […]. Not only was philosophic conflict rare in American education prior to this [sc. the 20th] century, but the most important educational ideas were imported from Europe: Comenius, Locke, Rousseau, Pestalozzi, Froebel, and Herbart were the respected leaders in educational theory until the twentieth-century American philosophers emerged.«8

Als solche aus Europa importierten Paradigmen stellt er »Perennialism (Neo-Thomism)« – repräsentiert durch Thomas von Aquin u.a., in den USA vertreten durch Robert Hutchins (1899–1986), Mortimer Adler (1902–2001) und Allan D. Bloom (1930–1992) –, »Idealism« – repräsentiert durch Plato, Augustin und Kant, in den USA vertreten durch Josiah Royce (1855–1916), William T. Harris (1835–1909) und Herman Horne (1874–1946) – und »Realism« – repräsentiert durch Aristoteles, Comenius und Pestalozzi, in den USA vertreten durch Alfred North Whitehead (1861–1947) und Harry Broudy (1905–1998) – vor. Sie alle werden durchaus bis in die Gegenwart hinein auch von US-Amerikanern rezipiert. Diesen drei »europäischen« Strömungen stellt er originär amerikanische zur Seite: »However, pragmatism, behaviorism, and social reconstructionism are unique to the United States.«9 Während der »Social Reconstructionism« – exemplarisch vertreten durch Theodore Brameld (1904–1987) – etwa durch das »Civil Rights Movement« Unterstützung erfuhr und in der Regel unter demokratischen Präsidenten zwar schulpolitisch überaus wirksam wurde, allerdings weniger als theoretisch elaboriertes Konzept Anerkennung fand, sei der Behaviorismus, prototypisch vertreten durch Burrhus Frederick Skinner (1904–1990), als exemplarische »protest philosophy [of education]« zu verstehen, die – ebenso wie beispielsweise postmoderne Reflexion auf Erziehung, vorgetragen etwa durch Richard Rorty (1931–2007) – nicht als Grundlegung für Schulen tauge und auch nur selten als solche genutzt worden sei.10 So bleibt als die US-amerikanische Erziehungsphilosophie der Pragmatismus anzusehen: Einer seiner Begründer, John Dewey (1859–1952), gelte als »by any measure […] the most important educational philosopher ever produced in the United States«11, der nach wie vor Impulse freisetze und interpretative Anstrengungen auslöse.12 Diese Einschätzung mag genügen, um Deweys Erziehungstheorie legitimerweise als Exempel für die Untermauerung der o.g. Hypothese heranzuziehen – zumal in der Tat kaum US-amerikanische Erziehungswissenschaftler oder Philosophen in den Sinn kommen, die seitdem in vergleichbarer

8

  A.a.O., 37f.   A.a.O., 38. 10   Vg. a.a.O., 53. 9

Bildung oder »Education«? 383

Weise wirksam wurden.13 Die Hochschätzung Deweys ist nicht nur insofern erstaunlich, als es an Kritikern nicht fehlt,14 sondern auch insofern, als Theoriebildung zu Fragen der Erziehung lediglich ein Arbeitsgebiet Deweys unter mehreren darstellt – wenngleich keineswegs ein nachgeordnetes oder lediglich »angewandtes«, sondern ein so wesentliches und durchgängiges, dass man von »John Dewey’s Philosophy as Education« sprechen konnte.15 11

12

2. Grundideen der »Philosophy of     Education« von John Dewey In Grundzügen dargelegt hat Dewey seine Konzeption von Erziehung bereits in seiner Zeit in Chicago (1894–1904), detaillierter entfaltet vor allem an der Columbia University in New York (1905–1930) bzw. nach seiner Emeritierung.16 Erst in der New Yorker Ära bringt er nicht zuletzt seine Lesart des Pragmatismus als epistemologisches Modell zur Darstellung, das – in ähnli11

 A.a.O., 45; vgl. weiter 45–48. Ganz ähnlich fällt die Einschätzung von Lawrence A. Cremin in einer ähnlich klassischen Darstellung amerikanischer Schulgeschichte und Erziehungsphilosophie aus, vgl. Lawrence A. Cremin: American Education. The Metropolitan Experience 1876–1980, New York 1988, 164–174, u.a. 171. Dieser Band schließt eine Trilogie des Autors ab, zu der auch die beiden folgenden Titel gehören: American Education. The Colonial Experience 1607–1783, New York 1970; American Education. The National Experience 1783–1876, New York 1982. 12  Die Bibliografie »Works about John Dewey«, die Ende 2016 letztmals vom »Center for Dewey Studies« (1961–2016) zur Verfügung gestellt wurde, vermag dies eindrücklich zu belegen, vgl. online: http://deweycenter.siu.edu/_common/documents/ works-about-dewey-2016.pdf (31. Oktober 2017). 13  Neuere Einführungen weisen vielmehr die Vielstimmigkeit sowie die thematische wie perspektivische Zersplitterung der einschlägigen Diskurse aus, vgl. Richard Bailey/Robin Barrow/David Carr/Christine McCarthy (Ed.): The SAGE Handbook of Philosophy of Education, Los Angeles 2010 (darin zu »John Dewey and Educational Pragmatism« James Scott Johnston, 99–110); Nigel Blake/Paul Smeyers (Ed.): The Blackwell Guide to the Philosophy of Education, Malden/Oxfort/Carlton 22008; Harvey Siegel (Ed.): The Oxford Handbook of Philosophy of Education, Oxford 2009. 14   Vgl. exemplarisch C. Gregg Jorgensen: Discovering John Dewey in the Twenty-First Century: Dialogues on the Present and Future of Education, New York 2017; Richard Pring: John Dewey. A Philosopher of Education for Our Time?, London 2007. 15   Vgl. James W. Garrison: John Dewey’s Philosophy as Education, in: Larry Hickman (Ed.): Reading Dewey. Interpretations for a Postmodern Generation, Bloomington 1998, 63–81. 16  Deweys Schriften sind in drei Abteilungen (»The Early Works«, »The Middle Works«, »The Later Works«) in insgesamt 38 Bänden erschienen als »The Collected Works of John Dewey, 1882–1953«, herausgegeben von Jo Ann Boydston 1969–1991 (mit einem Ergänzungsband 2008). Auf diese Ausgabe beziehen sich die Bandangaben, die den Titeln von Deweys Arbeiten in den folgenden Anmerkungen beigegeben sind.

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cher Weise wie einhundert Jahre zuvor bei Johann F. Herbart (1776–1841) – seine Vorstellungen von Erziehung grundiert: Denken (thinking) wird demnach – ähnlich wie bei Jean Piaget (1896–1980) – durch Widerfahrnisse oder Herausforderungen ausgelöst, »thinking is not a case of spontaneous combustion«17. In seiner »Analysis of a Complete Act of Thought« weist Dewey eine Art Regelkreis des Denkens aus, das demnach auf Erfahrung (experience) basiert, nicht auf (Aneignung von) Wissen, Ideen oder anderen, auf dem Wege der Deduktion lernbaren Faktoren. Es sind namentlich perplexing situations, die der Lernende als solche identifiziert, die den Prozess des Reflektierens initiieren – sie konstruktiv zu bearbeiten, ist das Ziel des Denkprozesses: »What is important is that the mind should be sensitive to problems and skilled in methods of attack and solution.«18 Dies so zusammenzufassen, dass es Dewey lediglich um Problemlösung (problem-solving) gehe, spiegelt eher ein banalisierendes Verständnis des Pragmatismus19 als Deweys Anliegen. Mit education hat dieses Modell auf Grund der schlichten Einsicht zu tun, dass Denken des Trainings bedarf: Schulung von Beobachtung, Sprache und Logik sind dessen wichtigste Elemente, wobei strikt darauf zu achten ist, dass externe Anregungen als Anstöße zur »reflective inquiry, not as ready-made intellectual pabulum« eingebracht werden.20 Gute education besteht demnach darin, den Einzelnen Wege und Räume für das Denken zu eröffnen, etwas konkreter: Wege und Räume für das Verstehen ihrer Erfahrungen und deren methodisch bewusste Fortschreibung – »education must be conceived as continuing reconstruction of experience«21. Will oder vermag sie das nicht, muss sie als »miseducative« gelten.22 Indes erschöpft sich Erziehung nicht in der Entfaltung der im Lernenden angelegten Potentiale und Kräfte, in »growth«,23 auch wenn »the participati17   In grundlegender Weise entfaltet wird die Modellierung des Denkens als Problemlösen in John Dewey: How We Think (erstmals 1910), in: John Dewey: The Middle Works, 1899–1924. Volume 6, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam 1978, 177–356. Das o.g. Zitat findet sich auf Seite 190. 18   Vgl. das o.g. Kapitel von »How we Think« a.a.O., 234–241, Zitat 241. 19   Vgl. dazu nur Alan Malachowski (Ed.): The Cambridge Companion to Pragmatism, Cambridge 2013, besonders 55–79. 20   Vgl. Dewey: How We Think, 303ff., sowie das Zitat 335. 21   John Dewey: My Pedagogic Creed (erstmals 1897), in: John Dewey: The Early Works, 1882–1898. Volume 5, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam 1972, 84–95, 91. 22   Vgl. John Dewey: Interest and Effort in Education (erstmals 1913), in: John Dewey: The Middle Works, 1899–1924. Volume 7, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam 1979, 151–197, 179. »[M]iseducative« sind demnach pädagogische Interventionen, »[if] they lead to dependence upon external ends« (ebd.). 23   Vgl. John Dewey: Democracy and Education (erstmals 1916), in: John Dewey: The Middle Works, 1899–1924. Volume 9, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam

Bildung oder »Education«? 385

on of the learner in the formation of the purposes which direct his activities in the learning process« ein zentraler Baustein eines edukativen Prozesses (und zugleich ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von »progressive« und »traditional education«24) ist. Erziehung ist vielmehr ein interaktiver, die Beteiligten verändernder (»transformative«), unabschließbarer Prozess, »consisting in the acquisition of those habits that effect an adjustment [in its active sense of control of means for achieving ends] of an individual and his environment«25. Erziehung steht damit in einer sachlichen Entsprechung zur Demokratie, Erziehung im beschriebenen Sinn ist – zeitlich wie sachlich – die Basis einer demokratischen Gesellschaft: »Since a democratic society repudiates the principle of external authority, it must find a substitute in voluntary disposition and interest; these can be created only by education. […] A democracy is more than a form of government; it is primarily a mode of associated living, of conjoint communicated experience.«26

Unbeschadet seiner anhaltenden Wertschätzung kann John Dewey mittlerweile wohl nur noch als hintergründig wirksam gelten – seine Erziehungstheorie gilt als Markstein in der US-amerikanischen Geschichte solcher Ansätze und sie wurde bis heute nicht durch andere in vergleichbarer Konsistenz und Komplexität entfaltete philosophies of education überholt. »For Dewey, philosophy was viewed as a theory of education. This integral unity of education and philosophy is perhaps one of the main reasons for the phenomenal influence which Dewey’s liberalism exerted on American education.«27 Jüngere philosophische Ansätze wie etwa die analytische Philosophie oder der Kommunitarismus waren nicht von ferne ebenso stark an Erziehung interessiert; jüngere erziehungswissenschaftliche oder pädagogisch-psycholo-

1980, 1–373, 46–58, insbesondere 54 – »the educational process has no end beyond itself; it is its own end; and […] the educational process is one of continual reorganizing, reconstructing, transforming« – sowie 58: »Since growth is the characteristic of life, education is all one with growing […]. The criterion of the value of school education is the extent in which it creates a desire for continued growth and supplies means for making the desire effective in fact.« 24   John Dewey: Experience and Education (erstmals 1938): in: John Dewey: The Later Works, 1925–1953. Volume 13, Carbondale/Edwardsville 1988, 1–62, 43. 25   Dewey: Democracy, 51; vgl. auch Dewey: My Pedagogic Creed, 84–86. 26   Dewey: Democracy, 93. 27   Adrian M. Dupuis/Robin L. Gordon: Philosophy of Education in Historical Perspective, Lanham 32010, 259f. Vgl. John G. Ramsay: Education, history of, in: Encyclopedia of the Social and Cultural Foundations of Education. Volume 1 (2009), 283–288, 284f.

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gische Theorien, etwa diejenige Lawrence Kohlbergs, nicht in eben solchem Maße philosophisch grundiert.28

3. Dewey’s Verständnis des Religiösen   und dessen Implikationen für die   Rede von »Religious Education« Die geistes- und theoriegeschichtlichen Konnotationen der Rede von education, die im US-amerikanischen Diskursraum in der Spur Deweys wirksam wurden, beeinflussten durchaus auch die Reflexion auf religious education. Dieser Begriff kam in den USA der 1890er Jahre u.a. durch William Rainey Harper (1856–1906) und George Albert Coe (1862–1951) in Gebrauch. Die entsprechende Disziplin entwickelte sich angesichts gesellschaftlich-kultureller, schul- und fachgeschichtlicher Entwicklungen, auch angesichts der Praxis gemeindlicher Bildungsarbeit und ihrer Theorie;29 eine wichtige Rolle spielte die Gründung der Religious Education Association im Jahr 1903.30 Dewey selbst hat sich indes zu Fragen religiöser Erziehung kaum geäußert. Doch immerhin hielt er 1903 einen der Vorträge bei der Gründungsversammlung der Religious Education Association31 und gewann im Nachgang dazu erheblichen Einfluss zumindest auf liberale protestantische Theoriebildung in diesem Feld in den USA. Wenige Jahre später hat er in einem Zeitungsartikel zudem seine Präferenzen bei der Gestaltung schulischer religiöser Bildung durchblicken lassen: »Our [public] schools, in bringing together those of different nationalities, languages, traditions, and creeds, in assimilating them together upon the basis of what is common and public in endeavor and achievement, are performing an infinitely significant religious work. They are promoting the social unit out of which in the end genuine religious unity must grow. Shall we interfere with this work? Shall we run the risk of undoing it by introducing into education a subject which can be taught only by segregating pupils […]? This would be deliberately to adopt a scheme which is predicated upon the maintenance of social divisions in 28

  Vgl. die in Anmerkung 13 und 27 genannte Literatur.   Vgl. dazu die Skizze von Gabriel Moran: Religious Education, in: Randall Curren (Ed.): A Companion to the Philosophy of Education, Malden/Oxford/Melbourne/Berlin 2003, 332–341, 333–335; ausführlicher Richard Robert Osmer/Friedrich Schweitzer: Religious Education between Modernization and Globalization. New Perspectives on the United States and Germany, Grand Rapids 2003. 30   Vgl. Stephen A. Schmidt: A History of the Religious Education Association, Birmingham in Alabama 1983, zur Rolle Deweys Seite 20. 31   Vgl. John Dewey: Religious Education as Conditioned by Modern Psychology and Pedagogy (erstmals 1903), in: John Dewey: The Middle Works, 1899–1924. Volume 3, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam 1977, 210–215. 29

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just a matter, religion, which is empty and futile save as it expresses the basic unities of life.«32

In diesem Plädoyer für den Verzicht auf konfessionell bestimmten Religionsunterricht, ja, für den Verzicht auf explizite, fachlich ausgewiesene religiöse Bildung, wird schon in Umrissen die Position erkennbar, die Dewey als 75-Jähriger ausführlicher darlegen wird. In seinem Buch »A Common Faith«33 formuliert er 1934, was man eine »humanistic religious position«34 nennen kann – eine Position, zu der er im letzten Lebensdrittel fand, nachdem er zunächst durch seine Mutter im Geist des Pietismus bzw. der Erweckung erzogen worden war, unter dem Dach der First Congregational Church mit liberal evangelicalism vertraut wurde und dann, wohl Anfang der 1890er Jahre, mit kirchlich verfasster Religion gebrochen hatte. Eine der bekanntesten Biografien Deweys spitzt diese Entwicklung, die zu Beginn seiner akademischen Laufbahn kulminierte, zu: »concern with democracy was replacing his concern with the Church«; »Democracy […] rather than the Church […] is ›the means by which the revelation of truth is carried on‹«35. 1934 vertritt er ein funktionales und zugleich individualistisches Religionsverständnis, das sich vor allem an der für ihn grundlegenden Unterscheidung von religion und religious verdeutlichen lässt: 32

»The heart of my point […] is that there is a difference between religion, a religion, and the religious; between anything that may be denoted by a noun substantive and the quality of experience that is designated by an adjective«36. »To be somewhat more explicit, a religion […] always signifies a special body of beliefs and practices having some kind of institutional organization […]. In contrast, the adjective ›religious‹ denotes nothing in the way of a specific entity […]. It denotes attitudes«37. 32

  John Dewey: Religion and Our Schools (erstmals 1908), in: John Dewey: The Middle Works, 1899–1924. Volume 4, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam 1977, 165–177, 175. Vgl. dazu Philip Knight: John Dewey’s »Religion and our Schools« Ninety Years on, in: British Journal of Religious Education 20 (1998), 70–79. 33   Vgl. John Dewey: A Common Faith (erstmals 1934), in: John Dewey: The Later Works, 1925–1953. Volume 9, Carbondale/Edwardsville 1986, 1–58. 34   Pulliam/Van Patten: History, 47. 35   George Dykhuizen: The Life and Mind of John Dewey, Carbondale 1973, 6f. und 72f. Das Zitat im Zitat zu Demokratie und Christentum ist entnommen aus: John Dewey: Christianity and Democracy (erstmals 1892), in: John Dewey: The Early Works, 1982–1898. Volume 4, Carbondale/Edwardsville/London/Amsterdam 1971, 3–10, 5. Vgl. auch etwa Jay Martin: The Education of John Dewey. A Biography, New York 2002, besonders 19–25. 36   Dewey: A Common Faith, 4. 37   A.a.O., 8; vgl. auch 44f.

388 Bernd Schröder

Religiös sind solche Erfahrungen zu nennen, die eine bestimmte Wirkung erzielen: »The actual religious quality in the experience described is the effect produced, […] not the manner and cause of its production. The way in which the experience operated, its function, determines its religious value.« Es gibt also keine an sich religiösen Erfahrungen: »[There is not] a definite kind of experience which is itself religious, by that very fact make out of it something specific, a kind of experience that is marked off from experience as aesthetic, scientific, moral, political; from experience as companionship and friendship. But ›religious‹ as a quality of experience signifies something that may belong to all these experiences. It is the polar opposite of some type of experience that can exist by itself.«38

Bei Erfahrungen, denen man das Attribut »religiös« zuschreibt, handelt es sich näherhin um »experiences having the force to bringing about a better, deeper and enduring adjustment in life«39. Für verfasste Religionen und insbesondere für deren supranaturale Annahmen sieht Dewey im herrschenden »intellectual climate due to the increase of our knowledge and our means of understanding« kaum eine Zukunft, für das Religiöse sehr wohl: »Religion would then be found to have its natural place in every aspect of human experience that is concerned with estimate of possibilities, with emotional stir by possibilities as yet unrealized, and with all action in behalf of their realization. All that is significant in human experience falls within this frame.«40 »Such a faith has always been implicitly the common faith of mankind. It remains to make it explicit and militant.«41

Dewey hat sich in seiner Auseinandersetzung mit Religion nicht an wissenschaftlicher Theologie abgearbeitet, vielmehr – seinem epistemologischen Ansatz entsprechend – die eigenen Erfahrungen mit Religion und dem Religiösen philosophisch reflektiert.42 Das am Ende gewonnene Verständnis des Religiösen ist trotz der erwähnten biografischen Umbrüche positiv konnotiert, das Erreichen einer religiösen Qualität von Erziehung kann als ihr Ziel oder jedenfalls als ihr Zenit begriffen werden: »If we have any ground to be

38

  A.a.O., 9   A.a.O., 11. 40  A.a.O., 38f. 41  A.a.O., 58. 42  Vgl. Sami Philström: Dewey and pragmatic religious naturalism, in: Molly Cochran (Ed.): The Cambridge Companion to Dewey, Cambridge/New York 2010, 211– 244. Zur Theologizität Deweys s. auch unten Anmerkung 44. 39

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religious about anything, we may take education religiously.«43 Auf einem anderen Blatt stehen dabei Versuche, Dewey theologisch zu interpretieren: »Theologians have generally taken two approaches to interpreting Dewey: one approach [sc. represented by Steven Rockefeller, Melvin Rogers and others] develops theological themes already within the Dewey corpus; a second approach [sc. taken by Manford Gutzke and Jerome Soneson] generates theological arguments by using Dewey’s non-religious writings.«44

Konsequenzen für religiöse Erziehung thematisiert Dewey in seiner Spätschrift »A Common Faith« nicht, doch es liegt nahe, in der Fluchtlinie seiner Überlegungen entweder ein Konzept impliziter religiöser Erziehung zu vermuten, das keines expliziten Religionsunterrichts bedarf, wohl aber dessen, dass Unterricht aller Fächer offen ist für die explizite Thematisierung solcher Erfahrungen, die man mit Dewey als »religiös« ansprechen kann, oder aber die Idee eines konsequent induktiv arbeitenden, auf die »continuing reconstruction of experience«45 zielenden, also gewissermaßen kinderbzw. jugendtheologisch angelegten Religions- und Weltanschauungsunterrichts für alle Schüler. Verschiedene Autoren haben indes Deweys Andeutungen als Haftpunkt für diverse andere Modelle religiöser Bildung in Anspruch genommen:46 Walter Feinberg etwa hat den religionskritischen Akzent in Deweys Schriften für zeitgeschichtlich bedingt bzw. kontingent erklärt und gemeint, ein anderes Modell sei »actually more consistent with Dewey’s total philosophy«, nämlich »academically oriented courses about religion«, die vor allem zweierlei zu leisten haben: »to provide students with a basic understanding of the beliefs and practices of each religion as well as to inform them of the diversity that can be found within a single religious tradition«47. 43

 John Dewey: Education as a Religion (erstmals 1922), in: John Dewey: The Middle Works, 1899–1924. Volume 13, Carbondale/Edwardsville 1983, 317–322, 319. 44   Aaron J. Ghiloni: John Dewey among the Theologians, New York 2012, 3; vgl. auch 3–8. 45   Dewey: My Pedagogic Creed, 91. 46   Vgl. etwa Siebren Miedema: The Beyond in the Midst. The Relevance of Dewey’s Philosophy of Religion for Education, in: Jim Garrison (Ed.): The New Scholarship on Dewey, Dordrecht 1995, 61–73; William R. Myers: John Dewey, God, and the religious education of the American public, in: Theology Today 74 (2017), 157–171; Hugh Nevin: Values Clarification: Perspectives in John Dewey with Implications for Religious Education, in: Religious Education 73 (1978), 661–677. Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen John Deweys Theorien und dem thematisch-problemorientierten Ansatz der deutschsprachigen Religionspädagogik steht dahin. 47   Walter Feinberg: Teaching Religion in Public Schools: A Critical Appraisal of Dewey’s Ideas on Religion and Education, in: Larry A. Hickman/Matthew Caleb

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Wie dem auch sei: Jedenfalls bieten Deweys originär pädagogischer Zugang zu Fragen schulischer Bildung, sein problemorientierter didaktischer Ansatz und seine religionskritische Interpretation des Religiösen kaum Ansatzpunkte für die Begründung eines transparent positionellen Religionsunterrichts. Seine erziehungs- und religionstheoretischen Überlegungen lassen sich so geradezu als Folie lesen, vor der sich die Ausdifferenzierung des englischen Sprachgebrauchs erschließt: »›Religious Education‹ […] could refer to education that was for the purpose of inculcating religious values and morals [sc. but more common became the term ›(Christian) Nurture‹]; education in the specific traditions, beliefs, and ceremonies of a particular sect or denomination [sc. which is regularly named as ›Christian Education‹ or ›Jewish Education‹], or education about religion such as a comparison of various religions or a study of their literature.«48

Mit anderen Worten: Theorie- und begriffsgeschichtliche Entwicklungen in den USA konvergieren darin, religious education in erster Linie im Sinne eines primär pädagogisch bzw. schulisch begründeten, äquidistant religionskritischen, gleichwohl die existentielle Dimension des Religiösen tangierenden Lernprozesses zu verstehen. Andere, konfessionell verankerte Formen religiöser Bildung werden begrifflich von (religious) education unterschieden und in gesonderten Diskursen, die einzelne Handlungsfelder wie die Sunday School oder eben Bereiche kirchlichen bzw. religionsgemeinschaftlichen Handelns (zum Beispiel Jewish Education oder Teaching Ministry) betreffen, verhandelt. Flamm/Krzysztof Piotr Skowroński/Jennifer A. Rea (Ed.): The Continuing Relevance of John Dewey. Reflections on Aesthetics, Morality, Science, and Society, Amsterdam/ New York 2011, 245–251, 248f. Vgl. ausführlicher auch Walter Feinberg: For the Civic Good. The Liberal Case for Teaching Religion in the Public Schools, Ann Arbor 2014. Zu »Professional Efforts to Establish the Academic Study of Religion in Public Schools« seit den frühen 1960er Jahren vgl. den entsprechenden Aufsatz von Nicholas Piediscalzi in: Paul J. Will/Nicholas Piediscalzi/Barbara Ann DeMartino Swyhart (Ed.): Public Education Religion Studies: An Overview, Ann Arbor 1981, 3–24; zum heutigen Stand u.a. Michael D. Waggoner (Ed.): Religion in the Schools: Negotiating the New Commons, New York 2013. 48   Lester G. McAllister: History of Christian Education, in: Harper’s Encyclopedia of Religious Education (1990), 294–305, 303. Zum Begriff »(Christian) Nurture« vgl. C. Ellis Nelson: Nurture, in: Harper’s Encyclopedia of Religious Education (1990), 456f., 456: »Nurture in religious education literature means the process of acquiring – or the effort to inculcate – faith in God, a religious understanding of the world, and a set of moral principles and practices from adult caregivers and the church«. Zur Jewish Education vgl. etwa Isa Aron/William Cutter/Sara S. Lee/Michael Zeldin: Jewish Education, in: Harper’s Encyclopedia of Religious Education (1990), 334–341.

Bildung oder »Education«? 391

4. Konsequenzen für den internationalen     religionspädagogischen Diskurs Der kursorische Gang durch einige grundlegende Elemente der philosophy of education und der religionsbezogenen Reflexionen John Deweys belegt die eingangs formulierte These: education und Bildung rufen unterschiedliche semantische Linien auf, die es bei einem grenzüberschreitenden religionspädagogischen Gespräch bewusst zu machen gilt. Die Komplexität der Zusammenhänge, die bei solchen – hier kursorisch vor Augen gestellten – Klärungen aufblitzt, gibt nicht zuletzt in methodologischer Hinsicht zu denken, u.a. in folgenden drei Richtungen: Im Falle grenzüberschreitender religionspädagogischer Kommunikation sind erstens nicht allein und nicht einmal in erster Linie »Transfers« beachtenswert – Dewey etwa wurde in Europa kaum rezipiert –, sondern nationale, sprachräumliche, religionsspezifische Konstellationen, die es komparativ zu bearbeiten gilt. Begriffe und Begriffsgeschichte sind zweitens primär heuristische Instrumente. Die Rekonstruktion der damit aufgerufenen Konzepte führt zu Ergebnissen, die man »intersectional« nennen kann: Sie zeigen neben Übereinstimmungen und Differenzen auch mancherlei Überschneidungen, die das klare Urteil erschweren – etwa wenn sich das Erziehungskonzept Deweys keineswegs als eindimensional erweist, sondern in Vielem dem entspricht, was im deutschen Sprachraum mit dem Begriff »Bildung« verbunden wird. In mancher Hinsicht gilt drittens für komparatives Arbeiten, was Dewey als Initial des Denkens markiert: Es wird erst dann fruchtbar, wenn die Akteure »perplexing situations« identifizieren, als Ausgangspunkt nehmen und ergebnisoffen, entdeckend auf das »andere« Phänomen zugehen – dann kann das vergleichende Arbeiten ggf. bestimmte Funktionen, etwa eine elenchtische oder generalisierende, erfüllen, doch dies sollte nicht als erkenntnisleitendes Interesse im Vordergrund stehen.

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? Das Beispiel »Perspektivenwechsel« Friedrich Schweitzer

Das Verhältnis zwischen religiöser Bildung und Empirie lässt sich in mehreren Zusammenhängen verstehen.1 Derzeit steht zumeist die Forderung im Vordergrund, religiöse Bildung in Kompetenzen und Standards sowie damit in eine empirisch fassbare Gestalt im Sinne von Kompetenzzuwächsen zu übersetzen – häufig kritisch assoziiert mit der Einschätzung, dass dabei eher von einer Verlustgeschichte zu sprechen wäre. Dieser Assoziation etwa anhand neuerer Bildungspläne genauer nachzugehen wäre eine reizvolle Aufgabe: Welche Bildung bliebe übrig, wenn sie tatsächlich auf die dort niedergelegten Kompetenzen beschränkt würde? Doch reicht die Frage nach dem Verhältnis zwischen religiöser Bildung und Empirie deutlich weiter als der gegenwärtige Kompetenzdiskurs. So kann etwa an das Verhältnis zwischen bildungstheoretischen und sozialwissenschaftlich-empirischen Zugängen in der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren gedacht werden: Wurde der Bildungsbegriff damals zunächst als zu wenig realitätshaltig verabschiedet, um sich fortan anderer Begriffe wie Lernen und Identität zu bedienen, so kehrte er in den 1980er Jahren doch wieder zurück und ist bis heute ein Grundbegriff der Pädagogik geblieben. Die sozialwissenschaftlichen Begriffe reichen offenbar allein nicht aus, wenn es um pädagogische Orientierungsaufgaben geht. Der Wiederkehr des Bildungsbegriffs hat sich, mit eigenen Akzentuierungen, bekanntlich auch die Religionspädagogik angeschlossen. Inzwischen ist allenthalben wieder ganz selbstverständlich von Bildung die Rede, oft allerdings in einer inflationären Weise. Auch die weithin vor allem empirisch ausgerichtete Bildungsforschung bietet häufig keine Antwort auf die Frage, warum hier von Bildung und nicht etwa wie früher von Lehr1

  Aus Umfangsgründen mussten die Verweise auf Literatur stark einschränkt werden. Vgl. zum Folgenden insgesamt Peter Schreiner/Friedrich Schweitzer (Hrsg.): Religiöse Bildung erforschen. Empirische Befunde und Perspektiven, Münster 2014; darin besonders Miriam Beier/Thomas Heller/Michael Wermke: Religionsunterricht erforschen – Stand und Perspektiven, 149–164.

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Lern-Forschung gesprochen wird. Die Bildungsforschung ist im vorliegenden Zusammenhang aber interessant, weil hier ausdrücklich Bildung und Empirie miteinander verbunden werden. Besonders hervorzuheben sind dabei solche Ansätze, die explizit und programmatisch auf eine Verbindung zwischen empirischer Bildungsforschung, Bildungstheorie und Fachdidaktik drängen. Die Frage nach religiöser Bildung und Empirie ließe sich so gesehen in allgemeiner Weise bearbeiten, indem die entsprechenden Entwicklungen der letzten 50 Jahre noch einmal rekonstruiert werden. Angesichts des begrenzten Raumes erscheint es jedoch sinnvoll, sich auf ein derzeit im religionspädagogischen Bildungsdiskurs besonders stark beachtetes Beispiel – den Perspektivenwechsel – zu konzentrieren, um auf diese Weise vielleicht zu zwar bloß exemplarischen, aber zugleich doch pointierteren Ergebnissen gelangen zu können.

1. Religiöse Bildung und Perspektiven    wechsel: Ausgangspunkte Da der Begriff »Perspektivenwechsel« nicht zu den klassischen (religions-) pädagogischen Begriffen zählt, ist zunächst eine Klärung erforderlich. Was genau ist gemeint, wenn in der Religionspädagogik vom Perspektivenwechsel die Rede ist? Eine der markantesten religionspädagogischen Bezugnahmen auf den Perspektivenwechsel findet sich in einem Synodendokument, das heute allerdings selbst bei diesem Thema kaum mehr zitiert wird. Es handelt sich um eine an Erwachsene gerichtete Forderung: »Bis heute gibt es in Gesellschaft und Kirche keine Tradition, das den Kindern eigene Verständnis von Leben und Welt und die ihnen eigenen Wünsche und Vorstellungen zu erfragen oder gar ernst zu nehmen. Was Kinder brauchen, meinen die Erwachsenen im allgemeinen immer schon zu wissen, auf jeden Fall besser als die Kinder selbst.« »Aber die eigene Sicht der Kinder von Leben und Welt ernst zu nehmen, könnte dieses Wissen der Erwachsenen ergänzen und ihnen helfen, neue Einsichten zu gewinnen. Viele Gründe sprechen deshalb für einen Perspektivenwechsel«2.

Auf den ersten Blick hat diese Bedeutung von Perspektivenwechsel wenig mit Bildung zu tun. Es geht um eine Einstellung von Erwachsenen gegenüber Kindern. Bei genauerer Betrachtung sind hier jedoch zwei Entscheidungen angesprochen, die auch für das Verständnis religiöser Bildung relevant sind. 2

  Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland: Aufwachsen in schwieriger Zeit – Kinder in Gemeinde und Gesellschaft, Gütersloh 1995, 49f.

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 395

Zum einen wird in der Erläuterung auf den »Eigenbeitrag der Kinder zu ihrer Entwicklung«3 verwiesen, was im Sinne des Begriffs der Selbstbildung verstanden werden kann; zum anderen verpflichtet der genannte Perspektivenwechsel darauf, auch religiöse Bildung vom Kind her zu denken. Bildung kann so gesehen nicht einfach eine gesellschaftliche oder auch kirchliche Anforderung sein. Eine weitere, heute in der Religionspädagogik weithin geläufige Verbindung zwischen religiöser Bildung und Perspektivenwechsel betrifft das interreligiöse Lernen. Die Forderung, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen sollen, die Perspektive des (religiös) Anderen einzunehmen, durchzieht die Literatur zu diesem Thema.4 Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme kann daher auch als eine zentrale Komponente interreligiöser Kompetenz verstanden werden. Da sich meine eigenen Arbeiten insbesondere auf diese Bedeutung des Perspektivenwechsels beziehen, werde ich mich im Folgenden darauf konzentrieren. Zunächst ist aber noch ein anderer Bedeutungszusammenhang zu nennen, der in der neueren Diskussion ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Besonders Bernhard Dressler hat die Auffassung vertreten, dass der Perspektivenwechsel von konstitutiver Bedeutung für die Religionsdidaktik insgesamt sein muss.5 Dabei denkt er aber nicht an verschiedene Religionen (dem interreligiösen Lernen steht er skeptisch gegenüber), sondern an den Wechsel zwischen »religiös Reden« und »über Religion Reden«, wobei beide Formen des Sprechens zusammen religiöse Bildung ausmachen sollen. Beim religiösen Reden wird die Perspektive der unmittelbar an religiösen Vollzügen Beteiligten eingenommen – beim Reden über Religion wird über solche Vollzüge reflektiert, aus einer immer zumindest ein Stück weit distanzierten Perspektive. Wenn religiöse Bildung beides einschließen soll, ist die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel unverzichtbar. Zusammenfassend verstehe ich diese drei Entdeckungszusammenhänge so, dass die Religionspädagogik in ihrem Bildungsverständnis eine besondere Verpflichtung gegenüber der Eigenperspektive von Kindern beachten muss und dass die Befähigung zum Perspektivenwechsel, im Sinne religiös oder weltanschaulich unterschiedlicher Sichtweisen, aber auch unterschiedlicher Modi im Umgang mit Religion, heute zu den konstitutiven Aufgaben des Religionsunterrichts gehört. 3

  A.a.O., 52 (im Original kursiv).   Einen Überblick zu entsprechenden Veröffentlichungen bieten Friedrich Schweitzer: Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014; Friedrich Schweitzer/Magda Bräuer/Reinhold Boschki (Hrsg.): Interreligiöses Lernen durch Perspektivenübernahme. Eine empirische Untersuchung religionsdidaktischer Ansätze, Münster/New York 2017. 5   Vgl. Bernhard Dressler: Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig 2006. 4

396 Friedrich Schweitzer

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass und wie im Blick auf dieses Bildungsverständnis empirische Zugänge hilfreich sein können. Das soll zunächst im Blick auf Gestaltungsaufgaben im Unterricht erörtert werden.

2. Empiriebezogene Erschließung von    Bildungsprozessen und praktische    Gestaltungsaufgaben im Unterricht 2.1  Vorüberlegung: Zum Verhältnis zwischen   empiriebezogener Erschließung und praktischen   Gestaltungsaufgaben im Unterricht Die empiriebezogene Erschließung von Bildungsprozessen, die auch als Operationalisierung bezeichnet werden kann, stellt zunächst eine ganz andere Aufgabe dar als die praktische Gestaltung.6 Operationalisierung zielt auf Erkenntnisse über Unterricht, während die praktische Gestaltung Unterrichtsprozesse allererst ermöglichen soll. Insofern geht es im ersten Fall um Theorie oder Forschung, im zweiten um Praxis. Aus der Differenz der beiden Zugangsweisen kann sich aber auch ein spezifisches Zusammenspiel ergeben, wie es heute im Zeichen der Empiriebasierung vielfach für den Unterricht angestrebt wird. Die Unterrichtsgestaltung soll nicht einfach nur auf eigenen Erfahrungen beruhen, sondern auf verallgemeinerbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Deshalb braucht die Fachdidaktik eigene Forschung.7 So gesehen steht nicht die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis im Zentrum, sondern deren produktive Verbindung, und zwar in der Praxis von Unterricht. Ob und wie das Prinzip der Empiriebasierung in einem so komplexen Feld wie dem Unterricht tatsächlich realisiert werden kann, ist allerdings eine offene Frage. Sinnvoll erscheint derzeit zumindest in der Religionspädagogik ein deutlich bescheideneres Ziel, nämlich die konsequente Nutzung wenigstens der bislang nicht sehr zahlreichen empirischen Befunde zum Religionsunterricht als Ausgangspunkt für eine auch empirisch reflektierte Gestaltung von Unterricht. Für dieses Ziel, so meine These, sind weniger die nach wie vor bedeutsamen Unterschiede zwischen Operationalisierung und Gestaltung entscheidend als vielmehr die Parallelen und Berührungspunkte, die sich für diese ebenfalls aufweisen lassen. Denn die Aufgaben im Blick auf 6

  Vgl. zum Stand der Diskussion bzw. der Forschung die in Anmerkung 1 genannte Literatur. 7   Vgl. etwa Horst Bayrhuber/Ute Harms/Bernhard Muszynski/Bernd Ralle/Martin Rothgangel/Lutz-Helmut Schön/Helmut Johannes Vollmer/Hans-Georg Weigand (Hrsg.): Empirische Fundierung in den Fachdidaktiken, Münster/New York 2011.

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 397

unterschiedliche Formen von Unterricht, Methoden und Medien, didaktische Artikulation usw. gehen in beiden Fällen erstaunlich parallel. Ein prägnantes Beispiel für das Ineinandergreifen von Operationalisierung und Gestaltung bieten die empirischen Arbeiten aus der Forschungsgruppe zum Religionsunterricht um Rudolf Englert.8 Sie machen exemplarisch deutlich, wie eine empirische Untersuchung zur Nutzung des Korrelationsprinzips im Unterricht zu neuen operationalen Kategorien führt, die zugleich auch Grundlage für die Unterrichtsgestaltung sein können. Interessant ist dabei die Feststellung, dass die korrelative Grundorientierung des Unterrichtens weiter konkretisiert werden muss – sei es für eine wissenschaftlich-empirische Erfassung oder für die Durchführung eine Religionsstunde. Zentral ist dafür die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Ausprägungen von »Religion repräsentieren«, »Religion modellieren« und »Relevanz konstruieren«9. Didaktisch gesehen handelt es sich bei den unterschiedlichen Ausprägungen und Kombinationen um religionsdidaktische Entscheidungs- bzw. Planungs- und Gestaltungsaufgaben, während für die Forschung die an eben diesen Merkmalen festzumachende differentielle empirische Erfassung korrelativen Unterrichts im Vordergrund steht. Im Folgenden sollen Beispiele aus der Arbeit zum interreligiösen Perspektivenwechsel aufgenommen werden, die ein ähnliches Ineinandergreifen von Empirie und Gestaltung einschließen.

2.2 Den Perspektivenwechsel identifizieren    und operationalisieren An erster Stelle muss die Identifikation des Perspektivenwechsels als einer unterrichtlichen Realität stehen. Gleichgültig, ob man unterrichten oder das Phänomen empirisch erfassen will – es muss klar sein, wann von einem Perspektivenwechsel die Rede sein kann und wann nicht. Ein auf den Perspektivenwechsel bezogener Unterricht, der diesen nicht eindeutig identifizieren kann, bliebe ebenso sinnlos wie eine empirische Untersuchung ohne Operationalisierung dieses Begriffs. Den Ausgangspunkt könnte im Blick auf den angestrebten Perspektivenwechsel etwa folgende Arbeitsdefinition bieten: »›Perspektivenwechsel‹ meint die Übernahme einer anderen Perspektive. Dies setzt die Unterscheidung zwischen der eigenen und der anderen Perspektive voraus sowie die

8

  Vgl. Rudolf Englert/Elisabeth Hennecke/Markus Kämmerling: Innenansichten des Religionsunterrichts: Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014. 9   A.a.O., 67.

398 Friedrich Schweitzer

Fähigkeit, diese andere Perspektive einzunehmen.«10 An diese Definition kann eine Reihe weiterer Bestimmungen und Differenzierungen angeschlossen werden:11 • In interreligiösen Zusammenhängen steht die Perspektive eines religiös Anderen im Vordergrund. Entsprechend muss die Definition ergänzt werden. • Für die Religionspädagogik sowie für interreligiöses Lernen zentral ist die Annahme, dass die Vertrautheit mit den religiösen Überzeugungen im Sinne einer anderen Religion eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Perspektivenübernahme ist. Insofern macht es Sinn, von einer speziellen religionsbezogenen Perspektivenübernahme zu sprechen. • Auch in der Psychologie werden verschiedene Formen der Perspektivenübernahme differenziert: räumliche, soziale und affektive Perspektivenübernahme. Entwicklungspsychologisch betrachtet kommen dazu weitere Unterscheidungen: interpersonale sowie gesellschaftliche Perspektivenübernahme.12 Insofern sollte auch beim interreligiösen Lernen genauer angegeben werden, welche Aspekte jeweils genau gemeint sind. • Eine wichtige Frage betrifft auch die Unterscheidung zwischen der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und einer entsprechenden Bereitschaft.13 Beides fällt nicht notwendig zusammen.

Solche Präzisierungen stellen nicht nur eine Voraussetzung für die empirische Erforschung von Perspektivenwechsel oder Perspektivenübernahme dar, sondern sind auch für eine im Blick auf den Perspektivenwechsel erfolgreiche Unterrichtsgestaltung erforderlich. Geht man davon aus, dass der Perspektivenwechsel dadurch erlernt werden kann, dass die Übernahme von Perspektiven anderer eingeübt wird, sind entsprechend differenzierte Lernarrangements erforderlich.

10

  Diese Definition steht in der Tradition Jean Piagets, die später vor allem von John Flavell und Robert L. Selman weiter ausgearbeitet wurde, vgl. (auch zum Folgenden) als aktuelle Darstellungen besonders Hunter Gehlbach: A New Perspective on Perspective-Taking: A Mulitdimensional Approach to Conceptualizing an Aptitude, in: Educational Psychology Review 16 (2004), 207–234; Gisela Steins: Perspektivenübernahme und Empathie, in: Enzyklopädie der Psychologie C/IV/2 (2016), 795–815; Gisela Steins/Robert A. Wicklund: Das Konzept der Perspektivenübernahme: Ein kritischer Überblick, in: Psychologische Rundschau 44 (1993), 226–239. Im Kontext interreligiösen Lernens vgl. Martin Losert/Heinrich Merkt/Friedrich Schweitzer: In Search of Interreligious Competence: An Empirical Study in the Context of Training Caregivers Through Religious Education, in: Journal of Empirical Theology 28 (2015), 90–112. 11   Vgl. dazu Schweitzer/Bräuer/Boschki: Interreligiöses Lernen. 12   Vgl. die in Anmerkung 10 genannte Literatur. 13   Vgl. besonders Gehlbach: A New Perspective.

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 399

In den Tübinger Untersuchungen zum Erwerb bzw. zur Unterstützung interreligiöser Kompetenz14 wurden einerseits im Unterricht entsprechende Übungen durchgeführt, etwa in Gestalt von Rollenspielen, Aufgaben mit Motivzuschreibungen usw., andererseits auch Aufgabenstellungen im Sinne von Testaufgaben präsentiert. Dabei kommen Fallgeschichten wie die folgende zum Einsatz: »Sie sind Anlageberater einer großen Bank, deren Kundenstamm zunehmend aus Familien mit Migrationshintergrund besteht. Diese kommen aus Südeuropa, der Türkei oder dem Nahen Osten. Heute beraten Sie ein Ehepaar aus dem Nahen Osten, das erst seit kurzem in Deutschland lebt und noch nicht Kunde Ihrer Bank ist. Vom äußeren Erscheinungsbild her lässt sich nicht erkennen, welcher Religion das Ehepaar angehört. Sie wissen, dass die lukrativsten Anlagefonds Ihrer Bank eng vernetzt mit Rüstungsbetrieben sind. Ihre Bank verdient gut daran und Sie erhalten beim Verkauf dieser Fonds eine Provision.«15

An diese Fallgeschichten schließen Fragen an, die von den Schülern beantwortet werden müssen (s.u. Kapitel 2.3). Für eine valide Auswertung solcher Angaben müssen dann Entscheidungen darüber getroffen werden, wann eine erfolgreiche Perspektivenübernahme vorliegt und wann nicht. Die entsprechenden Entscheidungen fallen mitunter erstaunlich schwer. Dies führt weiter zu einer zweiten Überlegung, die ebenfalls für Forschung und Praxis gleichermaßen bedeutsam ist.

2.3 Niveaudifferenzierung und Leistungsbewertung Wiederum für Forschung und Unterrichtsgestaltung gleichermaßen kommt es nicht nur darauf an, ob überhaupt ein Perspektivenwechsel vollzogen wird oder nicht. Vielmehr stellt sich die Frage, in welchem Maße die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ausgeprägt ist und wie die entsprechende Fähigkeit gefördert und weiterentwickelt werden kann. Deshalb sind zusätzliche Unterscheidungen erforderlich, die psychologisch zur Differenzierung von Niveaus und schulpraktisch zu entsprechenden Möglichkeiten der Leistungsbewertung führen. Zumindest gilt dies dann, wenn interreligiöse Bildung – wie es sein sollte – zu den regulären Aufgaben des Religionsunterrichts zählt und deshalb auch bei der Leistungsbewertung nicht übergangen werden kann. 14

  Vgl. Schweitzer/Bräuer/Boschki: Interreligiöses Lernen; Heinrich Merkt/Friedrich Schweitzer/Albert Biesinger (Hrsg.): Interreligiöse Kompetenz in der Pflege. Pädagogische Ansätze, theoretische Perspektiven und empirische Befunde, Münster/ New York 2014. 15   Schweitzer/Bräuer/Boschki: Interreligiöses Lernen, 240.

400 Friedrich Schweitzer

Dass die dafür erforderlichen Bewertungen in der Schulpraxis Tag für Tag vorgenommen werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie schwierig verlässliche Einschätzungen tatsächlich sind. Auch dies lässt sich an dem aufgeführten Beispiel verdeutlichen. Die im Anschluss an die Fallgeschichte (s.o. Kapitel 2.2) vorgelegte Frage und die Antworten lauten:16 Welche Reaktion ist in dieser Situation für Sie als KundenberaterIn geeignet? Bitte machen Sie in jeder Zeile ein Kreuz. geeignet

nicht geeignet

22.1 In diesem Beratungsgespräch halte ich es für zulässig, nach der Religionszugehörigkeit zu fragen. 22.2 Ich verschweige, dass unser lukrativster Aktienfond an Rüstungsgeschäften beteiligt ist. 22.3 Ich biete einen Fond an, der nur in geringem Ausmaß mit Rüstungsgütern zu tun hat.

Ganz offenbar fällt es nicht leicht, hier »richtige« und »falsche« Antworten trennscharf voneinander zu unterscheiden. Insofern wäre eine darauf aufbauende Bewertung von Schulleistungen anfechtbar, und ähnlich kann die Validität einer Testaufgabe auch in der Forschung hinterfragt werden. In der Forschung geschieht dies tatsächlich regelmäßig in Gestalt eigener Validierungsstudien, die sich nicht auf inhaltliche Ergebnisse, sondern auf die Qualität des Untersuchungsinstruments beziehen.17 Für die Gestaltung von Unterrichtspraxis unter dem Aspekt der Leistungsbewertung ist daraus die Frage abzuleiten, wie sich die Validität solcher Bewertungen verbessern lässt. Die Validitätsfrage führt in dieser Hinsicht zunächst zur Irritation, kann längerfristig jedoch auch zu einer Verbesserung der Unterrichtspraxis beitragen. Insofern greifen Fragen von Operationalisierung und Gestaltung erneut ineinander.

16

  Vgl. die folgende Tabelle (mit anderen Formatierungen) ebd.   Vgl. dazu im vorliegenden Kontext Losert/Merkt/Schweitzer: In Search.

17

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 401

2.4 Modelle interreligiöser Kompetenz    und die Wirksamkeit interreligiösen    Lernens im Religionsunterricht Mit den Kompetenzen und Kompetenzmodellen sowie der Frage nach der Wirksamkeit interreligiösen Lernens erreichen wir, über die bislang angesprochenen Einzelaspekte hinaus, einen weiterreichenden Zusammenhang, der für das Verhältnis zwischen religiöser Bildung und Empirie letztlich entscheidend ist. Kompetenzmodelle erfüllen einen doppelten Sinn: Zum einen sollen sie Bildungsziele so konkretisieren, dass ihr Erreichen letztlich empirisch kontrolliert werden kann. Zum anderen sollen sie der Unterrichtspraxis vor allem eine längerfristige Orientierung bieten, die über einzelne Lernziele hinausreicht. Von einer längerfristigen Orientierung ist insofern zu sprechen, als Kompetenzen nicht in einzelnen Unterrichtsstunden oder -einheiten erreicht werden können, sondern sich in monate- oder jahrelangen Bildungsprozessen entwickeln. Mit der empirischen Bildungsforschung verbindet sich für den Unterricht der Anspruch, dass nicht nur nach Begründungen beispielsweise für interreligiöses Lernen gefragt wird und auch nicht nur nach dessen theoretischer Bestimmung – auf diese beiden Aspekte bezieht sich bislang ein Großteil der religionspädagogischen Literatur zu diesem Thema. Vielmehr soll geprüft werden, ob interreligiöses Lernen tatsächlich die Wirksamkeit entfaltet, die theoretisch erwartet wird. Eben dies soll mithilfe empirischer Verfahren überprüft werden. Kompetenzmodelle stellen dafür eine unabdingbare Voraussetzung dar (was nicht bedeutet, dass auch in einem bestimmten Sinne kompetenzorientiert unterrichtet werden muss). Es muss angegeben werden, welche Fähigkeiten sich beim interreligiösen Lernen ausprägen sollen. In der Tübinger Forschung zu interreligiöser Kompetenz wurde aus den zahlreichen in der Literatur beschriebenen Fähigkeiten ein Modell gewonnen, das gleichsam den Kern dieser Fähigkeiten zusammenfasst.18 Zumindest werden die entsprechenden Fähigkeiten in so gut wie allen Entwürfen genannt. Dabei handelt es sich um: • religionsbezogenes Wissen • religionsbezogene Perspektivenübernahme • religionsbezogene Einstellungen.

Dieses Modell wurde inzwischen im Religionsunterricht in verschiedenen Kontexten eingesetzt, vor allem im berufsschulischen Bereich (u.a. inter18

  Vgl. Schweitzer/Bräuer/Boschki: Interreligiöses Lernen.

402 Friedrich Schweitzer

religiöse Kompetenz für die Pflege, für angehende Bankangestellte und Industriekaufleute),19 in derzeit noch laufenden Untersuchungen auch im allgemeinbildenden Bereich. Darüber hinaus wurden zum Teil aufwändige statistische Prüfverfahren eingesetzt. Nicht zuletzt wurden sog. Interventionsstudien durchgeführt, um die Wirksamkeit bestimmter Unterrichtseinheiten zu erproben. Interventionsstudien arbeiten mit dem Vergleich zwischen Messungen vor und nach einer Unterrichtseinheit sowie zwischen Experimental- und Kontrollgruppen, wobei diese nicht am entsprechenden Unterricht teilnehmen. Folgendes Schema zeigt die Grundstruktur einer solchen Studie (zusätzlich mit einem Messzeitpunkt in längerer zeitlicher Entfernung, der auf Nachhaltigkeit zielt): Anlage einer Interventionsstudie mit zwei Treatments und drei Messzeitpunkten Experimentalgruppe 1 Experimentalgruppe 2 Kontrollgruppe

t1 x x x

Treatments Treatment 1 Treatment 2 ---

t2 x x x

t3 x x x

Die bislang vorliegenden Ergebnisse fallen differenziert aus. Ähnlich wie bei den bislang sehr wenigen anderen empirischen Untersuchungen zum interreligiösen Lernen20 scheint die Wirksamkeit entsprechenden Unterrichts keineswegs garantiert zu sein. Beispielsweise erwiesen sich Unterrichtseinheiten, obwohl sie von Experten aus religionspädagogischer Praxis und Theorie approbiert waren, als in ihrer Wirksamkeit höchst unterschiedlich. Ebenso gelang eine Förderung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme nur in manchen Fällen. Erhoffte Veränderungen bei den Einstellungen beispielsweise xenophober Art schließlich blieben aus. Zugleich lassen sich den Untersuchungen weitere Hinweise für eine erfolgreiche Unterrichtsgestaltung entnehmen, etwa im Blick auf einen differenzierten Umgang mit dem Prinzip der Subjekt- oder Schülerorientierung.

2.5 Zur Empirie des Perspektivenwechsels als   allgemeines Merkmal religiöser Bildung In der vorliegenden Darstellung ist bereits deutlich geworden, dass auch der Perspektivenwechsel eine allgemeine Bestimmung im Sinne religiöser Bil19

  Vgl. die in Anmerkung 4 und 14 genannte Literatur.   Vgl. Carl Sterkens: Interreligious Learning. The Problem of Interreligious Dialogue in Primary Education, Leiden 2001; Hans-Georg Ziebertz (Hrsg.): Gender in Islam und Christentum. Theoretische und Empirische Studien, Münster 2010. 20

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 403

dung bezeichnet, die sowohl für Zwecke der Unterrichtsgestaltung als auch der empirischen Forschung weiter präzisiert und operationalisiert werden muss. Die dabei aufbrechenden Fragen beschreiben insofern fruchtbare Spannungsverhältnisse, als die allgemein-bildungstheoretische Beschreibung von Unterrichtsprinzipien dabei irritiert wird. Weder Praxis noch Forschung folgen einfach aus der Bildungstheorie. Das gilt auch in diesem Falle. Weiterhin ist keineswegs automatisch gewährleistet, dass ein Unterricht, der den Wechsel von Perspektiven einüben soll, tatsächlich zu den gewünschten Wirkungen führt. Was für das interreligiöse Lernen als belegt gelten kann – dass die Wirksamkeit entsprechenden Unterrichts nicht automatisch gegeben ist –, dürfte sich auch auf den Perspektivenwechsel als allgemeines Merkmal religiöser Bildung beziehen lassen: Die erhoffte Wirksamkeit von Unterricht ist nicht einfach vorauszusetzen. Explorative Studien, wie sie zu diesem Ansatz vorliegen, können für eine entsprechende Wirksamkeitsprüfung eine wichtige Voraussetzung darstellen.21 Allein führen sie jedoch nicht zu einer tragfähigen Antwort. Dazu sind repräsentative empirische Befunde erforderlich. Vor allem aber müsste der entsprechende Kompetenzgewinn bei den Schülern nachgewiesen werden, was ohne Messungen vor und nach dem Unterricht nicht möglich ist. Ein auch religionspädagogisch einschlägiges Beispiel dafür, wie anspruchsvolle Kompetenzmessungen vorbereitet werden können, bieten die religions- und moralpädagogischen Untersuchungen des Teams um den Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner.22 Diese Untersuchungen streben eine konsequente Verbindung empirischer, bildungstheoretischer und fachdidaktischer Perspektiven an. Allerdings bleibt die fachdidaktische Perspektive im Blick auf den untersuchten Unterricht auch in diesem Falle weiter differenzierungsbedürftig, da bislang nur nach der Teilnahme am Unterricht, nicht aber differentiell nach Wirkungen bestimmter Gestaltungsformen gefragt wurde. Auch in diesem Falle böten sich Interventionsstudien an.

21

  Vgl. Bernhard Dressler/Thomas Klie/Martina Kumlehn: Unterrichtsdramaturgien: Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart 2012. 22   Vgl. Dietrich Benner/Rolf Schieder/Henning Schluß/Joachim Willems (Hrsg.): Religiöse Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung. Versuch einer empirisch, bildungstheoretisch und religionspädagogisch ausgewiesenen Konstruktion religiöser Dimensionen und Anspruchsniveaus, Paderborn 2011; Dietrich Benner/Roumiana Nikolova (Hrsg.): Ethisch-moralische Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung. Der Berliner Ansatz zur Konstruktion und Erhebung ethisch-moralischer Kompetenzniveaus im öffentlichen Erziehungs- und Bildungssystem mit einem Ausblick auf Projekte zu ETiK-International, Paderborn 2016.

404 Friedrich Schweitzer

3.  Bildung und Empirie: Fruchtbare     Spannungen? In einem letzten Schritt soll nun verdeutlicht werden, in welchem Sinne das Verhältnis zwischen Bildung und Empirie, wie der Titel des Beitrags formuliert, tatsächlich zu fruchtbaren Spannungen führen kann. Bislang wurde in diesem Beitrag vor allem herausgearbeitet, vor welche Herausforderungen bildungstheoretische Ziele, die mit dem Perspektivenwechsel verbunden sind, durch empirische Überprüfung der Zielerreichung gestellt werden. Die dabei erkennbar gewordenen Spannungen sollen an dieser Stelle nicht erneut beschrieben werden. Stattdessen soll nun die bildungstheoretische Perspektive gegenüber der Empirie stark gemacht werden.

3.1   Ziele interreligiösen Lernens aus    bildungstheoretischer Perspektive Die bildungstheoretische Zieldiskussion zum interreligiösen Lernen weist eine eigene Komplexität auf, die hier nur exemplarisch aufgenommen werden kann. Als Beispiel wähle ich Arbeiten Karl Ernst Nipkows, der sich über mehrere Jahre hinweg speziell mit der Zielfrage auseinandergesetzt hat.23 Übergreifend liegt ihm an einer dreifachen Kontextualisierung, wie ich seine entsprechenden Überlegungen aus meiner Sicht zusammenfassen möchte: • Interreligiöses Lernen steht immer in einem weiterreichenden historischen Kontext, der heute durch Internationalisierung und Globalisierung bestimmt ist. • Interreligiöses Lernen kann nur dann gelingen, wenn die unterschiedlichen Begegnungsgeschichten der religiösen Traditionen differenziert Beachtung finden – anders etwa im Verhältnis zwischen Christentum und Judentum als zwischen Christentum und Islam. • Interreligiöses Lernen steht jeweils in einem lebensgeschichtlichen Kontext, sowohl im Sinne entwicklungspsychologisch bestimmter Voraussetzungen als auch biografisch begründeter Identitätsprojektionen.

Vor diesem Hintergrund benennt Nipkow »Interreligiöse Leitziele in Anlehnung an normative Dialogregeln«24:

23

  Den Ausgangspunkt stellt der noch immer sehr lesenswerte Beitrag dar: Karl Ernst Nipkow: Ziele Interreligiösen Lernens als mehrdimensionales Problem, in: Johannes A. van Ven/Hans-Georg Ziebertz (Hrsg.): Religiöser Pluralismus und interreligiöses Lernen, Kampen/Weinheim 1994, 197–232. 24  Karl Ernst Nipkow: Ziele Interreligiösen Lernens als mehrdimensionales Problem, in: Peter Schreiner/Ursula Sieg/Volker Elsenbast (Hrsg.): Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 362–380, 372–374.

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 405

• »Förderung religiösen Erlebens und Verstehens im Eigenbereich als Voraussetzung der Kommunikation mit fremden Bereichen«

• »Das Leitziel der Anerkennung des anderen durch Erziehung zur Aufmerksamkeit und Achtung«

• »Die Leitregel der Wechselseitigkeit in der Anerkennung auch bei fortbestehendem Dissens«

• »Das Prinzip der Wahrhaftigkeit und das Bildungsziel einer starken, aktiven Toleranz«

• »Das Prinzip entwicklungsgemäßer Abstimmung von Vertrautmachen und Distanzname, Selbst- und Fremdreferenz«

Auch wenn dies hier nicht mehr im Einzelnen erörtert werden kann, machen die damit bezeichneten Umrisse eines bildungstheoretisch bestimmten Verständnisses der Ziele interreligiösen Lernens sofort deutlich, wie weit die bislang vorliegenden Versuche, interreligiöses Lernen empirisch zu erfassen, noch hinter den damit beschriebenen Zielen zurückbleiben. Diese Feststellung sollte jedoch nicht als Verdikt über die Empirie verstanden werden, sondern eben im Sinne einer fruchtbaren Spannung, die die empirische Forschung immer wieder dazu herausfordert, sowohl die eigenen Grenzen wahrzunehmen als auch weiter zu stecken. Unter dieser Voraussetzung kann von einem produktiven Wechselverhältnis zwischen Bildungstheorie und Empirie gesprochen werden.

3.2 Interreligiöses Lernen und die Bildung des Selbst In meinen eigenen Arbeiten habe ich zu zeigen versucht, dass ein Bildungsverständnis stets den Bezug auf die Bildung des eigenen Selbst als kennzeichnendes Merkmal einschließt.25 Bildung bedeutet immer mehr als das Vertrautwerden mit bestimmten Wissensbeständen oder Erkenntnissen. In der Bildungsperspektive kommt es in konstitutiver Weise darauf an, was diese für das eigene Selbst und dessen Entwicklung bedeuten. Das gilt auch für interreligiöses Lernen oder, wie es dann heißen muss, interreligiöse Bildung. Die religionspädagogische Aufgabe besteht so gesehen darin, interreligiöses Lernen in die Bildungsgeschichte des Subjekts einzuzeichnen bzw. es aus dieser heraus zu verstehen. Es geht um Selbstwerdung und religiöse Identitätsbildung unter multireligiösen Voraussetzungen. Um eine meiner früheren Beschreibungen zu wiederholen: »In der Perspektive einer dynamischen Entwicklung zwischen Selbst und Anderem lässt sich der Bildungsprozess zusammenfassend so verstehen, dass Entge-

25

  Vgl. Friedrich Schweitzer: Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014.

406 Friedrich Schweitzer

gensetzungen zwischen Selbst und Anderem, zwischen dem Eigenen und dem Fremden ein gleichsam riskantes, aber notwendiges, weil nicht zu vermeidendes Moment im Bildungsprozess darstellen, das freilich keineswegs als Endprodukt oder abschließendes Ziel aufgefasst werden darf. In der Bewusstwerdung einer eigenen religiösen Identität kann immer auch ein Moment der Abgrenzung enthalten sein, das zu Gegensätzen führt oder diese unterstützt. Bildung zielt aber nicht auf die Befestigung sozialer oder religiöser Gegensätze. Vielmehr liegt die pädagogische Aufgabe darin, solche Entgegensetzungen pädagogisch reflexiv und kritisch zu begleiten – in der Absicht, sie immer wieder auch dort, wo sie nicht aufzuheben sind, gestaltbar werden zu lassen, sie zumindest in bestimmter Hinsicht zu relativieren sowie vor allem und auf jeden Fall ihre möglicherweise negativen Folgen aufzufangen.«26

Erneut ist auch in dieser Hinsicht festzuhalten, wie weit die empirischen Untersuchungen zum interreligiösen Lernen noch hinter solchen bildungstheoretischen Horizonten der Subjektwerdung zurückbleiben. Und auch in diesem Falle lässt sich dies nicht als Verdikt, sondern als Markierung einer produktiven Spannung verstehen sowie als Anstoß dazu, die empirische Forschung weiter voranzutreiben.

3.3 Perspektivenwechsel   – als Anforderung auch an Erwachsene Am Ende komme ich noch einmal auf den bildungstheoretisch-religionspädagogisch geforderten Perspektivenwechsel hin zum Kind zurück. Aus meiner Sicht hält diese Forderung bewusst, dass alle Didaktik des Perspektivenwechsels unzureichend bleibt, wenn sie am Ende die dem Kind oder dem Jugendlichen eigene Perspektive übergeht. Perspektivenübernahme bezeichnet nicht nur eine Fähigkeit, die Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht erlernen sollen. Dem vorausgehen muss die Einsicht, dass es die erwachsenen Pädagogen sind, die zuallererst lernen müssen, die Perspektive des Kindes zu übernehmen. So überzeugend sich heute beispielsweise die Aufgabe interreligiösen Lernens gesellschaftlich begründen lässt, so wenig reicht dies religionspädagogisch gesehen aus, wenn dabei nicht immer zuerst von den Kindern und Jugendlichen her gefragt und gedacht wird. Die an die Erwachsenen gerichtete Forderung eines solchen Perspektivenwechsels erwächst letztlich aus der Einsicht, dass Bildung, streng genommen, immer nur als Selbstbildung möglich ist. Bildung kann daher kein transitiver Vorgang sein (was die heute mitunter etwa in Schulprogrammen anzutreffende Formulierung »Wir bilden Menschen« zu Unrecht verdunkelt). Eine Empirie, die dem gerecht werden soll, muss so angelegt sein, dass sie 26

  Schweitzer: Interreligiöse Bildung, 118.

Religiöse Bildung und Empirie – fruchtbare Spannungen? 407

auch solche pädagogisch gerade nicht machbaren Vorgänge einzufangen vermag. Als persönliche Erfahrung meint der Perspektivenwechsel mehr als alle Operationalisierungen.

Teil 4: Handlungsorientierende Perspektiven

Religionsunterricht in Mitteldeutschland und das Schlagwort der Konfessionslosigkeit Was damit an Impulsen in den religionsdidaktischen Diskurs eingetragen wird Michael Domsgen

Der Religionsunterricht in Mitteldeutschland gehört im religionspädagogischen Diskurs nicht gerade zu den zentralen Themen. Kurz nach der Wiedervereinigung Deutschlands war das noch anders. Als die Frage im Raum stand, ob Artikel 7.3 GG auch in den neuen Bundesländern Anwendung finden sollte, ergab sich eine kontrovers geführte Diskussion, die jedoch bald wieder abebbte und letztlich bedeutungslos blieb. Der schulische Religionsunterricht wurde – mehr oder weniger – mühsam installiert und konnte sich in einem klar umgrenzten Rahmen auch etablieren. In religionspädagogischer Perspektive ergaben sich jedoch bald Fragestellungen und Problemlagen, die sich sperrig in den Weg stellten. Einerseits waren da gesellschaftliche Prägungen, die beachtet werden mussten. Mit den Stichworten der Entkirchlichung und postsozialistischen Gesellschaft wurde das zu beschreiben versucht. Andererseits zeigten sich eigene lebensgeschichtliche Zugänge zum Thema »Religion« bei Schüler- und Lehrerschaft gleichermaßen. Begriffe wie der des naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes markierten die damit gesetzten Herausforderungen.1 Im religionspädagogischen Gesamtdiskurs spielten alle diese Überlegungen über eine lange Zeit nur eine marginale Rolle. Sie galten als Ausdruck 1

  Besonders hilfreich waren dafür die von Helmut Hanisch initiierten empirischen Untersuchungen in Sachsen, vgl. Helmut Hanisch/Detlef Pollack: Religion – ein neues Schulfach, Leipzig 1997; Helmut Hanisch/Christoph Gramzow (Hrsg.): Religionsunterricht im Freistaat Sachsen. Lernen, Lehren und Forschen sei 20 Jahren, Leipzig 2012. Michael Wermke setzte dies dann für Thüringen fort, vgl. Michael Wermke: Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zur Teilnahme thüringischer Schülerinnen und Schüler, Jena 2006; Frank M. Lütze und ich komplettierten es schließlich für Sachsen-Anhalt, vgl. Michael Domsgen/Frank M. Lütze: Schülerperspektiven zum Religionsunterricht. Eine empirische Untersuchung in Sachsen-Anhalt, Leipzig 2010.

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einer auf Ostdeutschland beschränkten Sonderentwicklung, die dort ihr Recht haben mochten, gesamtdeutsch aber weitgehend bedeutungslos sind. In jüngster Zeit scheint sich dies zu ändern. Das hängt vor allem mit der Wahrnehmung eines Phänomens zusammen, das mit den Begriffen »Konfessionslosigkeit« und »Indifferenz« beschrieben werden kann und in der kontinuierlichen Abnahme der Kirchenmitgliedschaft einen markanten Ausdruck findet. Verbunden ist dieses »Konfessionslosigkeitserwachen« oftmals mit einer so in jüngerer Zeit nicht gekannten Unsicherheit. Konfessionslosigkeit wird zur Chiffre anstehender Veränderungen mit ungewissem Ausgang. Hier entwickelt sich eine Dynamik, die Überliefertes in ein neues Licht stellt, wobei man ahnt, dass es nicht so weitergehen kann, wie es bisher war und gegenwärtig ist. Vor diesem Hintergrund soll mit Blick auf den Religionsunterricht in Mitteldeutschland danach gefragt werden, welche Impulse sich daraus für den religionspädagogischen Diskurs ergeben.

1. Religionsunterricht und Konfessions  losigkeit – eine Problemskizze Religionsunterricht und Konfessionslosigkeit zusammenzudenken, markiert Herausforderungen, die nicht überall gleichermaßen stark vor Augen stehen. Das liegt auch daran, dass sie empirisch nur unzureichend belegt werden kann. Für Mitteldeutschland gibt es belastbare Daten. So liegt der Anteil konfessionsloser Schüler mit durchschnittlich 49 % in Sachsen-Anhalt am höchsten.2 In Sachsen sind es 47 %3 und in Thüringen 27 %4, wobei »konfessionslos« zum größten Teil für eine nicht explizit religiöse Sozialisation steht. Für die westdeutschen Bundesländer kann vorrangig nur auf Statistiken zurückgegriffen werden. Sie zeigen, dass auch dort der Anteil der konfessionslosen Schüler hoch ist, wobei die Zahlen in der vorliegenden Form nicht erkennen lassen, wie die nicht evangelische Schülerschaft geprägt ist.5 An dieser Stelle lässt sich ein grundsätzliches Problem markieren. Der Begriff »Konfessionslosigkeit« sagt zunächst einmal nichts anderes aus, als dass Menschen nicht Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen sind. Nur hinsichtlich dieser Unterscheidung ist er trennscharf. Denn Kon2

  Vgl. Domsgen/Lütze: Schülerperspektiven, 71.   Vgl. Helmut Hanisch/Detlef Pollack: Anthropogene Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht Ostdeutschlands. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Helmut Hanisch/Christoph Gramzow (Hrsg.): Religionsunterricht im Freistaat Sachsen. Lernen, Lehren und Forschen sei 20 Jahren, Leipzig 2012, 19–36, 21. 4   Vgl. Wermke: Evangelischer Religionsunterricht, 21. 5   Zur Auflistung der statistischen Befunde vgl. David Käbisch: Religionsunterricht und Konfessionslosigkeit. Eine fachdidaktische Grundlegung, Tübingen 2014, 75–77. 3

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fessionslosigkeit ist ein Begriff, der sich ausschließlich auf das Feld der christlichen Religion bezieht. Allerdings erweist er sich auch hier als unscharf. Ein Mitglied einer freien Gemeinde ist konfessionslos, obwohl er oder sie subjektiv gesehen in hohem Maße religiös ist. Es ist wohl nicht zuletzt diesem Umstand geschuldet, dass Konfessionslosigkeit lange Zeit als eine Art verdecktes Christentum verstanden wurde. Konfessionslos hieß holzschnittartig betrachtet: Nicht mehr Kirchenmitglied, aber doch schon noch irgendwie christlich. Und wenn das nicht der Fall sein sollte, dann eben atheistisch oder antichristlich, also sich in Auseinandersetzung mit dem Christlichen definierend. Der Blick auf Ostdeutschland zeigt nun, dass ein solches Verständnis – zumindest als generelle Perspektive – problematisch ist. Denn hier sind inzwischen Generationen herangewachsen, die sich nicht in Auseinandersetzung mit dem Christlichen als dem Selbstverständlichen verstehen. Für sie ist es schlichtweg normal, konfessionslos zu sein. Zugleich aber heißt das nicht automatisch, dass sie über keinerlei religiöse Sichtweisen oder Praktiken verfügen. Selbstverständlich gibt es Konfessionslose, die sich als religiös verstehen. Doch bilden sie eher die Ausnahme. Mit dem Begriff »Konfessionslosigkeit« wird also ein Spektrum eröffnet. Er bezeichnet ein vielschichtiges, hoch komplexes Phänomen, das zwar im Gegenüber zur Kirchlichkeit entstanden ist, aber nicht einfach darauf beschränkt werden kann. Konfessionslosigkeit ist mehr als Entkirchlichung. Gleichzeitig jedoch sollte man nicht der Versuchung unterliegen, mittels eines weiten Religionsbegriffs alles religiös aufzuladen. Letztlich ist Konfessionslosigkeit ein Leitbegriff in Ermangelung eines besseren, weil er inhaltlich so unpräzise bleibt. Das Spektrum weltanschaulicher und religiöser Positionen unter Konfessionslosen kann nicht einfach auf einen Nenner gebracht werden. Vor allem der Blick auf Ostdeutschland zeigt, dass zu einem großen Teil von einer Areligiosität auszugehen ist, wobei man sich gar nicht als atheistisch, sondern vielmehr als untheistisch versteht,6 weil sich die Frage nach Gott schlichtweg nicht stellt. Allerdings gibt es auch hier keine Homogenität. In der Summe spiegelt sich in der Zunahme an Konfessionslosen einerseits eine weitgehende Abnahme der kulturellen Prägekraft der christlichen Religion und andererseits – daraus resultierend – eine veränderte Sozialisation. Das führt nicht immer zu einer ganz anderen Einstellung in Sachen »Religion«. Hier gibt es gerade im Jugendalter viele Überschneidungen zwischen 6

  So die Selbsteinschätzung des Leipziger Schriftstellers Erich Loest, vgl. Friedemann Stengel: Zwischen Abbruch, Umbruch und Aufbruch. Eindrücke zur kirchlichen Lage in der ostdeutschen Provinz, in: Deutsches Pfarrerblatt 9 (2004), 451–456, 453.

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christlich und konfessionslos sozialisierten Heranwachsenden. Allerdings steht die konfessionslose Sozialisation für eine spezifische Annäherungsweise oder anders ausgedrückt für einen bestimmten Zugangspfad, der nicht von christlichen Impulsen bzw. der Auseinandersetzung damit geprägt wurde, sondern eigene Schwerpunkte aufweist. U.a. Monika Wohlrab-Sahr spricht hier beispielsweise von der »agnostischen Spiritualität«7 als einer Haltung, die einen Transzendenzbezug mehr oder weniger abstrakt aufrechterhält, ohne ihn verbindlich inhaltlich-religiös zu füllen, wobei eine solche Profilierung längst nicht bei allen Probanden zu beobachten ist. Insofern ist angezeigt, einerseits den »säkularen Habitus«8 Konfessionsloser ernst zu nehmen und andererseits nicht vorschnell Vereindeutigungen einzuziehen. Letztlich handelt es sich hier um eine spezifische Art und Weise der Lebensgestaltung und -deutung, die von einer bewussten oder auch unbewussten Distanz der expliziten Religiosität gegenüber bestimmt ist. Zugleich ist jedoch grundlegend zu berücksichtigen, dass diese Distanz ganz unterschiedlich geprägt und gestaltet wird. Insofern bietet es sich an, von »multiplen Säkularitäten« zu sprechen. Damit wird der Blick gut auf die Pluralität im Feld von Konfessionslosigkeit gelenkt. Zugleich wird die klar erkennbare Distanz organisierter Religion sowie dem explizit Religiösen gegenüber von vornherein aufgenommen, ohne damit jedoch auszuschließen, dass sich Facetten davon auch bei Konfessionslosen aufzeigen lassen.

2. Was tragen konfessionslose Schüler    in den Religionsunterricht ein? Dass Schüler ohne Kirchenmitgliedschaft am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen, ist an sich nichts Neues. In aller Regel jedoch handelt es sich hier um Minderheiten, die zwar da, aber nicht prägend sind. Insofern geht man religionsdidaktisch gesehen bis heute stillschweigend von einer Mehrheit aus, die zwar oft keine Ahnung mehr von christlichen Glaubensinhalten hat, für die allerdings eine religiöse Verortung auch nichts Abstruses bedeutet. Anders ausgedrückt: Die christliche Religion mag für sie zwar zu einer »Fremdreligion«9 geworden sein, die religiöse Weltsicht an sich ist davon jedoch nicht gleichermaßen betroffen.

7

  Monika Wohlrab-Sahr/Uta Karstein/Thomas Schmidt-Lux (unter Mitarbeit von Anja Frank/Christine Schaumburg): Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt am Main/New York 2009, u.a. 212. 8   A.a.O., 17. 9   Bernhard Dressler: Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch, in: Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002), 11–19, 13.

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Dies jedoch kann heute nicht mehr selbstverständlich und stillschweigend vorausgesetzt werden. Konfessionslose Schüler stehen paradigmatisch für eine Schülerklientel, die in ihrer Einstellung zum Leben und zur Welt völlig oder weitgehend ohne christlich-religiöse Impulssetzungen geprägt worden sind. Was das religionsdidaktisch heißt, soll im Folgenden anhand von vier Punkten erläutert werden. a) Konfessionslose Schüler verweisen in besonders klarer Weise auf die    Bedeutung der prägenden Sozialbeziehungen und sensibilisieren für die    Wahrnehmung des allgemein Plausiblen in einem bestimmten Kontext. Dass schulische Bildung und familiale Sozialisation zusammenzudenken sind, ist vom Grundsatz her schon lange im Blick, hat aber erst in jüngerer Zeit – nicht zuletzt durch die sog. PISA-Studien – breitere Aufmerksamkeit gefunden. Letztlich sitzen also nicht nur die Kinder und Jugendlichen im Klassenzimmer, sondern mit ihnen auch ihr prägendes Nahumfeld, allen voran ihre Eltern, Großeltern und Geschwister. Das gilt für alle Schüler gleichermaßen, ist also keine Perspektive, die erst mit konfessionslosen Kindern und Jugendlichen vor Augen treten würde. Allerdings bekommt sie in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, weil damit die kontextuellen Prägungen klar hervortreten. Die wiederum verweisen auf Vermittlungsleistungen, die den Schülern abverlangt werden, und lassen sensibel danach fragen, »welchen inhaltlichen Steuerungseinflüssen die Lernenden (und Lehrenden) in der Vielfalt der Lernbotschaften, die letztlich von Menschen veranlasst werden, unterliegen.«10 Hier ist von grundlegender Bedeutung, ob die Religionsunterrichtsinhalte bestätigt, konterkariert oder einfach nur als belanglos wahrgenommen werden. Im Religionsunterricht ist immer auch die gesellschaftliche Wirklichkeit mit im Raum und bestimmt maßgeblich mit über den Erfolg des didaktisch Intendierten. Denn jede Kommunikation bezieht sich auf »ein Wissen von Wirklichkeit, das jeweils kulturell und gesellschaftlich relativ ist«11, also nicht überall gleich ausfällt. Religionsunterricht ist deshalb immer auch kontextuell zu profilieren. Mit Blick auf die hier interessierende Perspektive kommt dazu, dass konfessionslose Religionsschüler dem Christentum im Unterricht (bestenfalls) im Status einer möglichen Option, im familialen Nahumfeld jedoch einer areligiösen bzw. untheistischen Lebensdeutung und -gestaltung im Status gelebter Praxis begegnen. Dabei haben mögliche Lebensdeutungen gegenüber bereits praktizierten allerdings 10

  Ralf Koerrenz: Religionspädagogik und Didaktik des Arrangements, in: Thomas Klie/Dietrich Korsch/Ulrike Wagner-Rau (Hrsg.): Differenzkompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012, 71–81, 76. 11   Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin/Boston 22016, 196.

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einen schweren Stand. Sie können zwar durchaus reizvoll sein, müssen sich aber entgegen der Macht des Faktischen erst einmal bewähren. Dass es dazu kommt, ist alles andere als selbstverständlich. Wie schwierig das ist, können die Ergebnisse einer Schülerbefragung im evangelischen Religionsunterricht Sachsen-Anhalts vor Augen führen. Hinsichtlich der Einschätzung der Inhalte zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen denjenigen, die sich – zum größten Teil aufgrund familialer Sozialisation – als gläubig verstehen und denen, die das – ebenfalls aufgrund familialer Sozialisation – nicht tun.12 Bei der Gruppe der christlich-religiös Sozialisierten lässt sich eine größere Offenheit explizit christlich-religiös bestimmten Themen gegenüber erkennen. Sich über Gott und Jesus Christus zu verständigen, steht für sie an oberster Stelle im Religionsunterricht. Das hat auch damit zu tun, dass ihnen diese Themen zumindest vom Grundansatz her vertraut und sie – wenngleich in individuell abgestufter Weise – lebensweltlich relevant sind. Bei denen, die sich selbst als nicht-gläubig verstehen, fehlt dieser lebensweltliche Bezug. Das führt dazu, dass diejenigen, die sich nicht als gottesgläubig bezeichnen – in Sachsen-Anhalt ist es immerhin ein gutes Viertel der befragten Schüler – wenig Wert auf das religiöse Profil des Religionsunterrichts legen. Sie erwarten von ihm am ehesten die Auseinandersetzung mit lebensweltlichen Problemen, sind aber insgesamt gesehen deutlich zurückhaltender in der Benennung von für sie relevanten Themen. Insofern tragen konfessionslose Schüler damit eine besondere Sensibilität hinsichtlich des allgemein Plausiblen ein. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass eben nicht nur religiöse Pluralität, sondern auch Konfessionslosigkeit zu den Grundsignaturen unserer Zeit gehören und deshalb religionsdidaktisch konstitutiv Berücksichtigung zu finden hat. Es reicht nicht, Konfessionslosigkeit nur innerunterrichtlich zu bedenken, weil damit nicht berücksichtigt wird, dass die kontextuellen Rahmenbedingungen die Plausibilitätsstrukturen maßgeblich prägen, die auch innerunterrichtlich hoch bedeutsam sind. Deshalb ist es sinnvoll, zwischen einem Religionsunterricht mit Konfessionslosen und einem Religionsunterricht in der Konfessionslosigkeit zu unterscheiden.13 Ersteres nimmt die innerunterrichtlichen Konstellationen und letzteres die kontextuellen Prägungen in den Blick. Beides ist schließlich aufeinander zu beziehen.

12

  Vgl. Domsgen/Lütze: Schülerperspektiven, 141f. und 182f.   Vgl. Michael Domsgen: Religionsunterricht in der Konfessionslosigkeit, in: Matthias Hahn (Hrsg.): Bildung als Mission? Kirchliche Bildungsarbeit im Kontext einer konfessionslosen Gesellschaft, Jena 2012, 97–111.

13

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b) Konfessionslose Schüler halten einen Spiegel vor, indem sie das Bewusst   sein für die Spezifik einer christlichen Lebensdeutung und -gestaltung    schärfen und auf die Grenzen denkerischer Durchdringung verweisen. Wer einmal versucht, sich in die Perspektive eines Schülers hineinzuversetzen, der nicht von Kindesbeinen an mit christlichen Deutemustern und Riten in Berührung gekommen ist, wird schnell feststellen, wie voraussetzungsreich strukturierte religiöse Bildungsprozesse in Schule und Gemeinde sind. Geradezu durchgängig werden religiös geprägte Sprachspiele und mehr oder weniger zustimmende Positionierungen dazu vorausgesetzt. Wie stark das ist, lässt sich mit Blick auf eine kleine empirische Studie vor Augen führen, in der in Replikation eines in Bayern erprobten Forschungsdesigns Religionsschüler in Sachsen-Anhalt zu ihrem Verständnis des Satzes »Jesus ist für uns gestorben« befragt wurden.14 Dabei zeigten die Antworten der ostdeutschen Jugendlichen, dass schon die Fragestellung für sie nur schwer nachvollziehbar war: »›Das ist alles schon sehr kompliziert‹, schreibt eine Schülerin. ›Er starb für seinen Glauben. Der Glaube ist das Christentum. Das Christentum sind die Menschen. Doch der Gedanke, dass er für uns, mich, euch gestorben ist, klingt so weit hergeholt, dass es unglaubwürdig wirkt.‹ Und eine andere stellt fest: ›Lebten wir denn schon zu Jesus Zeit, dass er für uns sterben konnte? Nein, wir leben jetzt, also ist dieser Ausdruck/Aussage einfach falsch und völlig unbegründet.‹ Was für einen Christen, wenn nicht restlos verstanden – wer hat schon verstanden, was es heißt: Jesus ist für uns gestorben? –, dann aber doch jedenfalls sehr vertraut ist, scheint den ostdeutschen Jugendlichen geradezu absurd: Dass ein antiker Todesfall eines bekannten Religionsgründers irgendetwas mit ihnen, Kindern des 21. Jahrhunderts, zu tun haben sollte. Es fragt ja auch niemand, warum ein Mose oder ein Sokrates gestorben ist; und welche Verschwörer Caesar ermordet haben, lernt man in der Schule bestenfalls für eine Klausur auswendig.«15

Wenn unter Verweis auf Anselm von Canterbury, der in Lehrplänen durchgängig zu finden ist, von der fides querens intellectum gesprochen wird, also vom Glauben, der nach Einsicht sucht, dann ist häufig zu wenig im Blick, dass diese denkerische Durchdringung letztlich eine ist, die vom Glauben ausgeht. Demzufolge wird das »credo ut intelligam« als rationale Begründung 14

  Vgl. Annchristin Schubert: Für uns gestorben und nicht mehr von Belang? Eine qualitative Vergleichsstudie zu Deutungen Jugendlicher aus Sachsen-Anhalt und Bayern in Bezug auf den Kreuzestod Jesu Christi, Halle 2012, online: www.theo-web. de/online-reihe/008_schubert.pdf (28. September 2017). 15   Frank M. Lütze: Christlicher Religionsunterricht – nichtreligiöse Schüler: Wahrnehmungen im konfessionslosen Kontext Ostdeutschlands, unveröffentlicht 2017, 7 Seiten, 4.

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des Glaubens (ohne diese Begründung zur Bedingung desselben machen zu wollen) oft zu nahtlos als Programm zur Möglichkeit einer rationalen Durchdringung gesehen. Religionen allerdings – und die christliche Religion ist hier ausdrücklich einzuschließen – sind »nicht durchgehend logisch«16. Zwar lässt sich innerhalb des Systems logisch argumentieren. Aber dass es dabei um mehr geht, dass »darin etwas für unser gegenwärtiges Leben Bedeutsames ausgesagt wird: Das ist mit denkender Logik nicht nachzuvollziehen; das ist ein Mysterium, das erst im glaubenden Vollzug plausibel wird«17. Im Religionsunterricht tritt dieses spezifische Verhältnis von Glaube und Denken besonders deutlich hervor, wenn konfessionslose Schüler in der Logik schulischen Lernens und das heißt im Modus des Faktenlernens an religiöse Fragen heranzugehen. »Der Tod Jesu als Sühne für die Sünde, als Freikauf oder als Tod des zweiten Adam: Das ist, solange ich niemanden kenne, für den das persönliche Bedeutung hat, im Grunde doch ziemlich absurd.«18 Und Religionsunterricht kann auf diese Weise sehr schnell zur Bestätigung dessen werden, was man immer schon geahnt hat, dass nämlich eine religiöse Weltdeutung letztlich nicht plausibel ist. Insofern tragen konfessionslose Schüler in besonderer Weise ein Bewusstsein für die Chancen, aber auch für die Grenzen denkerischer Durchdringung ein und verweisen auf die Notwendigkeit, komplementär nach weiteren Plausibilisierungswegen zu suchen. c) Konfessionslose Schüler lassen menschliche Grunderfahrungen    als gemeinsamen Anknüpfungspunkt wichtig werden und    weisen somit in besonderer Weise auf die Bedeutung    der lebensgestaltenden Dimension hin. Auch wenn aufgrund der rechtlichen Regelungen niemand gezwungen wird, am Religionsunterricht teilzunehmen, kann nicht selbstverständlich von einer intrinsischen Motivation ausgegangen werden. Dabei besteht eine der großen Herausforderungen darin, dass Schüler der christlichen Religion nicht im Modus des interessierten Fragens, sondern eher im Modus der Gleichgültigkeit oder der selbstverständlichen Distanz begegnen. Die oft anzutreffende Selbsteinschätzung »Ich bin nicht so erzogen worden« markiert eine Fremdheit, die offensichtlich nur schwer zu überwinden ist. Auch der Religionsunterricht muss hier im Rahmen einer »Hermeneutik [...] des erst zu suchenden Einverständnisses«19 zu agieren. Lerntheoretisch stellt sich 16

  A.a.O., 5.   Ebd. 18   Ebd. 19   Karl Ernst Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, Gütersloh 21992, 383. 17

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damit die Frage der Motivation zur Auseinandersetzung mit christlicher Religion mit besonderer Dringlichkeit. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des im vorherigen Punkt Dargelegten ergibt sich die Herausforderung, die lebensweltlichen bzw. biografiebezogenen Quellen religiösen Fragens zu erurieren und zu nutzen. Letztlich geht es darum, den oft als gravierend wahrgenommenen Graben zwischen religiösen und nicht-religiösen Deutungsmustern zu überbrücken. Das Problem scheint dabei nicht darin zu bestehen, dass »gar keine Transzendenzerfahrungen mehr gemacht werden, sondern dass es an überzeugenden Mustern zur Deutung solcher Erfahrungen fehlt, so dass diese unbestimmt bleiben oder von der jeweiligen subjektiven Gefühlslage her interpretiert werden«20. Sollen christliche Deutemuster als dafür relevant erscheinen, müssen sie neu dynamisiert werden. Mit Heinrich Roth gesprochen geht es darum, »tote Sachverhalte in lebendige Handlungen rückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind: Gegenstände in Erfindungen und Entdeckungen, Werke in Schöpfungen, Pläne in Sorgen, Verträge in Beschlüsse, Lösungen in Aufgaben, Phänomene in Urphänomene.«21 Ein Großteil der biblischen Texte, theologischen Denkfiguren oder bildlichen Darstellungen lässt sich als Resultat von Deutungsprozessen, mit Roth gesprochen als geronnene Lösungen, bezeichnen. Für viele bleibt dabei nicht selten unklar, auf welche Frage, auf welches Lebensproblem oder Dilemma, auf welche Erfahrung von Glück oder Schicksal diese Lösungen eine Antwort suchen. Darauf ist verstärkt zu achten. Dass konfessionslose Schüler auffällig wenig mit explizit religiösen Themen anfangen können, hängt auch damit zusammen, dass dies nur selten gelingt. Glaubenssätze erscheinen somit als Antworten auf Fragen, die weder gestellt noch verstanden worden sind. Was das konkret bedeuten kann, lässt sich beispielsweise bei Gundula Rosenow nachvollziehen. Sie arbeitet in der Kursstufe mit existentiell bedeutsamen Erlebnissen der Schüler.22 Dadurch kann sich jeder »als kompetenter Gesprächspartner ohne defizitäre Zuschreibungen«23 einbringen. Der Religionsunterricht gewinnt auf diese Weise an Bedeutsamkeit. Das gilt auch 20

  Norbert Mette: »Gottesverdunstung« – eine religionspädagogische Zeitdiagnose, in: Gottfried Adam/Rudolf Englert/Rainer Lachmann/Nobert Mette (Hrsg.): GOTT. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2014, 123–130, 124. 21   Heinrich Roth: Zum pädagogischen Problem der Methode, in: Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung 4 (1949), 102–109, 108. 22   Die Aufgabe hieß dabei: »Schildern Sie ein tiefgreifendes Erlebnis, das Sie positiv oder negativ nachhaltig beeinflusst hat. Was haben Sie dabei gefühlt? Dieses Erlebnis muss nicht religiös empfunden worden sein« (Gundula Rosenow: Individuelles Symbolisieren. Zugänge zu Religion im Kontext von Konfessionslosigkeit, Leipzig 2016, 159). 23   A.a.O., 282.

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dann, wenn sich die Schüler nicht zu einer religiösen Selbstpositionierung entscheiden können. Unter dieser Prämisse soll auf einen weiteren Aspekt hingewiesen werden. d)

Ohne dass es ausnahmslos nur sie selbst betreffen würde, stellen konfessionslose Schüler die Relevanzfrage mit besonderer Intensität in den Raum und weisen auf die Unabschließbarkeit religiöser Positionierungen hin.

Was im Kontext mehrheitlicher Konfessionslosigkeit mit besonderer Dringlichkeit hervortritt, gilt letztlich für unsere Gesellschaft insgesamt. Letztlich gibt es für den christlichen Glauben und seine Vermittlung »keine Plausibilitätsvoraussetzungen mehr, die unmittelbar abgerufen werden können«24. Eine kulturelle Übereinkunft hinsichtlich der Relevanz des Religiösen im Allgemeinen und des Christlichen im Besonderen ist für den überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht mehr gegeben. Vor diesem Hintergrund wird Relevanz letztlich zur Schlüsselkategorie. Diese ergibt sich nicht per se aus bestimmten Prägungen und Haltungen, wenngleich sie in eröffnender Weise vorstrukturierend sein können. Relevant ist, »was beim Individuum Aufmerksamkeit erhält«25. Nach diesen Aufmerksamkeiten ist verstärkt zu suchen. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass Menschen immer schon von eigenen, im Laufe ihrer Lebensgeschichte erarbeiteten Antworten und Lebensentwürfen her leben. Sie bestimmen maßgeblich über eigene Zugänge und Verortungen. In alledem geht es darum, dass Prozesse in Gang kommen. Gundula Rosenow spricht hier von einer »Didaktik der Potenzialität«, bei der es letztlich darum geht, diese »Potenzialität für einen zukünftigen lebensbegleitenden Interpretationsprozess offen zu halten«26. Letztlich ginge es darum, konsequent Gottes »Wirksamwerden, sein Sich-Zeigen«27 zum Thema zu machen, wobei seine Menschwerdung als Prozess in den Blick zu nehmen wäre. Engert formuliert hier sehr pointiert: »Die Menschwerdung Gottes geht weiter – aber nicht ohne uns.«28

24

  Mette: Gottesverdunstung, 128.   Eberhard Hauschild/Uta Pohl-Patalong: Kirche, Gütersloh 2013, 110. 26   Rosenow: Individuelles Symbolisieren, 284. 27 Rudolf Englert: Gottesglaube hier und heute. Empirische Erkundung und theologische Herausforderung, in: Gottfried Adam/Rudolf Englert/Rainer Lachmann/ Nobert Mette (Hrsg.): GOTT. Ein religionspädagogischer Reader, Münster 2014, 237– 243, 242. 28   Ebd. 25

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3.

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Was lässt sich an konfessionslosen Schülern für die Profilierung von Religionsunterricht lernen?

Es kann im Folgenden nicht um eine ausführliche Sichtung religionsdidaktischer Folgerungen gehen. Einiges ist bereits angedeutet worden. Ich will mich hier auf zwei große Linien beschränken, in denen allerdings bereits wesentliche Aspekte angedeutet sind. Vorausschicken möchte ich dem eine grundlegende Erkenntnis. Konfessionslose Schüler schärfen unseren Blick hinsichtlich der impliziten und expliziten Voraussetzungen unseres religionsdidaktischen Denkens und Handelns. Dabei wird deutlich, dass die vorliegenden religionsdidaktischen Ansätze wie auch alle Ansätze zum interreligiösen Lernen auf einer latenten Annahme beruhen, die nicht als allgemein gültig zu betrachten ist, wenn man sich auf konfessionslose Schüler einlässt. Vorausgesetzt wird nämlich eine eigene religiöse Orientierung. Wenn die nicht gegeben ist, dann rechnet man wenigstens mit einer Offenheit sowie der Bereitschaft zur Partizipation an religiöser Praxis. Dass Menschen am Religionsunterricht teilnehmen, die diese Voraussetzungen nicht teilen und zudem auch nicht vorhaben, selbst religiös zu werden, wird bisher nicht konstitutiv berücksichtigt. Allerdings ist es ein entscheidender Unterschied, ob Menschen sich als religiös verstehen oder nicht. Das wird nicht nur im Verhältnis zum Christentum deutlich, wie die Schüleräußerungen zum Kreuzestod Jesu zeigen können. Auch mit Blick auf andere Religionen lässt sich das belegen. Wenn muslimische Frauen ein Kopftuch tragen oder jüdische Jungen beschnitten werden, kann das von Menschen, die sich als nicht-religiös verstehen, oft nur einlinig decodiert werden, also beispielsweise als Ausdruck der Unterdrückung von Frauen oder als Körperverletzung. Mit einseitiger Logik ist Religion aber nur bedingt beizukommen. Das heißt nicht, dass man alles widerstandslos gut zu finden hätte. Darum geht es nicht. Aber notwendig ist ein grundlegendes Verständnis für die Motivlagen des jeweils anderen. Doch dieser Wechsel in die jeweils andere Perspektive scheint eben nicht so leicht vonstatten zu gehen. Das gilt vor allem dann, wenn man sich der emotionalen Verankerung bewusst ist, die unsere jeweiligen Positionen begleiten.

3.1 Befremdung zulassen und didaktisch bearbeiten Eine ganze Menge lernen lässt sich hier am Diskurs zum interreligiösen Lernen. Dass dort die authentische Begegnung als Königsweg angesehen wird,29 29

  Vgl. Stephan Leimgruber: Interreligiöses Lernen, München 22007, 70.

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sollte auch im Religionsunterricht mit Konfessionslosen stärker bedacht werden. Beim Beispiel des interreligiösen Lernens lässt sich erkennen, dass Lernprozesse am besten in der Begegnung bzw. in der Konvivenz gedeihen. Wenn die andere Religion, die andere Einstellung, nichts Abstraktes mehr ist, sondern ein Mensch, der leibhaftig vor einem steht und mit dem ich kommunizieren kann, mit dem gemeinsam ich anderen helfen kann, können Lerneffekte auftreten. Dann kann auch Vertrauen entstehen. Das sind Aktivitäten, die es vielfach schon gibt, nun aber verstärkt Umsetzung finden müssen. Prophylaktisch lassen sich interreligiöse Verhandlungen kaum bearbeiten. Das gilt auch und insbesondere für die Begegnung und den Austausch mit Konfessionslosen. Das Wissen über die andere Position bzw. Religion geht nicht automatisch in ein wechselseitiges Verstehen über. Das heißt nicht, dass die Wissensebene bedeutungslos wäre. Aber darüber hinaus sind »emotionale, funktionale und situative Bedingungen von großer Bedeutung«30. Befremdung zuzulassen, bedeutet auch, sich dem Risiko des Scheiterns auszusetzen, ja dies sogar konstitutiv mit einzuplanen. Möglich ist das nur im Rahmen einer Fehlerkultur, die die Bearbeitung von Scheitern ermöglicht. Eine Religionsdidaktik, »die das Ziel der ›Kultivierung von Fremdheit‹ anvisiert [...], kann sich weder mit Objektivierung in propositionalem Urteilen und Verstehen, noch mit der Inszenierung gleich-gültiger Empathie zufrieden geben.«31 Vermutlich sind Schwierigkeiten und Konflikte »nicht einmal vorwiegend an den Linien zwischen den Religionen und Religionsgemeinschaften« zu finden, »sondern an den Grenzen zwischen religiöser Orientierung und der Ablehnung von Religion sowie zwischen verschiedenen Stilen religiöser Kommunikations-und Umgangsformen.«32 Religionsunterricht mit Konfessionslosen kann letztlich keine Einbahnstraße sein. Es geht nicht nur darum, nicht-religiösen Menschen einen Zugang zur Religion zu vermitteln. Auch die Gegenrichtung ist im Blick zu haben. Diejenigen, die sich als religiös verstehen, sollen verstehen, was Menschen umtreibt, die diese Dimension nicht für sich annehmen. Eigenes und Fremdes sind miteinander in Beziehung zu setzen, wobei beides ineinander übergeht. Im Eigenen gibt es immer auch Fremdes. Und das Fremde kann mir manchmal sehr nahe sein. Das gilt für den Austausch zwischen den Religionen, aber auch für die Begegnung zwischen Menschen, 30

  Heinz Streib: Wie finden interreligiöse Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen statt? Skizze einer xenosophischen Religionsdidaktik, in: Peter Schreiner/Ursula Sieg/Volker Elsenbast (Hrsg.): Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 230–243, 240. 31   Ebd. 32   Gudrun Guttenberger: Religionssensible Schulkultur, in: Gudrun Guttenberger/ Harald Schroeter-Wittke (Hrsg.): Religionssensible Schulkultur, Jena 2011, 31–50, 48.

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die sich als gläubig und denen, die sich als nicht-gläubig verstehen, wie auch immer dabei die Verortungen im Einzelnen aussehen. Zu initiieren ist also ein wechselseitiges Lernen. Das Ziel besteht dabei darin, die eigene Perspektive zu erweitern. Es geht um Annäherungen, die neue Perspektiven eröffnen. Wir können nie die eigene Perspektive verlassen, um selbst ein Anderer zu werden. Deswegen sollte mit dem Begriff des Perspektivenwechsels sehr sorgsam umgegangen werden. Er eignet sich nur sehr bedingt für das, was realistischerweise möglich ist. Denn wenn wir in der Begegnung mit dem Fremden die eigene Sichtweise erweitern, korrigieren oder mit neuen Impulse bereichern, dann ist viel erreicht, wahrscheinlich sogar alles, was pädagogisch möglich ist.

3.2 Die Spezifik der christlichen Perspektive im Blick    haben und sie in der Optionsgesellschaft eintragen Eng mit dem eben Ausgeführten zusammenhängend und doch noch einmal darüber hinausgehend, ist die Frage der möglichen Plausibilisierung von Religionsunterricht. Damit tritt der Religionsunterricht in seiner gesellschaftlichen Funktion in den Blick. In den religionspädagogischen Theorien wird dies oft unter dem Stichwort der Begründungsmuster bedacht. Vor dem Hintergrund konfessionsloser Schüler im Religionsunterricht, vor allem aber mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Konfessionslosigkeit bekommt das noch einmal ein neues Gewicht. Inzwischen ist jeder dritte Deutsche konfessionslos. Und da die Mitgliederzahlen in den Kirchen auch zurückgehen werden, ist hier mit weiter steigender Tendenz zu rechnen. Deswegen sowie mit Blick auf die zunehmende religiöse Pluralität, die nicht zuletzt in einer steigenden Zahl von Religionsunterrichten ihren Ausdruck findet, muss der Gesellschaft gegenüber offen Auskunft darüber gegeben werden können, was ein evangelischer Religionsunterricht zu bieten hat. Darauf hat Manfred Josuttis bereits vor knapp 30 Jahren ausdrücklich hingewiesen. Er betont: Die evangelische Religionspädagogik hat der Gesellschaft einen Unterricht zu bieten, »der die religiöse und die politische Dimension menschlicher Existenz durch den Rückgriff auf die biblische Tradition zu erhellen trachtet. Darin eingeschlossen Religions- wie Gesellschaftskritik, aber nicht im Rahmen eines ›Allgemeinen‹ und deshalb ›alle Menschen Angehenden‹, sondern vom Zentrum eines Besonderen her, das dennoch alle Menschen anzugehen beansprucht. Die Religionspädagogik hat keinen Anlaß, den Anspruch dieses Besonderen dadurch zu relativieren, daß sie es als ein Allgemeines ausgibt oder mit Hilfe eines Allgemeinen legitimiert. Sie kann der Gesellschaft eine Entscheidung darüber, ob sie dieses

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Besondere, das gleichwohl beansprucht, zur Menschlichkeit jedes Menschen zu gehören, in der Schule weiterhin zu dulden gedenkt, nicht abnehmen.«33

Gerade mit Blick auf konfessionslose Schüler ist dieser Aspekt zu bedenken und konstitutiv mit aufzunehmen. In allem Bemühen um ein Verständlichmachen bleibt die Zumutung, die zu markieren ist. Zugleich resultiert daraus ein verschärftes selbstkritisches Nachdenken, das gerade im Feld des schulischen Religionsunterrichts grundlegend ist. So fragt Josuttis völlig zu Recht: »Ist das von der Religionspädagogik heute behauptete Bedürfnis der Schüler nach Religion etwas anderes als das Projektionsprodukt des Bedürfnisses des kirchlichen Religionsunterrichts nach Schülern? Vielleicht ist ein derartiges Bedürfnis in der spätbürgerlichen Gesellschaft sogar noch vorhanden. Aber der Anspruch, die Interessen der Schüler vertreten zu wollen, wirkt unglaubwürdig, wenn er offenkundig auch zur Verteidigung eigener Interessen dient.«34

Wer über konfessionslose Schüler nachdenkt, wird sich auch diesen – manchen vielleicht verstörenden – Fragen zu stellen haben, dabei aber auch erleben dürfen, wie gewinnbringend und belebend solche Perspektiven sein können.

33   Manfred Josuttis: Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der praktischen Theologie, München 41988, 235. Ich danke Georg Bucher für den Hinweis darauf. 34   A.a.O., 236.

Zeigen und Deuten Einige Gedanken zu der Frage, wie die christliche Religion (und nicht nur die) zu lehren ist1 Bernhard Dressler

1. Zeigen als pädagogisch-didaktischer Modus Wie andere menschliche Kommunikationsformen ist auch Unterricht gekennzeichnet durch die Ingebrauchnahme von Zeichen. Zeichen werden als Etwas zu verstehen gegeben und dabei als (damit nicht notwendig identisches) Etwas gedeutet.2 Zeichen werden gezeigt. Der Zusammenhang mit dem Verstehen von Zeichen als Deutung wird auch im möglichen Wortgebrauch des Verbs »deuten« deutlich, u.a.: »mit dem Finger auf etwas zeigen«. Lehrpersonen repräsentieren dabei den jeweiligen Zeichengebrauch und die dazugehörigen Deutungskonventionen der kulturellen Praxen, die sie im Unterricht erschließen.3 Und wenn Bildung nicht nur Wissenserwerb ist, sondern abzielt auf die urteilsfähige Partizipation an den kulturellen Praxen, die sich zum gesellschaftlichen Gesamtleben verbinden,4 dann kann in bilden1

  Die Erörterung von Religion und religiöser Bildung als einer Art von Deutungskultur und – im Zusammenhang damit – die Konzeptualisierung religiöser Didaktik als einer Art des Zeigens von Religion als kultureller Praxis gehörte in den 1990er Jahren zum Diskurs im Dozentenkollegium des Religionspädagogischen Instituts Loccum, dem Michael Wermke von 1995 bis 2001 angehörte. In lebhafter Erinnerung an diese gemeinsame Zeit ist ihm dieser Aufsatz gewidmet. 2   In semiotischem Verständnis ist ein Zeichen nicht, wie im alltagspraktischen Gebrauch, ein Wort, eine Geste, ein Gegenstand etc., sondern erst der Zusammenhang, dass Etwas (1) von jemandem (2) als Etwas (3) gedeutet wird. Charles Sanders Peirce spricht hier von »Dreistelligkeit«, vgl. einleitend Klaus Oehler: Charles Sanders Peirce, München 1993, u.a. 67f. 3   In einer selbstkritischen Wendung gegen reformerisch-emanzipatorische Pädagogikkonzepte der späten 1960er und der 1970er Jahre hat Klaus Mollenhauer auf den Gedanken des Lehrens als Präsentation und Repräsentation kultureller Praxen rekurriert, vgl. Klaus Mollenhauer: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, Weinheim und München 1985. 4   Friedrich Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang von »Mitgesamttätigkeit«, vgl. Friedrich Schleiermacher: Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesungen 1826), in: Michael Winkler/Jens Brachmann (Hrsg.): Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Band 2, Frankfurt am Main 2000, 7–72, 16.

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den Lehr-Lernprozessen die personale Begegnung niemals technisch substituiert werden. In italienischer Sprache ist der Lehrer bezeichnenderweise der insegnante. Die Erkenntnis- und Handlungsmuster kultureller Praxen, ihre kommunikativen Modi, sollen von Lehrpersonen als Repräsentanten mit Teilnahmeerfahrungen gezeigt werden. Die schulischen Fächer sind dabei in erster Linie modal und nicht thematisch definiert, insofern zum Beispiel Religion aus religiöser und theologischer, aber auch aus soziologischer, ästhetischer, vielleicht sogar aus naturwissenschaftlicher Perspektive thematisiert werden kann, das heißt in einem jeweils anderen Modus.5 Das Verständnis von Lehrpersonen als den Repräsentanten kultureller Praxen kann im Lichte eines Vorschlags des österreichischen Bildungstheoretikers Roland Fischer präzisiert werden. Danach zielt allgemeine Bildung, im Unterschied zur Ausbildung, nicht auf Expertenwissen (auch nicht auf miniaturisiertes oder elementarisiertes Expertenwissen), sondern – davon kategorial unterschieden – auf Kommunikationsfähigkeit von Laien mit Experten,6 man könnte sagen: auf ein gebildetes Laientum. Dieser Grundgedanke bewahrt die allgemeinbildende Schule davor, als Dienstleistungsunternehmen für den Arbeitsmarkt missverstanden zu werden. Es geht dabei nicht nur um das (mögliche) Interesse von Laien an Wissensgebieten, in denen es ihnen an Expertise fehlt. Demokratische Partizipation in ausdifferenzierten modernen Gesellschaften erfordert vielmehr eine bestimmte Art von Urteilsfähigkeit gebildeter Laien gegenüber Experten. Wenn Menschen gesellschaftlich partizipieren wollen oder auch nur ihr Privatleben bewusst gestalten wollen, müssen sie sich, ohne Experten zu sein, Urteile über Expertenwissen erlauben können. Dazu gehört reziprok die Externalisierung von Expertenwissen, um den gebildeten Laien entgegenzukommen und die Lebenswelt nicht mittels der durch Experten gesteuerten Systemmechanismen zu kolonialisieren.7 Bildung stärkt Menschen als die Grenzen der Systeme. Lehrpersonen sind (nicht nur, aber besonders) die Repräsentanten der in den Schulfächern Gestalt gewinnenden kulturellen Praxen.8 Sie verfü5

  So kann zum Beispiel auch der Ethikunterricht mit Folgen für seine Didaktik und seinen Bildungsgehalt entweder dem moralisch-evaluativen Modus oder dem Modus konstitutiver Rationalität zugerechnet werden. 6   Vgl. Roland Fischer: Höhere Allgemeinbildung und Bewusstsein der Gesellschaft, in: Erziehung und Unterricht 5–6 (2003), 559–566. 7   Zur Metapher der Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Sachzwanglogiken systemischer Vergesellschaftung vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2, Frankfurt am Main 1981, 171–293. 8   Mit etwas anderem Akzent, aber hieran anschlussfähig argumentiert Heinz-Elmar Tenorth: Die klassischen Schulfächer seien der besonders geeignete Rahmen, um Phänomene, Gegenstände und Probleme der außerschulischen Welt zu Inhalten schulischen Lernens zu transformieren, weil sie erst die notwendige Engführung ermöglichen, die aus Inhalten Themen für das Lernen gewinnen lässt. In der kompeten-

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gen dabei auf besondere, nämlich didaktische Weise über die Fähigkeit zur Externalisierung von Expertenwissen als der Komplementärkompetenz zur urteilsfähigen Kommunikation von Laien mit Experten. Lehrpersonen müssen ihre Expertise didaktisch einbringen können. Ohne die Ausbildung von Expertise anzustreben, sollen sie die Perspektivik und Spezifik jener Modi des Weltverstehens zu verstehen geben, die mit ihren Fächern jeweils verbunden sind. Sie müssen Lerngegenstände als die Sachen zeigen können, durch deren Klärung gleichursprünglich die Menschen im Lernprozess und dann auch in ihrer Lebensführung gestärkt werden. Wenn Urteilsfähigkeit gebildet werden soll, muss der Modus des Urteilens im Lernprozess selber maßgeblich sein. Dies bedeutet, dass es nicht nur um das Zeigen von Sachverhalten und deren Speicherung als Wissen geht, sondern dass darin der Modus des Urteilens schon einbezogen ist. Hierauf zielt das von Jürgen Baumert vorgeschlagene Tableau unterschiedlicher Modi der Welterschließung als der Grundlage eines allgemeingültigen schulischen Unterrichtskanons.9 Die unterschiedlichen Modi differieren signifikant im Zeichengebrauch, beispielsweise hinsichtlich fachspezifischer Eindeutigkeitsideale (etwa in den Domänen kognitiv-instrumenteller Rationalität) im Unterschied zu epistemisch konstitutiven Mehrdeutigkeiten (wie etwa bei ästhetischer oder religiöser Kommunikation). Die Kategorie des Zeigens ist gerade auch für religiöse Bildungsprozesse handlungstheoretisch und theologisch fruchtbar. Zeigen hat sich zum einen als die grundlegende Kategorie einer operativen Pädagogik bewährt.10 Zum ten Handhabung der Differenz von Schulfach und Fachwissenschaft, von Alltagswissen und reflektiertem Wissen, bestehe deshalb der Kern der professionellen Aufgabe von Lehrpersonen. Es geht Tenorth um die Bedingung der Möglichkeit gebildeten Laientums und zugleich um die Bedingung der Möglichkeit schulischen Lernens überhaupt, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Unterrichtsfächer – Möglichkeiten, Rahmen, Grenzen, in: Ivor F. Goodson/Stefan Hopmann/Kurt Riquarts (Hrsg.): Das Schulfach als Handlungsrahmen. Vergleichende Untersuchung zur Geschichte und Funktion der Schulfächer, Köln 1999, 191–207. 9   Vgl. Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 2002, 100–150, 113. Dass Baumerts Vorschlag im sog. Klieme-Gutachten aufgegriffen wurde – vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Bonn 2003, 68 –, blieb ohne nennenswerte bildungspolitische Resonanz. Vgl. dazu den Versuch, aus Baumerts Vorschlag Folgerungen für eine bildungstheoretische Fundierung der Fachdidaktiken generell zu ziehen, bei Bernhard Dressler: Fachdidaktik und die Lesbarkeit der Welt. Ein Vorschlag für ein bildungstheoretisches Rahmenkonzept der Fachdidaktiken, in: Katharina Müller-Roselius/Uwe Hericks (Hrsg.): Bildung – Empirischer Zugang und theoretischer Widerstreit, Opladen/Berlin/Toronto 2013, 183–202. 10   Vgl. Bernhard Dressler/Michael Meyer-Blanck: Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik, Münster 1998; Klaus Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung.

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anderen ist in christlich-religiösen Kommunikationssituationen das Zeigen eine basale Kategorie, insofern die christliche Gottesrede keine Definitionsleistung voraussetzt, sondern als ein Zeigen ermöglicht wird: Menschen, die sich in die Gottesbeziehung Jesu Christi einbeziehen lassen, zeigen anderen Menschen, wie sie sich in dieser Gottesbeziehung selbst als Kinder Gottes zu verstehen lernen und was das für die Gestaltung ihres Lebens bedeutet. Nicht zufällig verstehen wir unter der Geste des Zeigens ein »Deuten auf«: Zeigen erfordert Zeichen, die nicht eindeutig, sondern immer deutungsoffen und deutungsbedürftig sind. Ein solches Zeigen ist – wie die Sprache der Bibel und mit der biblischen Sprache – auf Erzählung und Poesie, auf Lob und Dank, Bitte und Zuspruch angewiesen. Es stellt nicht (konstativ) etwas fest, sondern setzt (performativ) Erkenntnisse und Erfahrungen in Bewegung. Eine solche Zeigefähigkeit kann genauer verstanden werden als die Fähigkeit, die eigene gelebte Religion als Ressource und als Resonanzraum professionell kommunizierter Religion ins Spiel bringen zu können. Wer eine solche Zeigefähigkeit hat, kann auf die Sache verweisen, ohne sich als Person herauszuhalten, aber auch, ohne seine Person mit der Sache zu verwechseln. Wer so zeigen kann, macht – wie ein Fremdenführer – die Alterität der Sache interessant, ohne ihre Kommunikabilität durch die Auflösung ins schon Vertraute sichern zu müssen. Freilich stellt sich für den Religionsunterricht das Problem, dass wir in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich der Schärfe oder Unschärfe begrifflicher Zugänge auf Sachverhalte richten. Die Schule als eine (nicht programmatisch so gewollte, sich aber leider empirisch allzu oft so erweisende) Institution des Vereindeutigungszwanges bedient deshalb oft problematische Erwartungen gegenüber der Religion, deren Wahrnehmung von den im 45-Minuten-Takt wechselnden Gegenstandsmustern der anderen Fächer gleichsam kontaminiert wird. Das bestärkt das Missverständnis der christlichen Religion als einer Sachverhaltswissen behauptenden Doktrin (statt einer kulturellen Praxis der Erinnerung und Vergegenwärtigung des Christusereignisses), der eben deshalb, weil sie durch wissenschaftliches Faktenwissen längst widerlegt ist, kein Glaube geschenkt werden kann. Religiöse Bildung hat deshalb im Spannungsfeld hermeneutischer und semiotischer (zeigender) Verfahren Didaktik als die Inszenierung eines Spiel-

Grundriss der Operativen Pädagogik, Paderborn 2005. Schon Erich Weniger hat in der religionspädagogischen Neubesinnung am Beginn der Nachkriegszeit für einen deiktisch-hermeneutischen Religionsunterricht (anstelle eines missionarisch-verkündigenden) plädiert, vgl. Friedrich Schweitzer: Können wir noch Evangelische Erzieher sein?, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 50 (1998), 6–17, 14.

Zeigen und Deuten 429

feldes zu verstehen, das einerseits der »bestimmten Unbestimmtheit«11 der Themen des Religionsunterrichts gerecht wird, andererseits – eben als Spiel – auch nicht regellos sein kann.12 Eine zentrale Regel ist zum Beispiel die Unterscheidung zwischen »Beobachtung« (der Welt mittels der Ingebrauchnahme religiöser Zeichen und Modi, also in experimenteller Absicht religiös kommunizieren) und »Beobachtung der Beobachtung« (»über« Religion kommunizieren). Jeder Unterricht hat regelgeleitet zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung zu wechseln. Leider zeigt sich zu oft, dass im Religionsunterricht eine einsichts- und urteilsfördernde Kommunikation in der Regel sofort kollabiert, wenn die Schüler eindeutige »Begriffe raten« sollen – das gegenteilige Pendant ist der Religionsunterricht als berüchtigtes »Laberfach«, in dem der Unterschied zwischen einer Meinung und einem Argument, mit dem eine Deutung plausibilisiert wird, systematisch abgeblendet wird. In diesem Zusammenhang ist die Verabschiedung stofforientierter Lehr-Lernkonzepte im Allgemeinen und materialkerygmatischer religionsdidaktischer Konzepte im Besonderen bedeutsam. Stofforientierung verstellt den Blick auf den Modus religiöser Kommunikation, deren »Gehalt« nicht unter Absehung ihrer »Gestalt« zu verstehen ist, und in der deshalb (mit den Begriffen Schleiermachers) »Darstellung« und »Mitteilung« nur verschränkt zu denken sind. Das ist zwar eine Besonderheit, aber kein Alleinstellungsmerkmal des Religionsunterrichts. Auch die Gegenstände anderer Unterrichtsfächer sind nicht zu erschließen, ohne dabei die Bedeutung ihres jeweiligen besonderen Zeichenformats innerhalb jeweiliger Gebrauchskontexte zu verstehen zu geben. Mit Klaus Prange kann Didaktik überhaupt »als Formenlehre des Erziehens« definiert werden: »Es gibt das Erziehen im Modus des Darstellens nicht, weil es Schulen gibt, sondern es gibt Schulen, weil sie die Form sind, in der das Darstellen explizit als Aufgabe thematisiert werden kann.«13 Schulen sind (jedenfalls im Unterricht) artifizielle Lernräume, Moratorien des Lebensernstes, und deshalb Spielräume experimentellen Denkens und Handels. Nur deshalb ist die Rede von Lehrpersonen als Repräsentanten außerschulischer Praxen sinnvoll. In jedem Unterricht, der dem Bildungsgedanken gerecht wird, wird Lernenden etwas gezeigt und dabei unterstellt, dass sie das Gezeigte noch nicht kennen, es aber mit Hilfe der Lehrpersonen selber erkennen können. Durch didaktisch inszeniertes Zeigen wird ein Unterrichtsgegenstand, der den unterschiedlichsten kulturellen Praxisfeldern – Politik, Literatur, Naturwis11

  Vgl. Ingolf U. Dalferth: Bestimmte Unbestimmtheit. Zur Denkform des Unbestimmten in der christlichen Theologie, in: Theologische Literaturzeitung 139 (2014), 3–36. 12   Vgl. grundlegend Thomas Klie: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003. 13   Prange: Die Zeigestruktur, 126.

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senschaft, Technik etc., und eben auch der Religionskultur – entstammen kann, pädagogisch transformiert: Aus einem den Erwachsenen meist schon bekannten Tatbestand wird ein für Kinder und Jugendliche noch unbekannter Sachverhalt gemacht. Durch pädagogische Transformationen werden Bildungsgegenstände an die Lernfähigkeit der Heranwachsenden anschlussfähig und zu Sachverhalten gemacht, die für Lernende und ihr Denkvermögen erfahrbar sind und ihnen Mitwirkungs- oder Partizipationsmöglichkeiten eröffnen.14 Im Blick auf die Religion sind es gerade ihre kommunikativen Formgestalten, die Bedeutungsüberschüsse über die dabei verwendeten sprachlichen Begriffe hinaus enthalten. In den didaktischen Inszenierungsmustern aller Unterrichtsfächer soll sich also fachlicher Kompetenzerwerb konstituieren und in Form der Performanz fachspezifischer Kommunikationsmuster zeigen. Zugleich werden zwischen Gegenstandsinszenierung und Reflexion die kommunikativen Modi gewechselt: Eine ästhetische Produktion wird im Kunstunterricht in die Perspektive eines verbalsprachlich codierten Geschmacksurteils gerückt; ein Experiment mit Gebetssprache (etwa im Blick auf die kategoriale Differenz zwischen einem Fürbittengebet und einem politischen Forderungskatalog) wird aus religionsphänomenologischer Distanz beurteilt; ein naturwissenschaftliches Theoriemodell wird hinsichtlich seiner ethischen Folgeprobleme anderen Maßstäben als empirischen Richtigkeitskriterien ausgesetzt; ein mathematischer Algorithmus wird in sog. Textaufgaben auf seine lebensweltliche Tauglichkeit getestet und eben dadurch in seiner die alltagssprachlichen Grenzen sprengenden Leistungskraft erkannt. Das heißt, in schulischen Lernprozessen ist die Wahrnehmungs- und Erschließungsperspektive, in der sich die Gegenstände überhaupt erst konstituieren, von gleicher Bedeutung wie der Sachgehalt der Lerngegenstände. Die Semantik von Unterrichtsgegenständen verschiebt sich mit jeder Perspektivendifferenz. Eben deshalb sind im Unterricht nicht nur Bedeutungen zu vermitteln, sondern auch je bestimmte Kommunikationsformen zu inszenieren.

2. Bildender Unterricht als Erschließung    der Mehrdeutigkeit des Weltverstehens Bildung soll generell den Umgang mit der Mehrdeutigkeit der Welt und ihren Phänomenen fördern, weil kognitivistisch und instrumentell reduktive Erschließungsformen und Rationalitätskalküle mit ihrer Orientierung auf 14

  Zum Begriff der pädagogischen Transformation und deren Ausdifferenzierung in didaktische und gesellschaftspädagogische Transformationen vgl. Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim/München 4 2001, 105ff.

Zeigen und Deuten 431

Eindeutigkeit einer produktiven und kreativen Lehr-Lernkultur (auch in den Fächern der kognitiv-instrumentellen Domäne) nicht gerecht werden. Damit ist in differenztheoretischer Hinsicht die Frage verbunden, wie viel Unbestimmtheit und Unsicherheit in Lernprozessen nicht nur billigend in Kauf zu nehmen, sondern prinzipiell zuzumuten ist. Der Literalität allen Erziehens entspricht es, dass wir, wie schon Herbart forderte, die »Welt zur Darstellung« bringen.15 »Dadurch machen wir sie für die Lernenden lesbar«16. »Lesbarkeit« ist angesichts der Aspektvielfalt der Welt und der damit verbundenen Nötigung zu Deutungen immer verbunden mit Mehrdeutigkeit. Man kann Bildung deshalb geradezu als durch den nicht-beliebigen Umgang mit Mehrdeutigkeit definiert sehen. Zugleich setzt jede Didaktik die Unterstellung voraus, unsere Kommunikation lasse sich zumindest in bestimmtem Maße als intentionales, intersubjektiv kontrollierbares Zeichenhandeln verstehen, das mit lesbaren Welten korreliert. Hier ist eine Grenze zu radikalen konstruktivistischen Epistemologien zu ziehen. In den unterrichtlich zu inszenierenden Deutungsakten wird die Illusion einer in ihren Deuteaktivitäten autonomen Subjektivität nur dann nicht gefördert, wenn (auf didaktisch geeignete Weise) das Bewusstsein dafür wach gehalten wird, dass in unsere Deutungen immer auch Konventionen, Muster kultureller Zugehörigkeiten, undurchschaute Interessen, Gestimmtheiten etc. mit eingehen. Ohne den Gedanken der »Lesbarkeit der Welt«17 wäre das Irritationspotential des Unterrichts zu groß. Aber das Bewusstsein, dass uns die Welt nicht einfach als ein kompakter, in sich selbst sinnvoller Gegenstand zuhanden ist, ist ebenso nötig, um die Spielräume nicht zu verstellen, mit denen in Bildungsprozessen Lernen erst möglich wird – und um damit auch dem Missverständnis der Lernenden zu begegnen, sie müssten, wenn sie lernen, eindeutige Zeichen speichern und reproduzieren können. Unter diesen Voraussetzungen können Bildung und Rationalität in ein Verhältnis gesetzt werden, dessen erkenntnistheoretische Prämissen auf metaphysische Voraussetzungen zugunsten pragmatischer Gründe verzichten können. Dabei kann etwa dem späten Wittgenstein beim Übergang von der

15

  Vgl. Johann Friedrich Herbart: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung (1804), in: Johann Friedrich Herbart: Sämtliche Werke. Band 1, Aalen 1989, 259–274. Deshalb hat zumindest im Unterricht die Ästhetik Vorrang vor der Moral. 16   Prange: Die Zeigestruktur, 234. 17   Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 21989. Blumenberg versteht diese Metapher als eine Horizonterweiterung des naturwissenschaftlichen Weltbildes und insgesamt als eine »Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit« (a.a.O., 9).

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Wahrheitssemantik zur Gebrauchstheorie der Bedeutung gefolgt werden.18 Der Zusammenhang sprachtheoretischer Überlegungen mit einer Didaktik, die kommunikative Vollzüge zu erschließen versucht, liegt auf der Hand: Wenn das Repräsentationsmodell der Sprache auch didaktisch nicht mehr gelten kann, also unter der Voraussetzung, dass weder Worte für Gegenstände noch Sätze deutungsunabhängig für Sachverhalte stehen, lässt sich das Phänomen des Verstehens »nur aus der Regelmäßigkeit des Gebrauchs«19 erklären. Das implizite Wissen, dass man einer Regel folgt, geht dann dem in Bildungsprozessen zu explizierenden Wissen über die Regel voraus. Aus der Fundierung der Regelkenntnis ist zu schließen, »dass sich jeder, der sich über sein praktisches Wissen klar zu werden versucht, gewissermaßen schon als Teilnehmer an einer Praxis vorfindet.«20

3. Religion zeigen – Religion   als Deutungskultur Dass es Weltwahrnehmung nur als Weltdeutung gibt, wird in der Religion selbst thematisch. Jede Beobachtung der Welt ist ein Deuten, das einer »als-Struktur« folgt: Etwas wird als etwas wahrgenommen, erkannt, verstanden.21 Nicht schon das bloße undeutliche Wahrnehmen eines Gegenstands, sondern erst die Deutung erzeugt das »Etwas«. Das gilt theoretisch wie praktisch. Das Gedeutete bleibt mir dabei gegenüber und zugleich ist es mir als Gedeutetes zu Eigen. Eine Theorie der Kommunikation ist nötig, um zu erklären, wie dieses Beim-Anderen-Sein und Bei-Sich-Sein zusammengehören, ohne ganz ineinander aufzugehen. Alle unsere Deutungsaktivitäten gründen in unserer leib-seelischen Konstitution. Ohne Leiblichkeit ist keine Bewusstseinstheorie denkbar. Deuten ist aber nicht naturalistisch herzuleiten, zum Beispiel als Erzeugung und Funktion des neuronalen Netzes. Es ist überhaupt nicht herzuleiten, sondern muss einfach vorausgesetzt werden, wie es ist. Nun ist unser Leben eingespannt in Differenzen – Leben und Tod, Liebe und Ablehnung, Kunst und Leben, Natur und Kultur, Religion und Profanität usw. Auch in die Differenzen der inkompatiblen Wertsphären, in die moder18

  Vgl. Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit, Frankfurt am Main 1970, besonders 76. 19   Manfred Frank: Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt am Main 1988, 45 (im Original teilweise kursiv). 20   Jürgen Habermas: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Stuttgart 2001, 71. 21   Ich folge hier dem Grundgedanken von Dietrich Korsch: Religion – Identität – Differenz. Ein Beitrag zur Bildungskompetenz des Religionsunterrichts, in: Evangelische Theologie 63 (2003), 271–279. Die Verbindung zum Konzept der »Dreistelligkeit« der Zeichenrelation (s. Fußnote 2) ist offenkundig.

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ne Gesellschaften ausdifferenziert sind, und die wir in unserem Leben, wenn wir es führen und nicht nur erleiden wollen, irgendwie zusammenhalten müssen. Eben darauf zielt Bildung ja ab. Wir können die unterschiedlichen Differenzen des Lebens aber nur deuten, wenn wir uns auf eine Kraft des Zusammenhangs des Verschiedenen beziehen, über die wir nicht selbst verfügen. Wir müssen unsere Verstrickung in Differenzen auf einen Zusammenhang beziehen, der uns dieses Verbindung stiftende Deuten erlaubt. Wir versuchen, den Zusammenhang zu bedenken, den wir für unser Deuten in Anspruch nehmen und mit dem wir die »Lesbarkeit der Welt« verbinden. Die Intelligibilität der Welt ist nicht ohne die Frage zu bedenken, warum es – mit den Worten Schleiermachers – überhaupt so etwas wie »Anschauung des Universums« gibt, warum sich das Universum in Gestalt menschlicher Wesen selbst ansichtig werden kann und warum uns der Gedanke eines Universums, das ohne (Selbst-)Beobachtung existieren würde, absurd vorkommen muss. Religion in diesem Kontext zu verorten, lässt es nicht mehr notwendig erscheinen, so etwas wie ein Wesen der Religion bestimmen zu müssen, bevor religiös gelernt werden kann. In der »Unabhängigkeit des Deutens als Reflex eines uns unverfügbaren Zusammenhangs« gründet eine »Differenzkompetenz«22, die Dietrich Korsch religiös deutet. Im Blick auf die Welt und ihre Erscheinungen bin ich Subjekt meiner Lebensdeutungen. »[Ich vollziehe] meine Deutung selbst […], [bin] aber hinsichtlich des Zutreffens der Deutung oder ihrer Wahrheit nicht […] verantwortlich«23. Dem Deuten liegt also eine Differenz zugrunde, die nicht aus eigener Kraft zu überwinden ist. Deutungen treffen gerade deshalb zu, weil ihre jeweilige Wahrheit den deutenden Subjekten entzogen bleibt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Gefühlen – dem Glück nach einem Gelingen, der Scham nach einer Bloßstellung, der Dankbarkeit für eine Zuwendung: Sie widerfahren mir, gehören aber doch zu mir. Im Lichte dieser Erfahrungen von Selbsttranszendenz ist Gott ohne eine darin mitschwingende Vorstellung eines supranaturalen Jenseits zu denken. Religion kultiviert, wenn sie nicht fundamentalistisch wird, das Differenzbewusstsein und gerade nicht das Ganzheitsbewusstsein, bzw. die im Bewusstsein der Unverfügbarkeit von Ganzheit bewusst werdenden Möglichkeiten und Grenzen eines mit Differenzkompetenz gelebten Lebens. Und Religion schützt die Unverfügbarkeitserfahrungen menschlicher Existenz vor dem Zugriff der Anmaßungen naturalistischer Erklärungen. Freilich ist in diesen Überlegungen Raum dafür zu belassen, dass in starken Evidenzerlebnissen, als die man Epiphanien verstehen könnte, Zeichen unmittelbar verstanden werden können. Auf solche Erlebnisse kann Unter22

  Korsch: Religion, 276.   A.a.O., 279.

23

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richt allenfalls verweisen. Sie sind aber niemals unterrichtlich inszenierbar. Zwischen solchen Erlebnissen und jenen Situationen, in denen sich die Deutungsleistungen auf erlernbare und erlernte, das heißt in der Regel konventionelle Deutungen zurück beziehen, spannt sich der ganze Raum der Religion auf. Dieser Raum ist kein Jenseitsraum. In der Durchsichtigkeit der Dinge auf Unendliches hin erscheint, mit den Worten von Bernhard Waldenfels, keine andere Welt, aber »diese Welt als andere«24. Darin ist keine Restriktion der Transzendenz zu sehen, denn verglichen mit nicht-symbolisierenden Wesen, so Ernst Cassirer, »lebt der Mensch (als animal symbolicum) nicht nur in einer reicheren, umfassenderen Wirklichkeit; er lebt sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit.«25 Menschen ist also der Weg zu sich selbst verstellt, wenn ihnen nicht durch religiöse Bildungsprozesse das dumme, aber leider verbreitete vulgärmaterialistische Verständnis des Satzes aufgeklärt wird: »Ich glaube nur, was ich sehe.« Wenn sich Religion als Deutungskultur nicht allein durch ihre epistemischen Leistungen zu verstehen gibt, sondern diese wiederum nur mittels der dabei ins Spiel gebrachten kommunikativen Modi erschlossen werden können, dann greift ein in der Religionspädagogik verbreitetes Verständnis von Religion zu kurz: Religion ist nicht nur keine Doktrin, sie ist auch nicht durch Personeigenschaften definiert – weder durch Werthaltungen und Gesinnungen, noch durch kognitive oder moralische Niveaus. Auch deshalb ist dem zuweilen beobachtbaren Trend zur Sozialpädagogisierung der Religionspädagogik entgegenzutreten. Natürlich lassen sich Kinder und Jugendliche erziehen. Und religiöse Erziehung ist in den Familien notwendig und in den Schulen in gewissem Maße unumgänglich. Aber der Religion gerecht wird Religionspädagogik aus den genannten Gründen nur als ein Bildungsprogramm. Das gilt unabhängig davon, dass Urteilsbildung nicht ohne »Basis« in der Mentalität, in den »Haltungen« der urteilenden Person denkbar ist. Ohnehin können »Haltungen« und »Einstellungen« in einem maximal mit zwei Wochenstunden ausgestatteten Fach nicht stabil erzeugt werden; hier ist die begrenzte sozialisatorische Kraft des Unterrichts, aber auch der Schule generell zu bedenken. Es gibt aber auch eine ethische Grenze dessen, was der öffentlichen Schule erlaubt ist, und eine noch schärfere Grenze, mit der die Freiheit der Edukanden hinsichtlich ihrer Urteilsbildung und damit auch hinsichtlich ihrer moralischen Präferenzen anzuerkennen ist, sofern

24

  Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1985, 233 (im Original kursiv). 25   Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt am Main 1990, 49 (im Original teilweise kursiv).

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sie nicht sanktionsbewehrte Regeln verletzen.26 Auch hierbei ist der Gedanke zu veranschlagen, dass Performanz der Komplementärbegriff von Kompetenz ist. Kompetenzen sind, das sei hier nur angedeutet, deshalb nie allein in Form von Wissenserwerb auszubilden, sondern nur zugleich in Handlungsvollzügen und Gebrauchskontexten. Sie sind zugleich nur in Gebrauchskontexten, also nur im Blick auf Performanz, evaluierbar. Pointiert gesagt: nur im Blick auf die beobachtbare Außenseite eines Handelns und nicht im Blick auf die dabei immer nur zu vermutenden bzw. zu unterstellenden motivationalen und gesinnungsmäßigen Hintergründe. Einstellungen, Werthaltungen und Gesinnungen sind aus Gründen dieser Erkenntnisgrenze, das heißt aus pragmatischen und aus ethischen Gründen, nicht evaluierbar. Pädagogisch hat diese Einsicht ihr Äquivalent in der Erfahrung, dass ein Gefühl, eine moralische Präferenz oder eine Gesinnung zwar erzieherisch angestrebt werden kann, aber nicht didaktisch erzeugt werden kann.

4. Zeigen und Deuten – bilanzierendes Fazit Was diese Überlegungen für das professionelle Handeln von Lehrpersonen bedeuten könnten, soll zum Schluss nur noch kurz angedeutet werden. Für Religionslehrkräfte bedeutet der Gedanke, dass sie Religion zeigen können sollen, indem sie sie als kulturelle Praxis repräsentieren, dass die Bedingungen der sog. Konfessionalität des Religionsunterrichts präzisiert werden können. Es kann sich hierbei nicht um die Verpflichtung auf Bekenntnisformeln handeln, auch nicht um die Identifikation mit einer Doktrin. Aber indem Lehrpersonen für den Religionsunterricht ihre Partizipationserfahrungen mit religiöser Praxis in den Unterricht einspielen, können sie Religion zeigen im Wechsel der Inszenierung binnenperspektivischer religiöser Kommunikationsmodi und deren außenperspektivischer Reflexion. Die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu setzt »Sinn und Geschmack« für Religion durch die Pflege religiöser Partizipationserfahrungen voraus. Das wiederum setzt die Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft, der der jeweilige Religionsunterricht zugeordnet ist, voraus. Zugleich kann im »Zeige«-Modus ganz generell für jeden Unterricht die unhintergehbare pädagogische Asymmetrie der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden präziser erfasst werden. Wenn die pädagogische Qualität von Unterricht gelegentlich dadurch beschworen wird, dass sich Lehrende und Lernende »auf Augenhöhe« begegnen, so ist doch, was auch immer darunter verstanden wird, zu bedenken, dass man die konstitutive Asymmetrie 26

  Die pädagogische Übergriffigkeit der Absicht, erlernbare Kompetenzen jeweils mit der Erzeugung von »Einstellungen« zu verbinden, wurde etwa in dem umstrittenen Bildungsplan von 2013 in Baden-Württemberg deutlich.

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des pädagogischen Verhältnisses nicht durch ihre Leugnung überwindet. Die Lehrkräfte haben etwas zu zeigen, weil sie kulturelle Praxen im Unterricht repräsentieren können, mit denen sie Erfahrungen verbinden, die Schüler noch nicht haben können. Es geht also nicht nur um Unterschiede in Kognitionsniveaus und Wissensbeständen, sondern im Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit einer für einen bildenden Unterricht möglichen Perspektivenübernahme. Gegenwärtig ist – weniger noch bei seriösen Erziehungswissenschaftlern als auf Bildungsmessen und in den Leitungsebenen von Schulverwaltungen – immer häufiger die Rede davon, Lehrpersonen sollten sich, u.a. unter Zuhilfenahme digitaler Medien, als »Lernbegleiter« begreifen.27 In der propagierten »neuen Lernkultur« wird das mobile Coaching-Team zum Ideal, das einer selbstständig an ihren Computern sitzenden und ihre digitalen »Arbeitsblätter« bearbeitenden Lerngruppe zur Verfügung steht. Was durch den Kampf gegen einen vermeintlich autoritären »Frontalunterricht« vermieden werden soll, kehrt durch die Hintertür zurück und wird in unpersönliche Strukturen verlagert. Es verschwinden die mit der personalen Präsenz von Unterrichtenden verbundenen Aktivitäten, die Präsenzerfahrungen und die mit persönlichem Engagement verbundenen Fähigkeiten, Sachverhalte nicht nur zu eröffnen, sondern für deren Erschließung zu begeistern. Die Lernkultur verödet mit dem Verlust der Zeigefunktion von Lehrpersonen. Ganz davon abgesehen, dass umso mehr Prämien auf privilegierte Bildungsherkünfte von Lernenden abfallen, je offener der Unterricht ist: Mit dem Verschwinden der vermeintlich autoritären Strukturen in den personalen Beziehungen wird Autorität derart versachlicht, dass sie kaum noch kritisierbar ist. Bildung wird zur Ausbildung von Sachbearbeitern und, bestenfalls, von Fachidioten.

27

  Vgl. hierzu die erfrischende Polemik von Christoph Türcke: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München 2016.

Konfessioneller Religionsunterricht – heute noch zeitgemäß? Überlegungen zum zukünftigen Religionsunterricht in der Spannung von Religion und Bildung Christian Grethlein

Sowohl in der schulischen Praxis als auch in der religionsdidaktischen Diskussion wird der konfessionelle Religionsunterricht seit längerer Zeit kritisch hinterfragt. Sog. ökumenischer Religionsunterricht ist, obgleich nicht rechtsförmig, de facto nicht nur in Förderschulen und Berufskollegs weit verbreitet, sondern ebenso in Grundschulen und an sonstigen weiterführenden Schulen anzutreffen.1 Konzeptionell führt die seit Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts allgemein gewordene Schülerorientierung ebenfalls zu kritischen Anfragen. Ist »Konfessionalität« eine angemessene Basiskategorie für einen schülerorientierten Religionsunterricht? Um diese Frage zu klären, will ich in zwei für das Themenfeld grundlegenden Schritten zuerst über die Bedeutung von Religion für die gegenwärtige Schule nachdenken und den Begriff »Bekenntnis« theologisch analysieren. Von dort aus skizziere ich unter der Leitperspektive »Bildung«2 die Herausforderungen, vor denen der Religionsunterricht allgemein gesellschaftlich und speziell schultheoretisch und -pädagogisch steht. In einem dritten Teil ziehe ich aus diesem Befund didaktische und schließlich organisatorische Konsequenzen für die Weiterentwicklung des schulischen Religionsunterrichts. Dabei steht der evangelische Religionsunterricht in Deutschland im Zentrum der Überlegungen.

1

  Vgl. zum Beispiel aus der Praxis Rudolf Tammeus: Ökumenische Perspektiven. Zur Fortschreibung des Religionsunterrichts aus der Sicht eines Fachleiters Evangelische Religion an Gymnasien, in: Bernd Schröder (Hrsg.): Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014, 135–139. 2   Vgl. Bernd Schröder: Eruditio – Unterricht – Erziehung – Emanzipation – Bildung: Wechselnde Leitbegriffe in der Geschichte der Religionspädagogik, in: Michael Domsgen (Hrsg.): Religionspädagogik in systemischer Perspektive. Chancen und Grenzen, Leipzig 2009, 47–71, vor allem 63–65.

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1. Grundlegende Klärungen –   Religion und Bekenntnis Gegenüber den grundsätzlichen Anfragen an den Religionsunterricht Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich die gesamtgesellschaftliche und damit schultheoretische und -pädagogische Sicht auf die Bedeutung der Religionsthematik verändert. Dem soll ein erster Blick gelten. Sodann will ich theologisch das Attribut »konfessionell« näher bestimmen, das gewöhnlich in Deutschland3 dem Nomen »Religionsunterricht« hinzugefügt wird.

1.1 Bedeutung von Religion in Gesellschaft und Schule In diesem Zusammenhang ist es – vor aller Aktualität4 – wichtig, an die herausgehobene Bedeutung des Religionsthemas im deutschen Grundgesetz zu erinnern. Bereits in den ersten neunzehn, die Grundrechte betreffenden Artikeln werden die Begriffe »Religion« bzw. »Glauben« mehrfach genannt (Artikel 3; 4; 7.3 GG). Diese herausgehobenen, sowohl negative als auch positive Religionsfreiheit sicherstellenden Bestimmungen in den Grundrechtsartikeln sind historisch gesehen eine Konsequenz aus den Verfehlungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaats. Dass auch der Religionsunterricht explizit und ausführlich genannt wird, ist – international gesehen – bemerkenswert. Das Bundesverfassungsgericht präzisierte am 25. Februar 1987 die damit gegebene Gestalt des Religionsunterrichts folgendermaßen: »Er ist keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe«5.

3

  Zu den einzelnen Bundesländern vgl. Martin Rothgangel/Bernd Schröder (Hrsg.): Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009. 4   Vgl. anschaulich und differenziert Michael Wermke: Religiöse Bildung in der Migrationsgesellschaft. Der Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre in der pädagogischen Bewährungsprobe, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 15 (2016), 1, 86–100. 5   Entscheidungen des Bunderverfassungsgerichts. Band 74 (1987), 252. Vgl. genauer Uta Hildebrandt: Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, 61; ebd., Anmerkung 95, auch das Zitat einer ähnlichen Feststellung in der Weimarer Reichsverfassung.

Konfessioneller Religionsunterricht – heute noch zeitgemäß? 439

Politisch steht das Religionsthema spätestens seit dem Attentat vom 11. September 2001 ganz oben auf der Tagesordnung der öffentlichen Diskussion. Schlagartig wurde deutlich, dass Religionsfrieden keineswegs selbstverständlich ist, sondern der steten Pflege bedarf. Offenkundig enthalten grundlegende Daseins- und Wertorientierungen ein gefährliches Potential. Auch pädagogisch rückte die Beschäftigung mit Religion wieder nach oben in der Liste der dringend zu bearbeitenden Themen. Vor allem die weltweiten Migrationsbewegungen bringen in die deutschen Schulen Heranwachsende mit nicht-christlichen, in den Herkunftsfamilien der Zugewanderten tief verwurzelten Formen der Daseins- und Wertorientierung. Die verschiedenen Formen des Islams und an ihn angelehnter Anschauungen sind hier am prominentesten. Von daher verwundert es nicht, dass in neueren schultheoretischen Überlegungen wieder die Eigenständigkeit einer Praxis »Religion« angenommen wird. Sie ergibt sich anthropologisch aus der Konfrontation des Menschen »mit dem Problem der Endlichkeit seiner Mitmenschen und seines eigenen Todes«6. Schließlich machen Gesellschaftsanalytiker auf die Bedeutung von Religion aufmerksam. Die 5. Mitgliedschaftsumfrage der Evangelischen Kirche in Deutschland fasst entsprechende Ergebnisse zusammen: »Die evangelische Kirche schafft scheinbar über ihre Mitglieder einen nicht unwesentlichen Fundus an religiösem Sozialkapital. […] So kann man mit etwas Pathos ohne Weiteres behaupten, dass die evangelische Kirche ein hohes Maß an ›Kitt für die Gesellschaft‹ bereitstellt.«7

1.2 Konfessionalität Es besteht juristisch weitgehendes Einverständnis darüber, dass – wie Gerhard Anschütz für die Weimarer Reichsverfassung formulierte – der schulische Religionsunterricht nach Artikel 7.3 GG »in konfessioneller Positivität und Gebundenheit«8 zu erteilen ist. Doch was ist heute – fast hundert Jahre nach diesem Zitat – genau unter »konfessionell« zu verstehen? Ein direkter Bezug auf konkrete Bekenntnisschriften verbietet sich aufgrund der Vielfalt entsprechender Bezüge in den Kirchenverfassungen bzw. -ordnungen der deutschen Landeskirchen. Sie reichen von der Confessio 6

  So vor allem Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim 62010, 22. 7   Evangelische Kirche in Deutschland: Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 115. 8   Zum Nachweis und zur Interpretation vgl. Hildebrandt: Das Grundrecht, 61.

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Augustana über Luthers Katechismen und den Heidelberger Katechismus bis zum Konkordienbuch und zur Barmer Theologischen Erklärung. Eine erkennbare Konsequenz für das kirchliche Leben haben diese unterschiedlichen Bekenntnisbezüge zudem nicht. Allerdings haben die verschiedenen Dokumente der Tradition jeweils die Bibel als grundlegenden Bezugspunkt. So muss sich jeder evangelische Religionsunterricht hinsichtlich der Bibel ausweisen. Dabei geht es nicht um eindimensionale Zitationen, sondern um den wesentlichen Inhalt der Bibel, den Luther als auf Christus gerichtet sah.9 In heutiger Sprache könnte dies als der konstitutive Bezug evangelischen Bekennens auf das Auftreten, Wirken und Geschick des Juden Jesus von Nazareth formuliert werden. Diesen Grundimpuls des Christentums brachten Paulus und die Synoptiker knapp mit »Evangelium« auf den Begriff. Betrachtet man diesen unmittelbar in das Zentrum christlichen Glaubens führenden Begriff inhaltlich näher, ergeben sich für christentumsdidaktische Überlegungen wichtige Konsequenzen: Philologisch fällt auf, dass das zu diesem Nomen gehörige Verb fast stets im Medium, einem zwischen Aktiv und Passiv stehenden Modus der griechischen Sprache, vorkommt (euangelizesthai). Bei Evangelium geht es demnach um ein Vermittlungsgeschehen, das sich erst in interdependenten Kommunikationsvollzügen erschließt. Eine diesbezügliche Analyse der Evangelien-Texte ergibt, dass Jesus in drei konkreten Modi dieses Evangelium als Anbruch der Gottesherrschaft kommunizierte:10 Er macht erstens darauf vorzüglich in Gleichnissen, aber auch in Streitgesprächen aufmerksam. In heutiger Sprache: in Lehr- und Lernprozessen. Das Evangelium wurde weiter in festlichen Mahlgemeinschaften kommuniziert. Jesus öffnete sie für sonst Ausgeschlossene wie rituell als unrein Geltende. Es handelt sich hier um den Kommunikationsmodus des gemeinschaftlichen Feierns. Schließlich eröffneten die Heilungen Jesu den Blick über die bedrückende Gegenwart hinaus auf neues gemeinschaftliches Leben. Heute kann man diesen Kommunikationsmodus als Helfen zum Leben bezeichnen.11 Nimmt man hinzu, dass in Jesu Wirken diese drei Kommunikationsmodi untrennbar miteinander verknüpft waren, ergibt sich ein den kognitiven Bereich oder gar bloße Begriffsrepetition weit übersteigendes Verständnis von Konfession bzw. Bekennen. »Konfessionell« in einem solchen auf das Evangelium bezogenen Sinn bedeutet dann, dass der Impuls durch das Auftreten, 9

    Vgl. Weimarer Ausgabe. Band 10. Zweite Abteilung (1907), 73 (Zeile 15f.).   Hier nehme ich exegetische Einsichten von Jürgen Becker: Jesus von Nazaret, Berlin 1997, 176–233, auf, die ich praktisch-theologisch ausgearbeitet habe, vgl. Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin ²2016, 256–327. 11   Vgl. zum leicht missverständlichen Begriff des Helfens Anika C. Albert: Helfen als Gabe und Gegenseitigkeit. Perspektiven einer Theologie des Helfens im interdisziplinären Diskurs, Heidelberg 2010. 10

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Wirken und Geschick des Juden Jesus aufgenommen wird. In kommunikationstheoretischer Perspektive geschieht dies im Mit- und Ineinander der drei genannten Kommunikationsmodi.

2. Herausforderungen für heutigen Religions   unterricht – in der Perspektive »Bildung« Gesellschaftliche Veränderungen und neue schultheoretische und -pädagogische Paradigmen fordern den Religionsunterricht nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich seiner konfessionellen Organisationsstruktur heraus.

2.1 Gesellschaftliche Veränderungen Die religiöse Pluralisierung in Deutschland ist unübersehbar. In Gesamtdeutschland erreicht die Gruppe der Konfessionslosen den Anteil von 40 %, gefolgt von den römisch-katholischen (ca. 28 %) und evangelischen Kirchenmitgliedern (ca. 27 %) sowie weiteren Religionsgemeinschaften (ca. 3–5 %).12 Allerdings verbergen diese statistischen Angaben die tatsächliche, in den Klassenzimmern vor Ort erfahrbare Pluralität. Zum einen gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen. In manchen Vierteln des Ruhrgebiets überwiegen in bestimmten Schularten die muslimisch geprägten Schüler, in den meisten ostdeutschen Gebieten die konfessionslosen Schüler usw. Zum anderen werden die Einstellungen der Zugehörigen zu den verschiedenen Gruppen pluraler. In Umfragen begegnen zum Beispiel evangelische Kirchenmitglieder, die nicht an Gott glauben, Konfessionslose, die regelmäßig beten, Katholiken, die an die Reinkarnation glauben, Muslime, die Alkohol trinken usw. Die überkommenen Einteilungen »katholisch«, »evangelisch«,13 »konfessionslos« und »muslimisch« verlieren hinsichtlich der konkreten Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen an Aussagewert. Religionssoziologisch bildet sich hier der Übergang zu einer Optionsgesellschaft ab, in der der »Zwang zur Häresie« die frühere Traditionsleitung ersetzt.14 Charles Taylor hat die diesbezüglichen, sich über etliche Jahrhunderte erstreckenden Prozesse kulturgeschichtlich rekonstruiert15 und damit 12

  Einzelne Angaben aus unterschiedlichen Statistiken weichen in den konkreten Prozentzahlen etwas voneinander ab, stimmen aber in der Tendenz überein. 13   Schon früher wurden die Einteilungen »evangelisch« und »katholisch« lebensweltlich anders praktiziert als in den kirchlichen Lehren; vgl. Andreas Pietsch/Barbara Stollberg-Rillinger (Hrsg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013. 14   Vgl. Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1980. 15   Vgl. Charles Taylor: A Secular Age, Cambridge in Massachusetts 2007.

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die Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung demonstriert. Demnach bestehen für die Einzelnen ebenso Freiheit wie auch Zwang, sich eine ihnen adäquate Daseins- und Wertorientierung zu wählen bzw. aus Versatzstücken zu konstruieren. Andere Entwicklungen wie der Siegeszug der elektronischen Kommunikation, verbunden mit Beschleunigung und Globalisierung, unterstützen diese Veränderung. Für Schule besteht in dieser Situation die wichtige Aufgabe, die Schüler auf ein mündiges und verantwortliches Leben in dieser Optionsgesellschaft vorzubereiten. Pädagogisch eröffnet dazu das bereits von Wilhelm von Humboldt erarbeitete Verständnis von Bildung als zur Totalität ausgebildeten Individualität einen konzeptionellen Rahmen.16

2.2 Schulische Veränderungen Die wohl größte pädagogische Herausforderung für heutige Schulen ist die zunehmende Heterogenität der Schüler bzw. vorsichtiger formuliert: die wachsende Bewusstheit hiervon.17 Schultheoretisch wird dies im inklusionspädagogischen Ansatz aufgenommen. Dessen juristische Begründung in den Menschenrechten legt nahe18 – trotz aller gegenwärtiger Irritationen bei der praktischen Umsetzung –, dass es sich hier um ein die zukünftige Schule grundlegend prägendes Konzept handelt. Es lehnt übliche Selektionen, allen voran nach kognitiver Begabung, ab. Die bisher deutsche Schulen leitende Strategie, Heranwachsende in möglichst homogenen Gruppen lernen zu lassen, wird in mehrfacher Weise kritisiert. Empirisch werden überkommene sonderpädagogische Distinktionen wie etwa die der sog. Lernbehinderung hinterfragt. Menschenrechtlich soll die Ungerechtigkeit von Exklusionen bestimmter Menschengruppen korrigiert werden. Pädagogisch flankiert der Hinweis auf die Bedeutung sozialer Kompetenz in einer pluralistischen Gesellschaft, die durch Exklusion – angeblich – Anderer konterkariert wird, die Argumentation.

16

  Vgl. grundlegend Dietrich Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim ²1995. 17   Vgl. zum Folgenden auch Christian Grethlein: Heterogenität als originär evangelische Profilaufgabe an Evangelischen Schulen, in: Ulrich Walter (Hrsg.): Gemeinsam lernen. Weggefährtinnen und Weggefährten im Gespräch mit Hans-Martin Lübking, Gütersloh 2014, 182–201. 18   Vgl. zum Beispiel Marianne Schulze: Menschenrechte für alle: Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: Petra Flieger/Volker Schönwiese (Hrsg.): Menschenrechte – Integration – Inklusion. Aktuelle Perspektiven aus der Forschung, Bad Heilbrunn 2011, 11–25.

Konfessioneller Religionsunterricht – heute noch zeitgemäß? 443

Auch die konfessionell begründeten Separationen erweisen sich in inklusionspädagogischer Perspektive als problematisch.19 Die Aufteilung von Kindern nach herkömmlich konfessionellen Kriterien, deren Anhalt an der Lebenswirklichkeit zurückgeht bzw. fehlt, behindert das gemeinsame Lernen in Fragen der Daseins- und Wertorientierung und fördert damit ein späteres friedliches Zusammenleben nicht. Ein besonderes Augenmerk muss dabei heute den in der Bevölkerung weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber Muslimen gelten.20 Inhaltlich stellt die Explosion der Wissensbestände die Schule und deren Curricula vor große Probleme. Die Stundentafeln unserer Schulen dürften schon jetzt eher zu umfangreich sein. Der Kampf der einzelnen Fachgebiete um Stunden wird sich zukünftig wohl verschärfen. Die Ausdifferenzierung des inhaltlichen Angebots ist eine mögliche Antwort auf dieses Problem. In ähnliche Richtung weisen Konzepte zur individuellen Förderung einzelner Schüler wie das sog. Drehtür-Modell. Auf jeden Fall ergeben sich daraus neue organisatorische Herausforderungen für Schule. Die Ausdifferenzierung des Religionsunterrichts gehört ebenso dazu. In Nordrhein-Westfalen werden in diesem Bereich zum Beispiel potentiell acht verschiedene Fächer angeboten.21 Dazu kommt, dass auf Schulleitungsebene zunehmend die an überkommenen Konfessionsmustern orientierten Gruppeneinteilungen nicht mehr als sinnvoll erscheinen. Welche Bedeutung haben die überkommenen Religions- bzw. Konfessionsformen für Bildung?

3. Didaktische und organisatorische    Konsequenzen für den Religionsunterricht Aus den skizzierten Veränderungen und Bestimmungen ergeben sich Konsequenzen für die didaktische Gestaltung des Umgangs mit der Religionsthematik an der öffentlichen Schule. Diese sind eng mit Fragen der Organisation des Religionsunterrichts verbunden.

19

  Vgl. Bernd Schröder: (Religiöse) Heterogenität und Binnendifferenzierung. Herausforderungen, Einsichten, Desiderate für den Religionsunterricht, in: Bernd Schröder/Michael Wermke (Hrsg.): Religionsdidaktik zwischen Schulformspezifik und Inklusion. Bestandsaufnahmen und Herausforderungen, Leipzig 2013, 381–404. 20   Vgl. Detlef Pollack/Olaf Müller: Religionsmonitor. Verstehen was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh 2013, 36–38 und 45. 21   Vgl. Franz-Heinrich Beyer: Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen, in: Martin Rothgangel/Bernd Schröder (Hrsg.): Evangelischer Religionsunterricht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Empirische Daten – Kontexte – Entwicklungen, Leipzig 2009, 237–255, 245–247.

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3.1 Didaktische Konsequenzen Drei Ebenen sind in didaktischer Perspektive zu berücksichtigen: die der Schüler, die der Inhalte und schließlich die der Gesellschaft. Zum Ersten ist Religionsunterricht nach bildungstheoretischer und religionsdidaktischer Überzeugung schülerorientiert zu gestalten.22 Dies liegt zum einen an dem besonderen Inhalt des Religionsunterrichts, der die Personmitte des Menschen und seine grundlegende Daseins- und Wertorientierung betrifft. Zum anderen legt sich die Schülerorientierung aus motivationspsychologischer Hinsicht nahe. Die lange Zeit vorherrschende dogmatische Ausrichtung des Fachs führte am Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu seiner bisher schwersten Krise. Das unter dem Vorzeichen der Schülerorientierung erfolgte didaktische Umsteuern beruhigte die Situation bis heute. Schon seit längerem liegen bundesweit nicht nur die Austrittszahlen im niedrigen einstelligen Bereich, vielmehr nehmen zahlreiche Schüler ohne Kirchenzugehörigkeit am Unterricht teil. Die Schülerorientierung des Religionsunterrichts ist also fortzuführen. Konzeptionelle Vorschläge unter den Signa »Kinder-« und »Jugendtheologie« nehmen diese Ausrichtung auf und helfen den teilweise am Beginn der Problemorientierung aufgebrochenen Hiatus zwischen heutiger Lebenswelt und biblischer bzw. christlicher Tradition zu bearbeiten. Zum Zweiten erbrachte die Näherbestimmung von »Konfessionalität« eine interessante Weitung. Unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse umfassen demnach nur einen Teil des mit »Evangelium« bestimmten Inhalts christlicher Religion. Gemeinschaftliches Feiern und Helfen zum Leben treten hinzu. Von daher ist christentumsgeschichtlich die seit etwa zweihundert Jahren zu beobachtende Konzentration religiöser Erziehung bzw. Bildung auf die Kommunikationsform des Unterrichts problematisch. Dies wird zunehmend auf Grund der Veränderungen im Bereich der Familien bewusst. Die Ausdehnung der Halbtagsschulen auf den Nachmittag bzw. ihre Umwandlung in Ganztagsschulen bieten für entsprechende Veränderungen eine besondere Chance. Diakonische und liturgische Projekte, oft in kirchlichen Schulen erprobt, sind pädagogisch attraktive Beiträge zur Schulkultur. Demnach ist die religionspädagogische Konzentration auf die konkreten Unterrichtsstunden zu erweitern.23 Liturgische Feiern und diakonische Projekte gehören ebenso in den Bereich einer am Evangelium orientierten Bildung. Sie bereichern nicht nur den in Schulstunden erteilten Unterricht, indem sie alltagsnahe 22

  Vgl. grundlegend Karl Ernst Nipkow: Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, Gütersloh 1990, 454–481. 23   Vgl. bereits Michael Wermke: Religion in Gottesdienst und Unterricht. Von den zwei Seiten einer Medaille, in: Michael Wermke (Hrsg.): Aus gutem Grund: Religionsunterricht, Göttingen 2002, 198–206.

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Konkretionen darstellen, sondern bieten auch Möglichkeiten zur Kooperation mit anderen Unterrichtsfächern. Dabei ist freilich zu beachten, dass viele liturgische Feiern an Schulen ökumenisch oder gar multireligiös profiliert sind.24 Die Übereinstimmungen zwischen dem katholischen Compassion-Projekt und dem evangelischen Diakonischen Lernen weisen in dieselbe konfessionsübergreifende Richtung.25 Drittens zeigen – wie erwähnt – empirische Umfragen, dass die christliche Daseins- und Wertorientierung eine bedeutende Ressource für zivilgesellschaftliches Engagement darstellt. Wichtige die gemeinsame Zukunft betreffende Herausforderungen, wie zum Beispiel der angemessene Umgang mit Pflegebedürftigen oder die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, erfordern einen in den Bereich der Daseins- und Wertorientierung reichenden Einsatz vieler Menschen. Dabei bezeichnet die ökonomische Herausforderung nur einen Teil der Aufgabe; die menschliche Zuwendung und die persönliche Lebenshaltung gegenüber der Mitwelt entziehen sich einem rein wirtschaftlichen Kalkül. Allerdings ist bei diesem Argument Vorsicht geboten. Denn die auf die Person gerichtete Zweckfreiheit ist ein wichtiges Kennzeichen solchen Helfens zum Leben und Umgangs mit Gottes Schöpfung. Deren Funktionalisierung – und damit potentiell Ökonomisierung – ist zu vermeiden.26

3.2 Organisatorische Konsequenzen Die überkommene Trennung der Schülerschaft im Religionsunterricht nach Konfessionen ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum Ersten setzt sie eine lebensweltlich nicht bestehende Homogenität und einen theologisch verengten Konfessionsbegriff voraus. Die Pluralisierung der Daseins- und Wertorientierung hat inzwischen die Konfessionszugehörigen selbst erfasst. Zum Zweiten wirft die konfessionelle Aufteilung im Religionsunterricht durch die ansteigende Zahl konfessionsloser27 Schüler und der Heranwachsenden mit anderer Religionszugehörigkeit schulorganisatorische Probleme 24

  Vgl. Liturgische Konferenz: Mit Anderen Feiern – gemeinsam Gottes Nähe Suchen. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz für christliche Gemeinden zur Gestaltung von religiösen Feiern mit Menschen, die keiner christlichen Kirche angehören, Gütersloh 2006, 28–33. 25   Vgl. Heinz Schmidt/Renate Zitt: Fürs Leben lernen: Diakonisches Lernen – diakonische Bildung, in: Helmut Hanisch/Heinz Schmidt (Hrsg.): Diakonische Bildung. Theorie und Empirie, Heidelberg 2004, 56–75. 26   Vgl. Martin Horstmann: Diakonische Kompetenz, in: DWI-Jahrbuch 40 (2009), 245–261, 259. 27   Vgl. zu diesem schwierigen Begriff Michael Domsgen/Dirk Evers (Hrsg.): Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext, Leipzig 2014.

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auf. Meist sind nach gegenwärtiger Rechtslage zumindest drei Lerngruppen (evangelisch, katholisch, praktisch-philosophisch o.ä.) anzubieten, mancherorts sogar mehr (etwa islamisch, alevitisch, orthodox oder jüdisch). Drittens steht die Trennung der Schüler nach Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit dem Grundansatz der Inklusionspädagogik entgegen, die Heterogenität als Lernchance und nicht als Lernhindernis sieht. Nicht zuletzt auf Grund des hohen Gutes des Religionsfriedens muss es ein Anliegen der öffentlichen Schule sein, in den respektvollen Umgang mit differenter Daseins- und Wertorientierung einzuführen. Zugleich ist aber die Alternative der Uniformierung im Sinne eines allgemeinen Lebens- und Religionskundeunterricht ebenfalls problematisch. So ist erstens Religion ein abstrakter Begriff, ohne direkten Gegenstand in der Lebenswelt. So wie Schüler nicht allgemein Sprache lernen, sondern jeweils konkrete Sprachen, ist es schwierig, allgemein Religion zu lehren.28 Didaktisch ist hier an das Prinzip der Anschaulichkeit und Lebensnähe zu erinnern. Das für Religious Education in England diagnostizierte Desinteresse der Mehrheit der Schüler bestätigt dies.29 Zweitens begegnen lebensweltlich nur konkrete Formen der Daseins- und Wertorientierung, die jeweils geschichtlich geprägt sind. Ein additives Nebeneinanderstellen verschiedener Daseins- und Wertorientierungen implizierte die Norm grundsätzlicher Relativierung. Sie steht in Spannung zum grundgesetzlich garantierten Recht der positiven Religionsfreiheit und tangiert das Erziehungsrecht der Eltern. Drittens müsste ein auf Religion im Allgemeinen bezogener Unterricht inhaltlich vom Staat verantwortet werden. Das Neutralitätsgebot stünde dabei aber in Spannung zur Aufgabe, die pädagogisch gebotene Auswahl des in einem solchen Unterricht Thematisierten und damit auch die inhaltliche Bestimmung vorzunehmen. So befriedigen weder das bisherige Modell der Konfessionalität des Religionsunterrichts noch die Einführung einer allgemeinen Lebens- und Religionskunde. Eine erste Entlastung angesichts dieser schwierigen Situation bietet die Einsicht, dass ein künftiges Organisationsmodell für den Religionsunterricht lediglich einen Rahmen abgeben kann, der vor Ort zu konkretisie-

28

  Vgl. Dietrich Benner: Bildung und Religion, in: Christof Wulf/Hildegard Macha/ Eckart Liebau (Hrsg.): Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen, Weinheim 2004, 19–36, 28. 29   Vgl. Philipp L. Barnes: Multireligiöser Religionsunterricht in England, in: Bernd Schröder (Hrsg.): Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014, 105–113, 111f.

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ren ist.30 Dies nimmt die in den letzten Jahrzehnten regional unterschiedliche Entwicklung auf. So wird in einer Region, in der die Zahl der Schüler mit einer christlichen Konfessionsangehörigkeit dominiert, die Organisation des Religionsunterrichts anders aussehen als an einem Ort, in dem mit Muslimen, Evangelischen, Katholiken und Konfessionslosen etwa gleich große Gruppen von Schülern bestehen usw. Die konkrete Organisation vor Ort wird durch die ökumenische Einsicht erleichtert, dass die verschiedenen Formen des Christentums Ausdruck von dessen seit Beginn an zu beobachtender Pluriformität, nicht aber sich exkludierende Gegensätze sind. Von daher bieten sich enge Kooperationen an. Im Württemberger Modellversuch zur konfessionellen Kooperation ergaben sich in der Praxis folgende Optionen: • »Parallelunterricht: Beide Lehrkräfte unterrichten parallel, aber mit konfessionell getrennten Schülergruppen, das gleiche Thema; sie verabreden sich zeitweise zu Phasen gemeinsamen Unterrichts.« • »Delegationsunterricht: Eine Lehrkraft unterrichtet über eine vereinbarte Zeit beide Konfessionen einer Klasse zusammen.« • »Team-Teaching: Beide Lehrkräfte unterrichten im Team eine konfessionell gemischte Religionsgruppe.« • »Wechselunterricht: Die beiden Lehrerinnen und Lehrer tauschen die Gruppen, um einen für die andere Konfession bedeutsamen Aspekt authentisch zu erfahren.« • »Wahlunterricht: Die Lehrkräfte bieten verschiedene Aspekte des Themas an, wobei die Schülerinnen und Schüler nach Interesse wählen.« • »Großgruppenunterricht: Eine Lehrkraft unterrichtet beide Religionsgruppen nach beiden Lehrplänen.«31

Solche konkreten Organisationsformen sind an folgenden komplementären Zielen zu orientieren: Die Möglichkeit zu im Unterricht erlebbarer Kooperation muss gegeben werden; die Differenzen in der Daseins- und Wertorientierung dürfen nicht ausgeblendet werden. Grundlegend für jede Kooperation im Bereich der Daseins- und Wertorientierung ist die gemeinsame Arbeit an einem schulbezogenen Rahmencurriculum der verschiedenen Formen von Religionsunterricht.

30

  So auch Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht, Bonn 2016, 25. Zugleich ermöglicht diese Erklärung auch sonst den hier empfohlenen Weg. 31   Friedrich Schweitzer/Albert Biesinger: Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg im Breisgau 2002, 90.

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Tatsächlich bestehen in einzelnen Bundesländern, seit längerer Zeit in Baden-Württemberg32 und Niedersachsen33, rechtlich verbindliche Vereinbarungen zwischen den beiden großen Kirchen zur Kooperation, die bei besonderen Gegebenheiten teilweise sogar eine Zusammenlegung des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts vorsehen. Dabei wird festgehalten, dass es sich um Religionsunterricht nach Artikel 7.3 GG handelt. Schwieriger ist die Kooperation zwischen den christlichen Formen des Religionsunterrichts und einem jüdischen, islamischen oder alevitischen Religionsunterricht. Zum einen sind hier die lehrmäßigen Differenzen erheblich größer, insofern nicht die (Altes und Neues Testament umfassende) Bibel der grundlegende normative Bezugspunkt ist. Allerdings sind mit der Hebräischen Bibel und dem Koran Bücher im Unterricht zu bearbeiten, die entweder Bestandteil der christlichen Bibel sind oder sich auf diese beziehen.34 Zum anderen sind die genannten nicht-christlichen Formen des Religionsunterrichts hinsichtlich der beteiligten Schüler (meist) kleiner und ist auch das Ausbildungssystem für Lehrkräfte weniger ausgebaut und erprobt. Von daher ist der in Fragen der Daseins- und Wertorientierung wichtige Minderheitenschutz besonders ernst zu nehmen. Doch auch hier sind am Schuljahresanfang eine Abstimmung der Lehrpläne und eine Verabredung zu gemeinsamen Unterrichtsstunden möglich. Falls die Praxis multireligiöser Feiern an der jeweiligen Schule besteht, ist dadurch bereits ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund gegeben, der auch religionsdidaktisch aufgenommen werden sollte.

32

  Vgl. a.a.O., 87–168; Joachim Weinhardt: Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht in Baden-Württemberg, in: Bernd Schröder (Hrsg.): Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014, 19–30. 33   Vgl. genauer mit Zitat der entsprechenden »organisatorischen Regelungen für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen« Christian Grethlein: Fachdidaktik Religion, Göttingen 2005, 62f. 34   Vgl. Mouhanad Khorchide: Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik, Freiburg im Breisgau 2013, 63: »Gerade Muslime und Christen sollten den Koran und die Bibel als ihre eigenen Bücher ansehen, die sich keineswegs ausschließen, sondern ergänzen.«

Dem Glauben eine neue Sprache geben Gemeindepädagogische Überlegungen zur Förderung religiöser Sprachkompetenz Matthias Hahn

Die Frage nach einer Sprach- und Literaturdidaktik für religiöse Sprache beschäftigt die Religionspädagogik spätestens seit ihrer hermeneutischen Phase. Die sprachliche Struktur selber sei ein didaktisches Phänomen, schrieb etwa der frühe Ingo Baldermann und arbeitete an den Existenzbewegungen, die sich in der Sprache vollziehen. Eine religionspädagogische Sprach- und Literaturdidaktik, die einer Fachdidaktik Deutsch vergleichbar wäre, haben die Religionspädagogen freilich noch nicht entwickelt – ein sprachdidaktisches System, das mündliches und schriftliches Sprachhandeln, den Umgang mit Texten und Medien, einschließlich Lesekompetenz, die Sprache überhaupt und die Sprachentwicklung von Kindern und Jugendlichen einigermaßen zusammenhängend in den Blick nimmt, liegt weder in der Religions- noch in der Gemeindepädagogik vor. Dabei sind die Herausforderungen riesengroß: Mitarbeitende in Kirche und Gemeinden, in Christenlehre und Konfirmandenarbeit ebenso wie Unterrichtende im Religionsunterricht der Schule klagen über die Sprachlosigkeit der Kinder und Jugendlichen und über die damit vorhandene Gottesverdunstung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, dem Glauben eine verständliche Sprache zu geben und damit in eine Phase gelingender Kommunikation des Evangeliums einzutreten.

1. Die Herausforderung: Mit Luther dem    Glauben eine verständliche Sprache geben Für den erheblichen Preis von eineinhalb Gulden wurde vor 500 Jahren die erste deutsche Über­setzung des Neuen Testaments angeboten. Das war immerhin der komplette Wo­chenlohn eines Handwerkers. Die Wittenberger Verle­ger Lucas Cranach und Christian Döring hatten eine sehr hohe Startauflage von 3.000 Exemplaren auf den Markt gebracht. Dass diese innerhalb von drei Monaten vergriffen war, deutete das »Beststeller-Potential« des »Newe Testament

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Deutzsch« an.1 Schon vorher hatte es Übertragun­gen aus elitärer lateinischer in elitäre deutsche Gelehrsamkeit gege­ben. Nun kam Martin Luther und fand, dass die Bibel ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, bei allem alles prüfend, rich­tend und erleuchtend sei. Zur Auslegung bedürfe es keiner Experten, sondern hingebungsvollen Bemühens und eines wachen Geistes. Der Theologe Luther hatte bei seiner Wortwahl die einfachen Leute vor Augen, »die mutter ihm Hause, die kinder auff der Gassen, den gemeinen mann auf dem marckt«. Und er verband seinen Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit mit starken Alliterationen, Reimen und einprägsamen Neuschöpfungen: »Stecken und Stab«, »lebt und webt«, »greußlich und scheußlich«. Oder auch: »Lückenbüßer«, »friedfertig«, »wetterwendisch«, »Machtwort«, »Feuereifer«, »Langmut«, »Lästermaul«, »Mor­genland«. Luther hat sich, so Frank Hofmann, das Übersetzen nicht leicht gemacht. Und mit jedem Wort gerungen, tage- und wochenlang. »Ave Maria, gratia plena«, sei eigentlich zu übersetzen mit »Maria voll von Gnade«. Mit »voll« aber würden die einfachen Leute einen vollen Bauch verbinden, meinte Luther, oder ein Fass voll Bier. So könne man also nicht über­setzen. Er hat dann »holdselige Maria« daraus gemacht. Damit konn­ten die Menschen eher etwas – in Luthers Sinne Richtiges – anfangen. Das geglückte Verstehen der Bibel ist nach Auffassung Luthers ein unverfügbares Werk des Heiligen Geistes. Zwischen Gottes Wort und menschlicher Sprache bleibt die Grenze des Unverfügbaren. Deshalb die Botschaften der Reformation: »Gott redet zu dir in eines Menschen Stimme« (Luther). »Wir sind geboren, einander im Gespräch mitzutei­len« (Melanchthon). Im Dialog suchen wir die Wahrheit biblischer Texte. Die theologische Leitlinie des Wahrnehmens, Verstehens und Urteilens besteht darin, zu erkennen, »was Christum treibet«. Das ist, aber es ist auch mehr, als der erkenntnistheoretisch hoch gehandelte herrschaftsfreie Dialog. Nun wird vielleicht gefragt, wo man denn suchen muss, um in der Ge­ genwart Sprachspiele zu finden, die in eine ähnlich reformatorische Richtung weisen. Vor einigen Jahren wäre dazu auf Ernesto Cardenal (geb. 1925) und das Evangelium der Bauern von Solentiname zu verweisen gewesen, die in ihren Gesprächen und ihrer politischen Theologie auch sozialge­schichtlich ganz nah dran am Neuen Testament waren. Heute wäre stärker unsere Situation zu bedenken. Vieles kann dabei von dem aus Laien und Theologen bestehenden Hamburger Verein »andere Zeiten« gelernt werden, von den Ge­schichten, Bildern und Gedichten, die dort publiziert werden und eine Sprachheimat für Menschen darstellen, die auf der Suche sind – wie auch die Frau aus der folgenden Geschichte mit dem Titel »Wo ist Gott?«: 1

  Vgl. hier und im Folgenden Frank Hofmann: So redet Gott zu dir, in: Andere Zeiten. Magazin zum Kirchenjahr 17 (2016), 3, 8f.

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»Es war einmal eine gläubige und fromme Frau, die Gott liebte. Jeden Morgen ging sie in die Kirche. Unterwegs riefen ihr die Kinder zu, Bettler sprachen sie an, aber sie war so in sich versunken, dass sie nichts wahrnahm. Eines Tages ging sie wie immer die Straße hinab und erreichte gerade rechtzeitig zum Gottesdienst die Kirche. Sie drückte an der Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Sie versuchte es heftiger und fand die Tür verschlossen. Der Gedanke, dass sie zum ersten Mal in all den Jahren den Gottesdienst versäumen würde, bedrückte sie. Ratlos blickte sie auf und sah genau vor ihrem Gesicht einen Zettel an der Tür. Darauf stand: ›Ich bin hier draußen!‹«2

2. Wahrnehmungen: »Sprachkrise im ›Theotop‹« »Ich bin hier draußen« – in den christlichen Kirchen sind ja wirklich allzu oft Türen verschlossen und es gibt mannigfaltige Schwierigkeiten bei der Kommunikation des Evangeliums. Die Kirche erreicht mit ihrer Spra­che die Menschen nicht mehr. So beklagt die Berliner St. Marien-Gemeinde Probleme bei der Ver­wendung des »Kleinen Katechismus« im heutigen kirchlichen Unterricht. Die wunderbare, kraftvolle Sprache Luthers werde von den Konfir­ manden einfach nicht mehr verstanden, die sprachliche Entfremdung von Luther habe sich in den letzten Jahrzehnten massiv beschleunigt. Dies würde die Unterrichtenden in die missliche Situation bringen, dass sie den Konfirmanden den Wortlaut des Katechismus selber erst einmal erklären müssten.3 Ja, so ist das, kann man wohl sagen. Nur: Haben jetzt die Jugendli­chen Defizite, weil sie eine jahrhundertealte Sprache nicht mehr ver­stehen, oder haben die Erwachsenen verlernt, so mit den Jugendli­chen zu reden, dass sie Freude am theologischen Gespräch haben und ihre Kompetenzen abgelockt werden? Um wessen Sprachkom­petenz geht es eigentlich? Einer, der es bei der Auseinandersetzung mit kirchlicher Sprache bis in die Bestseller-Liste des »Spiegel« und auf die Verkaufstresen von Bahnhofsbuchhandlungen gebracht hat, ist der Kommunika­tionsberater Erik Flügge. Flügge sagt selber, er habe keine fertigen Antworten. Aber er bringt eine Reihe von Beispielen gelungener Sprachspiele. So nimmt er ein Wort zum Sonntag aus dem Jahr 2014 (gehalten vom ehemaligen Berufsschul­pfarrer und Präses der westfälischen Synode Alfred Buß) zum Anlass für kritische Einwände. So viel: Im August 2014 diskutierte Deutschland die Frage, ob man im Nahen Osten intervenieren und der Peschmerga Waffen gegen den 2

  N.N.: Wo ist Gott?, in: Hanno Herbst/Vera Herbst (Hrsg.): Weisheitsgeschichten. Kurzgeschichten mit viel Sinntiefe zum Nachdenken und Nachspüren, Ettringen 2017, 99f. 3   Vgl. Evangelisch-lutherische St. Mariengemeinde: Vorgeschichte und Sinn des Katechismus, online: www.lutherisch.de/index.php/glaube/vertiefung/luthers-kleiner-katechismus/61-vorgeschichte-und-sinn-des-katechismus (15. Juli 2017).

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Islamischen Staat liefern solle. Dies hätte mit Sicher­heit das Anschlagsrisiko bei uns erhöht, andererseits konnte man die nicht allein lassen, die sich gegen Terroristen und das mörderi­sche Assad-Regime stellten. Buß stellt die Situation dar, er zieht die Zuhörer durch Verweise auf das Alltagsleben von Kindern in seine Pre­digt ein. Er schließt mit diesen Sätzen: »Frieden ist der Ernstfall überall auf der Welt. Darum müssen Kinder ihn spielen lernen und Erwach­sene alle Wege wirklich gehen, die zum Frieden führen.«4 Flügge nun würdigt zunächst Prediger und Predigt, ernst und ehrlich klinge, was diese sage. Aber sie sei zu schön. Welche Wege es denn seien, die wir als Erwachsene gehen sollen, wie man Frieden spielen könne, wenn die anderen Krieg spielten? Und dann kommt eine These, die plausi­bel hergeleitet ist: Das Problem mit vielen Predigten sei, dass alles zu einfach sei. Die Predigten, so Flügge, seien zu sehr ins Gelingen verliebt.5 Wie hätte die Predigt von Alfred Buß denn enden könne, mag man Flügge fragen. Etwa so, würde er antworten: »Vielleicht geht einer von Ihnen zum Friedensgebet. Denn in dem Moment, in dem wir verzweifelt nicht wissen, was das Richtige ist, ergibt das Beten einen Sinn. Nicht das Beten dafür, Gott möge einen Krieg stoppen, sondern das stille Beten dafür, dass in mir eine Stärke zur gerechten Entscheidung erwächst.«6

Das wäre keine fertige Antwort. Aber ein Eingeständnis wie bei Pau­lus: »Nicht dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es ergreifen möchte, darum, dass ich auch ergriffen bin« (Phil 3,12). Ein Verweis darauf, dass wir eine Ge­meinschaft der Suchenden sind. Eine »Sprachkrise im ›Theotop‹« macht auch Georg Langenhorst aus.7 Er geht dabei mehr in die Tiefe als Flügge. Für sich genommen greife der Begriff der Sprachkrise zu kurz, man müsse von einer grundsätzlichen Ohnmachtspirale religiöser Rede ausgehen: »Wie soll ich in Sprache fassen, was ich letztlich nicht ver­stehe?« Und: »Wie soll ich verstehen, wofür ich letztlich keine Sprache habe?« Auch Langenhorst arbeitet mit Beispielen und fragt, wie sich die Beg­riffe »Erlösungsbedürftigkeit« und »Erlösung« heute so fassen lassen, dass sie uns etwas zu sagen haben. Uns, in unserem kleiner werden­den »Theotop« von 4

  Alfred Buß: Wort zum Sonntag, 9. August 2014, zitiert nach Erik Flügge: Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 22016, 57f. 5   Vgl. a.a.O., 59. 6   A.a.O., 63. 7   Vgl. Georg Langenhorst: Sprachkrise im ›Theotop‹? Zur Notwendigkeit radikaler Neubesinnung religiöser Sprache, in: Religionspädagogische Beiträge 69 (2013), 65–76.

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Theologen, Gemeindepädagogen, Kirchenmusikern und Diakonen, dessen Regeln zwar theologisch gut gehütet, aber kaum nach außen kommuniziert werden. In dem die Binnenverständi­gung immer weniger funktioniert und religiöse Wahrheit an Bedeutung und praktischer Lebensrelevanz verliert. Erlösung – das »Kleine Theologische Wörterbuch« von Karl Rahner und Herbert Vorgrimler nähert sich dem Begriff so: Der Mensch ist »erlösungsbedürftig […] zuerst u. zuletzt von seiner Schuld. Diese Schuld (die erbsündliche Schuldsituation u. die Tat der einzelnen Freiheit) ist vom Menschen unaufhebbar. […] Schuld ist das freie […] Nein zu Gottes unmittelbarer intimer Liebe im Angebot seiner Selbst­mitteilung durch die ungeschaffene, vergöttlichende Gnade«8. Dass solche Ausführung der Entwertung des Begriffes »Erlösung« wenig entgegensetzt, vielmehr selber dazu beiträgt, liegt auf der Hand. Wie könnte, so fragt Langenhorst, Erlösung denn auch anders ver­standen und erklärt werden? In gebotener Kürze: Lan­genhorst nimmt Anleihen aus der Theologie und der jüdischen Religi­onsphilosophie und meint mit Martin Buber: »Jeder Mensch hält Aus­schau nach einem Menschen, der ihm das Ja des Seindürfens zu­spricht«9. Das klingt auch nicht viel einfacher, meint aber folgendes: Das »Ja des Seindürfens« suchen wir Menschen nicht nur im anderen Menschen, es ist genau dieses »Ja«, das Gott uns immer wieder zuspricht, sei es in der Schöpfungsgeschichte, in der Befreiung des Exodus, in den Seligpreisungen der Bergpredigt, in dem Versprechen der Auferste­hung… Eine tiefe und grundlegende Sehnsucht nach Bestätigung der eige­nen Existenz verspüren insbesondere Kinder und Jugendliche. Die Peergroup ist die Gruppe Gleichaltriger, die einen anschaut und von der man wahrgenommen werden will (to peer: starren, genau an­schauen). Das ist das Grundlebensgefühl Jugendlicher: Ihr Sein soll wahrgenommen werden. So könnte man Erlösungsbedürftigkeit verstehen als Wunsch, ein Leben in dem Gefühl zu leben, dass man wahrgenommen wird, wichtig ist und etwas gilt. Dieses Wahr- und Annehmen kann von liebenden Menschen fragmentarisch (Henning Luther) geleistet werden. Erlösung wäre dann darin zu verstehen, dass Gott den Menschen wahrnimmt und ansieht. Vom Erlöser Jesus ließe sich der liebende Blick lernen auf Kinder, auf Jugendliche, auf Men­schen, die nach Wahrnehmung hungern. Vom Erlöser Jesus lässt sich die Zusage lernen, dass Gott als unser Vater uns sieht und annimmt. Neue sprachliche Affirmationen, neue Wege des Bezeu­gens, das ist es, was Georg Langenhorst in seiner Religionspädago­gik wichtig findet, neue Wege, positiv vom christlichen Glauben zu sprechen. 8

  Karl Rahner/Herbert Vorgrimmler: Kleines Theologisches Wörterbuch, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 121980, 110. 9   Langenhorst: Sprachkrise, 72.

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3. Religions- und gemeinde   pädagogische Ansätze So weit die Wahrnehmungen. Die Reihe der Beispiele kann abgebro­chen werden, weil deutlich geworden ist: Kirche hat ein erhebliches Kommunikationsproblem, in dem es nicht damit getan ist, mangelnde Sprachkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu beklagen. Das Problem fällt auf die Sprachfähigkeit der Erwachsenen zurück. Im Folgenden seien daher vier An­sätze aus Religions- und Gemeindepädagogik vorgestellt, mit der religiösen Sprachkrise in Gemeinde und Schule umzugehen. Die Auswahl ist nicht ganz willkürlich; es ging darum, wirkmächtige Zugangsweisen zur religiösen Sprache in konzeptioneller und Forschungsarbeit aufzuzeigen, die wesentliche Teilbereiche einer religiösen Sprach- und Literaturdidaktik abdecken. Dass es eine Auswahl ist, erkennt man schnell, wenn man einen Blick auf die profunden und vielfältigen Beiträge der interdisziplinären Tagung »Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht« 2017 in Erfurt wirft, die die Forschungsstelle des Martin-LutherInstituts der Universität Erfurt ausgerichtet hat.10

3.1 Elementarisierung Das Tübinger Modell der Elementarisierung und seine fünf Dimensionen der elementaren Wahrheiten, Zugänge, Methoden, Erfahrungen und Lernwege 10

  Vgl. Andrea Schulte: Interdisziplinäre wissenschaftliche Tagung »Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht. Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht« (25.– 27.01.2017 in Erfurt), online: www.thlz.com/kongressberichte.php?id=21 (2. Mai 2017): »Sektion 1 (Das treffende Wort finden – Religionspädagogische Herausforderungen zwischen Sprachschulung und Übersetzung) stand unter der Leitfrage ›Was bedeutet religiöse Sprachbildung, wie sie als Bildungsauftrag an den Religionsunterricht landauf landab in den Lehrplänen formuliert ist und wie Martin Luther sie durch seine Bibelübersetzungen verstanden hat?‹ Sektion 2 (Sprachfähig werden zu wollen ohne sprachfähig werden zu können? – Die religionspädagogische Dialektik des religiösen Spracherwerbs) stand unter der Leitfrage ›Was bedeutet es, Kinder und Jugendliche respektive Schülerinnen und Schüler sprach- und auskunftsfähig in ›Sachen Religion‹ zu machen, so wie gegenwärtig eines der prominentesten Kompetenzziele benannt wird?‹ Sektion 3 (Neue Wege gehen – Unterrichtssprache und Kommunikation über Religion im Unterricht) stand unter der Leitfrage ›Was bedeutet es, Kommunikation über Religion in einem pluralitätsoffenen Religionsunterricht anzubahnen und welche Bedeutung kommt dabei der Unterrichtssprache respektive der Lehrersprache im Unterricht zu?‹ Sektion 4 (Chancen und Grenzen religionspädagogisch orientierter Sprachbildung in der Gegenwart) stand unter der Leitfrage ›Was bedeutet es, religiöse Sprache unter Berücksichtigung sprachlicher Fremdheit in die Gegenwart zu transformieren?‹«

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ist bekannt. Hier sei dabei nicht auf Unterrichtsvorbereitung, sondern auf Spracherwerb fokussiert. Und damit auf die Elementarisierung Ingo Baldermanns, der im evangelischen Raum die theologische Ikone einer biblischen Didaktik als Sprachlehre ist. Von ihm war ja schon vorhin die Rede. Seine Beispiele biblischer Impulse für eine Sprache der Angst und der Hoffnung sind Legende, so in seinen Publikationen »Wer hört mein Lachen und mein Weinen?« und »Der Gott des Friedens und die Götter der Macht«. Hoffnung, Gerechtigkeit und Ver­söhnung sollten die Jugendlichen durch seine Publikationen lernen. Und immer wieder taucht die Suche nach elementaren Sprachmus­tern der Bibel auf, die sich in der Lebenswelt von Kindern und Ju­ gendlichen wiederfinden lassen sollen: »Ich habe mehr Feinde als ich Haare auf dem Kopf habe.« »Ich versinke in tiefem Wasser, wo kein Grund ist.« »Sie aber stehen da und schauen auf mich herab.« »Du bist wie die Sonne und wärmst uns.« Das sind Sätze, die Baldermann aus den Psalmen zieht und mit Kindern und Jugendlichen bearbeitet. Was könnte jemand erlebt haben, der so einen Satz sagt? Was will er uns sagen? Wie könnten wir ihm antworten? Religiöse Bildungsarbeit in Schule und Gemeinde wird auf diese Weise eine elementare biblische Sprach­lehre. Sie bietet das Vokabular, um große Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Im Prozess der Gegenwärtigung biblischer Texte erfindet Baldermann auch neue Übertragungen. So wird zum Beispiel aus dem barmherzigen Samariter ein helfender Ausländer – und aus dem biblischen Text ein Gebrauchstext, der eine emotionale, gedankliche und sprachliche Heimat bietet. Der Aachener Religionspädagoge Rai­ner Oberthür hat diesen Gedanken aufgenommen und in Beziehung zu Maria Montessoris Konzept Freier Arbeit gesetzt.11 Auch hier können die Kinder eine biblische Sprache für Situationen finden, wenn sie traurig und allein sind, Angst haben und erschrocken sind, Schmerzen haben und tot sein wollen, mutlos sind und sich nichts zutrauen, wü­tend sind und sich beklagen, angenommen sind und vertrauen, sich freuen und glücklich sind. Die 150 zu diesen existentiellen Grundbe­findlichkeiten ausgewählten Psalm-Sätze werden in unterschiedlichen Sozialformen, auf unterschiedlichen Lernwegen und mit abwechs­lungsreichen Methoden bearbeitet. Was Kinder im Grundschulalter in diesem Prozess für ihre Sprache lernen können, deuten eige­ne Psalm-Sätze von 10jährigen an: »Ich fühle mich wie die Säule eines alten Theaters, das niemand mehr besucht. Meine Eltern haben mich verlassen. Ich bin allein. Ich fühle mich wie ein ausgetrockneter Füller, mit dem trotzdem ge­schrieben wird.«12

11

  Vgl. Rainer Oberthür/Alois Mayer: Psalmwort-Kartei. In Bildworten der Bibel sich selbst entdecken, Heinsberg 1995. 12   A.a.O., o.P.

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Man spürt geradezu die Stärke dieses Ansatzes: Mit Blick auf die Ver­ stehenswelt von Kinder- und Jugendlichen werden Textsegmente iso­liert und für einen Dialogprozess zur Verfügung gestellt. Damit können ausgezeichnet erste »Inseln« zum Verständnis biblischer Texte angelegt werden. Komplexere Formen wie Gleichnisse, Wundergeschichten, Briefliteratur, Geschichten, Argumentationen bedürfen jedoch noch weiter führender Überlegungen. Was es bedeutet, religiöse Sprache unter Berücksichtigung sprachlicher Fremdheit in die Gegenwart zu transformieren und wie religiöse Sprache unter Berücksichtigung sprachlicher Fremdheit in die Gegenwart transformiert werden kann – diese sprachdidaktischen Überlegungen stehen bei Baldermann nicht im Fokus.

3.2 Religiöse Sprachlehre Mit seiner religiösen Sprachlehre legte der katholische Religionspä­dagoge Hubertus Halbfas ein grundlegendes literaturwissenschaftli­ches und literaturdidaktisches Werk vor, das den Weg der Sprache und ihre biblische sowie dogmatische Verwendung nachzeichnet. Damit wird eine eindrucksvolle Religionsdi­daktik entwickelt. Halbfas zielt vom Theorieansatz mehr auf die Lehre als auf das Lernen ab – wiewohl er der einzige Religionspädagoge sein dürfte, der zehn Schulbücher und zehn Lehrer­handbücher für den Religionsunterricht publiziert hat. Halb­fas kann man in der hier nötigen Kürze nicht gerecht werden, daher seien nur einige seiner auf das hiesige Thema bezogene sprach- und literaturdidakti­sche Grundüberzeugungen vorgebracht, die auf die Symboldidaktik als Kern sei­ner religionspädagogischen Sprachlehre fokussiert sind. Symbole, so Halbfas, seien die Sprache der Religion. Symboldidaktik verweise auf eine gemeindliche und schulpädagogische Infrastruktur, die einen handlungsbezogenen, sinnenhaften Unterricht in Schule und Gemeinde möglich macht. Sie erfordere einen narrativen Unterricht und führe so von der sog. ersten zur zweiten Naivität. Von einem vorkritischen unmittel­baren Symbolverstehen führe sie also zu einem mehrdimensionalen und nach Kritik neugewonnenen Symbolverstehen. Halbfas geht es um die Einübung eines inneren Symbolsinns der Wirklichkeit. Die Fähigkeit des Menschen zur Symbolisierung soll gefördert werden. Jede einfache Symbolerklärung greife, weil rational, zwangsläufig zu kurz. An­gestrebt ist daher kein Unterricht über, sondern ein Unterricht mit Symbolen in ständig neuen sinnenhaften Zugängen und Umkreisun­gen. Halbfas symboldidaktisches Konzept baut auf das lebendige Er­zählen und Interaktion, auf die Sprache der Träume, auf die in Mythen und kunsthistorischen Werken enthaltenen Urbilder, auf die Symbol­sprache der Bibel.

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Auch wenn im Mittelpunkt der folgenden Geschichte ein echter Macho vom Typ »Haben« auf eine schöne junge Frau vom Typ »Sein« trifft – sie ist großartig, weil sie eine phantastische Erklärung für den Begriff »Religion« mit seinen sichtbaren und unsichtbaren Seiten bringt. Sie ist dem Religionsschulbuch von Hubertus Halbfas für das 5./6. Schuljahr entnommen und heißt »Der Korb mit den wunderbaren Sachen«. »Es war einmal ein Mann, der hatte eine wunderbare Rinderherde. Alle Tiere trugen ein schwarzweißes Fell; das war geheimnisvoll wie die Nacht. Der Mann liebte seine Kühe und führte sie immer auf die bes­ten Weiden. Wenn er abends die Tiere beobachtete, wie sie zufrieden waren und wiederkäuten, dachte er: ›Morgen früh werden sie viel Milch geben!‹ Eines Morgens jedoch, als er seine Kühe melken wollte, waren die Euter schlaff und leer. Er glaubte, es habe an Futter gefehlt, und führte seine Herde am nächsten Tag auf saftigen Weidegrund. Er sah, wie die Kühe sich satt fraßen und zufrieden waren, aber am fol­genden Morgen hingen die Euter wieder schlaff und leer. Da trieb er sie nochmals auf eine neue Weide, doch auch diesmal gaben sie keine Milch. Jetzt legte er sich auf die Lauer und beobachtete das Vieh. Als um Mitternacht der Mond weiß am Himmel stand, sah er, wie sich eine Strickleiter von den Sternen heruntersenkte. Auf ihr schwebten sanft und weich junge Frauen aus dem Himmelsvolk herab. Sie waren schön und fröhlich, lachten einander leise zu und gingen zu den Kü­hen, um sie leer zu melken. Als der Hirt das sah, sprang er auf und wollte sie fangen. Die Frauen aber stoben auseinander und flohen zum Himmel hinauf. Es gelang ihm aber, eine von ihnen einzufangen, die allerschönste. Er behielt sie bei sich und machte sie zu seiner Frau. Täglich ging von da an seine Frau auf die Felder, während er weiter­ hin das Vieh hütete. Die gemeinsame Arbeit machte sie reich, und er dünkte sich glücklich. Eines aber quälte ihn: Als er seine Frau einge­fangen hatte, trug sie einen Korb bei sich. ›Niemals darfst du da hin­einschauen!‹, hatte sie gesagt. ›Wenn du es dennoch tust, wird uns beide großes Unglück treffen.‹ Nach einiger Zeit vergaß der Mann sein Versprechen. […] Als seine Frau heimkehrte, wusste sie sofort was geschehen war. Sie schaute ihn an und sagte weinend: ›Du hast in den Korb geschaut!‹ Der Mann aber lachte nur und sagte: ›Du dummes Weib, was soll das Geheimnis um diesen Korb? Da ist ja gar nichts drin!‹ Aber noch während er dies sagte, wendete sie sich von ihm ab, ging in den Sonnenuntergang und ward auf Erden nie wieder gesehen. Und wisst ihr, warum sie wegging? Sie ging nicht, weil er sein Ver­sprechen gebrochen hatte; sie ging, weil er die schönen Sachen, die sie für ihr beider Leben vom Himmel mitgebracht hatte, nicht sehen konnte und darüber sogar noch lachte.«13

So schön das jetzt auch ist und so gespannt alle zuhören, wenn solche Märchen erzählt werden – was diese Didaktik außen vor lässt, ist die Mathetik. 13

  Hubertus Halbfas: Religionsbuch für das fünfte und sechste Schuljahr, Düsseldorf 1989, 22 (ohne Absatzformatierungen).

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Sie zielt auf Lehrkunst und nicht auf Lernkunst. Diese würde noch stärker auf Lernen im konstruktivistischen Verständnis abzielen und religiösen Spracherwerb als aktiven, selbst-organisierenden (autopoietischen) Prozess verstehen, bei dem die je eigenen Wirklichkeiten des Individuums von diesem selbst konstruiert werden.

3.3 Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Wer vom Theologisieren spricht, muss erwähnen, dass am Anfang das Philosophieren stand. Beide Varianten sind aus spannenden Gesprächen mit Kindern hervorgegangen. Beim Philosophieren mit Kindern werden ganz verschiedene Akzente gesetzt. Matthew Lippman geht es um Denkschulung, um die Denkfähigkeit der Kinder, um ihre Fähigkeit Fragen zu stellen, Begründungen heraus zu finden, sie zu analysieren und zu beurteilen sowie Zusammenhänge zu erkennen. Gareth B. Matthews betont mehr das Gespräch und die Fähigkeit der Kinder, selbst kluge Gedanken entwickeln und besprechen zu können. Hans-Ludwig Freese geht aus von der Fähigkeit der Kinder zu staunen und sich zu wundern. Er bevorzugt Gedankenexperimente wie »Was wäre, wenn niemand mehr sterben würde?«14 Das Philosophieren folgt dem Leitbild des »sokratischen Gesprächs« im Sinne von Plato. Der Mäeutiker, also der, der das Wissen ablockt, gibt das Thema vor, bringt eine Geschichte ein, stellt eine Frage oder eine Denkaufgabe, lenkt zu Wahrnehmungen, doch dann begnügt er mit Nachfragen, Zusammenfassungen und Zuspitzen. Er soll nicht inhaltlich steuern, wohl aber soll er zur Klarheit des Denkens und Redens anleiten, indem er selbständiges Dialogverhalten ermöglicht. Ähnlich geht es beim Theologisieren um ein nachdenkliches Gespräch mit Kindern und Jugendlichen über Fragen und Themen der Religion, des Glaubens und der Theologie. Hartmut Rupp formuliert anschaulich: »Es geht um das Hin- und Herwälzen von schwierigen theologischen Gedanken.«15 Das Theologisieren wird dabei in drei Richtungen ausdifferenziert. Es geht 14

  Vgl. u.a. Barbara Brüning: Philosophieren in der Grundschule, Berlin 2001; Alexander Engelbrecht: Können Blumen glücklich sein?, Heinsberg 1997; HansLudwig Freese: Abenteuer im Kopf, Weinheim 1996; Hans-Ludwig Freese: Kinder sind Philosophen, Weinheim 1996; Ekkehard Martens: Sich im Denken orientieren, Hannover 1990; Gareth B. Matthews: Denkproben, Berlin 1991; Gareth B. Matthews: Philosophische Gespräche mit Kindern, Berlin 1993; Eva Zoller Morf: Die kleinen Philosophen, Zürich 1991; Eva Zoller Morf: Philosophische Reise, Zürich 1998; Helmut Schreier (Hrsg.): Mit Kindern über Natur philosophieren, Heinsberg 1997. 15   Hartmut Rupp: Philosophieren und Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen, online: www.pb.seminar-albstadt.de/projekte/forum2009/Philosophieren_ und_Theologisieren.pdf, 6 (15. Juli 2017).

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um erstens die Theologie von Kindern und Jugendlichen, zweitens die Theologie mit Kindern und Jugendlichen und schließlich drittens die Theologie für Kinder und Jugendliche. Theologisieren ist nach Rupp das gemeinsame Nachdenken über die eigenen grundlegenden Selbst- und Weltsichten sowie die Vorstellungen guten Lebens in Rückbezug zur biblisch christlichen Tradition. Gott ist dabei so etwas wie ein Kristallisationspunkt, an dem sich das ganze System ausrichtet, auch wenn es selber uneinheitlich ausfallen kann. Bei Gott geht es ja um das, was mich unbedingt angeht. Erst so, durch den Rückbezug auf Gott, wird aus dem nachdenklichen Gespräch ein Theologisieren. Dazu bringt Rupp vier Beobachtungen: • Von Gott wird mit erkennbarem Einverständnis gesprochen. Das schließt die Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden nicht aus. Das Gespräch ist getragen von der Annahme, dass Gott da ist und eine Bedeutung für das eigene Leben hat. Ergebnisse der Kinder- und Jugendforschung weisen darauf hin, dass hier nach sozialen, schulischen, gemeindlichen und medialen Kontexten differenziert werden muss. • Von der Bibel wird viel erwartet. Auch wenn Bibel und Religion mit zunehmendem Alter als uncool bewertet werden, wird der Auseinandersetzung mit der Bibel viel zugetraut: Antworten auf Fragen nach der (eigenen) Identität, nach Geheimnissen des Unendlichen/Unvorstellbaren, nach Problemen des Zusammenlebens, nach Zukunftsängsten, Kriegen, Katastrophen, nach Trauer, Krankheit, Sterben und Tod, nach einem Leben nach dem Tod, nach der Entstehung von Sprache sowie nach der Existenz und Wirklichkeit von Gott. • Es besteht großes Interesse an existentiellen Erfahrungen und persönlichen Deutungen. Es geht zum Beispiel nicht bloß darum, was Engel sind, sondern auch wo und wie ich Engel erfahren habe und wie ich selber aufgrund dieser Erfahrung mich selbst und die Welt sehe und wie ich darüber spreche. Es geht gerade auch darum, welche Gefühle das bei mir auslöst und welche Rolle diese Gefühle in meinem Leben spielen. • Es geht um »existenzielle Vergewisserung und damit um das Angebot tragender, ermutigender, orientierender Vorstellungen. Es geht um Bilder, die stark und mutig machen. Es geht um Vorstellungen, die ein positives Selbstkonzept und ein Kohärenzgefühl begründen können.«16

Inzwischen sind reiche und vielfältige Ansätze zum Theologisieren in Kindergärten, Schulen und Gemeinden entstanden.17 Besonders positiv ist da16

  Ebd.   Vgl. u.a. Anton A. Bucher (Hrsg.): Jahrbuch für Kindertheologie, Stuttgart 2002ff.; Gerhard Büttner/Petra Freudenberger-Lötz/Christina Kalloch/Martin Schreiner (Hrsg.): Handbuch Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, Stuttgart 2014; John Martin Hull: Wie Kinder über Gott reden, Gütersloh 1997; Rainer Oberthür: Kinder und die großen Fragen, München 1995; Annike Reiß:

17

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bei die Bedeutung des Ansatzes für eigenständiges Denken und Fragen, für die Herausbildung oder Stärkung eine Sprache über und mit Gott und einer Sprache für die großen Gefühle zu würdigen. Das Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen fördert deren Kommunikations- und Dialogfähigkeit, es betrachtet ihre Sprache nicht als defizitär, sondern geht davon aus, dass sie bereits über theologische Einsichten verfügen, die im Gespräch mit ihnen und durch Impulse für ihre Theologie weiterentwickelt werden können. Beim Theologisieren wird der Aspekt der Theologie für Kinder und Jugendliche erst allmählich sichtbar. Hier sei nicht die Anmaßung vollzogen, Erfolg oder Misserfolg dieser Überlegungen zu beurteilen. Das muss gründlichen, empirisch abgesicherten Evaluationen vorbehalten bleiben, die – so der Eindruck – in der Religionspädagogik bislang eher gescheut werden.

3.4 Korpuslinguistik Mit der Methode der Korpuslinguistik in der Fachdidaktik Religion können Zu­gänge zur »großen Unbekannten der Sprache« (s.u.) entdeckt und verlässli­ ches Wissen über Struktur und Eigenart der (fachspezifischen) Kinder- und Jugendsprache gewonnen werden. Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Überlegungen deutet sich somit ein Perspektivwechsel zu empirischer Forschung an. Korpuslinguistik im Sinne Stefan Altmeyers verfolgt das Ziel, einen konkret umrissenen Sprachgebrauch metho­disch abgesichert zu beschreiben und Hypothesen bezüglich der Merkmale dieser Sprache zu bilden. Nicht die Kompetenz des sprach­lichen Wissens eines Sprechers ist der entscheidende Zugang zum sprachlichen Verstehen, sondern die Beziehung zwischen Form, In­halt und Kontext konkreter Äußerungen. Wie funktioniert das? Wie sucht Altmeyer nach der religiösen Sprache der Jugendlichen?18 Man soll etwas glauben, was man nie gesehen hat: Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik, Kassel 2015; Hartmut Rupp: Theologisieren mit Jugendlichen, Stuttgart 2008; Friedrich Schweitzer: Was ist und wozu Kindertheologie?, in: Jahrbuch für Kindertheologie 2 (2003), 9–18; Mirjam Zimmermann: Kindertheologie, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon, online: www. bibelwissenschaft.de/stichwort/100020 (8. Oktober 2017). 18   Vgl. Stefan Altmeyer: Die (religiöse) Sprache der Lernenden. Sprachempirische Zugänge zu einer großen Unbekannten, in: Michael Becker-Mrotzek/Karen Schramm/ Eike Thürmann/Helmut J. Vollmer (Hrsg.): Sprache im Fach – Sprachlichkeit und fachliches Lernen, Münster 2013, 365–379; Stefan Altmeyer: »Es gibt keine Sprache mehr für diese Dinge« (Bruno Latour). Vom Gelingen und Scheitern christlicher Gottesrede, in: Stefan Altmeyer/Gottfried Bitter/Reinhold Boschki (Hrsg.): Christliche Katechese unter den Bedingungen der »flüchtigen Moderne«, Stuttgart 2016, 75–84; Stefan Altmeyer/Dieter Hermann: Mit Freunden über Gott reden... Religiöse Kommunikation vor dem Übergang von der Kindheit zum Jugendalter, in: Stefan Altmeyer/

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Das erste Beispiel zielt auf die persönlichen Gottesvorstellungen. Ba­sis dafür sind 2.186 Texte, die Jugendliche auf die Frage »Was sagt mir, Gott…?« geschrieben haben. Diese Texte wurden zunächst einer Schlüsselwortanalyse unterzogen, also quasi der Erstellung einer Wortwolke. Der Größe der Darstellung der Buchstaben entspricht dabei die quantitative Nennung des Begriffes. Man kann die gefundenen Wörter vorab sortieren, im Falle dieses Beispiels wurden die dreißig am häufigsten genannten Nomen ausgewählt. Was fiel auf? Mit den auffällig signifikanten Schlüsselwörtern »Hoffnung«, »Gebor­ genheit«, »Kraft«, »Halt« und »Hilfe« auf der einen und »Leid«, »Tod« sowie »Probleme« auf der anderen Seite griffen die Jugendlichen auf eine Sprache zurück, die es ihnen ermöglicht, Gott im eigenen und im Le­ben anderer zu verorten. Erste Merkmale ihrer religiösen Sprache werden deutlich. Ein selektives theologisches Kernvokabular wird be­nutzt, zudem wird anschaulich, in welchen Kontexten Jugendliche von Gott reden. So entsteht ein vorerst grobes Bild, das durch andere kor­puslinguistische Verfahren verfeinert werden kann. Hierzu werden der unmittelbare Kontext (Wortumfeld) eines Begriffes und damit seine mikrologischen Gebrauchsmuster untersucht. Das gemeinsame Vorkommen zweier Wörter nennt man Kollokation, das gewählte Verfahren ist die Kollokationsanalyse. So lassen sich Sätze rekonstruieren wie »Gott ist wie ein Freund, der immer da ist, wenn man ihn braucht«, oder »Gott ist jemand, der mir Kraft gibt«. Hierbei fiel auf, dass die Jugendlichen auf biblisch-metaphorische Rede von Gott fast völlig verzichten. Zwar nennen sie in personalen Vorstellun­gen Gott »Schöpfer«, »Vater« und »Freund«, in nicht-personalen Gottesbil­dern »Macht« oder »Kraft« und führen als positive Gottesattribute »Liebe« und »Le­ben« an. Das klassische biblische Sprachinventar wie »Stecken und Stab«, »Gutsherr« und »König« wird allerdings so gut wie nicht benutzt. Altmeyer interpretiert dies wie folgt: »Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, dass Jugendliche die biblische und kirchliche Gottesrede für sich als zu konkret, für ihre eigenen Vorstellungen jedenfalls als nicht passend empfinden. Damit ist aber klar, warum der herkömmliche religions­didaktische Ansatz, religiöse Sprachkompetenz durch Einsicht in Grammatik und Vokabular überlieferter religiöser Sprache zu entwi­ckeln, heute an seine Grenzen stößt. Es könnte sogar sein, dass er mit für Entfremdungseffekte verantwortlich ist.«19

Gottfried Bitter/Reinhold Boschki (Hrsg.): Christliche Katechese unter den Bedingungen der »flüchtigen Moderne«, Stuttgart 2016, 125–142. 19   Altmeyer: Die (religiöse) Sprache, 373.

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Was tragen diese Überlegungen für die praktische Arbeit aus? Auf der Hand liegt eine sorgfältige Analyse der Voraussetzungen des Kom­petenzerwerbs in sprachlicher Sicht in didaktisch-bedingungsanalytischer Perspektive. Selbstverständlich kann man auch mit der Schul- oder Gemeindegruppe Wortwolken erstellen und diskutieren. Altmeyer bringt ein Beispiel aus einem Berufskolleg: Mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen habe er zum Thema »Kultur der Anerkennung« gearbeitet. Damit würde eine weitere Methode in die gemeindepädagogische Arbeit aufgenommen werden. Insofern vollzieht Altmeyer mit seiner Korpuslinguistik einen Per­spektivwechsel auf die Sprache der Kinder und Jugendlichen, die nicht als defizitär abqualifiziert wird, sondern in ihrem Reichtum in den Blick kommt. Doch wohin deren Sprache gefördert werden soll, bleibt offen.

4. Einfache Sprache als Basis    gemeindepäda­gogischer Sprache In der Reflexion der bisherigen religionspädagogischen Überlegungen stellt sich vor allem eine Frage: Gehen die referierten Überlegungen weit genug, um die religiöse Sprachkompetenz in einer nachchristlichen Gesellschaft zu fördern? Muss nicht eine Basis für religiöse Sprachdidaktik darin bestehen, dass in Gemeinde- und Religionspädagogik, in Schule und Gemeinde eine einfache Sprache angestrebt wird, die eine Basis für weiterführende Überlegungen beim Erwerb sprachlicher Kommunikationsfähigkeit in einer religiösen Sprache darstellt? Einfache ist nicht gleichzusetzen mit leichter Sprache. Das hat Gründe. Bei der leichten Sprache handelt es sich um einen Schlüssel zur »Enthinderung der Gesellschaft«20 und zur Inklusion. Leichte Sprache bezeichnet eine verständliche Sprache, die bestimmten Konventionen folgt. Sie folgt bestimmten Regeln, nutzt einfache Worte und kurze Sätze. Bilder dienen als Unterstützung. Menschen mit Behinderungen prüfen Texte vor ihrer Veröffentlichung auf ihre Verständlichkeit. Leichte Sprache richtet sich an alle Menschen. Die Idee ist, die deutsche Sprache so zu verwenden, dass sie von allen besser verstanden wird. Das Label »Leichte Sprache« ist geschützt und darf nur verwendet werden, wenn alle Regeln des Netzwerks eingehalten werden. So entstehen Texte ohne Verständnisbarrieren.21 Einfache Sprache hingegen ist kein geschützter Begriff. Es gibt keine festen Regeln, an die sich alle halten sollen. Jeder bestimmt selbst, was einfache Sprache ist. Fremdwörter und Fachwörter dürfen benutzt werden. Wie 20   Valentin Aichele: Leichte Sprache – Ein Schlüssel zu »Enthinderung« und Inklusion, online: www.bpb.de/apuz/179345/leichte-sprache-ein-schluessel-zu-enthinderung-und-inklusion (15. Juli 2017).

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könnte man das besser herausbekommen als in kollaborativen Prozessen? Auf der religionspädagogischen Plattform »rpi-virtuell« haben sich hierfür Gruppen zusammengefunden, die gemeinsamen an barrierefreien Fassungen biblischer Texte arbeiten. Die Schöpfungsgeschichte (Gen 1,1f.) hört sich dann etwa so an: 21

»Zu Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde war durcheinander und leer. Und der urzeitliche Ozean lag noch im Dunkeln. Gottes Geist schwebte darüber. Gott sagte: Das Licht soll entstehen! Und das Licht entstand. Gott sah sich das Licht an. Und er fand es gut.«22

Darin ist die Übersetzung Luthers noch zu hören, aber ob der urzeitliche Ozean leichter zu verstehen ist als das neutralere und unbestimmtere Wasser, von dem Luther sprach, muss offen bleiben. Ein anderes Projekt ist das »Mitmach-Projekt« der Initiative »Offene Bibel«, in dem die Bibel kollaborativ in eine Studienfassung, eine Lesefassung und in leichte Sprache übertragen wird: »Die Texte der Bibel stammen aus dem Leben. Da müssen sie wieder hin. Wir wollen Be­rührungsängste abbauen. Wir wollen Experten und Laien vernetzen. Alle tragen zum Gelingen eines Textes bei. Alle werden gebraucht. Das glaubst du nicht? Der Bibelex­perte ist froh über die Fragen, die man ihm stellt. In Foren wird diskutiert. Formulierungen werden verbessert. Worte werden geprüft. Vielleicht gibt es Formulierungen, mit denen wir etwas besser ausdrücken können. Es muss immer noch der Bibeltext bleiben. Und wenn wir fertig sind, haben alle dazu beigetragen.«23

Entsprechend sind Formate für die Aus- und Fortbildung kirchlicher Mitarbeitender entwickelt worden, in denen gelernt wird, Bibeltexte existenzund erfahrungsbezogen zu »zerkauen«, bis an Hecken und an Zäunen, auf dem Markt und auf der Kanzel ganz einfach vom Glauben geredet werden kann. Das ist leicht gesagt, aber harte Arbeit, die man zum Beispiel in kirch21

  »Kirchentag barrierefrei« hieß ein Motto des Kirchentages 2015 in Stuttgart, für den ein Heft mit Bibeltexten in leichter Sprache entwickelt worden ist – wie hier bei einer Übertragung des 90. Psalms (ohne Zeilenformatierungen): »Gott. Wir werden sterben. Denn das Leben der Menschen ist kurz. Wir bitten Dich: Erinnere uns daran. Lass uns an den Tod denken. Damit wir klug werden.« 22   Simone Pottmann: Jubilate, in: Anne Gidion/Jochen Arnold/Raute Martinsen (Hrsg.): Leicht gesagt! Biblische Lesungen und Gebete zum Kirchenjahr in Leichter Sprache, Hannover 2013, 104f., 104. 23   Offene Bibel e.V.: Wegweiser Leichte Sprache. Leichte Sprache als Spielwiese, online: https://offene-bibel.de/wiki/Wegweiser_Leichte_Sprache (15. Juli 2017).

464 Matthias Hahn

lichen Wortwerkstätten erproben kann, indem man den Psalm seines Jahres schreibt oder gemeinsam Andachten und Predigten erarbeitet. Die Haltung, die man in diesen Veranstaltungen lernt, ist die des Dolmetschers Luther: »Diejenigen, die noch nie haben recht reden können, geschweige denn dolmetschen, die sind allzumal meine Meister und ich muss aller ihrer Jünger sein.«24 Einfache Sprache ist sicherlich nicht der Königsweg aus der Krise der religiösen Sprache. Es ist auch überhaupt nicht damit getan, Texte für alle Altersgruppen in Kindersprache zu vereinfachen. Auch Luther wollte mit seinen Sprachschöpfungen ja nicht auf das Niveau simpler Gemüter herabsteigen, sondern mit gedanklicher Klarheit reden – so wie sein Vorbild. Der Evangelist Johannes, so Luther, vermittele auf schlichte Art alles, was andere mit schwülstigen, hochtrabenden, aber dunkeln Worten nicht zum Ausdruck bringen würden. Einfache Sprache bedeutet also auch elementarisierende Konzentration, bedeutet auch Klarheit für die Sprechenden, die sich Rechenschaft über ihre Interpretation eines Textes geben müssen. Im Hildesheimer Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik arbeitet man seit einiger Zeit an einer Verbindung von einfacher Sprache und an die Tradition gebundener Sprache. Hier geht es um eine Verbindung des vertrauten alten Klangs mit Momenten, die auch ohne Vorbildung von konfessionslosen Zuhörern erfahren werden können. So gesehen geschieht in der Bibelarbeit der Hildesheimer so etwas wie Übertragung oder Nachdichtung biblischer Texte. Beim Psalm 23 etwa geht man von folgenden Überlegungen aus: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln… Ein Grundtext des christlichen Gottesdienstes, wenn man ihn denn von Kindheit an kennt. Was können wir aber in einer post-pastoralen Gesellschaft mit diesem Bild anfangen? Wer nicht mit religiöser Sprache groß geworden ist, empfindet möglicherweise das ländliche Bild des Guten Hirten als wenig einladend. Das Identifikationsangebot Schaf ist nur für wenige Menschen hilfreich, die in einer spätmodernen Lebenswirklichkeit auf Sinnsuche sind.«25

Daher bauen die Autorinnen Rampen für das sprachliche Bild, um an Erfahrungen anzuknüpfen, die in die Lebenswelt der Hörer übertragbar sind: 24

  Martin Luther: Ein Sendbrief D. M. Luthers. Vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen, in: Hans-Ulrich Delius (Hrsg.): Martin Luther. Studienausgabe, Berlin 1983, 477–496, 482 (im Original frühneuhochdeutsch). 25   Anne Gidion/Raute Martinsen: Einleitung, in: Anne Gidion/Jochen Arnold/Raute Martinsen (Hrsg.): Leicht gesagt! Biblische Lesungen und Gebete zum Kirchenjahr in Leichter Sprache, Hannover 2013, 9–17, 11 (im Original teilweise kursiv).

Dem Glauben eine neue Sprache geben 465

»Psalmen wurden früher gesungen. Zu Beispiel zuhause, in der Natur oder im Palast eines Königs. Aber auch im Tempel. Viele Psalmen hat (wohl) David geschrieben. Der war erst Hirtenjunge. Später wurde er König. David singt für den kranken König Saul Psalmen. Manchmal spielt er dazu Harfe. In seinen Liedern sing er von Gott. Er singt von Gottes Macht. Er beschreibt, wie Gott ist. Was Gott für Menschen tut. Wie Gott Menschen erleben. David war Hirtenjunge. Mit Schafen kennt er sich aus. Gott als guter Hirte – das kann er sich gut vorstellen. Davon singt er. Davon singen Menschen bis heute.«26

Recht verstanden ist die Aufforderung, so klar und lebendig zu sprechen, eine gemeindepädagogische Basiskompetenz. Dass man für die Zielgruppe der Kerngemeindemitglieder eine andere einfache Sprache wählt als für Kinder, liegt auf der Hand. Insofern sei dafür plädiert, verschiedene Sprachen mit unterschiedlichen Menschen zu sprechen und dabei deren Verstehensund Sprachhorizont einzubeziehen. Durch die Berücksichtigung mehrdimensionaler Aneignungsweisen können Zugänge für jeden einzelnen gefunden, sprachliche Barrieren abgebaut (oder zumindest nicht aufgebaut) und Teilhabe ermöglicht werden. Dabei kommt der Aneignung einer einfachen Sprache jedoch besondere Bedeutung zu. Für die Bearbeitung dieser Aufgabe werden professionelle Mitarbeitende benötigt, die glaubwürdig und verständlich ihre eigene religiöse Sprache sprechen können.

26

  Ebd. (im Original kursiv).

Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« Martina Klein

One of these mornings you're gonna rise up singing And you'll spread your wings and you'll take to the sky But till that morning, there ain't nothin' can harm you With daddy and mammy standin' by (George Gershwin, Summertime)

Haben Menschen das Gefühl, gebildet zu werden, wenn sie im Gottesdienst sitzen? Haben sie den Eindruck, aus der Kirche klüger herauszugehen als sie hereingekommen sind? Dass sie einen für ihr Leben wichtigen oder neuen Gedanken mitnehmen, der sie weiterbringt? Letzteres würden viele sicherlich bejahen. Aber ob dies schon das Prädikat »Bildung« verdient, daran bestehen bei den meisten wahrscheinlich Zweifel. Bildung wird landläufig immer noch mit Schule, gut gefüllten Bücherregalen und Allgemeinwissen verbunden. Nach evangelischem Verständnis ist Bildung mehr als die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten. Wenn wir über Bildung reden, gehen wir nicht nur von formaler Bildung aus und von einem Lernen, das hauptsächlich den Verstand im Blick hat, auch wenn dies ein wichtiger Teil der Bildung ist. Es geht im protestantischen Bildungsverständnis gerade auch darum, dass der Mensch innerlich wächst, dass er handlungsfähig wird und lernt, soziale und politische Verantwortung zu übernehmen. Karl Ernst Nipkow stellt fest: »Die Verwechslung einer christlichen Erziehung im Geist des Evangeliums mit einer gesetzlich repressiven Erziehung steht immer noch am Anfang vieler Lebensschicksale […] und ist die Ursache dafür, dass später die Sinnsuche als Suche nach Gott entweder ganz aufgegeben wird oder den Charakter angstbesetzter Religiosität nicht abstreifen kann«1.

Für den großen liberalen Theologen des 19. Jahrhunderts Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ist Bildung »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen

1

  Karl Ernst Nipkow: Grundfragen der Religionspädagogik, Gütersloh 21988, 47.

468 Martina Klein

Menschwerdens‹«2. Somit steht die Selbstbildung oder die innere Bildung im Mittelpunkt. Bildung ist nach Schleiermacher immer ein Zusammenspiel von »sich bilden« und »gebildet werden«. Damit wird deutlich, dass wir Bildungsprozesse zwar methodisch und didaktisch vorbereiten und planen können, aber wir können sie nicht herstellen. Bildung ist und bleibt unverfügbar, vor allem religiöse Bildung. Sie kann gefördert, aber auch – wie sich Schleiermacher selbst ausdrückt – »verrammelt«3 werden. Bildung findet also überall dort statt, wo sich Menschen weiterentwickeln, verändern, andere Haltungen und Einstellungen annehmen, wo sie Neues entdecken und Verantwortung für ihre Umwelt übernehmen und diese gestalten. Damit lässt sich Bildung nicht in Klassenzimmer, Gemeinderäume oder bestimmte Bildungsangebote sperren. Sie kann immer und überall stattfinden – also auch im Gottesdienst4 und bei anderen Gelegenheiten. Dabei ist »stattfinden« in diesem Zusammenhang ein schwacher Begriff. Bildung ist nicht die Begleiterin, sie ist die Grundlage der Verkündigung. Eilert Herms stellt entsprechend treffend fest: »Kirchliche Arbeit ist nicht zusätzlich und zufällig, sondern wesentlich Bildungsarbeit«5. In der Theologie sowie in einschlägigen kirchlichen Verlautbarungen und Bildungsdebatten hat sich dieser umfassende Bildungsgedanke längst durchgesetzt. Er findet sich auch in Konzepten kirchlicher Arbeit wieder, sei es in der subjektorientierten Kinder- und Jugendarbeit, in reformpädagogischen Ansätzen evangelischer Schulen oder im Ansatz des lebenslangen oder lebensbegleitenden Lernens. Während sich die Fachwelt weitgehend einig ist und die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer Denkschrift »Maße des Menschlichen« festhält, dass Bildung »als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Hori-

2

  Joachim Ochel: Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher, in: Joachim Ochel (Hrsg.): Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Göttingen 2001, 13–56, 33. 3   Friedrich D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Günter Meckenstock (Hrsg.): Kritische Gesamtausgabe. Abteilung 1/Band 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1769–1799, Berlin/New York 1984, 250–312, 252. 4   So bezeichnet zum Beispiel Eilert Herms den Gottesdienst ausdrücklich als Bildungsinstitution, vgl. Eilert Herms: Bildung und Ausbildung als Thema der Theologie und Aufgabe der Kirche, in: Eilert Herms: Erfahrbare Kirche. Beiträge zu Ekklesiologie, Tübingen 1990, 209–221, 212. 5   A.a.O., 214.

Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« 469

zont sinnstiftender Deutungen des Lebens«6 zu verstehen ist, nehme ich mit Blick auf das gemeindliche Leben wahr, dass dieser Bildungsbegriff von der kirchlichen Basis nicht oder kaum rezipiert wird. In Visitationsberichten von Kirchengemeinden und Kirchenkreisen ist nicht selten zu lesen, dass es im Gemeindeleben keine oder nur wenig Bildung gibt. Auch Synodenprotokolle spiegeln in der Mehrzahl wider, dass Bildungsarbeit wenn überhaupt, dann eher sektoral wahrgenommen wird. Im Blick sind vor allem Christenlehre und Konfirmandenarbeit, teilweise noch Religionsunterricht, Schulungsangebote für Ehrenamtliche sowie die Arbeit an Kindertagesstätten und Schulen, eher selten geht es um Bildungsangebote für Erwachsene. Nur wenige Kirchenkreise in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland sind der Empfehlung der Kirchensynode von 20067 gefolgt und haben zum Beispiel familienbezogene Bildungskonzeptionen für ihre Region entwickelt, in denen sie die verschiedenen Aktivitäten in einen Gesamtzusammenhang stellen. Im Folgenden geht es mir vor diesem Hintergrund in drei Kapiteln um religiöse Bildung, um die unverstellte Offenheit bzw. das Verlangen vieler Menschen nach religiöser Bildung sowie um religiöse Bindung, die ohne religiöse Bildung zu Unfrieden bis hin zu Krieg und Terror führen kann, wie wir aus unserer eigenen christlich geprägten Geschichte auch wissen. Voranstellen möchte ich dabei das Beispiel einer besonderen Lernerfahrung, die ich während meiner Ausbildung zur Gemeindeberaterin gemacht habe: Eines der Schwerpunktthemen des seinerzeitigen Seminars wurde von den Dozenten mit einer ungewöhnlichen Methode verbunden. Die Teilnehmenden sollten sich aus einer Anzahl an Musikinstrumenten ein Instrument aussuchen, mit dem sie möglichst keine Erfahrung hatten. Ohne weitere Anleitung sollten wir die Instrumente zum Klingen bringen. Am Ende der Probe sollte die Gruppe das Jazzstück »Summertime« zusammen spielen können. Fünf Seminareinheiten waren dafür vorgesehen. Ich hatte eine Trompete und mühte mich die gesamte erste Einheit damit ab, überhaupt einen Ton herauszubringen. Als es klappte empfand ich ein tiefes Glücksgefühl. Selten war ich so stolz und glücklich über einen Lernerfolg wie in diesem Moment. Am zweiten Tag schaffte ich es, auf dem neuen Instrument verschiedene Töne zu erzeugen und die Ventile einzusetzen. Die einzelnen Töne bewusst zu steuern war eine Herausforderung, die nach und nach gelang. In dieser Phase war es hilfreich, sich mit den Kollegen auszu-

6

  Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft – Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2 2003, 66. 7   Vgl. Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland (Hrsg.): Kirche bildet. Bildungskonzeption der Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland, o.O. (Weimar) 2006, 50.

470 Martina Klein

tauschen, sich Tipps zu geben und sich gegenseitig zu motivieren. Am dritten Tag begannen wir das Zusammenspiel zu üben. Den Hintergrund lieferten elektronische Beats vom Computer. Mehr und weniger begabte Anfänger gaben ihr Bestes. Anfangs klang das Ergebnis schauerlich. Wir mussten das Zusammenspiel erst organisieren und herausfinden, wer was konnte und welches Instrument an welche Stelle im Lied passte. Außerdem sollte jeder einen Solopart haben. Dieser Prozess ging nicht ohne Diskussion und Streiterei vonstatten, doch am Ende hatten alle ihren Platz gefunden und konnten sich einbringen. Höhepunkt war ein gelungener Auftritt auf der Abschlussparty.

1. Religiöse Bildung als lebenslanger Prozess Wenn Bildung »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« ist, bedeutet dies, dass wir bei dem einmal Erlernten, Erkannten und Erfahrenen nicht stehen bleiben können. Martin Luther betont: »Darum soll das billig aller Christen einziges Werk und einzige Übung sein, dass sie das Wort und Christus wohl in sich bilden[!], um solchen Glauben stetig zu üben und zu stärken. Denn kein anderes Werk kann einen Christen machen«8. Luther fordert somit eine Haltung und die innere Einstellung, sich durch das Evangelium fortwährend formen zu lassen. Christsein bedeutet, nicht müde zu werden, den eigenen Horizont immer wieder zu erweitern, sich zu vergewissern und sich immer wieder infrage zu stellen. Die Reformatoren waren davon überzeugt, dass jeder die Bibel selbst lesen und sich mit seinem Glauben auseinandersetzten sollte, um ein mündiger Christ zu werden. Daher forderte Luther die Ratsherren auf, Schulen zu gründen. Bildung soll ermöglichen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und »alle Lehre zu urteilen«.9 Der Anspruch an eine religiös orientierende Bildung ist bis heute geblieben. Nach wie vor geht es darum, Fragen, die das Leben stellt, religiös und ethisch zu beantworten. Allerdings hängt das Wohl und Wehe religiöser Bildung nicht mehr vom Lesevermögen ab, sondern vielmehr von der Sozialisation. So ist in den östlichen Bundesländern nur eine Minderheit der Bevölkerung religiös sozialisiert und religiös gebildet, der größere Teil steht Religion eher gleichgültig bis ablehnend gegenüber. Auch in kirchlichen Milieus wächst die religiöse Indifferenz, so dass der Traditionsabbruch innerkirchlich ebenfalls fortschreitet. 8

  Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling (Hrsg.): Martin Luther. Ausgewählte Schriften. Band 1, Frankfurt am Main 21983, 239–263, 242. 9   Vgl. Martin Luther: Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift, Wittenberg 1523.

Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« 471

Andererseits lässt sich ein Interesse ungetaufter und kirchlich unverbundener Menschen gegenüber religiösen Fragen erkennen. So ist etwa ein Drittel der Schüler im evangelischen Religionsunterricht nicht getauft und familiär nicht religiös geprägt.10 Die Anmeldezahlen an evangelischen Schulen und Kindertagesstätten illustrieren ebenfalls ein hohes Interesse bei nicht konfessionell gebunden Elternhäusern. Dies setzt sich in den Bereichen der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit sowie in verschiedenen Bildungsangeboten für Erwachsene fort. Bemerkenswert ist auch das Interesse von vielen Mitarbeitenden in Kindertagesstätten und Schulen sowie von Lehramtsstudierenden im Fach »Evangelische Religionslehre«, sich religionspädagogisch ausbilden zu lassen, obwohl sie weder getauft noch kirchlich verankert sind. Dieser Personenkreis zeigt ein Interesse, sich mit Religion auseinanderzusetzen und sich im jeweiligen Arbeitsbereich in religiöse Bildungsarbeit einzubringen. Es stellt sich demnach die Frage, wie es gelingen kann, Menschen für religiöse Themen zu interessieren und sie in der Beschäftigung damit wachzuhalten. Was braucht es, damit ein Funke überspringt? Als ich die Aufgabe hatte, ohne Anleitung einer Trompete Töne zu entlocken, war dies eine besondere Lernerfahrung. Zum einen war es die unerwartete Verknüpfung des Seminarthemas mit dem Medium des Musikinstruments, welche mir eine völlig neue Perspektive auf das Thema eröffnete. Zum anderen konnte ich regelrecht spüren, wie lustvoll Lernen sein kann. Das Experiment weckte kindliche Entdeckerfreude und einen Spieltrieb in mir, wie ich ihn als Erwachsene eher selten verspüre. Zugleich wurde mir vor Augen geführt, welche Herausforderung es ist, ein Instrument zu erlernen. Wie wichtig emotionale Momente für Bildungs- und Lernprozesse sind, zeigen auch die Untersuchungen von Motivationsforschern auf. Lernen gelingt umso besser, je mehr positive Gefühle damit verbunden sind. Es braucht eine Portion Lust auf Aufgabe und Herausforderung. Die gegenteilige Erfahrung dürfte den meisten ebenfalls bekannt sein, nämlich dass das Lernen anstrengend, ermüdend und frustrierend sein kann, weil Erfolge und Anerkennung ausbleiben, weil damit negative Bewertungen verbunden sind oder weil das, was gelernt werden soll, nicht bedeutsam erscheint. Gerade vom religiösen Lernen wissen wir, dass es in diesem Bereich um mehr geht als um die Vermittlung bestimmter Wissensinhalte. Wenn wir also möchten, dass sich Menschen von klein auf bis ins hohe Alter religiös bilden, stellt dies nicht nur einen Anspruch an die Einzelnen dar, sondern ist zugleich eine große didaktische Herausforderung für diejenigen, die Bildungsangebote durchführen: 10

  Vgl. Michael Wermke: Evangelischer Religionsunterricht in Ostdeutschland. Empirische Befunde zur Teilnahme thüringischer Schülerinnen und Schüler, Jena 2006, 16–23.

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»Zum religiösen Lernen gehören immer auch Erlebnisse und Erfahrungen, Gefühle und Begegnungen mit anderen Menschen sowie Beziehungen in der Gruppe oder in der Gemeinschaft mit anderen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Religiöses Lernen ist offenbar ein umfassendes Geschehen. Insofern kommt es nicht nur auf die Inhalte an, sondern ebenso auf den Lernprozess sowie auf dessen Gestaltung«11.

Unter diesem Aspekt sollten sich Verantwortliche in der Bildungsarbeit immer wieder kritisch mit ihren Angeboten befassen, diese auf den Prüfstand stellen, ob sie an den Lebensthemen und Interessen der jeweiligen Menschen anknüpfen, ob sie inhaltlich herausfordern und Interesse wecken, ob sie den Teilnehmenden auf Augenhöhe begegnen und das Miteinander derer, die zusammen lernen, befördern.12

2. Religiöse Bildung als interpersonaler    Kommunikationsprozess In der zweiten Phase des Experiments, ein Instrument ohne Anleitung zu erlernen, ging es, wie gesagt, darum, das Jazzstück »Summertime« zusammen zu spielen. Alle Gruppenmitglieder sollten sich mit den wenigen Fähigkeiten, die sie in der kurzen Zeit erworben hatten, einbringen. Es ging darum, ein Arrangement auszuarbeiten, welches sowohl die einzelnen Stimmen wie auch das Ganze zum Klingen bringen sollte. Im musikalischen Aufeinander-Hören und Einander-Antworten entwickelte sich das gemeinsame Spiel. Dieses Erlebnis wurde mir zu einem Lehrstück für religiöse Bildung. Jazz ist eine intuitive Musik, die sich der Inspiration und dem spontanen Einfall der Musizierenden verdankt – ein Musikstil, der im Rahmen musikalischer Parameter und Gesetzmäßigkeiten Spontanität und Vitalität ermöglicht. Durch die Improvisation wird jede Stimme und jede Darbietung höchst individuell und einzigartig – und nicht zuletzt: Jazz swingt, das heißt er bewegt. Auch religiöse Bildung hat mit Fantasie, Kreativität, Ästhetik und Spiel zu tun. Religion muss erfahrbar sein und sich auf das Leben, auf die eigene Biographie beziehen lassen. Es geht darum, die Wahrnehmungsfähigkeit mit Blick auf sich selbst, auf das Zusammenleben mit anderen und in der Begegnung mit der Umwelt weiterzuentwickeln oder, mit Schleiermacher gesprochen, »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«13 zu entdecken. Religiöse 11

  Friedrich Schweitzer: Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011, 11. 12   Vgl. a.a.O., 223. 13   Schleiermacher: Über die Religion, 212.

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Bildung geschieht en passant und mitten im Leben. Es sind die Grundfragen des Lebens und des Glaubens, die den Menschen in Schwingung versetzen und ihn nach Gott fragen lassen. Da ist das Staunen über die Schöpfung, die das menschliche Begreifen übersteigt. Da ist die Neugier, die Existenz und Endlichkeit des Lebens zu ergründen. Da ist der Versuch, die Abgründigkeit Gottes in der Frage nach dem Leid dieser Welt zu verstehen. Da ist das Gefühl der Dankbarkeit für unverdientes Glück oder das Bewahrt-Worden-Sein in einer gefährlichen Situation. Da ist die Hoffnung auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Frieden in dieser Welt. Es geht also einerseits um persönliche Glaubens- und Lebensfragen und andererseits um den Umgang mit den Herausforderungen der Zeit und die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Wie im Beispiel des gemeinsamen Musizierens bringt auch für die Auseinandersetzung mit Religion jeder schon etwas mit an Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talenten. Schon mit Kindern kann man philosophieren und theologisieren und staunt über deren Weisheit und Ernsthaftigkeit im Nachdenken. Aufgrund der unterschiedlichen kirchlichen Sozialisation entwickeln sich die Kompetenzen, Motivationen und Zielsetzungen der Einzelnen im Laufe des Lebens allerdings sehr unterschiedlich und somit sind auch die Bildungsanforderungen und -biographien höchst individuell. Diese Heterogenität ist ein Schatz, den wir heben und vermehren sollten, gleichzeitig trägt sie an kirchliche Bildungsarbeit auch neue Erwartungen heran. Es ist ein Bildungsziel, dass Menschen im Lichte ihres Glaubens sprach-, diskurs- und auskunftsfähig werden: »Verstehst du, was du da liest« (Apg 8,30)? Religiöse Bildung soll Menschen inspirieren, Grundfragen des christlichen Glaubens nachzugehen und dazu befähigen, sich biblische Texte zu erschließen und im Kontext der heutigen Zeit zu deuten; sie will zum reflektierten Umgang mit dem anstiften, was sich im Leben nicht so einfach erklären und begreifen lässt: das Unverfügbare, das Nicht-Mitteilbare, die Ohnmacht gegenüber Katastrophen oder dem Scheitern, kurz gesagt, »die Torheit des Kreuzes« (nach 1 Kor 1,18). Lernen lebt von der Auseinandersetzung mit Anderen, von neuen Impulsen, von Differenzerfahrungen und davon, eigenem Zweifel nachgehen zu können. Damit wird im Lernprozess vor allem der persönliche Kontakt wichtig: »Heute kommt es [...] bei vielen Menschen bei religiöser Kommunikation nicht auf die lehrmäßige Korrektheit an, sondern auf die persönliche Glaubwürdigkeit ihres Gegenübers und vor allem auf die Brauchbarkeit der Kommunikation für

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die Biographiearbeit. Vermutlich bahnt sich hier eine tief greifende Umstellung des Verständnisses von Evangelium an: von der Lehre zum interpersonalen Kommunikationsprozess«14.

Oder wie es Papst Paul VI. sagte: »Der heutige Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind« (Evangelii Nuntiandi 41). Das bedeutet, dass die Lehrenden – und dies trifft auf Hauptamtliche in Kirchengemeinden, Kindertagesstätten und Schulen ebenso zu wie auf Ehrenamtliche – Fähigkeiten brauchen, andere in ihrem Bildungsprozess zu begleiten und sich dabei selbst als Suchende und Lernende zu erkennen zu geben. Es geht darum, den eigenen Zweifel und die eigene Sprachlosigkeit angesichts von Grenzerfahrungen konstruktiv einzubringen und als Quelle religiösen und spirituellen Lernens zu begreifen. Um die Lebensrelevanz der biblischen Botschaft auszuloten, muss die eigene Wahrnehmungsperspektive immer wieder verändert werden können – als Sehen mit den Augen von Kindern, älteren Menschen, notleidenden und ausgegrenzten Menschen, Menschen vergangener Epochen oder anderer Kulturen und auch als Sehen mit den Augen von Nicht-Glaubenden. Neben der Lebensrelevanz bleibt die Inhaltsebene für religiöse Bildung wichtig, denn die Identität evangelischen Glaubens ist von theologischen Grundlinien geprägt, die aus der Geschichte und Tradition bis in unsere Gegenwart reichen. Allerdings kann für religiöses Lernen kein bestimmter Wissensbestand festgelegt werden, noch kann ein solcher die Voraussetzung für religiöse Kommunikation sein. Oder anders ausgedrückt: Auch religiös unmusikalische Menschen können im Konzert mitspielen.

3. Religiöse Bildung als sozialethischer    Auftrag gegenüber der Gesellschaft Religiöse Bildung endet nicht an der Kirchentür. Der christlichen Botschaft wohnt eine gesellschaftskritische Funktion inne. Seien es die alttestamentlichen Geschichten des Exodus als Befreiung aus der Knechtschaft, die Kritik der Propheten an der sozialen Situation ihrer Zeit und ihre Vision von Gerechtigkeit und Frieden, die Klagen Hiobs und der Psalmen oder seien es die Geschichten über das Leben und Leiden Jesu Christi, seine Solidarität mit den Armen und Schwachen, der Ruf nach Umkehr und Versöhnung oder die Verheißung des Reiches Gottes. Es ist der jüdisch-christliche Hintergrund, der unsere Werte, unsere Kunst und Kultur bis heute prägt. Doch was bedeu14

 Christian Grethlein: Umgang mit der Zeit im Pfarrberuf. Pastoraltheologische Überlegungen, online: www.kip.elk-wue.de/referate-der-tagungen-2006-2010/2009referat-prof-dr-christian-grethlein (29. September 2017).

Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« 475

tet die christliche Botschaft in einer zunehmend säkularen Gesellschaft, in der Religion in den Bereich des Privaten abgedrängt wird, in der ihre Tradierung weiter abbricht und der Einfluss der Kirchen schwindet? »Kirche bildet, um einen Beitrag zur demokratischen Kultur zu geben. Sie zeigt sich auf diese Weise mitverantwortlich für die Zivilgesellschaft. Kirche bildet, um Orientierung, besonders in ethischen Fragen, zu vermitteln. Sie will durch Argumente überzeugen und durch Erfahrungen faszinieren«15 – so bringt Rüdiger Sachau den öffentlichen Bildungsauftrag der Kirche auf den Punkt. Es geht darum, die Menschen zu ermutigen, sich vor dem Hintergrund ihres Glaubens und ihrer theologisch-ethischen Reflexion in die Zivilgesellschaft einzubringen. Eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart ist die kulturelle und religiöse Pluralität. Dabei kommt Religion nicht nur als private Überzeugung friedlich daher, sondern sie spielt in der öffentlichen Wahrnehmung als Konfliktpotential auf nationaler und internationaler Ebene ebenfalls eine Rolle. Hier stellt sich die Frage, wie Gläubige unterschiedlicher Religionen und säkulare Menschen miteinander umgehen sollen, wie sie produktiv miteinander ins Gespräch kommen, um in wesentlichen Fragen zu einem Konsens zu gelangen. Und es stellt sich die Frage, wie der Zugang zu gläubigen Menschen gelingen kann, die sich mit unserer westlichen und freiheitlichen Gesellschaftsform nicht identifizieren können, um sie – trotz ihrer inneren Distanz – in den gesellschaftlichen Diskurs einzubeziehen. In seiner vielbeachteten Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels plädiert Jürgen Habermas – der sich im Übrigen selbst als »religiös unmusikalisch« bezeichnet – dafür, Religion in unserer säkularisierten Gesellschaft nicht zu marginalisieren. Vielmehr sollte sie wieder stärker ins Zentrum des politischen und öffentlichen Lebens rücken. Er fordert, dass »die säkulare Seite einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrt«16 und komplementär dazu, dass Glaubende ihre Überzeugung in nicht-religiöse Sprach- und Denkzusammenhänge übersetzen und in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Es geht also um das Konzert von »religiös unmusikalischen« und »religiös musikalischen« Menschen. Beide Seiten sollen einander Gehör schenken und voneinander lernen. Damit spricht Habermas zweierlei an: Zum einen muss über Religionen geredet werden, sie müssen als solche Thema der Bildung sein. Zum anderen brauchen wir die gesellschaftskritische Ausrichtung der Theologie und die 15

  Rüdiger Sachau: Der schlafende Riese. Erwachsenenbildung unter den Bedingungen der Moderne, in: Uta Pohl-Patalong (Hrsg.): Religiöse Bildung im Plural. Konzeptionen und Perspektiven, Schenefeld 2003, 7–18, 17. 16   Jürgen Habermas: Glauben und Wissen, online: www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2001_habermas.pdf, 13 (6. September 2017).

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theologische Sprache, um als Korrektiv hinsichtlich naturwissenschaftlicher, ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu wirken. Eine plurale Gesellschaft braucht Menschen, die in religiösen Fragen begründet urteilen können sowie religiös sprachfähig und dialogbereit sind. Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der »Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre«. Der Bildungsplan ist ein Orientierungsrahmen für alle Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche im Freistaat Thüringen. Dank des Engagements und des nötigen Nachdrucks von Michael Wermke enthält der Bildungsplan den Bereich »Religiöse Bildung«. Dass dies bildungspolitisch durchgesetzt werden konnte, ist für ein Bundesland, in dem nur etwa ein Drittel der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehört, ausgesprochen bemerkenswert. Der Bildungsplan stellt fest, dass alle Kinder und Jugendlichen mit ihren »großen Fragen bei den Erwachsenen Gehör finden«17 sollen und hält es für wünschenswert, »wenn Kommunen, freie Träger oder Religionsgemeinschaften ihre Bildungseinrichtungen und -angebote so ausgestalten, dass Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet wird, sprachfähig in religiösen Fragen zu werden«18. In Kindertagesstätten soll religiöse Bildung »ungeachtet ihrer Trägerschaft Bestandteil in den pädagogischen Konzepten«19 sein. »Ebenso ist es aus religionspädagogischer Sicht wünschenswert, wenn die verschiedenen Einrichtungen auch die religionspädagogische Kompetenz der Familien durch gezielte Angebote stärken«20. Um die Mitarbeitenden darin zu unterstützen, fordert Wermke an anderer Stelle: »Wir benötigen eine verstärkte religionspädagogische Qualifikation von Tagesmüttern, Erzieherinnen und Erziehern wie auch Beratungslehrkräften oder Konfliktmoderatoren. Was wir im Bildungskontext benötigen, ist mehr pädagogische Sensibilität im Umgang mit der Religion der uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen«21.

Mit dem »Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre« ist der religiösen Bildung in Thüringen die Tür weit geöffnet worden und es ist zu wünschen, dass die Akteure vor Ort das große Potential entdecken, das in diesem Bildungs17

  Michael Wermke: Religiöse Bildung, in: Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.): Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre. Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen, Erfurt 2015, 277–297, 280. 18   A.a.O., 281. 19   Ebd. 20   Ebd. 21   Michael Wermke: Religiöse Bildung in der Migrationsgesellschaft. Der Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre in der pädagogischen Bewährungsprobe, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 15 (2016), 2, 86–100, 95.

Bildung – »der lebenslange Prozess des ›eigentlichen Menschwerdens‹« 477

auftrag steckt. Für kirchliche Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten und evangelische Schulen, Kirchengemeinden und Kirchenkreise bietet es die Chance, das evangelische Bildungsverständnis nach außen zu tragen und sich als Kooperationspartner im Bereich der religiösen Bildung anzubieten. So könnten sich auf regionaler Ebene Bildungsnetzwerke entwickeln. Der Thüringer Bildungsplan sollte in jedem Fall Schule machen, so dass andere Bundesländer dem Beispiel folgen. Darüber hinaus sollte das Engagement für religiöse Bildung nicht in den Kinderschuhen stecken bleiben, sondern auch die Erwachsenen in den Blick nehmen. Hier sind evangelische Akademien, die Erwachsenenbildung und die Familienbildung wichtige Partner.

4. Ausblick Was braucht es, dass Menschen für religiöse Bildung offen bleiben? Dass ihr Interesse an religiösen Fragen wach bleibt? Dass sie das Staunen nicht verlernen und ihre Neugier nicht verlieren? Gute Bildung ist eine solche, die die Kreativität und die Fähigkeiten der einzelnen Personen nicht normativ verordnet, sondern Freude am eigenen Bildungserlebnis ermöglicht. Hierfür brauchen wir non-direktive Bildungsangebote, die religiöse Bildung im Sinne Schleiermachers ermöglichen und behutsam zu einer religiösen Selbstbildung hinführen. Ich möchte dies mit dem rabbinischen Profil Jesu illustrieren. Wenn Jesus lehrt, tritt er mit den Menschen in einen Dialog. Er wendet sich ihnen in ihrem Alltag zu, greift ihre Lebensfragen auf. Jesus gibt den Menschen eine neue Idee oder eine Vision mit auf den Weg, damit sie sich die Welt auch anders vorstellen können, als sie ist. Er stellt Fragen und regt die Menschen dadurch an, die Themen zu ihrer eigenen Sache zu machen. Als Rabbi gibt er nicht einfach nur die Tora weiter, sondern setzt mit Auslegungen, Gleichnissen oder Wundern neue Akzente und bringt die Menschen damit zum Nachdenken. Ähnlich brauchen wir in der Bildungsarbeit Menschen, die das Bildungsverlangen der anderen aufspüren und sie in ihren Such- und Lernprozessen begleiten. Wir brauchen Menschen, die ihr eigenes Zweifeln und Suchen mit anderen teilen und die bereit sind, den eigenen Erfahrungs- und Deutungshorizont für andere zu öffnen. Vielleicht brauchen wir wie in der Seelsorge eine Bildung »auf der Schwelle« oder »zwischen Tür und Angel«, jedenfalls eine Bildung, die die Fragen, Sehnsüchte und Zweifel der Menschen in ihrem Alltag aufgreift. Bildung befähigt den Menschen, seiner Umwelt kritisch gegenüber zu treten. Das bedeutet, ganz im Sinne des Protestantismus, überkommene Traditionen zu hinterfragen, gegenwärtige Aussagen – ob politische oder kirchliche

478 Martina Klein

– vor dem Hintergrund der christlichen Botschaft zu prüfen und von ihnen ausgehend die Welt zu gestalten, und zwar in einer Weise, die die Gemeinschaft produktiv bestimmt, aber auch das Leben der Einzelnen in ihr. Das protestantische Bildungsverständnis hat den Einzelnen als Individuum mit seinen Stärken und Schwächen im Blick. Es geht von der Würde des Einzelnen, seinen individuellen Möglichkeiten und von seinen Talenten aus. Im Mittelpunkt steht der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott, zur Welt und zu seinen Mitmenschen.

Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsunterrichts1 Thorsten Knauth

Es gibt eine klassische religionswissenschaftliche Definition, die das Heilige als Geheimnis bestimmt, das erschüttert und in den Bann schlägt.2 Auch in anderen Begriffsbestimmungen beschreibt das Heilige eine Sphäre des Außerordentlichen, das sich dem Alltäglichen entzieht oder ihm gegenüber steht. Wenn wir von heiligen Texten sprechen, dann schwingt von dieser Definition etwas mit: Es wird darauf angespielt, dass die Texte aus dem Geheimnis des Göttlichen stammen, dass sie etwas mit ihm zu tun haben, dass sie davon erzählen, Zeugnis ablegen, berichten und dass sie mit seiner Bedeutung gesättigt sind. Mit diesen heiligen Texten geht man entsprechend auch nicht alltäglich um: Man nähert sich ihnen anders, zum Beispiel mit Respekt und Ehrfurcht, man behandelt sie vielleicht auf besondere Weise, trägt sie zu besonderen Anlässen und von bestimmten Handlungen begleitet vor, man liest und versteht sie unter anderen Bedingungen. Als protestantischer Christ habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zur Heiligkeit: Mir ist durch Studium, religiöses Leben und theologische Vorbilder Skepsis mitgegeben gegenüber allzu großer Ehrfurcht, die sich abschirmt gegenüber Fragen – eine Ehrfurcht, die eine Aura der Distanz herstellt und unter Hinweis auf seine besondere Herkunft die autoritative Geltung eines Sinns einfach nur behauptet und nicht begründet. Teil meines Selbstverständnisses als Theologe ist eine hermeneutische Haltung, die gerade im Bereich von Religion Verstehen mit kritischer Prüfung zusammen bringt. Dass ein Text mit dem Anspruch auftritt, heilig zu sein, fordert mich gerade dazu auf, ihn besonders aufmerksam zu prüfen. Wie nah mir das Konzept der Heiligkeit von Texten dennoch sein kann, wurde mir in vollem Ausmaß vielleicht erstmals bewusst, als ich von dem 1

  Dieser Text ist anlässlich eines Vortrags am 3. Juli 2015 an der Universität Hamburg im Rahmen der Ringvorlesung »Religionsdidaktik im Dialog« entstanden. Für die Veröffentlichung wurde der Vortragsstil beibehalten. Ich widme den Beitrag Michael Wermke, mit dem mich ein (nicht nur historisches) Interesse an einer politisch dimensionierten und gesellschaftsbezogenen Religionspädagogik verbindet. 2   Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.

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Vorschlag des Berliner Theologen Notger Slenczka las, das Alte Testament, die Hebräische Bibel, den Tanach, aus dem christlichen Kanon der biblischen Schriften herauszunehmen.3 Es ist interessant, sich gründlich mit der Argumentation Slenczkas auseinanderzusetzen, die an Argumentationslinien der liberalen Theologie Adolf Harnacks anknüpft und auch den christlichen Anti-Judaismus dieser Zeit wiederholt und verlängert. Mir kommt es hier darauf an, dass meine innere Erregung, persönliche Betroffenheit, Verletztheit, auch mein Zorn angesichts dieses Vorschlages noch vor jeder rationalen Prüfung der Argumentation doch auf eines ganz klar hinwies: das Gefühl der Unantastbarkeit der Hebräischen Bibel und der in ihr aufbewahrten jüdischen Tradition, die unumstößliche Gewissheit ihrer Bedeutung für mein theologisches Selbstverständnis und meinen christlichen Glauben. Dass sich mir, als vernunft- und kritikgeleitetem protestantischen Christen, das Konzept des Heiligen im Blick auf die Glaubensdokumente meiner Religion erschließen kann, verdanke ich also Slenczkas Angriff auf einen unumstößlichen theologischen Grundsatz, dass das Judentum, die jüdische Tradition nicht nur Wurzel, Mutterboden, sondern der mitlaufende Anfang der christlichen Tradition ist. Soweit die Vorüberlegungen, mit denen ich aber auch schon mitten im Thema bin. Dieses Thema »Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsunterrichts« möchte ich dabei in drei Kapiteln beantworten. Zunächst sei hier gefragt: Was ist ein heiliger Text? Sowie zum Zweiten: Was kann man unter der politischen Dimension des Religionsunterrichts verstehen? Und schließlich: Wie können heilige Texte mit der politischen Dimension des Religionsunterrichtes verbunden werden?

1. Was ist ein heiliger Text? Ich betrachte diese Frage unter drei Gesichtspunkten, wobei erstens die Autonomie der Leser, zweitens das Verständnis der Schrift als Glaubenszeugnis sowie drittens der normative Anspruch der Texte in den Blick geraten sollen.

1.1 Die Autonomie der Leser Als eine der wichtigsten Triebfedern jener theologischen und sozialen Auseinandersetzungen im 16. Jahrhundert, aus denen die evangelischen Kirchen hervorgingen, kann eine in zwei Worte gebrachte Regel betrachtet werden: sola scriptura – allein (durch) die Schrift. Gemeint ist: Allein die Schrift versichert der Grundlagen christlichen Glaubens, allein durch die Schrift kann Glauben und christliche Praxis be3

  Vgl. Notger Slenczka: Die Kirche und das Alte Testament, in: Eisabeth GräbSchmidt (Hrsg.): Das Alte Testament in der Theologie, Leipzig 2013, 83–119.

Heilige Texte und die politische Dimension des Religionsunterrichts 481

gründet werden. Dieser Rückbezug auf die Bibel als normativer Grundlage des Glaubens ist nicht frei von Ambivalenz. Es gab in Geschichte und Gegenwart immer die Möglichkeit, unter Hinweis auf dieses Schriftprinzip einen wortgläubigen biblischen Fundamentalismus zu begründen. Es gab und gibt aber auch die Möglichkeit, sola scriptura auf andere Weise zu verstehen. Denn wenn die Schrift maßgebend für das Verständnis des Glaubens ist, dann muss sie auch von den Glaubenden gelesen werden, um sie »recht« zu verstehen. Das bedeutet, das Lesen und Deuten der Bibel gewissermaßen zu demokratisieren, denn das Recht auf Auslegung liegt nicht mehr nur bei den Institutionen und ihren zur Auslegung priviligierten Amtsträgern. Im sola scriptura liegt die Autonomie des Lesens und der Leser beschlossen. Ihnen wird zugetraut, durch das Selber-Lesen und Verstehen den Glauben zu verantworten. Nicht die Kirche oder von ihr mit religiöser Autorität ausgestattete Befugte (Experten) sagen damit, was und wie recht zu glauben ist, nicht die in Dogmen gefasste kirchliche Tradition gibt den Sinn vor, sondern durch den Akt des Selber-Lesens, des eigenen prüfenden Verstehens von Texten entfaltet sich das eigene religiöse Selbstverständnis aus einer hermeneutischen Reflexion bzw. Besinnung auf die Schrift. Das Selber-Lesen der Laien – ich betrachte dies als einen politischen Grundsatz des Umgangs mit heiligen Texten.

1.2 Das Verständnis der Schrift:    Vielstimmigkeit und Mehrperspektivität Selber-Lesen ist gefährlich. Selber-Lesen ist gefährlich, wenn man es sich zu einfach machen möchte und Mehrdeutigkeit und Vielstimmigkeit nicht aushalten kann. Der Bochumer Bibelwissenschaftler Jürgen Ebach hat auf vier kennzeichnende Merkmale von religiösen Fundamentalisten hingewiesen:4 Erstens suchen sie nach einfachen und eindeutigen Antworten, zweitens suchen sie die Schuld bei anderen, drittens haben sie Probleme mit dem Humor und viertens »verstehen [sie] ihre jeweils heilige Schrift als in ihrem Wortlaut unmittelbar und überzeitlich geltendes Regelwerk des Glaubens und der Praxis.«5 Aber diese hermeneutische Annahme, die die Schrift als göttlich gegebenen Sinn aus einem Guss betrachtet, verkennt den komplexen, vielschichtigen und vielstimmigen Charakter von heiligen Schriften. Ich formuliere bewusst im Plural, weil ich diesen Satz nicht nur für die biblische Traditi4

  Vgl. Jürgen Ebach: Fundamentalismus ist nicht »schriftgemäß«, in: Junge Kirche 76 (2015), 2, 1–3. 5   A.a.O., 1.

482 Thorsten Knauth

on allein formulieren möchte. Im Blick auf die biblische Tradition lässt sich feststellen, dass die Bibel eben nicht wie eine göttliche Hausordnung mit 20 Regeln zu verstehen ist, sondern eine über den langen Zeitraum von 3.000 Jahren gewachsene Vielzahl von Schriften, Texten und Überlieferungen, von Stimmen und Perspektiven ist: Sie ist mit anderen Worten Buch und Bibliothek zugleich. Ihr kennzeichnender Zug ist also gerade nicht Eindeutigkeit, sondern Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit. Und dennoch, so möchte ich behaupten, gibt es in dieser vielfältigen Bibliothek, die die Bibel ist, eine Grunderzählung, einen roten Faden. Die Bibel erzählt: Menschen haben von Anfang an geglaubt, dass Gott sich mit den Menschen und der Welt verbündet und diesen Bund auch zwischen den Menschen aufrichten will. Der Bund, der in der Geschichte an verschiedenen einschneidenden Wendepunkten immer wieder erneuert und bekräftigt wird, soll eine gerechte und solidarische Gemeinschaft stiften. Diese Gemeinschaft soll die von Anfang an als gut gemeinte Schöpfung fortsetzen. Das ist ein Hoffnungsbild, dass der Grunderzählung eine Tendenz gibt – eine Tendenz, die mit dem Wort »Befreiung« beschrieben werden kann. Die Zusagen auf Befreiung aus Not und Herrschaft, auf sozialen Ausgleich, auf Wohlergehen und Gemeinschaft gelten, so erzählen es die Texte immer wieder, vorrangig den Opfern, also denen, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind – den Armen, den Sklaven, den Flüchtlingen, den Opfern von Gewalt. In dieser Zuwendung zu den Ausgeschlossenen und Randständigen gründet die Sozial- und Gesellschaftskritik biblischer Texte; und die Texte entwerfen Bilder über andere Verhältnisse: Utopien! Aus Entzweiung und Einsamkeit entsteht Gemeinsamkeit, aus Verzweiflung Hoffnung; Hass und Missachtung sollen in Verhältnisse verwandelt werden, die von Anerkennung und Wertschätzung bestimmt sind. Kennzeichnend ist auch, dass sich der Bund an Geschichten mit bestimmten Menschen verdeutlicht, die in eine Aufgabe gerufen werden. Diese Menschen, Propheten werden sie auch genannt, stehen beispielhaft für die besondere Zuwendung und den Anspruch Gottes, die grundsätzlich jedem gelten. Es kommt mir nicht darauf an, dass Sie jedem Satz meiner Grunderzählung zustimmen. Sie werden sicher auch andere, Ihre eigenen Akzente setzen. Wichtig ist mir aber der Gedanke, dass es im Blick auf die Bibel eine narrative Einheit der Schrift gibt, die hermeneutisch-theologisch rekonstruiert werden kann. Es gibt einen roten Faden durch das Labyrinth der Geschichte und Geschichten, an dem entlang man durch wichtige Traditionen geführt werden und sich Texte von zentraler Bedeutung erschließen kann. Der Theologe und Religionspädagoge Horst Klaus Berg spricht in diesem Zusammenhang von sog. Grundbescheiden der Bibel;6 gemeint sind mit diesem Begriff große Themen, konstitutive Aussagen oder – um im Bild des Fadens zu bleiben – Knoten, von denen biblische Texte und Traditionen bestimmt

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sind. Berg nennt folgendes Ensemble von Grundbescheiden: »Gott schenkt Leben«, »Gott stiftet Gemeinschaft«, »Gott leidet mit und an seinem Volk«, »Gott befreit die Unterdrückten«, »Gott gibt seinen Geist«, »Gott herrscht in Ewigkeit«. Die Grundbescheide sind eine Art Bedeutungsgerüst für das Verstehen der Bibel, eine semantische Struktur. Viele Texte und Textgruppen lassen sich den Grundbescheiden zuordnen. Ein einzelner Text, das will ich sagen, ist auch heilig, weil er im Kontext einer Gesamterzählung steht und auch aus ihr zu verstehen ist. Beim Selber-Lesen ist es gut, den roten Faden durch das Labyrinth des Buches in der Hand zu haben.6

1.3 Über die Normativität der Schrift Ob und in welcher Weise die Texte Gottes objektiv geoffenbartes Wort enthalten, interessiert mich eigentlich nicht sehr. Viel mehr interessiert mich, wie Menschen verstehen und wie sie handeln mit dem, was sie als Gottes Wort auffassen. So begreife ich auch die heiligen Texte als zum Ausdruck gebrachte Erfahrungen von Menschen mit dem, was sie als Gottes Wort, Wille und geschichtliche Tat erfahren haben. Die Texte sind aufgeschrieben, um sie weiter zu geben, also: um eine Kommunikation fortzusetzen. Und genau darum sind sie zur Interpretation aufgegeben. Ihre Bedeutung erhalten diese Texte erst durch eine interpretative Praxis (durch Auslegung), die die Kommunikation ebenfalls fortsetzt. Viele der Texte haben für mich eine wegweisende und universelle Bedeutung. Das heißt, sie weisen über die einzelne, geschichtliche Situation hinaus und haben immer etwas zu sagen, zum Beispiel die Sätze des Dekalogs (die Zehn Gebote/Worte), das Doppelgebot der Liebe, die Zumutung, auch die Feinde zu lieben, das in den prophetischen Traditionen zum Ausdruck kommende Verständnis von sozialer Gerechtigkeit – zedaka: das hebräische Schlüsselwort steht für Gerechtigkeit und Gemeinschaftstreue, man wahrt Gerechtigkeit durch Verhalten, das die Gemeinschaft aufrecht erhält –, die Geschichten und die Rechtstexte von der Zuwendung zu den Marginalisierten (den Flüchtlingen, Ausländern, Witwen, Waisen), die Verheißungen der frohen Botschaft an die Armen, an die Frieden Stiftenden, die Gewaltlosen, die Bilder von einer neuen Gemeinschaft. Diese Texte sprechen – so gesehen – auch Wahrheit, weil sie das Band der Gemeinschaft zwischen Menschen immer wieder neu knüpfen wollen. Ich kann die Texte heilig nennen, weil sie von etwas Unaufgebbarem erzählen. Wenn wir das verlieren, können wir leichter zurückgeschleudert werden in Verhältnisse, in denen die Gewalt und die Macht der Starken das letzte Wort haben. 6

  Vgl. Horst Klaus Berg: Grundriß der Bibeldidaktik. Konzepte – Modelle – Methoden, München/Stuttgart 1993, 76ff.

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Wenn ich so über die Heiligkeit von Texten nachdenke, fällt es mir leicht, auch Texte anderer religiöser Traditionen wertzuschätzen, ja sie in diesem Sinne als heilig anzuerkennen: koranische Texte über Gerechtigkeit und die Zuwendung zu den Armen, über das Wetteifern um das Gute, über Gottes Nähe und Barmherzigkeit ebenso wie buddhistische Texte über das Erbarmen mit den Leidenden oder alevitische Texte zur Liebe, die Gott und die Menschen vereint. Die Texte sind für mich heilig, weil sie ganz im Sinne des latenischen textus (Gewebe) an einem großen, menschheitlichen Text »mitweben«, nämlich der Erzählung von sozialer Gerechtigkeit, fürsorglicher Zuwendung gegenüber Anderen, Achtung gegenüber allem Lebendigen. Und ich muss gleich hinzufügen, dass es ja die Texte nicht allein sind. Sondern dass es vielmehr um die Praxis der Auslegung dieser Texte geht, durch die sie in der Kommunikation, im kulturellen und religiösen Gedächtnis von Menschen und damit auch in ihrer kulturellen Praxis gehalten werden. Wenn ich also die Heiligkeit dieser Texte anerkenne, zolle ich auch den Menschen Respekt, die nicht aufgehört haben, den Sinn dieser Texte widerständig gegen andere Erfahrungen zu behaupten: gegen die Erfahrung von Gewalt, Missachtung, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit. Die Texte sind heilig, weil sie Ausdruck einer Praxis von Menschen sind, die nicht glauben wollen, dass Zerstörung, Gewalt, Missachtung das letzte Wort haben sollen. Eine letzte Bemerkung zu dem hier vorgetragenen Verständnis heiliger Texte gilt der Frage der Kritik. Sie ist notwendig – und zwar in zwei Richtungen. So können die Texte einerseits unsere heutige Praxis kritisieren. Weil sie hinter dem Sinnhorizont der Texte zurückbleibt. Die Texte können also Bewusstsein bilden für vergessene oder verdrängte Dimensionen einer humanen Praxis. Die Texte sind dann ein Stachel in unserer saturierten, vom Elend abgeschirmten Behäbigkeit: Wir fühlen uns gegenüber den radikalen Aussagen biblischer Texte über soziale Gerechtigkeit oft wie der reiche Jüngling, dem Jesus empfiehlt, sein Eigentum den Armen zu geben, um am Reich Gottes Anteil haben zu können. Für diese Kritik unserer Praxis brauchen wir diese Texte auch, weil sie – wie es der Heidelberger Bibelwissenschaftler Gerd Theißen sagt – »kontrapräsentisch«7 Einspruch erheben gegen eine sich selbst absolut setzende Gegenwart, gegen die normative Macht des Faktischen. Aber auch der heutige Leser kann sich befugt fühlen, kritische Fragen an die Texte zu stellen. Es gibt ja auch schwierige, befremdliche Texte, die hinter 7

  Gerd Theißen: Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003, 69; vgl. ausführlich auch Gerd Theißen: Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 170–196, Gerd Theißen: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik, Berlin/Münster 2014.

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dem Erwartungshorizont zurückbleiben, der in der Schrift selbst aufgebaut wurde: Warum gibt es Texte, die Gewalt göttlich legitimieren? Warum tritt Gott selbst in manchen Texten anscheinend als Despot und Gewalttäter auf? Warum wird in vielen Texten die Bedeutung von Frauen herunter gespielt oder zum Verschwinden gebracht? Solche Fragen und andere entstehen, weil ich die Schrift an ihren selbst gesetzten Maßstäben messe, weil ich die gewaltlegitimierenden Texte mit den gewaltunterbrechenden kritisieren kann. Ich finde es hermeneutisch legitim, ja sogar notwendig, die Schrift mit der Schrift zu kritisieren, also bestimmten Texten andere Texte gegenüberzustellen. Und zu meinem Verständnis vom Umgang mit heiligen Texten gehört auch, dass ich mich selbst als autonomer Leser in den Dialog mit diesen Texten einbringen kann, also dem Text erlaube, mir zu widersprechen wie auch ich mir erlaube, dem Text zu widersprechen.

2. Was kann man unter der politischen Dimen   sion des Religionsunterrichts verstehen? Indem ich erklärt habe, was ich unter einem heiligen Text verstehe, habe ich indirekt auch schon über das Politische gesprochen. Das ergibt sich aus dem Selbstverständnis der Bibel, deren Grunderzählung von einem sehr wichtigen Motiv bestimmt ist. Gerd Theißen nennt dieses Motiv den sog. Positionswechsel.8 Besonders eindrucksvoll findet sich dieses Motiv in einem Text aus dem Markusevangelium, den ich kurz zitiere, um zu verdeutlichen, worum es geht. In Kapitel 10, Vers 42f. heißt es dort: »Ihr wisst, die als Herrscher gelten, unterdrücken ihre Völker; und die Mächtigen missbrauchen ihre Macht über die Menschen. Aber so soll es nicht unter euch sein, sondern, wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein, und wer unter Euch der Erste sein will, der soll der Sklave aller sein.«

Positionswechsel heißt hier: Wer oben steht, soll die Perspektive wechseln und sich die Wirklichkeit von unten anschauen. Wer herrschen will, muss bereit sein, auf Herrschaft zu verzichten und die Perspektive der Beherrschten zum Maßstab von guter Macht nehmen. Wer gerecht sein will, schaut, was die Ungerechtigkeit im Leben der Armen anrichtet. Die Grunderzählung der Bibel, von der ich vorhin sprach, kann interpretiert werden als ein vollzogener Positionswechsel, ein Austausch der Perspektiven. Dieser Austausch führt zu einer Ermächtigung, einem Empowerment der kleinen Leute, der Armen. Er führt dazu, dass die Leute am Rand in die Mitte der Zuwendung geholt werden. Diese von der Bibel nahe gelegte Be8

  Vgl. Theißen: Zur Bibel, 75ff.

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trachtung der Wirklichkeit vom Rand oder von unten, aus der Erfahrung von Ohnmacht, aus der Perspektive von Armen und Opfern ist selbstverständlich politisch. Sie ist politisch in dem weiten Verständnis von Politik, das ich auch geltend machen möchte, wenn ich von einer politischen Dimension des Religionsunterrichts spreche – ich verstehe unter dem Politischen jenen Bereich, in dem es um Fragen der Gestaltung von Lebensverhältnissen geht, also um Fragen, nach welchen Kriterien und Regeln wir im Kleinen wie im Großen leben wollen, wie unterschiedliche Interessen koordiniert werden, mit welchen Verfahren wir diese Auseinandersetzung um unterschiedliche Vorstellungen friedlich organisieren. In meinem Verständnis beginnt Politik also schon in den kleinsten sozialen Verhältnissen, im Mikrosozialen. Unser Alltag ist voll von kleiner und großer Politik, die mit der selbstkritischen Betrachtung unserer Gewohnheiten beginnt: Wie bewege ich mich fort, was kaufe ich ein, wie teile ich meine Zeit ein, wofür gebe ich Geld aus? Was tue ich für die Flüchtlinge in meinem Viertel, mache ich was gegen die Verdrängung der Armen aus dem Zentrum der Stadt an ihre Ränder? Wie will ich jetzt und in Zukunft leben? Wenn Politik in diesen mikrosozialen Strukturen beginnt, dann bedeutet die Gestaltung von Politik auch, das Politische aus diesen Graswurzel-Verhältnissen aufzubauen und es von Anfang an in Dialog, Beteiligung und Mitgestaltung zu gründen. Meine These ist also: Das Politische lässt sich aus der Religion wie aus dem Alltag gar nicht heraushalten. Und der Religionsunterricht bekommt eine politische Dimension, wenn man im Alltäglichen das Politische herausarbeitet und sich des Politischen in den Grunderzählungen der heiligen Schriften hermeneutisch und theologisch vergewissert – wenn man also fragt, welche Aussagen mit ihren zentralen Texten verbunden sind. Ich habe bereits mit Bezug auf Horst Klaus Berg von Grundbescheiden der Bibel gesprochen. Diese Grundbescheide können zu politischen Sätzen werden, wenn sie aus einer bestimmten Perspektive verstanden werden: Dann geht es um die Zuwendung zu den Marginalisierten, um das Eintreten für Gerechtigkeit, um die Anerkennung auch der religiös und kulturell Anderen, um Befreiung aus Zwängen und um die Stärkung von Menschen – es geht aber auch darum, die Kämpfe und den Einsatz, die Siege und die Niederlagen, das Leiden und die Hoffnung unter dem Vorbehalt anschauen zu können, dass das Leben endlich ist, aber eine andere Perspektive bekommt, wenn wir hoffen, dass das nicht das letzte Wort ist, das über die Welt gesagt ist. Dies alles heißt: Von seinem Gegenstand her kann der Religionsunterricht durch hermeneutisch-theologische Rückbesinnung auf Alltag und biblische Tradition eine eigene Logik des Politischen entwickeln, die – sehr kurz gesagt – auf eine Option für Benachteiligte, auf Gerechtigkeit und Anerkennung zuläuft. Dies gilt, das will ich eigens betonen, ohne es hier entfalten zu

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können, nicht nur für den Bezug auf die biblischen Texte und das christliche Selbstverständnis. Zumindest würde ich mit Kollegen aus dem Judentum, dem Islam, dem Alevitentum, dem Buddhismus und Hinduismus meine These sehr gerne diskutieren, dass die politische Dimension auch im Blick auf einen dialogischen, interreligiösen Religionsunterricht möglich und notwendig ist.

3. Wie können heilige Texte mit der politischen    Dimension des Religionsunterrichts in    Verbindung gebracht werden? Es gibt hier zum Glück eine religionspädagogische Praxis, an die sich anschließen lässt. Das sind zum Beispiel Ansätze einer problemorientierten Bibeldidaktik (Horst Klaus Berg, Gerd Theißen) oder kontextuell-politische Lesarten heiliger Schriften wie die feministische Hermeneutik9, die sozialgeschichtliche Hermeneutik10, die befreiungstheologische Hermeneutik11 oder aktuell postkoloniale hermeneutische Ansätze12. Das Politische dieser Ansätze besteht in der Anwendung des sog. Zwei-Augen-Prinzips. Das Zwei-Augen-Prinzip ist ein Bild, das in der Bibellektüre der Befreiungstheologie entwickelt wurde. Das Bild meint die Verbindung von Bibel und Leben. Wenn man die Texte liest, soll man ein Auge auf die Bibel haben und das andere Auge auf das Leben richten. Das Lesen heiliger Texte findet immer in einem Zirkel zwischen Text und Leben statt. Eine politische Dimension erhält das Lesen biblischer Texte dann, wenn ich mich mit den Texten und immer zugleich auch kritisch mit meinem Alltag auseinandersetze. Das ist möglich, weil auch der Text sozusagen einen Alltag hat, also in einem sozialen Kontext steht und von religiösen, sozialen, politischen, ideologischen Konflikten durchzogen ist. Auch die biblischen Texte sind Ausdruck einer dialogischen Praxis in einer von sozialen Widersprüchen und Herrschaft durchzogenen Wirklichkeit. Die Texte beziehen sich auf soziale Wirklichkeit und sind mit ihr vollgesogen. Sie sollten auch unter der Frage betrachtet werden, welche soziale Realität sich in sie eingeschrieben hat. Vielen ist vermutlich die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) bekannt, in der der letzte Arbeiter, der in den Weinberg kommt, genau so viel erhält wie derjenige, der 11 Stunden länger gearbeitet hat. Wie 9

  Vgl. Luise Schottroff/Marie Theres Wacker: Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 2007. 10   Vgl. zum Beispiel Luise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005. 11   Vgl. Ulrich Schoenborn: Hermeneutik in der Theologie der Befreiung, Mettingen 1994. 12   Vgl. Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hrsg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 2013.

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oft ist dieses Gleichnis als metaphorische Erzählung über die Barmherzigkeit Gottes ausgelegt worden, in dessen Reich andere Maßstäbe gelten. Aber: Lesen Sie einmal den Text neu im Hinblick auf die soziale Realität der Tagelöhner, die auf dem Marktplatz auf Arbeit warten. Berücksichtigen Sie dabei, dass der Denar, den Sie bekommen, der Mindestlohn ist, also das, was man minimal braucht, um ein Auskommen zu haben. Denken Sie an die Familien der Tagelöhner und betrachten Sie erneut das Verhalten des Weinbergbesitzers, der nach Gutdünken den Lohn verteilt. Wie leicht oder wie schwer fällt nun die Analogie mit dem Handeln Gottes? Ist der Weinbergbesitzer barmherzig oder willkürlich? Braucht Gott am Ende vielleicht einen Tarifvertrag oder ein Gesetz zum Mindesteinkommen? Wo finden wir in unserer näheren oder ferneren Lebenswirklichkeit ähnliche Beispiele? Auf wessen Seite sollen wir stehen, auf wessen Seite steht Gott? Wenn wir so fragen, verorten wir die Texte in ihren sozialen Kontexten und vollziehen den Positionswechsel, von dem ich sprach. Genauso wichtig ist es aber auch, die Texte in die heutigen Kontexte zu stellen und sie als Augenöffner zum Verstehen heutiger Lebenszusammenhänge oder auch als Hilfen zum Ausdruck von Ohnmacht, Wut oder Hoffnung in Gebrauch zu nehmen. Ein Beispiel: Wer sich mit Form und Inhalt von Psalmensprache ein wenig auskennt, weiß, dass es zum Beispiel in den Klagepsalmen charakteristische Formelemente gibt, die immer wieder auftauchen. So gibt es eine Anrufung, auf die eine Elendsschilderung folgt, es gibt ein Element, in dem Gott geklagt wird, in dem der Psalmenbeter auch selbst anklagt und über die Feinde klagt. Auf die Klage folgen oft Vertrauensworte, Bitten, Dank und Lob, wenn die Klage erhört wurde. Dieser besondere Aufbau kann nun auch Anlass sein, in einer Lerngruppe einen eigenen Psalm zu schreiben zu einem aktuellen politischen Thema, in dem die Elemente der Psalmensprache vorkommen. In einer Schreibwerkstatt haben wir uns zum Beispiel mit der Berichterstattung über eine Hungersnot in Äthiopien auseinandergesetzt und dabei festgestellt, dass in einigen Zeitungstexten auch Formelemente von Klagepsalmen zu finden waren. Die Betrachtung von Klagepsalmen und journalistischen Klagetexten war Impuls zum Schreiben eigener Klagepsalmen zum Thema. Ein Beispiel für einen solchen Psalm sei angeführt: Hungersnot in Äthiopien Mein Gott, mein Gott, warum sind wir so träge? Wir sehen das Leid, aber rühren uns nicht. Du scheinst so fern zu sein, wo bist Du Gott?

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Uns hast Du doch auch befreit von Armut und Hunger, vom Kampf ums Überleben, von der Härte früherer Zeiten. Ich bin fern von Dir. Mir ist bewusst, dass die Menschen in Äthiopien hungern. Mir ist bewusst, dass auch ich helfen muss. Mir ist bewusst, dass sich kein Problem in Nichts auflöst. Und trotzdem bleibe ich tatenlos. Mit vollgepacktem Einkaufswagen stehe ich in den Schlangen der Supermärkte und ärgere mich über die Vordrängler. Die Pressemeldungen über die Hungersnot beachte ich nicht. Ich fühle mich hilflos, ohnmächtig und unbedeutend. Ich sehe das Elend der Anderen und erkenne, wie wohl es mir an Leib und Seele geht. Während ich im Überfluss lebe, sterben andere an Mangel. Sie sind fern von Dir. Ich klage die Firmen und Staaten an, die Waffen verkaufen; Menschenopfer für die Machtgelüste einiger Politiker. Wer wird diesen Menschen helfen? Ich glaube an keine Wunder mehr. Wie viele müssen noch sterben bis Hilfe kommt? Technik und Fortschritt hast Du uns gewährt, aber doch nicht um ihn gegen andere auszunutzen. So hilf doch den Wohlstand der Welt gerecht zu verteilen, dass keiner mehr an Hunger leiden muss. Gott, sei uns nahe in dieser Zeit. Du bist Hilfe für alle in der Not. Du bist immer da für uns. Wann immer wir Dich rufen, hörst Du unser Schreien. Du hilfst uns in größter Not. Wir haben Vertrauen in Dich. Du wirkst durch uns, so dass wir helfen können. Gib uns die Kraft, in uns selber zu vertrauen. Gib uns die Kraft, Passivität zu überwinden, so dass wir handeln wollen. Gehe gegen die menschenunwürdigen Missstände an. Lass uns Menschen hier kämpfen gegen die staatliche Ungerechtigkeit. Wir brauchen Deine Nähe und Deinen Frieden.

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Das Beispiel macht deutlich: Die Texte müssen nicht auf Distanz bleiben. Sie können und sie sollen uns auch im Religionsunterricht auf den Leib rücken. Und sie sollen helfen, unsere soziale Wirklichkeit aus einer neuen Perspektive zu »lesen«. Und damit meine ich nicht nur die Texte der biblischen Tradition. Bevor ich nun abschließend kurze zusammenfassende Sätze formuliere, möchte ich einen Cartoon erzählen, in dem unsere aktuelle Ausgangssituation im Blick auf das Verstehen heiliger Texte treffend in Szene gesetzt ist: Vor der Tür des Pastorats steht eine Flüchtlingsfamilie – Mutter, Vater, Tochter, Sohn. Ihnen gegenüber reibt sich der Pfarrer verlegen die Hände, Schweißperlen auf der Stirn. Aus seiner Entgegnung geht die Anfrage der Familie hervor. Der Pfarrer sagt: »… ja ja, gewiss! ›Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.‹ … Ich kenn die Stelle… Aber, Seh’n Sie, der Text ist doch fast 2000 Jahre alt… äh… mehr bildlich gemeint… das muss man aus der Zeit heraus verstehen…«

Und nun der Grundbescheid meines Textes: • Die heiligen Texte können uns sagen, wie wir menschlich bleiben (Grunderzählung, Hermeneutik des Positionswechsels). • Die heiligen Texte brauchen autonome und aktive Leser und neue Deutungen (in der Schule: Anfängergeist stärken). • Die aktiven Leser wissen und erkennen an, dass die Texte eine Geschichte haben und in einer Geschichte stehen. • Die Texte sind zu wichtig, um sie wörtlich zu nehmen. • Die Texte sind wichtig. Ich darf sie beim Wort nehmen. • Die Texte politisch zu verstehen heißt: Sie als Angebot zur Deutung unserer sozialen Wirklichkeit lesen. • Schließlich: Das Lesen heiliger Texte ist nicht exklusiv, sondern inklusiv. Wir brauchen eine mehrperspektivische dialogische Hermeneutik.13

13

  Vgl. Thorsten Knauth/Carola Roloff/Katja Drechsler/Florian Jäckel/Andreas Markowsky: Auf dem Weg zu einer dialogisch-interreligiösen Hermeneutik, in: Katajun Amirpur/Thorsten Knauth/Carola Roloff/Wolfram Weiße (Hrsg.): Perspektiven dialogischer Theologie. Offenheit in den Religionen und eine Hermeneutik des interreligiösen Dialogs, Münster/New York 2016, 207–324.

Religionsdistanz und religiöse Bildung Über eine entscheidende Frage der Religionspädagogik Joachim Kunstmann

1. Noch eine Herausforderung? Der Begriff »Herausforderung« findet sich als Titel auf allzu vielen religionspädagogischen Dissertationen – und in der Tat gibt es viele Herausforderungen für dieses Fach. Wie aber steht es um die religionspädagogische Auseinandersetzung mit der religiösen Öffentlichkeit? Die freie, ungebundene und selbst verantwortete Religiosität unserer Zeitgenossen, die mit den Begriffen »Konfessionslosigkeit«, »religiöse Indifferenz«, »Religion in der Schwebe«, »religiöse Pluralität«, »offene religiöse Suche« u.a. umschrieben wird, und zu deren Rand dann auch die wachsende religiöse Abstinenz gehört, stellt sicher die umfassendste Herausforderung dar, die der Religionspädagogik derzeit zu denken gibt. Wie lässt sich religiöse Bildung in einem Umfeld religiöser Distanz betreiben? Diese Frage betrifft keineswegs nur die Religionspädagogik, sondern die Theologie insgesamt. Grundlegende Fragen einer christlich konturierten religiösen Bildung können nicht mehr aus religionspädagogischem Blickwinkel allein erörtert werden. Religiöse Bildungsprozesse hängen von der Plausibilität christlicher Gehalte und Denkformen ab, die vor allem in der Systematischen Theologie reflektiert wird. Die fachtheologische Kooperation ist in Zeiten eines zunehmenden öffentlichen wie privaten Bedeutungsverlustes des Christlichen ein dringendes Erfordernis. Sie wird durch fachwissenschaftliche Spezialisierung derzeit aber zunehmend erschwert. Die wissenschaftlichen Standards und das intellektuelle Niveau der Theologie sind hoch. Es ist daher gut nachvollziehbar, dass Dilettantismus ebenso verpönt ist wie religiöse Beliebigkeit. Die fachwissenschaftliche Forschung wendet sich freilich immer engeren Themenbereichen zu, die oft schon die Fachkollegen nicht mehr wirklich nachvollziehen können – geschweige denn eine religiöse Öffentlichkeit. Und ihre Abstrahierungen und Historisierungen wirken eher frömmigkeitsdistanzierend als -fördernd:

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»Die Theologen haben die Gotteskommunikation auf die Texte der Offenbarung reduziert. Man kann sie nicht fragen, was Gott von der modernen Welt hält. [...] Auf der Abstraktionsebene der Theologie ist die Kommunikation über Gott an die Stelle der Erfahrung des Heiligen getreten.«1

Wie kann eine hoch spezialisierte akademische Theologie auf die Herausforderung durch die freie Religiosität eine sinnvolle und konstruktive Antwort geben? Empirische Untersuchungen und verschiedene Lagebeschreibungen haben klassifizierende Einteilungen und Zuordnungen hervorgebracht. Sie zeigen u.a., dass Glaube mit Schwäche, Kirche mit Fremdverpflichtung und das Christentum oft recht umstandslos mit Aberglauben assoziiert werden.2 Konfessionslosigkeit, Religion in der Schwebe, religiöse Pluralität, individualisierte und selbst verantwortete Religiosität und eben auch Religionsdistanz sind offenbar als der religiöse Normalfall zu begreifen. Sie entsprechen der grundlegenden Pluralität der Moderne, und sie sind erwartbarer und folgerichtiger Ausdruck der in allen Lebensbereichen zunehmenden Individualisierung. Freie Selbstverantwortung und Selbstentfaltung sind Basiswerte moderner Lebensüberzeugung. Daher ist die nur individuell zu verantwortende, autonome Religiosität sogar deren Pointe. Zum normalen Spektrum moderner Religiosität gehören dann auch Agnostizismus, Religionsabstinenz und religiöser Analphabetismus; ferner die große Front der religiösen Sinnsucher. »Es bleibt den Individuen überlassen, ob überhaupt und wie sie sich ins Religionssystem einbeziehen lassen, wie sie sich auf dem Markt der religiösen Symbol- und Ritualanbieter verhalten. Lebensführungspraktisch notwendig ist es für die Individuen nicht.«3 Die genannte Herausforderung gilt also offenbar der Akzeptanz der religiösen Realität, der mit traditionsbasierten Glaubensaussagen nicht mehr plausibel zu begegnen ist. Theologische Spezialisierung scheint dafür ebenso wenig geeignet wie geduldige Übersetzungsarbeit. 1

  Norbert Bolz: Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen, München 2008, 96. 2   Die derzeit gründlichste Untersuchung zur Religiosität heute benennt eine »vollständige religiöse Individualisierung und Konsumorientierung« (Jörg Stolz/Judith Könemann/Mallory Schneuwly Purdie/Thomas Engelberger/Michael Krüggeler: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens, Zürich 2014, 15). Religion werde »in den Bereich der Freizeit abgedrängt« (a.a.O., 14). »In sehr vielen Bereichen der Konkurrenz wählen Individuen die säkularen und nicht die religiösen Optionen« (ebd.). Weitere Stichworte sind u.a. »abnehmende Plausibilität von Religion« (a.a.O., 23) und »Niedergang der institutionellen Kirchlichkeit« (a.a.O., 27); entsprechend gilt: Religiöser Glaube werde »mit einer Negativbilanz an die nächste Generation weitergegeben« (a.a.O., 123). 3   Wilhelm Gräb: Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006, 25.

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Systematisch-theologische Reflexionen und kirchliche Ansprüche werden kaum noch öffentlich wahrgenommen. Die etablierten christlichen Denkformen werden offensichtlich nicht mehr als hilfreich oder bereichernd empfunden, oder einfach nicht mehr verstanden. Das dürfte die eigentliche Herausforderung sein. Dagegen werden oft genug auch abstruse spirituelle Vorstellungen arglos für wahr gehalten; sie bleiben unreflektiert und flüchtig. Wo die freie Religiosität als »religiöse Beliebigkeit«, »religiöser Wildwuchs« oder als »Cafeteria-Religiosität« gilt, muss das allerdings zwangsläufig überheblich wirken – auch wenn die Einschätzung zutrifft. Wer die religiöse Autonomie nicht grundlegend ernst nimmt, schließt sich offenbar aus dem öffentlichen religiösen Diskurs aus. Mit bedingt wird die wachsende Religionsdistanz sicher auch durch die Innovationsscheu der Kirchen, in denen ein konstruktives, offenes und risikobereites Eingehen auf gegenwärtige existentielle und religiöse Problemstellungen nicht der Regelfall ist. Aber auch die Themen einschlägiger systematisch-theologischer Zeitschriften behandeln vor allem die eigene Vergangenheit. Nach Friedrich Schleiermachers plausibler Einschätzung soll systematische Theologie »Frömmigkeits-Klärung« sein. Faktisch aber betreibt sie überwiegend eine christliche Kulturarchäologie: die reflexive Aufarbeitung der eigenen Traditionsvergangenheit. Der Bedeutungsverlust des etablierten Christentums hat Gründe, die in der modernen Lebenswelt liegen: Technisierung, Bedürfnisorientierung, Optionsspielräume usw. Er legt aber auch die Vermutung nahe, dass die innere Orientierung an einem inhaltlich vorgegebenen Glauben nach wie vor christlich strukturbildend ist.

2. Glaubenswahrheit und freie Religiosität Peter L. Berger hat bereits 1980 vom »Zwang zur Häresie« gesprochen.4 Der »häretische Imperativ« ist für Berger das religiöse Grundkennzeichen der Moderne. Die Theologie hat nach Berger drei Möglichkeiten, auf diese Nötigung zur religiösen Autonomie zu reagieren: Sie kann deduktiv vorgehen, im Sinne einer Bekräftigung durch religiöse Autorität und der Behauptung von fundamentalen Wahrheiten. Oder reduktiv: indem sie selbst den Weg der Säkularisierung geht, der vor allem das »Weghandeln der Mythologie« betreibt und einen Verzicht auf umfassende Deutungen, und der dem heutigen religiösen Pragmatismus entspricht. Oder sie kann induktiv verfahren: bei der Erfahrung ansetzen, im Sinne Schleiermachers und der liberalen Theologie.

4

  Vgl. Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1980.

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Nach Berger ist das der einzige Weg, der wegführt von der »sterilen Alternative« zwischen Neo-Orthodoxie und Säkularismus. Folgte man dieser Einschätzung, dann wäre die Religion primär keine Überzeugung, kein Bekenntnis und kein lehrbarer Glaube, sondern diejenige Erfahrung, die zu einer veränderten Lebenseinstellung führt. Die theologische Reflexion müsste sich auf diese mindestens ebenso beziehen wie auf traditionelle Deutungsschemen. Damit freilich setzte sie sich der prinzipiellen Unverrechenbarkeit des Subjektiven aus. Die Religionspädagogik (und mit ihr die Praktische Theologie) hat seit langem und eigentlich recht gründlich auf die nachlassende Verbindlichkeit und Selbstverständlichkeit der Religion im modernen Leben reagiert. Das jahrhundertealte katechetische Modell gilt seit Jahrzehnten klar als überholt. Selbst die Auslegung von Tradition gibt spätestens seit der Problemorientierung kein plausibles religionspädagogisches Grundmodell mehr ab. Inzwischen hat der diagnostisch sensible Rudolf Englert von einer »Emigration des Glauben-Lernens« gesprochen.5 Symboldidaktik, Kirchenraumpädagogik und performative Religionsdidaktik versuchen daher Religion über Prozesse und ästhetische Gestaltungsformen zugänglich zu machen. Was aber heißt religiöse Bildung unter den Bedingungen religiöser Distanz? Welche Rolle kann hier die christliche Glaubenstradition (noch) spielen? Solchen Fragen haben sich in der Religionspädagogik dezidiert bisher nur Michael Domsgen und Michael Wermke zugewendet.6 Religiöse Gehalte und Traditionen lassen sich in der späten Moderne nicht mehr jenseits vom Wissen um deren historische Relativität verstehen. Es gibt aber offenbar eine theologische Scheu davor, offen zu sagen: Alle biblischen Texte, alle Bekenntnisse des Glaubens und alle Dogmatik sind Darstellung und Interpretation menschlicher Erfahrung. Erfahrungen sind immer subjektiv, und sie brauchen zu ihrer Mitteilung die symbolische Darstellung – die in der Religion ja auch eine starke Rolle spielt. In der Theologie aber haben sich symbolische, psychologische oder ästhetische Auslegungsformen gegenüber der dogmatischen Reflexion keineswegs durchsetzen können. Das moderne Denken basiert auf dem Anspruch von Autonomie, Bedürfnisorientierung und Selbstentfaltung. Glaubenslehren, auch wenn sie im harmoniegestimmt-humanen Tonfall vorgebracht werden, sind hier keine ernst zu nehmende Front mehr; auch nicht für den wachsenden Atheismus. 5

  Vgl. Rudolf Englert: Der Religionsunterricht nach der Emigration des Glauben-Lernens. Tradition, Konfession und Institution in einem lebensweltorientierten Religionsunterricht, in: Katechetische Blätter. Zeitschrift für Religionsunterricht, Gemeindekatechese, Kirchliche Jugendarbeit 123 (1998), 4–12. 6   Vgl. vor allem Michael Domsgen: Religionserschließung im säkularen Kontext. Fragen, Impulse, Perspektiven, Leipzig 2013; Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Konfessionslosigkeit heute. Zwischen Religiosität und Säkularität, Leipzig 2014.

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Kritische Zeitgenossen sind Theologie und Kirche nicht, wenn sie der Zeit eine systemimmanente Logik gegenüberstellen.7 Warum eigentlich sollte es nicht denkbar sein, eine ungebundene, freie Religiosität zu leben, und sich dabei als Christ zu verstehen? Die Lebensklugheit der christlichen Tradition steckt für viele Menschen heute ganz offensichtlich vor allem in ihren Gottes- und Heiligkeitserfahrungen, die sich weit mehr in ihren Symbolen, Räumen und Geschichten ausdrücken als in ihren Glaubenslehren – die sich also ästhetisch mitteilen. Vorstellungen von einer Trinität, einer Jungfrauengeburt und christologische Aussagen können christliche Religiosität auch behindern. Auch im Bereich der Religion fragen moderne Individuen – der Logik von Angebot, Nachfrage und Optionen folgend – nach persönlichen spirituellen Valenzen und legen Kriterien wie »sinnvoll oder unsinnig« oder »nützlich oder nicht hilfreich« an. Der Rückbezug auf verlässliche Glaubenslehren war lange religionsproduktiv – heute ist er prekär geworden. Wo »der« Glaube als verlässliche Basis gilt, werden psychologische oder symbolische Deutungen, wie sie etwa Eugen Drewermann oder Hubertus Halbfas versucht haben, als unzulässige Relativierungen (etwa als Psychologisierungen) eingeschätzt; und dann muss Postmoderne als postmoderne Beliebigkeit gelten, obwohl gerade die Postmoderne für das moderne Relativitätsbewusstsein als paradigmatisch gelten kann. Denn die historische Relativität aller Standpunkte und Wahrheitsansprüche markiert heute den Stand des Alltagsbewusstseins ebenso wie des geisteswissenschaftlichen Denkens. Es gibt keine religiöse Objektivität. Auch wenn es mächtige Symbole und Traditionen gibt, bleibt jede Wahrheit letztlich subjektiv. Das muss eine an Tradition orientierte religiöse Haltung, die sich nach Gewissheit sehnt, verunsichern; und es erklärt die verbreitete Scheu vor der Einsicht in die historische Relativität aller religiösen Gehalte. Es gibt aber keine Glaubenswahrheit jenseits subjektiver Vergewisserung. Und die ist auf zeitbedingtes Verstehen verwiesen. Für die religiöse Bildung ist dieser Gedanke von zentraler Bedeutung. Auch religiöse Bildung ist immer Selbst-Bildung. Primärer Zugang zur Religion sind Erfahrungen, nicht religiöse Traditionen. Die Tradition kann freilich immer auch Erfahrungen anstoßen – in aller Regel sind die Erfahrungen, die zu religiösen werden, heute aber nicht Glaubens-, sondern Lebenserfahrungen. In diesem Verständnis gibt es nur eine fides qua.

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  Dies kann auch als religiöse Inkompetenz der Kirche bezeichnet werden, die es offensichtlich nicht als ihre Aufgabe ansieht, konstruktiv auf die faktische Religiosität heutiger Menschen einzugehen, vgl. Joachim Kunstmann: Rückkehr der Religion. Glaube, Gott und Kirche neu verstehen, Gütersloh 2010.

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Die Folge aus dieser Einsicht ist eine unbequeme: Alle etablierten Traditionsformen – von Pauluszitaten bis hin zur Erlösungslehre – müssen sich heute der freien Deutung und der offenen Kritik stellen. Ohne die Auferstehung, sagt Paulus, ist unser Glaube leer (1 Kor 15,14). Wo würde einmal gesagt: Das ist nicht mehr nachvollziehbar? Aus der Auferstehung lässt sich nicht die Wahrheit des Christentums ableiten. Für die christliche Glaubwürdigkeit wäre es gut, wenn solche Kritik nicht von außen vorgebracht würde. Stattdessen wäre von der dogmatischen Theologie eine kritische Sichtung der traditionellen Glaubenslehre erwartbar, und von der Kirche eine offene religiöse Kommunikation. Mit alledem ist mitnichten eine vorschnelle Anpassung an moderne Religiosität anvisiert. Die ist ja tatsächlich sehr oft flüchtig und selbstwidersprüchlich. Wenn das Christentum allerdings die religiösen Fragen, Denkstrukturen und das religiöse Selbstverständnis der Menschen nicht erreicht, wird es seinem eigensten Anliegen nicht mehr gerecht und macht sich selbst zunehmend überflüssig. Auch für religiöse Kulturformen gilt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Normative Lehraussagen widersprechen auch der Botschaft Jesu, den man in aller Regel sehr distanziert den »historischen Jesus« nennt. Im apostolischen Glaubensbekenntnis, das vielen Christen als Kern ihres Glaubens gilt, kommen die Grundbegriffe seiner Botschaft, das Reich Gottes und die Liebe, nicht vor. Wilhelm Gräb hat es deutlich markiert: »Der Anspruch der Theologie, nicht eine menschliche Religionslehre zu betreiben, sondern auf Gott selbst zu hören, führte sie zurück in einen vormodernen Bibelglauben«8 – und zugleich ins gesellschaftliche Abseits. Eine solche Theologie verliert ihren Gegenstand an Religionssoziologie, Religionswissenschaft und Philosophie und trägt zur »Religionsunfähigkeit der Kirche«9 bei.

3. Anschluss an das Denken der Moderne Für moderne Menschen hängt religiöse Bedeutung nicht an Glaubensinhalten, sondern an religiösen Prägungen und Erfahrungen. Die Kernaussagen der Botschaft Jesu – das Reich Gottes, die Liebe und die haltungsändernde Umkehr – sind angesichts zunehmender Isolation, Sinnleere und seelischer Erschöpfung auch für die vielen spirituellen Sinnsucher heute durchaus verständlich und ansprechend.

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  Wilhelm Gräb: Vorwort, in: Wilhelm Gräb (Hrsg.): Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh 1999, 9–11, 10. 9   Ebd.

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Glaubenslehren können als eine innere Grammatik des Christlichen verstanden werden. Freilich sind sie Sache der Experten, nicht der Frommen. Ihre Auslegung ist »Theologentheologie« (Falk Wagner). Die Nähe Gottes ist aber nicht in gültige Sätze zu fassen; sie braucht eher Wahrnehmungen und deren Symbolisierungen. Die viel beschworene fides quae ist theologisch eine Selbsttäuschung, wenn man sie als zeitlose Wahrheit versteht. Gott verschwindet hinter den Sätzen des Glaubens, wie Meister Eckhart sehr genau wusste. Das Christentum ist kein lehrbarer Glaube, sondern eine Religion – freilich die tiefste und menschlichste. Das alles ist theologisch längst benannt, findet in die Glaubensüberzeugung vieler Christen aber nur schwer Eingang. Das gilt allem voran für die Einsichten der historisch-kritischen Exegese, die nach wie vor als verunsichernd erfahren werden. Sie verbietet es, biblische Aussagen umstandslos als Begründungen des Glaubens zu verstehen. Freilich klärt sie den Blick für das biblisch Wesentliche. Und sie macht es möglich, zum Beispiel in einer Predigt auch einmal eine klare Distanz zu unglaubwürdig gewordenen biblischen Aussagen herzustellen. Vergleichbares gilt für Rudolf Bultmanns Idee der Entmythologisierung, die das Glaubensgebäude zwischen Schöpfung, Sündenfall und Erlösung als Mythologie zu sehen lehrt. Wörtlich verstanden ist Mythologie Aberglaube, wie Paul Tillich das immer wieder sehr unmissverständlich gesagt hat. Das verunsichert; es kann aber auch als befreiend erfahren werden. Die christliche Mythologie ist durchaus tiefsinnig. Ein angemessener Umgang mit ihr erfordert nicht ihre Verabschiedung, sondern eine symbolische Deutung, die dann aber auch als solche benannt sein muss. Würde aber zum Beispiel die Auferstehung als Symbol benannt, wären schnell gläubige Tabus berührt. Ausgesprochen nahe liegend wäre auch eine konstruktive Aufnahme von Dietrich Bonhoeffers Gedanken einer nicht-religiösen Interpretation christlicher Begriffe und Lehrsätze. Für ein heutiges Verstehen ist deren psychologische Deutung kaum noch zu umgehen. Das psychologische Denken ist längst zum Teil des gängigen Alltagsbewusstseins geworden. Die Herausforderung, der es sich zu stellen gilt, ist also die historische Relativierung der Religion durch das moderne Bewusstsein. Sie lässt sich nicht mehr durch eine neue Unmittelbarkeit des Glaubens beantworten, wie sie noch einmal Karl Barth versucht hat. Es ist das Erbe der liberalen Theologie, das sich heute dringend zur Neuaneignung empfiehlt: die Betonung der historisch-kritischen Exegese und damit der theologischen Wissenschaftlichkeit auch für die Frömmigkeit; die klare Benennung der historischen Relativität in allen religiösen Zeugnissen; die Betonung der religiösen Erfahrung und deren persönlichkeitsbildender Potentiale; und ganz grundlegend die Botschaft und das Leben Jesu. Das ist ebenso christlich wie zeitgemäß verständlich.

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Der Protestantismus nimmt sich selbst nicht ernst, wenn er nicht das »protestantische Prinzip« (Tillich) auch auf sich selbst anwendet. Jede Fixierung von Heiligkeit ist unchristlich, auch das Festhalten an Bibeltexten und Glaubenssätzen. Es gibt keine objektive, verkündbare Wahrheit. Religiös angemessen ist dagegen die Kommunikation von Erfahrungen und deren symbolischer Deutung. Die Bibel ist kein geoffenbartes Fundament, sondern eine Sammlung von Erfahrungen – womit über ihren identitätsverbürgenden Rang, ihre existentielle Tiefe und ihre entsprechende Würde nichts gesagt ist. Wo ihre historische Relativität aber nicht klar benannt wird, entsteht das Bild einer an Tradition, Verbindlichkeit und Autorität orientierten Religionskultur, die in einem merkwürdigen Gegensatz zum heutigen Autonomieanspruch steht, und auch zur durchgängigen Orientierung an Bedürfnis und Selbstentfaltung. So ergibt sich das Bild eines Christentums, das mit der Verwaltung religiöser Restbestände beschäftigt ist, die gesellschaftlich und kulturell bereits weitgehend als funktionslos ausgeschieden sind – auch wenn Theologen und Kirchenleute selbst das ganz anders sehen mögen.

4. Was hieße: die Herausforderung annehmen? Orientierung ist nur über einen klugen Umgang mit Relativität möglich. Wer das nicht akzeptieren will, wird auch die veränderten Existenzbedingungen und das Denken der Menschen heute nicht verstehen. Die aber genau zu kennen, ist für die theologische Reflexion inzwischen unverzichtbar geworden. Die Alternative zur theologischen Kulturarchäologie eines immer bedeutungsloser werdenden Religionssystems wäre es, das Christentum als kritisch deutende Agentur heutiger religiöser und existentieller Orientierungen zu verstehen. Dazu muss sich die Theologie natürlich im eigenen traditionellen Symbolkontext auskennen. Die Theologie hat beide Aufgaben: die der Traditionsklärung und die der Gegenwartsdeutung. Sie muss daher die freie und distanzierte Religiosität ernst nehmen, sie muss den Menschen kennen und die heutige Art des Denkens und der Lebensorientierung. Es reicht theologisch nicht aus, eine analytische Einteilung in »konfessionslos«, »freie Religiosität« usw. vorzunehmen. Das moderne Denken lässt sich cum grano salis als genetisch, perspektivisch und psychologisch kennzeichnen. Es ist erstens genetisch, insofern es ganz selbstverständlich von der historischen Genese allen Denkens, allen Wissens und aller geistigen Positionen ausgeht. Alles ist historisch herleitbar und entsprechend erklärbar. Das heißt auch: Es gibt keine überzeitliche Wahrheit; ein Begriff wie »Offenbarung« ist objektiv verstanden eine illusionäre Behauptung. Es ist zweitens perspektivisch, indem es von der subjektiven Bedingtheit aller Standpunkte und der grundsätzlichen Relativität von Sichtweisen

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ausgeht – »Du hast deine Erfahrung, ich habe meine«. Es gibt durchaus eine Wahrheit der subjektiven Sichtweise, eine objektive Wahrheit aber wird nur der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zugestanden. In dieser Sicht ist eine »Einheit im Glauben« ein vormoderner Traum und eine Einengung von persönlichen Spielräumen. Es ist drittens psychologisch, insofern es ganz automatisch Motive und Interessen hinter allen Standpunkten, Erfahrungen und Aussagen mitbedenkt und diese als entsprechend bedingt erfährt. Moral zum Beispiel hat immer auch die Funktion des Sich-Gut-Fühlen-Wollens. Wer wütend auf einen Tatbestand reagiert, bringt damit nicht nur zum Ausdruck, dass der Tatbestand ungerecht oder empörend ist, sondern möglicherweise auch, dass er schlecht geschlafen hat. Die seelischen Belastungen der Menschen sind derzeit ausgesprochen hoch. »Das erschöpfte Selbst«,10 ein psychiatrisches Fachbuch, ist vor einigen Jahren in Frankreich zum Bestseller und inzwischen zum »sprichwörtlichen Titel« avanciert. Die Anforderungen des modernen Lebens stellen unter Druck, die Isolation wächst, die Stressbelastung ist hoch. Freie Zeit, Muße und echte Genussfähigkeit verschwinden immer mehr aus dem Alltag. Die Beziehungen in Familien und Partnerschaften werden instabiler. Gerade hier würde die tiefe Lebensklugheit der christlichen Tradition dringend gebraucht werden. Das Christentum ist in seinem Wissen um Schmerz (Passion), Abtrennung vom Leben (Sünde), Angewiesensein (Schöpfung, Gnade, Rechtfertigung) und als Fundament echten Lebensgenusses (»Seht die Lilien!«) eine Fundgrube moderner Lebenseinsicht. Es dürfte das einzige tragfähige Gegenüber zu den seelischen Auszehrungen des spätmodernen Lebens sein.11 Unter dem Signum einer »Glaubenswahrheit« steht das Christentum aber nicht zur modernen Verfügung. Vor allem die im Christentum so prominente Rede von Schuld und Erlösung hat im modernen Leben nur noch eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Einer Gesellschaft, die Individualität und Durchsetzungsfähigkeit favorisiert, kann Schuld allenfalls als behebbare Panne erscheinen. Schuld hat Gewicht, allerdings ein begrenztes. Von allergrößter Bedeutung dagegen ist die Scham, die sich in eingefallenen Gesichtern, zunehmender Freudlosigkeit und in der starken Sehnsucht nach Anerkennung zeigt. Der Wunsch, gesehen zu werden, ist derzeit übermächtig. Er drückt sich in Mode, Statussymbolen, Erfolgsgier und Castingshows aus und führt weit eher zu Dauer-Anstrengung, Gehetztsein und innerer Leere als jemals zur Erfüllung. 10

  Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004. 11   Vgl. Joachim Kunstmann: Leben eben! Religion für Sinnsucher – eine Anleitung, Gütersloh 2013.

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Die Folgen der individuellen Freiheiten werden immer mehr als Last erlebt. Isolation, Erschöpfung und Lustlosigkeit verbreiten sich und vermindern die Lebensqualität. »Burnout« ist weniger eine Modevokabel als vielmehr eine seelische Epidemie – die erwartbare Folge eines zwischen Erfolgsdruck und faktischer Erfolglosigkeit pendelnden Menschen, der die Vorgaben seines Konzerns oder der Bürokratie erfüllt. Der »überflüssige Mensch«12 findet sich immer öfter zwischen Erfolgssehnsucht und den Müllhalden des Kapitalismus wieder, der immer gnadenloser über persönliche Schicksale hinweggeht. Die neuen ökonomischen Zwänge haben die persönlichen Freiheiten längst instrumentalisiert: »In dieser Zwangsgesellschaft führt jeder sein Arbeitslager mit sich«13, wie es Byung-Chul Han scharf formuliert. Sinnlosigkeit und mangelndes Selbstwertgefühl sind die unausgesprochenen großen Themen – nicht Glauben, Sündenschuld und Erlösung. In Summa: Theologische Reflexion muss sich als religiöses Expertenwissen symbolisierter Lebenserfahrungen verstehen, nicht als Glaubensgut, und auch so präsentieren. Sie hat entschlossen die christliche Tradition ebenso anzubieten wie der offenen, auch zeitbedingten Kritik auszusetzen. Sie muss klar machen, dass der Glaube einzig Gott gilt, nicht den zum Teil sehr lange zurückliegenden Interpretationen von religiösen Erfahrungen. Und sie muss die Erfahrungen der Menschen heute vorbehaltlos ernst nehmen. Neben der analytischen hat die Theologie auch eine produktive Aufgabe, die bisher weit unterschätzt und meist nur in der Praktischen Theologie überhaupt wahrgenommen wurde. Aber auch die Praktische Theologie muss über bloße Religionshermeneutik deutlich hinauskommen. Historisch-kritische Exegese, die Bultmannsche Entmythologisierung, die nicht-religiöse Interpretation Bonhoeffers und vor allem das symbolische und psychologische religiöse Denken – die dem Alltagsdenken heute deutlich entsprechen – wären so zu formen, dass sie sich in der christlichen Kultur etablieren könnten. Die stabile Allianz von konservativ-dogmatischer Gemeindefrömmigkeit und kirchenleitenden Entscheidungen sollte nicht länger echte religiöse Innovationen verhindern.

5. Religionsproduktive Religionspädagogik Angesichts der unhintergehbaren neuzeitlichen Autonomie liegt als religionspädagogische Grundaufgabe auf der Hand, die Menschen dazu zu befähigen, ihre eigene Religiosität auszubilden. Überflüssig zu sagen, dass das natürlich in einem christlichen Deutungsrahmen geschehen soll, dessen 12

  Ilja Trojanow: Der überflüssige Mensch. Unruhe bewahren, St. Pölten/Salzburg/ Wien 2013. 13   Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 52011, 35.

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Klugheit sich allerdings nicht mehr von selbst versteht, sondern plausibel gemacht werden muss. Zum Verständnis für die Bedeutung von Religion auch gegenüber Religionsdistanzierten wäre freilich entschlossen ein symbolisches Verstehen zu betreiben. Nicht mehr nur die christliche Glaubensmythologie, sondern vor allem die christliche Anthropologie dürfte sich dafür empfehlen. Die Gedanken zur Sünde – als abgesondertes, lebensabgewandtes Kreisen um sich selbst verstanden –, zu Ebenbildlichkeit, Bund, Geschöpfsein, Gnade, Rechtfertigung usw. sind von kaum einzuholender Bedeutungstiefe und auch unter spätmodernen Bedingungen ausgesprochen einleuchtend. Freilich gehört es konstitutiv zur Reflexion der Tradition hinzu, über Wege von deren möglicher Aneignung nachzudenken. Das ergibt sich zwingend aus der Einsicht, dass alle religiösen Traditionen Erfahrungsformen sind, nicht schon die Sache selbst. Ihre Valenz ist religiös nicht anders zu haben als durch immer neue Inszenierung, Implementierung und Präsentation – das heißt also durch die Mitgestaltung des religiösen Lebens. Daher kommt den ästhetischen Gestaltungsformen der Religion auch eine besondere Bedeutung zu: den Sakralräumen, den Ritualen und Bildern, dem Kultus. Umfragen belegen: Die meisten Religionslehrer denken und agieren längst von der Sicht ihrer Schüler aus. Ihr Interesse gilt deren sich entfaltender Religiosität. In erwartbarer Korrespondenz dazu stehen die allermeisten von diesen Lehrern auch in kritischer Distanz zum Dogma und zu einer glaubenszentrierten Kirche und fühlen sich nicht als deren Agenten. Allzu oft aber agieren sie einseitig kognitiv. Emotionen und Existenzerfahrungen, oder gar religiöse Erfahrungen zum Thema zu machen, ist nicht gerade leicht und muss den persönlichen Freiheitsraum beachten. Es muss aber neben der kritischen Reflexion einen grundlegenden religionspädagogischen Stellenwert einnehmen. Die Religionspädagogik muss daher eine konzeptionelle Weiterentwicklung betreiben, die das so lange schon geforderte Ernstnehmen der Subjekte endlich auch konzeptionell einlöst. Existentielle Auslegung des Mythos und des Symbols war ein zentrales Anliegen der liberalen Religionspädagogik, namentlich ihres Hauptvertreters Richard Kabisch.14 Auch die hermeneutische Konzeption der 1960er Jahre hatte das gewollt, und die Symboldidaktik hat es weitergeführt und vertieft. Was aber sind existentielle Fragen heute? Was beschäftigt, was brauchen Menschen in der Tiefe ihrer Seele und für ihre Lebensorientierung heute? Das ist kaum zu sagen ohne soziologisches

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  Vgl. Richard Kabisch: Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen Religionsunterrichts für alle Schulen auf psychologischer Grundlage, Göttingen 1910.

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und psychologisches Wissen und wohl auch nicht mehr ohne ein Mindestmaß an therapeutischem Verstehen. Nicht Probleme, sondern Existenzfragen, Lebenserfahrungen, Lebenshaltungen und deren mögliche religiöse Deutung sind Grundthemen religiöser Bildung. Für religionsdidaktische Prozesse reicht es aus, nach lebensprägenden Erfahrungen zu fragen – und diese dann für eine religiöse Deutung zu öffnen. Dafür stehen religiöse Traditionen (Glaubensaussagen, Symbole, Räume usw.) als Medien und Deutungshilfen bereit. Die Religionspädagogik sollte über die Einführung in die Logik der Religion, wie sie die religionsdidaktischen Konzepte der Symboldidaktik, der Kirchenraumpädagogik oder der performativen Religionsdidaktik betreiben, hinausgehen und religionsbildende Konzepte entwickeln, die bewusst und gezielt die Religiosität des Einzelnen formen. Subjektiv bedeutsame Religiosität entsteht weder durch monopolartige (Glaubens-)Vorgaben, noch allein im einzelnen Subjekt selbst. Sie ist ein intersubjektives Phänomen, braucht daher vor allem die innere Beteiligung. Und darum braucht sie die Fähigkeit zur Symbolisierung von lebensbedeutsamer Erfahrung, das heißt die Befähigung zum religiösen Ausdruck. Hierzu wäre nicht nur ein reflektiertes Wissen um die Entstehung von religiöser Vergewisserung und religiöser Identität vonnöten, die über die religionspädagogisch so exzessive Beschäftigung mit den Entwicklungsstufen von Religiosität deutlich hinausginge. Wie entsteht überhaupt Religiosität? Wie und wodurch wird sie persönlichkeitsbildend, bereichernd, orientierend? Die Symboldidaktik wäre zu einer Symbolisierungsdidaktik fortzubilden, die dann auch deutlich über die Beschäftigung mit Einzelsymbolen hinausgehen müsste. Zwar hat man sich hier längst von Glaubensinhalten verabschiedet und auf religiöse Ausdrucks- und Denkformen gesetzt – arbeitet aber immer noch recht einseitig innerhalb der religiösen Tradition. Schüler im Religionsunterricht aber, Menschen generell, sollten in die Lage gesetzt werden, religiöse Traditionen um ihrer eigenen Existenzdeutung willen symbolisch zu lesen und vor allem eine eigene symbolische Ausdrucksfähigkeit zu entwickeln. Vergleichbares gilt für die performative Religionsdidaktik. Sie ist ein guter, sinnvoller und notwendiger Weg, die Logik von Religion in einer subjektiv akzeptablen und bildenden Weise aufzuschließen, und sie vermag durchaus existentielle Orientierung zu geben. Freilich kennt auch sie keine bewusste Anbahnung, Förderung und Reflexion individueller Religiositätsentwicklung. So wie es die eigentliche Aufgabe der Kirche ist, Kirche für die Religion der Menschen (Martin Kumlehn) zu sein, so ist es die der Theologie, die religiösen Erfahrungen der Gegenwart in einem heute verständlichen christlichen Traditionsrahmen sinnvoll zu deuten. Aufgabe der Religionspädagogik

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ist die bildende Entfaltung persönlicher Religiosität. Dazu ist sie nicht zuletzt an den zentralen Ort der Inszenierung von religiöser Erfahrung verwiesen, den Kultus. Religiöse Bildung ist immer auch »Kultusfähigkeit« (Schleiermacher). Der Kultus aber, Gradmesser der Lebendigkeit der Religion, muss umgekehrt ebenso wie alle religionspädagogischen Lernprozesse ein kommunikatives Geschehen werden, wenn sich die Menschen in ihm wiederfinden und religiös gebildet werden wollen. Religiöse Bildung kann es in Zeiten religiöser Autonomie nicht mehr geben ohne den freien Austausch subjektiver Erfahrungen und Fragen. Dazu wäre die religionspädagogische Forderung der Stunde die nach einem religiositätsbildenden Modell und einer entsprechenden Didaktik religiöser Kommunikation, die diesen Namen auch wirklich verdient. Sie folgte dem Ideal eines »Austauschs religiöser Erregungen«, wie es Schleiermacher genial formuliert hat. An die Stelle von Glaubenswissen muss die Ermöglichung religiös deutbarer Erfahrungen treten, an die Stelle von Verkündigung religiöse Moderation. Für das erste ist ein Wissen um ästhetische Gehalte, Inszenierungen und Prozesswirkungen grundlegend, für das zweite ein Wissen um die Bedingungen einer gelingenden religiösen Kommunikation. Sie dürfte mit der ebenso behutsamen wie möglichst offenen Kommunikation existentiell bedeutsamer Erfahrungen beginnen und zum frei bleibenden Angebot von deren religiöser Deutung führen. Erst wenn existentielle und religiöse Erfahrungen wirklich kommuniziert werden, ist auch deren kritische Reflexion sinnvoll, die freilich immer ebenso unverzichtbar bleibt wie die kritische Überprüfung religiöser Konzepte.

Was wird aus der konfessionellen Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht? Michael Meyer-Blanck

Als Dozent am Religionspädagogischen Institut Loccum in den Jahren 1995 bis 2001 war Michael Wermke in einem Bundesland tätig, das – neben Baden-Württemberg – zur Speerspitze der damals erst langsam anlaufenden konfessionellen Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht gehörte. Inzwischen ist die Entwicklung vorangeschritten und sogar die Deutsche Bischofskonferenz hat mit einem Papier1 Möglichkeiten geschaffen, die in manchen deutschen Diözesen – man denke nicht zuletzt an das große und einflussreiche Bistum Köln – lange Zeit undenkbar waren. In meinem folgenden Beitrag möchte ich aber nicht den didaktischen und kirchenpolitischen Fortschritt der Kooperation darstellen und bewerten, sondern grundsätzlich theologisch nach dem fragen, was die Kooperation voranbringt und welche grundlegenden Hemmnisse in Rechnung zu stellen sind. Denn Kooperation ist mehr als eine Herausforderung für geschicktes Organisieren und Verhandeln. Gefordert ist eine alltagstaugliche didaktische Fundamentaltheologie, die nach den Bedingungen und Möglichkeiten gemeinsamen Verstehens fragt. Ich werde die Frage »Wie geht es weiter?« also nicht im politischen oder prophezeienden, sondern im nor1

  Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts. Empfehlungen für die Kooperation des katholischen mit dem evangelischen Religionsunterricht, Bonn 2016. Dabei gilt der Grundsatz, dass konfessionell-kooperativer Religionsunterricht konfessioneller Religionsunterricht ist: »Die Kooperation beider Fächer ist daher von einem überkonfessionellen, christlichen Religionsunterricht, den die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam verantworten würden, und erst recht von Modellen eines multireligiösen oder religionskundlichen Unterrichts zu unterscheiden« (a.a.O., 14). Entsprechend dem katholischen wurde im März 2017 auch ein Papier der Konferenz der Referentinnen und Referenten für Bildungs-, Erziehungs- und Schulfragen in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland verabschiedet; dieses steht – im August 2017 – kurz vor der Publikation.

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mativen Gestus zu beantworten suchen. Dazu wähle ich – der Konzentration wegen – die thetisch zuspitzende Form.2

1. Alternativlose Kooperation Es gibt Tatsachen, die feststehen und über die man nicht lange reden muss. Zunächst: Zur konfessionellen Kooperation zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht gibt es keine Alternative. Vier positive Einsichten lassen sich benennen, die m.E. nicht strittig sind. Erstens: Kooperation nützt. Sowohl die eigene Identität als auch die Verständigung wird durch die Begegnung mit der anderen Konfession nicht geschwächt, sondern gestärkt. Es nützt dem eigenen Profil, wenn man dieses anderen verständlich zu machen hat. Man versteht sich dann auch selbst besser. Zweitens: Institutionalisierung und erste Berufsjahre. Der Kooperation tut es gut, wenn sie möglichst früh eingeübt, das heißt in der Aus- und Fortbildung institutionalisiert wird durch gemeinsame Seminare und andere gemeinsame Bausteine oder Phasen in der Ausbildung und im Schulalltag. Dabei ist besonders auf die dritte Ausbildungsphase, also auf die ersten Berufsjahre zu achten, denn gerade nach dem Zweiten Examen bilden sich bei vielen der Gestus und Habitus des eigenen Lehrerdaseins. Jetzt entstehen jene Routinen, die für die eigene Berufsbiographie bestimmend sein werden. Nach dem dritten bis fünften Berufsjahr muss zwar nicht die sprichwörtliche »Fortbildungsresistenz« einsetzen, aber man weiß dann doch grundsätzlich, »wie’s geht«, wie man Vorbereitung, Kontakte und außerunterrichtliche Projekte und Begegnungen zu gestalten hat. Drittens: Keine Risiken und Nebenwirkungen. Konfessionelle Kooperation führt weder zu dem sprichwörtlichen Einheitsbrei noch zu einer Art von Neo-Konfessionalismus. Kooperation ist wie die Reise in ein fremdes Land, bei der man dieses genauso wie sich selbst besser kennenlernt. Den Einheitsbrei muss man nicht fürchten, denn die soziale Realität von Protestantismus und Katholizismus ist so unterschiedlich – ich erinnere nur an Kommunion und Konfirmation, an Ämterstruktur und Privatleben der Amtsträger, an Feiertage und Volksfrömmigkeit –, dass die Identifizierung oder Verwechslung beider Konfessionen schon einer Menge von angestrengter Ignoranz bedürfte.3 Freilich: Das setzt voraus, dass der kirchliche und damit auch der soziale Bezug des Religionsunterrichts deutlich wird und dass die Schüler nicht nur 2

  Mein Beitrag ist bewusst persönlich und »konfessorisch« gehalten, nimmt aber für sich in Anspruch, mit einem zwar individuell identifizierbaren, aber zugleich exemplarischen evangelischen »Ich« zu sprechen. 3   Vgl. Michael Meyer-Blanck/Walter Fürst (Hrsg.): Typisch katholisch. Typisch evangelisch. Ein Leitfaden für die Ökumene im Alltag, Rheinbach 42013.

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mit der Lehre und Moral bekannt werden, sondern auch mit den sozialen Gestalten des Glaubens. Viertens: Gemeinsame Herausforderungen. Schließlich gilt es daran zu erinnern, dass die neue und demographisch zunehmende Konfession der Konfessionslosen ein wichtiger Bezugspunkt ist. Es gibt – nicht nur in Ostdeutschland – Menschen, die schon mit der Frage nach Gott nichts anfangen können. Ihnen müssen die Christen nicht nur mit versöhnter Verschiedenheit, sondern begeistert und überzeugen wollend gegenübertreten. Die Unterschiede sind dann etwas für die Fortgeschrittenen. Im Prinzip aber stehen die beiden großen Kirchen für einen Herrn, einen Glauben und eine Taufe (Eph 4,5) – und sogar für eine Rechtfertigungslehre, und, jedenfalls nach der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils »Lumen Gentium«, auch für eine Mariologie. Denn dort heißt es bekanntlich, dass Maria verehrt, aber nicht angebetet wird (LG 66). Das machen wir Evangelischen gerne mit und folgen darin Martin Luther. Schließlich sind die Herausforderungen durch den Islam ernst zu nehmen. Das koranische Missverständnis der Trinität – in Sure 5,116 als »Vater-Mutter-Kind-Verhältnis« (»nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern«) – muss für alle christlichen Schüler aufgeklärt werden, denn sonst sind diese nicht dialogfähig und – was für die Schule noch schlimmer wäre – nicht richtig informiert. Fazit: Die Herausforderungen für das Christentum sind insgesamt so groß, dass man weder vor evangelisch-katholischen Unterschieden noch vor zu vielen Gemeinsamkeiten Angst haben sollte. Darum noch einmal: Zur konfessionellen Kooperation gibt es keine Alternative. Wie aber kann eine Weiterentwicklung aussehen? Meine These lautet, dass dazu vor allem gemeinsame theologische Arbeit hilfreich ist. Es reicht m.E. nicht aus, sich auf die phänomenologischen Profilmerkmale wie Reformationsfest und Fronleichnam, auf Bach und Wittenberg, auf Lourdes und Rom zu beziehen – so schön und reizvoll das auch immer wieder ist. Wichtiger ist, zumindest für die Lehrkräfte, eine Art von Grundlagenreflexion, die ich als konfessionsbezogene didaktische Fundamentaltheologie bezeichnen möchte. Darüber spreche ich im Folgenden – und nicht über Maßnahmen und Modelle der Kooperation; denn dafür sind die Praktiker kompetenter als der Theoretiker.

2.  Weiterentwicklung der konfessionellen  Kooperation im Sinne einer didaktischen  Fundamentaltheologie Die Fundamentaltheologie war lange Zeit im evangelischen Bereich nicht besonders beliebt, da sie das Prinzip »sola scriptura« durch philosophische, allgemein hermeneutische Umwege zu gefährden schien. Nach meiner Ein-

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sicht ist es aber notwendig, nicht bei Bräuchen, Festen, Dogmen und Verhaltensnormen stehen zu bleiben, sondern auch die Bedingungen und Möglichkeiten des christlichen und des konfessionellen Glaubens und Empfindens in den Blick zu bekommen. Die Fundamente des Denkens und Urteilens, des Feierns und des Handelns sollten didaktisch durchschaubar werden – zunächst für die Lehrenden und dann in Ansätzen auch für die Jugendlichen im Religionsunterricht. Einige dieser Fundamente einer konfessionell-kooperativen Theologie versuche ich zu skizzieren. Ich gehe dabei entsprechend der Einleitung in zwei Schritten vor. Zunächst komme ich zu den konfessionellen Profilen und Differenzen und danach beschreibe ich die gemeinsamen Fundamentalia. Da der Raum knapp bemessen ist, ist das Folgende weniger diskursiv und abwägend, sondern mehr behauptend; auch die Auseinandersetzung mit der Literatur wird dabei nicht möglich sein.

2.1 Neugier und Differenz – Profile und Unterschiede Bildung, so formuliere ich es am liebsten, ist vor allem die Begegnung mit dem Fremden und Herausfordernden. Wohlfühlen mit wohlfeilen Konsensformeln erbringt zwar kollektive Beruhigung, aber keine individuelle Bildung. Das gilt nicht nur für Schüler, sondern auch für schulische und universitäre Lehrer. Nichts bringt den Protestanten weiter als eine starke katholische Theologie. In diesem Sinne benenne ich im Folgenden vier Punkte, an denen die evangelische Theologie vom Katholischen lernen kann. 2.1.1  Was Protestanten aus der katholischen Theologie lernen Erstens: Philosophie. Die katholische Theologie schärft seit jeher ein, dass sich Glaube und Vernunft komplementär entwickeln. Besonders Joseph Ratzinger hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder darauf hingewiesen. Das biblische Zeugnis bedarf der Aneignung durch denkende Menschen. Gott spricht zwar aus dem Himmel, aber das geschieht auf dem Umweg über unser Selbst- und Weltverstehen. Wir müssen darum immer auf die Bedingungen und Möglichkeiten unseres Denkens – und dazu gehört auch das Empfinden – zurückgehen. Zur Fundamentaltheologie gibt es darum keine Alternative, und das hat dann evangelischerseits die hermeneutische Theologie eines Gerhard Ebeling4 auch klar herausgestellt.

4

  Vgl. einführend dazu sehr plastisch und detailliert Albrecht Beutel: Gerhard Ebeling. Eine Biographie, Tübingen 2012.

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Zweitens: Verzauberung. Zum Glauben gehört nicht nur das Tun – das wissen Protestanten trotz des sola fide gar nicht immer so gut! Zum Glauben gehören vor allem auch Empfindung und Entrückung, Herzklopfen und Seligkeit, also das, was der liberale Protestant Jörg Lauster kürzlich als die »Verzauberung der Welt« beschrieben hat.5 In diesem Zusammenhang denke ich an zwei Bücher, die das zeigen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Das erste ist Franz Werfels Roman »Das Lied von Bernadette« aus dem Jahre 19416 und das zweite die alte Biografie über Clemens August Graf von Galen von Heinrich Portmann von 19467. Hier der adlige norddeutsche sittenstrenge Katholizismus aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, dort die französische Volksfrömmigkeit aus dem 19. Jahrhundert. Trotz aller Unterschiede ist die höchst emotionale Schilderung von Galens durch seinen Vertrauten Portmann ein bestimmendes Merkmal. Religion ist nicht nur die Speerspitze der Aufklärung und Entzauberung; der christliche Glaube ist auch schön und verzaubernd. Gerade im Jahr 2017 ist dieses katholische Moment mehr zu beachten, und ebenso hat der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann diesen Aspekt kürzlich im Hinblick auf die Reformation eigens hervorgehoben.8 Drittens: Ritus. Zur Verzauberung gehört die Inszenierung, die zeichenhafte Realität des Glaubens, die über die – vor allem religionspädagogisch oftmals überhöhte – »Subjektivität« hinausgeht. Bildung und Lernen sind empirisch gesehen mehr, als konstruktivistische Lerntheorien annehmen. Mein Lieblingszitat zu diesem Aspekt des religiösen Lernens stammt von Carl Zuckmayer. In seiner zeit- und kulturgeschichtlich eindrücklichen Autobiographie »Als wär’s ein Stück von mir« heißt es: »Ich war katholisch – das war bei uns selbstverständlich, es gibt wenig Andersgläubige in dieser Gegend, und meine väterliche Familie war, solange man sich erinnern konnte, katholisch gewesen. Aber auch das halte ich für einen der Glücksfälle meiner Jugend. Gerade das Selbstverständliche dieser Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, deren Ritus in uralten Formen verwurzelt ist, zu einer Kirche, in der das Mysterium der Menschwerdung, das Wunder der Transfiguration in jeder Messe neu geschieht: Aber das Kind läuft in die Kirche wie in den Bäckerladen, es ist nichts pietistisch Würdevolles oder Griesgrämiges dabei, hier riecht es nach warmem Brot, dort nach steinkühlem Weihrauch; das 5

  Vgl. Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 42016. 6   Vgl. Franz Werfel: Das Lied von Bernadette. Vollständige Neuausgabe, Berlin 2016. 7   Vgl. Heinrich Portmann: Kardinal von Galen. Ein Gottesmann seiner Zeit, Münster 202016. 8   Vgl. Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 32017, 364–367, über die irrationalen Momente auch im Luthertum.

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Kniebeugen, Niederknien, Händefalten, Kreuzschlagen [...], das alles fügt sich ins tägliche Leben ein wie Schlafengehen, Aufstehen, Anziehen, Lernen, Spielen.«9

Zeichen, Gewohnheit und Inszenierung kann man von Katholiken lernen, damit man sich als Protestant nicht in der religiösen Subjektivität und in der Pseudo-Authentizität verliert. Als lernende kulturelle Wesen sind wir viel stärker vom Objektiven beeinflusst, als wir zugeben. Viertens: Lebensformen und Moral. Zur Gestaltwerdung des Christseins gehört auch das Handeln. Der rechtfertigungstheologische evangelische Habitus kann vom katholischen lernen, dass Verfehlung, die den Menschen der Rechtfertigung bedürftig macht, immer auch etwas mit der konkreten Tat zu tun hat. Die protestantische Lesart, dass Sünde die Entfernung von Gott bedeutet, ist richtig. Aber diese greift zu kurz, wenn sie nicht deutlich macht, dass Sünde nicht nur Personsünde und Verstrickung ist, sondern auch individuelle Verantwortlichkeit und Tat, für die man beichten und Vergebung suchen und die man dann künftig unterlassen kann. So weit das vom katholischen Christsein unbedingt zu Lernende. Zu der neugierigen Wahrnehmung des Katholizismus gehört aber komplementär die Benennung der Differenzen. Ich lerne erst bei der Wahrnehmung auch der Differenzen etwas über meine eigene Konfession wie über die andere. 2.1.2  Konfessionelle Differenzen oder: Warum    ich nicht katholisch werden könnte An dieser Stelle kann ich mich kürzer fassen, weil ich hier weniger produktiv bin, sondern eher abgrenzend und eventuell auch Vorurteile reproduzierend spreche. Aber auch diese sind ja bekanntlich eine Realität und nicht durch Willensentscheidungen aufzugeben. Es gibt für mich bei aller Wertschätzung vier Punkte, die es mir nicht erlauben, römisch-katholisch zu sein. Und es gibt kein theologisches Lernen ohne Kontroverstheologie. Erstens: Hierarchie. In der Galen-Biographie von Portmann etwa wird der Gehorsam des Gläubigen gegenüber dem Kleriker, derjenige des Klerikers gegenüber dem Bischof und der des Bischofs gegenüber dem Papst ganz stark herausgestellt. Dieses Prinzip ist für mich nicht biblisch. »Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen«, lesen wir in der Apostelgeschichte (Apg 5,29). Zweitens: Ontologie. Die seinshafte Begründung von Hierarchie, Sakrament und Moral will mir nicht in den Kopf und in das glaubende Gefühl. Dass die Weihen objektive Veränderungen am Menschen vornehmen, dass 9

  Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Lebenserinnerungen, Frankfurt am Main 1967, 150f.

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die Ehe seinshaft unauflösbar sein soll und Religionslehrerinnen und -lehrer im Falle einer Trennung damit schwer zu kämpfen haben, ist für mich mit dem Doppelgebot der Liebe nicht vereinbar. Drittens: Überhöhter moralischer Anspruch. Dass die Kirche und die Amtsträger in Christus geheiligt sind, ist das Grundaxiom paulinischer Theologie. Dass kirchliche Amtsträger aber im Sinne des moralischen Verhaltens heilig sein zu können vorgeben müssen, obwohl wir doch alle simul iusti et peccatores sind, iusti in spe, aber doch peccatores in re – diese Unterscheidung macht das Realistische des Protestantismus aus. Sie fehlt für mich im Katholizismus. Der Hang zur doppelten Moral – statt der menschenfreundlichen Unterscheidung zwischen Sünder und Sünde – ist damit stärker als im Protestantismus. Viertens: Moderne-Bild. Bei aller Wertschätzung für die Relation von Glauben und Denken und für die katholische Fundamentaltheologie ist mir die landläufige katholische Zeitdiagnose zu negativ. Das fällt bei dem von mir ansonsten besonders geschätzten Joseph Ratzinger immer wieder auf. Glaube und Vernunft beziehen sich bei ihm eigentlich nur auf die Väter, allenfalls auf das Mittelalter. Doch die Moderne ist für ihn irgendwie eine denkerisch gottlose Zeit. In der Regensburger Rede von Joseph Ratzinger wurde diese negative Teleologie konstruiert: Martin Luther – Immanuel Kant – Adolph von Harnack und die liberale protestantische Theologie. Das ist Ratzingers verfallstheoretische Theologiegeschichte seit der Reformation.10 Eine solche negative Ahnenreihe ist fundamentaltheologisch und apologetisch fatal. Auch deswegen könnte ich niemals katholisch sein – und übrigens auch niemals orthodox. Dennoch, oder besser gerade deswegen gibt es zur konfessionellen Kooperation keine Alternative. Die Differenzen sollen stark gemacht werden – nicht um das Andere zu verachten, sondern um die Übergänge zu provozieren. Zwei starke Konfessionen sind auch für das Gemeinwesen und die Bildung besser als zwei schwache. Damit komme ich auf die gemeinsamen Herausforderungen zurück.

2.2   Umrisse einer gemeinsamen didaktischen   Fundamentaltheologie Zu Beginn hatte ich von den gemeinsamen Herausforderungen durch die Konfessionslosen und durch die Muslime gesprochen, vor denen der katho10

  Vgl. kritisch dazu Michael Meyer-Blanck: Die Vernunft des Glaubens und der Glaube der Vernunft. Eine protestantische Lektüre der »Regensburger Vorlesung« von Papst Benedikt XVI., in: Michael Meyer-Blanck/Görge Hasselhoff (Hrsg.): Religion und Rationalität, Würzburg 2008, 43–62.

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lische wie der evangelische Religionsunterricht steht. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Auf jeden Fall denke ich, dass auch dieses gemeinsame Gegenüber dazu dienen kann, das eigene Profil des evangelischen und des katholischen Religionsunterrichts weiterzuentwickeln. Dabei liegt das Wesentliche nicht nur im Bereich der Phänomene und der Lehren, sondern in der Art und Weise, das Religiöse in der Gegenwart zu denken.11 Und bei allem, was ich an Unterschieden zwischen den beiden christlichen Konfessionen benannt habe, sind hier wiederum fundamentale gemeinsame Grundorientierungen festzustellen. Ich werde im Folgenden vier grundlegende Aspekte benennen, die für mich zur religiösen Bildung jeglicher Konfession und Religion gehören – ohne dass ich das jetzt über das evangelisch-katholische Thema hinaus weiter ausführen kann. Erstens: Geschichtlichkeit. Das Christentum ist nicht nur eine geschichtliche Religion, sondern sie schreibt die Geschichtlichkeit dem Sein Gottes selbst zu. Gott ist im Werden und kommt in der Geschichte zu sich selbst. Das – profanhistorisch gesehen – relativ belanglose Leben des Jesus von Nazareth wird mit der Gottesgeschichte und mit der existentiellen Entscheidung in der individuellen Lebensgeschichte verbunden. Man muss nüchtern feststellen, dass das philosophisch letztlich unbefriedigend ist, weil so das Anthropomorphe und der Projektionsverdacht die ständigen Begleiter dieses inneren Prinzips des Christentums sein müssen. Andererseits ist diese philosophische Vulnerabilität das eigentlich Aufregende des Christentums. Die Transzendenz wird entmythologisiert und vermenschlicht. Darin liegen Gefahren, aber auch die humanisierenden Potentiale der christlichen Religion – und an diesem fundamentalen Punkt ist es unerheblich, ob man katholisch ist oder evangelisch. Hier erwähne ich auch gern zustimmend Joseph Ratzinger mit seiner Beobachtung, dass die menschliche Weltwahrnehmung und das Göttliche im Neuen Testament mit demselben Wort benannt werden – mit »Logos«. Verzauberung und Logik gehören in aller Widersprüchlichkeit zusammen. Zweites: Anthropologie und Theologie. Beschäftigt man sich vergleichend mit dem Islam oder mit der Philosophie der Religionen, so ist die Inkarnation die wahrscheinlich tiefgreifendste und folgenreichste Entwicklung im Christentum. Das schlechthin Wahre und Verpflichtende erscheint in historischer, menschlicher Gestalt. Doch das gilt nicht nur für die christliche Ursprungsgeschichte, sondern auch für die gesamte Christentumsgeschichte. Das Göttliche findet sich einmalig in Christus, aber die Gnade Christi wirkt weiter in 11

  Vgl. dazu meine eigenen Überlegungen zur »Wahrheitsfrage« im Religionsunterricht und in der Religionspädagogik bei Michael Meyer-Blanck: Unterscheiden, was zusammengehört. Zum Verhältnis von Wahrheitsfrage und Wirklichkeitsdeutung in der Religionspädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 68 (2016), 7–18.

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der Geschichte. Das ist die Lehre vom Heiligen Geist: Der Geist Gottes wird ausgegossen über alles Fleisch (Apg 2,17; Joel 3,2). Der Geist des Vaters und des Sohnes wird menschlich. Von daher ist es auch folgerichtig, dass man mit Friedrich Schleiermacher, Rudolf Bultmann und Karl Rahner die Theologie insgesamt als Anthropologie zu reformulieren sucht. Das Göttliche ist mehr und etwas radikal anderes als das menschliche Bewusstsein. Aber es ist uns nur als solches zugänglich, gerade als das radikal Andere. Ohne das Eigene (Anthropologische) wäre das radikal Andere nicht als das Andere (Göttliche) zu erkennen. Nur intra nos kann das extra nos als ein extra identifiziert werden. Auch für diese Einsicht ist die Konfession unerheblich und das gemeinsam Christliche ist dafür stark. Drittens: Selbstverwirklichung. Entsprechendes gilt ethisch: Für den christlichen Glauben gehören Selbstliebe und Nächstenliebe zusammen – ohne dass man dies kritisch gegen das Eigeninteresse des Christen wenden muss. Selbsthingabe ist Selbstverwirklichung – und das eine nimmt dem anderen nichts – im Gegenteil. Hier können wir auf dem Wege der Zurückweisung viel von der Christentumskritik Friedrich Nietzsches lernen. Mit Recht hat Rüdiger Safranski darauf hingewiesen,12 dass es Nietzsche nicht gelungen ist, die im Christentum verbundenen Motive von Solidarität und Selbststeigerung, von Selbstverwirklichung und Altruismus positiv aufeinander zu beziehen. Nietzsche in seiner adoleszenten Radikalität konnte hier nur in Antinomien denken, aber nicht dialektisch und komplementär. Der große Nietzsche-Verehrer Albert Schweitzer dagegen hat gerade an diesem Punkt den Kern des Christentums verstanden und dieses zu seinem Lebensmotto gemacht: »Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird’s verlieren, und wer sein Leben hingibt um meinetwillen, der wird es gewinnen« (Mk 8,35 par). Auch diese christologische und anthropologische Einsicht ist konfessionsübergreifend. Viertens: Religionskritik. Damit ist der vierte Punkt bereits implizit genannt: Die schärfste Religionskritik ist nichts dem Christentum Fremdes, sondern sie ist dessen fundamentaler Bestandteil. Das betrifft die prophetische Kritik im Alten Testament ebenso wie die Kritik am religiösen Selbstruhm bei Lukas (hier denke man an das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner, Lk 18,9–14) und bei Paulus (hier verweise ich auf die Reformationsperikope Röm 3,21–28). Die Religionskritik der Moderne hat insofern nur das ans Licht gebracht, was die Bibel selbst weiß: Zur Religion muss nicht nur gebildet werden – vor der Religion muss auch gewarnt werden (übrigens auch im schulischen Religionsunterricht). Religion ohne Religionskritik ist gefährlich. Damit erfüllt die Religionskritik zugleich eine fundamentale 12

 Vgl. Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, Frankfurt am Main 52010, 309.

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Funktion im Bildungsprozess: Sie kritisiert alle menschlichen Bestrebungen, bestimmte Einsichten und Werte zu überhöhen. Die Religionskritik steht im Bildungsprozess an der Stelle, wo die Nennung Gottes in der Verfassung steht. Sie ist eine Warntafel vor der Überschätzung des Guten, Wahren und Schönen. Bildung funktioniert nur dann, wenn sie den Verdacht gegen sich selbst institutionalisiert. Hier ist an die Einsicht des großen Didaktikers Herwig Blankertz zu erinnern: Die Bildung vollendet sich dann, wenn sich die Lernenden in der Auseinandersetzung mit den Inhalten gegen diese selbst wenden können.13 Das Christentum evangelischer wie katholischer Prägung ist also durch seine Geschichtlichkeit und Anthropologie sowie durch seine Motive zur Selbstverwirklichung und Religionskritik gekennzeichnet. Alle vier Punkte könnte und müsste man jetzt noch im Sinne der Allgemeinen Bildung reformulieren. Man lernt dabei nicht nur Fundamente des Christlichen, sondern auch fundamentale Einsichten unserer Bildungstradition und der Menschenwürde, wie sie in unserer Verfassung an prominenter Stelle genannt wird. Die konfessionelle Kooperation ist demnach so weiterzuentwickeln, dass man ad intra keine Differenz scheut und vermeidet, aber ad extra selbstbewusst den gemeinsamen Beitrag der christlichen Religion zur Mündigkeit und Menschlichkeit herausstellt. Geschwister, die sich lieben, müssen in der Familie hart miteinander streiten, aber nach außen hin fest zusammenhalten.

13

  Vgl. Herwig Blankertz: Theorien und Modelle der Didaktik, München 111980, 41.

Über die Verortung und Bewertung von Einstellungen und Werthaltungen im Urteilsbildungsprozess Zur religionspädagogischen Debatte mit einem Blick in die Sozialpsychologie Katharina Muth

1. Nun sag’, wie hältst Du’s mit der    Präimplantationsdiagnostik? In der schriftlichen Abiturprüfung des Faches »Evangelische Religionslehre« wurde in Thüringen im Jahr 2015 folgende Aufgabe als eine von zwei Wahlaufgaben gestellt: »Anthropologie – Nach sich selbst fragen. Prüfen Sie die Position der evangelischen Kirche zur Präimplantationsdiagnostik (Material 1). Entwerfen Sie einen Blog in Form eines Kommentars als Ihre persönliche Reaktion auf diese Veröffentlichung. Nutzen Sie zur Erstellung Ihres Internetbeitrages das Material 1. Beziehen Sie das Material 2 sowie geeignete Texte aus der Bibel in Ihre Betrachtungen ein.«1

Bei dem angesprochenen Material 1 handelt es sich um Auszüge einer Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in welchem die Präimplantationsdiagnostik verurteilt und ihr Verbot gefordert wird. Material 2 ist ein Zeitungsartikel der Nachrichtenseite »welt.de« mit dem Titel »Designerbaby rettet siebenjährigen Spanier«, in welchem von einer Familie berichtet wird, die mittels Präimplantationsdiagnostik erfolgreich einen geeigneten Embryo ausgewählt hat, damit das erste Kind der Familie durch die Stammzellen aus dem Nabelschnurblut des zweiten Kindes von einer als unheilbar geltenden Erbkrankheit geheilt werden konnte. Gefragt wird in der o.g. Aufgabe damit nach einer Positionierung zur evange1

  Die Aufgabenstellung sowie die dazugehörigen Korrekturhinweise wurden vom Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport am 15. August 2017 bereitgestellt (im Original mit Absatzformatierungen).

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lischen Meinung, welche durch die Veröffentlichung der EKD repräsentiert wird, unter Einbezug der Gegenposition, welche in Material 2 die betroffenen Eltern einnehmen. Durch beide Materialien wird auf ethische Problemfelder aufmerksam gemacht wie beispielsweise das Recht auf Leben von Menschen mit Behinderungen, welche durch die Methode »vermeidbar« werden, oder die Frage nach der Berechtigung des Eliminierens genetisch weniger geeigneter Embryonen. Die Aufgabe ist ausgesprochen offen formuliert, da für das Einbeziehen der Materialien sowie von Bibelstellen keinerlei Vorgaben gemacht werden. Dadurch wird den Schülern bei der Bearbeitung viel Freiheit gelassen und unterschiedliche Lösungswege werden möglich. Jedoch wird ihnen auch kein Anhaltspunkt dafür gegeben, welche Kompetenzen mit der Aufgabenstellung geprüft werden sollen und welche Beurteilungsmaßstäbe angelegt werden. Die für die Lösung der Aufgabe benötigten Kompetenzen werden auch in den Korrektur- und Beurteilungshinweisen für Lehrer nicht ausgewiesen.2 Sie müssen folglich aus der Aufgabe selbst heraus erschlossen werden. Dies ist jedoch nicht leicht, da die Kontexteinbettung, welche durch die geforderte Form eines Blogkommentars gegeben ist, den Blick auf die geforderten Kompetenzen verstellt: Gefragt wird nach einer persönlichen Reaktion auf die Stellungnahme der EKD zur Präimplantationsdiagnostik, doch bewertet werden soll die persönliche Reaktion in Form von Zustimmung oder Abneigung natürlich nicht – natürlich? Die Bewertungsrelevanz der persönlichen Meinung wird in den Hinweisen für die Lehrer nicht angesprochen. Jeglicher orientierungsgebende Hinweis fehlt hier. Friedrich Schweitzer schreibt in seinem Artikel »Leistungsmessung und Leistungsbewertung, Kompetenzen und Standards: Was ist im Religionsunterricht messbar?«: »Bewertet werden können Wissen und Verstehen, vor allem im Sinn der Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit, aus unterschiedlichen Gründen aber nicht Glaube, Handlungskompetenz sowie Einstellungen.«3 In Bezug auf die Einstellungen fasst er nochmals zusammen: »Selbstverständlich vorausgesetzt wird [...], dass sich [die] Bewertung weder auf den Glauben, noch auf persönliche Einstellungen beziehen kann, sondern eben nur auf das, was im Unterricht tatsächlich gelernt werden kann. Im Blick auf Einstellungen gilt also […]: Gemessen werden können sie, aber benotet werden dürfen sie nicht«4. Die Einstellungen der Schüler sollen folglich bei der Bewertung außen vor bleiben, die Urteilsfähigkeit aber bewertet werden. 2

  Vgl. ebd.   Friedrich Schweitzer: Leistungsmessung und Leistungsbewertung, Kompetenzen und Standards: Was ist im Religionsunterricht messbar?, in: entwurf 47 (2016), 1, 4–8, 7. 4   A.a.O., 6. 3

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Bernhard Dressler, welcher Werteerziehung im Religionsunterricht weder für umsetzbar noch für pädagogisch angemessen hält,5 grenzt ethische Urteilsfähigkeit von Moralität ab. Er schreibt: »Die Lehrbarkeit von Moralität (im Unterschied zu ethischer Urteilsfähigkeit) ist weder operationalisierbar noch wünschbar, weil das bildende Selbstverständnis der Lernenden zu ihren Lerngegenständen der Bedingung unterliegt, keine besondere Werteoder Haltungserziehung abzuspalten«6. Dass Einstellungen, Werthaltungen oder Moralität in einem Zusammenhang mit Urteilsfähigkeit stehen, wird in der religionspädagogischen Debatte nicht bestritten, jedoch bleibt der Zusammenhang zwischen diesen ebenso wie in der eingangs vorgestellten Abituraufgabe oft unklar. Daher soll im Folgenden den Fragen nachgegangen werden, welche Teilkompetenzen Urteilsfähigkeit ausmachen (Kapitel 2) und wie sich individuelle Einstellungen zu diesen verhalten (Kapitel 3). Vor dem Hintergrund dieser Verhältnisbestimmung sollen in Kapitel 4 anhand der eingangs vorgestellten Abituraufgabe Anforderungen und Bewertungskriterien im Kontext von Urteilskompetenz kritisch hinterfragt werden, bevor in Kapitel 5 zusammenfassende Schlussfolgerungen gezogen werden.

2. Wertebildung versus Urteilsfähigkeit? Aus sozialpsychologischer Sicht ist eine Einstellung »eine zusammenfassende Bewertung eines Gegenstands«7, welche sich in Ablehnung oder Zuneigung zu einem bestimmten Objekt äußert. Handelt es sich bei dem Bewertungsgegenstand um abstrakte Dinge, wie beispielsweise die Präimplantationsdiagnostik in der o.g. Aufgabe, werden diese Einstellungen oft »Wertvorstellungen«8 genannt. Fragt man also nach der Rolle von Einstellungen respektive Wertvorstellungen im Urteilsbildungsprozess, so ist dies – wie oben schon

5

  Vgl. Bernhard Dressler: Religionsunterricht als Werteerziehung? Eine Problemanzeige, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 46 (2002), 256–269; Bernhard Dressler: Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig 2006, 185–205. Gegen Dresslers Position vgl. Friedrich Schweitzer: Religiöse Bildung ohne Ethik? Zur ethischen Dimension des Religionsunterrichts, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 31 (2015), 13–23, 20–23. 6   Dressler: Unterscheidungen, 186. Die Begrifflichkeiten sind in der Debatte zum Teil sehr unscharf. Die von Dressler angesprochene Moralität wird hier als »moralische Haltung« (Duden) verstanden und mit Einstellungen und Werthaltungen gleichgesetzt. 7   Gerd Bohner: Einstellungen, in: Wolfgang Stroebe/Klaus Jonas/Miles Hewstone (Hrsg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung, Berlin/Heidelberg/New York 42002, 266–314, 267. 8   Ebd. (im Original kursiv). Aus diesem Grund werden im Folgenden auch Einstellungen mit Wertvorstellungen gleichgesetzt.

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angeklungen ist – eng mit der Debatte um Wertebildung versus Urteilsbildung im Religionsunterricht verknüpft. Rudolf Englert stellt in seinem Artikel »Die verschiedenen Komponenten ethischen Lernens und ihr Zusammenspiel«, basierend auf verschiedenen (religionspädagogischen) Ansätzen ethischen Lernens, ein Gesamtkonzept ethischer Bildung zur Diskussion. In diesem unterscheidet er evaluative Ethik (mit dem Fokus auf Tugend- und Wertebildung, also auf Fragen, wer »gut« und was wie »wichtig« ist) von der normativen Ethik (mit dem Fokus auf Normen, also der Frage, was »richtig« ist).9 Dabei strebt er eine Abgrenzung der Konzepte »Werte-« und »Urteilsbildung« an: Wertebildung, so Englert, befasst sich mit der Vorzugswürdigkeit sittlicher und materieller Güter, also mit der Frage, was »wichtig« ist, während Urteilsfähigkeit die Geltung moralischer Verhaltensstandards – also die Normen – verhandelt.10 »Und im Zentrum von Ansätzen, die auf die Entwicklung ethischer Urteilsfähigkeit zielen, steht eben nicht die Reflexion von individuellen oder gesellschaftlichen Wichtigkeiten (Werteprioritäten […]), sondern die Begründbarkeit moralischer Richtigkeiten«11. Seine Systematisierung der didaktischen Ansätze der Wertebildung folgt der Annahme einer zunehmenden Komplexität von der »Entwicklung von Tugenden« über die »Reflexion von Werten« hin zur »Begründung ethischer Urteile«.12 Die Begründung ethischer Reflexionen wird von Englert als die komplexeste Anforderung betrachtet. Dass die Unterscheidung zwischen Wertebildung und ethischer Urteilsfindung nicht trennscharf ist, erwähnt Englert selbst wiederholt, doch auch hier bleibt die Verhältnisbestimmung unscharf.13 Jean-Pierre Wils warnt vor einer Verkennung der Rolle der Werte im Urteilsbildungsprozess. Er schreibt: Werte »in ein alternatives Verhältnis zur Normethik bringen zu wollen, würde auf einer gründlichen Verkennung ihrer Funktion beruhen. Wenn Werte aus der Wertung moralischer Sachverhalte entstehen, basieren sie immer schon auf einer bestehenden Einstellung, einer Wert-Haltung. Sie bilden demnach einen Teil der Tugendethik. Aus einer spezifischen Wert-Haltung wird eine konkrete Situati-

9

  Vgl. Rudolf Englert: Die verschiedenen Komponenten ethischen Lernens und ihr Zusammenspiel, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 31 (2015), 108–118, 112f. 10  Vgl. a.a.O., 109f. 11  A.a.O., 110. 12  Vgl. a.a.O., 113. 13  Englert schreibt, dass eine Entscheidung eines Urteilenden in moralischen Konflikten »fraglos auch damit zu tun [hat], an welchen Werten er sich orientiert bzw. welche Werte in seiner persönlichen Wertehierarchie welchen Rang einnehmen« (a.a.O., 116). Wie dieses »zu tun haben« jedoch aussieht, bleibt offen.

Über die Verortung und Bewertung 519 on erstens als moralisch einschlägig betrachtet bzw. gewertet und wird zweitens eine normativ angemessene Interpretation einer solchen in die Wege geleitet«14.

Um diese Verknüpfung zwischen Werthaltung und Urteil genauer herauszustellen, soll zunächst eine Theorie des Urteilsbildungsprozesses in den Blick genommen werden.

3. Urteilsfähigkeit als komplexe Kompetenz Durch die »Ethische Theorie sittlicher Urteilsfindung« von Heinz Eduard Tödt 1988 angestoßen,15 wurden mehrfach die Arbeitsschritte ethischer Urteilskompetenz revidiert. Ein neuerer, die vorangegangenen Theorien aufnehmender Entwurf stammt von Hans-Richard Reuter, welcher vier Arbeitsschritte benennt, die im Folgenden umrissen werden sollen:16 • Beschreibung des Kontextes. Die Beschreibung des Kontextes besteht aus erstens der »Analyse und Kenntnisnahme der relevanten empirischen Fakten und Rahmenbedingungen«, zweitens der Kenntnis der rechtlichen Rahmenbedingungen,17 drittens der Berücksichtigung derer, die von einem ethischen Problem betroffen sind (Interessen, Ansprüche, aus ersteren resultierende Lösungsmöglichkeiten, Machtverhältnisse und Einflussmöglichkeiten), und viertens aus der Analyse des gelebten Ethos, problemspezifischer Intuitionen und etablierter Überzeugungen. • Identifizierung der ethischen Perspektive(n), Kriterien und Ordnungen. In einem zweiten Arbeitsschritt geht es um die Wahrnehmung des spezifisch ethischen Aspekts des Problems und die Analyse moralischer Pflichten und Normen (höchste Leitkriterien, Güter und Ziele, »gelingendes Leben«). Er beinhaltet erstens die Präzisierung von Perspektiven und den damit verbundenen Leitkriterien, und dies normativ (»Was sollen wir tun?«), evaluativ (»Wie wollen wir leben?«) und konsultativ (»Was befähigt dazu, gut handeln zu können?«). Zweitens tritt hinzu das Ausweisen umfassender, religiöser oder philosophischer Wirklichkeitsannahmen sowie drittens das Identifizieren der konkreten handlungsleitenden Orientierungen in Bezug auf die Fragestellung (bereichsspezifische Pflichten und Normen, sozial geteilte Güter und Werte). 14

 Jean-Pierre Wils: Werte und Normen in philosophischer, soziologischer und theologischer Sicht, in: Gottfried Adam/Friedrich Schweitzer (Hrsg.): Ethisch erziehen in der Schule, Göttingen 1996, 332–354, 342. 15  Vgl. Heinz Eduard Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, München 1988. 16  Vgl. Hans-Richard Reuter: Grundlagen und Methodik der Ethik, in: Wolfgang Huber/Torsten Meireis/Hans-Richard Reuter (Hrsg.): Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 9–123, 112–116. 17   Reuter: Grundlagen, 113, begründet die Beachtung der rechtlichen Aspekte damit, dass die Rechtsbefolgung selbst als moralische Pflicht zu betrachten ist, da das Recht moralische Verantwortungsspielräume gewährt und ein Verhältnis zur moralischen Norm – sei es deckungsgleich, sei es widersprüchlich – inhäriert.

520 Katharina Muth

• Prüfung, Bewertung und Abwägung. In diesem Arbeitsschritt geht es erstens um die Hierarchisierung der handlungsleitenden Orientierungen und zweitens um die Bewertung der erforderlichen Mittel und der zu erwartenden Folgen. Bei konfligierenden Zielen müssen die Vorzugs- und Abwägungsregeln ausgewiesen werden. • Entscheidung und Umsetzung. Abschließend ist eine willentliche Zustimmung und praktische Bejahung der Entscheidung (voluntativer Aspekt) notwendig (erstens). In einigen Fällen ist zweitens zu prüfen, wie mit Spannungen umgegangen werden muss, die aus dem Entscheid resultieren und wie mögliche Kompromisse aussehen könnten, um daraufhin drittens Mittel und Wege der Umsetzung ausfindig zu machen.

Zwei Punkte sollen durch diese Benennung der Arbeitsschritte deutlich gemacht werden: Erstens wird sichtbar, dass die Urteilskompetenz mehrere Teilkompetenzen umfasst. So bedarf es, ehe es zu einem reflektierten Urteilsentscheid respektive einer Positionierung kommt, Fachwissen sowohl über das ethische Problem als auch über die ethische Urteilsbildung selbst (ethische Perspektiven, Normen, Kriterien und Ordnungen). Weiterhin werden Kompetenzen wie Empathiefähigkeit, Wahrnehmungs- und Analysekompetenzen benötigt, um das ethische Problem als ein solches in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das den bundesweit verbindlichen Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur im evangelischen Religionsunterricht (EPA) zugrundeliegende Kompetenzmodell, so kommt diese Multidimensionalität ethischer Urteilsfähigkeit nicht zum Ausdruck: In den EPA wird Urteilsfähigkeit gleichrangig neben Wahrnehmungs- und Darstellungs-, Deutungs-, Dialog- und Gestaltungsfähigkeit gestellt. Das obige Modell der Urteilsbildung zeigt jedoch, dass beispielsweise die Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit, worunter in den EPA u.a. das Erfassen von Situationen, »in denen letzte Fragen nach Grund, Sinn, Ziel und Verantwortung des Lebens aufbrechen«18, oder das Erkennen ethischer Herausforderungen »in der individuellen Lebensgeschichte sowie in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft als religiös bedeutsame Entscheidungssituationen«19 verstanden wird, eine wichtige Voraussetzung für die »Beschreibung des Kontextes« und die »Identifizierung der ethischen Perspektive(n), Kriterien und Ordnungen« (s. die o.g. Arbeitsschritte 1f.) ist. Ebenso verhält es sich mit der Dialogfähigkeit und den darunter gefassten Anforderungen: »die Perspektive eines anderen einnehmen und in Bezug zum eigenen Stand18

 Vgl. Kultusministerkonferenz: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Evangelische Religionslehre, o.O. 2006, online: www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12_01-EPA-Ev-Religion. pdf, 8f. (19. März 2016). 19  A.a.O., 8.

Über die Verortung und Bewertung 521

punkt setzen«, »Gemeinsamkeiten von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sowie Unterschiede benennen und im Blick auf mögliche Dialogpartner kommunizieren« sowie »sich aus der Perspektive des christlichen Glaubens mit anderen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen argumentativ auseinandersetzen«20. Da die Urteilsfähigkeit damit andere Kompetenzen voraussetzt,21 ist sie den anderen Kompetenzen überzuordnen, um die Komplexität der mit ihr verbundenen Anforderungen nicht zu verkennen. Die verschiedenen Aspekte der einzelnen Arbeitsschritte ethischer Urteilsbildung müssen sich auch in klaren Aufgabenformulierungen und in den Bewertungsgrundlagen widerspiegeln, da sowohl Schüler als auch Lehrer sonst der Beliebig- und Orientierungslosigkeit preisgegeben sind, was anhand der eingangs vorgestellten Abituraufgabe in Kapitel 4 nochmals gezeigt werden soll. Zweitens kann durch Reuters Theorie ethischer Urteilsbildung die Rolle von Einstellungen und Werthaltungen nochmals in den Blick geraten, welche den Stimmen der religionspädagogischen Debatte zufolge bei der Bewertung von Urteilsfähigkeit außen vor gelassen werden sollen. In der Theorie von Reuter sollen im zweiten Arbeitsschritt nämlich umfassende religiöse und philosophische Wirklichkeitsannahmen und die daraus folgenden handlungsleitenden Orientierungen ausgewiesen werden, bevor selbige dann im dritten Arbeitsschritt hierarchisiert werden. Reuter beschreibt den Prozess des Urteilens dabei folgendermaßen: »Im Sinn der Metapher des (weiten) reflective equilibrium [zu verstehen als Überlegungsgleichgewicht zwischen Grundsätzen und Urteilen] vollzieht sich das ethische Urteilen als praktische Überlegung, als kreativer Reflexionsprozess, in dessen Verlauf etablierte Überzeugungen, mittlere Prinzipien sowie relevante Hintergrundtheorien so gegeneinander abgeglichen und mit der Situationsbeschreibung vermittelt werden, dass sich ein kohärenter Verweiszusammenhang zu den übrigen Elementen unseres Überzeugungssystems einstellt.«22

Die Einstellungen eines Individuums zum Urteilsgegenstand sind daher konstitutiv für die Entwicklung eines Urteils. Sie steuern – zum Teil auch implizit – den Urteilsprozess, indem verschiedene Grundannahmen vorausgesetzt werden und sich neue Informationen angleichen. Die Rolle der Einstellungen 20

  A.a.O., 9.  Dass sich die Kompetenzen untereinander bedingen sei hier unbestritten, jedoch kann Urteilsfähigkeit nicht als Voraussetzung für Dialogfähigkeit betrachtet werden. Andersherum ist die Dialogfähigkeit jedoch Voraussetzung für die Urteilsfähigkeit, wodurch eine Hierarchisierung der Kompetenzen deutlich wird. 22  Reuter: Grundlagen, 115. 21

522 Katharina Muth

im Urteilsprozess wird auch von den Erkenntnissen der Sozialpsychologie gestützt, wie ein kleiner entsprechender Blick verdeutlichen soll.

4. Ein Blick in die Sozialpsychologie:    Einstellungen respektive Werthaltungen Der Einstellungsforschung zufolge werden Einstellungen durch Erfahrungen aufgebaut und beeinflussen die Wahrnehmung, das Empfinden und das Verhalten eines Individuums.23 Einstellungen übernehmen folglich weitreichende Funktionen in unserem mentalen Repräsentationssystem. Auf Grundlage verschiedener sozialpsychologischer Forschungen lassen sich vier Funktionen unterscheiden:24 eine Wissensfunktion (Steuerung, Organisation und Vereinfachung der Informationsverarbeitung), eine instrumentelle Funktion (Verhaltenssteuerung über Belohnung und Bestrafung bzw. Bewertung der Folgen eines Verhaltens als positiv oder negativ), eine Funktion für soziale Identität (Zum-Ausdruck-Bringen von Wertvorstellungen und Begründung einer Identifikation mit bestimmten Zielgruppen) und eine Funktion der Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls (Abgrenzung gegenüber negativen Objekten oder Gruppen und Übereinstimmung mit positiven Objekten, zum Beispiel einer erfolgreichen Fußballmannschaft). Wie diese Einteilung zeigt, erleichtern Einstellungen die Informationsverarbeitung, wirken aber auch selektiv und organisierend. Laut der sog. Balance-Theorie, einer »von Heider aufgestellte[n] Theorie der kognitiven Konsistenz, die auf Einstellungsänderungen angewandt worden ist und zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen der Einstellungsähnlichkeit und der interpersonalen Zuneigung herangezogen wurde«25, sind Individuen auch in Bezug auf Einstellungsänderungen bestrebt, zwischen ihren Kognitionen einen Gleichgewichtszustand aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, was zu selektivem Verarbeiten und Erinnern von Informationen führt.26 In der Pädagogik ist dieses Konsistenzbestreben durch die Lerntheorie Jean Piagets als Äquilibration bekannt. Ein weiterer Befund sozialpsychologischer Studien ist, dass extreme Aussagen besser verarbeitet und leichter erinnert werden.27 So passen sich Informationen, welche an den Polen eines bipolaren Kontinuums liegen (sowohl die, mit denen man sympathisiert, als auch die der Gegenposition) leichter in ein Einstellungsschema ein als andere. Dabei sind gesellschaftlich strittige Themen, wie es die Frage nach der Prä23

  Vgl. Bohner: Einstellungen, 266.   Vgl. a.a.O., 269. 25   A.a.O., 174. 26   Vgl. ebd. 27   Vgl. a.a.O., 271. 24

Über die Verortung und Bewertung 523

implantationsdiagnostik ist, meist bipolar repräsentiert, während sich unipolare Strukturen meist in Bezug auf weniger strittige Themen wie Musik oder Sport finden lassen: »Im Bereich dieser unipolaren Themen verfügen die Menschen hauptsächlich über ein Wissen, das mit ihrer eigenen Position im Einklang steht, und empfinden es als schwierig, Informationen zu enkodieren, die ihren Einstellungen widersprechen.«28 Dies führt uns zur Verarbeitung persuasiver Äußerungen. Geringen kognitiven Aufwand bedarf es, wenn man sich beim Urteilsbildungsprozess auf erlernte Konditionierungen, die individuellen Gefühle oder Heuristiken, also auf einfache Entscheidungsregeln wie beispielsweise »Expertenaussagen stimmen« oder »die Mehrheit hat gewöhnlich Recht« bezieht.29 Die Rolle von Konditionierungen, Gefühlen oder Heuristiken müssen dem Urteilenden dabei nicht bewusst sein.30 Zum Tragen kommen sie vor allem, wenn Fähigkeiten oder Zeit zu gering sind, um sich auf zeitintensive Verarbeitungsprozesse einzulassen.31 In sog. Zwei-Prozess-Modellen wie dem Modell der Elaborationswahrscheinlichkeit oder dem Heuristisch-Systematischen Modell wird die Verarbeitung mit geringem kognitiven Aufwand als Verarbeitung auf »peripherer Route« bezeichnet und der aufwändigen Verarbeitung auf »zentraler Route«, welche aus sorgfältigem und kritischem Abwägen der Argumente besteht, entgegengesetzt.32 Dabei gilt: »Einstellungen, die über die zentrale Route zustande kommen, sind der Annahme nach stärkere (d.h. überdauernder, widerstandsfähiger gegen Gegenkommunikation und vorhersagekräftiger für Verhalten) als jene, die sich über die periphere Route bilden«33. Äußerst interessant sind auch die für die Verarbeitung ausschlaggebenden Faktoren. So führt die persönliche Betroffenheit, eine hohe Verantwortlichkeit für das eigene Urteil und eine negative Stimmung des Urteilenden zu einer stärkeren Elaboration der Botschaften, während bei weniger Betroffenheit periphere Hinweisreize eine größere Rolle in der Auswertung von Informationen spielen.34 Als ausschlaggebendes Persönlichkeitsmerkmal wurde zudem das sog. Kognitionsbedürfnis herausgestellt, also wie motiviert Personen im Allgemeinen sind, sich mit vielfältigen Situationen inhaltsrelevant zu beschäftigen.35 Blickt man auf die Bewertung von Urteilsbildungsprozessen, so sind Einstellungen und »Hintergrundannahmen« wohl kaum aus der Bewertung aus28

  Ebd.   Vgl. a.a.O., 277–279. 30   Vgl. a.a.O., 279. 31   Vgl. ebd. 32   Vgl. a.a.O., 282f. 33   A.a.O., 283. 34   Vgl. a.a.O., 287. 35   Vgl. a.a.O., 288. 29

524 Katharina Muth

zuklammern, da diese – mitunter explizit, in den meisten Fällen wohl aber implizit – Einfluss auf den Prozess nehmen. Als wichtiges Qualitätsmerkmal ist jedoch aufgrund des dargestellten Forschungsstands hervorzuheben, wie bewusst individuelle Einstellungen, »Hintergrundannahmen« und das zugrunde gelegte Wirklichkeitsverständnis vom Urteilenden wahrgenommen und reflektiert werden. Denn nur durch eine Reflexion der eigenen Annahmen kann man verhindern, dass man im Urteilsbildungsprozess nur einer »zirkuläre[n] Stabilisierung des vorhandenen Überzeugungssystems«36 unterliegt. Außerdem bewertet werden kann, wie elaboriert mit Informationen umgegangen wird, welche dem Urteilenden zur Verfügung gestellt werden. Allerdings reicht es nicht, nur nach einer Positionierung zu fragen. Hinweise auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen sowie mit zugrunde gelegten Normen müssen in der Aufgabe enthalten sein, wenn man diese bewerten möchte.

5. Nicht die Einstellung, sondern    den Umgang mit ihr bewerten Zurück zum Ausgangspunkt: Ob sich der Schüler für oder gegen die Einstellung der evangelischen Kirche zum Thema »Präimplantationsdiagnostik« ausspricht, ist abhängig von seinen auf Erfahrungen (bestehend aus Kognitionen, Affektionen und Handeln) basierenden Werthaltungen. Diese lenken seine Informationsverarbeitung beim Lesen der zur Verfügung gestellten Materialien. Die Einstellungen selbst können nicht bewertet werden, wohl aber der Umgang mit ihnen, das heißt, inwieweit sie transparent gemacht, reflektiert und ihre Wirkweise deutlich gemacht wurde – ein Kriterium, welches vielleicht allzu naheliegend erscheinen mag, jedoch weder in den EPA eindeutig ausgewiesen wird, noch in den Korrekturhinweisen für Lehrer zur eingangs vorgestellten Abituraufgabe zu finden ist. In letzterem heißt es, dass sich die Schüler auf Grundlage der Analyse der Materialien, geeigneter Bibelstellen und persönlicher Erfahrungen situationsgerecht und adressatenbezogen »subjektiv wertend«37 mit der Problematik auseinandersetzen sollen und dass durch ihren Kommentar in »expressiver und appellativer Form Meinungsbildung beeinfluss[t]«38 werden soll, wobei letzteres sicher aus der geforderten Textform (Kommentar für einen Blog) vom Schüler zu erschließen ist. Es werden folglich Kenntnisse über die geforderte Textart vorausgesetzt. Von der Reflexion über Normen und Werthaltungen ist nicht 36

  Reuter: Grundlagen, 115.    Korrekturhinweise zur eingangs zitierten Abituraufgabe, bereitgestellt vom Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport am 15. August 2017. 38   Ebd. 37

Über die Verortung und Bewertung 525

die Rede. Die Wahrnehmung des sittlichen Problems wurde den Schülern durch die Bereitstellung der Materialien weitestgehend abgenommen. Ethische Problemfelder sind bereits angesprochen, die Bedeutung der Menschenwürde im evangelisch-christlichen Horizont wurde bereits durch die Auszüge aus der EKD-Positionierung deutlich. Zwei gegensätzliche Positionen sind vorgegeben und ihre Argumente bereits mitgeliefert. In Verbindung mit den angelegten Bewertungskriterien erweist sich der Löwenanteil der Aufgabe als ein Gestaltungsakt, in dem es um die kreative Bearbeitung und Zusammenfassung von Texten geht – eine Anforderung, zu der auch Schüler fähig sein sollten, welche nicht den Religions-, jedoch regelmäßig den Deutschunterricht besucht haben. Die Rolle der Urteilsfähigkeit rückt durch die angelegten Bewertungsmaßstäbe in den Hintergrund.

6. Schlussfolgerungen Auch wenn man Einstellungen und Werthaltungen an sich nicht bewerten kann, sind sie nicht bedeutungslos – im Gegenteil. Die Betrachtungen haben gezeigt, dass sie Auswirkungen auf das Wahrnehmen, Fühlen und Verhalten eines Individuums haben. Möchte der Religionsunterricht nicht wirkungslos bleiben, so kann er die Wertebildung nicht ausklammern, sondern muss sich dezidiert um diese bemühen. Selbst die sog. Klieme-Expertise – maßgebliches Steuerungsinstrument der deutschen Bildungsreform – fordert von der Bildung insgesamt, dass sie neben Wissen und Fähigkeiten auch Einstellungen, Werthaltungen und Überzeugungen ausbildet.39 Die Ausbildung von Werthaltungen sollte also gerade auch im Religionsunterricht seinen Platz haben. Zudem hat der Religionsunterricht durch seinen mit Artikel 7.3 GG gegebenen Bekenntnisbezug auch nicht das gleiche Legitimationsproblem der auszubildenden Werte wie es in allen anderen Fächern der Fall ist. Und dennoch muss der Religionsunterricht einen Schritt weiter gehen und sich neben der Wertebildung eben auch um die Urteilskompetenz kümmern, welche verstanden als Transparent-Machen und Reflektieren der eigenen Wertvorstellungen, Wirklichkeitsannahmen und vorhandener Normen in einem Begründungszusammenhang eine kognitiv komplexere Aufgabe darstellt, als das Zustimmen zu oder das Ablehnen von Werten. Dies korreliert mit der Systematisierung Englerts, welche die »Begründung ethischer Urtei39

  Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Expertise, 12: »Der Output von Bildungssystemen umfasst neben der Vergabe von Zertifikaten im Wesentlichen den Aufbau von Kompetenzen, Qualifikationen, Wissensstrukturen, Einstellungen, Überzeugungen, Werthaltungen – also von Persönlichkeitsmerkmalen bei den Schülerinnen und Schülern, mit denen die Basis für ein lebenslanges Lernen zur persönlichen Weiterentwicklung und gesellschaftlichen Beteiligung gelegt ist.«

526 Katharina Muth

le« als komplexeste Form der ethischen Bildung bestimmt (s. Kapitel 2). Die Schüler müssen in die Lage gebracht werden, die Werte, die der Religionsunterricht vertritt, mündig als solche wahrzunehmen und zu reflektieren. Dabei sind auch die in Religionen vorhandenen Wahrheitsansprüche, ihre Letztbegründungen, ihre spezifischen Wirklichkeitsverständnisse und die jeweilige Rolle göttlicher Offenbarung in die Reflexion einzubeziehen, wodurch ein weiteres Bewertungskriterium benannt sein dürfte, um die Qualität von im Religionsunterricht erlernter Urteilskompetenz zu messen. Die Ausschärfung dieses Kriteriums ist weiterer Forschung wert, vor allem vor dem Hintergrund der Forderung Bernd Schröders, dass es einen Unterschied machen sollte, »ob ethische Fragen im Ethikunterricht oder in einer der konfessionellen Varianten des Religionsunterrichts behandelt werden«40. Um jedoch ein Urteil auf die beschriebene, zugegebenermaßen relativ komplexe Ebene der Reflexion zu heben, müssen sowohl Schüler als auch Lehrer über Prozesswissen verfügen. Ohne eine Theorie ethischer Urteilsbildungsprozesse wie zum Beispiel der von Hans-Richard Reuter (s. Kapitel 3) ist das Erreichen dieses Niveaus wohl kaum möglich. Dennoch ist dieses Niveau einem Schüler, der die allgemeine Hochschulreife erreichen möchte, durchaus zuzutrauen, so dass Aufgabenstellungen im schriftlichen Abitur die benannten Ansprüche durchaus prüfen und bewerten sollten.

40

  Bernd Schröder: Was macht es für einen Unterschied, ob ethische Fragen im Ethik- oder evangelischen/katholischen/jüdischen/islamischen Religionsunterricht behandelt werden?, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 31 (2015), 41–63 (im Original teilweise kursiv).

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung Bestandsaufnahme und Konsequenzen für ein Modell von interreligiöser und interweltanschaulicher Kompetenz im Horizont Öffentlicher Religionspädagogik1 Manfred L. Pirner

Blickt man mit dem Aufmerksamkeitshorizont einer Öffentlichen Religionspädagogik2 auf die religionspädagogische Diskussion zu interreligiösem Lernen, so werden mehrere Aspekte sichtbar, die häufig vernachlässigt oder ausgeblendet werden. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme zum Forschungs- und Diskussionsstand (Kapitel 1) sollen diese »blinden Flecken« benannt werden (Kapitel 2) und dann ein Modell für interreligiöse und inter1

  Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich bei der Tagung »Interreligiöse Kompetenz« im Juni 2017 in Tübingen gehalten habe, einer Kooperationstagung zwischen dem Weltethos-Institut Tübingen, dem Institut für Sozialstrategie und dem Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover. Hilfreiche Anregungen verdanke ich dem Hauptinitiator der Tagung Ulrich Hemel, meinem Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Religionspädagogik Johannes Lähnemann sowie Ulrich Kropač und Georg Langenhorst. 2   Mit dem Jubilar Michael Wermke verbindet mich das Interesse für die Öffentlichkeitsdimension der Religionspädagogik und ihre Bezüge zum Diskurs um Öffentliche Theologie, wie sie in jüngster Zeit mit dem programmatischen Begriff »Öffentliche Religionspädagogik« angezeigt werden, vgl. zum Beispiel Manfred L. Pirner: Public Religious Pedagogy: Linking Public Theology, Sozial Theory und Educational Theory, in: International Journal of Public Theology 11 (2017), 328–350; Manfred L. Pirner: Religion und öffentliche Vernunft. Impulse aus der Diskussion um die Grundlagen liberaler Gesellschaften für eine Öffentliche Religionspädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67 (2015), 310–318; Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Religiöse Rede in postsäkularen Gesellschaften, Leipzig 2016; Michael Wermke: Öffentliche Religionspädagogik jenseits kirchlicher Bildungsverantwortung, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik 15 (2016), 1, 7–9; außerdem Bernhard Grümme: Öffentliche Religionspädagogik. Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten, Stuttgart 2015; Bernd Schröder: Öffentliche Religionspädagogik. Perspektiven einer theologischen Disziplin, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 110 (2013), 109–132.

528 Manfred L. Pirner

weltanschauliche Kompetenz vorgeschlagen werden, das versucht, die bislang vernachlässigten Aspekte mit einzubeziehen (Kapitel 3).

1. Zum Forschungs- und Diskussionsstand Im Rahmen der Kompetenzorientierung sind zunächst in allgemeinen Modellen zur religiösen Kompetenz Aspekte dessen, was man als interreligiöse Kompetenz bezeichnen kann, aufgenommen worden. Exemplarisch erinnere ich an das Kompetenzmodell der Expertengruppe des Comenius-Instituts aus dem Jahr 2006, weil ich es immer noch anregend finde: Tabelle 1: Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung3

Teilhaben Entscheiden

Kommunizieren Urteilen

Gestalten Handeln

Verstehen Deuten

Wahrnehmen Beschreiben

Dimensionen der Erschließung von Religion Gegenstandsbereiche

Kompetenzen

Exemplarische Lebenssituationen

Subjektive Religion

Zum Beispiel die persönliche Glaubensüberzeugung bzw. das eigene Selbst- und Weltverständnis wahrnehmen, zum Ausdruck bringen und gegenüber anderen begründet vertreten.

Zum Beispiel Gespräch unter Freundinnen und Freunden: »Glaubst du an Gott?«

Bezugsreligion des Religionsunterrichts: Christentum evangelischer Prägung)

Zum Beispiel Grundformen religiöser Praxis beschreiben, probeweise gestalten und ihren Gebrauch reflektieren.

Zum Beispiel Anfrage einer Verwandten: »Willst du Taufpate unseres Kindes werden?«

Andere Religionen und/ oder Weltanschauungen

Sich mit anderen religiösen Überzeugungen begründet auseinandersetzen und mit Angehörigen anderer Konfessionen bzw. Religionen respektvoll kommunizieren und kooperieren.

Zum Beispiel Ramadan: »Warum fastet ihr?«

Zweifel und Kritik an Religionen sowie Indifferenz artikulieren und ihre Berechtigung prüfen. Religion als gesellschaftliches Phänomen

Zum Beispiel religiöse Grundideen (zum Beispiel Menschenwürde, Nächstenliebe, Gerechtigkeit) erläutern und als Grundwerte in gesellschaftlichen Konflikten zur Geltung bringen.

Zum Beispiel Mobbing gegen einen Jugendlichen, der sich in der Kirchen engagiert

Zum Beispiel Pflegefall in der Familie: »Darf man Sterbehilfe leisten?«

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 529

Für nach wie vor hilfreich halte ich in diesem Modell die Einteilung in mehrere Dimensionen bzw. Gegenstandbereiche der »Erschließung von Religion« sowie die Benennung von Anforderungssituationen bis hin zu konkreten Aufgabenstellungen, welche in der Publikation einen beträchtlichen Raum einnehmen.3Die Probleme dieses Modells liegen vor allem darin, dass die religiöse Perspektive auf »Welt und Leben« im umfassenderen Sinn fehlt; es geht statt dessen immer verengend um einen Blick auf Religion bzw. religiöse Dimensionen statt auch die Perspektive von Religion auf die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Diese Verengung zeigt sich zum Beispiel auch im vierten Gegenstandsbereich, wo nur »religiöse Ideen« als Grundwerte zur Geltung gebracht werden sollen bzw. bei näherem Hinsehen allgemeine gesellschaftliche Grundwerte als »religiöse Ideen« vereinnahmt werden. Außerdem werden die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Religionsdimensionen und Gegenstandsbereichen zu wenig klar. Speziell zum Thema »Interreligiöse Kompetenz« bzw. »Interreligiöses Lernen« sind in den vergangenen Jahren gleich mehrere religionspädagogische Monografien erschienen.4 Außerdem ist die hohe Relevanz des Themas der interreligiösen Kompetenz bzw. der interreligiösen Bildung und Erziehung auch für Handlungsbereiche außerhalb des schulischen Religionsunterrichts erkannt worden. So hat es Veröffentlichungen zur interreligiösen Erziehung und Bildung in Kindertagesstätten und in der Erzieherausbildung, zur in3

  Tabelle (Auswahl) nach Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Hrsg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006, 19f. 4   Vgl. Max Bernlochner: Interkulturell-interreligiöse Kompetenz. Positionen und Perspektiven interreligiösen Lernens im Blick auf den Islam, Paderborn 2013; Georg Langenhorst: Trialogische Religionspädagogik. Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam, Freiburg im Breisgau 2016; Mirjam Schambeck: Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen 2013; Friedrich Schweitzer: Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014; Joachim Willems: Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptualisierung – Unterrichtsmethoden, Wiesbaden 2011; vgl. auch bereits Johannes Lähnemann: Interreligiöse Schulbuchforschung und -entwicklung. Vorschläge für Standards, in: Manfred L. Pirner/Johannes Lähnemann/Werner Haußmann (Hrsg.): Medien – Macht und Religion, Berlin 2011, 316–326; Johannes Lähnemann: Kompetenzen und Standards interreligiösen Lernens, in: Peter Schreiner/Ursula Sieg/Volker Elsenbast (Hrsg.): Handbuch interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005, 409–421; außerdem Rita Burrichter/Georg Langenhorst/Klaus von Stosch (Hrsg.): Komparative Theologie: Herausforderungen für die Religionspädagogik. Perspektiven zukünftigen interreligiösen Lernens, Paderborn 2015; Urich Hemel: Warum Religionsunterricht zum Anwalt der Freiheit wird. Der schulische Religionsunterricht vor dem Anspruch religiöser Selbstbestimmung, in: Religionspädagogische Beiträge 72 (2015), 105–116.

530 Manfred L. Pirner

terreligiösen Kompetenz in der Pflege sowie zum interreligiösen Lernen an Hochschulen gegeben.5 Interreligiöse Kompetenz wird dabei unterschiedlich definiert, so zum Beispiel von Mirjam Schambeck: Interreligiöse Kompetenz besteht nach ihr aus »Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, angesichts und in einer bestimmten religiösen Tradition eine verantwortete und begründete Position zu Religion auszubilden, die pluralitätsbewusst anerkennt, dass Religion nur im Plural vorkommt und diesen Religionsplural produktiv zueinander zu vermitteln versteht«6.

Deutlich wird hier die eigene religiöse Positionalität betont. Zugleich offener und inhaltlich konkreter bestimmt hingegen Joachim Willems interreligiöse Kompetenz wie folgt: Sie ist »Kompetenz im Umgang mit interreligiösen Überschneidungssituationen, also solchen Situationen, in denen unterschiedliche Beteiligte jeweils durch Religionskulturen geprägte Deutungs-, Verhaltens- und Zuschreibungsmuster sowie emotionale und evaluative Muster zur Anwendung bringen und in denen sich durch die relative Inkongruenz dieser Muster Spannungen (von Konflikten bis hin zur exotischen Attraktivität) ergeben«7.

Interessant ist an dieser Definition zum einen, dass sie nicht unbedingt ein religiöses Subjekt voraussetzt; interreligiöse Kompetenz könnte nach dieser Definition auch ein selbst nicht-religiöser Mitarbeiter einer städtischen Behörde haben, der für das Miteinander der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in dieser Stadt zuständig ist. Zum anderen bringt der Begriff der interreligiösen Überschneidungssituationen8 konkrete Anforderungssi5

  Vgl. zum Beispiel Katja Baur/Dirk Oesselmann (Hrsg.): Religiöse Diversität und Pluralitätskompetenz. Eine Herausforderung für das Lernen, Lehren und Forschen an Hochschulen und Bildungseinrichtungen, Berlin 2017; Frieder Harz: Interreligiöse Erziehung und Bildung in Kitas, Göttingen 2014; Heinrich Merkt/Friedrich Schweitzer/Albert Biesinger (Hrsg.): Interreligiöse Kompetenz in der Pflege. Pädagogische Ansätze, theoretische Perspektiven und empirische Befunde, Münster 2014; Friedrich Schweitzer/Albert Biesinger (Hrsg.): Kulturell und religiös sensibel? Interreligiöse und interkulturelle Kompetenz in der Ausbildung für den Elementarbereich, Münster 2015. 6   Schambeck: Interreligiöse Kompetenz, 174. 7   Joachim Willems: Interreligiöse Kompetenz, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon, online: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100070 (26. November 2017). 8   Der Begriff »Überschneidungssituation« kommt dabei aus der interkulturellen Pädagogik, vgl. hierzu auch Bernlochner: Interkulturell-interreligiöse Kompetenz, 58ff.

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 531

tuationen in den Blick, ohne diese auf direkte persönliche Begegnungen – so wichtig diese sind – zu verengen. Demnach ließe sich auch eine Situation, in der eine Christin sich einen Film über den Islam im Fernsehen anschaut, als interreligiöse Überschneidungssituation deuten, die interreligiöse Kompetenz erfordert. Mein Bamberger Kollege Henrik Simojoki hat in seiner Habilitationsschrift sehr schön gezeigt, wie konkrete interreligiöse Begegnungssituationen sehr häufig beeinflusst und überlagert werden von überregionalen und international-globalen Erfahrungen, die überwiegend durch die Medien vermittelt sind.9 Der Begriff »Überschneidungssituationen« scheint mir besonders gut geeignet, solche Vielschichtigkeiten in den Blick zu bekommen. Gleichwohl spricht Willems von »unterschiedlichen Beteiligten«, womit er die Offenheit des Begriffs »Interreligiöse Überschneidungssituationen« wieder etwas zurück nimmt. Kritisch anzufragen ist außerdem, warum Willems nur von »Spannungen« spricht und damit einen deutlich negativ konnotierten Begriff verwendet. Die neutraleren Begriffe »Differenzen« oder »Andersheit« wären nach meiner Sicht besser geeignet, auch die positive wechselseitige Bereicherung als mögliche Konsequenz mit einzuschließen. Ich schlage also folgende vorläufige, die Definition von Willems weiterentwickelnde Bestimmung von interreligiöser Kompetenz vor: »Interreligiöse Kompetenz bezeichnet die Kompetenz im Umgang mit interreligiösen Überschneidungssituationen, also solchen Situationen, in denen Menschen durch die Andersheit von anderen als ihren eigenen religiös bzw. weltanschaulich geprägten Deutungs-, Verhaltens- und Zuschreibungsmustern herausgefordert werden.«

Was Kompetenzmodelle für interreligiöse Kompetenz angeht, gibt es bislang in der Religionspädagogik nur wenige erste Versuche. So fasst Mirjam Schambeck interreligiöse Kompetenz als »Diversifikations- und Relationskompetenz«10. Damit sind Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen und Haltungen gemeint, die es ermöglichen, sich »angesichts des Religionsplurals angemessen zu Religion«11 zu verhalten und in »qualifizierter Weise Eigenes und Anderes, eigene religiöse Tradition und andere religiöse Traditionen, voneinander zu unterscheiden und miteinander zu verschränken«12. Hier untergliedert Schambeck drei Kompetenzbereiche, nämlich ästhetische (Wahrnehmungs-)Kompetenz, hermeneutisch-reflexive und hermeneutisch-kom9

   Vgl. Henrik Simojoki: Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft, Tübingen 2012. 10   Schambeck: Interreligiöse Kompetenz, 177. 11   A.a.O., 179. 12   Ebd.

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munikative Kompetenz sowie praktische Kompetenz. Wer interreligiös kompetent ist, kann also zunächst anderes differenziert aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen, dann auch eigene religiöse Traditionen im Angesicht der anderen Religion verstehen und ausdrücken sowie zwischen den Sprachwelten »übersetzen« und schließlich mit anderen angemessen interagieren.13 Tabelle 2: Das Modell interreligiöser Kompetenz von Mirjam Schambeck14

Interreligiöse Kompetenz als Diversifikations- und Relationierungskompetenz (Unterscheiden und In-Beziehung-Setzen) 1. Ästhetische (Wahrnehmungs-)Kompetenz 2. Hermeneutisch-reflexive und hermeneutisch-kommunikative Kompetenz 3. Praktische Kompetenz

Joachim Willems hat seine Überlegungen zu einem Modell interreligiöser Kompetenz am Vorbild eines allgemeinen Modells religiöser Kompetenz orientiert, das von dem Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner entwickelt wurde. Er arbeitet folgende Teilkompetenzen heraus: erstens interreligiöse Deutungskompetenz als die Fähigkeit, interreligiös relevante Situationen, Texte, Phänomene, Handlungen etc. zu deuten und zu beurteilen, zweitens interreligiöse Partizipationskompetenz als die Fähigkeit, »Deutungen in außerunterrichtliche Diskurse und Verständigungsprozesse einbringen zu können«15, und drittens interreligiös relevante Kenntnisse.16 Tabelle 3: Das Modell interreligiöser Kompetenz von Joachim Willems17

Interreligiöse Kompetenz als kompetenter Umgang mit interreligiösen Überschneidungssituationen 1. interreligiöse Deutungskompetenz 2. interreligiöse Partizipationskompetenz 3. interreligiös relevante Kenntnisse

13

  Vgl. a.a.O., 177–179.   Vgl. ebd. 15     Dietrich Benner, zitiert in Willems: Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen, 168. 16   Vgl. a.a.O., 165ff.; auch Willems: Interreligiöse Kompetenz (s. Anmerkung 7). 17   Vgl. Willems: Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen, 165–169. 14

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 533

Friedrich Schweitzer hat in seinem Buch zur interreligiösen Bildung angeregt, der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme einen wichtigen Stellenwert unter den Teilkompetenzen von interreligiöser Kompetenz einzuräumen.18 Außerdem zeichnet er interreligiöse Bildung ein in das übergreifende Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit, wie das auch die von ihm federführend mitverantwortete Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Religionsunterricht von 2014 tut.19 Damit verfolgt er eine Linie, die in Karl Ernst Nipkows Doppelband von 1998 bereits angelegt war, nämlich interreligiöse Kompetenz zu verstehen als Spezialfall eines kompetenten Umgehens mit pluraler Vielfalt wie sie typisch ist für unsere westlichen, freiheitlich-demokratischen Gesellschaften.20 Das ist m.E. deshalb weiterführend, weil dabei deutlich wird, dass sowohl religiöse wie nicht-religiöse Menschen anhand der Beschäftigung mit interreligiöser Bildung etwas lernen können, was über den kompetenten Umgang mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt hinaus geht und den kompetenten Umgang mit pluraler Vielfalt generell und auch in anderen Bereichen betrifft, wie zum Beispiel kulturelle oder politische Vielfalt. Man könnte auch sagen: Durch interreligiöse Bildung wird exemplarisch gelernt, mit dem fremden Anderen umzugehen.21 Ich möchte nun im Folgenden vier blinde Flecken, die ich im Diskurs um interreligiöse Kompetenz in der Religionspädagogik sehe, benennen, das heißt vier Aspekte, die wir häufig ausklammern oder zumindest nicht in der eigentlich angemessenen Weise berücksichtigen, wenn wir von interreligiöser Bildung sprechen. Diese blinden Flecken verweisen nach meiner Sicht auf vernachlässigte Aufgaben interreligiöser Bildung sowie fehlende Aspekte interreligiöser Kompetenz, die ich im Anschluss in einen eigenen Vorschlag für ein Kompetenzmodell integrieren werde.

18

  Vgl. Schweitzer: Interreligiöse Bildung, 155.    Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2014, online: www.ekd.de/download/religioese_orientierung_gewinnen.pdf (27. November 2017). 20   Vgl. Karl E. Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt. Band 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998. 21   Vgl. hierzu auch den alteritätstheoretischen Ansatz von Bernhard Grümme: Heterogenität in der Religionspädagogik. Grundlagen und konkrete Bausteine, Freiburg im Breisgau 2017; Bernhard Grümme: Von Anderen eröffnete Erfahrung. Zur Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs in der Religionsdidaktik, Gütersloh 2007. 19

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2. Die vier blinden Flecken der Diskussion um     interreligiöse Kompetenz/interreligiöse    Bildung in der Religionspädagogik 2.1 Interkulturelle Bildung Wenn Religionspädagogen von interkultureller Bildung sprechen, dann wird sie fast immer mit interreligiöser Bildung gleichgesetzt oder man konzentriert sich fast ausschließlich auf letztere.22 Es ist schon auffällig, dass die Vernachlässigung des interkulturellen Aspekts in der Religionspädagogik sozusagen reziprok zur weitgehenden Vernachlässigung des interreligiösen Aspekts in der interkulturellen Pädagogik stattfindet.23 Dass zum Beispiel auch innerhalb des Christentums interkulturelles Lernen eine wichtige Aufgabe ist, bleibt so unterbelichtet. Wenn etwa Flüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien oder Armenien oder Auswanderer aus Kasachstan zu uns kommen, die Christen sind, dann geht es in erster Linie um interkulturelles Lernen und nicht um interreligiöses Lernen. Allerdings hat dann häufig auch der christliche Glaube dieser Zugewanderten eine andere kulturelle Prägung, selbst wenn sie evangelisch-lutherisch oder römisch-katholisch sein sollten. In meiner Sicht gehört es zentral zur interreligiösen Kompetenz dazu, religiöse von kulturellen oder auch politischen, sozialen und anderen Aspekten unterscheiden zu können und gleichzeitig wahrnehmen zu können, dass und wie sie häufig miteinander verbunden und vermischt werden. Es macht einen Unterschied, ob ich die Fremdheit des anderen oder eine in meinen Augen unmögliche Praxis, wie etwa die Zwangsverheiratung Minderjähriger, einer Religion oder einem kulturbedingten Brauch zuschreibe. Und es ist wichtig, die kulturelle Prägung und Ausprägung der eigenen Religiosität als solche zu erkennen und sich bewusst zu werden, dass es eine Vielfalt anderer kultureller Ausdrucksformen meiner eigenen Religion und Konfession gibt, die theologisch gesehen ebenso legitim sein können.

2.2 Nicht-religiöse Menschen Nach der Shell-Jugendstudie von 2015 ist der Glaube an Gott für 45 % der befragten Jugendlichen in den alten Bundesländern unwichtig, in den neu22

  Selbst in Arbeiten, die erfreulicherweise den Diskurs mit der interkulturellen Pädagogik führen wie etwa jene von Willems und Bernlochner, werden eher Erkenntnisse aus dem interkulturellen Lernen auf das interreligiöse Lernen bezogen und weniger dem interkulturellen Lernen eine eigenständige Rolle in der religiösen Bildung zugeschrieben. 23   Vgl. Georg Auernheim: Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Wiesbaden 2013.

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 535

en Bundesländern sogar für 68  %. Mittlerweile sind bundesweit 23  % der Jugendlichen konfessionslos, gehören also keiner Kirche oder Religion an.24 Solche Umfrageergebnisse machen deutlich, dass die große Herausforderung für das Zusammenleben in unserer pluralen Gesellschaft vor allem die zunehmende Zahl der Nicht-Religiösen ist. Zwar ist in jüngerer Zeit in Teilen der Religionssoziologie und der Religionspädagogik betont worden, dass das Säkularisierungsparadigma überholt sei, und stattdessen vom Pluralisierungsparadigma abgelöst worden sei, was die weltanschaulich-religiöse Orientierung der Menschen angehe. Dabei entsteht allerdings die Gefahr, dass die Nicht-Religiösen, Säkularen übersehen oder marginalisiert werden. Für die Religionspädagogik haben vor allem Michael Wermke und andere Kollegen aus den östlichen Bundesländern darauf hingewiesen, dass insbesondere in diesem Kontext der Umgang mit säkularen Kindern und Jugendlichen die zentrale Herausforderung darstellt, die im Fahrwasser des Pluralitätsparadigmas leicht unterbewertet wird.25 Das gilt vor allem, wenn man sich den Diskurs zum interreligiösen Dialog, interreligiösen Lernen oder eben zur interreligiösen Kompetenz anschaut. Schon begrifflich-konzeptionell schließt die Rede vom »interreligiösen« Dialog oder Lernen die Nicht-Religiösen aus oder vereinnahmt sie mit der Behauptung, sie seien dabei ja mit gemeint. John Valk, Professor für World View Studies an der University of New Brunswick in Kanada, hat sich wiederholt gegen diesen exkludierenden Sprachgebraucht gewehrt und vertritt die Meinung, dass »worldview education« oder »inter-worldview learning« inklusivere Begriffe gegenüber »religious education« und »interreligious learning« seien, denn da seien die Nicht-Religiösen mit eingeschlossen.26 Die Vernachlässigung der nicht-religiösen Menschen in Konzepten des interreligiösen Lernens lässt sich tendenziell auf beiden Seiten pädagogischer Prozesse erkennen – auf der Adressatenseite wie auf der Akteursseite. So werden in manchen Veröffentlichungen zur interreligiösen Bildung oder interreligiösen Kompetenz im Religionsunterricht die nicht-religiösen Schüler nicht oder nur am Rande eigens bedacht. Und andererseits wird in Veröffentlichungen zum interreligiösen Lernen zum Beispiel in Kindertagesstätten oder in der Jugendhilfe zu wenig berücksichtigt, dass viele Erzieher selbst 24

  Vgl. Thomas Gensicke: Die Wertorientierungen der Jugend (2002–2015), in: Shell Deutschland Holding GmbH (Hrsg.): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt am Main 2015, 237–272, 252 und 257. 25   Vgl. Miriam Rose/Michael Wermke (Hrsg.): Konfessionslosigkeit heute. Zwischen Religiosität und Säkularität, Leipzig 2014. 26   Vgl. John Valk: A Plural Public School: Religion, Worldviews & Moral Edication, in: British Journal of Religious Education 29 (2007), 273–285; John Valk: Religion or Worldview: Enhancing Dialogue in the Public Square, in: Marburg Journal of Religion 14 (2009), 1–16.

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nicht religiös sind und es für sie erst einmal darum geht, überhaupt eine religionssensible Haltung und Pädagogik zu entwickeln. Aus diesen Gründen spreche ich in letzter Zeit häufiger, wie auch im Titel dieses Beitrags, von interweltanschaulichem Lernen bzw. interweltanschaulicher Kompetenz in Ergänzung zu oder anstelle von interreligiöser Kompetenz – auch wenn mir natürlich klar ist, dass der Begriff im Deutschen sperriger ist als das englische Pendant »inter-worldview«. Übrigens ist die Vernachlässigung der nicht-religiösen Menschen im Diskurs um interreligiöse Bildung auch deshalb problematisch, weil der Eindruck entstehen könnte, Nicht-Religiös-Sein sei das Ursprüngliche, Natürliche; erst durch Einflüsse einer Religionskultur würden Menschen dann religiös und müssten sich über ihre weltanschaulichen Orientierungen verständigen. Dabei täuscht man sich darüber, dass auch Säkularität sich den Einflüssen einer bestimmten Kultur verdankt – wie sich u.a. an der hohen Zahl der Nicht-Religiösen in den ostdeutschen Bundesländern ersehen lässt – und die Form von starken weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen annehmen kann.

2.3 Hybrid-religiöse bzw. -spirituelle Menschen Bereits seit den 1980er Jahren wird in soziologischen Erhebungen darauf verwiesen, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr an einer dominanten Religion oder Weltanschauung orientieren, sondern sich sozusagen aus mehreren Bezugsreligionen und -weltanschauungen ihr individuelles Religiositätsmenü zusammenstellen. Es entstehen Mischungen von mehr oder weniger religiösen Orientierungen, die häufig als Patchwork-Religiosität oder mit dem schillernden Begriff »Spiritualität« bezeichnet werden.27 Wie vielfältig solche hybriden Formen von Religiosität sein können, lässt sich zum Beispiel aus der gründlichen neueren Studie unseres Bielefelder Kollegen Heinz Streib ersehen.28 Im Diskurs um interreligiöse Bildung oder interreligiöse Kompetenz neigen wir häufig dazu, »Religionen« als feste kulturelle Einheiten anzusehen, denen sich die Menschen verschrieben haben. Dabei kommen dann sowohl die innere Pluralität der einzelnen Religion als auch die individuellen oder

27

  Vgl. Reinhard Hempelmann: Patchwork-Religiosität – ein Thema von bleibender Aktualität, in: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 71 (2008), 123f.; Ise Kögler: Patchworkreligion, Theodiversität und eigener Gott. Nicht nur eine kommunikative Herausforderung, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 158 (2010), 11–19. 28   Vgl. Heinz Streib/Barbara Keller: Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland, Göttingen 2015.

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 537

gruppenbezogenen Mischformen zu wenig in den Blick. Gerade Migranten unterstellen wir sehr schnell, dass sie zum Beispiel als Muslime voll und ganz in ihrer Religion beheimatet sind – obwohl aktuelle Untersuchungen zeigen, dass auch unter Muslimen in Deutschland eine große Varianz in der Religionsbindung besteht und Mischungen mit Elementen des christlichen Glaubens oder säkularen Überzeugungen durchaus verbreitet sind.29

2.4 Der Bezugsrahmen gemeinsamer    Grundwerte und -prinzipien Der vierte blinde Fleck des Diskurses um interreligiöse Bildung und Kompetenz betrifft das, was ich den Bezugsrahmen gemeinsamer Grundwerte und -prinzipien nenne. Fast immer wird interreligiöser Dialog oder interreligiöses Lernen als, wie der Name oft schon sagt, dialogischer Prozess aufgefasst, das heißt zwei Dialogpartner begegnen sich und tauschen sich aus, versuchen sich wechselseitig zu verstehen, loten Gemeinsamkeiten und Unterschiede aus usw. Als Idealtypus des interreligiösen Lernens gilt von daher häufig das Begegnungslernen, am besten in der Form direkter personaler Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen religiösen Orientierungen. Ich will die große Bedeutung eines solchen personalen Begegnungslernens nicht bestreiten; sie wird u.a. negativ belegt durch die bekannte Tatsache, dass die Islamfeindlichkeit in jenen Bundesländern am größten ist, in denen die Möglichkeit zur persönlichen Begegnung mit Muslimen am geringsten ist. Allerdings ist eine allzu einseitige Idealisierung des Begegnungslernens im religionspädagogischen Kontext von verschiedenen Seiten wiederholt – und m.E. zu Recht – kritisiert worden.30 Unter der Perspektive einer Öffentlichen Religionspädagogik kommt es mir vor allem darauf an, sich klar zu machen, dass interreligiöser oder interweltanschaulicher Dialog nie einfach im luftleeren bzw. wertfreien Raum stattfindet, sondern – in Deutschland – in einer Gesellschaft, die auf freiheitlich-demokratischen, menschenrechtlichen Grundwerten basiert und gerade

29

  Vgl. Tarek Badawia: »Der dritte Stuhl«. Eine Grounded-theory-Studie zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz, Frankfurt am Main 2002; Cornelia Spohn (Hrsg.): Zweiheimisch. Bikulturell leben in Deutschland, Bonn 2006; Fahimah Ulfat: Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott, Paderborn 2017; Hans-Jürgen Wensierski/Claudia Lübcke: »Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause«. Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland, Opladen/Berlin/Toronto 2012. 30   Vgl. die hilfreiche kritische Auswertung der Diskussionslage bei Langenhorst: Trialogische Religionspädagogik, 99ff.

538 Manfred L. Pirner

so weltanschaulich-religiösen Pluralismus ermöglicht, fördert und herausfordert.31 Ich halte nach wie vor das Ende der 1990er Jahre von John Rawls entwickelte sozialphilosophische Modell für besonders hilfreich, um das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Grundwerten und unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen näher zu bestimmen.32 Rawls geht davon aus, dass für den Zusammenhalt in einer pluralistischen Gesellschaft kein umfassender Konsens zu dem, was das gute Leben insgesamt ausmacht, gefunden werden kann und muss.33 Vielmehr reicht es, wenn man sich auf gemeinsame politische Grundwerte und -prinzipien geeinigt hat, wie sie etwa in einer freiheitlich-demokratischen Verfassung oder den internationalen Menschenrechten festgelegt sind.34 Der Konsens über die Grundwerte kann zunächst einmal völlig unabhängig von den religiösen oder weltanschaulichen Orientierungen, die Menschen haben, zustande kommen. Dass zum Beispiel die Menschenrechte eine sinnvolle Grundlage für ein friedliches und humanes Zusammenleben sind, kann ein Christ oder ein Muslim oder ein Atheist gleichermaßen auf der Basis allgemeiner Vernunftüberlegungen erkennen und 31

  Damit setze ich einen noch etwas anderen, mehr gesellschaftstheoretischen Akzent als Klaus von Stosch, der in seinem innovativen und zukunftsweisenden Ansatz einer Komparativen Theologie dessen Rekurs auf eine an »westliche[n] Rationalitätsund Wissenschaftsstandards« orientierte Vernunft als unverzichtbar einräumt, vgl. Klaus von Stosch: Dialog der Religionen im Religionsunterricht. Plädoyer für eine religionspädagogische Neubesinnung, in: Norbert Mette/Matthias Sellmann (Hrsg.), Religionsunterricht als Ort der Theologie, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2012, 325–337; Klaus von Stosch: Komparative Theologie und Religionspädagogik. Versuch einer Replik und Bestandsaufnahme aus komparativ fundamentaltheologischer Sicht, in: Rita Burrichter/Georg Langenhorst/Klaus von Storch (Hrsg.): Komparative Theologie. Herausforderung für die Religionspädagogik. Perspektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens, Paderborn 2015, 279–301. 32   Vgl. zum Folgenden Manfred L. Pirner: Human Rights, Religion, and Education. A Theoretical Framework, in: Manfred L. Pirner/Johannes Lähnemann/Heiner Bielefeldt (Ed.): Human Rights and Religion in Educational Context, Cham 2016, 11–27; Pirner: Religion und öffentliche Vernunft (s. Anmerkung 2), 310–318. 33   Vgl. John Rawls: Collected Papers, Cambridge in Massachusetts 1999; John Rawls: Political Liberalism. Expanded Edition, New York 2005. 34   Ich wähle hier und im Folgenden bewusst das Beispiel der Menschenrechte, das Rawls selbst in seinem Buch »Political Liberalism« nicht eingeführt, sondern erst später als einen wichtigen Bestandteil seiner Völkerrechtsphilosophie ausgewiesen hat. Meine These, die ich im vorliegenden Kontext nicht weiter ausführen kann, ist, dass durch den Bezug auf die Menschenrechte als Kernbereich der Grundwerte und -prinzipien in Rawls’ Modell die diesem vielfach unterstellte Normenschwäche vermieden werden kann. Die Menschenrechte haben sich sowohl national als auch international hochgradig und nachhaltig als konsensfähige normative Orientierungen erwiesen und damit als geeignet, die Rolle einer Bezugsbasis für den Diskurs der öffentlichen Vernunft zu erfüllen.

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 539

bejahen. Rawls spricht von der »öffentlichen Vernunft« (public reason) als dem Bereich, in dem ein solcher Konsens ausgehandelt wird. Aber Rawls weist auch darauf hin, dass der Konsens erheblich tiefer, breiter und nachhaltiger wird, wenn die Bürger ihre Bejahung der politischen Grundwerte auch aus ihren je unterschiedlichen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen heraus unterstützen können und sich eine Wechselwirkung zwischen den Grundwerten und den Überzeugungen ergibt: Zusätzlich zu allgemeinen Vernunftgründen können dann aus je spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Perspektiven zum Beispiel die Menschenrechte unterstützt und Beiträge zu ihrer Interpretation und Umsetzung in den Menschenrechtsdiskurs eingebracht werden. Umgekehrt können die Grundwerte auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen zurück wirken und diese beeinflussen und verändern. So können zum Beispiel die Menschenrechte Religionen und Weltanschauungen zu mehr Menschlichkeit und auch mehr Dialog und Gemeinsamkeit herausfordern, wie sie das faktisch auch getan haben. Es ist beispielsweise bemerkenswert, was die menschenrechtlichen Forderungen nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau oder nach der Achtung der Rechte von homosexuellen oder von Menschen mit Behinderungen in den christlichen Kirchen bewegt haben. Aktuell zeigt vor allem das Beispiel der UN-Behindertenrechtskonvention und die aus ihr hervorgegangene Forderung nach einer inklusiven Gesellschaft und einer inklusiven Bildung, wie menschenrechtliche Maßstäbe Anregungen zu einer menschlicheren Gesellschaft und zu menschlicheren Schulen geben können – wenn sie denn nicht politischen Funktionalisierungen und Sparprogrammen zum Opfer fallen. Das folgende Schaubild versucht, Rawls’ Konzept grafisch darzustellen: Abbildung: Öffentliche Vernunft und überlappender Konsens nach Rawls (eigene Grafik)

540 Manfred L. Pirner

Was den interreligiösen Dialog und das interreligiöse bzw. interweltanschauliche Lernen betrifft, so werden sie einerseits dadurch herausgefordert und angeregt, dass sich die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen mit den gemeinsamen gesellschaftlichen und globalen Grundwerten auseinandersetzen müssen. Andererseits gehört zu diesen Grundwerten zentral das Menschenrecht auf Religionsfreiheit, das auch inhaltlich die Anerkennung der je anderen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung einfordert. Darüber hinaus macht Rawls’ Modell auch deutlich, wie wichtig die innerreligiösen bzw. innerweltanschaulichen Perspektiven und Motive für das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft sind. So kann die religiös motivierte interreligiöse Verständigung wesentlich zur Unterstützung und Förderung einer Kultur der Menschenrechte beitragen, wie sich sehr schön am Beispiel der von Hans Küng initiierten Weltethos-Erklärung des Weltparlaments der Religionen zeigen lässt. So wie sich der Aufschwung der säkularen, aufklärerischen Vernunft historisch ganz wesentlich aus der Frustration über den Streit der Konfessionen und Religionen gespeist hat und heute noch speist, könnte die friedliche Verständigung zwischen den Religionen und ihr konstruktives Mitwirken an der Förderung des Gemeinwohls dazu beitragen, dass das Forum der öffentlichen Vernunft nicht säkularistisch missverstanden wird, sondern die Stimme der Religionen in diesem Forum wertgeschätzt wird. Diese Zusammenhänge zu kennen und entsprechende Konsequenzen ziehen zu können, gehört für mich unverzichtbar zur interreligiösen und interweltanschaulichen Kompetenz dazu. Ich bin überzeugt, dass es eine zentrale gegenwärtige Aufgabe Öffentlicher Theologie und Religionspädagogik ist, unseren Zeitgenossen zu verdeutlichen, dass und wie starke Wahrheitsansprüche zum Zusammenhalt und Gemeinwohl pluralistischer Gesellschaften beitragen können – statt zu Streit und gesellschaftlicher Desintegration zu führen. Dies beinhaltet im Hinblick auf den Religionsunterricht die Aufgabe zu plausiblisieren, dass und wie spezifische religiöse Perspektiven und interreligiöses Lernen das gemeinsame Wertefundament unserer Gesellschaft unterstützen können. Gelingt diese Plausibilisierung nicht, wird sich der Ruf nach einem einheitlichen schulischen Werteunterricht für alle anstelle eines pluralistischen Religionsunterrichts immer mehr durchsetzen, wie jüngst in Luxemburg.35

35

  Vgl. hier auch die Tendenzumfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov, in der sich eine deutliche Mehrheit der befragten Deutschen für einen solchen allgemeinen Werteunterricht anstelle des Religionsunterrichts ausgesprochen hat. Die Umfrage kann nicht als seriös repräsentativ gelten, hat jedoch trotzdem im September 2016 die Schlagzeilen vieler Medien bestimmt, vgl. online: https://fowid.de/meldung/allgemeiner-werteunterricht-oder-religionsunterricht (30. November 2017).

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 541

Abschließend möchte ich aus den beschriebenen vier blinden Flecken der Diskussion um interreligiöse Kompetenz Konsequenzen ziehen und ein eigenes Modell zur Diskussion stellen, das ich bewusst mit dem Titel »Interreligiöse und interweltanschauliche Kompetenz« überschrieben habe.

3. Ein eigenes Modell interreligiöser und    interweltanschaulicher Kompetenz Wie schnell deutlich wird, habe ich mein Modell strukturell an das vom Comenius-Institut entwickelte Gesamtmodell religiöser Kompetenz angelehnt, aber mit anderen Inhalten. Anders als das Modell des Comenius-Instituts meine ich dabei, dass die interreligiöse Kompetenz nicht auf den Bereich der »anderen Religionen und Weltanschauungen« beschränkt werden kann, sondern auch den Bereich der eigenen, persönlichen Religion und des gesellschaftlichen Kontexts mit umfasst, wobei letzterer weiter gefasst ist als lediglich die gesellschaftliche Präsenz von Religion (und m.E. auch grundsätzlich weiter zu fassen wäre). Von daher werden auf der linken Seite als »Bezugsbereiche« die eigene religiös-weltanschauliche Orientierung, andere Religionen und Weltanschauungen und die gemeinsamen Grundwerte und -prinzipien benannt. Dabei versuchen die gewählten Formulierungen auch nicht-religiösen und hybrid-religiösen bzw. -spirituellen Menschen gerecht zu werden. Deshalb wird auch von der »Bezugsüberzeugung« gesprochen; das kann eine bestimmte Bezugsreligion oder -Weltanschauung sein, sie kann aber auch Elemente aus mehreren Religionen oder Weltanschauungen umfassen, die patchworkartig verbunden sind. Die Operatorenbezeichnungen in der Mitte versuchen die Unterscheidungen von Ulrich Hemel (emotionale, kommunikative, kognitive und pragmatische Dimension) mit konkreten lernergebnisbezogenen Handlungsbeschreibungen zu verbinden. In der dritten Spalte habe ich keine exemplarischen Anforderungssituationen beschrieben, aber dafür Aspekte aufgelistet, die mir wichtig erscheinen, um die Vielfalt möglicher Anforderungssituationen im Auge zu behalten. In der mittleren Spalte werden dann – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zentrale Teilkompetenzen formuliert.

542 Manfred L. Pirner Tabelle 4: Interreligiöse und interweltanschauliche Kompetenz – ein Strukturmodell (eigene Entwicklung)

Bezugsbereiche

a) Wahrnehmen und Deuten, b) Kennen und Wissen, c) Sich einfühlen und Perspektiven wechseln, d) Ausdrücken und Darstellen, e) Kommunizieren und Teilhaben, f) Urteilen und Begründen, g) Sich verhalten und handeln

Eigene Religion(en), Konfession(en) oder Weltanschauung(en) (eigene Bezugsüberzeugung)

1. Positive Grundhaltungen der eigenen Bezugsüberzeugung gegenüber Fremden und Anderen (zum Beispiel Nächstenliebe, Achtung, Respekt) kennen, darstellen und begründen. 2. Die Pluralität von Glaubensinhalten und -formen innerhalb der eigenen Bezugsüberzeugung kennen und deren Wertschätzung begründen. 3. Grenzen der Wahrheitsgewissheit wahrnehmen und aus der eigenen Bezugsüberzeugung heraus begründen. 4. Mit Kritik an der eigenen Bezugsüberzeugung konstruktiv und selbstkritisch umgehen. 5. Offenheit gegenüber anderen religiösen oder weltanschaulichen Orientierungen aus der eigenen Bezugsüberzeugung begründen.

6. Andere Religionen und WeltanAndere Relischauungen sowie Mischformen gionen, Konvon Religiosität und Spiritualität fessionen oder nach ihrem eigenen pluralen nicht-religiöse Selbstverständnis kennen und unWeltanschauunter Respektierung ihrer Andersgen und spirituheit und Fremdheit darstellen. elle Lebensstile 7. Die Angemessenheit von Meinungen und Darstellungen zu anderen Religionen, Weltanschauungen und spirituellen Lebensstilen beurteilen. 8. Sich in anders-religiösen, -weltanschaulichen und -kulturellen Kontexten einfühlsam und respektvoll verhalten.

Aspekte von interreligiösen Überschneidungssituationen

Personal – Sozial – Medial

Lokal – Regional – National – International – Global

Die blinden Flecken interreligiöser Kompetenzbildung 543

9. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen anderen Religionen, Weltanschauungen sowie spirituellen Lebensstilen und der eigenen Bezugsüberzeugung wahrnehmen, beurteilen und über sie kommunizieren. 10. Die eigene Bezugsüberzeugung aus der Perspektive anderer Religionen und Weltanschauungen wahrnehmen. 11. Von anderen Religionen, Weltanschauungen und spirituellen Lebensstilen lernen und Perspektiven der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung als Lernangebot an andere zur Sprache bringen. 12. Mit Anhängern anderer Religionen, Weltanschauungen und spiritueller Lebensstile zum Wohl aller kooperieren. 13. Mit Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen über strittige Fragen sowie kritische Situationen friedlich und respektvoll diskutieren. Gesellschaftliche und globale Grundwerte und -prinzipien (zum Beispiel Grundwerte der Verfassung, Menschenrechte)

14. Grundwerte und -prinzipien aus der Perspektive der eigenen Bezugsüberzeugung begründen, interpretieren und beurteilen. 15. Wissen, dass diese Grundwerte und -prinzipien von unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen oder vernünftig-pragmatischen Perspektiven aus begründet, bejaht und interpretiert werden können. 16. Die normativen Prämissen von Grundwerten und -prinzipien als konstruktiv-kritische Herausforderung der eigenen und anderer religiös-weltanschaulicher Überzeugungen verstehen und entsprechende Konsequenzen bedenken. 17. Grundwerte und -prinzipien als Basis für interreligiöse und interweltanschauliche Verständigung verstehen und in Anspruch nehmen (zum Beispiel Recht auf Religionsfreiheit).

Intrakulturell – Transkulturell – Interkulturell

Intrareligiös – Transreligiös – Interreligiös

Die Seele betreuen Bemerkungen zur Entwicklung eines religionswissenschaftlichen Universitätscurriculums für die Ausbildung von Seelsorgern Hans Schilderman

»Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt, wo sie es findet.« Johann Wolfgang von Goethe

1. Einführung Nicht nur, dass man eine Seele hat, sondern, dass man eine bestimmte Seele hat, die dem Leben die richtige Orientierung gibt, das ist es wohl, was Goethe gemeint haben könnte in seinem o.g. Aphorismus. Es ist wohl so, dass die Spekulation über das, was die Seele an sich sein mag, weit weniger interessant ist als die Frage, was unsere Seele antreibt oder wohin sie uns führt. Jedenfalls ist das der Startpunkt dieser Betrachtung über Seelsorge. Es geht nicht um Reflexionen über die metaphysische Realität der Seele oder eine historische Skizze ihrer Phänomenologie – wie wichtig diese Perspektiven auch immer sein dürften.1 Der Begriff der Seele ist umgangssprachlich durchaus üblich und seit mehreren Jahrhunderten – ja, über tausende Jahre hinweg – geläufig als Begriff der geistigen Identität. Jedoch wird die Annahme dieser nicht-materialen Identität und somit ihre religiöse »Aufladung« seit langem in Frage gestellt. Dies geschah in dreierlei Weise. Erstens wurde der früher unproblematische Charakter der Seele – sie brauchte doch als ontologische Selbstverständlichkeit eben keine Begründung – legitimationsbedürftig durch die Psychoanalyse von Sigmund Freud (1856–1939), Alfred Adler (1870–1937) und Carl Gustav Jung (1875–1961). Ob religionskritisch oder nicht, die Psyche wurde von diesen Autoren und Ärzten in analytischen und kasuistischen Verfahren untersucht und sie legten damit eine erste theoretische Basis für 1

  Für eine perspektivreiche und zugängliche Übersicht vgl. Stewart Goetz/Charles Taliaferro: A Brief History of the Soul, Oxford 2011; Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Theologischen Fakultät Zürich (Hrsg.): Seele, Zürich 2005.

546 Hans Schilderman

therapeutische und klinische Behandlungen von Persönlichkeits- sowie Verhaltensstörungen. Damit verlor die kirchliche Fürsorge ein religiöses Monopol auf die Seele und diese wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und zum Objekt therapeutischen Handelns. Zweitens wurde seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine sprachliche Orientierung geläufig, die mit »linguistic turn« beschrieben wird. Anstatt essentialistischer Begriffe des Bewusstseins wurden nun narrative Konzepte verwendet, die eine Art von Sozialkonstruktivismus bevorzugten und die die Definition der geistigen Identität viel mehr als interaktiven und rhetorischen Prozess verstanden. Somit wurde die Seele befreit von einem Solipsismus, der Bewusstseinszustände ausschließlich abhängig machte vom denkenden Subjekt. Das Denken hat eben selbst linguistischen Charakter und seine Handlungsqualität zeigt sich in der Kommunikation. Drittens hat es über mehrere Jahrhunderte einen Diskurs über die Frage gegeben, wie mentale Zustände (wie die Seele) sich zu den physischen Gegebenheiten (wie dem Körper) verhalten. Sind es selbständige Identitäten oder sind Körper und Seele zwangsläufig aufeinander bezogen? Die Frage führte seit den 1950er Jahren in der angelsächsischen Bewusstseinsphilosophie zu einem Streit zwischen Monisten, Dualisten und Pluralisten hinsichtlich des Verhältnisses von Körper und Seele. Einerseits machte das eine eindeutige Begriffsbestimmung der Seele oder aber auch von Bewusstsein und Identität so gut wie unmöglich, andererseits verursachte es aber auch die Entwicklung einer theoretisch und empirisch reich ausgestatten Neurowissenschaft, die sich in vielen neuen Anwendungsbereichen bewährt hat. Die Folge ist offenbar, dass die Definition der Seele heutzutage abhängig ist von Studien der physischen Bedingungen, sie also von ihren Voraussetzungen in der Funktion des Gehirns und des Nervensystems her verstanden wird und nicht mehr, wie früher, als metaphysisch aufgeladener Begriff des Geistes. Mit diesen Veränderungen ist zugleich auch das Konzept »Seelsorge« erklärungsbedürftig geworden. Wenn die Psychoanalyse die energetische Tiefenstruktur der geistigen Emotionen nachweist, die Narratologie den Geist als überzeugende Erzählung verständlich macht und letztendlich die Neurotheorie die mentale Abhängigkeit des Verhaltens von physischen Prozessen aufzeigt, so hat das auch Folgen für die Art und Weise, wie man die Betreuung der Seele versteht. Oder, in Form einer Frage: Welche Folgen sollten diese weitreichenden Entwicklungen haben für unser theoretisches Verständnis, die empirische Belegung und den therapeutischen Einsatz von Seelsorge? In der Seelsorge – hier verstanden als die pastoraltheologische Disziplin der geistlichen Begleitung und Unterstützung in Identitätskrisen – kann man diese Frage von zwei unterschiedlichen Positionen her beantworten. Die eine Position geht davon aus, dass die Seele ein theologisches Proprium sei, das eng verbunden ist mit dem Glaubensbekenntnis, wie es in den historischen

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Grundtexten der Konfessionen und ihrer jeweiligen theologischen Traditionen enthalten ist. Entsprechend ist die Seele keine ontologische Selbstverständlichkeit, aber doch ein hermeneutischer Schlüsselbegriff in der Deutung der Identität aus religiöser Sicht. Die andere Position vertritt hingegen, dass, wenn die Seelsorge eine wissenschaftliche Disziplin sei, sie ihr Objekt in materialem Sinne (als geistige Identität) wie auch in formaler Hinsicht (als theoretischer Begriff) in enger Auseinandersetzung mit denjenigen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die dazu eine differenzierte und empirisch belegte Expertise haben, bestimmen müsse. Das würde heißen, dass Seelsorge nicht unbedingt theologisch ausgestattet sein muss und sich dann eher als medizinische Disziplin entwickeln könnte.2 Diese zwei Perspektiven schließen einander nicht unbedingt aus und es sind auch nicht die einzigen Ansichten. Ganz im Gegenteil gibt es im deutschen theologischen Sprachraum viele Konzepte von Seelsorge, wie zum Beispiel Doris Nauer in ihrer Habilitation aufgezeigt hat.3 Auch viele Monografien bezeugen, dass sich Theologen im Bereich der Seelsorge durchaus zahlreichen historischen und therapeutischen Fragestellungen stellen, sowohl im katholischen wie auch im evangelischen Bereich.4 Zugleich gibt es heutzutage auch Diskussionen darüber, wie sich Seelsorge als theologischer Begriff zu dem eher medizinischen Begriff »spiritual care« verhält, vor allem im palliativen Bereich.5 Und darüber hinaus gibt es auch eine Übereinstimmung darüber, dass jede Weltreligion und nationale Kultur in dieser Hinsicht eigene Bedürfnisse und Anforderungen hat.6 Diese theoretischen Diskussionen dürfen allerdings eine elementare Bedingung nicht überdecken, nämlich dass jedes Land in den Bereichen theologischer Ausbildung wie auch medizinischer Arbeitsteilung in der Praxis ganz eigenen institutionellen und finanziellen Strukturen unterliegt, die 2

  Vgl. für eine Skizze dieses Problems meine Antrittsrede Hans Schilderman: Wat is er geestelijk aan de geestelijke zorg?, Nijmegen 2009 (deutsch: »Was ist geistlich an geistlicher Fürsorge?«). 3   Vgl. Doris Nauer: Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart/ Berlin/Köln 2001. 4   Vgl. von evangelischer Seite her zum Beispiel Joachim Scharfenberg: Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung, Göttingen 51991; von katholischer Seite her zum Beispiel Christoph Morgenthaler: Seelsorge, Gütersloh 2009. 5   Vgl. Eckhard Frick/Traugott Roser (Hrsg.): Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Stuttgart 2009; Doris Nauer: Spiritual Care statt Seelsorge?, Stuttgart 2015; Isabelle Noth: Palliative und Spiritual Care. Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie, Zürich 2014. 6   Vgl. Isabelle Noth/Emmanuel Schweizer/Georg Wenz (Hrsg.): Seelsorge und Spiritual Care in interkultureller Perspektive. Pastoral and Spiritual Care Across Religions and Cultures, Göttingen 2017.

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diese Diskussionen weitgehend mitbestimmen. »Wer zahlt, schafft an«, ist eine Redensart, die u.a. deutlich macht, dass Probleme immer aus einer bestimmten Perspektive heraus verstanden und bearbeitet werden. Wenn die Kirche die Arbeitgeberin von Universitätsdozenten in der Theologie ist, dann definiert sie die Kriterien der seelsorgerlichen Ausbildung, und wenn sie zugleich auch Arbeitgeberin der Seelsorger in den Gesundheitseinrichtungen ist, dann bestimmt sie somit auch deren Aufgaben und kontrolliert sie. So banal diese Beobachtung auch sein mag, sie hat Folgen gerade für die Auffassung der Seele und für die Art und Weise, wie die Betreuung stattfinden soll. Wenn im Rahmen des Gesundheitsschutzes festgestellt wird, dass Sinngebung fördernde Funktionen hat oder dass Religion eine positive Auswirkung hinsichtlich existentieller Aspekte einer Krankheit oder Behinderung hat, dann definiert die Medizin, was unter Seele alles gedacht werden kann und wie dies auf Therapie- oder Unterstützungsmaßnahmen bezogen werden soll. Daher ist die Frage also nicht so sehr, was Seelsorge im theoretischen Sinne von spiritual care unterscheidet, sondern ob und wie sich für beide in einem bestimmten Land in der Praxis tatsächlich aufschlussreiche Möglichkeiten zur Zusammenarbeit finden lassen. In den Niederlanden wird die Seelsorge im Bereich des Gesundheitswesens (wie auch des Militärs und der Justiz) vom Staat finanziell ermöglicht. Dies beruht auf dem konstitutionellen Prinzip staatlich garantierter Religionsfreiheit. Dieses versetzt nämlich die Kirchen oder andere als Weltanschauung offiziell anerkannte Verbände in den Stand, ihre betreffende Glaubens- und Weltanschauung auch außerhalb ihrer eigentlichen Heilsanstalten vermitteln zu dürfen. Die weitgehende Entkirchlichung und mentale Säkularisierung in den Niederlanden hat im Hinblick auf die Ausbildung der Seelsorger dazu geführt, dass nicht nur ein Theologiestudium, sondern auch ein religionswissenschaftliches Curriculum eine Ausbildung zum Seelsorger ermöglicht. Die im letzten Fall fehlende Bevollmächtigung der Kirche stellt dabei eine Reaktion auf den Befund dar, dass viele Patienten oder Klienten keine Bindung mehr an eine bestimmte Kirche verspüren, eine solche Bindung möglicherweise sogar ablehnen, aber dennoch ein Recht auf Sorge und Unterstützung hinsichtlich ihrer Lebensüberzeugung geltend machen können. Die Freiheit der Religions- und Lebensüberzeugung ist eben ein individuelles Bürgerrecht und nicht ausschließlich oder gar primär ein institutionelles Verfahren. Das Beispiel der Niederlande ermöglicht so die Analyse einer Seelsorge, die nicht unbedingt kirchlich gesteuert oder inhaltlich bestimmt ist und wo Seelsorger vor Ort auch nicht unter kirchlicher Aufsicht stehen. Einerseits gibt es so die Möglichkeit, einen religionswissenschaftlichen Begriff der Seele zu entwickeln, der nicht von vornherein konfessionell profiliert oder von kirchlichen Anordnungen gestaltet ist. Andererseits wird die Relevanz eines solchen Konzeptes natürlich weitgehend bedingt von

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den institutionellen Möglichkeiten, diese Seelsorge zweckmäßig und effektiv einzusetzen, wobei eben nicht im Voraus klar ist, ob und wie so ein Unternehmen auf Dauer erfolgreich sein kann. Dabei ist auch zu betonen, dass Seelsorger als »freie« Berufstätige (s. Kapitel 3) und Seelsorger als kirchliche Amtsträger nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, sondern eben mit unterschiedlichen Aufgaben, Zielgruppen und Verantwortlichkeiten ausgestattet sind. Auf dieser Basis verfolgt dieser Beitrag drei Ziele. Erstens ist eine Diskussion über die Voraussetzungen eines religionswissenschaftlichen Begriffs der Seele notwendig (Kapitel 2). Zweitens sollen, anschließend an diese Erörterungen, professionelle Ausgestaltungen von Seelsorge im Gesundheitsweisen skizziert werden (Kapitel 3). Und drittens soll schließlich herausgearbeitet werden, welche universitäre Ausbildung hierbei erforderlich ist (Kapitel 4). Dabei sei festgehalten, dass dieser Beitrag beschränkt bleibt auf ausgewählte Wahrnehmungen und Anmerkungen.

2. Voraussetzungen eines religions   wissenschaftlichen Begriffs der Seele Was treibt unsere Seele an und wohin führt sie uns? Wenn wir die Ausgangsfrage so formulieren, dann ist die Seele als ein Sinnesorgan der Lebensorientierung zu betrachten. So eine Konzeption dürfte vermutlich auch Goethe gut passen, da er als Pantheist im 18. Jahrhundert das Göttliche in sich selbst vermutete und sich bekanntlich von einer äußeren Offenbarungsreligion weitgehend distanzierte.7 Eine der Voraussetzungen für einen religionswissenschaftlichen Begriff der Seele ist damit, dass eine konfessionelle Definition der Seele zwar Objekt eines Studiums sein kann und in bestimmter Hinsicht sogar sein muss, dass aber wissenschaftlich zugängliche Termini verwendet werden müssen, um jegliches Objekt der Seelsorge auch für ein nicht-kirchliches Publikum verständlich zu machen. Der formale Terminus »Lebensorientierung« beschreibt das Denken, Fühlen und Empfinden eines Menschen als Ausdruck sowohl seiner Vitalität wie auch seiner moralischen und religiösen Leitmotive, auch wenn Letztere sehr unterschiedlich bestimmt werden können. Diese doppelte Ausrichtung – die Funktion des Bewusstseins einerseits und die bestimmende Ausrichtung andererseits – sollte in jeder Definition der Seele enthalten sein, wenn man das seelsorgerliche Objekt aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive heraus betrachtet. Klar ist, 7

  So meint beispielsweise Werner Keller: »Die Kreuzessymbolik war für Goethe ein Ärgernis, die Lehre von der Erbsünde eine Entwürdigung der Schöpfung, Jesu Vergottung in der Trinität eine Blasphemie des einen Gottes« (zitiert nach Wolfgang Frühwald: Goethe und das Christentum. Anmerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis, Göttingen 2013, 47).

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dass die religiösen Traditionen eigene Lehrsätze über das Bewusstsein haben, mit einer je eigenen moralischen und religiösen Prägung. Aufgabe einer religionswissenschaftlichen Perspektive ist dabei das wissenschaftliche Studium dieser Lehrsätze und der sich daraus ableitenden Bezeugungen in der Glaubenspraxis; anders formuliert: Auch wenn diese Lehrsätze selbst keinen wissenschaftlichen Anspruch geltend machen, sollen sie dabei nicht so, sondern von einer anderen, wissenschaftlichen Perspektive her verstanden werden. So eine Unterscheidung scheint mir angebracht, um Grundideen der Religion wissenschaftlich, das heißt theoriegemäß und empirisch nachweisbar, untersuchen zu können. Auch wenn eine genauere Definition der Seele dabei die Grenzen dieses Beitrages übersteigt, kann vor diesem Hintergrund doch zumindest auf einige weitere Voraussetzungen angespielt werden. Eine geisteswissenschaftliche Bestimmung solcher Begrifflichkeiten ist meines Erachtens wichtig für eine empirische Theologie und Religionswissenschaft.8 Die Seele als Sinnesorgan der Lebensorientierung bietet dabei eine formale Begriffsbestimmung, die durch drei weitere Punkte bzw. Voraussetzungen inhaltlich ergänzt werden kann. So besteht eine erste Voraussetzung darin, dass die Funktion des Bewusstseins in einem Konzept der Seele begrifflich enthalten sein muss. Es ist heutzutage nicht mehr möglich, von der Seele zu reden, ohne sich dabei mit den vielen Theorien des Bewusstseins auseinanderzusetzen. Nicht nur die angelsächsische Philosophie hat sich weitgehend mit dem Verhältnis von Körper und Seele auseinandergesetzt, sondern auch die deutschsprachige Philosophie, die zudem darin den sog. phänomenalen Aspekt, das heißt die subjektive Dimension des Erlebens, berücksichtigt hat.9 Die Neurowissenschaften studieren die Korrelate von Bewusstsein mit Gehirn und Nervenapparat und beziehen dazu Einsichten über das Verhalten eines Menschen zu seiner Umgebung mit ein. Viele Theorien sind dabei zu berücksichtigen, etwa die Identitätstheorie, die Bewusstsein als Korrelat von Mustern neuraler Aktivität sieht, die sog. Hot- bzw. Higher-Order-Thoughts-Theorie, die besagt, dass Bewusstsein nichts anderes als die Repräsentation von Wahrnehmungen, Gedanken und Überzeugungen ist, die Selbstdarstellungstheorie, welche die Hot-Theorie auf mentale Reflexion überträgt, Daniel C. Dennets Widerlegung phänomenaler Konzepte von Bewusstsein, weiterhin funktionspsychologische Theorien, die Bewusstsein mit Aufmerksamkeit identifizieren, und schließlich die vielen Repräsentanztheorien, die sich meistens 8

  Vgl. Hans Schilderman: Defining Religion. A Humanities Perspective, in: Hans Schilderman (Hrsg.): The Concept of Religion. Defining and Measuring Contemporary Beliefs and Practices, Leiden 2014, 176–198. 9   Vgl. Detlev Ganten/Volker Gerhardt/Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Funktionen des Bewusstseins, Berlin 2008.

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bemühen, die Identifikation von Bewusstsein mit Intention zu widerlegen.10 Diese Vielfalt der Theorien zeigt einen fehlenden Konsens darüber, was die für ein Konzept der Seele notwendigen Funktionen des Bewusstseins sind. Obgleich dieser Diskurs dabei bereits eine eigene Disziplin mit spezialisierten Fachkenntnissen darstellt, widmet er sich auch einer herausragenden philosophischen Fragestellung mit beträchtlichem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und sollte so nicht ignoriert werden. Eine zweite Voraussetzung zielt ab auf eine bestimmte Position im Diskurs, die der Terminus »Seele« wohl fordert, indem er auf ein bestimmtes Merkmal des Bewusstseins abhebt. Wenn Seele ein orientierendes Sinnesorgan ist, dann bietet das Bewusstsein jeder Erfahrung eine nicht abzusprechende, subjektive Qualität, wie sie in dem Begriff der sog. Qualia hervorgehoben wird als die besondere Erfahrungsqualität, die mit der Wahrnehmung unserer personalen Identität verbunden ist. Diese mentale Erfahrung ist immer »meine« Erfahrung, das heißt, sie kann nicht von einer äußeren Perspektive her erfahren werden, weil sie eben ein subjektiver Zugang zu der eigenen Lebenswelt ist. Anders gesagt: Jede mentale Erkenntnis erfordert einen Handlungsträger, der den Sinn fühlt, der seine Erkenntnis zur Erfahrung macht. Dieses eher phänomenologisch verstandene Konzept der Zueignung ist überhaupt notwendig, um eine »Mitte« des Bewusstseins und so eine Orientierung im Leben zu ermöglichen. Eine derartige Orientierung mag diese Mitte als eine Identitätsbestimmung des Bewusstseins erfordern, das heißt aber noch nicht, dass somit auch Intentionen und Ziele – oder gar die zweckmäßige Verbindung davon – gegeben sind. Jedenfalls unterscheiden sich hier internalistische Vertreter, die behaupten, dass ein Sinn im Bewusstsein selbst enthalten ist, von Externalisten, die daraufhin abzielen, dass so ein Sinn eigentlich nur außerhalb des Bewusstseins gefunden werden kann. Für die Sorge um die Seele sind das zwar abstrakte Gedanken, aber auch durchaus relevante, weil sie die Betonung der ontologischen oder gar metaphysischen Bestimmungen der Seele als Identitätsmerkmal abschwächen zu Gunsten eines selbstreflektierten Akts der Sinngebung. Für die Seelsorge dürfte das weitgehende Konsequenzen haben. Eine dritte Voraussetzung einer Neukonzeption der Seele, die ich hervorheben möchte, rührt her aus einer Schlussfolgerung aus den beiden vorangegangenen Voraussetzungen. Wenn die Seele heutzutage von den Funktionen des Bewusstseins her verstanden werden muss und ihre Orientierung als Akt der Sinngebung, dann erfordert ein Konzept der Seele ein dynamisches Identitätsmerkmal. Anstatt als unveränderlicher Kern oder gar ewige Substanz ist die Seele dann eher als Prozess zu begreifen. William James 10

  Vgl. William Seager: Theories of Consciousness. An Introduction and Assessment, London 2016.

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(1842–1910) verstand Bewusstsein als stream of thought, das heißt als Art und Weise, wie ein Subjekt mit seiner Umgebung in einem Kontinuum interagiert.11 Bewusstsein ist also zeitlich bestimmtes Denken. So eine einfache Einsicht hat wichtige Folgerungen. Es ist nicht nur so, dass das Bewusstsein sich immer ändert, sondern es ist sich dieser Änderungen von einer Sinngebungsperspektive her fortwährend bewusst und fokussiert, interpretiert und adaptiert demgemäß. Die Seele bildet so ihre eigene Vergangenheit und plant ihre eigene Zukunft unter der Voraussetzung, dass sie ihre Geschichte zwar verstehen, nicht aber ändern kann, und ihre Pläne zwar ändern, nicht aber im Voraus verstehen kann. Anders gesagt, ihre Eigenheit wird bestimmt von einer doppelten Kontingenz: Sie besteht einmal in der Unmöglichkeit, in der gekannten Vergangenheit nochmals zu handeln, und dann in dem Fatum der Zukunft, in der man zwar handeln kann, die man aber vorher nicht zu kennen vermag. Es ist vor allem hier, wo die Religion bedeutsam ist; allerdings wird dies in der neueren Religionsphilosophie kritisch diskutiert. Religion bietet eine Kultur der Kontingenzerfahrung und -bewältigung.12 Charakterisierend für die Religion ist dabei, dass sie gegenüber der erfahrenen Kontingenz Tröstung bietet hinsichtlich der Geschichte und dabei eine Hoffnung für die Zukunft in sich bereithält.13

3. Professionelle Ausgestaltungen von    Seelsorge im Gesundheitswesen Auch wenn die in Kapitel 2 gebotene Skizze zur Bestimmung der Seele als Objekt der Seelsorge nur aus einigen wenigen Strichen bestand, hat sie doch einige Merkmale aufgezeigt, die wichtig sein können für eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Thema der Seelsorge. Als Wunsch formuliert: Der Seelsorger kennt sich im Bereich der Bewusstseinstheorien aus und weiß, inwiefern sie gegebenenfalls für das Gesundheitswesen relevant sein können. Außerdem ist er kompetent in Fragen der Sinngebung und weiß um die Art und Weise, wie Religion bei Problemen oder Krisen bzw. bei Kontingenzerfahrungen Beistand zu bieten vermag. Zwar liegt hier noch ein recht formaler Begriff von Seelsorge zugrunde, der noch keine kasuistischen oder therapeutischen Perspektiven aufgreift, aber die Konsequenzen der in 11

  Vgl. William James: The Principles of Psychology, Cambridge 1983, 224–291.   Vgl. Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986; für eine ausführliche Begriffsgeschichte auch Peter Vogt: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011, 659–695. 13   Vgl. Detlef Pollack: Was ist Religion? Probleme der Definition, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3 (1995), 163–190; weiterhin auch Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hrsg.): Vernunft, Kontingenz und Gott: Konstellationen eines offenen Problems, Tübingen 2000. 12

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Kapitel 2 vorgebrachten Ausführungen für die Seelsorge sind damit angedeutet. Man kann und sollte sich jedoch auch fragen, ob und wie solche Überlegungen überhaupt mit dem jeweiligen Gesundheitswesen zu verbinden sind bzw. in welchen professionellen Ausgestaltungen Seelsorge stattfinden kann. Idealtypisch ist hier eine Unterscheidung zwischen drei Formen möglich: einer Seelsorge in kirchlicher Aufsicht, einer in die Medizin integrierten Seelsorge und einer im Rahmen eines sog. Freien Berufs ausgeübten Seelsorge. So findet die Seelsorge in kirchlicher Aufsicht dort statt, wo dem Seelsorger eine kirchlich legitimierte, amtliche Identität zuerkannt wird, das heißt, wo er von der Kirche als zuständiger Autorität in eine öffentliche Tätigkeit berufen wird. Der Seelsorger ist damit zuallererst Vertreter einer religiösen Tradition, die die eigene Arbeit von konfessionellen Definitionen der Seele her versteht und die dazugehörigen Dienste demgemäß ordnet. Denn die Kirche ist eine typisch normative Organisation, die sich von einer moral community her versteht und wo die seelsorgerliche Arbeit letztendlich in Bezug auf kirchlich autorisierte, moralische Gründe gestaltet wird. Dabei geht es kirchlicher Seelsorge jedoch nicht nur um die Verwirklichung ihres durch das Glaubensbekenntnis und die Bergpredigt historisch und kulturell gewachsenen Selbstanspruches und die Positionierung von Kirche in der Gesellschaft, sondern auch um die Inanspruchnahme gesetzlich gewährleisteter Glaubensfreiheit vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Trennung von Religion und Staat. Neben solch einer institutionellen Dimension gibt es darüber hinaus auch eine persönliche Dimension des Amtes. Denn der Dienst ist gebunden an eine Person, die dazu Rechte besitzt und Pflichten beachtet. In der Seelsorge bezieht diese personale Dimension sich auf die kirchliche Ausbildung und die Ordination oder Amtseinsetzung, wozu die Zuerkennung einer bestimmten Mission gehört, die vor Ort – wie zum Beispiel im Gesundheitswesen – zu gestalten ist. Und dann gibt es letztendlich noch eine Handlungsdimension des Amtes, die sich darauf bezieht, dass bestimmte Handlungen einer Rollenbesetzung zugewiesen sind, die die Autorität des Amtes aufzeigt und die ihm auch spezifische Situationen exklusiv zuordnet. In der Seelsorge handelt es sich dabei meistens um kerygmatische oder sakramentale Praktiken, die an kirchliche Verantwortlichkeiten anknüpfen. Eine derartige, von der kirchlichen Institution überwachte Amtsorientierung ist zwar unentbehrlich, aber wegen der Säkularisierung und Subjektivierung in manchen Nationalkontexten wohl auch zunehmend legitimationsbedürftig. Eine in die Medizin integrierte Seelsorge ist hier ganz anders ausgerichtet, jedoch auch mit Problemen verknüpft. Denn zwar kann auch hier ein Beitrag zum Gemeinwohl, der zum Beispiel mit dem Wert der Gesundheit eng verknüpft ist, als Ziel ausgemacht werden – und auch das Gesundheitswesen ist ggf. als eine Normen gebende Institution zu verstehen –; allerdings ist das Gesundheitswesen aber auch eine hochtechnologisierte und komplexe Orga-

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nisation, die auf spezialisiertem Sachverständnis basiert und fortwährend unter ökonomischem Druck steht, der teilweise Konsequenzen für die Verteilung von Verantwortlichkeiten hat. Nach Sholom Glouberman und Henry Mintzberg sind am Beispiel des Krankenhauses dazu vier unterschiedliche Organisationsstrukturen zu beschreiben, die den vier sog. C’s entsprechen, nämlich erstens Cure, die Domäne der Ärzte, die sich auf Krankheiten bezieht, zweitens Care, dem Bereich der Versorgung und Pflege, der auf Gesundheit bezogen ist, drittens Control, die Verwaltung, die der Geschäftsführung überlassen wird, und viertens Community, die die Aufsicht von Seiten der Treuhänder her beinhaltet, die weder direkte Angestellte noch Teile der Krankenhaushierarchie sind.14 Diese vier Domänen gehören zwar zu zwei unterschiedlichen Aufgabenbereichen (horizontal und vertical cleavage), vertreten aber oft auch gemeinsame Teilinteressen, die allerdings mitunter auch in Widerspruch zueinander stehen können. Die Seelsorge gehört dabei momentan nun nicht zu den hierarchischen und intervenierenden Cure-Strukturen der Ärzte, sondern eher zu den sog. nursing professions, obgleich sie offensichtlich weitgehend nicht so wie die Krankenpflege eng mit den komplexen und dynamischen Arbeitsvorgängen der primären Gesundheitsförderung verknüpft ist. Diese fehlende systemische Integration verleiht einer in die Medizin integrierten Seelsorge eine Stellung abseits der primären Arbeitsprozesse innerhalb von Krankenhäusern und macht die Seelsorge zum Spezialfall innerhalb der Verteilung von Verantwortlichkeiten unter den medizinischen und pflegerischen Arbeitsbereichen. Und dann gibt es schließlich noch die im Rahmen eines Freien Berufs ausgeübte Seelsorge, wobei die Freien Berufe (liberal professions) gegenüber den Institutionen des Gesundheitswesens relativ autonom sind: »Angehörige Freier Berufe erbringen aufgrund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Leistungen im gemeinsamen Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit. Ihre Berufsausübung unterliegt in der Regel spezifischen berufsrechtlichen Bindungen nach Maßgabe der staatlichen Gesetzgebung oder des von der jeweiligen Berufsvertretung autonom gesetzten Rechts, welches die Professionalität, Qualität und das zum Auftraggeber bestehende Vertrauensverhältnis gewährleistet und fortentwickelt.«15

14

  Vgl. Sholom Glouberman/Henry Mintzberg: Managing the Care of Health and the Cure of Disease. Part 1 and 2, in: Health Care Management Review 26 (2001), 56–84. 15   So die Definition Freier Berufe gemäß des Beschlusses der Mitgliederversammlung des Bundesverbandes der Freien Berufe, Berlin 1995, zitiert nach Bundesverband der Freien Berufe: Faktenblatt Definitionen des Freien Berufs, Berlin 2012, 1f.

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»Frei« heißt hier sowohl »unabhängig in der eigenen Dienstleistung« wie auch »von Anfang an ausgerichtet auf Entscheidungsfreiheit des Klienten«. Diese »Freiheit für« meint dabei allerdings nicht eine »Freiheit von«. Es ist gerade das Ethos der persönlichen Beziehung zu den Klienten, das zum beruflichen Engagement nötigt und das in Standards der jeweiligen Berufsvereine zur Wahrung von Werten und Normen bei der Berufsausübung festgelegt wird. Das Berufsethos reflektiert so ein allgemeines Interesse an einer von Vertrauen und Zuversicht geprägten Arbeitsatmosphäre. Entsprechend werden in den Freien Berufen Kommerzialismus, Monopolismus und Paternalismus der Selbstregulierung, Integrität und Autonomie gegenübergestellt. Solche Grundlagen für Freie Berufe wurden in den letzten Jahren in vielen nationalen und europäischen Vorschriften und Verfügungen festgelegt.16 Auch hinsichtlich der Seelsorge gibt es dabei einige faktische Gegebenheiten, die dafür sprechen, Seelsorge als Freien Beruf zu gestalten – so die Überlegung, dass die charakteristische Gestalt des seelsorgerlichen Gesprächs sowohl Garantien der individuellen Religionsfreiheit bedarf wie auch einer Vertrauensbasis, die nicht von vornherein durch medizinische und wirtschaftliche Überlegungen beeinträchtigt werden darf. Ob und wie so ein berufliches Selbstverständnis sich im Gesundheitswesen bewähren kann, ist wohl eine Frage an einen interdisziplinär orientierten Sachverstand, der einer Evidence-Based-Praxis verpflichtet sein sollte.

4. Seelsorgerliche Ausbildung    in Universitätscurricula Mit diesen kurzen Ausführungen sind viele Fragen angesprochen worden, die sich auch in der seelsorgerlichen Ausbildung stellen. Die erste Frage bezieht sich auf das Objekt der Seelsorge. Wie soll der Seelsorger seinem Objekt gegenübertreten: als Gläubiger, der in religiöser Sprache nicht nur spricht, sondern auch denkt und handelt, oder als religiös Sachverständiger, der wissenschaftlich analysiert und interveniert? Die zweite Frage betrifft die professionelle Ausgestaltung. Ausgehend von welchem Rollenverständnis soll das Curriculum der Seelsorger-Ausbildung geplant werden: von dem des kirchlichen Vertreters, von dem des medizinisch integrierten Sachverständigen oder von dem der autonomen Vertrauensperson? Die dritte Frage betrifft die institutionelle Verortung und damit auch das theoretische Niveau. Wo soll die seelsorgerliche Ausbildung verortet werden: an der Universität, an der Fachhochschule – oder würde sogar auch eine rein praktische Ausbildung reichen? Natürlich sind solche Fragen eng miteinander verwoben und 16

  Für eine Übersicht vgl. zum Beispiel ebd.; weiterhin Bundesverband der Freien Berufe: Guiding Principles of the Liberal Professions, Berlin 2009.

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die möglichen Antworten können in diesem Beitrag nicht erschöpfend diskutiert werden. Deshalb beschränke ich mich hier auf einige Überlegungen, die für die Erhaltung und Entwicklung eines Universitätscurriculums plädieren, in dem Seelsorge als Freier Beruf aufgefasst und ihr Objekt religionswissenschaftlich verstanden wird. So ist hier zunächst festzuhalten, dass im Rahmen des sog. Bologna-Prozesses in den jeweiligen europäischen Ländern Qualifikationsrahmen erstellt worden wie die sog. Dublin Deskriptoren und der europäische Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, die in Universitätscurricula Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen aufgrund eines internationalen Konsenses unterscheiden.17 Man kann Zweifel daran haben, ob die als »angelsächsisch« empfundene Studienreform im deutschen Sprachraum erfolgreich gewesen ist, jedenfalls wurde darüber vor allem im Universitätsbereich mit großer Vehemenz diskutiert. Empirisch aber kann man feststellen, dass die Reform sich gewissermaßen in bereits zuvor existierende, längerfristige Entwicklungen von institutioneller Innovation und veränderter Studiermentalität eingepasst hat.18 Angesichts dessen möchte ich hier – ohne spezifische inhaltliche Vorschläge zu machen, wie ein neues Curriculum für die universitäre Seelsorger-Ausbildung aussehen sollte – auf einiges hinweisen, was sich für mich aus dieser Reform entsprechend ergibt. So bedarf jedes Curriculum für die universitäre Seelsorger-Ausbildung einer Beschreibung der zu erlangenden Fachkompetenzen, eine Skizzierung der Tiefe und Breite des zu vermittelnden fachtheoretischen Wissens wie auch der zu erlangenden instrumentalen und systemischen Fertigkeiten und Urteilskompetenzen. Zugleich bedarf es einer Darstellung der zu erlangenden Sozialkompetenzen wie Führungs-, Mitgestaltungs- und Kommunikationsfähigkeit sowie einer Beschreibung des Umfangs der notwendigen Selbstständigkeit, die die Eigenständigkeit, Verantwortung, Reflexivität und Lernkompetenz betrifft. Die Beachtung dieser übergreifenden Kompetenzen würde einen Vergleich der Ausbildung von Seelsorgern mit der anderer akademischer Berufe ermöglichen und so die interdisziplinäre Gestaltung der Studiengänge fördern. Dass dies auch in der Theologie nicht irrelevant ist, zeigt sich u.a. in Texten für lebenslanges Lernen, die betonen, dass in jeder beruflichen Stellung interreligiöse Kompetenz, gelebte Toleranz und normative, ethische und religi17   Vgl. Europäische Kommission: Der europäische Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, Luxemburg 2008; Joint Quality Initiative: Gemeinsame »Dublin Descriptors« für Bachelor-, Master- und Promotionsabschlüsse, Dublin 2004. 18   Vgl. Alexander-Kenneth Nagel: Der Bologna-Prozess als Politiknetzwerk. Akteure, Beziehungen, Perspektiven, Wiesbaden 2006; Martin Winter: Die Revolution blieb aus: Überblick über empirische Befunde zur Bologna-Reform in Deutschland, in: Sigrun Nickel (Hrsg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis, Gütersloh 2011, 20–35.

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öse Reflexivität gefordert sind.19 Die Einordnung eines Curriculums für die universitäre Seelsorger-Ausbildung in ein allgemeines Universitätscurriculum gemäß den nationalen und europäischen Konsenstexten zur Qualifikationsstandardisierung ermöglicht und sichert so letztendlich die Gestaltung einer realitätsbezogenen Arbeitsteilung innerhalb der interdisziplinären Struktur des Gesundheitswesens. Die Seelsorge hat dabei eine vielschichtige Geschichte, die sich über viele Jahrhunderte erstreckt.20 Die Pastoraltheologie als Wissenschaft der Seelsorge hat sich seit ihrer Begründung mit Franz Stephan Rautenstrauchs (1734–1785) Vorlesungen der Pastoraltheologie im Jahre 1777 zwar als eine Disziplin bewährt, sie war aber auch immer in der Gefahr, die akademische Identität mit kirchlicher Anleitung, bürgerlichem Anstand oder pastoralen Tugenden zu verwechseln.21 Oder, methodologisch formuliert, die Pastoraltheologie war weithin eine angewandte Wissenschaft (theologia applicata), die auf das tiefere Begreifen dessen ausgerichtet war, was von der jeweiligen religiösen Tradition oder kirchlichen Gewalt bereits als eine Wahrheit angenommen wurde. Zwar wird diese Position heute wissenschaftlich nicht mehr oft vertreten, aber wo die seelsorgerliche Ausbildung das Herz des Theologiestudiums darstellt, ist die Verbindung mit Glaubensbekenntnis und Kirche doch gefragt. Kann denn so eine traditionelle Verpflichtung der Seelsorge gegenüber der Religion überhaupt in ein Universitätscurriculum überführt werden? Schlimmer noch, würde ein religionswissenschaftliches Curriculum so eine religiöse Aufgabe nicht von vornherein verhindern? Klar ist, dass die obigen Bemerkungen über ein neues Verständnis der Seele und die möglichen professionellen Ausgestaltungen von Seelsorge im Gesundheitswesen ganz neue Anforderungen an die moderne Seelsorge verdeutlichen. Teilweise kann diesen durch ein religionswissenschaftliches Curriculum auch entsprochen werden. Praktische Religionswissenschaft kann durchaus auch eine Handlungswissenschaft sein, wenn sie im Studium der Religion 19

  Vgl. zum Beispiel Arbeitskreis Qualifikationsrahmen für Lebenslanges Lernen: Deutscher Qualifikationsrahmen für Lebenslangens Lernen, Berlin 2011, 4. 20   Vgl. Christian Möller (Hrsg.): Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Göttingen 1994. 21   Vgl. dazu die Motive der Gründung des ersten Lehrstuhls für Pastoraltheologie, wo Rautenstrauchs Studienreform in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimität des pastoralen Amtes mit der wissenschaftlichen Legitimität des Theologiebetriebs verband, vgl. u.a. Josef Müller: Der pastoral-theologisch-didaktische Ansatz in Franz Stephan Rautenstrauchs Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen, Wien 1969; Josef Müller: Zu den theologiegeschichtlichen Grundlagen der Studienreform Rautenstrauchs, in: Theologische Quartalsschrift 146 (1966), 62–97; Anton Zottl/Werner Schneider: Wege der Pastoraltheologie. Texte einer Bewusstwerdung. 1. Teil: 18. Jahrhundert. Grundlegung und Entfaltung, Eichstätt 1987, 27–34.

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ihr Objekt als »act of practicing ideas« versteht. So kann auch die Seelsorge als Disziplin innerhalb der Pastoraltheologie als eine Interpretationswissenschaft gedeutet werden, die zunächst die Seele als ein Sinnorgan der Lebensorientierung zu betrachten hat. Sie hat sich somit nicht mit dem Studium von Lehrsätzen über die Identität der Seele zu begnügen, sondern sie hat die Bedingungen der Selbstinterpretation überhaupt zu untersuchen, sei es von der Perspektive der geläufigen Bewusstseinstheorien oder von anderen relevanten wissenschaftlichen Perspektiven her. Dabei ist klar, dass die Religion folgenden inhaltlichen Fokus legt: Wie funktioniert der Glaube in bewusstseinstheoretischer Hinsicht? Als ein nächstes Erfordernis gilt es, die Praxis der Lebensorientierung zu studieren. Wenn die Seele am besten als ein Prozess gedacht werden kann, welche Werte liegen diesem dann zugrunde und welche Ziele werden bei der Auseinandersetzung mit ihm angestrebt? Bevor es um die normative Beurteilung des Seelsorgers selbst geht, gilt es hier, die normative, ethische und religiöse Reflexivität zu studieren, die eine Lebensorientierung ermöglichen, und die Bedingungen ihrer Förderung beim Klienten zu klären. Und schließlich ist es wohl wichtig, das professionelle Handeln der Seelsorger selbst zu überprüfen: Was bringt einem Klienten das Vorgehen eines Seelsorgers? Fördert es die religiöse Selbstinterpretation eines Klienten oder nicht? Wirkt sich das Handeln auf die Lebensorientierungsperspektive des Klienten aus? Wird er in seiner Arbeit verstanden von seinen Kollegen, auch im weiteren Bereich des Gesundheitswesens? Diese drei Zielstellungen – Einsicht in die mentalen Möglichkeitsbedingungen der religiösen Selbstinterpretation, Studium der Lebensführungspraxis als Resultat der Interpretation des Klienten und professionelle Förderung dieser Praxis – sind mögliche, legitime und notwendige Voraussetzungen für eine religionswissenschaftliche Reform der Seelsorge als universitärer Disziplin. Letztendlich bleibt die Frage, wie sich das alles gestalten soll. Es mag so sein, dass eine praktische Theologie ihr eigenes Objekt hat und dass sie in ihrem Anwendungsbereich, der Seelsorge, ihre Erkenntnisse kritisch und methodisch überprüft, aber wie soll sich das in die Praxis und die Arbeitsstellen vor Ort fügen? Hier kann man wohl keine Eindeutigkeit erlangen, weil die in Kapitel 3 skizzierten Modelle heute eben nebeneinander stehen und in jedem nationalen Kontext ihre eigene Selbstevidenz aufzeigen. Eine Seelsorge in kirchlicher Aufsicht antwortet dabei nicht nur auf kirchliche Vorschriften, sondern auch auf Bedürfnisse einer beträchtlichen Patientengruppe, obgleich diese vielerorts abnimmt oder sich ändert. Das medizinische Modell wünscht zwar die Integration der Seelsorge, ist aber wegen der bisher geltenden, pastoralen Ausbildung noch nicht in der Lage, das dazu notwendige Niveau zu sichern. Ähnliches kann vom Modell des Freien Berufs gesagt werden, obwohl es – vor allem in Deutschland – die besseren Chancen haben könnte, sich zu bewähren. Nach deutschem Recht ist die freiberufliche Tätigkeit kein

Die Seele betreuen 559

Gewerbe und unterliegt daher Bestimmungen, die für spezifische Institutionen eingerichtet werden können. So ist zum Beispiel ein Heilpraktiker ein Freier Beruf im Gesundheitswesen, der keine Approbation benötigt, sondern nur eine staatliche Erlaubnis. Ein freiberuflicher Seelsorger könnte, einem Amtsmodell zur Seite gestellt, eine Möglichkeit sein insbesondere für diejenigen Klienten, die nicht Mitglied einer Glaubensgemeinschaft sind oder die eben keine kirchliche Betreuung wünschen, die aber dennoch in Sachen der Lebensorientierung unterstützt oder beraten werden möchten. Dazu muss noch bemerkt werden, dass sich eine Legitimation der Seelsorge als Freiem Beruf wohl auch auf die Frage stützt, wer denn die Seele betreut. Ist es die religiöse Institution mit ihrem Angebot der Seelsorge, oder aber der Inhaber der Seele, das heißt die Person selbst? Dieser Gegensatz ist zwar nicht ganz angebracht, da doch der Person die Religionsfreiheit zukommt, womit die eigene Verantwortlichkeit für die Lebensorientierung nicht nur juristisch, sondern auch existential verbürgt ist und jegliche Institution das zu respektieren hat. Dennoch wurde verdeutlicht, dass ein Angebot der Hilfe dazu angebracht ist und dass dies nur bedingt durch Institutionen geleistet werden kann, da dies immer in ganz persönliche Bereiche fällt. Der Freie Beruf fokussiert auf das Letztere; er lehnt ein institutionell verbürgtes »Wahrheitsangebot« der Lebensorientierung zwar nicht ab – etwa wegen einer anderen epistemologischen oder normativen Position –, aber seine primäre Ausrichtung ist auf die Berücksichtigung der mentalen Aktivität bezogen, die notwendig ist, um so eine Wahrheit zu finden. Sein Ethos der persönlichen Beziehung zu den Klienten fordert und ermöglicht so eine Ausrichtung.

Hinter dem Horizont geht es weiter... Kommunikation und Lernen für eine globale Zukunft im weltweiten evangelischen Bildungsnetzwerk »GPENreformation« Birgit Sendler-Koschel

1. Gemeinnützige christliche Schulen    entwickeln – globale Netzwerke in    reformatorischer Bildungstradition Global schools500reformation Day, 23. Juni 2017: 500 Luftballone steigen vor der Schlosskirche gen Himmel. Viele hundert Schüler sehen ihnen hinterher. Die Ballone tragen Botschaften in ganz unterschiedlichen Sprachen zum Horizont, jugendliche Visionen einer globalen Zukunft, die die Jungen und Mädchen aus vier verschiedenen Kontinenten zuvor gemeinsam erarbeitet hatten. Trotz aller kulturellen Unterschiede verbindet sie, dass ihre Schule eine in evangelischer Trägerschaft ist. Bei weitem nicht alle Schüler verstehen sich als Christen. Denn Schulen in evangelischer Trägerschaft sind offen für jeden unabhängig von seiner oder ihrer Religion und Weltanschauung. Gemeinnützig tragen evangelische Schulen zur pädagogischen Innovation bei und leisten in zahlreichen Ländern der Erde einen relevanten Beitrag zum Bildungs- und Ausbildungssystem des Landes. »Schule auf evangelisch« bedeutet Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen, Schülerschaft aus verschiedenen Religionen und Konfessionen, von Land zu Land unterschiedliche Entwicklungen und Akzente in der Pädagogik. Mädchen- und Jungenbeschulung und Engagement für Bildungsgerechtigkeit ist Teil reformatorischen Erbes und daher Merkmal von Schulen in evangelischer Trägerschaft. In der weltweiten Netzwerkarbeit wird das besondere Bildungsengagement, das die Reformation kennzeichnete, als globale Bewegung erkennbar. Dabei knüpft dieses an frühere christliche Formen des Lernens an, die sich weiterentwickelten aus jüdischen und auch hellenistischen Bildungskulturen. Evangelisches Bildungsengagement entstand aus der Einsicht, dass Glaube und rational verstehende Weltaneignung nicht voneinander zu trennen sind. Freude an den verschiedenen Weltzugängen (religiös, naturwissenschaftlich, historisch, sprachlich-ästhetisch-leiblich)1 und eine gemeinsame Weltverantwortung prägen die Schülerbeiträge am Global schools500reformation

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Day: Einige Schüler aus Ruanda bereichern alle durch ihre Lieder und ihre geistliche Kraft, manche Mädchen und Jungen aus Europa und Afrika durch informierte Beiträge in den Arbeitsgruppen, einige Jugendliche von den Philippinen durch konzentrierte Aufmerksamkeit und wohlgesetzte Reden. Wer Bildungsarbeit weltweit erlebt, staunt über die Vielfalt der Gaben und den reichen Schatz der kulturellen Ausdrucksformen. Die Jugendlichen auf dem Global Day sowie auf dem zeitgleich stattfindenden International Schools Camp Wittenberg 2017 erleben wie stark die Hoffnungen auf Zukunft sich bei jungen Menschen über alle Kontinente hinweg gleichen. Es wachsen durch die globalen Begegnungen Motivation und Kraft, gemeinsam daran zu arbeiten, Ungerechtigkeit und Chancenlosigkeit zu verändern. Nicht wenige Schüler aus den evangelischen Schulen verstehen sich – angeregt durch den Kontext des Reformationsjubiläums – als Reformatoren. Nun entdecken sie sich dabei als Global Citizens. Der Global Day bedarf der Nachbearbeitung an den Schulen in den Heimatländern. Global Citizenship-Learning kann im Zeitalter der Digitalisierung durch die weltweite Bildungsnetzwerkarbeit mit Kontinente verbindenden Kooperationen ganz neue Partizipations- und Erkenntnismöglichkeiten gewinnen.1

2. »Global Citizenship-Learning«    – globales Lernen und protestan   tische Bildungsverantwortung Möglich wurde dieses neue Format weltweit vernetzten globalen Lernens an evangelischen Schulen durch ein Bildungsprojekt zum Reformationsjubiläum. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) finanzierte – ab 2016 mit Unterstützung des Auswärtigen Amts – das Projekt »500 evangelische Schulen weltweit feiern 500 Jahre Reformation«. Angestoßen durch Impulse von Prof. Dr. Annette Scheunpflug und dem Afrikareferenten des Evangelischen Entwicklungsdienstes Rudolf Heinrich-Drinhaus, die beide eng mit afrikanischen kirchlichen Bildungsträgern zusammenarbeiteten und um die große Zahl protestantischer Schulen in vielen Ländern Afrikas wussten, projektierte die Bildungsabteilung der EKD ein international ausgerichtetes Reformationsjubiläumsprojekt. Es gelang zum ersten Mal, in einem schnell wachsenden globalen Netzwerk von Schulen in evangelischer Trägerschaft deren Engagement und Existenz global sichtbar zu machen. In fruchtbarer 1

  Vgl. Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt am Main 42002, 100–150; Bernhard Dressler: Personsein und Subjektwerdung. Bildsamkeit als bildungstheoretischer Schlüsselbegriff, in: Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hrsg.): Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014, 83–93.

Hinter dem Horizont geht es weiter... 563

Kooperation von EKD, Brot für die Welt, der Universität Bamberg sowie dem Internationalen Verband für christliche Bildung und Erziehung konnte in einer Auftaktkonferenz ein Netzwerkkonzept unter Beteiligung von Schulverantwortlichen aus allen Kontinenten erarbeitet und umgesetzt werden. Eine Steuerungsgruppe unter Leitung der Bildungsabteilung der EKD und mit reger Beteiligung von Schulleitern, Bildungsdezernenten und Wissenschaftlern setzte die Konzeptideen aus der internationalen Konferenz um. Das Comenius-Institut brachte seine Expertise beim Aufbau und bei der Pflege der Website »www.schools500reformation.net« ein, die als Basis für die weltweite Vernetzung von Schulen in evangelischer Trägerschaft diente. Ab dem 31. Oktober 2013 meldeten sich Schulen in evangelischer Trägerschaft im Netzwerk an. Sie wurden auf der Weltkarte erkennbar und hatten mit ihren Grunddaten die Möglichkeit, ähnliche Schulen weltweit zu identifizieren und wegen der Aufnahme von temporären oder längerfristigen Lernpartnerschaften anzuschreiben. Das Netzwerk wuchs rasch. Nach knapp zwei Jahren trat die 500. Schule bei, die Presbyterian School for Science and Technology in Bafut, Kamerun, die als Evangelische Mädchenschule (1958 als Marriage Training Center) gegründet worden war. 2017 lag die Gesamtzahl der Netzwerkschulen bei knapp 700. Die Aktivitäten im Reformationssommer – International Schools Camp mit International Teachers Academy, Bildungspavillon »Talents Tent«, Global schools500reformation Day, International Conference on Peace Education in Kigali, Ruanda – ermöglichten die Entwicklung eines für alle Funktionen, die Schulentwicklung beeinflussen, chancenreichen globalen Bildungsnetzwerkes. Es sollte konzeptionell für Schulleiter, Lehrpersonen, Schüler, nationale und internationale christliche Bildungsorganisationen, Bildungsverantwortliche der Schulen tragenden Kirchen, die sich auf die Reformation beziehen, sowie für Schulträgerinitiativen und Wissenschaftler anregend sein und Bildungsinnnovation durch globalen Know-How-Transfer und durch Kooperation bei global relevanten Herausforderungen anstoßen. Nach dem großen Erfolg am Ende des Projekts »schools500reformation« wurde der Bedarf deutlich, das Netzwerk unter dem Namen »GPENreformation« (»Global Pedagogical Network – Joining in Reformation«) fortzuführen. 40 GPENreformation-Ambassadors aus vielen Kontinenten arbeiten seit 2017 in ihrer Region an Projekten, die GPENreformation praxisnah für die Schulen und Universitäten fruchtbar machen soll.

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3. Theoretische Hintergründe globaler    Bildungsnetzwerkarbeit in Zeiten der    Globalisierung und Regionalisierung Die Herausforderung, die Generation der jetzt Heranwachsenden zu befähigen, sich aktiv, kritisch, kompetent und ohne Angst im globalen Kontext orientieren und bewegen zu können, ist evident. Das Internet, die Digitalisierung der global ausgeweiteten Kommunikation und Ökonomie, die audiovisuellen Medien führen dazu, dass Informationen über Situationen und Geschehnisse aus anderen Regionen der Welt Tag für Tag vor Augen treten und individuelle Bewertungen über social media potentiell globale Rezeptionsbreite erfahren. Eine globalisierte Ökonomie schuf längst Strukturen, durch die Krisen und Wirtschaftsarten in einem Teil der Welt direkt Auswirkung auf andere Erdteile und Länder zeigen. Entwicklungsbiologisch aber bleiben wir Menschen auf den Nahraum hin orientierte Geschöpfe. Menschen erkunden als Kinder die Welt in immer weiter werdenden Kreisen. Jahr für Jahr erweitern sie ihre Horizonte in einem aktiv-entdeckenden, informellen Lernen. Dabei gehen Jungen und Mädchen unterschiedlich vor, da Kulturen ihnen je geschlechtsspezifische Grenzen und Möglichkeiten eröffnen. Kulturelle Muster prägen ihre Aneignungswege und Erkundungsmöglichkeiten. Daraus erwachsen verschiedene Orientierungspunkte und Vorstellungen, wie ihre Welt zusammenhängt, wie weit sie sich erstreckt und was darin wichtig ist.2 Dabei nutzen und erweitern individuelle Raumaneignungen beider Geschlechter die jeweilige kulturelle Enzyklopädie, so dass Verständigung möglich ist und die Tradierung und allmähliche Veränderung der kulturellen Codes zur Raumdeutung gelingt.3 In die meisten Kulturen dieser Erde mit ihrer kulturellen Orientierungsenzyklopädie ist die Tatsache, dass Internet und Verkehrsmittel, globale Märkte und Weltsprachen wie Englisch die Horizonte längst weiteten, noch nicht nachhaltig eingeflossen. Denn Kulturen verändern sich nur langsam. Sie entstehen aus der Verständigung darüber, was wichtig ist und finden dafür kollektiv und intergenerativ weitergegebene Deutungscodes und Zeichen. Da Menschen sich als »Nahraumwesen« entwickeln und subjektiv den Eindruck haben, die Strukturen und Lokalitäten, die Kommunikation und die Rollengestaltungsmöglichkeiten im Nahraum am besten zu beherrschen, 2

  Vgl. Martina Löw: Widersprüche der Moderne. Die Aneignung von Raumvorstellungen als Bildungsprozeß, in: Jutta Ecarius/Martina Löw (Hrsg.): Raumbildung – Bildungsräume. Über die Verräumlichung sozialer Prozesse, Opladen 1997, 15–32. 3   Zur Kulturtheorie auf semiotischer Basis vgl. Birgit Sendler-Koschel: In Kommunikation mit Wort und Raum. Bibelorientierte Kirchenpädagogik in einer pluralen Kirche und Gesellschaft, Göttingen 2016, 141–156, mit Bezug auf Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985.

Hinter dem Horizont geht es weiter... 565

lösen schnelle globale Entwicklungen und unabweisbar evidente globale Zusammenhänge das Gefühl der Unsicherheit aus. Das eigene Haus steht plötzlich auf der Weltbühne. Das ist nicht neu, denn Migration und kultureller Wandel gehören zur Menschheitsgeschichte. Aber die digitale und ökonomische Globalisierung beschleunigen und vergegenwärtigen stärker als früher Globalisierungsprozesse.4 Auch in Religionen, nicht nur im Christentum, gewinnen lokale und zugleich globale Aspekte an Bedeutung.5 Daher bedarf es verstärkt non-formaler und formaler Bildung, um über den Nahraum hinaus zu lernen, wie das eigene Leben und das gesellschaftliche Miteinander im weiteren überregionalen und globalen Horizont konkret gestaltet werden können.6 Global Citizenship-Learning kann im Netzwerk »GPENreformation« von einem Einvernehmen über die christliche Weltverantwortung und die Bürgerund Hausrechte aller ausgehen. Die Bibel und die frühe Kirchenentwicklung zeigen, dass globales Lernen sich ereignet, wenn Menschen Gott begegnen. Religiöse Transzendenzerfahrung führt stets nicht nur zu Gott, sondern auch immer in Dimensionen und Horizonte jenseits des bis dahin zum Selbstbild Gehörigen. Im Epheserbrief beschreibt der Verfasser für eine Kirche, die sich in einer sich im Römischen Reich global öffnenden Welt ausbreitet und verorten muss, diese Erfahrung der Zugehörigkeit und der globalen Bürgerschaft im christlichen Horizont so: »So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen« (Eph 2,19). Dieses allen Menschen gemeinsame Haus Gottes (oikos-mene) ist die Ökumene, die Weite der erschaffenen Erde, in der alles Leben wie in einer Hausgemeinschaft zutiefst miteinander verbunden ist. Gott selbst gewährt darin das Haus- und Bürgerrecht, eine Vorstellung, die mit ihrer Anlehnung an das römische Bürgerrecht sich doch von diesem eine Egalität aller schaffend unterscheidet. Denn alle sind durch Gottes Schöpfung und der aus Gnade wirksamen Erwählung Mitbürger der Heiligen, also der mit Gott Verbundenen, und Gottes Hausgenossen. Theologisch kann GPENreformation Schulen und Universitäten in der Trägerschaft protestantischer und anglikanischer Kirchen verbinden, wenn sie sich an Kooperations- und Anerkennungsformen orientieren wie sie in der Leuenberger Konkordie entwickelt wurden. Dann können Prozesse der Entwicklung von Bildungsqualität und globalem Lernen genauso gemeinsam

4

  Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2016.   Vgl. Henrik Simojoki: Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft, Tübingen 2012. 6   Vgl. Annette Scheunpflug: Evolutionäre Didaktik. Unterricht aus system- und evolutionstheoretischer Perspektive, Weinheim/Basel 2001. 5

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gestaltet werden wie gottesdienstliches Feiern. So bleiben pietas und eruditio, deren Bezug aufeinander Philipp Melanchthon schon entfaltete, auch im globalen Horizont aufeinander bezogen.

4. Ziele und Handlungsbereiche    von GPENreformation Beide, pietas und eruditio, sind als Grundlagen evangelischer Bildungsarbeit im globalen Horizont in den Zielen und Handlungsfeldern von GPENreformation erkennbar. Diese wurden im November 2017 auf der GPENreformation-Konferenz beschlossen und lassen sich in vier Punkte gliedern: erstens Bildungsqualität weltweit weiterentwickeln und verbessern, zweitens innovative Formate des Lernens im globalen Kontext anregen und ermöglichen, drittens gemeinnützige evangelische Bildungsarbeit mit globalen Nicht-Regierungsorganisationen vernetzen und nach außen vertreten sowie viertens die Verbindung von gemeinnützigen evangelischen Schulen und ihren Kirchen mit anderen Religionen unterstützen. Dabei wird die GPENreformation-Netzwerkarbeit wesentlich über die Website »www.GPENreformation.net« erkennbar und ermöglicht. Informationen geben darüber hinaus ein regelmäßiger Newsletter und ein GPENreformation-Magazin für Praxis- und Wissenschaftsfelder. Auf der Homepage sollen weiterhin Möglichkeiten im Rahmen des Programms »eTwinning« und der inhaltlichen digitalen Vernetzung in Lernprojekten, Lehreraustauschen und Studierenden- und Schulbegegnungen entwickelt werden. Gegenwärtig sind auf der Website zwei Ebenen der Mitgliedschaft in GPENreformation möglich: Schulen und Universitäten können beitreten, sich vorstellen und damit sichtbar machen. Auf einer anderen Ebene vernetzen sich nationale, internationale und überregionale Institutionen mit evangelischer Bildungsverantwortung. GPENreformation wird von einem mandatierten Council geleitet und über GPENreformation-Ambassadors in der praktischen Arbeit auf allen Kontinenten fruchtbar. Ein selber global vernetzt arbeitender Researchers Circle begleitet und regt Innovation und Qualitätsentwicklung an oder reflektiert erkennbare Herausforderungen und Problemlagen. Über GPENreformation kann sich damit erstmals auch der globale Protestantismus mit seiner umfangreichen Bildungsarbeit und der damit verbundenen Bildungsverantwortung mit ähnlichen katholischen oder anderen Organisationen auf Weltebene abstimmen7 und die Stimme der gemeinnützi7

  Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Establishing common ground for Protestant schools. A position paper by schools500reformation, Hannover 2017, online: www. gpenreformation.net/wp-content/files/Establishing_common_ground.pdf (2. Dezember 2017).

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gen Schulen und Universitäten in evangelischer Trägerschaft wahrnehmbar werden lassen. In Deutschland profitiert nicht nur die wissenschaftliche Religionspädagogik, sondern auch das Schulwesen in evangelischer Trägerschaft, das oft in der Religionspädagogik zu Unrecht nur als Randerscheinung wahrgenommen wird, von ganz neuen, interaktiven Möglichkeiten religiösen Lernens im globalen Horizont. Nicht nur Luftballone am Global schools500reformation Day zeigen: Aus der christlichen Entwicklung eines Global Citizenship machten wir bisher für die Bildungsarbeit zu wenig. Schade – oder zugleich auch religionspädagogisch hochspannend angesichts der Notwendigkeit, dass Nachhaltigkeits-, Gerechtigkeits- und Friedensarbeit gebildete weltbürgerliche Protestanten benötigen. Denn hinter dem Horizont geht es weiter…

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Alwart ist Professor i.R. für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Hannes Bezzel ist Professor für Altes Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dorothy Bonchino-Demmler M.A. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Religionspädagogische Bildungsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Katharina Bracht ist Professorin für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Michael Domsgen ist Professor für Evangelische Religionspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Bernhard Dressler ist Professor i.R. für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Philipps-Universität Marburg. Prof. Dr. Christian Grethlein ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Prof. Dr. Matthias Hahn ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Erfurt und Gastprofessor für Evangelische Religions- und Gemeindepädagogik an der Evangelischen Hochschule Berlin. Dr. Thomas Heller vertritt den Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität Rostock. Prof. Dr. David Käbisch ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 569

PD Dr. Inge Kirsner ist Hochschulpfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde in Ludwigsburg. Dr. Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »ProfJL – Qualitätsoffensive Lehrerbildung« der Friedrich-Schiller-Universität Jena. OKR Martina Klein ist Leiterin des Dezernates »Bildung« der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Prof. Dr. Thorsten Knauth ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Prof. Dr. Martina Kumlehn ist Professorin für Religionspädagogik an der Universität Rostock. Prof. Dr. Joachim Kunstmann ist Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Lachmann ist Professor i.R. für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Prof. Dr. Volker Leppin ist Professor für Kirchengeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. h.c. Andreas Mertin ist Herausgeber des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik – tà katoptrizómena. Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Meyer-Blanck ist Professor für Religionspädagogik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Reinhold Mokrosch ist Professor i.R. für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. Katharina Muth ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr ist Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

570 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

PD Dr. Stefanie Pfister ist Realschullehrerin für die Fächer Evangelische Religionslehre, Deutsch, Sport und Praktische Philosophie in Gladbeck und Privatdozentin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Universität Leipzig. Prof. Dr. Manfred L. Pirner ist Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong ist Professorin für Didaktik des Religionsunterrichts und Praktische Theologie mit Schwerpunkten Homiletik und Kirchentheorie an der Christians-Albrechts-Universität Kiel. Gregor Reimann ist Geschäftsführer des Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Miriam Rose ist Professorin für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Martin Rothgangel ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Wien. Prof. Dr. Hans Schilderman ist Professor für »Religion and Care« an der Radboud Universität Nijmegen. Prof. Dr. Edward Schramm ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Europäisches und Internationales Strafrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Bernd Schröder ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Bildungsforschung an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Prof. Dr. Andrea Schulte ist Professorin für Religionspädagogik an der Universität Erfurt. Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Schweitzer ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 571

OKR Dr. Birgit Sendler-Koschel ist Leiterin der Bildungsabteilung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Prof. Dr. Henrik Simojoki ist Professor für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Prof. Dr. Werner Simon ist Professor i.R. für Religionspädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. Manuel Vogel ist Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Steffi Völker ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Praktikumsbüro BA/ MA des Instituts für Erziehungswissenschaft und des Instituts für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Philippe Büttgen | Antje Roggenkamp | Thomas Schlag (Hrsg.) Religion und Philosophie Perspektivische Zugänge zur Lehrer- und Lehrerinnenausbildung in Deutschland, Frankreich und der Schweiz Studien zur Religiösen Bildung (StRB) | 13 292 Seiten | Paperback | 15,5 x 23 cm ISBN 978-3-374-04549-5 EUR 38,00 [D]

Die Frage nach gemeinsamen Wurzeln der Religions- und Philosophielehrerausbildung steht im Zentrum der Überlegungen von deutschen, französischen und schweizerischen Religionspädagogen, Philosophen, Historikern und Theologen. Der vorliegende Band unternimmt eine erste Bestandsaufnahme der Situation in den drei Ländern, die sich durch vielfältige Bezeichnungen der Fächer (Religionsunterricht, Religionslehre, Religionskunde, Philosophie, Geschichte) sowie unterschiedliche didaktische Varianten (konfessionell, konfessionell-kooperativ, religionskundlich, »fait religieux«) auszeichnet. Diese Komplexität der Situation erfordert andere methodologische Strategien, als sie ein einfacher Vergleich der Lehrerausbildung in den drei Ländern nahelegen würde.

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David Käbisch | Michael Wermke (Hrsg.) Transnationale Grenzgänge und Kulturkontakte Historische Fallbeispiele in religionspädagogischer Perspektive Studien zur Religiösen Bildung (StRB) | 14 448 Seiten | Paperback | 15,5 x 23 cm ISBN 978-3-374-04819-9 EUR 44,00 [D]

Auch wenn nationale Grenzen nach wie vor die Erfahrungswelt der meisten Europäer prägen, haben die mediale Präsenz anderer Länder, Religionen und Konfessionen, die erzwungene und freie Migration von Menschen, die berufliche Mobilität auf dem globalen Arbeitsmarkt und selbst Urlaubsreisen die Rahmenbedingungen religiöser Sozialisation, Erziehung und Bildung in Deutschland nachhaltig verändert. Die lange dominierende Ausrichtung der Bildungs- und Religionsgeschichte an der Nation und ihren Grenzen hat daher seit einigen Jahren an Selbstverständlichkeit verloren. Die Jahrestagungen des »Arbeitskreises für historische Religionspädagogik« 2014, 2015 und 2016 hatten sich vor diesem Hintergrund zum Ziel gesetzt, die transnationalen Dimensionen religiöser Sozialisation, Erziehung und Bildung an Fallbeispielen zu diskutieren.

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Andrea Schulte (Hrsg.) Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht Gegenwärtige Herausforderungen religiöser Sprachbildung und Kommunikation über Religion im Religionsunterricht Studien zur Religiösen Bildung (StRB) | 15 208 Seiten | Paperback | 15,5 x 23 cm ISBN 978-3-374-05378-0 EUR 38,00 [D]

Die Bedeutung der Sprache ist in der Theologie unbestritten. Systematisch-theologische sowie religionspädagogische Zugänge zum Verhältnis von Religion und Sprache decken vielfältige Zusammenhänge auf. Insbesondere stecken sie den hermeneutischen Rahmen des Sprachproblems der Gottesrede ab und zeigen die Lern- und Bildungsmöglichkeiten des Sprechens von Gott auf, gerade auch am öffentlichen Ort der Schule, an dem durch gesellschaftliche Veränderungen religiöse Transformationsprozesse mehr als deutlich sichtbar werden. Der Band dokumentiert die Beiträge einer interdisziplinären Tagung, die auf dem Stand der gegenwärtigen theologischen und religionspädagogischen Debatte die Bedeutung der Sprache im Kontext religiöser Bildungsprozesse der Schule und des Religionsunterrichts herausgearbeitet hat.

Tel +49 (0) 341/ 7 11 41 -44

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Bernd Schröder | Peter Gemeinhardt | Werner Simon (Hrsg.) »Rezeption« und »Wirkung« als Phänomene religiöser Bildung Forschungsperspektiven und historiographische Fallstudien Studien zur Religiösen Bildung (StRB) | 18 200 Seiten | Paperback | 15,5 x 23 cm ISBN 978-3-374-05397-1 EUR 34,00 [D]

Kirchengeschichte und historische Religionspädagogik operieren nicht selten mit »Rezeption« und »Wirkung«, um diachrone Zusammenhänge zwischen Werken, Konstellationen oder Personen auf den Begriff zu bringen. Gleichwohl wird diesen Termini kaum einmal konzeptionell fokussiert nachgegangen. Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge verbinden deshalb Fallstudien zu verschiedenen Epochen zwischen Alter Kirche und Zeitgeschichte mit Überlegungen, wie Wirkung und Rezeption methodisch zu erfassen sind. Sie stammen aus Geschichtswissenschaft und Kirchengeschichte, historisch arbeitender Religionspädagogik und Erziehungswissenschaft.

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