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German Pages [452] Year 1998
Dimensionen der Historik
Dimensionen der Historik Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag
Herausgegeben von
Horst Walter Blanke, Friedrich Jaeger und Thomas Sandkühler
β 1998
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Dimensionen der Historik: Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute ; Jörn RUsen zum 60. Geburtstag / hrsg. von Horst Walter Blanke ... Köln ; Weimar; Wien : Böhlau, 1998 ISBN 3-412-03898-9 © 1998 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Satz: Horst Walter Blanke & Thomas Sandkühler Druck und Bindung: MVR-Druck, Brühl Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-03898-9
Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber
IX
I. Anfragen an Jörn Rüsen Ernst Schulin
„Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird." Bemerkungen zu einem von Jörn Rüsen gewählten Motto
3
Klaus E. Müller
Ereignisse: eine Systemskizze
13
Frank R. Ankersmit
Representation: History and Politics
27
Allan Megill
Does Narrative Have a Cognitive Value of Its Own?
41
Burkhard Gladigow
Kulturen in der Kultur
53
II. Geschichtskultur: Politik und Ästhetik Johannes Rau Jürgen Kocka Helmut Berding
Gangolf Hübinger
Die Tradition von 1848 und die deutsche Sozialdemokratie
69
Geschichtsbewußtsein, Demokratie und Nation. Vier Thesen
77
Völkische Erinnerungskultur und nationale Mythenbildung zwischen dem Kaiserreich und dem „Dritten Reich"
83
Geschichtsmythen in „völkischer Bewegung" und „konservativer Revolution". Nationalistische Wirkungen historischer Sinnbildung
93
Detlef Hoffmann
Gezeichnete Orte - Spur, Signatur, Denkmal
Gertrud Koch
Das Riesenrad der Geschichte. The Third Man von Carol Reed, GB 1949
105
119
III. Perspektiven der Geschichtsdidaktik Klaus Bergmann Bodo von Borries
Die neue Geschichtsdidaktik Ein langer Blick zurück und ein kurzer Blick nach vorn
127
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins. Am Beispiel einer Studie zum empirischen Kulturvergleich
139
VI Ursula A. J. Becher Klaus Fröhlich
Heinrich Theodor Grütter
Inhaltsverzeichnis
Interkulturelle Dimensionen der Schulbuchforschung
153
Narrativität im Geschichtsunterricht oder: Die Geschichtserzählung vom Kopf des Lehrers auf Schülerfuße stellen
165
Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen
179
IV. Geschichte des historischen Denkens Georg G. Iggers
Reflections on Writing a History of Historiography Today
197
Wilfried Nippel
Der Begründer der modernen Althistorie: Edward Gibbon
209
Träumend auf der Suche. Übergangsformen historischen Denkens im 17. Jahrhundert
221
Verwissenschaftlichung und Aufklärung. Historische Zeitschriften im 18. Jahrhundert
237
Science and the Science of History in the Late Enlightenment and Early Romanticism in Germany
253
Marion Kintzinger Horst Walter Blanke Peter Hanns Reill Hans Schleier
Kulturgeschichte und Historismus in Deutschland während des 19. Jahrhunderts
263
V. Universalgeschichte und Kulturvergleich Jürgen Osterhammel Michael Gottlob Dirk Fleischer
„Höherer Wahnsinn". Universalhistorische Denkstile im 20. Jahrhundert Auf der anderen Seite der Globalisierung.
277
Indische Rückfragen an die westliche Geschichte
287
Geschichte und „Kultursynthese" bei Ernst Troeltsch
301
Helwig Schmidt-Glintzer/ Achim Mittag „Aufklärungshistorie" in China? Hans-Jürgen Lüsebrink
Interkulturelle Biographie und historiographischer Diskurs. Zum Werk des frankokanadischen Mommsen-Schülers Edmond de Nevers (1862-1906)
313
331
VI. Theorieprobleme der historischen Forschung Egon Flaig
Geschichte ist kein Text. „Reflexive Anthropologie" am Beispiel der symbolischen Gaben im römischen Reich
345
VII
Inhaltsverzeichnis
Friedrich Jaeger
Hans-Ulrich Wehler Wolfgang J. Mommsen Thomas Sandkühler Saul Friedländer Irmgard Wagner
Die Geschichte der Gesellschaft in kulturwissenschaftlicher Perspektive: Zur Genese der amerikanischen Zivilgesellschaft seit dem späten 18. Jahrhundert
361
Kann man aus der Geschichte des Industriekapitalismus lernen?
377
Der Historismus als Weltanschauung des aufsteigenden Bürgertums
383
„Arbeit" als historische Kategorie im 19. und 20. Jahrhundert
395
Writing the History of the Shoa: Some Major Dilemmas
407
Geschichtsschreibung und Psychoanalyse. Zur Frage der Positionalität in der Goldhagen-Debatte
415
Schriftenverzeichnis Jörn Rüsen 1962-1998
427
Vorwort JÖRN RÜSEN wird am 19. Oktober 1998 sechzig Jahre alt. In Verbindung mit seinem Wechsel von der Universität Bielefeld an das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen scheint uns dies ein guter Anlaß zu sein, ihm eine Bestandsaufnahme von Forschungsdiskussionen und -perspektiven zu widmen, die er seit Jahren mit seinen Beiträgen z.T. maßgeblich geprägt hat. Der vorliegende Band stellt daher ein reflexives Innehalten auf einem Denkweg dar, der von Jörn Rüsen nun in einem anderen institutionellen Kontext, mit neuen Fragestellungen und Projekten weiterverfolgt wird. Es geht uns darum, einen wissenschaftsinternen Diskussionsprozeß fortzusetzen, in dem einige der Fragen und Forschungsprobleme aufgegriffen werden, die sein Werk bisher begleitet haben. Zu diesem Zweck haben wir Kollegen, Freunde und Schüler um Beiträge gebeten. Jörn RÜSEN wurde am 19. Oktober 1938 in Duisburg geboren. Er studierte Geschichte, Philosophie, Pädagogik und Germanistik an der Universität Köln, vor allem bei Theodor SCHIEDER, Günter ROHRMOSER und Wilhelm EMRICH. Die Promotion folgte 1966 mit einer Studie über Johann Gustav DROYSEN. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Referent der Studienstiftung des Deutschen Volkes war Jörn RÜSEN zunächst Assistent im Fach Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig. 1972 wechselte er als Assistenzprofessor an die Freie Universität Berlin, wo er Theorie der Geschichtswissenschaft lehrte. 1974 wurde Jörn RÜSEN auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum berufen; 1989 wechselte er als Nachfolger Reinhart KOSELLECKS an die Universität Bielefeld. Von 1994 bis 1997 war Jörn RÜSEN geschäftsführender Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld. Während dieser Amtszeit leitete er die interdisziplinäre Forschungsgruppe Historische Sinnbildung des ZiF (1994/95). Im Frühjahr 1997 wurde Jörn RÜSEN zum Präsidenten des Kulturwissenschaftlichen Instituts im Wissenschaftszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen berufen. Zugleich nimmt er Lehraufgaben im Rahmen des Studium Fundamentale der Universität Witten-Herdecke wahr. Von Anfang an war Jörn RÜSENS wissenschaftliches Werk durch die Grundüberzeugung geprägt, daß das historische Denken eine besondere Form reflektierter Zeitgenossenschaft darstellt, in der es um die zeitliche und kulturelle Orientierung der Gegenwart sowie um die Eröffnung realistischer Zukunftsperspektiven geht. Jakob BURCKHARDTS bekanntes Diktum, Geschichte sei „diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt", markiert das geschichtstheoretische Leitmotiv, das Jörn RÜSEN aufgriff und innovativ weiterverfolgte. Seit seiner im Jahre 1969 publizierten Dissertation über Johann Gustav DROYSENS Geschichtstheorie und -philosophie steht seine intellektuelle Biographie für die Explikation und Erneuerung jener großen Tradition des Nachdenkens über Geschichte und historisches Denken, die sich mit dem Begriff der 'Historik' verbindet. Mit seinem Plädoyer „für eine erneuerte Historik" (1976) ging es ihm darum, diese seit dem späten Historismus weitgehend in Vergessenheit geratene Tradition wieder aufzunehmen und für die aktuelle geschichtstheoretische Debatte fruchtbar zu machen. Die narrativitätstheoretische Wendung der frühen achtziger Jahre bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer eigenständigen Historik, deren Grundzüge Jörn RÜSEN zwischen 1983 und 1989 vorlegte. Die einzelnen Kapitel des hier vorgelegten Buches lehnen sich in loser Form an die dort explizierte 'disziplinare Matrix' der Geschichtswissenschaft und des historischen Denkens an. Zugleich steht die Kategorie der 'Historik' für eine beeindruckende Breite von For-
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Vorwort
schungsinteressen und -perspektiven, die wir in diesem Band dokumentieren möchten. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften Jörn RÜSENS ist seine intellektuelle Neugier, seine Bereitschaft zur Diskussion sowie seine Fähigkeit, ganz unterschiedliche Forschungsbereiche produktiv aufeinander zu beziehen und Wissenschaftler verschiedener Ausrichtungen und Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen. Er ist - auch in der akademischen Lehre - ein begeisternder und mitreißender, mitunter schwieriger Diskutant. Er begreift abweichende Meinungen und Provokationen nicht als Störung des Wissenschaftsbetriebes, sondern als herausfordernde Lernchancen und Möglichkeiten wechselseitiger Befruchtung. Davon zeugen zahlreiche Tagungsbeiträge, von einzelnen Aufsätzen bis hin zu großangelegten Tagungsreihen und Sammelbänden. In Jörn RÜSENS Werk verbinden sich geschichtstheoretische, historiographiegeschichtliche und geschichtsdidaktische Forschungsinteressen, die sich in einem umfangreichen Schriftenverzeichnis (siehe unten, S.427ff) niedergeschlagen haben. Diesen verschiedenen Forschungsfeldern lassen sich auch die hier versammelten Aufsätze zuordnen. Den Auftakt bilden im ersten Teil des Buches „Anfragen" an Jörn RÜSEN aus einer dezidiert geschichts- oder kulturtheoretischen Perspektive. In diesen einleitenden Aufsätzen klingen grundsätzliche Fragestellungen an, wie die nach dem Verhältnis von Ereignis und Struktur; Geschichte und Politik; Narrativität und Erkenntnis. Diese Beiträge bewegen sich überwiegend auf der kognitiven Ebene des historischen Denkens. Es ist dies einer von drei Bereichen jenes komplexen Phänomens, das Jörn RÜSEN 'Geschichtskultur' nennt. Die Beiträge des zweiten Teils befassen sich mit Politik und Ästhetik als den beiden anderen Dimensionen der Geschichtskultur. Die politische Funktion der historischen Sinnbildung ist darin begründet, daß Herrschaft an Elemente von Legitimität und Zustimmung durch die Betroffenen gebunden zu sein pflegt, fur die Traditionen und Prozesse der historischen Erinnerung, aber auch Mythen und Ideologien von konstitutiver Bedeutung sind oder sein können. In jedem Falle ist das Geschichtsbewußtsein ein wesentlicher Faktor der menschlichen Identitätsbildung, durch den sich politisch relevante Zugehörigkeiten formieren und verändern. Neben dieser politischen Relevanz hat Jörn RÜSEN auch die Bedeutung der ästhetischen und imaginativen Elemente des historischen Denkens betont und damit auf die geschichtstheoretische Herausforderung reagiert, die in den letzten Jahren von den Versuchen einer Poetologie des Historischen im Stile Hayden WHITES ausgegangen ist. Im Gegensatz zu diesen 'postmodernen' Strömungen der gegenwärtigen Geschichtstheorie und zu der mit ihnen einhergehenden Tendenz zu einer Fiktionalisierung der Geschichte hat Jörn RÜSEN am Wirklichkeitscharakter des Historischen und am Wissenschaftsanspruch der historischen Forschung festgehalten. Neben der politischen und ästhetischen Dimension bleibt für ihn der kognitive und methodisch begründete Vernunftaspekt der Geschichtskultur von konstitutiver Bedeutung. In dieser Einheit kognitiver, politischer und ästhetischer Faktoren der Geschichtskultur sieht Jörn RÜSEN auch den Bildungsanspruch und die geschichtsdidaktische Dimension des historischen Denkens begründet, die im Mittelpunkt des dritten Teils stehen. Die siebziger Jahre waren durch den Aufschwung der Geschichtsdidaktik geprägt, die sich als neu begründetes akademisches Fach aufmachte, einen demokratischen Umgang mit Geschichte theoretisch zu begründen. Stichworte wie 'Emanzipation', 'Identität' und 'Bildungsauftrag' markieren einige ihrer Themenfelder. Das Fach war häufig umstritten, wie sich etwa an dem Begriffspaar „Wissenschaft vom Lehren" versus „Wissen-
Vorwort
XI
schaft vom Lernen" ablesen läßt. Wichtig wurde 'Geschichtsbewußtsein' als geschichtsdidaktischer Leitbegriff der achtziger Jahre, mit dem sich das Fach gegenüber den alltäglichen Prozessen der historischen Sinnbildung öffnete und die lebensweltliche und unmittelbar praktische Dimension der 'Geschichtskultur' erschloß. Jörn RÜSEN hat seine systematisch ausgerichteten Beiträge zur Historik auch stets mit historiographiegeschichtlichen Vergewisserungen ergänzt und kontrastiert. Im Mittelpunkt seines Interesses stand zunächst die Geschichtskonzeption des Historismus, von der sich die neuere 'Historische Sozialwissenschaft' absetzte. Später lenkte er auch den Blick auf das Verhältnis von Aufklärungshistorie und Historismus. Eine erneute Erweiterung seines Forschungsinteresses bedeutete die zunehmende Berücksichtigung der interkulturellen Dimension der historischen Sinnbildung, der Geschichte der Menschenrechte und der Universalgeschichte als Herausforderung einer modernen Geschichtstheorie. Diese Aspekte werden im vierten und fünften Teil des vorliegenden Bandes behandelt. Geschichtstheorie im Sinne Jörn RÜSENS ist ein integraler Bestandteil der historischen Forschungspraxis selbst, ohne den die empirische Arbeit des Historikers nicht sinnvoll betrieben werden kann. Mit solchen forschungspraktischen Theorieproblemen beschäftigen sich die Beiträge des sechsten Teils - und zwar bewußt in großer zeitlicher und thematischer Breite. Der Bogen spannt sich von der Alten Geschichte bis zur Zeitgeschichte, von der historischen Anthropologie bis zur Ideengeschichte und zur Forschung über den Holocaust als der vielleicht größten gegenwärtigen Herausforderung der Geschichtstheorie. Wir danken Herrn Prof. Dr. h.c. Berthold BEITZ, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, sowie dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen a.D. Herrn D. Dr. h.c. Johannes RAU fur die Gewährung großzügiger Druckkostenzuschüsse. Bielefeld, 1. Juli 1998 H.W.B., F.J., T.S.
Ernst Schulin „Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird." Bemerkungen zu einem von Jörn Rüsen gewählten Motto „Die Dunkelheit eines göttlichen Ausspruches ist auch dazu nützlich, daß sie, indem ihn der eine so, der andere anders versteht (wobei jedoch die Erklärung einer dunklen Stelle entweder durch klare Tatsachen oder durch andere in keiner Weise zweifelhafte Stellen bestätigt werden muß), mehrere wahre Ansichten erzeugt und ans Tageslicht fördert, sei es nun, daß man bei mannigfacher Erörterung auch den Sinn des Schreibers trifft, sei es, daß dieser Sinn zwar verborgen bleibt, aber bei Gelegenheit der Erörterung tiefer und dunkler Stellen anderes Wahre gesagt wird." (AUGUSTINUS 1 )
Unter den „Paratexten" (Titel, Widmung, Vorwort, Fußnote und was dergleichen mehr ist2) gilt Jörn RÜSENS Vorliebe dem Motto. Er bedient sich gern dieser alten Kunstform, um die Zielrichtung oder die Problematik seines eigenen Textes durch Zitate großer, manchmal auch nicht so großer Denker und Dichter vorwegnehmend, zusammenfassend, unterstützend anzusprechen. David HUME wird für die humane Wissenschaft beschworen, die einen direkten Bezug zum Handeln und zur Gesellschaft hat, GOETHE fiir die Selbsterkenntnis als „Einleitung", Fremdenfeindlichkeit zu überwinden, Ernst CAS3 SIRER für die Grundlagenreflexion innerhalb der Einzel Wissenschaften . Jeweils drei Autoren werden aufgeboten, um das Problem „Historische Methode und religiöser Sinn" und die Frage nach dem „Sinn der Geschichte" zu beleuchten4. Manche Zitate hätte man von der entsprechenden Autorität gar nicht erwartet, etwa wenn HEGEL verlauten läßt: „Wir sind auf dem Standpunkt, immer uns zu bestreben und noch zu suchen, wie die Geschichte geschrieben werden soll", - wobei der Geschichtsphilosoph freilich nicht ohne Kritik und Ironie die zeitgenössischen deutschen Historiker im Vergleich zu den „vortrefflichen" englischen und französischen meinte5. Oder wer hätte RANKE die Äußerung zugetraut: „Alte Mutter Wissenschaft! Wie geht's mit deinen Füßen? Machst 1
Augustinus: De Civitate Dei XI, 19. Girard Genette: Paratexte, Frankfurt (M.) 1992. 3 Jörn Rüsen: Geschichte und Norm - Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis, in: ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1990, 77-105 u. 262-65, hier 77; ders.: Identität und Konflikt im Prozeß der Modernisierung. Überlegungen zur kulturhistorischen Dimension von Fremdenfeindlichkeit heute, in: Gangolf Hübinger u.a. (Hg.): Universalgeschichte und Nationalgeschichten, Freiburg i.Br. 1994, 333; ders.: Grundlagenreflexion und Paradigmenwechsel in der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: Zeit und Sinn, 50-76 u. 258-62, hier 50. 4 Ders.: Historische Methode und religiöser Sinn - Vorüberlegungen zu einer Dialektik der Rationalisierung des historischen Denkens in der Moderne, in: Wolfgang Küttler u.a. (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd.2: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1994, 344-77, hier 344. (J. Aurifaber, Max Weber, Oskar Negt/Alexander Kluge.); ders.: Was heißt: Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn), in: Klaus E.Müller/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahmehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, 17-47, hier 17 (Gilles Deleuze, Sartre, Jan Assmann). 5 Ders.: Wie kann man über Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft, in: Zeit und Sinn, 106-34 u. 265-69, hier 106. 2
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Ernst Schulin
du auch Fortschritte?"6 Es gehört zu den humanen und damit besonders sympathischen Zügen von RÜSENS Geschichtstheorie, daß er mehrere seiner tiefgründigen, nicht immer leicht zu durchdringenden Abhandlungen mit überraschenden, witzigen, manchmal selbstironischen Mottos aufgehellt hat: mit MELANCHTHONS Wort von der „groben Sau, qui non est delectatur cognitione historiarum", mit Gerhart HAUPTMANNS Dialog von der guten alten Zeit, die „wohl vor meiner Zeit gewesen sein muß", mit Karl M A Y S Rat, die Weltgeschichte „pfiffig anzupacken", denn sie darf das nicht merken, oder mit Adolf 7 GLASSBRENNERS Gedicht über „meine liebe Theorie" . Ergreifend ist schließlich, wie er beim Thema des Holocaust seine und unser aller Not zum Ausdruck bringt, die rechten Worte zu finden: er setzt als Vorspruch eine erstaunlicherweise jahrtausendealte Klage aus Ägypten: „Hätte ich doch unbekannte Worte, fremde Sprüche, in neuer Sprache, die noch nicht entstanden ist, ohne Wiederholung - keine Sprüche der Vergangenheit, die schon die Vorfahren gesagt haben."8 Die vier Typen des historischen Erzählens, eine jener großen Abhandlungen RÜSENs, die zwischen 1974 und 1987 in der beschwingenden Atmosphäre der Studiengruppe Theorie der Geschichte der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg entstanden sind, trägt zwei Mottos. Das erste stammt aus den Selbstbekenntnissen von AUGUSTINUS („In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten. Nein, lärme mir nicht dagegen an! Es ist so; lärme mir nicht dagegen mit dem Schwall deiner sinnlichen Eindrücke! In dir, sage ich, messe ich die Zeiten."). Das zweite lautet: „Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird." Diese verwunderliche Aussage wähle ich als Thema der folgenden Bemerkungen. Auf die Abhandlung selbst soll dabei nicht näher eingegangen werden9. In ihr geht es in Auseinandersetzung mit Hayden WHITE um die narrative Struktur der historischen Erkenntnis, wobei RÜSEN traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen unterscheidet und speziell in der vierten, übergreifenden Form die wissenschaftliche Geschichtsschreibung sieht. AUGUSTINUS' geistiges „Messen" der Zeit spielt dabei immer wieder eine Rolle, das zweite Motto aber eigentlich nicht. Es bleibt ohne Interpretation oder auch nur Anspielung. Die Vergangenheit, das „Gestern" wird nicht für sich thematisiert sondern immer nur in Bezug auf Gegenwart und Zukunft. Fraglos soll aber mit diesem Motto etwas über den Sinn von historischer Erzählung, von Geschichtsschreibung gesagt werden, wenn auch in verblüffender und rätselhafter Weise. Ich habe es darum seit Sommersemester 1982 innerhalb meiner Vorlesung Einführung in die Geschichtswissenschaft zu interpretieren versucht. Ein Bonmot wörtlich zu nehmen und 6
Ders.: Für eine erneuerte Historik. Vorüberlegungen zur Theorie der Geschichtswissenschaft, in: Friedrich Engel-Janosi u.a. (Hg.): Denken über Geschichte. Aufsätze zur heutigen Situation des geschichtlichen Bewußtseins und der Geschichtswissenschaft, Wien 1974, 227-52, hier 227. 7 Ders.: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, 7; ders.: Geschichte und Utopie, in: Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln u.a. 1994, 48-67, hier 48; ders.: Im Vorspiel der Aufklärung. Bürgerliche Identität zwischen Geschichtsbewußtsein und Utopie bei Friedrich Schiller, in: Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a.M. 1993, 139-56, hier 139; Historische Vernunft, 20. 8 Ders.: Holocaust-Memory and Identity-Building - Metahistorical considerations on the case of (West)Germany [Typoskript 1997], 9 Zuerst veröffentlicht in: Reinhart Koselleck u.a. (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd.4), München 1982, 514-605. Überarbeiteter Neudruck in: Rüsen: Zeit und Sinn, 153-230 u. 273-83. Vgl. auch die daran anknüpfende "Typologie der Geschichtsschreibung" in: Rüsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, 39-75.
,Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird."
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nach seiner genau begrenzten Aussage zu fragen, ist natürlich eine zweifelhafte, spielverderberische Sache, aber in der Vermutung, daß in diesem Satz flimmernd von einem historiographischen Traumbild, gar von einer tiefen, geheimen Motivation für Historie geredet wird, habe ich den naheliegenden Vorwurf, pedantisch immer wieder zu mißdeuten, in Kauf genommen. Ich gebe auch zu, daß ich nicht als Geschichtstheoretiker vorzugehen vermag, wie es der Empfanger dieser Festschrift nun seit Jahrzehnten so erfolgreich tut, sondern nur als ein an Historiographie und möglichst unmittelbar am „Gestern" interessierter Historiker. Zunächst zur Herkunft des Mottos. Es handelt sich um eine der tiefsinnigen Äußerungen von Charlie Brown, dem zu Luftschlössern und Mißgeschick neigenden kleinen Jungen aus den seinerzeit sehr bekannten Peanuts Comic Strips von Charles M. SCHULZ. Sein naiverer Freund Linus reflektiert zunächst: „Ich glaube, es ist verkehrt, sich um den morgigen Tag zu sorgen. Vielleicht sollten wir nur an heute denken." Worauf eben Charlie Brown erwidert: „Nein. Das würde Resignation bedeuten. Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird."10 Was könnte damit, wenn auch überpointiert und komisch, über den Sinn von Geschichtsschreibung gesagt sein? Nehmen wir das Komische ernst, so fällt zunächst die Absurdität auf. Durch Charlie Browns Bemerkung wird überdeutlich auf die bekannte Tatsache hingewiesen, daß Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann. Gerade das Gestern, die Vergangenheit, ist nicht mehr zu verändern. Schon Macbeth muß sich das, so entsetzt er darüber ist, nach seiner Mordtat von seiner Frau sagen lassen: „What's done is done... What's done cannot be undone."11 Nolens volens muß er auf dem Getanen und damit Geschehenen aufbauen. Es gibt andere Bonmots, die in ähnliche Richtung zielen wie Charlie Browns Ausspruch: „Wer glaubt, Vergangenes lasse sich nicht ändern, hat noch keine Autobiographien aus der Feder Prominenter gelesen" oder aus inzwischen vergangener Zeit: „Frage: Was ist am Sozialismus am schwersten vorherzusehen? Antwort: Die Vergangenheit"12. Auch sie verdanken ihre Pointe dem Widerspruch zu dem banalen Tatbestand der unveränderlichen Vergangenheit. Unveränderlich, ob man sich darüber freut oder es nicht tut, wie der Napoleonverehrer Ernst JÜNGER: „Daß Grouchy bei Waterloo zu spät kam, ärgert mich immer noch."13 Wir können bedauern, daß die gesellschaftlich-kulturellen Gestaltungen und sogar die Naturverhältnisse Altamerikas durch die spanische Invasion zerstört worden sind, wir können das kritisieren und daraus für die Zukunft zu lernen versuchen, aber all dies ist unwiederbringliche, ferne, tote Vergangenheit. Ebensowenig können wir lebendige, in ihren Folgen immer noch wirksame Vergangenheit wie die europäische Katastrophe des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges ungeschehen machen, - diese Wendung zum Schlechteren, die uns den Fortschritts- und Zivilisationsoptimismus auf Dauer verdorben hat. Und am liebsten würden wir die Taten und Leiden in der Zeit des Nationalsozialismus ungeschehen machen. Aber es hilft nichts. Wir können uns als Uneinsichtige einreden, die Zeit sei doch „besser" gewesen, wir können als Einsichtige versuchen, die Verbrechen irgendwie „wiedergutzumachen", wir können uns als Nichtbetroffene abwenden und den Blick nur in die Zukunft richten wollen, - in dieser Schicksalsgebun10
Charles M. Schulz: Charlie Brown und seine Freunde (Peanuts), Nr.699, 1979. Shakespeare: Macbeth 111,2 und V, 1. 12 Das zweite ist zitiert in: Ilko-Sascha Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997, 9. 13 Ernst Jünger: Autor und Autorschaft, Stuttgart 1984, 233. 11
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denheit scheint es uns zu gehen wie dem „großen Gatsby" im Roman von F I T Z G E R A L D , dem es weder durch Zukunftsgläubigkeit noch durch künstliche Verbesserung seiner Herkunftsgeschichte gelingt, seiner wahren Vergangenheit zu entgehen. „Gatsby glaubte an das grüne Licht", lautet der Schluß des Romans, „an die rauschende Zukunft, die Jahr um Jahr vor uns zurückweicht. Sie ist uns gestern entschlüpft, doch was tut's - morgen schon eilen wir rascher, strecken weiter die Arme. Und eines schönen Tages... So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom - und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu."14 Charlie Browns Nichtresignation hinsichtlich der Zeitläufte überschlägt sich also selber, wenn sie sich auf gestern bezieht. Er hofft in der hoffnungslosen Richtung. Soll das ausgedrückt werden? In den Peanuts ist das zu vermuten. Charlie Brown macht immer wieder hoffnungsvolle Anläufe, ähnlich wie Gatsby; während sich Linus einfach das Leben erleichtern will, bringt er sich durch übertriebene Erwartungen wie diese Nichtresignation immer wieder in die Lage, sein Leben enttäuschend zu finden. So mag es also bei der Figur von S C H U L Z gemeint sein. Aber soll es durch das Motto bei R Ü S E N ausgedrückt werden? Daß man geschichtliche Betrachtung nicht mit falschen Hoffnungen treiben soll; daß man von der Geschichtswissenschaft nicht das erwarten soll, was sie per definitionem, da sie sich mit dem Geschehenen beschäftigt, gerade nicht geben kann? Für eine solche selbstverständliche „Moral von der Geschichte" wäre es wohl etwas aufwendig, die anscheinend tiefsinnige Absurdität von Charlie Brown zu bemühen. So läßt sich vermuten, daß der Fortschritt der Wissenschaft gemeint ist. Wenn man sich immer wieder mit demselben Gestern beschäftigt, obwohl es nicht mehr zu verändern ist, so liegt es an der Hoffnung, die geschichtswissenschaftlichen Ergebnisse zu verbessern. Man arbeitet am Gestern in der Zuversicht, mithilfe neuer Quelleninformationen, die man immer zu finden hoffen kann, und mithilfe neuer Tatsachen-Erschließungs-Methoden, die man zu erfinden hoffen kann, ein exakteres, richtigeres Bild von der Vergangenheit zu bekommen. Andernfalls hätte es keinen Sinn, immer wieder über dieselbe, längst wiederholte Male beschriebene Geschichte neue Bücher zu schreiben; alle Historiker müßten sich andernfalls allein mit der allerjüngsten, noch nicht in Historien fixierten Geschichte beschäftigen. Beispiele gelungener Verbesserung der Vergangenheitserkenntnis, die zu dieser Hoffnung Anlaß geben, ließen sich natürlich häufen. Man kann sogar sagen: zeitlich geordnet, bilden sie den Hauptinhalt einer Geschichte der Historiographie. Das ganze Renomme der Geschichtswissenschaft gründet sich auf diese Leistungen. Nachdem in der Aufklärungshistorie die Traditionskritik des Humanismus erweitert und verfeinert worden war, faszinierten die Historiker des 19. Jahrhunderts durch ihre Fähigkeit, mithilfe neuer Methoden aus verfälschten und verderbten Texten eine richtigere Geschichte zu rekonstruieren; verborgene Quellen und Überreste ausfindig zu machen, um damit eine bisher unbekannte Geschichte zu schreiben; durch neue Fragestellungen Geschichte überraschend zu erhellen. Seit N I E B U H R mißtrauen sie dem, was zeitgenössische Historien der Nachwelt weismachen wollen, und hoffen ihnen das abzugewinnen, was sie unbeabsichtigt, ja unverstanden überliefern. R A N K E schrieb 1827: „Ich gehe nun nach Wien. Ich habe meine Hauptabsicht auf das venezianische Archiv gerichtet. Hier ruht
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Francis Scott Fitzgerald: Der große Gatsby, Zürich 1974, 189.
.Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird."
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eine noch unbekannte Geschichte Europas. Ich hoffe, daß man's mir eröffnen soll."15 MEINECKE beschrieb seinen Weg zur Geistesgeschichte folgendermaßen: „Ich kam zu ihr Schritt für Schritt, ohne zuerst zu wissen, wohin die Reise ginge. Ursprünglich wollte ich nur einen kleinen Aufsatz über die merkwürdigen Verwandtschaften in Steins und Friedrich Wilhelms IV. Nationalpolitik, die mir bei einer Seminarübung aufgefallen waren, schreiben, aber ich hatte den Zipfel eines in der Erde steckenden Schnupftuches gefaßt und zog es nun immer weiter heraus."16 Bei genügendem Fleiß und kontrollierter Fantasie können zwei verschriebene Worte unvermutete historische Perspektiven eröffnen: Hermann HEIMPEL stieß sich an einem unverständlichen „weder nur" in der „Reformatio Sigismundi", erkannte sie als „federsnur", das heißt als besondere Angelschnur mit schwimmenden Vogelfedern zur Vortäuschung von Ködern, mit der man nicht sehr tief, also nur kleine Fische fangen kann: dieses Recht forderte man für die kleinen Leute in den Gewässern der Großen17. In diesem Sinne kann der Historiker immer hoffen, daß er es durch neue Forschungsarbeit besser wissen kann als sein Vorgänger, oder wenigstens genauer. Geschichtswissenschaft lohnt sich also, sie ist eine produktive Tätigkeit und nie am Ende. So richtig das ist, so fragt sich doch, ob es mit dem Motto gemeint ist. Hier wird ja nicht nur gehofft, daß Gestern richtiger und genauer erkannt wird, sondern daß es besser wird. Damit ist doch wohl die Hoffnung gemeint, daß die vergangene Geschichte besser ist, als man glaubt. Und daß, wenn man dies erkannt hat, daraus Hoffnung - oder mehr Hoffnung - für Gegenwart und Zukunft erwächst, also für die Zeit, in der solche Hoffnung noch das Handeln und Leben verbessern kann. Gehen wir fünf Möglichkeiten durch. Ganz allgemein kann bei der geschichtlichen Betrachtung zunächst der Eindruck von Vergänglichkeit, Zerstörung, Untergang vorherrschen, die Trauer über das Nichtmehrvorhandensein hoher kultureller Gestaltungen, über die Vernichtungen durch Kriege oder Naturkatastrophen. Dann kann deutlicher werden, daß „das Leben weitergeht", unter erstaunlichsten Notumständen oft; daß die Generationenfolgen der Menschen, aufs große gesehen, nicht abreißen; und daß glücklicherweise doch noch Wunderwerke der Vergangenheit erhalten geblieben sind, in Kunst und Literatur, oder tradiert und weiterentwickelt werden wie religiöse und rechtliche Grunderkenntnisse. Untergang und Übergang in den Jahrhunderten zwischen Antike und Mittelalter sind die in unserem Bereich auffallendsten Phänomene dafür. Oder bei der geschichtlichen Betrachtung kann man zunächst von der Übermacht des Bösen deprimiert sein, von der Herrschaft der Gewalt und der Unterdrückung der Schwächeren - in Gegenwart und Geschichte. Der Universalhistoriker Hans Heinrich SCHAEDER etwa erklärt, die Geschichte beginne mit der Durchsetzung planmäßiger Machtausübung von Menschen über Menschen. Grenzen finde diese Machtausübung nie in sich selber, sondern nur in Gegenmacht oder anderen Gegenwirkungen. Auf diese Gegenkräfte kommt er dann zu sprechen: „Diese führen verschiedene Namen - der einfachste und umfassendste von ihnen heißt Liebe. Entbunden werden diese Kräfte, indem 15 25.8.1827 an den Bruder Heinrich. Leopold von Ranke: Das Briefwerk, hg. v. Walther Peter Fuchs, Hamburg 1949, 111. 16 9.6.1922 an Moriz Ritter. Friedrich Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel, hg. v. Ludwig Dehio u. Peter Classen (= Meinecke: Werke, Bd.6), Stuttgart 1962, 104f. 17 Hermann Heimpel: Die Federschnur. Wasserrecht und Fischrecht in der "Reformation Kaiser Siegmunds", in: Deutsches Archiv 19 (1963), 451-88.
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zumeist unter den Beherrschten, ausnahmsweise im Kreise der Herrschenden selber, Zweifel am Sinn der Macht lebendig werden, die zur Kritik an ihr führen. [...] Gelingt es ihr, die Menschen zu überzeugen und zu einem neuen Leben zu fuhren, so kann sie eine geistige Bewegung hervorrufen, die nicht mehr stillsteht. [..] Es gelingt ihr auf ihrem Wege, auch die Inhaber der weltlichen Macht zu - wirklicher oder vorgeblicher - Anerkennung ihrer Wahrheit und Verbindlichkeit zu bewegen und ihrem Machtwillen die Beschränkungen aufzuerlegen, die er von sich aus nicht vollzieht. Zweimal, im Falle des Buddhismus und des Christentums, sind solche Bewegungen ihrerseits weltgeschichtliche Mächte geworden."18 Es ist nicht zu leugnen, daß es neben der Macht des Bösen auch diese Geschichte gibt, diesen besseren Teil des Gestern. Neben Vernichtung und böser Gewalt kann bei der geschichtlichen Betrachtung auch einfach zunächst der Eindruck vorherrschen, daß alles so ablaufen mußte, wie es abgelaufen ist. Der Zwang der Umstände scheint immer übermächtig zu sein. Die Geschichtswissenschaft fordert selbst oft diesen Eindruck, indem sie Ursachen und Anlässe als Gründe für das faktische Geschehen häuft: indem sie also „zwingend" zu erklären versucht. Große und differenzierte Geschichtsanschauung ist das nicht, wenn sie nicht in jedem historischen Zeitpunkt die genaue Variationsbreite, die Spielräume der möglichen Weiterentwicklung aufzeigt. Reden die tonangebenden Historiker zu viel von „gesellschaftlichen Zwängen" oder anderen Sachzwängen, zu wenig von Zufällen und einzelmenschlichen Entscheidungen, so rufen sie den Widerspruch anderer Historiker heraus. So ist es bei den Versuchen langfristiger Erklärungen der Geschichte des Nationalsozialismus geschehen. Gegen die Behauptung außenpolitischer Zwänge setzte die politische Sozialgeschichte die determinierende Kraft sozioökonomischer und davon abhängiger politisch-ideologischer Entwicklungen und erfuhr Kritik von Thomas NIPPERDEY bis Eberhard JÄCKEL 1 9 . Das sind drei allgemeinere Erfahrungen bei geschichtlicher Betrachtung, die zeigen, daß man sie in der Hoffnung unternehmen kann, das Gestern sei besser gewesen, die Geschichte sei weniger zerstörend, gewalttätig und zwangsläufig verlaufen, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Anschließen möchte ich hier noch zwei Möglichkeiten, ein Stück Vergangenheit als besser zu erkennen, eins ohne, eins mit direkter Verbindung zur Gegenwart. Man kann in vergangenen, ehemals bedeutenden Institutionen nach der Gestaltung menschlichen Zusammenlebens fragen, die vielleicht besser war, als man auf den ersten Blick meint, und uns trotz Unwiederholbarkeit noch etwas zu sagen haben kann. Arno B O R S T hat sich in dieser Weise mit den Mönchen am Bodensee 610-1525 beschäftigt, in betonter Diskrepanz zum aktuellen Geschichtsinteresse (1978). Er bevorzugte die Verfasser der mittelalterlichen Primärquellen, die selbst Mönche waren: „Auf viele präzise Fragen gaben sie keine Antwort, aber sie sprachen über Mönche, auch solche anderer Zeiten, Länder und Orden, wie über Mitmenschen, denen sie täglich begegneten. Ich ging bei ihnen in die Schule und stellte mir vor, mittelalterliche Mönche kämen an den heutigen Bodensee und sprächen mit mir. Diese unter Fachhistorikern verpönte Fiktion ist nicht unwissenschaftlicher als die umgekehrte, die moderne Historiker 18 Hans Heinrich Schaeder: Die Perioden der eurasiatischen Geschichte (1948), in: ders.: Der Mensch in Orient und Okzident, München I960, 31 f. 19 Thomas Nipperdey: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte (1978), in: ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, 225-48; Eberhard Jäckel: Das deutsche Jahrhundert, Stuttgart 1996.
,Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird."
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glauben macht, sie könnten sich ins Mittelalter zurückversetzen." BORST erinnert daran, daß Mönchtum und Universität die beiden einzigen Einrichtungen sind, „die das europäische Mittelalter gestaltet und überlebt haben": „Ich finde beide in ihrem Anspruch bemerkenswerte Beispiele, wie Menschen freiwillig ein geformtes Leben miteinander fuhren könnten. Allerdings bin ich kein Überzeugter, der alles besser weiß, weil er unbelehrbar ist, und will niemanden zu irgendetwas überreden, am wenigsten zum Mittelalter. Ich möchte die Nachdenklichen unter meinen Mitmenschen bloß auf eine fremde Welt hinweisen, die einigen von uns etwas Wichtiges zu sagen hätte, wenn wir zuhören wollten." 20 Das ist das Beispiel eines vielleicht besseren, eines gelungenen Gestern, das nicht mit uns verbunden sein muß. Es gibt auch die Möglichkeit, bei der näheren Betrachtung einer mit der Gegenwart verbundenen geschichtlichen Entwicklung zu erkennen, daß man doch bessere Wurzeln hat, als man dachte. Ungünstige, schädliche gegenwärtige Verhältnisse, Einrichtungen oder Geisteshaltungen können ursprünglich einmal einen guten Sinn gehabt und sich nur verderblich weiterentwickelt haben. Herrschafts- oder Unterdrückungsmechanismen können früher Schutzfunktionen gehabt haben, wie man etwa an der Entstehung des Feudalismus aufgezeigt hat. Der Nationalismus hatte in der Französischen Revolution eine Vereinigungs-, ja Verbrüderungsfunktion über die Ständeschranken hinweg, war auch noch in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liberal-fortschrittlich und wurde erst nach 1871 eine von antimodernen Richtungen in Anspruch genommene Ideologie. Wenn man das erkennt, kann die Berufung auf den guten Ursprung zu „Reformen" fuhren und die Gegenwart verbessern. Wie oft ist es in der christlichen Kirche zu Korruptionserscheinungen, zu Verweltlichungstendenzen gekommen und vermochte sie sich durch Besinnung auf ihren Anfang zu regenerieren. Historiker haben gern solche Verbesserungsaufgaben übernommen, so Friedrich MEINECKE, als er versuchte, den fragwürdig gewordenen Historismus durch seine Entstehungsgeschichte zu heilen. „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit" - mit diesem Spontispruch (?) könnte man derartige Unternehmungen kennzeichnen. Die eben besprochenen fünf Möglichkeiten zeigen, daß Geschichtsforschung nicht nur zu einem richtigeren und genaueren Bild über die gestrigen Verhältnisse führen kann, sondern auch zu einem besseren, und daß dies fur die Gegenwart hilfreich sein kann. Insofern ist sie wirklich mit Hoffnung auf ein besseres Gestern verbunden. Ich will jetzt beiseitelassen, daß dieselbe Forschung auch zu sehr viel unangenehmeren, enttäuschenden, zumindest zwiespältigen Ergebnissen kommen kann und auch überall gekommen ist: beim Christentum, bei der Feudalen Herrschaft, beim Nationalismus. Diese wichtige historische Aufklärungsarbeit soll keineswegs unterschätzt werden. Es ist jetzt aber dringlicher, darauf hinzuweisen, daß wir vielleicht immer noch den Sinn des Charlie-Brown-Mottos verfehlen. Es heißt ja nicht: „Ich hoffe immer noch, daß gestern besser gewesen ist" - über diesen Anreiz für Geschichtsforschung haben wir eigentlich gesprochen -, sondern: „daß gestern besser wird1. Wenn damit etwas Sinnvolles über den Sinn von Geschichtsschreibung gesagt worden sein sollte, so muß es wohl in der Betonung liegen, daß der Historiker dieses bessere Gestern weniger erkennt als konstruiert. Oder vielmehr: daß er hofft, es plausibel, überzeugend, wirkungsvoll konstruieren zu können. Er erfüllt das Gewesene mit Sinn, er gibt ihn der geschichtlichen Entwicklung, um der Gegenwart eine lebenswertere 20
Arno Borst: Mönche am Bodensee 610-1525, Sigmaringen 1978, 17.
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Grundlage zu verschaffen und ein erstrebenswertes Zukunftsziel zu setzen. Das ist gut idealistisches Geschichtsdenken. Die Idee wird den Erscheinungen aufgeprägt. Schon SCHILLER hat das in seiner Rede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? deutlich gesagt: „Nicht lange kann sich der philosophische Geist bei dem Stoffe der Weltgeschichte verweilen, so wird ein neuer Trieb in ihm geschäftig werden, der nach Übereinstimmung strebt - der ihn unwiderstehlich reizt, alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der höchsten Wirkung, die er erkannt, zum Gedanken zu erheben. [...] Eine Erscheinung nach der anderen fangt an, sich dem blinden Ohngefahr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen [...] als ein passendes Glied anzureihen." 21 Dieses übereinstimmende Ganze ist bei SCHILLER (wie überhaupt in der Aufklärung) der Weg zur sittlichen Vervollkommnung der Menschheit. Er betont aber bei diesem Ganzen ausdrücklich, wenn auch in Klammern: „das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist." Eine solche Sinngebung ist vorgeformt in der christlichen Geschichtstheologie mit ihrer Deutung aller Geschichte als gottgewolltem Heilsweg. In dieser Richtung liegt auch das AUGUSTINUS-Motto: „In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten." Und sie ist ausgeprägt bei HEGEL in seiner Philosophie der Weltgeschichte da, in der „nur" vorausgesetzt wird, daß es in der Geschichte trotz allen Elends, Untergangs und allem Streit der Einzelinteressen „vernünftig" zugegangen sein müsse, und der daraus den Gang des Weltgeistes durch die Geschichte konstruiert. Auch in Geschichtsschreibung, die nicht geschichtsphilosophisch sein will, geschieht solche Sinngebung. Klassische Beispiele haben GERVINUS und DROYSEN geschaffen, in unterschiedlicher Auswertung ihrer Erfahrung der gescheiterten Revolution von 1848. GERVINUS wollte trotz aller reaktionären Gegenbewegungen an den Sieg der Demokratie glauben und dafür eine „Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" schreiben. Als er diese Sinngebung in der 1852 vorveröffentlichten Einleitung historisch-gesetzlich für den gesamten bisherigen Geschichtsverlauf durchführte, wurde er wegen Aufrufs zum Umsturz als Hochverräter angeklagt, schrieb aber trotzdem in epischer Breite seine Weltgeschichte ab 1815 und behandelte darin die fortschrittlichen Volksbewegungen als wichtigstes Thema: von Südamerika über Griechenland bis zur Julirevolution. Eigentlich wollte er die Zeit bis 1850 darstellen, aber als er 1866 mit der Julirevolution fertig war, regierte BISMARCK in Preußen und nach dem dänischen Krieg war gerade der gegen Österreich im Gange. GERVINUS brach nach acht Bänden ab und erklärte: „Das Werk war gemeint als ein Lehrbeitrag für eine weit andere Art von Entwicklung Deutschlands als die jetzt begonnene, die uns auf die Wege der Militärstaaten des 17. Jahrhunderts im überspanntesten Stile zurückschraubt; und ich sehe mich außerstande, an dem breit angelegten Opus fortzuarbeiten." 22 GERVINUS war also mit seiner zeitgeschichtlichen Sinngebung gescheitert. DROYSEN glaubte an die kleindeutsche Lösung, wollte entsprechende Handlungsmaximen für die Politik Preußens gegenüber den anderen deutschen und europäischen Staaten erarbeiten und wählte dafür wie GERVINUS den Weg der historiographischen Sinngebung. Sein gleichgesinnter Freund Max DUNCKER meinte, in der preußischen Ge-
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Friedrich Schiller: Sämtliche Werke (Hanser), München 1966, Bd.4, 764. 28.4.1867 an Heinrich Ewald. J.F. Wagner: Gervinus über die Einigung Deutschlands, Briefe aus den Jahren 1866-70, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 121 (1973), 381.
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.Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird."
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schichte müsse der Historiker dem Publikum „die Keime des Besseren" enthüllen, und formulierte die neue Funktion der Geschichtswissenschaft: „Diese Tendenzen haben wir dem Materialismus der Naturwissenschaften gegenüber zu unterstützen und den realen Idealismus der Historie an die Stelle des phantastischen Idealismus der Philosophie zu setzen, welche vor 4 8 die Köpfe der Jugend erfüllte und verdrehte."23 DROYSEN wollte das zunächst nur zeitgeschichtlich für die preußische Politik 1 7 8 6 - 1 8 4 0 durchführen, dann aber ging er viel weiter zurück, bis zum Spätmittelalter. Es sollte nicht objektive Geschichtsschreibung ä la RANKE sein, auch nicht nur die Erinnerung an einen guten Ursprung. Er beschrieb in minutiöser Quellenarbeit, wie die brandenburgisch-preußische Politik war und wie sie im richtig verstandenen preußischen Staatsinteresse sein sollte: nämlich gerichtet auf eine Wiedervereinigung Deutschlands nach dem Niedergang des Stauferreiches. Teils handelten die Kurfürsten und Könige so, wie er es wünschte, teils hätten sie so handeln sollen. In dieser real-idealistischen Mischung konstruierte er historische Kontinuität. Seine Sinngebung wurde erfüllt, bevor er fertig war. Bei seinem Tode 1884 war er in 14 aktengesättigten Bänden erst bis 1756 gekommen, und das kleindeutsche Reich war längst gegründet. Immer hat es Sinngebung und Konstruktion in der Geschichtsschreibung gegeben, und immer sind die Gefahren gesehen worden, wenn dieses Element vorherrscht. Modellartig oder idealtypisch können dadurch bestimmte geschichtliche Entwicklungen deutlicher erfaßt werden als es durch uninteressierte Berichterstattung geschieht, aber die Entartung zur herrschaftsgesteuerten Geschichtsideologie ist immer zu furchten. Nachträgliche Sinngebung, die „nur in der Vorstellung" des Sinngebers vorhanden ist, also keine Bestätigungen in den Denkvorstellungen der früheren Zeiten selber findet, ist eine prekäre Sache. Gefördert wird eine solche Geschichtsschreibung auch außerhalb staatsdoktrinärer Verhältnisse, wenn der Subjektivität oder der Standortgebundenheit des Historikers großes Gewicht zugestanden, also das Objektivitätsideal fur unangemessen (nicht nur für unerreichbar) gehalten wird; und auch, wenn die Kunst, das Fiktionale der Geschichtsscheibung überbetont wird. Wenn Jörn RÜSEN in seinen Vier Typen des historischen Erzählens das „genetische Erzählen" dahingehend kennzeichnet, daß hier die Vergangenheit „als Versprechen einer Zukunft interpretiert" wird, „das sie nicht schon erfüllen konnte (wie es die traditions- und ursprungsorientierte Erzählweise darlegt), sondern das durch handelnd zu realisierende Veränderungen der Lebensverhältnisse der Gegenwart eingelöst werden muß"24, so finden wir hier die konstruierende Geschichtsschreibung wieder. Ich habe immer bewundert, aber mich auch hin und wieder daran gerieben, wieviel verständnisvolle Interpretationskraft RÜSEN für sie aufbringt, für sie und für die Freiheit des Historikers, der die Zeiten in seinem Geiste mißt: zugunsten von Gegenwart und Zukunft. So frei gegenüber dem Gestern und so abhängig von den Bedürfnissen der Gegenwart vermag ich den Historiker nicht zu sehen. Es fällt mir darum nun auch gar nicht so leicht anzuerkennen, daß hierauf, auf die konstruierende genetische Geschichtsschreibung, das Motto aus den Peanuts am deutlichsten bezogen ist. Die anderen erwogenen Möglichkeiten flimmern aber auch mit, wie sich das für ein vieldeutiges Bonmot gehört, und vielleicht - neben sicherlich vielen auch noch denkba-
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Dezember 1853 an Droysen. Johann Gustav Droysen: Briefwechsel, hg. v. Rudolf Hübner, Stuttgart 1929, Bd.2, 200f. Zeit und Sinn (wie Anm.9), 188.
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ren - eine weitere, weniger genetische, mir sympathischere: es sei mit dem Motto gemeint, man müsse als Historiker in der Vergangenheit so mitleben, daß einem die Zukunft der Vergangenheit noch offen erscheint; daß man mit dem Gestern (wie die damaligen Menschen selber) sich ängstigt, wünscht und hofft, daß es besser wird. Womit man obendrein demonstrieren könnte, wie man sich in der Gegenwart verhalten soll: realistisch angesichts der immer begrenzten Möglichkeiten, aber im Bewußtsein einer Zukunft, die nun im Falle der Gegenwart wirklich noch offen ist. Da im anderen Motto AUGUSTINUS zitiert wird, sei am Schluß noch bemerkt, daß dieser vor der Erörterung der menschlichen Zeitvorstellungen von denen Gottes spricht: „Deine Jahre kommen nicht und gehen nicht, unsere aber kommen und gehen, auf daß sie alle kommen. Deine Jahre stehen alle still zugleich, da sie ja stehen bleiben."25 Der Historiker und jeder historisch Betrachtende kann sich einbilden, daß die Jahrhunderte auch vor ihm in solcher göttlichen Ruhe stehen. Aber er kennt sie natürlich nur in Bruchstücken. Sie muß er in der Erinnerung zu bewahren, zu verbinden und zu ergänzen suchen, denn anders kann das frühere Menschliche nicht weiterleben. Neben der Erinnerung an Lebensformen, gelungene kulturelle Schöpfungen, Krisen, Schrecken und Vernichtung muß auch die an gute Neuanfänge bewahrt werden, die gescheitert sind; denn, wie Hannah ARENDT sagt, „dieses Scheitern ist durch nichts mehr gutzumachen, es sei denn, man versucht immer aufs neue, durch Erinnern und Dem-Geschehen-Nachdenken zu verhindern, daß dieser Verlust endgültig werde"26.
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Augustinus: Confessiones XI, 13,16, in der Übersetzung von Perl. Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1966, 360.
Klaus Ε. Müller Ereignisse: eine Systemskizze Nicht lange, nachdem CAESAR an den Iden des März 44 v. Chr. von Mörderhand gefallen war, „erblickte man", wie PLINIUS der Ältere berichtet, „sieben Tage hindurch in der nördlichen Gegend des Himmels einen Schweifstern. Er ging um die elfte Tagesstunde auf, war hell und in allen Ländern sichtbar. Allgemein glaubte man, es werde durch diesen Stern angedeutet, daß die Seele Caesars unter die unsterblichen Götter aufgenommen worden sei." AUGUSTUS indessen, der während dieser Tage gerade die Spiele zu Ehren der VENUS GENETRIX, der Stammutter seines (des iulischen) Geschlechts, veranstaltete, teilte diese Überzeugung nicht. Er deutete die Erscheinung so, „daß der Stern zu seinem Besten aufgegangen sei." PLINIUS selbst dagegen zeigt sich skeptisch, wenn er auch einräumt, daß sich die Dinge danach „heilbringend fur den Erdkreis" entwickelten (II 25). Heutige Astronomen würden der Himmelserscheinung wiederum eine andere Erklärung geben. Einig aber wären alle gewesen, daß es sich um ein „Ereignis" handelte - im lateinischen wie im deutschen Sinne des Wortes: Im ersteren Fall leitet sich eventum (auch eventus) von evenire, „hervorkommen", „eintreten", „geschehen" ab und bedeutet entsprechend „Vorgang", „Begebenheit", „Zufall", auch „Geschick"; im letzteren geht der Begriff auf „eräugen", „vor Augen treten", „sich zeigen" zurück und bezeichnet Geschehnisse, die sich der Aufmerksamkeit irgendwie aufdrängen, gleichsam „ins Auge springen". Denn immer haftet ihnen das Signum des Besonderen an. Ein Ereignis „hebt" zum Beispiel „aus dem diffusen Geschehen eine menschliche Handlung von nicht alltäglicher Erscheinung heraus."1 Eine reine Routinetätigkeit fiele nicht darunter. Gelänge aber einem Gelehrten die lange gesuchte Lösung eines Problems, und vielleicht noch auf besonders „elegante" Weise, oder hielte ein anderer einen Vortrag von gedanklich wie rhetorisch exorbitanter Brillianz, so spräche man von einem „Ereignis". Beides, ersteres vor allem, prägt sich dem Gedächtnis ein, wird kurz- oder längerfristig Bestandteil des Erinnerungsguts. Auffallende Vorkommnisse bestimmten entsprechend die Annalistik seit ihrem Beginn, „entscheidende", „große" - in der Begrifflichkeit Leopold von RANKES - „Haupt-" und „Weltereignisse" jahrhundertelang das Geschichtsbild der Historiographie. Ereignisse können sich überall, jederzeit und auf die verschiedenste, auch bescheidene Weise zutragen. Sprachwissenschaftler bezeichnen eine höfliche Konversation, Verkaufsgespräche, Treueschwüre und Predigten als „Sprechereignisse" (engl, speech events)2', Physiker reden von einem „Ereignis", wenn im Synchrotron der Nachweis eines seltenen Teilchens gelingt, das auf dem Photo seine Spur „wie im Schnee" hinterläßt3, oder von einem „Ereignishorizont", wenn sie den „kritischen Umfang", die Oberfläche eines zum Schwarzen Loch kollabierenden Sternes meinen, unterhalb derer die 1 Hans Robert Jauss: Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs, in: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung, München 1973, 554-60, hier 555. 2 Dell Hymes: Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation, Frankfurt (M.) 1979, 47f. Vgl. Karl Btlhler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1982, 14, 79. 3 Günter Mahler: Was heißt „nicht-klassisch"? Quantentheorie - und darüber hinaus, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 38 (1996), H.l-2,92-107, hier 96f.
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Schwerkraft ein derartiges Ausmaß gewinnt, daß selbst Licht, und damit „Information", nicht mehr zurück ins All gelangt, also unsichtbar, unwiederbringlich „verschluckt" wird. Andere können es schon für ein erinnerungswertes Ereignis betrachten, wenn ein Kind zum ersten Mal „Mama" sagt, sie einem alten Freund, den sie lange nicht sahen, unverhofft wiederbegegnen oder ihnen sonst ein besonders schönes Erlebnis zuteil wird. Ereignisse können sich auch durchaus wiederholen: die Geburt von Vieriingen zum Beispiel, siegreiche Schlachten, der Vorbeizug eines Kometen, selbst „Wunder", wie Stigmata. Von echten Wiederholungen indes könnte immer nur dann die Rede sein, wenn sie die Folge übereinstimmender Voraussetzungen wären. Das ist im strengeren Sinne jedoch allein, und auch da lediglich annäherungsweise, unter anorganischen und biotischen Systembedingungen der Fall. Im Grunde gleicht keine Situation einer andern. Selbst quantenmechanische „Meßereignisse" gelten als fundamental unbestimmt und sind insofern nur statistisch, in Grenzen vorauszusagen, niemals aber exakt reproduzierbar. Allerdings schließt das gewisse gemeinsame, „typische" Eigenschaften nicht aus4 die eben Vergleiche nahelegen und es, gleichsam auf weiche Weise, noch legitim erscheinen lassen, von „Wiederholungen" (oder genauer vielleicht: „Quasi-Wiederholungen") zu sprechen. Je häufiger sich vergleichbare Begebenheiten vollziehen, desto mehr verblassen sie zu bloßen, sich verdichtenden Punkten auf den Verlaufslinien im Regelwerk des Systems, blitzen zuletzt nur mehr schwach und gehen ein in die Alltagsroutine. Hat jemand, der sonst dergleichen noch niemals erlebte, draußen im Busch unerwartet eine Vision, ist das für ihn ein Ereignis, von dem er noch lange erzählen wird. Mehren sich die Erscheinungen aber, wächst dem Betreffenden nach seiner eigenen und der Überzeugung anderer die Bedeutung eines Günstlings der Geister (oder Götter) zu. Man sucht seinen Rat und zieht ihn, zunehmend regelmäßig, in Problemfallen und bei schwerwiegenden Entscheidungen mit zu Rate. Seine „Gabe" wird instrumentalisiert zur Profession, wie das vor ihm auch schon bei anderen der Fall war. Je seltener sich jedoch ein Ereignis wiederholt, desto größer die Aufmerksamkeit, die es erregt - gesetzt, daß es auffallend genug ist und in die Wahrnehmung möglichst vieler fällt, wie der Komet, der nach dem Tode C A E S A R S am Himmel erschien. Damit indes entzieht es sich zunehmend auch einer eindeutigeren Zuordnung: Der Komet konnte C A E S A R oder A U G U S T U S gelten, möglicherweise von einer ganz anderen oder auch ohne jede - zumindest erkennbare - Bedeutung sein. Erst recht aber träfe das, zugespitzt, auf absolut einmalige Vorkommnisse zu. Sie lösen entweder Ratlosigkeit oder einen Wildwuchs arbiträrer Spekulationen aus. Sicherheit böten sie nicht. Ihr Informationsgehalt wäre gleich Null, wie im Falle der „Singulärzustände" am Boden Schwarzer Löcher. So ließen sich auch keinerlei Lehren aus ihnen ziehen. Reinhart K O S E L L E C K wandte das kritisch wider die (ältere) Tradition seiner Zunft: „Die Einmaligkeit der Ereignisse theoretische Prämisse sowohl des Historismus wie des Fortschritts - kennt keine Wiederholbarkeit und läßt deshalb keine unvermittelte Nutzanweisung zu. Insofern hat die moderne 'Geschichte' die alte Historia als magistra vitae entthront."5 Doch absolute Singularitäten sind undenkbar. Als solche mit dem System, in dem sie auftreten, eigentlich unvereinbar, können sie nur entweder aus einem „weißen Fleck" ebendieses Systems - mangelnder Kenntnis der menschlichen Psyche, bzw. bestimmter Naturbereiche - oder von außerhalb herrühren. Das besagt in beiden Fällen dasselbe: Sie 4 5
Mahler 1996, 98. Reinhart Koselleck: Ereignis und Struktur, in: Koselleck/Stempel 1973, 560-71, hier 569f.
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entstammen einem existenten, aber (noch) unbekannten Wirklichkeitsbereich der Welt. Dächte man sich das Wissen entsprechend erweitert, vergrößerte sich die Wahrscheinlichkeit, derartige vermeintliche „Singularitäten" mehrmals beobachten zu können; sie würden sich „wiederholen": Kometen treten im Gesamtuniversum unvorstellbar viel häufiger auf als in Erdnähe; Vierlingsgeburten kommen insgesamt auf der Welt in größerer Zahl als in der eigenen Gesellschaft vor. Singulare Ereignisse stellen daher im Grunde Grenzfalle dar, „an der Schnittstelle von System und Umgebung"6. Für Vertreter offener, das heißt vor allem wissenschaftlicher Vorstellungssysteme bilden sie dann ein Problem, das zwei Betrachtungsweisen zuläßt. Entweder beruhen sie auf einer fehlerhaften Beobachtung, Versuchsanordnung oder Theorie, oder es handelt sich tatsächlich um Phänomene noch unbekannter Bereiche der Naturwirklichkeit. Im ersteren Fall bereinigen Korrekturen die „Unsauberkeit"; die Erscheinung erweist sich als passender Teil des Ganzen - und steuert damit neue „interessante Information"7, trägt zur Wissenserweiterung bei; im letzteren versucht man es mit gezielter Forschung. In beiden bleibt die Bedeutung des Zugewinns an Erkenntnis für die Gesamtgesellschaft in der Regel peripher. Sie berührt nur das Interesse bestimmter Gruppen, fur deren spezielles Weltverständnis und seine spezielle Sinnhafligkeit der „Störfall" eine Bedrohung darstellte. Für geschlossene Systeme dagegen, das heißt hier: Sozietäten mit intaktem Identitätsbewußtsein, das sich abspiegelt und seine Stütze findet in einer kohärenten Lebensund Weltanschauung, stellt die Situation sich anders dar. „Modelltypen" solcher Gemeinwesen bilden traditionelle Gesellschaften, sofern sie folgende Bedingungen erfüllen: - eine überschaubare Größe von durchschnittlich 80 bis 120 Mitgliedern besaßen, so daß sich das Verhalten aller leichter koordinieren und durch die Kontrolle der Öffentlichkeit traditionsfest erhalten ließ; - bereits über mehrere Generationen hin ortsfest lebten, so daß hinreichend Zeit bestand, sich an die lokale Umwelt anzupassen, also auch Vorstellungen über sie zu entwickeln („Naturtheorien") und sie an die Folgegenerationen fortzutradieren; ihre Sozialverfassung sich auf Verwandtschaft gründete, das heißt die Gesellschaft sich aus Lineages, Sippen bzw. Klanen zusammensetzte, die üblicherweise alle Mitglieder zu strikter Reziprozität verpflichten; - ökonomisch weitgehend autark und politisch autonom, also nicht Teile politisch übergeordneter - etwa staatlicher - Einheiten (wie im Falle bäuerlicher Gesellschaften) waren; in einiger Isolation voneinander lebten, wie das gewöhnlich auch der Fall war und die Voraussetzung für die Ausbildung kultureller Individualitäten mit entsprechend stabilem Eigen- und Identitätsbewußtsein bildete. In Gesellschaften dieser Art bedeuten die Selbstbezeichnungen gewöhnlich schlichtweg „Menschen"; das Territorium, vom Schöpfer als erstes inmitten der Erde und allein bis zur Vollendung erschaffen, wurde als Welt schlechthin begriffen; die eigene Kultur, vermeintlich seit Urzeiten über die Ahnen in bruchloser Kontinuität überliefert und durch ihr Beispiel unantastbar sanktioniert, galt als Nonplusultra menschenmöglicher 6 7
Mahler 1996,97. Ebd.
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Lebensgestaltung. Was außerhalb der eigenethnischen Hoheitssphäre lag, blaßte an Bedeutung dagegen ab. Es handelte sich um unkultiviertes Land und urweltliche Wildnis, bewohnt von gefährlichen, „wilden" Tieren, unzivilisierten, „wilden" Menschen und monströsen Kreaturen, die ihre Entstehung teils mißglückten, teils abgebrochenen Schöpfungsversuchen verdankten, die gleichsam „auf der Strecke geblieben" waren. Solche Gesellschaften besaßen ein strikt dualistisches Weltbild: Die eigenethnische „Endosphäre", in der allein das Dasein auf optimale Weise verwirklicht erschien, wurde rings von der fremdweltlichen „Exosphäre" umschlossen, die, mit wachsender Entfernung zunehmend drastischere Formen annehmend, ihr negatives Kontrastbild darstellte und entsprechend nur von unheilvollen, zivilisationsbedrohlichen zerstörerischen Kräften beherrscht sein konnte - aber: beide Welten waren nicht unvereinbar voneinander geschieden, sondern bildeten ein wechselwirkendes komplementäres Ganzes; die eine bedurfte der anderen zur Begründung ihres Prioritäts- und Vollkommenheitsanspruchs. Und leitend für alles Geschehensverständnis blieb dabei immer die je eigene ethnozentrische Endooptik. Das mag ein „Konstrukt" sein; den Menschen selbst, und das zählt für eine adäquate Beurteilung, galt es als unanfechtbare Wirklichkeit. Sozietäten dieses Typs wurden von Ethnologen überall auf der Welt erforscht und beschrieben. Der Vergleich bestätigt die Legitimität und Zuverlässigkeit der allgemeineren Geltungskraft des Modells. Die starke Kohärenz der Vorstellungssysteme veranlaßte viele, so auch in den vierziger Jahren bereits den amerikanischen Ethnologen Clyde 8 KLUCKHOHN, geradezu von „Philosophie" zu sprechen . Das Universum, resümiert er in bezug auf die Navajo im Südwesten der USA , wird als konsistentes Ordnungsganzes begriffen (357, 358), Neues ihm ständig integriert (356), da die „Harmonie" des Gesamtsystems als bestandsunabdinglich und insofern als höchstes Ideal gilt (369). Alle Beziehungen unterliegen einer interdependenten, streng regelgeleiteten Wechselwirkung; die Geschehensverläufe in der Natur, immer eng auf die Lebenspraxis (den way of life) bezogen (358), folgen ehernen, quasi „essentiell mechanischen" (essentially mechanical) Gesetzmäßigkeiten, denen auch die Geistmächte unterworfen sind (360 f.); wer sie (bzw. the right formulas) kennt, ist entsprechend imstande, Einfluß auf das Geschehen in der Welt zu nehmen (362). Strikte Traditionstreue garantiert Erhalt und Bestand des Ganzen (356). Letztinstanzliche Leitbilder liefern die urzeitlichen Setzungen des Schöpfers und der „Kulturheroen" (366) sowie später das Vorbild der Ahnen, das der Tradition die Bewährung verlieh (373). Die Engstinterdependenz von Glaube und Praxis gewährleistete ein Höchstmaß an Orientierungsvermögen (373) und ließ das Dasein optimal sinnvoll erscheinen (382: „most participants feel that the ends and means of their culture make sense, in terms of a unifying philosophy"). Ereignisse „funkten" freilich auch in derart regelgesicherten Universen auf; doch bedingtermaßen nur in zweierlei Weise. Sie konnten zum einen, wie Leuchtmale, irgendwo auf den Bahnen oder an bestimmten Stellen des Regelwerks in Erscheinung treten und dort sozusagen „Merkpunkte" markieren; dann bestätigten sie das System auf besondere Weise: Ein Kind wurde in der Neujahrsnacht geboren und war daher zu Großem ausersehen; ein Landmann hatte ungewöhnliche Ernteerfolge, weil er streng traditions8
Entsprechende Untersuchungen sind speziell Gegenstand der „Ethnophilosophie", die vor allem in der Völkerkunde von Afrika, auch unter afrikanischen Ethnologen selbst, eine besondere Rolle spielt. 9 Clyde Kluckhohn: The philosophy of the Navaho Indians, in: F.S.C. Northrop (Hg.): Ideological differences and world order. Studies in the philosophy and science of the world's cultures, New Haven 1949, 356 bis 384. Die Seitenzahlen der Belegstellen sind oben im Text in Klammem angegeben.
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bewußt lebte und peinlich genau seinen Verpflichtungen im Ahnendienst nachkam; nach dem Ableben CAESARS erschien ein Komet am Himmel, da es der Größe des Abgeschiedenen entsprach, daß seine Seele zu den Unsterblichen einging. Das alles war außergewöhnlich, aber nicht wider die Regel; es besaß zudem Hinweisbedeutung, einen Appell gleichsam zum Übersoll. Insofern konnten sich dergleichen Begebenheiten auch allezeit wiederholen 10 . Selbst traditionelle Gesellschaften „weicheren" Typs, wie nomadisierende Sammlerinnen- und Jäger-Gemeinschaften sahen es so. Der südafrikanische Ethnologe George SILBERBAUER berichtet von den G/wi-Buschleuten in der Kalahari-Wüste, als deren bester Kenner er gelten darf, zum Beispiel: „Die G/wi betrachten ihre Umgebung, die der Wahrnehmung zugängliche 'Mittelwelt', als ein klar geordnetes Ganzes. Seinsformen, Ereignisse und Tatbestände erscheinen de facto oder potentiell erklärbar vermöge ihrer kausalen Wechselbeziehungen mit anderen Seinsformen - usw. Diese Verknüpfungen sind weder chaotisch noch zufälliger Art, sondern regelbestimmt, das heißt unterliegen steter Repetition. Unvorhergesehene Wendungen und Irregularitäten stellen durchaus vertraute Komplikationen dar; man begreift sie lediglich als Umstellungen in der Kombination der Faktoren, die eine Beziehung bestimmen, nicht aber als Abweichungen von der Ordnung oder gar deren Auflösung."
Interdependenz und Regelhärte forderten die Wiederkehr gewisser Ereignisse sogar, da die Voraussetzungen dazu sich zu gegebener Zeit systembedingt wiederholen mußten. Die biblische Weisheit nihil novum sub sole gibt die Essenz dieser für traditionelle Gesellschaften typischen Anschauung treffend wieder: „Was ist's, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist's, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne" (Prediger SALOMO 1:9). Zum andern aber traten, gleichfalls wiederholtermaßen, immer wieder auch unerwünschte, störende, quasi-kontingente Erscheinungen - plötzliche Erkrankungen, Unfälle, Mißernten, Unwetter, Viehseuchen - auf, die erst recht, da sie die Regeln verletzten und den Bestand des Ganzen bedrohten, einer plausiblen Erklärung bedurften. Auch diese konnte indes wieder nur systemimmanent, aus den eigenen Begründungskonzepten heraus erfolgen, da diese, dem ethnozentrischen Absolutheitsanspruch zufolge, Bedeutung sozusagen „für alle Welt" besaßen. Man hatte sich an die eigene Brust zu schlagen. Die Ursache für das böse Ereignis lag in der betroffenen Gesellschaft selbst. Sie beruhte - wie entsprechend wieder auch die Navajo es sahen (S. 361 ff.) - auf einem Fehlverhalten: einer Normverletzung, einem Tabubruch, einem Frevel. Da Systeminkonsistentes jedoch nicht Folge der Systembedingungen selbst sein kann, müssen stets exosphärische Einflüsse mit im Spiel sein. Genau besehen, vollziehen sich ungute Ereignisse daher immer in mehreren, zumindest jedoch in drei Schritten: 1. Jemand verhält sich unbedacht oder macht sich einer leichteren Nachlässigkeit schuldig, die gleichwohl irgendwie ein Herkommen, die „gute Sitte" verletzt; das lockert, wenn auch erst ansatzweise, bereits seine Verankerung in der Tradition; es schwächt ihn, macht ihn anfällig für zerstörerische Außenimpulse. 2. Ein Unheilsgeist gewinnt Einfluß über ihn, stiftet ihn an, Böses zu tun; Neid, Mißgunst, feindselige Neigungen beginnen sein Herz zu vergiften: Er greift zur Magie, macht andere krank oder fugt ihnen sonst ein Ungemach zu. Gewöhnlich
10 Vgl. Klaus E. Müller: „Prähistorisches" Geschichtsbewußtsein,. Versuch einer ethnologischen Strukturbestimmung, in: ZiF-Mitteilungen (1995), H.3, 3-17, hier 6f. " George B. Silberbauer: Hunter and habitat in the central Kalahari Desert, Cambridge 1981, 114 (Hervorhebung v. Vf.).
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erreichen die Handelskanus der Wogeo-Insulaner die nahegelegene Nordküste Neuguineas problemlos. Mitunter kentert jedoch mal eins und die Mannschaft ertrinkt. Da die Überfahrt an sich keine Risiken birgt und die Leute hinreichend Erfahrung besitzen, kann nur Schadensmagie die Ursache sein12. In Extremfällen bringt der Ungeist, der einen Menschen beherrscht, ihn vielleicht noch dazu, selbst vor dem Schlimmsten nicht mehr zurückzuschrecken: Er begeht Inzest, tötet, zerstört sakrale Einrichtungen. 3. Die Folge ist nunmehr - wenn das Böse sich fortfrißt und die Vergehen ein größeres Ausmaß annehmen - daß Ahnen und Götter glauben, eingreifen zu müssen, und die Schuldigen hart mit anhaltendem Unglück, schweren Krankheiten, Seuchen, ja dem Tod zur Rechenschaft ziehen, sei es, um sie zu warnen oder zu strafen. Derartige - positive wie negative - Ereignisse greifen ans Herz; sie beglücken oder beängstigen, wühlen, mehr oder weniger, die Gefühle auf und prägen sich so der Erinnerung ein. Man erzählt von ihnen, auch später noch, und namentlich dann, wenn sich ein analoger Fall ereignet: Sie gewinnen exemplarische Bedeutung, ihrer Erzählung wächst Erklärungskraft zu, indem diese kontingente Erfahrung „nicht einfach auflöst, sondern in zeitliche Zusammenhänge entfaltet, in denen sie Sinn macht" 13 - das heißt ihr durch Bezug auf den Gegenwartsfall, durch Einbindung „in die kulturellen Orientierungsrahmen der gegenwärtigen Lebenspraxis" 14 quasi Regelcharakter verleiht, was erst sie verständlich und bedeutungsvoll auch für die Zukunft erscheinen läßt15. Gleichzeitig prägen Ereignisse auch - die territoriale Umwelt wie die Lebensgeschichte einzelner und der Gruppe. Bestimmte, außergewöhnliche Taten und Abenteuer der Urzeitwesen, von denen noch Mythen und Sagen erzählen, formten dem Glauben vieler Völker zufolge das Landschaftsbild. Ihre Spuren stellen gewisse Höhlen, Seen, Felsgruppen oder Bergmassive dar16. Auffallende Begebenheiten bei der Geburt und später im Leben formen das Profil eines Menschen. Fragen nach dem Tag, Monat oder Jahr der Geburt, der Hochzeit oder des Todes eines Angehörigen werden gewöhnlich mit Verweis auf bekannte, ihrer Besonderheit wegen noch gut in Erinnerung befindliche 12 Ian Hogbin: The island of menstruating men. Religion in Wogeo, N e w Guinea, Scranton 1970, 145. Vgl. Klaus E. Müller: Reguläre Anomalien im Schnittbereich zweier Welten, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 34 (1992), H.l-2, 33-50, hier 33f. 13 Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrative Faktoren, in: Internationale Schulbuchforschung 18 (1996), 501-43, hier 528 (Hervorhebung v. Vf.). 14 Rüsen 1996, 508. 15 Jörn Rüsen: Some theoretical approaches to intercultural comparative historiography, in: History and Theory, Theme Issue 35 (1996), 5-22, hier 12. Vgl. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, 52ff. 16 Vgl. Ronald M. Berndt: The sacred site: the western Arnhem Land example, Canberra 1970, 5ff. Dieter Walter Uli: Das Hindukush-Haus: zum symbolischen Prinzip der Sonderstellung von Raummitte und Raumhintergrund, Stuttgart 1991, 113. Ian Keen: Knowledge and secrecy in an Aboriginal religion, Oxford 1994, 64f.; vgl. vil, 102f., 178f. Christina Toren: Seeing the ancestral sites. Transformations in Fijian notion of the land, in: Eric Hirsch/Michael O'Hanlon (Hg.): The anthropology of landscape. Perspectives on place and space, Oxford 1995, 163-83, hier 166ff. Howard Morphy: Landscape and the reproduction of the ancestral past, in: Hirsch/O'Hanlon 1995, 184-209, hier 187. Robert Layton: Relating to the country in the Western Desert, in: Hirsch/O'Hanlon 1995, 210-31, hier 214ff. Caroline Humphrey: Chiefly and shamanist landscapes in Mongolia, in: Hirsch/O'Hanlon 1995, 135-62, hier 135ff, 157. Peter Gow: Land, people, and paper in western Amazonia, in: Hirsch/O'Hanlon 1995,43-62, hier 53f, 59.
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Vorgänge oder Naturerscheinungen, die ungefähr gleichzeitig stattfanden, beantwortet eine überreiche Ernte, ein Erdbeben, eine Mondfinsternis usw.17. Gesellschaften begründen, erzählend, quasi-annalistisch, die Lokalisierung ihrer derzeitigen Sitze etwa mit bestimmten Ereignissen (einer verlorenen Schlacht, einem „Zeichen", der Vision eines Oberhaupts), die sie zum Fortzug aus der früheren Heimat bewogen, Opferrituale mit der Errettung aus einer Notsituation, ein Steinmal mit dem tragischen Tod eines Helden. Ereignisse weisen immer ein wenig über das Gewohnte hinaus, indem sie in Routine Gestelltes verrücken. Ein Hauch oder auch mehr von Neuartigkeit leuchtet in ihren Erscheinungen auf 18 . Sie können den Grund für Veränderungen oder Ortsverlegungen bilden, in dramatischen Fällen eine Katastrophe, eine radikale Wende anzeigen oder einleiten. Der Fall von Akkad im 23. Jahrhundert v. Chr. kündigte sich u. a. dadurch an, daß ein lebender Panther den Euphrat hinabtrieb und getötet, die Außenmauer eines Stadttores wie von unsichtbarer Hand bewegt wurde19; A U G U S T U S sah sich durch den Kometen zum Kaiser des Römischen Reiches und Begründer einer neuen Heilsära berufen. Ereignisse enthalten so Information; sie besitzen Bedeutung, sind „Zeichen" für eine ungute oder verheißungsvolle Entwicklung. Sie richtig verstehen zu können, war allezeit eine ebenso unerläßliche wie wertgeschätzte Kunst. In traditionellen Gesellschaften beherrschten sie in der Regel die erfahrenen alten Männer, manchmal auch spezielle „Divinatoren"; in den Archaischen Hochkulturen vervielfältigte und professionalisierte sie sich entsprechend der sozialen und beruflichen Differenzierung, die zunehmend ein Mehr an speziellen Probleme aufwarf. Parallel entstand eine eigene Literatur: Sammlungen „merkwürdiger Begebenheiten" (sog. „Prodigienbücher") samt Deutungsanweisungen. Eine typische Zusammenstellung der Art enthalten noch die Etymologiae sive origines des ISIDOR VON SEVILLA (ca. 570-636) Buch XI, Kap. 3 („Deportentis"). Verständlich für alle, „sinnvoll" indes konnten Ereignisse nur gedeutet werden, wenn sie an einer exakt definierten Raumzeitstelle, möglichst im allseits sichtbaren „Mittelfeld" der sozialen Endowelt20 geschahen. „Even the most minute occurrences are described', so hier Harry HOIJER in bezug auf die Navajo, „in close conjunction with their physical settings, suggesting that unless narrated events are spatially anchored their significance is somehow reduced and cannot be properly assessed."21 Ein Blitz, der einen Oberpriester beim Hauptopfer an den Himmelsgott während der Jahreswende im Zentralheiligtum traf, besagte für alle mehr und anderes als der Schrei eines seltenen Vogels über dem Haupt eines Tagelöhners beim frühmorgendlichen Verlassen der Hütte. Ereignisse bedurften, um Aussagekraft zu besitzen, der koordinatenspezifischen Lokalisierung, der Einpassung in die Strukturen der endosphärischen Vorstellungswelt. Ihre Bedeutung, das heißt ihr Informationsgehalt, ist stets systemdependent. 17 Klaus E. Müller: Zeitkonzepte in traditionellen Kulturen, in: Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1 9 9 7 , 2 2 1 - 3 9 , hier 223. " K o s e l l e c k 1973, S. 566. 19 Johannes Renger: Vergangenes Geschehen in der Textüberlieferung des alten Mesopotamien, in: HansJoachim Gehrke/Astrid Möller (Hg.): Vergangenheit und Lebenswelt: soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996, 9-60, hier 3 lf. 20 Vgl. Renger 1996, 29. Elizabeth Povinelli: Labor's lot. The power, history, and culture o f Aboriginal action, Chicago 1993, 36, 57. 21 Hoijer bei Keith H. Basso: Stalking with stories: names, places, and moral narratives among the Western Apache, in: Stuart Plattner/Edward M. Bruner (Hg.): Text, play, and story: the construction and reconstruction o f self and society, Washington 1984, 19-55, hier 26.Vgl. BUhler 1982, 14f.
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Treten mehrere in räumlicher, sozialer und zeitlicher Nachbarschaft auf, legt das die Vermutung nahe, daß ein Zusammenhang zwischen ihnen besteht. Sie werden durch imaginäre Linien zu Ereignisfiguren verbunden. Das nimmt dem Einzelgeschehnis den irritierenden, potentiellen Bedrohungscharakter, den es als solches besitzt, solange es strukturell nicht „verortet" ist. Ein verdienter Geschäftsmann (A) erreicht sein 60. Lebensjahr. Zu seiner Ehrung findet ein Fest statt. Unter den Gästen befinden sich etliche, die von Einfluß sind, vor allem einer (B). Gesprächsweise wird laut, daß eine hochgestellte Persönlichkeit (C) aus dem gemeinsamen beruflichen Umfeld in Kürze überraschend den Dienst zu quittieren gedenkt. Der Betreffende hatte während einer Urlaubsreise in einem Land, in dem er schon immer leben wollte, ein „Traumhaus" zum Kauf angeboten erhalten. Ein Bekannter (D), dessen Weg er dabei „zufallig" kreuzte, bestärkte ihn in seiner Erwägung, die Gelegenheit als gutes Omen zu nehmen und seinem Leben „einen neuen Inhalt" zu geben. Alles „trifft" gewissermaßen „zusammen". Es entsteht eine Dreiecksverbindung: Β ist der Meinung, daß Α der geeignetste Kandidat für C's Nachfolge wäre. Es finden Gespräche, dann Verhandlungen statt, bei denen Β zu vermitteln vermag. Die Bedrohung, die durch das Ausscheiden C's eintrat, konnte durch die Ereignisverknüpfung strukturell gebunden werden. Die entscheidenden Begebenheiten gewannen dabei „Eckpunktcharakter": Α und C „vollenden" einen Lebensabschnitt und beginnen einen neuen; in der Zwischenphase kreuzen sich die Wege von A, B, C und D. Die Linien, die Anfangs-, End- und Schnittpunkte verbinden, bilden eine quasi geometrische Struktur, die sich, der Bedeutung der Beteiligten und ihrer Tätigkeit wegen fettkonturiert, dem Untergrund aufprägt - sie findet, zumindest vorübergehend, Aufmerksamkeit; man berichtet, die Zeugen waren, erzählen noch später davon. Das System wurde durch die Konstellation der Ereignisse nicht erschüttert, sondern bestätigt. Gleichzeitig jedoch veränderte sich etwas. Endpunkte gingen in Ursprungspunkte über, Linien kreuzten einander, so daß Schnittpunkte entstanden, die eine dynamische Bewegungsentfaltung in beiderlei Richtung erlaubten. Das Ganze bildet zwar eine systemadäquate Struktur, ein „Dreieck" - aber mit unterschiedlichen Winkelgraden, Schenkellängen und verändertem Umfang gegenüber anderen vor ihm. Eine neue Entwicklung wurde möglich. Für die Beteiligten indes bleibt es nicht bei der kalten Strukturadäquation. Es affiziert sie; Ereignisse emotionalisieren. Sie zünden gegebenenfalls einen „Intentionalüberschuß" mit „zeitlicher Pointe: Er manifestiert sich in einer besonderen Weise immer dann, wenn zeitliche Veränderungen des Menschen und seiner Welt vom Menschen selbst handelnd und leidend bewältigt werden müssen. Dann sind ihm diese Veränderungen nämlich als Erfahrungen bewußt, denen gegenüber er Absichten entwickeln muß, um angesichts ihrer und in ihnen handeln zu können." 22 Noch unbewältigt, stellen Situationen, wie sie von „Ereignissen" ausgelöst werden, kritische, quasi chaotische Zustände dar, irisierende Insularbereiche, in denen das Geschehen gleichsam, aufleuchtend, „fluktuiert" und unter Umständen unkalkulierbare Entwicklungen ermöglicht. Ihrer Struktur nach bilden sie Interstadiale zwischen zwei Abschnitten eines kulturellen Regelprozesses, in denen die Ordnung des ersten aufgehoben und die des nächstfolgenden noch nicht festgelegt und ebendaher unbestimmbar erscheint. Insofern entsprechen sie auch Initialphasen, da irgend etwas dabei sich immer verändert, stets ein irgendwie Neues entsteht. Wohl deshalb schreibt ihnen die traditio22
Rüsen 1983,49.
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nelle Anschauung auch ein gewisses magisch-kreatives Kraftpotential zu . Sich selbst überlassen, könnten sie, qua Selbstorganisation, zu unerwünschten Entwicklungen fuhren. Treten daher bedeutsamere Ereignisse auf, ist, wenn die Zeit dazu bleibt, gezieltes Handeln geboten, das die „Anfangsbedingungen", die wesentlich mit über den Erfolg entscheiden, wohlbedacht festsetzt. Wiederkehrende, also absehbare Initialsituationen - Geburten, das Einsetzen der Pubertät, Heiraten, Inthronisationen usw. - wurden daher, eben zur Fixierung der Ausgangsbedingungen, streng, teils aufwendig ritualisiert, gleichzeitig in ihrem Entwicklungsverlauf durch entsprechende, namentlich reinigende und stärkende Einflußnahmen magisch „manipuliert". Überraschende, „kontingente" Vorkommnisse dagegen, wie ein Zerwürfnis, ein gravierendes Kollektivvergehen, das Auftreten „falscher Propheten", forderten spontane, das heißt nichtritualisierte Reaktionen heraus und leiteten insofern spürbare Veränderungen, echte Wenden, Revolutionen, vielleicht auch verheerende Katastrophen ein - ein Teil der Gruppe spaltete sich ab, zog fort und gründete andernorts eine eigene neue Siedlung; die Gottlosigkeit ihrer Bürger stieß Sodom und Gomorrha in den Untergang; mit dem Fortzug MUHAMMADS von Mekka nach Medina 622 η. Chr. (der Hedschra, „Auswanderung") setzt die offizielle Geschichte des Islam ein; LUTHERS Thesenanschlag von 1517 löste die „Reformation" aus und hatte die Entstehung der protestantischen Kirchen zur Folge. Reaktionen wie diese, die Folge unerwarteter (regelwidriger, kontingenter) Erfahrungen sind, stellen ihrerseits Ereignisse dar, die nunmehr entscheidende, initiatorische Bedeutung fur die Memoration derer gewinnen, die sich zu ihren Konsequenzen bekennen. Sie werden aus der Übergangsphase, der sie ihre Entstehung verdanken, zunächst „nach vorn", in den Initialbereich, verschoben und erhalten so Gründungscharakter, um dann, je mehr an Geschehen dazwischen anwächst, „nach hinten" zu rücken und sich zuletzt zum Ursprungspunkt zu verdichten, mythisiert zum Keimkern, aus dem alle Entwicklung hervorsproß (ζ. B. die Hedschra). Solche Prozesse können auch künstlich in die Wege geleitet werden, indem etwa ein Oberer eine Initialsituation dadurch herbeiführt, daß er einen einflußreichen „falschen Propheten" hinrichten läßt, ein König den Entschluß faßt, ein Nachbarreich zu überfallen und seine Bevölkerung zu vertreiben, oder ein unterlegener Thronprätendent seinen erfolgreichen Rivalen stürzt und sich selbst zum Herrscher erhebt. Da derartige willentliche „Umwälzungen" auf Kritik oder Widerstand stoßen könnten, bedürfen sie einer verstärkten Mythisierung, wenn nicht Mystifizierung des Ursprungsgeschehens. Aus dem Ereignisganzen, das zu der Wende führte, wird einzelnes, das besonders wirkungsvoll erscheint, herausgelöst, manchmal auch mehreres kombiniert, so daß der Eindruck einer „Bewegung" oder gar „Fulguration" entsteht, ja auch ein „Wunder" fingiert und das Ausgelesene dann ins Licht gesetzt, so daß alles andere ins Dunkel zurücktritt - die Gründung erscheint als zündendes Einzelereignis, als echte Singularität, wie zu Urbeginn die Erschaffung der Welt. Das wäre keine geschichtliche Besonderheit. Der seiegierende Rückblick entspräche der gezielten Beobachtung in der Mikrophysik, der immer einen „Eingriff darstellt, „der eine neue Entscheidung erzwingt und das weitere Schicksal des Gebildes 'erinnerungslos' abtrennt von seiner Vergangenheit, so daß eigentlich [...] nur diese Beobachtungsvorgänge wirkliche
23
Vgl. Klaus E. Müller: Das magische Universum der Identität: Elementarformen sozialen Verhaltens; ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt (M.) 1987, Sachregister, sub „Initialphasen"!
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Klaus Ε. Müller Ereignisse an dem Gebilde sind. Der auf eine gewisse 'Seite' des Gebildes ausgeübte^ wang, beobachtbar hervorzutreten, macht andere Seiten des gleichen Gebildes unbeobachtbar."
Aus Beobachtungen aber erwachsen Theorien, ganze Theoriengebäude. Ereignisse rufen nicht nur bestimmte einzelne Veränderungen und „neue" Entwicklungsprozesse hervor; bedenkt man, daß eigentlich alle Kulturelemente ihre Entstehung einer Entdekkung, Erfindung, Gründung oder Verfugung verdanken 25 , könnte man geradezu sagen, sie konstituieren, Zug um Zug, ganze Systeme. Ihre Verknüpfung entspricht „einem konstanten Prozeß, in dem Kultur ständig durch Handeln gestaltet, produziert, reproduziert und transformiert wird" 26 - de facto, nicht aber der Vorstellung nach, die eine Gesellschaft sich selbst von ihrer Vergangenheit macht. „Älteste" Ereignisse kommen durch ihre Rückverschiebung in die „Ursprungszeit" gleichsam zur Ruhe; ihre Dynamik verstetigt sich stationär; sie „strahlen", verewigt, im Sternbild des Mythos. Solchen jüngeren Datums bleibt eine gewisse Beweglichkeit. Arrangiert und rearrangiert, teils linearisiert, füllen sie die Raumzeit der Geschichte aus, mit einzelnen eingelagerten Entwicklungsvektoren 27 . Aufbau und Rahmen eines Systems bedürfen statischer Stabilität, damit nicht, was ihren „weicheren" Inhalt ausmacht, allzuleicht der Erschütterung ausgesetzt ist und in einen kritischen Zustand gerät, der die Handlungs- und Orientierungsfähigkeit der Menschen aufzehren könnte. Dem wehren vor allem die Mythisierung und Ritualisierung der elementaren Trägerstrukturen. Der Mythos verleiht dem Grund des Ganzen, dem Gründungsgeschehen, eherne, „ewige" Gültigkeit. Er wird daher auch in unantastbarer liturgischer Textgestalt in archaischen „Sakral-" oder „Kirchensprachen" rezitiert, deklamiert - eben traditionsgetreu „wiedergegeben". Zentrale Handlungsfolgen daraus finden im Kult sakramentale Verstetigung. Ihre Vereinzelung in wenigen Schlüsselritualen sichert ihnen überhöhte Geltungskraft, schreibt sie der Erfahrung im Sinne von „Signaturen" der Weltanschauung ein, verleiht den Paraphernalien, die dabei Verwendung finden, Reliquienbedeutung. Ihr einstmaliger Ereignischarakter erstarrt zu Eck- und Mittelpunkten der mythischen Begründungsfigur, wird umgewandelt in stetig strömende Energie, die das Regelwerk der Kultur in Bewegung hält. Jüngeres, nachurzeitliches Geschehen dagegen pflegt, wofern nicht aus Opportunitätsgründen der Herrschaftslegitimierung getilgt, historisierend gebunden, das heißt erzählt 28 zu werden, bewegt sich entsprechend dem, wovon es berichtet, innerhalb größerer Freiheitsgrade - bis hin zu allerjüngsten Begebenheiten, von denen viele Versionen, wechselnd je nach Erzähler, in Umlauf sind. Den Übergangsfall bilden Trauer- und Totengedenkfeiern zu Ehren hochgestellter Persönlichkeiten: In ihnen mischen sich mythische Elemente, zur kosmologischen Verankerung des Abgeschiedenen im Seinsgrund aller, mit Momenten der Ereignisgeschichte aus seiner persönlichen Biographie, die ihrer Bedeutung wegen mit der Ge24
Pascual Jordan: Verdrängung und Komplementarität: eine philosophische Untersuchung, Hamburg-Bergedorf 1947, 41 (Hervorhebungen im Original). 25 Alfred Louis Kroeber: Structure, function and pattern in biology and anthropology, in: Scientific Monthly 56 (1943), 105-13, hier 106, 113f.; vgl. Alfred Louis Kroeber: The superorganic, in: American Anthropologist 19(1917), 163-213, passim. William Roseberry: Anthropologies and histories: essays in culture, history, and political economy. New Brunswick 1989,43. 27 Vgl. Jean Baudrillard: The illusion of the end, Cambridge 1994, 2; Jan Assmann: Ägypten: eine Sinngeschichte, München 1996, 28. 28 Koselleck 1973, 560ff; Assmann 1996, 19.
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schichte der Gesellschaft ineinsgesetzt wird. Ihre wiederholte Memorierung setzt „neuzeitliches" Geschehen den mythischen Grundfimdamenten auf und verleiht ihm durch historische „Drehung" um die achsiale Repräsentativgestalt die handlungs- und orientierungsleitende Sicherheit im Wechsel der gegenwärtigen und für die Zukunft zu erwartenden Erfahrung. Ereignis und Struktur schließen sich also nicht aus; Ereignis- und Strukturgeschichte stehen, geschichtswissenschaftlich gesehen, eben nicht gleichsam in einem Verdrängungsverhältnis29, sondern bedingen einander, genetisch wie in der Gegenwart. Daraus folgt auch, daß die Anzahl der „Ereignisse" mit der Komplexität der Gesellschaft wächst: Sie ist geringer in traditionellen, größer in differenzierteren Kulturen, in denen die einzelnen Organisationsebenen einander vielfach überschneiden, so daß Brechungen und Mikro- wie Mesostrukturen verschiedener Reichweite entstehen - womit die Grenzproblematik sich entsprechend verschärft. Das Bedürfnis, die zunehmend mit wechselnder Leuchtkraft „aufblitzenden" Ereignisse im System zu binden, muß sich daher, um der drohenden Orientierungs- und Handlungsunsicherheit entgegenzuwirken30, in komplexeren Gesellschaften erhöhen, mit Druck vor allem auf die haupttragenden Strukturen und Institutionen: die Begründungsbasis mit den rituellen Nachstellungen der - religiösen oder politischen - „Urszenen" (Eucharistie, Passionsspiele, Reichsgründungsfeiern, Krönungsjubiläen, Revolutionsdramen), die „offizielle" Überlieferung (vor allem der Genealogien der führenden Familien) und Geschichtsschreibung, das Gedenken wichtiger Begebenheiten mit „Mittel-" und „Eckpunktbedeutung" (entscheidende Schlachten, Geburts- und Todestage verdienter Persönlichkeiten, Proklamation der Verfassung), den Herrscher- oder Staatskult, die Pflege der demokratisch-parlamentarischen Traditionen und der Rechtsprechung. Die Kritik an diesen ebenso manifesten wie empfindlichen Institutionen verbietet sich nicht nur aus Ehrerbietung gegenüber Ahnen und Göttern oder Gründen der Staatsräson. Sie könnte fatale Folgen für den Bestand des Ganzen haben. Auch dem liegt tiefer ein allgemeineres Prinzip zugrunde. Es gehört zu den fundamentalen Eigenschaften aller Einzel- oder Ausschnittphänomene, also auch von Ereignissen, daß sie, je näher man sie betrachtet, analysiert und seziert, sich wie in Nichts auflösen, etwa in den Schritten: ein Stück Strand, eine Handvoll Sand, ein Korn, ein Molekül, ein Atom, ein Atomkern, Quarks usw.; ein Versuchstier, eine Gewebeprobe, einzelne Zellen, Zellkerne, Proteine, Aminosäuren usw.; eine Person, ihr Charakter, ein dominanter Zug, die Erziehung, das Elternhaus, der Vater, dessen Lebensgeschichte usw.; die Schlacht um Stalingrad, der Kessel, die Unterbindung des Nachschubs, der russische Winter, die Schwäche der deutschen Verbündeten, HITLERS mangelnde Entscheidungskraft, der zum Entsatz bereitstehenden Heeresverbände den Befehl zum Angriff zu geben, seine Persönlichkeit, seine Jugend usw. usw. Beobachten bedeutet, den Blick fokussieren und einen Teil des Betrachtungsfeldes gleichsam herauszirkeln, so daß anderes aus der Wahrnehmung abgedrängt und ausgegrenzt wird; Analysieren zerteilt, zerschneidet, so daß perspektivische „Schnitte" entstehen, deren jeder „einerseits erst ein 'Reden über etwas Konkretes' erlaubt, andererseits 29
Vgl. Arno Borst: Das historische "Ereignis", in: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel 1973, S. 536 bis 540, hier 536; Jauss 1973, 554; Rüsen 1996 (wie Anm.15), 16. 30 Rüsen 1983,25.
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möglicherweise wichtige Beziehungen innerhalb des Gesamten außer acht lassen muß", wie der Quantenphysiker Günter MAHLER das für die Problematik seines Faches beschreibt31. Im Falle vivisektorischer Eingriffe wären die Folgen unter Umständen tödlich - „eine bis zu allen einzelnen Molekülen eines Organismus vordringende Beobachtungsgenauigkeit würde vielleicht das Leben als solches beendigen", zumindest aber „schwere Störungen und Veränderungen in Struktur und Funktionen des untersuchten Organismus mit sich bringen"32. Historische Ereignisse büßten, unterwürfe man sie einer analogen „Feinanalyse" und überschritte die „Schwelle der Zerkleinerung33, unterhalb derer sich ein Ereignis auflöst"34, ihren Ort sozusagen in der Gravitationsfeldstruktur der Kultur ein; sie würden unsichtbar - und verschwänden damit, wie Licht und In35 formation im Anziehungsbereich Schwarzer Löcher, aus der Geschichte . Davor bewahrt sie indes die Verortung in der Struktur, die sie entsingularisiert, ihnen die gefährliche Sprengkraft nimmt und sie wiederholungsfähig macht. Anders wären sie auch theoretisch nicht faßbar36, sondern ließen sich lediglich wahrnehmen, mit Verwunderung oder Erschrecken. Zu Mittel- und Eckpunkten der Strukturen verstetigt, „strahlen" sie zwar, aber oszillierend gleichsam zwischen ihrem ursprünglichen, „zündenden" Ereignischarakter und dem sedaten „Leuchten" im Verbund ihrer Konstellation. Das beläßt ihnen die gewisse Schwingungsfrequenz, die ihre Informationsträchtigkeit verbürgt. So wecken sie weiterhin Aufmerksamkeit, zu Anfang immer erst irritierend, später als leuchtende Sterne am Firmament der eigenweltlichen Ordnung. Ihr Licht und der pulsierende Wechsel seiner Intensität - die Quelle der Information, des „Neuartigen" und möglichen Wandels - läßt sie bedeutungsvoll erscheinen und legte allezeit nahe, ihre „Botschaft", zumal in kritischen Situationen, zu überschätzen. Dennoch besitzen sie als historische Größen ihre unabdingliche Funktion für die Geschichte. Systeme gründen in der Vergangenheit; sie setzen sich aus Begebenheiten zusammen, die sich zu allen möglichen früheren Zeiten, tatsächlich oder fingiert, „ereigneten" - wie man erzählt, je nach dem Standpunkt und den Interessen der Berichterstatter, nach denen ihr Informationswert, das heißt, in historischer Perspektive: ihre Bedeutung für die Begründung des Systems, beurteilt wird. Dies nämlich verleiht ihnen Sinn, bzw. weist ihnen im Gesamtsinnsystem der Gesellschaft die Stelle zu, die sie als bedrohlich oder bestätigungswirksam für das Vorstellungsganze erscheinen läßt: Das Maß an Sinnhafligkeit bestimmt sich nach dem Verhältnis von Ereignis zu Struktur. Gewisse, je kulturspezifische „Ideen", wie Jörn R Ü S E N einmal die leitenden Kriterien dabei nannte, „regeln den denkenden Umgang des Menschen mit seiner Welt und sich selbst; sie entscheiden also darüber, als was die zeitliche Veränderung des Menschen und seiner Welt gedeutet werden muß"37 - denn da sich etwas „ereignet", wird Struktur in der Zeit gebeugt, tritt ein Wandel in beider Verhältnis ein, sehen sich die Menschen kontingenten, unter Umständen sinnzehrenden Erfahrungen ausgesetzt, die, um die Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, „passender", sinnstützender Deutung bedürfen. Die „Ideen" prä-
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Mahler 1996,100. Jordan 1947,44. 33 Ein Ausdruck von Georg SIMMEL, den KOSELLECK hier aufnimmt. 34 Koselleck 1973,561. 35 Buadrillard 1994, 2. 36 Reinhard Olivier: Das mentale System und seine Beziehung zur Außenwelt, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 36 (1994), H.3-4,176-93, hier 180. Vgl. Koselleck 1973, 569f. 37 Rüsen 1983,25. 32
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gen die „Deutungsmuster, in die Erfahrungen vom zeitlichen Wandel des Menschen und seiner Welt eingebracht und integriert werden müssen, wenn angesichts ihrer sinn- und absichtsvoll gehandelt werden soll."38 Ereignisbestimmte Strukturen und ideengeleitete „Deutungsmuster" stellen sonach die tragenden Ebenen der Sinnbildung dar. Ihre Verbindung erfolgt über die „mentale Operation" (RÜSEN) des Erzählens. Das setzt sie beide in Bewegung und haucht dem Ganzen „Leben" ein: Die Sinnhaftigkeit läßt sich, quasi „metabiographisch", als Summe erlebter Begebenheiten im Rahmen der altüberlieferten, „historischen" Strukturvorgaben der je eigenen Kultur, jederzeit nachvollziehen, wird erfahrbar: „Erzählen macht aus Zeit Sinn, indem es die Zeitfolge von Vorkommnissen (zumeist Ereignissen oder auch Sachverhalten struktureller Art) in einen inneren Zusammenhang dieser Vorkommnisse selbst bringt. Dieser Zusammenhang ist so geartet, daß in ihm die jeweilige Besonderheit (Kontingenz) der Vorkommnisse nicht verschwindet, sondern als eine zeitlich nachvollziehbare Veränderung erscheint."39 So ist es. Ein großer Gelehrter vollendet sein 60. Lebensjahr und erfährt die verdiente akademische Ehrung. Dies einmalige Ereignis wiederholt sich gleichwohl bei andern, oft auch die Art des Reverenzerweises, weil beides Teil der traditionellen Universitätskultur ist. Für den „Betroffenen" wie die Beteiligten um ihn bleibt es desohngeachtet eine einzigartige Erfahrung, von der man einander im nachhinein noch erzählt, durch die bewußte „mentale Operation" Leben, Werk und Persönlichkeit des Laureaten eingrabend mit leuchtenden Lettern in die Himmel der Sinnbildung über uns allen, zur handlungs- und orientierungsleitenden Lehre: Formatio sensus magistra
38 39
Ebd., 26; vgl. ders. 1996 (wie Anm.14), 525. Ebd., 508; vgl. 528.
vitae.
Frank R. Ankersmit Representation: History and Politics 1. Historical theory and historical writing Each historical theory has its natural affinity with a certain variant of historical writing. Hermeneutics deals with the interpretation of texts and is therefore the historical theory that immediately comes to mind when we think of intellectual history. COLLINGWOOD'S „re-enactment theory" urges the historian to always ask himself to what purpose a historical actor did, thought or made something. And by so strongly insisting on precisely this question COLLINGWOOD'S historical theory clearly demonstrates how much it owed to archaeology, of which COLLING WOOD himself was a most successful practitioner1. The „covering law model", in its turn, had such selfevident affinities with the notion of „history as a social science", that it can not surprise us that the Cliometricians of a generation ago proposed covering law model theories as the methodological justification of their approach to the past2. I therefore would not hesitate to claim that no historical theory has ever been formulated that is completely neutral to the variants of historical practice. 2. Riisen and political history If this claim makes sense, we may well ask ourselves what kind of writing of history is privileged by Jörn RÜSEN'S historical theory as developed in his Grundzüge einer Historik, the trilogy which undoubtedly should be considered to be his major contribution to historical theory. When trying to answer this question, two aspects of his historical theory have to be taken into account. In the first place, RÜSEN strongly emphasizes in his historical theory the interaction between historical writing on the one hand and social reality on the other, i.e. between Fachwissenschaft and Lebenspraxis. His relevant views here could best be clarified by conceiving them to be a radicalization of the hermeneutic circle. The hermeneutic circle compels the historian to a continuous movement between the (documentary relics of the) past and the life-experiences of the historian himself. None of the two is, in itself, sufficient for a correct understanding of the past. A continuous movement between the object and the subject of understanding, where subjectivity is continuously corrected by objectivity and vice versa, enables the historian to achieve a continuous refinement of his understanding of the past. It is in this way that the meaning of the past can be approximated asymptotically, as it were. And so it is in RÜSEN'S „disciplinary matrix" describing both historical practice itself and the wider social and cultural context within which we account for our relationship to our past. Point of departure is the need of both the human individual and of human society to situate themselves in the flow of time in order to be capable of meaningful action at all („Orientierungsbedürfnisse"); this orientation on the past as the background 1
Robin G. Collingwood: The idea of history. Edited with an introduction by Jan van der Dussen, Oxford 1994,490-92. 2 An instructive example is Peter D. McClelland: Causal explanation and model building in history, economics, and the new economic history, Ithaca and London 1975, chapter 1.
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for meaningful action is guided by criteria of meaning („leitende Hinsichten auf die Vergangenheit"). It is only then that the rules codified within historical methodology („Regeln der empirischen Forschung") make their entrance: these rules determine how the evidence the past has left us can be tranformed into knowledge of the past. Next, RÜSEN emphasizes that historical knowledge must always be organized in the historian's text in agreement with certain forms for how to present the past („Formen der Darstellung") - here RÜSEN obviously subscribes to the narrativist thesis. Has historical knowledge been organized accordingly, it will have acquired the form enabling it to function as a compass for our orientation on reality („Funktionen der Daseinsorientierung"). But, lastly, this historical compass needs continuous refinement by historical research which makes us move again to the „Orientierungsbedürfnisse" - and in this way the whole circle will repeat itself again and again3. Secondly, we should take into account what RÜSEN primarily considers to be the domain of individual and collective human existence where these „Orientierungsbedürfnisse" should be situated, and where „Fachwissenschaft" and „Lebenspraxis", both require and complement each other. Quite at the end of his trilogy RÜSEN comes closest to answering this question. He argues there that Utopian thought customarily is what informs our ideals for a better and more just world. Furthermore, he considers Utopian thought to be an indispensable ingredient of our orientation on the future, but he goes on to emphasize that its defect has too often been to make us forget about the practical limits we should respect in our attempt to realize our political ideals, however lofty and well-intentioned these ideals may be. And this is where history comes in: „Das Geschichtsbewußtsein bringt in den Orientierungsrahmen der menschlichen Praxis die Erfahrung ein, die das utopische Denken um der Kraft der Hoffnung willen überspringt und außer Kraft setzt. Geschichtsbewußtsein dämpft also Erwartungsüberschüsse in Handlungsabsichten f...]."4 But the reverse is true as well, the fixation of historical meaning presupposes an Utopian background: „Die Sinnbildungsarbeit des Geschichstbewußtseins ist selber utopiebedürftig: Die Deutungsarbeit an der Erfahrung der Vergangenheit bedarf eines Anstoßes, der aus dem Intentionalitätsüberschuß des menschlichen Handeln über seinen Erfahrungshorizont hinaus herrührt."5 Consequently, the continuous oscillation between „Fachwissenschaft" and „Lebenspraxis" demanded by RÜSEN'S disciplinary matrix for historical writing will result in a mediation between Utopian ideals on the one hand and the practical constraints on responsible political action as presented by historical reality on the other. It will now be clear that R Ü S E N ' S historical reality must, above all, be a political reality. For this mediation between Utopian ideals and historical reality will necessarily make use of the language and the idiom of politics in order to articulate itself. Utopian thought primarily, if not exclusively, is a formulation of political ideals most often informed and sanctioned by a certain interpretation of the past. And it is therefore the political dimension of the past, or, at least those dimensions of it that permit of politicization, where history can enter the kind of dialogue with Utopian thought that 3
Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983,21ff. Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. GrundzUge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, 125. 5 Rüsen 1989,127.
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has in mind. Hence, if the question with which this essay began was what variant of historical writing is favored by RÜSEN's historical theory, it is political history that we should primarily think of. RÜSEN
3. Politics as the origin of modern historical consciousness Now, as we all know, much of twentieth century historical writing can be considered to be one long and sustained attack on political history, often taunted as the obsolete, arid and elitist legacy of RANKEan historicism. So the affinities of RÜSEN'S historical writing and political history may raise some eyebrows. But instead of agreeing with these contemporary critics of political history, I would rather see here one of the outstanding merits of RÜSEN'S historical theory. For in the first place we should realize, in agreement with RÜSEN'S own suggestions, that politics has been the domain where modern historical writing and historical consciousness originated and, furthermore, that it was politics to which we must turn in order to understand the major evolutions that historical writing has gone through in the course of its history. Like so many other defining characteristics of the modern Western world, modern historical writing came into being in the Italian Renaissance. Sixteenth century authors like MACHIAVELLI and GUICCIARDINI were most painfully aware of Italy's political misfortunes following the French invasion of 1494 and they desperately tried to find an explanation for this seemingly unending chain of catastrophes harassing the Italian peninsula and its helpless population since that fateful year. It was this desperate search for the causes of political disaster which, for the first time in human history, endowed the discipline of historical writing with a subject-matter successfully differentiating it from all other disciplines. For it compelled MACHIAVELLI, GUICCIARDINI e.a., to explain how a dismal reality could have come into being which, on the one hand, no Italian ruler could possibly have intended or wished for, but which, on the other, apparently was the logical and inevitable result of their ill-advised actions. In other words, their desperation about the disasters of contemporary Italian history put them on the hitherto unknown path of an investigation of the unintended consequences of intentional human action. In this way, they defined a domain of human inquiry that was completely new. For before them this sphere of potential historical meaning lying beyond human intentionality did not yet exist, let alone that human rationality was granted the quasi-God like capacity of being able to penetrate its secrets. Before them there was a universe of human actions that could merely be labelled as either pleasing or displeasing in the eyes of God; and from the then all-important point of view of human salvation this was all that could ever meaningfully be said about human action. There was no historical reality lying beyond this all-decisive dichotomy. The exclusive fixation on the individual human being's relationship to God left no room for this domain of the unintended consequences of intentional human action. It was in the hands of God (or of Fate) whether human action and its results would match, or not. Consequently, the Renaissance's urge to try to find an explanation for Italy's historical fate after 1494 meant in the first place an hitherto unheard of secularization of what used to be a divine secret. And, secondly, this secularization had to take the form of an investigation of the unintended results of intentional human action. The transgression of the limits of a moral assessment of human action thus gave us history. This is what we owe to MACHIAVELLI's daring attack on ethics as presented in
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his The prince and elsewhere. And where the social sciences, with their origins in natural law philosophy, feel much at ease with ethics, history has remained, down to the present day, our only academic discipline requiring us to transcend the narrow limitations of ethics6. In sum, if disciplines owe their identity to their subject-matter, we can assert that the writing of history only came into being thanks to a secularization of God's intervention in our world - a secularization that assigned to the historian the domain of the unintended results of intentional human action. And since it were the political realities of after 1494 that were of paramount interest to sixteenth century Italian historians, historical reality was for these historians primarily a reality formed and molded by political action. History essentially is the history of politics or, as HEGEL famously put it three centuries later: „Aber erst der Staat führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt". And, as he had argued elsewhere, it is the state, it is politics where we must discern the heart of all historical evolution, not only of politics itself, but of law, of art, of morality and of economy: „Dies Wesentliche nun, die Einheit des subjektiven Willens und des Allgemeinen, ist [...] der Staat. Er ist die Wirklichkeit, in der das Individuum seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist. So ist es der Mittelpunkt der andern konkreten Seiten, des Rechts, der Künste, der Sitten, der Bequemlichkeiten des Lebens."7 4. History and politics since 1494 is of interest in this context for several reasons. In his book on DROYSEN, his first major study, RÜSEN emphasizes that „ein gemeinsames Problem bei DROYSEN und HEGEL gegeben ist - das Problem 'Geschichte' im Kontext der emanzipativen bürgerlichen Gesellschaft." 8 Hence, both HEGEL and DROYSEN are striking illustrations of RÜSEN's claim of the continuous dialogue between Utopian thought (here, the emancipation of bourgeois social order) and history - and, therefore, of the transcendence of ethics by history. We could even argue that the different ways in which HEGEL and DROYSEN tend to deal with „the problem of history" are in complete agreement with RÜSEN'S disiplinary matrix. For whereas HEGEL'S philosophy of history presented us with a dialectic dynamic in historical reality itself, DROYSEN set out to define in his Historik the „Regeln der historischen Forschung" and in the book's famous chapter on „Topik" the „Formen der Darstellung" of all historical writing, to adopt the terminology of RÜSEN'S disciplinary matrix. Obviously this repeats RÜSEN'S thesis of how „Fachwissenschaft" and „Lebenspraxis" depend on and presuppose each other. Finally, in spite of the philosophical abstraction of HEGELian dialectics and of DROYSEN'S fascination for culture (think of DROYSEN'S introduction of the concept of Hellenism), both emphatically agreed in seeing in politics the natural and real subject-matter of history. HEGEL
MACHIAVELLI'S and GUICCIARDINI'S discovery of the dimension of the unintended consequences of intentional human actions has its nineteenth century counterpart in the 6
See Frank R. Ankersmit: Aesthetic politics. Political philosophy beyond fact and value, Stanford 1997, Introduction. Against ethics. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, vol. 1. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, 164, 111. 8 Jörn Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J.G. Droysens, Paderborn 1969, 16.
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historical thought of HEGEL, of DROYSEN and of most of their contemporaries. For the French Revolution that had started with the loftiest ideals but ended in an unparalleled series of political catastrophes, was even more suggestive of the tremendous power of these unintended consequences than Italian history since 1494 had been. It need not surprise us, therefore, that nineteenth century historical writing, being for the greater part an attempt to learn how to live with the traumatic realities of the French revolution, triggered much the same reactions as 1494 had done. And the result was both an intensification of historical consciousness - an intensification resulting in the birth of German historicism that still is the matrix within which the historical discipline operates - and a renewed emphasis on the privileged position of political history that had lost some of its natural preponderance because of the Enlightenment's experiments with the history of culture and of civilization. And we should not have expected otherwise. Speaking generally, for a proper understanding of each new phase in the history of historical writing, this new phase can best be explained by relating it to the political realities of the day, or of a recent past. But what about this almost unanimous attack on political history of our own time to which I referred a moment ago already? Now, what must strike the unprejudiced observer is that all this now so fashionable criticism of political history is invariably inspired by political idea(l)s. Are we not all acquainted with the traditional argument against political history, repeated ad nauseam, that we now live in a democratic age and therefore should no longer be interested in political history, that is, in the doings of kings, diplomats, generals etc.? Historical writing has to be democratized in the sense of focussing on the masses, on the humblest individuals, on how they lived, what they thought and on what were their fears, desires and daily experiences. This is the kind of argument that is customarily proposed in order to justify socio-economic history, the history of mentalities, micro-storie, „Alltagsgeschichte" etc. against the alleged historical myopia of political history. But, once again, this essentially is a political argument; and so the paradox is that it were political considerations in whose name the attack on political history was launched. Hence, contemporary, apparently non-political variants of historical wrting are no less a variant of political history than political history proper. The only relevant change that we may observe is that these new forms of historical writing have been inspired by different, more „democratic" political ideals. So, after all, MACHIAVELLI, GUICCIARDINI, HEGEL, DROYSEN - and RÜSEN - were right after all when arguing that all history is, in the end, political history. 5. Political representation But why is this so, we should now ask ourselves? Why are history and politics tied together so inextricably that the attempt to separate them will inevitably involve us in the kind of paradoxes mentioned just now? If we try to answer this question, we are welladvised to turn, first, to HOBBES'S Leviathan, that is commonly seen as the first manifest of modern political theory. In one of the most fascinating chapters of this book, HOBBES presents his readers with a definition of the person: „a PERSON, is he, whose words or actions are considered, either as his own, or as representing the words and actions of another man, or of any other thing to whom they are attributed, whether Truly or by
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Fiction." And HOBBES goes on to say that when the person owns his own actions, he will be called a ,JJaturall Person", whereas when his actions represent those of others, he will be a feigned' or ,^4rtiflciallperson". Using HOBBES'S terminology as proposed here, one might say that Leviathan essentially is a book on how the transition is made from natural persons to artificial persons. For in the state of nature we have only natural persons, whereas civil society also presents us, in the person of the sovereign, with an artificial person10. But this transition is necessary in order to create a political society and the state; even more so, it is exclusively thanks to this transition that both can come into being. Or, as HOBBES writes: „A Multitude of men, are made One person, when they are by one man, or one Person, Represented; so that it be done with the consent of everyone of that Multitude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that makes the Person One." So the state only comes into being when the multitude of isolated individuals is reduced to a unity, and it is the concept of representation that HOBBES explicitly employs in order to characterize the nature of this momentous transition. We may add to this the following from the perspective of our own contemporary democracies: surely, this reduction of a multitude into a unity can be observed for any form of government, whether it be a monarchy, aristocracy, democracy, or anything in between. Nevertheless, the kind of representative democracies that we presently have, selfevidently remain closest to the scenario sketched by HOBBES. For whereas a monarchy, or an aristocracy would require some additional measures in order to be the result of HOBBES'S scenario, representative democracy fits the bill without further specifications of the constitutional form of sovereign authority12. Hence, representative democracy, or representation as institutionalized in our modern democracies, is the form of government that is in natural agreement with how HOBBES accounts for the coming into being of the domain of politics. The two notions of politics and of representation are thus inextricably linked together. 6. Historical representation It is no different when we look at historical writing. Two arguments can be given for this structural similarity of politics and historical writing. In the first place, as has been argued by many historical theorists since HEGEL proposed his notion of „das konkrete Universelle", the historical representation of the past essentially is an attempt to discern a unity in a manifold of historical facts. The historian starts with an investigation of the sources that the past has left us; these provide him with the evidence for the individual statements that he makes about past reality. But out of all the statements that he could possibly make about the past, the historian selects precisely those that will maximally enable him to reduce the manifold of the past to a coherent unity. Illustrative here is what William WALSH described as „colligatory concepts", i.e. concepts like „the Renaissance" or „the Industrial Revolution", and that may give a sometimes unexpected degree of coherence to a large number of at first sight completely unrelated historical 9
Thomas Hobbes: Leviathan, London 1970, 83. To which it should be added that HOBBES is at pains to point out that the sovereign need not necessarily be a monarch. The function of the sovereign can also be performed by an assembly of men, as is the case with our modem parliaments. 11 Hobbes: Leviathan, 85. 12 See also note 10. 10
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phenomena . In the same way that, as was suggested by HOBBES'S argument, a political order can only come into being thanks to political representation so does what is historically represented owe its existence to historical representation . Representation is the logical operation that we need in in both cases in order to give more or less clear contours to either political or historical reality. A second, and more interesting argument to the same effect would run as follows. We observed above that modern historical writing came into being because of this awareness of authors like MACHIAVELLI and GUICCIARDINI of the dimension of the unintended consequences of intentional action. Two remarks are in point here. In the first place, this awareness should not be interpreted as of it were the discovery of a new domain of historical reality, in the way that, for example, „Alltagsgeschichte" could be said to be such a discovery. „Alltagsgeschichte", to continue this example, may give us an account of what it was like to live in a certain age; and in order to give us such an account the historian will have to focus on an aspect of the past that had always already been part of it - even before it captured the historian's interest. The object of „Alltagsgeschichte" simply belongs, so to speak, to the past's inventory. But this is not the case with these unintended consequences. The awareness of unintended consequences arose from a shift in the perspective from which the historian considers the past. That is, historians like MACHIAVELLI and GUICCIARDINI saw the past from a perspective that was explicitly different from that of the agents themselves: they had a more or less adequate notion of what were the intentions of the primary political agents in fifteenth and sixteenth century Italy and they observed, next, that the actions of these agents as inspired by these intentions often differed widely, or were even outrightly the opposite of what these agents had originally wished to achieve, of what their apparent intentions had been. So, MACHIAVELLI and GUICCIARDINI did not discover a new set of objects in the past that had been unnoticed before them. What they did was to link the intentions and actions of statesmen, politicians etc. to results that had not been intended by them. And this would have seemed to their Medieval predecessors a most absurd and perverse way of doing. For them you had statesmen, politicians etc., next, their intentions and their actions - and that was the end of it. Historical fate would then decide whether these agents would succeed in achieving their goals - or not, as the case might be. But to relate intentions to what had not been intended, would have been to the Medieval mind just as absurd as it would be to us, when someone would argue that if S knows that p, he may also know that not-p. Our present paradigm of knowledge still inspired Medieval man's paradigm of human action, so to speak. But now that MACHIAVELLI and GUICCIARDINI had, as historians, freed their perspective from that of the historical agent, 13 See William Walsh: Introduction to philosophy of history, London 1970. Similar views are defended in William B. Gallie: The historical understanding, New York 1968, Peter Munz: The shapes of time, Middletown 1977 and Louis O. Mink: Historical understanding, Ithaca and London 1987. In my Franklin R. Ankersmit: Narrative logic. A semantic analysis of the historian's language, The Hague 1983,1 tried to develop a formal justification of this conception of the nature of historical writing. 14 Which should not be taken to imply the absurdist thesis of the idealist that historical representation effectively creates the past; we should rather think of how a country only comes into being after people started to use its name. In a sense there was no France before that name came into use - but that does not imply that the very use of that name itself created rivers, hills, trees etc. See for an elaboration of this anti-idealist interpretation of historical representation Franklin R. Ankersmit: De macht van representatie. Exploraties Vol. II, Kampen 1996,166.
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these „absurdities" not only became thinkable but even, as we observed above, the very basis and heart of all historical writing. In sum, it was something on the side of the subject, something on the side of the historian - i.e. the possibility of this shift of perspective - and not something on the side of the object from which modern historical consciousness and modern historical writing was born. In the second place, these unintended consequences were most often unpleasant surprises, things that had better been avoided. Now, this datum can again be interpreted in two ways. One may argue that unintended consequences are sui generis unforeseeable and that, therefore, the discovery of this dimension of the unintended consequences could never have any practical implication for the politician and the statesman. But and that is the other possibility - this was not the lesson that Renaissance authors like MACHIAVELLI and (to a lesser extent) GUICCIARDINI were inclined to learn from their discovery of (the subject-matter of) modern historical writing. They were prepared to admit that no politician or statesman could ever succeed in completely avoiding all unintended consequences, but they were very much convinced that the recognition of the presence of this dimension of the unintended consequences is where all meaningful and responsible political action should begin with. Ignoring it will make the politician helplessly and fatally stumble over even the smallest obstacle lying in the way of the achievement of his aims and purposes. Or, to put it in the terminology so dear to the sixteenth century itself, only after we have been willing to recognize the immense powers of that so whimsical Goddess of Fortuna, can we hope that our virtu will enable us to restrain her harmful dominion within certain more or less acceptable limits. In sum, as this second argument makes clear, modern historical consciousness and our notion of responsible political action (i.e. action taking into account the possibility of unintended consequences) inextricably belong together. They have their shared basis in the logic of historical representation, in the recognition that social and political reality can not be reduced to the intended consequences of human (and political) action. Responsible political action always requires of the politician that he, minimally, asks himself the question how a future historian, from a perspective different from his own, might assess his course of action. The link between history and politics therefore truly is indissoluble - and we have every reason to agree with RÜSEN when his historical theory demands us to see it in this way. Historical writing is either directly, or indirectly the history of politics, or it is nothing. And all those historians and historical theorists who wish to deny this do not know what they are talking about. 7. The nature of representation I am well aware, of course, that this is a pretty strong and provocative thesis indeed, and that many people will vigorously contest it. Obviously, the linkage of politics and history as proposed here will have to be safeguarded against the arguments of these critics. When trying to do so below, I shall not deal with the well-known but uninteresting and ineffective argument that much, if not most of contemporary historical writing does not present us with the history of past politics. As I pointed out above, the turn away from the history of politics merely reflects our success in politicizing domains and aspects of human existence that previous generations of historians considered to be outside the sphere of politics proper. Socio-economic history, for example, reflects the extent to which we have succeeded in politicizing the details of the household; and we
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need only recall M A R X ' S political philosophy in order to be aware of the political presuppositions and of the political impact of this variant of historical writing. A far more interesting and alarming objection would begin with the observation that the notion of representation is the coping-stone in my argument and go on to demonstrate, next, that many theorists nowadays agree that a representation of reality is not possible. Especially authors that one may associate with postmodernism tend to cut in this way the ties between language (representation) and the world (the represented) and to conclude from this that the notion of representation suggests an unattainable and logically inconsistent ideal of a correspondence between language and the world. Hence, my whole argument could be shown to be built on philosophical quicksand. Before proceeding further, it will be necessary to make clear what is meant with this assertion that a representation of reality is not possible. Of course, nobody would deny that we have parliaments representing the people, works of art representing human beings or landscapes and historical texts representing parts of the past. It would be quixotic to do so. Hence, if the notion of representation is attacked, the attack could not be directed against attempts to represent reality (in politics, art and history); it therefore must rather have as its target the chances of success of all such attempts. Now, it is not easy to see what are the reasons for the common contemporary wisdom that all representation must fail. It seems to be an article of faith in circles of, predominantly, literary theorists rather than the result of a sustained and careful philosophical analysis. And in so far as the attack on representation is considered to be at all in need of elucidation, one is customarily reminded of the supposedly decisive arguments against it by authors such as RORTY (most often) or PUTNAM (sometimes). Thus, in his introduction to the collection Realism and representation. Essays on the problem of realism in relation to science, literature and culture, George LEVINE states: „Representation - a category disbarred from RORTY'S world where 'correspondence' between word and thing is a chimerical idea - figures importantly throughout the volume and not simply as object of critique."15 And certainly RORTY'S so-called „anti-representationalism" will be our best guide if we wish to get a grasp of what is involved in the nowadays so popular attack on representationalism. So let us now concentrate on that. As is suggested in the quote from LEVINE's introduction, the central role in RORTY'S argument is the notion of correspondence. We often say that a statement is true (or, to use the vocabulary in use here, that it gives a correct representation of the world), if and only if it corresponds to a state of affairs in reality. The statement „the cat lies on the mat" is true if and only if that statement corresponds to the state of affairs that the cat lies on the mat. But as RORTY, following pragmatists such as JAMES and DEWEY, correctly points out, there simply is no such third thing like correspondence, apart from language and reality. There is no such tertium quid, no such frame behind, and apart from language and the world, enabling us to establish that the right words are tied to the right part of the world. Language and reality are simply all we have. Hence, if the notion of representation is logically dependent on the notion of correspondence, we shall have to abandon the former together with the latter16.
15 George Levine: Realism and representation. Essays on the problem of realism in relation to science, literature and culture, Madison 1993,6. 16 Richard Rorty: Davidson, pragmatism and truth, in id.: Objectivity, relativism and truth. Philosophical papers Vol. 1, Cambridge 1991.
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As the foregoing suggests, when RORTY attacks representationalism it is the true statement that he has in mind. I shall not pronounce on the merits of this attack on correspondence explaining the truth of the individual singular statement (though I should add that RORTY'S rejection of the notion of correspondence as a neutral background enabling us to compare language and the world has convinced me). But the crucial datum is this. When using the notion of representation we rarely, if ever, think of (true) statements, but instead of works of art, political assemblies or historical texts (when taken as a whole and not as a long series of isolated true statements). And we may well doubt whether the way the true statement relates to reality is identical to how the work of art relates to a landscape or parliament to the electorate. In fact, it will be worthwhile to investigate the eventual differences between how the true statement and the representation respectively relate to reality. However, when doing so within the context of the present argument, we must bear in mind that our point of departure here has been RORTY'S discussion of the issue: it was his anti-representationalism, it was his argument against the possibility of a reliable representation that was at stake here. Selfevidently, when arguing against anti-representationalism, we must be sure about the exact nature of the argument that we are attacking. If not, our argument will have no proper target. The implication is, of course, that what follows need not necessarily be valid against anti-representationalist arguments that differ fundamentally from the one put forward by RORTY. But we shall have to live with this restriction on the scope or our argument against anti-representationalism. Now, as we saw a moment ago, the notions of correspondence and of the tertium quid functioning as a background for establishing correspondence were the object of RORTY'S attack on representationalism. These tertia (whatever their nature) allegedly enable us to move backwards and forwards between language (representation) and reality (the represented) in order to establish whether what we find on one level possesses its correct counterpart on the other. It was believed that this will explain truth. Now, it may well be that RORTY is right in rejecting this notion of the tertia for the true statement. But I wish to emphasize now that this whole idea of the tertia, whether defensible or not for the true statement, would make no sense at all with regard to representation, so that whatever one might conclude with regard to the plausibility of this notion could not possibly have any implication for the (plausibility of the) notion of representation. This will become clear if we ask ourselves what cognitive ideal is suggested by the tertia. Obviously, this ideal must be that nothing at one level does not also possess its counterpart at the other. Equally obviously, the ideal will forever be unattainable because of the categoric difference between language and reality. As long as we remain convinced that such a categorical difference exists - and I would not know under what circumstances we might be prepared to abandon this conviction - we can be sure that this ideal can never be realized. For the ideal could only be realized if this categorical difference between language and reality would have been eliminated in one way or other. If, then, this is the ideal behind the notion of truth (and of representation), we can only agree with RORTY that we had best abandon these conceptions of truth and representation. However - and this brings us to the essence of the matter - whatever may be the case with truth, this emphatically is not the cognitive ideal that is suggested in, or by the notion of representation. In order to see this, we should first realize that this cognitive
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ideal will require that the represented and its representation are the same for each description that we might give of them. For this is what correspondence demands to be the case: in case any description of the represented would be false for its representation (or vice versa), there would be no correspondence between the represented and its representation. Hence, correspondence and the cognitive ideal suggested by it, would require the kind of relationship between the represented and its representation demanded by LEIBNIZ'S Law of identity (i.e. the law that two things are identical if and only if they are identical under each description of the two). But this is at odds with our notion of representation. As Nelson GOODMAN already pointed out long ago: „An object resembles itself to the maximum degree, but rarely represents itself."17 And think of the representation of reality in the arts: it would be a most naive view of aesthetic representation to require the work of art to satisfy LEIBNIZ'S Law. Or, as Virginia WOOLF reportedly said somewhere: „Art is not a copy of the world, one of the damn things is enough". What makes art interesting, what made the evolution of art possible, is precisely this indeterminacy in the relationship between art and reality. And if this is true about aesthetic representation, it is no less true of political and historical representation. 8. Representation in politics and in historical writing Let us start with political representation. Nothing could be more instructive here than how ROUSSEAU in his discussion of political representation succeeds in paradoxically demonstrating precisely the reverse of what he wanted to demonstrate with his argument (a perfect example, I would say, of an unintended consequence in the realm of thought). When writing against the theatre ROUSSEAU already showed his Platonist distrust of art and aesthetic representation18, so it need not surprise us that ROUSSEAU was a staunch critic of political representation. And, indeed, in his Du contrat social ROUSSEAU writes about political representation the following: „La souverainete ne peut etre reprösentöe, par la meme raison qu'elle peut etre εΐίέηέε; eile consiste essentiellement dans la volonte gendrale, et la volonte ne se represente point: eile est la meme, ou elle est autre; il n'y a point de milieu."19 If we carefully analyze this obiter dictum, we must conclude that ROUSSEAU'S argument is not so much an argument indicating what requirements political representation has to satisfy, but rather an argument against all representation. Within ROUSSEAU'S conception of it political representation simply is impossible: for either we have something that looks like it, but this will be, on closer inspection, be the represented itself (i.e. the sovereign people) all over again; or it is different from the represented (people), but then we are confronted with a perverse lie. And that means the end of the notion of (political) representation. Hence, we may observe here how RORTY and ROUSSEAU, bien etonnes de se trouver ensemble, present us with precisely the same kind of argument against (the possibility of) representation. But a mere twelve years after ROUSSEAU'S dismissal of political representation, Edmund BURKE took a quite different view of the nature of political representation. After his election to Parliament in 1774 BURKE wrote in the letter to his constituents in Bristol the following: 17
Nelson Goodman: Languages of art. An approach to a theory of symbols, Indianapolis 1976,4. For an exposition of ROUSSEAU'S relevant ideas and for why we should prefer Diderot's views of the theatre, see Franklin R. Ankersmit: De macht van representatie. Exploraties Vol.11, Kampen 1996, chapter 4. 19 Jean Jacques Rousseau: Du contrat social, Paris 1962,301, 302. 18
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Frank R. Ankersmit „Certainly, Gentlemen, it ought to be the happiness and glory of a representative to live in the strictest union, the closest correspondence, and most unreserved communion with his constituents. Their wishes ought to have great weight with him; their opinions high respect; their business his unremitted attention. It is his duty to sacrifice his repose, his pleasure, his satisfactions, to theirs, and above all, ever, and in all cases, to prefer their interest to his own. But his unbiased opinion, his mature judgment, he ought not to sacrifice to you, to any man, or to any set of living men. These he does not derive from your pleasure, - nor from the law and the Constitution. They are a trust from Providence, for the abuse of which he is deeply answerable. Your representative owes you, not his industry only, but his judgment; and he betrays, instead of serving you, if he sacrifices it to your opinion."
It is made admirably clear in this eloquent statement that the identity of represented and representation, of the voter and his representative on which ROUSSEAU had insisted so much, ought to be rejected according to BURKE. For BURKE the representative, after his election, possesses a responsibility of his own that he may never delegate, or surrender to his voters. It is his conception of the common good, and not that of his voters, that must guide him in his political decisions. So in a representative democracy the mere datum of a difference between the voter and the representative would be an insufficient argument against adequate political representation. Even more so, it can be argued that from the possibility of this difference the unparalleled political creativity of representative democracy originates21. Having a common origin in the socio-political matrix of sixteenth century Italy and post-revolutionary Europe, it need not surprise us that the representation of the past in modern historical writing presents us with much the same picture. For no less than political representation do we expect, or even demand of historical writing to present us with an exact copy, or mimesis of the past. And here too we should avoid seeing this as an inevitable shortcoming of historical writing, but rather as an indication of what we actually have historical writing for. RÜSEN is quite emphatic about the weaknesses of the (RoussEAUistic) copy theory of historical representation, as may become clear from the following quote: „Historical knowledge is constituted by specific interests, and these interests can be explicated as interpreted needs for temporal orientation. And in order to interpret what these needs are, you require criteria or ideas. These interests lead to questions or views of the past in order to understand the present. It is done by - what I call - leading ideas. These perspectives have now to be 'filled' ^ i t h empirical evidence, which is guided by methods and the rules of empirical research."
As this quotation makes clear, we must abandon the RANKEan ideal of a knowledge of the past „wie es eigentlich gewesen" with regard to „historical knowledge" as understood by RÜSEN, since all historical knowledge requires these specific interests in order to be possible at all. And, selfevidently, the presence of the dimension of these specific interests necessarily entails a rejection of the RANKEan ideal. Furthermore, it should be observed that RÜSEN explicitly speaks here about these specific interests as constituting historical knowledge and that he does not say that we first have historical knowledge and that only then this knowledge is processed in some way or other by these specific interests. RÜSEN'S formulation makes clear that we should not discern here two phases: for him these specific interest are as much part and parcel of all 20
Edmund Burke: Speech at the conclusion of the poll, in: id.: The works of Edmund Burke. Vol.VII, Boston 1866, 95, 96. 21 Franklin R. Ankersmit: Macht door representatie. Exploraties Vol.III, Kampen 1997, chapter 6. 22 Jörn Rüsen: Studies in Metahistory, Pretoria 1993, 53, 54.
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historical knowledge as for KANT the categories of the understanding could never be isolated from the knowledge we have of the phenomenal world. It follows that a theoretical reflection on the nature of historical knowledge as such already requires us to abandon the RANKEan ideal. So RÜSEN'S position should not be (mis-)construed as if he intended to say that, first, we all know what ideally historical knowledge would have to be like, but, second, why this ideal will always remain unattainable. RÜSEN sidesteps this subjectivist or relativist adaptation of the RANKEan ideal by subsuming these specific interests in the very notion of historical knowledge itself. And, once again, if we were to replace the notion of knowledge by that of representation, we must conclude that the difference between the represented and its representation is not a sad shortcoming of representation that we unfortunately shall have to live with, but that this difference is essential to all representation as such. Without this difference, i.e. in the case of the identity of the represented and its representation, we no longer could speak of representation at all (as GOODMAN already so perspicaciously pointed out). There is one last element in the quote from RÜSEN that deserves our attention. Perhaps the best known view of the nature of aesthetic representation is the one presented by GOMBRICH in his Meditations on a hobby horse. The following quote from GOMBRICH'S argument is of interest here: „In many cases these 'images' represent in the sense of 'substitution'. The clay horse or servant buried in the tomb of the mighty takes the place of the living. The idol takes the place of the God. [...] Can our substitute take us further? Perhaps, if we consider how it could become a substitute. The 'first' hobby horse (to use eighteenth century language) was probably no image at all. Just a stick which qualified as a horse because one ^ u l d ride on it... The tertium comparationis, the common factor, was function rather than form."
If we now recall that within RÜSEN'S disciplinary matrix for historical writing a crucial role was assigned to „Daseinsorientierung", this obviously is the „function" RÜSEN would like to give to historical knowledge - or to historical representation. Historical knowledge essentially is practical knowledge in the sense that it may, or rather, should help us in our effort to find our way about in socio-historical reality. So if in the writing of history the represented and its representation will necessarily differ, the explanation is that historical writing has the function of presenting us with a practical knowledge of socio-historical reality. And, equally obviously, this is what makes all historical writing so intimately related to the domain of politics. Our modern conception of politics and our modern historical consciousness are the two sides of one and the same medal and, once again, we must conclude that all history is the history of past politics, or it is nothing. 9. Conclusion I come to a conclusion. Our contemporary postmodernist age, as exemplified by RORTY'S SO immensely influential attack on representationalism, rejects the idea that an adequate representation of (historical) reality is possible. In a certain sense, we may agree with this anti-representationalism. It is true that knowledge (or representation) and 23
Ernst Gombrich: Meditations on a hobby horse, in: Morris Philips (Ed.): Aesthetics today, New York 1980, 175. GOMBRICH'S view of representation was anticipated already by BURKE: „Hence we may observe that poetry, taken in its most general sense, cannot with strict propriety be called an art of imitation. [...] But descriptive poetry operates chiefly by substitution·, by the means of sounds, which by custom have the effect of realities". See Edmund Burke: A philosophical enquiry into the origins of our ideas of the sublime and the beautiful, Oxford 1992, 157.
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reality (or the represented) will always differ. It is true, furthermore, that there are no tertia comparationis that will ever permit us to establish, or to observe a complete correspondence of knowledge and reality. But it would be wrong to discern in this mere datum a sufficient argument against representationalism. For, as we have seen in this essay, we sin against the very logic of representation when requiring this correspondence (however defined) of the represented and its representation. For that they differ, that no such correspondence can or will ever be achieved, is precisely what is an essential part of the notion of representation. Next, the difference between the represented and its representation may take on many different forms. And no exhaustive list of the nature of these differences could ever be made. For if we would possess such a list, this list would enable us to eliminate these differences. Similarly, if we would know where the meaning of words in one language may differ from those in another, precisely this knowledge would enable us to achieve both a complete identity of meaning and a perfect translation from one language into another. But as GOMBRICH taught us so many years ago already, all we can say is that function is responsible for these not only inevitable, but also so welcome and aesthetically creative differences. These differences are not regrettable shortcomings of representations, but precisely what we do have representation for. And it was from the perspective of this question of function, that we have been able to discern the close relationship of history and politics. We have every reason to be grateful to RÜSEN to have reminded us once again of this relationship - for this is a truth that we tended to forget somewhat these last few decades.
Allan Megill Does Narrative Have a Cognitive Value of Its Own? I Does narrative have a cognitive value of its own? Two answers suggest themselves: yes, and no. Yes, narrative does have its own cognitive value. The truth in question resides in the form of narrative: in Louis MINK'S words, „the cognitive function of narrative form [...] is [...] to body forth an ensemble of interrelationships [...] as a single whole." This „bodying forth," MINK holds, makes us aware of things that would otherwise be inaccessible to us. In M I N K ' S view, because narratives „express their own conceptual presuppositions," they are „our most useful evidence for coming to understand conceptual presuppositions quite different from our own." For example, we best understand the Greek idea of Fate through the plots of Greek tragedy, given that the Greek idea of Fate „was never explicitly formulated as a philosophical theory and [...] is far removed from our own presuppositions about causality, responsibility, and the natural order."1 An objection can be raised to MINK'S claim here: namely, how can we know, from any particular narrative, that the conceptual presuppositions that we discern in the text were in fact held by persons in the world existing outside the text? In fact, the narrative itself cannot provide this knowledge. But I do contend that narrative's „bodying forth" of relationships and its „expressing" of conceptual presuppositions need to be taken as truthful in the sense that, even if our only evidence for some sort of commitment to these presuppositions lies in one narrative and in one narrative alone, we need to acknowledge those relationships and presuppositions as possible ways of making sense of the world. In other words, narrative makes available to us an image of the world that has to be acknowledged as an image of the world precisely because it can be derived from the narrative. By virtue of the narrative's existence we know that the image or images of the world that it embodies likewise exist. But the opposite answer is also true. No, narrative does not have a cognitive value of its own - it does not carry its own truth with it. The truth of narrative always needs to be justified by evidence outside narrative. The plausibility of a narrative - which we can conceptualize as the sum of (a) its coherence as a story and (b) its apparent non-contradiction with the world outside the story - is not the same as its truth. In other words, a story that is „a good story" and that is not manifestly contradicted by anything that we currently know about the world may well be untrue. The „no" answer - that is, the claim that narrative does not have a cognitive value of its own - is the one that is likely to be offered by the experienced and disabused judge, who time and again has heard testimonies that turn out to be false, and who in consequence does not believe a story simply because it is both internally coherent and non-contradictory with the world as it appears at the moment. Such a judge knows that a story may be coherent, and may also seem not to be contradicted by the world outside the story, and yet on closer inspection one finds that it is false. The „no" answer, in its skeptical attitude toward the beautiful illusions of narrative, is the more prosaic answer, and consequently the less interesting one. Not accidentally, for 1 Louis O. Mink: Narrative Form as a Cognitive Instrument, in Mink: Historical Understanding, ed. Brian Fay etal., Ithaca 1987, 182-203, at 198 and 186.
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most historians it is surely the more obvious and compelling answer. „No" is the answer more acceptable to historians, because it pays attention to minute particulars - that is, to the specific facts and contexts that historians, when they are doing their job as it is conventionally done, most directly attend to. The „yes" answer is less acceptable to historians, so it seems to me, because narrative form, in which the alleged cognitive value of narrative resides, connects with entities that historians are less well attuned to, given the empirical and largely untheoretical bent of their discipline. The „form" of narrative connects with totalities rather than with particulars: it connects with views or perspectives. Perspectives are often unnoted by those who entertain them, having the status of unconscious assumptions. This is all the more so when it is a matter of considering the investigator and the context out of which he or she comes, for the interpretive perspective of the investigator will often be the one thing that is left out of the investigation. Hence historians rarely address in any active and critical way how the descriptions and explanations of particular segments of the past that they offer are themselves (in part) products of their present standpoint. It seems clear, then, that both answers to the question, „Does narrative have a cognitive value of its own?," are true. It also seems clear that the relation between the two answers is not symmetrical, for they occupy different conceptual territories. To say that narrative has a cognitive value of its own is to evoke totalities, rather than minute particulars. To adhere to the „yes" answer is thus to see historiography as aimed primarily at confirming or modifying people's way of looking at and acting in the world. Conversely, to adhere to the „no" answer is to see historiography as aimed primarily at offering specific, justified descriptions and explanations of past reality, not at confirming or modifying people's „structure of historical consciousness," to use M I N K ' S term2. In this paper I explore and criticize the „yes" answer. I start out from the conviction that historiography's role in helping to configure our way of seeing and living in the world is indeed an essential role (falling under the heading of what I call „interpretation")3. The „yes" answer embraces the indubitable fact that historiography is connected to the time of the historian and her readers as well as to the time that the historian investigates. The „no" answer embraces the recognition that the historian is under an obligation to make descriptive and explanatory statements that are true about the past. But the statements in question are situated within an interpretive framework connected to the present. Thus the „yes" answer is the answer that is more broadly true. Yet having said this, I also have to note that the „yes" answer not only offers a bow to narrative but also invites critical reflection about it. Hence my concern here is with the epistemological limitations of narrative. Narrative qua narrative has a seductive power that tends to carry the listener and reader along in the very telling of the story. In the cognitive domain this power, which is aesthetic in character, becomes problematic. People can tell stories for all sorts of reasons, and many of those reasons have nothing to do with the work of finding historical truth. In view of the aesthetic fact that narrative qua narrative tends to satisfy us as human beings, lies and self-deceptions are easily given a pleasing form. The pleasing form of narrative tends to lend it a cognitive weight that it does not deserve. 2
Mink: O n the Writing and Rewriting o f History, in: ibid., 8 9 - 1 0 5 , at 91. 1 argue in Recounting the Past: 'Description,' Explanation, and Narrative in Historiography, in: American Historical R e v i e w 9 4 ( 1 9 8 9 ) , 6 2 7 - 5 3 , that historiography has four essential tasks - description, explanation, argument or justification, and interpretation. 3
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Since the publication in 1973 of his Metahistory, the name of Hayden W H I T E has been at the center of a great deal of discussion among philosophers of history4. In the present paper I do not propose to engage in debate over W H I T E ' S specific claims, which involve the bringing about of a rapprochement between history and fiction. Rather, what I am interested in here is the fact of that discussion, for the wide (if disputed) notice that W H I T E ' S work has received among persons interested in theoretical issues in historiography is itself indicative. What it indicates is a considerable recognition at the present moment of the aesthetic power of narrative (and of related literary forms), and a recognition also that there are unresolved theoretical questions that arise therefrom. If historians and theorists of historiography were not in some degree already persuaded that narrative has, for good or ill, its own compelling force, they would have had little reason to be interested in W H I T E ' S work. And yet the character and implications of that compelling force have been little understood. In the present context I mean, by „narrative," an account that is chronologically ordered and has a recognizable beginning, middle, and end. This classic definition is deceptively simple, and in consequence two clarifications are in order. First, there is the question of chronological ordering. As structuralist theorists of narrative have taught us, the events of a narrative are not always told in strict chronological order: on the contrary, all sorts of backtrackings and foretrackings are permitted on the level of the telling of the story (the level of „discourse," as structuralist narrative theorists call it). The important point is that, beneath the level of „discourse," the reader can discern a chronologically ordered „story"5. Second, just as narrative does not usually follow strict chronological order but diverges from that order in greater or less degree, so too there is an insufficiency or divergence in the categories of beginning, middle, and end. For it is clear that often (perhaps even usually) beginning, middle, and end are not totally present in the text. One or more of them may be largely (perhaps even entirely) missing: for example, a narrative may well lack a clear beginning or a clear ending. Consequently, the claim is not that all three need to be present for a narrative to exist. The claim is rather that, whether entirely present or not, each of the three elements can be projected from what is present in the text. Accordingly, a truncated or fragmentary narrative can nonetheless still be regarded as a narrative. Beginning as early as the 1930s, some commentators have suggested that narrative is in one way or another passe, perhaps even in a condition of crisis. Narrative has been seen as threatened by the conditions of modern life; it has also been seen as beneath the level of genuinely scientific knowledge. To consider in detail the question of the alleged crisis of narrative is beyond the scope of the present paper, but a few comments do need to be made, for narrative's alleged crisis is certainly relevant to the question of its relation to truth6. 4
Hayden White: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe; Baltimore 1973. 5 The story/discourse distinction (rendered in some early narcological texts as a distinction between fabula and sjuzet) is of course canonical in structuralist narrative theory. For one famous articulation, see Boris Tomashevsky: Thimatique, in Thöorie de la littirature, ed. Tzvetan Todorov; Paris 1965, 263-307. 6 For a brief survey of the literature questioning the narrative imagination, see Richard Kearney: The Crisis of Narrative in Contemporary Culture, in: Metaphilosophy 28,3 (1997), 183-95, especially 183-87.
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A good place to start is with the alleged crisis of „grand narrative" {grand recti). A „grand narrative" is an account that purports to be the authoritative account of history in general; to this notion one can add the closely allied notion of „master narrative," which is an account that purports to be the authoritative account of some particular segment of history - say, the history of a nation. Famously, Jean-Franfois L Y O T A R D argued in The Postmodern Condition (1979) that ours is an age of „incredulity" toward „grand narrative." By this he meant that the cultural authority of the unified history of humanity that Westerners once accepted more or less implicitly has been profoundly shaken. In the nineteenth century it was still easy to believe that there was a unified history of humanity that had freedom, cultivation {Bildung), or some combination of the two as its telos; by the late twentieth century this belief was much more difficult to sustain7. But note that, however threatened grand narrative may be, this does not amount to a calling into question of narrative tout court. Indeed, it may well be that in the absence of a „master" or „grand" narrative that would make sense of our nation or of humanity in general, human beings are all the more driven to tell petits recits in order to make sense of their own individual situations8. Perhaps the presence of a grand or master narrative actually relieves people in some degree of the need to narrate their own situations. For example, taking the Christian salvation story as the guide for one's life, individuals or groups might well feel no overwhelming compulsion to invent and disseminate particular life-stories of their own. One can plausibly hypothesize that it is most especially in the absence of „grand" or „master" narratives that people are driven to „narrativize" their own situations - that is, to invent life-stories as a means of making sense of who they are. In other words, my claim here is that the question of whether any single narrative is generally accepted as authoritative really has no close connection to the question of whether narrative in general is in crisis. Grand narrative can be cacophonously denied by the hybridity and variety of a culture, while narrative itself, in the form of a multitude of petits recits, flourishes. Or, it could be argued that all narrative, not just grand narrative, is in crisis. In part, this seems to have been L Y O T A R D ' S argument in The Postmodern Condition, for he there describes a movement from a situation in which one or another narrative legitimizes a society and its various institutions, to a situation in which the „performativity principle" - in other words, the optimization of a system's performance - is what offers legitimacy9. Looking at the literature more generally, one finds that narrative has been thought to be threatened both practically and theoretically. On the practical level, it has been seen as threatened by the linked realities of technology and bureaucracy. One writer who, early in the game, argued that technology threatens narrative was Walter BENJAMIN, who in The Storyteller (1936) suggested that the transmission, within communities, of inherited stories, myths, legends, and the like is being replaced by the more anonymous and instantaneous transmission of information; in the 7
Jean-Franfois Lyotard: The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, Minneapolis 1984, XXIII to
xxiv. 8
Pierre NORA makes an analogous point with regard to memory (an existential phenomenon that is closely related to the literary phenomenon of narrative): „The less collective the experience of memory is, the greater the need for individuals to bear the burden, as if an inner voice were needed to tell each Corsican 'You must be Corsican' and each Breton 'You must be Breton',, (see Nora: General Introduction: Between Memory and History, in: Realms of Memory: Rethinking the French Past, vol.1: Conflicts and Divisions, N e w York 1996, 1-20, at 11. 9 Lyotard 1984, 46-47, 67, and passim.
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same year, in „The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction," he argued that mechanical reproducibility removes the artwork from „the domain of tradition" within which it formerly resided10. Computer databases are often seen as having precisely this sort of infinite reproducibility; and a problem is also raised by the sheer mass of preserved information, which is so great that it is hard to imagine how it could ever be put into the coherent form of narrative". As for bureaucracy, its commitment to universally applicable procedural rules tends to departicularize the individual and to make irrelevant her (his) attempt to offer a justification of her claims by a recounting of her own story. K A F K A ' S Trial brilliantly exemplifies this point: The Trial could not have been better couched to make clear the irrelevancy of Josef K's story to his fate (one must of course understand that the „court," in The Trial, is actually a caricature of a bureaucratic tribunal, and not a court as understood in the Anglo-American judicial system). Anyone who has had to deal with extremely large governmental agencies, for example in the United States, will grasp the anti-narrativist impulse that permeates such institutions - for the determining factor, where a depersonalizing bureaucracy holds sway, is the fit of the individual to a particular bureaucratic category. For example, if the individual is a foreign professor for whom a university wants to obtain a „green card", the university might well find itself having to prove that the professor fits the category of „outstanding professors and researchers." In such instances, unless the individual's story can be made to serve the purposes of classifying him or her, the story is irrelevant. Further, in the American bureaucracy, it is said, „government workers rarely read beyond the second page"12. Compression of this degree makes narrative exposition difficult to sustain13. As for the theoretical attack on narrative, it appears in two opposing forms. One form of theoretical attack emanates from positivism. Here, an insistence on the necessity and importance of universal laws and theories leads to the manifest rejection of narrative. This „scientistic" form of anti-narrativism was articulated explicitly by the logical empiricists. Although long dead as a position in philosophy, logical empiricism considerably influenced the methodology of the social sciences, and its insistence that only laws and theories are truly scientific continues to hold sway in vast areas of the social sciences today. The basic claim is that science should speak the language of law and theory, not the language of narrative. One thinks especially of Carl HEMPEL'S account of the cracking of a car radiator on a cold night: the account is resolutely non-chronological, consisting instead of statements of initial and boundary conditions combined with statements of empirical laws'4. 10 Walter Benjamin: The Storyteller: Reflections on the Work of Nicolai Leskov; and: The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction, in: Benjamin: Illuminations, ed. Hannah Arendt, New York 1969, 83-109,217-51. 11 On the latter point, see Pierre NORA'S discussion of „archival memory" in Nora 1996, 1-20, especially 8-11. 12 Letter from Associate Director, Office of International Affairs, University of X, USA, to A. Megill, dated February 3, 1998, asking for a letter supporting the visa application of Professor Y. Beyond KAFKA, Max WEBER remains the classic writer on bureaucracy. But for a more empiricallyfounded and up-to-date view than WEBER'S, see Theodore S. Porter: Trust in Numbers: The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1995, who shows the workings of a „mechanical" objectivity focused on the creation of uniform statistical categories that are then represented in questionnaires and tables. 14 See Carl G. Hempel: The Function of General Laws in History, in: Journal of Philosophy 39 (1942), 35-48; reprinted in: Theories of History, ed. Patrick Gardiner, New York 1959, 344-55, at 346.
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A second form of theoretical attack on narrative derives from entirely different preoccupations. In this second form of attack, the continuity of narrative is seen as the villain: for by portraying an entity as having a sustained existence over time, it is said, narrative confirms the authority of that entity. In short, here narrative is rejected on the grounds that it serves to justify the central subject of the narrative. The argument is in some ways fundamentally Nietzschean, resonating to NIETZSCHE'S claim in Human, Ail-Too Human ( 1 8 7 8 ) that „the whole of teleology is constructed by speaking of the man of the last four millennia as of an eternal man towards whom all things in the world have had a natural relationship from the time he began"15. But NIETZSCHE never raised discontinuity to an explicit principle. It became such only in the twentieth century - most famously with FOUCAULT, whose Archaeology of Knowledge ( 1 9 6 9 ) presents itself as, among other things, an attempt to formulate „a general theory of discontinuity" to put up against the „continuous history" that is „the indispensable correlative of the founding function of the subject"16. One thus finds an array of attacks (or alleged attacks) on narrative. Yet neither the technological attack, the bureaucratic attack, the scientistic attack, or the anti-continuist attack is as threatening as it appears at first glance. On the contrary, time and again narrative returns, reappearing even in those situations where it seems most seriously threatened. Speaking speculatively and relying on evidence of a somewhat scattered and anecdotal character - for a detailed study is not possible here -, one is able to suggest something of the character of that return. Consider, firstly, the supposed attacks on narrative that are seen as arising from a practical level. Technologically, we do appear to live - as LYOTARD suggested - in „computerized societies"17. It is likewise true that digital technology most often manifests itself in non-narrative ways. For example, in a computerized database information is not organized narratively. Similarly, the Web makes information available to us within a vast multitude of separately branching and rebranching paths: there is no single line, and the lines that do exist are in any case not chronologically ordered. Yet what is striking is the degree to which people seem driven to construct narratives out of scattered bits of information. Consider again the Web. It contains hundreds of thousands of homepages: the most thoughtful of these often include narratives that people have constructed of their lives. The Web has also been the matrix out of which conspiracy theories have been constructed - for example, the alleged conspiracy to suppress the alleged fact that Trans World Airlines Flight 800 was shot down by the United States Navy. A conspiracy theory, of course, is nothing other than a tightly-ordered narrative. Similarly, when confronted by the bureaucratic order of the modern state, people do in fact try to tell stories about themselves in an attempt to show that specific bureaucratic rules either apply or do not apply to their case. As for the theoretical attack on narrative, neither its positivistic nor its anti-continuist version is as opposed to narrative as seems at first glance. In each case, would-be antinarratives are easily reconstrued, by little more than a twist of the kaleidoscope, as narratives after all. For example, HEMPEL offers an account of what led to the cracking of the radiator via a series of singular statements, such as „The car was left in the street 15
Friedrich Nietzsche: Human, All Too Human: A Book for Free Spirits, Cambridge 1996, vol.1.1, Of First and Last Things, § 2, p. 13. 16 Michel Foucault: The Archaeology of Knowledge, New York 1972, Introduction, 1-14, at 12. 17 Lyotard 1984, 3.
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all night," and another series of general statements, such as „Below 32° F., under normal atmospheric pressure, water freezes." But although on the level of discourse the account is certainly not a narrative, readers can readily construct these statements as a narrative, discerning the story behind the discourse. And this is what readers in fact do. It is the same with the anti-continuist attack on narrative. Consider FOUCAULT'S account, in The Order of Things (1966), of the succession of epistemes, or systems of knowledge, in the West - Renaissance, „Classical," modern or „humanist," post-humanist. Notoriously, FOUCAULT claims that the movement from one episteme to the next has the character of a radical and inexplicable „mutation"18. In short, he denies any sort of narrative continuity: but the reader constructs a narrative nonetheless, one emphasizing discontinuity rather than continuity. In brief: it seems that narrative always returns, even when it is under the most severe attack. The repeated return of narrative suggests something of the power of narrative as a mode of organizing our perception of the world. It appears that human beings are constituted in such a way that, in orienting themselves to the world, they come back again and again to narrative. This is a point on which all, or almost all, theorists of narrative appear to agree. Roland BARTHES, for example, in his influential Introduction to the Structural Analysis of Narratives claimed that narrative is „intentional, transhistorical, transcultural: it is simply there, like life itself." Although dramatically different from BARTHES in many ways, Paul RICOEUR, in Time and Narrative, makes almost the same point: „I see in the plots we invent the privileged means by which we re-configure our confused, unformed, and at the limit mute temporal experience." „Storytelling is the most ubiquitous of human activities," MINK notes. W.B. GALLIE, for his part, emphasizes the „followability" of stories, and clearly sees people as having a natural desire to be carried along by the stories that are told. Finally, White rightly points out that „to raise the question of the nature of narrative is to invite reflection on the very nature of culture" - for the impulse to narrate is so „natural" that „narrativity could appear problematical only in a culture in which it was absent." Hence, „narrative and narration are less problems that simply data"19. Our examination here of a crisis of narrative that turns out not to be a crisis underscores this point.
18 See, for example, Michel Foucault: The Order of Things: An Archaeology of the Human Sciences, New York 1970), ΧΧΙΙ-ΧΧΙΙΙ, 42-43, 250-53, 386-87. 19 Roland Barthes: Introduction to the Structural Analysis of Narratives, in: Barthes: Image, Music, Text, New York 1977, 79-124, at 79; Paul Ricoeur: Time and Narrative, vol.1, Chicago 1984, XI; Mink 1987, 186; W.B. Gallie: Philosophy and the Historical Understanding, New York 21968 [1964]), especially Chapter 2 What is a Story?, 22-50; and Hayden White: The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in White: The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987, 1-25, at 1.
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III Narrative's „ubiquity" - its uncanny capacity to return from the dead, its aesthetic and persuasive force as a way of making sense of the world - brings us back to the central problem of this essay: Does narrative have a cognitive value of its own? Narrative's ubiquity returns us to that question by underscoring the question's importance. As noted above, one can answer both „yes" and „no" to the question: at the empirical level, no; at the level of interpretive wholes or totalities, yes, for narrative bodies forth a view of the world, or a way of being in the world, that, if it did not exist before the narrative manifesting it, comes into existence by virtue of that narration. Why does narrative continually return, even when it is programmatically refused? Why is narrative „natural" to human beings? The answer seems clear: narrative is intimately connected with the processes by which individuals and groups make sense of themselves - even define themselves. When we speak of such self-definition, there immediately enters into play something that is closely connected to narrative and that habitually manifests itself in narrative form, namely, memory. Under these circumstances, the question of the relation of narrative to truth resolves itself into the question of the relation of memory to truth. We can think of the truth in question as primarily an identityrelated truth, a truth that will sometimes converge with and sometimes diverge from another kind of truth that we can think of as a world-related or intersubjective truth. In situations where the account of the past that memory offers is unchallenged by a contrary account, and where we have no particular reason to doubt memory, we customarily take the truth-claims of memory pretty much at face value. Under such circumstances, we may more or less identify memory with (true) history; we may find ourselves speaking, regretfully, of a Defizit an Gedächtnis, when what we really mean is a Defizit an Geschichte20. But what is striking at the present historical moment is the extent to which memories stand in conflict with each other. Just as the solidity of a particular field of expertise is called into question when representatives of that field contradict each other in the courtroom, so the solidity of memory is called into question when different memories conflict. This amounts to saying that the truth of the narratives by which these memories are manifested is called into question. Or to put the matter another way: identity-related truth finds itself called into question by world-related truth. What I believe must be avoided at all costs is a romanticization of memory - which amounts to a romanticization of identity-related truth. The temptation is to take at face value the narratives that issue from memory. To be sure, where the mind in question is rational and attentive, the divergences may be slight between an account of the world narratively recollected by that mind and an account of the world constructed critically out of Überreste and Quellen. But the mind is not always rational and attentive, and when the deepest desires of individuals or groups are tied up with some particular image of the past, the matter becomes even more difficult21. In many situations today, memory 20
Cf. Paul Ricoeur: Gedächtnis - Vergessen - Geschichte, in: Klaus Ε. Müller/Jörn Rüsen (Eds.): Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, 433-54, at 433. 21 See Allen Johnson: The Historian and Historical Evidence, New York 1926, 34-49, for an account of how even highly trained and intelligent observers can misperceive and misremember. On the general unreliability of narratives generated in the psychoanalytic situation, Donald P. Spence: Narrative Truth and Historical Truth: Meaning and Interpretation in Psychoanalysis, New York 1982, remains illuminating.
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is seen as confirming, justifying, and perhaps even grounding whatever identity one has taken for one's own. Where memory is seen as grounding identity, there is likely to be a deep commitment to the narrative that memory tells, and a correspondingly deep hostility to opposing narratives. It would be possible to speak entirely in the language of memory and forgetting. Thus one could speak of a combined Defizit an Gedächtnis and Übermaß an Vergessen prevailing, say, in Germany, or in the Balkans, or in other regions, at certain (quite recent) times in their histories. But what I wish to suggest - it is a Nietzschean point - is that memory and forgetting are so closely tied up with each other that they are inseparable - that every remembering is also a mode of forgetting and every forgetting a mode of remembering22. Thus, although I would contend that the opposition between memory and forgetting does have a rough validity and usefulness, the interpenetration of the two categories means that it makes far more sense to speak rather of the acceptance or rejection of certain narratives - each of which is itself a bundle of rememberings and forgettings. The question then becomes, What criteria should one deploy in deciding to accept, to reject, or to partly accept and partly reject the narratives in question? It should be pointed out that, from an epistemological point of view, narrative is often heuristically useful. For example, historians engaged in historical research and writing commonly find that they gain valuable guidance in their work from the process of constructing a narrative (or narratives) embracing the particular historical reality with which they are dealing. The construction of narratives contributes to the gaining of historical knowledge in three ways. Firstly, in engaging in a preliminary and tentative narrative-construction, historians commonly come to see where gaps remain in their research, and thus they come to identify the specific points in their work where more research is required. Secondly, by the same token, in constructing these preliminary narratives historians often come to see where more research is not required - either because (a) the narrative in question, underpinned by and tested against the evidence that the historian has already gathered, appears sufficiently persuasive not to require further support, or because (b) particular points concerning which the historian believed that he or she was not yet sufficiently well informed turn out, once a narrative has been constructed, not to be essential to the historian's argument, because a coherent and welljustified story can be told without those missing facts. Third and perhaps most importantly, the process of preliminary narrative-construction serves as a kind of running test of the plausibility of competing ways of making sense of the historical reality in question, for if it turns out to be inordinately difficult to construct a narrative embodying a particular interpretation, this fact may indicate that the account of the past that the historian has at least tentatively adopted is in some way inadequate23. But the epistemological value of narrative (that is, its value for the process of discovering truth) needs to be regarded as strictly limited in scope. Limited, too, is its cognitive value - that is, its value in manifesting a truth about the world. What is 22
Cf. Friedrich Nietzsche: On the Genealogy of Morals, 2nd Essay, §§ 1-2, in Nietzsche: 'On the Genealogy of Morals' and 'Ecce Homo', ed. W. Kaufmann, N e w York 1969, 57-60. 23 To be sure, this „rule" must be used with great caution, since some interpretations of the historical past may simply be unsuited to presentation in narrative form as it is normally understood. Examples of works that do not fit conventional narrative form include Fernand BRAUDEL's The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II, Marc BLOCH's Feudal Society, and Jacob BURCKHARDT's Civilization of the Renaissance in Italy.
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asserted in a narrative (whether one thinks, here, of assertions of the truth of specific matters of fact, or of assertions of the truth of a general perspective on the world) needs to be regarded, prior to empirical investigation, as only possibly, and not probably, true. In the sphere of literature, the „willing suspension of disbelief' holds sway: readers and critics deploy a whole range of evaluative criteria that have nothing to do with the question of the empirical truth of the assertions being made in the work. In the writing of history the conventions are different: the historian's claim to be making true statements about the past entails the deployment of criteria of evaluation that are epistemological in character. These criteria reside outside the framework of the narrative itself, and also outside the framework of narrative theory. Admittedly, if one wants to know how a person or a collectivity defines itself, one can take a narrative told by that person or collectivity as an index of its self-definition: e.g., the movie Star Wars as indexing the self-definition of some Americans during the 1970s and 1980s24. But one ought to be skeptical of the empirical validity of all perspectives, and of all assertions of particular fact, that enter into narrative, for the flinction of the narrating impulse is to link rather than to check: as LYOTARD puts it, „narrative knowledge [...] certifies itself [...] without having recourse to argumentation and proof' 25 . (Hence, e.g., the representative character of Star Wars is an empirical matter that would need to be established, not a fact to be assumed.) Narratives that present themselves as factual, rather than as aesthetic, constructions, need to be regarded with particular suspicion when they are tied up with the validation of present-day identities and power structures, and perhaps most especially when they have the kind of neatness that leads one to think of them as „a good story." In other words, one ought to inoculate oneself against the seductions of narrative. In a slightly different context, HEGEL remarked in the Phenomenology of Spirit that „work [...] is desire held in check"26. Often, narrative is the servant of desire, and the work of history consists in an epistemological check on the desire that narrative manifests. IV Evidence is a frail reed, liable to be bent by subjectivity and desire. Consider the following two cases, which are two among many: Case 1: As an undergraduate student in Saskatoon, Saskatchewan, Canada (that prosaically sane country), I lived, one year, in a rooming-house. The landlady, who was fetishistically thorough about keeping the house locked up, told me an interesting story. She claimed that a gang of thieves was at work in Saskatoon, a gang with a peculiar modus operandi. It would steal pieces of property and cunningly replace them with other objects of identical appearance but lesser value (one might imagine, here, an entire treatise on the metaphysics of theft). Further, my landlady informed me that the gang had stolen various pieces of her own property, including her bathtub. To my knowledge, no other person in Saskatoon had ever encountered this gang of thieves, and its activities were never reported in the local media. Skeptical as to the existence of the gang, I attempted to persuade my landlady that she must be wrong, and that, in particular, the
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George Lucas, director, Star Wars (Twentieth Century-Fox and Lucasfilm Ltd, 1977). Lyotard 1984, 27. G.W.F. Hegel: Phenomenology of Spirit, Oxford, 118 (§ 195).
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bathtub in the house was undoubtedly the very bathtub that had been in the house since its construction many years before. My efforts at persuasion failed utterly". Case 2: From the ridiculous to the frightening: the second case amounts, in fact, to an entire category of cases, in which the evidence is of the same character as in case 1. I refer to allegations of „satanic" or „ritualistic" sexual abuse, which, along with allegations of „repressed memory" due to abuse, have been quite common in the United States since the early 1980s28. However elicited, this material almost invariably takes the form of narratives, with the narratives in question becoming more detailed and ramified as they are „worked on" and repeated. It is a striking fact that in some parts of the legal community in the United States, and, far more, in significant parts of the therapeutic community, such narratives are taken as self-justifying. On occasion, gross miscarriages of justice have resulted29. Such cases, which are clearly a part of the contemporary Lebenswelt, underscore the power of desire when pitted against evidence. It is important to note that often the primary desire underpinning narratives of an identity-related type does not seem to be the wish that the story be true. Rather, it often seems to be the wish that the teller of the story be, or be seen to be, a certain kind of person - e.g., a person important enough to be the target of a sophisticated gang of thieves, or a brave survivor. The identity-related narrative is the product of this desire; the wish that the narrative be true follows secondarily, as a by-product. But the wish that the narrative be true is no less powerful for its secondary character. Indeed, such narratives are most effective when they come to be believed by the teller, moving thus from fabrication to persuasive fiction. In the face of „a good story," it is striking how easily evidence that manifestly appears to be evidence against the claims being advanced in a narrative can be twisted into evidence for its truth. In the light of this fact, one might well wish to put forward the following rule: the truth of a narrative needs to be supported, not only by evidence, but also by evidence of evidence. The problem with the evidence that is offered by the creator or proponent of a particular narrative is that it is too close to the narrative itself to be fully trustworthy. Thus one needs, in addition, evidence of evidence: or, to put the matter in a different way, one needs a concurring, a consilience, between different forms 27
I recently learned that my former landlady is so far from being alone that her delusion has been identified and named: it is Capgras Syndrome, first reported in detail in 1923 by the French psychiatrists CAPGRAS and REBOUL-LACHAUX. See the fascinating book by Louis R. Franzini and John M. Grossberg: Eccentric and Bizarre Behaviors, New York 1995, chapter 7 (Capgras and Other Misidentification Delusions: Replaced by an Impostor), 121-38. 28 Debbie Nathan/Michael Snedeker: Satan's Silence: Ritual Abuse and the Making of a Modem American Witch Hunt, New York 1995 discuss the „ritual abuse" epidemic at considerable length. A characteristic work in the genre is Margaret Smith (pseudonym): Ritual Abuse: What It Is, Why It Happens, How to Help, New York 1993. The „Believe the Children" organization, in Cary, Illinois, acts as a clearing house for alleged cases of ritual abuse. Many sites devoted to this topic are to be found on the World Wide Web: a search done on February 11, 1998 produced 1,187 pages containing the term „ritual abuse". 29 Perhaps the most flagrant case is that of Paul INGRAM, of Olympia, Washington, who in 1988 was accused by his daughters of having ritually abused them. Bizarrely, he was induced to „remember" episodes of such abuse, and in consequence he entered a guilty plea, which - too late - he attempted to retract. As of February 1998 he still remained imprisoned, although the accusations were highly implausible and there was no physical evidence against him. For an account of the case, see Lawrence Wright: Remembering Satan, New York 1994. There is a Paul Ingram web site and defense organization: search „Paul Ingram" on the Web.
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of evidence. This is part of the reason why history needs to be a discipline - that is, why it needs to be an organized pursuit of knowledge by a collectivity committed in principle to the precise, methodical, and unending construction of the historical past. V Although in the contemporary world grand narrative is threatened, narrative is far from threatened. The reasons that one can adduce for a „crisis of narrative" do not finally stand up: on the contrary, the conditions that have led to an indubitable crisis of grand narrative have intensified the appeal of narrative itself. It seems that we often feel driven to tell our story; more than that, we often feel driven to insist that the story is true. But in what sense is it true? In the absence of evidence, and of evidence of evidence, our story is true only in the sense that it reflects or manifests or exemplifies or activates our conception of what we are: in an identity-related sense, I am the story that I tell about myself, and that story is the authentic expression of what I am. But in a world-related sense the story could well be false, because my designation of my own identity may well fail to take account of the realities of the situation in which I live. I may well think that I have such and such qualities, but no one else agrees; and if the qualities that I claim include a controverted assertion as to how others relate to me, my adherence to that self-designation is a form of madness. In response to the question, „Does narrative have a cognitive value of its own?," the original answer must of course be affirmed. Of course narrative has a cognitive value of its own, in the sense that the coherence of narrative is the coherence of a possible world. Whether or not the vision projected by the narrative has an actual existence in the world as it is or will be, it exists in the narrative, and it may well exist within the mind that created the narrative. But at the same time, and perhaps more emphatically, we must also say that narrative does not have a cognitive value of its own. What it has, rather, is an immense seductive power - a power that can be all too easily deployed in the interests of presenting the narrative's possible vision as an actuality. Here, we must say „no" to narrative: against its seductions we must bring to bear the deflating force of method and criticism. Among other things, this means that historians must proselytize by example, trying to be as careful as they can about matters of historical truth, and as open as possible to the process of argumentation and proof by which historical and other claims are tested and refined - for it seems obvious that the truth will never be discovered. In short, the aesthetic pleasure of narrative is not synonymous with its truth: narratives can be gratifying, and yet seriously mistaken. The task of a discipline is, in large part, to restrain desire and to point out the limits of gratification. If work is desire restrained, desire unrestrained is madness. To be mad is not to know one's limits until the limits hit one in the face; to be sane is to know the limits ahead of time, before one reaches them. That is what, finally, epistemology is for. If the responsible historian is one who says „no" to the interested simplifiers who populate our world, this should not be regarded as an uncreative act but an act that makes sustained creativity possible. Thanks go to Chris
LORENZ
and to Rita
FELSKI
for their comments.
Burkhard Gladigow Kulturen in der Kultur 1. Ausdifferenzierung und komplexe Gesellschaften Ausdifferenzierungsprozesse sind als konstitutives Element kultureller Entwicklung 1 nach Ansicht der Kulturtheoretiker vor allem für ein Entstehen relativ autonomer Bereiche 'in' einer Kultur von entscheidender Bedeutung. Arbeitsteiligkeit und die auf sie folgende Differenzierung der Kulturbereiche geben mit der Etablierung von geschichteten Gesellschaften und Staaten Lebensbereiche und Lebensformen vor, die sich erheblich voneinander unterscheiden können, eine relative Autonomie haben können. Mit zunehmender kultureller Entwicklung gewinnen diese Teilbereiche von Kultur eine immer größere Autonomie, so daß Menschen den allergrößten Teil ihres Lebens 'in ihnen' leben können, sozial, ökonomisch, juristisch, für ihre Lebensplanung. Ein römischer Soldat der Kaiserzeit etwa lebte in einem besonderen Rechts- und Sozialraum (Heiratsregeln!), hatte eine eigene Religion (religio castrensis), mit den castra und Kolonien einen besonderen Wohnraum, als veteranus eine eigene Altersversorgung, - für den mittelalterlichen Klerus, aber auch ein ständisch organisiertes Handwerkertum ließe sich Ähnliches zeigen: Kulturen in der Kultur. Mit dem Aufkommen der modernen Gesellschaften gewinnt die funktionale Differenzierung gegenüber der stratifikatorischen in einem solchen Maße die Oberhand, daß sich auch der gesamte 'semantische Apparat' ( N . L U H M A N N 2 ) der Kulturen verändert. Die kulturellen Subsysteme (Wirtschaft, Recht, Kunst und Religion) entwickeln unter diesen Bedingungen einer zunehmenden Professionalisierung je eigene Deutungs- und Sinn-Systeme, die sich voneinander nach Struktur und Reichweite unterscheiden und die nicht mehr notwendig miteinander verrechenbar sind. Dieser Situation entspricht, daß mit der weitgehenden Etablierung moderner Gesellschaften die Differenzen 'subsystemspezifischer Strukturen' 3 von Personen überbrückt, nicht aber primär durch ein Kommunikationsmedium oder gar durch ein übergreifendes 'System' zusammengehalten werden. In dem Prozeß der Ausdifferenzierung der Teilbereiche, Subsysteme, 'Lebenssphären', spielt nun dem Anschein nach das Teilsystem 'Religion' eine besondere Rolle. Seine Ansprüche auf Verbindlichkeit und Reichweite unterscheiden sich von denen anderer kultureller Teilbereiche: Mit der Konsequenz, daß über ,Religion' Adaptationsleistungen der anderen Bereiche gefordert werden, die die Differenzierungsfolgen gewissermaßen zurücknehmen. Auf diesen gewissermaßen anachronistischen Anspruch des Teilbereichs Religion auf Systemintegration, einer ,Kultur' in der Kultur neben anderen ,Kulturen', läßt sich das Spannungsverhältnis von Religion und .Modernisierung', von 1 Dazu Friedrich H. Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989; Talcott Parsons: Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs 1966. Zu Max WEBER als Hintergrund des Differenzierungsmodells Friedrich Η. Tenbruck: Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), 663-702. Nilas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, B d . l , Frankfurt (M.) 1980, 19 eine Definition von semantischem Apparat als "Vorrat an bereitgehaltenen Verarbeitungsregeln"; 83 eine Bestimmung von 'Übergangssemantik': „Sie sucht und ermöglicht Traditionsanschlüsse, die eine Weile vorhalten, sich dann aber als entbehrlich erweisen." 3 Ebd., 45.
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Monotheismus und komplexen Kulturen, zurückfuhren. Schon Max W E B E R hatte betont, daß eine „die Rationalisierung und bewußte Sublimierung der Beziehungen des Menschen zu den verschiedenen Sphären"4 zunächst die Differenzen zu anderen Teilbereichen erhöht, und dann - in einer Reaktion auf die Differenz - die Rationalisierung der jeweils anderen Bereiche erzwingt. „Damit wird erklärbar", notiert Alois H A H N im Blick darauf, „daß Ausdifferenzierungsprozessen Phasen der Intensitätssteigerung des religiösen Bereichs vorausgehen, die zunächst mit dem Versuch gekoppelt sind, die Gesamtgesellschaft nach den Vorstellungen der zu ihrer eigenen rationalen Form gelangten Virtuosenreligion zu modeln"5. Das ist der Punkt, an dem nun in einer neuen Weise 'Religion' und Gesamtgesellschaft gegeneinander ausdifferenziert werden. Die Ansprüche des Bereichs 'Religion', andere Bereiche etwa das Recht oder die Wirtschaft in seine Regelungskompetenz mit einzuzubeziehen, fuhren zu Spannungen im System, aber auch zu Komplexitätssteigerungen. Erst wenn jene Ansprüche über eine Erhöhung der Komplexität von Organisation und Deutungsmustern nicht mehr aufgefangen werden kann, fallen Gesellschaft und Religion, 'Welt' und 'Religion' auseinander. Diese Bruchstelle, diese Annonce eines gescheiterten Transfers zwischen religiösem Teil-System und Gesellschaft, markiert einen grundsätzlichen internen Konfliktbereich. Wenn Teilbereiche von Gesellschaft unterschiedliche Rationalisierungs-Niveaus haben und schließlich zwischen ihnen kein verbindliches Transfermedium existiert, ist weiterhin eine Entscheidung, in welchen Teilbereich hinein Sozialisation erfolgen soll, Ausgangspunkt unterschiedlichster Orientierungskonflikte6. Die Trennschärfe, die erst die Konflikte erzeugt, ist das Ergebnis einer Professionalisierung bestimmter kultureller Bereiche: Trennung, Inkompatibilität, Inkohärenz sind zunächst einmal das Ergebnis professioneller Differenzierungen. 2. Puralismus und Kohärenz Für den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der Diskussion - nun im Horizont unseres Jahrhunderts gesehen - ist von grundsätzlicher Bedeutung, daß fur Max W E B E R - wie für John Stuart M I L L und die Vertreter des Neuen Polytheismus - Polytheismus die Form der religiösen Deutung von Welt ist , die am unmittelbarsten mit konkreter Erfahrung korrespondiert. In einer Rede von 1 9 1 6 hatte Max W E B E R festgehalten: „Der alte nüchterne Empiriker John Stuart M I L L hat gesagt: rein vom Boden der Erfahrung aus gelange man nicht zu einem Gott - mir scheint: am wenigstens zu einem Gott der Güte -, sondern zum Polytheismus. In der Tat: wer in der 'Welt' (im christlichen Sinne) steht, kann an sich nichts anderes erfahren als den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen [...] Er hat zu wählen, welchem dieser Götter, oder wann er dem einen und wann
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Max Weber: Gesammelte Aufsätze zu Religionssoziologie, Bd.l (1920), Tübingen 1988, 541. A. Hahn: Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion. Aspekte einer Theorie der Moderne, in: F. Neidhardt u.a. (Hg.): Kultur und Gesellschaft. R. König zum 80. Geb., Opladen 1986,221. 6 Das Problem von Orientierungskonflikten ist mit einem breiten Spektrum an Gegenständen in der Festschrift für C. COLPE behandelt Christoph Elsas/Hans G.Kippenberg (Hg.): Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte, Würzburg 1990. Julien Freund: Le polythöisme chez Max Weber, in: Archives de Science Sociales des Religions 61 (1986), 51-61. 5
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er dem anderen dienen will und soll [...]" . WEBER orientiert sich für sein Bild der Lebensführung in einer entzauberten Moderne9 immer wieder an der Situation des vormodernen Griechen unter den Bedingungen eines gelebten Polytheismus: „Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in einem anderen Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute [...] Und über diesen Göttern und ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine 'Wissenschaft'" 10 . Bei aller Ähnlichkeit zwischen antiker und moderner Situation wird zugleich deutlich, daß das Subjektivistische der WEBERschen Wertewahl11 für ihn die Signatur der Neuzeit ist: Im Schema des Kampfes der Götter ermöglicht sie zugleich die „axiologische Wende" (W. SCHLUCHTER) und einen rationalen Rahmen für den Kampf der Götter. „Man kann sogar weitergehen und sagen," faßt M. HENNEN die Option plakativ zusammen, „daß der Freiheitsbegriff bei WEBER primär auf Polytheismus abziele"12. Protagonist einer neuen Diskussion über den Polytheismus war in Deutschland vor allem Odo MARQUARD mit seinem Lob des Polytheismus^, einem aus dem Systemprogramm abgeleiteten Versuch, eine „Polymythie" zu entwerfen, „die spezifisch der modernen Welt zugehört". NIETZSCHE folgend bestimmt MARQUARD den Beginn der Moderne durch das „Ende des Monotheismus"14 und leitet aus dieser These die Forderung nach einem „aufgeklärten Polytheismus" ab, der das wiederherstellt, was mit der Freiheit der Mythologie verbunden war: „die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus"15. Die an MARQUARD anschließende Kontroverse bekommt durch einen weiteren Bezugspunkt ihre besondere Schärfe: Über ein Aufgreifen von PETERSONS These Monotheismus als politisches Problem16 wird der Polytheismus der Neuzeit zugleich als mögliche politische Theologie in die Diskussion gebracht, - nachdem PETERSON dem christlichen, trinitarischen Monotheismus diese Möglichkeit abgesprochen hatte. O. MARQUARDS provozierendes Lob des Polytheismus ist so auch der Versuch, in einer „entzauberten Wiederkehr des Polytheismus" eine politische Theologie zu entwerfen, die sich in politi-
8 Max Weber: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, 145. Die Rede trägt den Titel: Zwischen zwei Gesetzen. Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, 2 Bde., Frankfurt (M.) 1988. Wichtig der Hinweis SCHLUCHTERS a.a.O., Bd.l, 347 Anm.21, daß bei WEBER die 'Entzauberung' gerade nicht zu einer 'Entgötterung' führt. 10 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 4 1973, 604. " Dazu Wolfgang Schluchter: Polytheismus der Werte. Überlegungen im Anschluß an M. Weber, in: ders.: Unversöhnte Moderne, Frankfurt (M.) 1996, 223-55. 12 M. Hennen, Krise der Rationalität - Dilemma der Soziologie, 1976, 56. 13 Odo Marquard: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in. Hans Poser (Hg.): Philosophie und Mythos, Berlin (W.) 1979, 40-58; wiederabgedruckt in: Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981,91-116. U Ebd., 53. 15 Ebd., 50. 16 Erik Peterson: Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935, wiederabgedruckt in: ders.: Theologische Traktate, München 1950,45-147.
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scher Gewaltenteilung zeigt17, aber auch in „spezifisch neuzeitlichen Formen der Mythologie" 18 , zu denen dann auch die Geschichten der Geschichtswissenschaft gehören. In einer weiterreichenden Anamnese der Ausgangssituation - zugleich der Situation der beginnenden Moderne - lassen sich höchst unterschiedliche Faktoren und Komponenten anfuhren: Von besonderer Bedeutung scheint mir Wolf LEPENIES' im Kern richtige Beobachtung zu sein, „daß die im 18. Jahrhundert sich formierenden Human- und Sozialwissenschaften jene Kombination von Erklärungsanspruch und Orientierungsverzicht, die die Naturwissenschaften auszeichnete, auf eigentümlich Weise umgedeutet und sich zunutze gemacht haben" 19 . Die „Moral-Wissenschaften" (sciences morales) in Frankreich erweckten zunächst den Anschein, ihren Orientierungsanspruch ebenso szientistisch legitimieren zu können, wie die Naturwissenschaften ihre Erkenntnisleistung. Eine der Strategien dafür lag darin, daß bestimmte Lebensbereiche selbst (nach dem Modell von Naturwissenschaften) verwissenschaftlicht werden sollten, die diesem Gegenstandsbereich gar nicht angehörten. COMTES Entwurf der Soziologie als 'Naturwissenschaft des Sozialen' ist dafür ein Beispiel, auch im Hinblick darauf, daß 'Wissenschaft' dezidiert an die Stelle von 'Religion' treten soll. Primäre Orientierungsdisziplinen im Sinne von LEPENIES sind Soziologie und Psychologie: „Sie verbinden mit Erkenntnisleistungen explizit auch Orientierungsansprüche, während dies beispielsweise bei den Naturwissenschaften nur implizit der Fall ist."20 Sekundäre Orientierungsdisziplinen sind in diesem Modell Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie: „diese Disziplinen stellen einen Orientierungsanspruch höheren Grades, indem sie nicht über Erkenntnisse, sondern über Prinzipien der ErkenntnisGewinnung und -Anwendung aufklären" . 3. Popularisierung und Orientierungsanspruch Nach unterschiedlichen Vorläufen im 18. Jahrhundert kulminiert im 19. Jahrhundert zugleich das Bereithalten fremder und ferner Kulturen im Medium von Wissenschaften. Das Programm der Klassischen Altertumswissenschaft mit ihren Ansprüchen zu 'bewahren, wiederherzustellen, zu verlebendigen und wiederzubeleben', galt schließlich auch fur die anderen Philologien und Regionalwissenschaften: Religiöse Texte treten so aus einer kultischen Textpflege und Sinnpflege in das Medium ihnen fremder Wissenschaften (Philologien und Philosophie) ein, ohne dort grundsätzlich 'musealisiert' zu werden. Das Corpus Hermeticum, die Veden, Pali-Kanon und Eddas können zum Ausgangspunkt religiöser Rezeptionen und wissenschaftlich transportierter Enkulturationen werden. Hier gibt es auf der Ebene der Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts so etwas wie ein Vorlauf einer 'Post-Moderne' 22 . Die /«ferkulturellen Differenzen, die man üblicherweise räumlich abbildet oder erlebt (wenn man in die Ferne reist), zeigen sich
17 Odo Marquard: Aufgeklärter Polytheismus - auch eine politische Theologie?, in: Jacob Taubes (Hg.): Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, Religionstheorie und Politische Theologie, Bd.l, München 1983, 77-84. "Marquard 1983, 84. 19 Wolf Lepenies: Wissenschaftskritik und Orientierungskrise, in: Hermann Lübbe u.a.: Der Mensch als Orientierungswaise? Ein interdisziplinärer Erkundungsgang..., Freiburg 1982, 67-106, 99f. 20 Ebd., 75. 21 Ebd., 76. 22 Dazu Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997.
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plötzlich als mirakulturelle: Man hatte sie vor der Tür, vielleicht gar als tableaux Vivantes, mindest aber auf dem Schreibtisch, die Komparatistik23 lieferte gar noch die Verwandschaftstafeln dazu! Es ist weithin übersehen worden, daß das 19. Jahrhundert der Zeithorizont ist, in dem viele Wissenschaften ihre „Orientierungsansprüche über Popularisierungen durchzusetzen versuchen"24. Hintergrund dieser neuen Entwicklung ist einerseits die Etablierung wissenschaftlicher Fachsprachen, anderseits die zunehmende Professionalisierung der Wissenschaften, die nun auch auf diesem Gebiet den 'Laien' erzeugte. Daß Popularisierungen von Wissenschaften in religiöse Muster einmünden können, läßt sich am besten an der Popularisierung des Darwinismus in Deutschland zeigen, die über Ernst HAECKEL in den Monismus als Religion mündete. In diesem Muster und dem inhärenten, fachwissenschaftlich nicht abzuarbeitenden „Orientierungsüberschuß" (LEPENIES) steckt das Grundmodell, das gegenwärtig auch das Verhältnis des „New Age" zu den Naturwissenschaften charakterisiert: Aus der Sicht der New Age-Jünger produzieren die Naturwissenschaften, gerade die 'harten' Wissenschaften, ständig Orientierungsmuster, - heißen sie nun morphogenetische Felder, seltsame Attraktoren oder Äonen -, die weit über den primären fachwissenschaftlichen Zusammenhang hinausgehen. Seit Max WEBER in dramatischem Stil von einem 'Polytheismus der Werte' gesprochen hat, von den alten vielen Göttern, die entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, ihren Gräber entsteigen und nach Gewalt über unser Leben streben, ist das Problem der Orientierungsfunktion von Wissenschaftenin der Diskussion geblieben. WEBERS Position ist bekanntlich kritisch und skeptisch; die Passage endet mit: „[...] die Götter [...] beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein"25. Vor dem Hintergrund von Wert-Pluralismus, Subjektivismus und Säkularismus werden letztlich falsche Ansprüche an die Wissenschaften zurückgewiesen. Weber tritt, wie Wolfgang SCHLUCHTER in Religion und Lebensführung gezeigt hat, für „eine werturteilsfreie und zugleich wertbeziehende Kulturwissenschaft ein"2 , sofern sie zwei Heterogenitäten beachtet: die Heterogenität von Erkenntnissphäre und Wertungssphäre, von Erkenntnisurteil und Wertbeurteilung. Das bedeutet, bei aller Schwierigkeit, daß zwischen Wertordnungen unterschieden und für das individuelle Leben entschieden werden muß: Was bei WEBER in pathetische Dualisierungen und Alternativen einmündet, ist zunehmend als Signatur der Moderne eingesetzt worden. „In allen kultivierten Köpfen", notiert Paul VALERIE, „existieren die verschiedensten Ideen und die gegensätzlichsten Lebens- und Erkenntnisprinzipien frei nebeneinander", dies ist „die Essenz der Moderne"27.
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Burkhard Gladigow: Vergleich und Interesse, in: Hans-Joachim Klimkeit (Hg.): Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft, Wiesbaden 1997, 113-30. 24 Lepenies 1982, 105. 25 Weber: WL (wie Anm.10), 605. 26 Schluchter 1988, 350. 27 Paul Valerie: La politique de Γ esprit. Oeuvres, Bd.l, Paris 1957, 1018.
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4. Kulturen in der Kultur Seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts mehren sich Publikationen^ die sich der Pluralisierung der Lebenswelten und Pluralität der Lebensstile widmen . Die Akzentverschiebung ist deutlich: Im Vordergrund steht nicht mehr die kulturelle Makro-Ebene mit ihren unterschiedlichen Teilsystemen' 'Kulturen', gar die^Kohärenzfiktion' von der Einheit und dem historischen Zusammenhalt einer Kultur , sondern die individuelle Situation eines 'shifting' zwischen 'verschiedenen Welten'. Da es kein „verbindliches Metasystem" (W. WELSCH30) gibt, sind Orientierungsunsicherheit, Unbehagen, Sinnverzicht die Folge, - so die in verschiedenen Variationen gestellten Diagnosen. Am Ende dieser Entwicklung hoher Komplexität von Gesellschaften steht die von inspirierte Frage, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können31. Niklas LUHMANN hatte sie im Blick auf eine Weltgesellschaft32 verneint: Die Kapazität symbolischer Deutungs- und Wertsysteme sei zu gering, um den Steuerungsbedarf ausdifferenzierter Teilsystem noch harmonisieren zu können. HABERMAS sieht zwar ebenfalls die Vereinbarkeit von religiösen Sinngehalten mit der „Erhaltungsimperative des Staates" durch ein Unwirksam-Werden der Vermittlungsmechanismen verloren, entwirft aber eine 'neue Identität', die mehr leisten soll als lediglich eine formale Systemintegration herzustellen: Bewußtsein der Teilnahme an allgemeinen Kommunikationsprozessen soll ein erster Gesichtspunkt sein. Die neue Identität könne sich nicht mehr auf gemeinsame Weltbilder berufen, wohl aber auf eine universalistische Moral „in vernünftiger Rede", zu der gegebenenfalls auch „popularisationsfähige wissenschaftliche Grundideen" gehören könnten. Schließlich könne sich eine Identität in projektierten Lebensformen ausbilden, die an wert- und normbildende Lernprozesse anschließen. HEGEL
Diese Fragestellungen, HEGELS Vorlesungen zur Philosophie der Religion entnommen, im philosophisch anspruchsvollen, aber letzlich 'einfachen' Spannungsfeld zwischen der 'Erhaltungsimperative des Staates', und der 'vor Gott unsterblichen Seele' angesiedelt, haben in der Gegenwart ein systematisches Pendant auf 'unterster' und höchst konkreter Ebene. Ein Pendant, dessen kulturtheoretische Einordnung von zunehmender Bedeutung ist: Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen33, daß in dem hochkomplexen, postindustriellen Gesellschaften der Anteil an der Lebenszeit, den die Menschen als Erwerbsarbeit, zur Stillung elementarer Bedürfnisse, aufbringen müssen, dramatisch gesunken ist . Das bedeutet, der Bereich des Lebens, in dem traditioneller-
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Daniel Bell: The Winding Passage, Cambridge 1980, 329f; Peter L. Berger u.a.: Das Unbehagen in der Moderne, Frankfurt (M.)/New York 1975, 59; W. Zapf: Die Pluralisierung der Lebensstile, in: ders. u.a.: Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München 1987, 16-30. 29 Vgl. Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte, Wien 1996, 16ff. 30 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. 31 Jürgen Habermas: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? Rede aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises 1973 der Stadt Stuttgart, Frankfurt (M.) 1974. 32 Niklas Luhmann: Die Weltgesellschaft, ARSP 1971, 33. 33 Etwa Ronald Hitzler: Sinnwelten. Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur, in: Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung 110 (1988), 158ff. 34 Zahlen bei Hermann Lübbe: Erfahrungen von Orientierungskrisen in modernen Gesellschaften, in: Werner Weidenfeld/D. Rumberg (Hg.): Orientierungsverlust - Zur Bindungskrise der modernen Gesellschaft, Gütersloh 1994, 24f.
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weise Sinn, 'Lebenssinn' angesiedelt wurde wird immer kleiner, ist viel kleiner als der Bereich von 'Freizeit', - unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit verschieben sich die Relationen in einen dramatischen Bereich. Die Antworten der Analytiker schwanken hier zwischen zurückhaltender Empfehlung einer 'proteischen Praxis', des engagierten Spiels mit unterschiedlichen Existenz-Möglichkeiten35, und der grimmigen Diagnose der 'Gegenwartsschrumpfung' (Hermann LÜBBE36): es hat „noch nie eine Zivilisation gegeben, die ihre Lebensvoraussetzungen kraft eigener Lebenserfahrung so wenig verstanden hat wie unsere eigene." 5. Bilanzierungen des Lebens - Bilanz der Kultur Wie auch immer man das Verhältnis von Fortschritt und Moderne, von wachsender kulturelle Komplexität und allgemeiner Sekurisierung sieht, die Bilanzierungsproblematik des Lebens hat sich verändert: Haben die Teile, Anteile meines Lebens ihren je eigenen Sinn; kann ich die 'Lebenssinne' gegeneinander aufrechnen, oder sie hierarchisieren? Wie steht es überhaupt mit der Frage nach dem 'Sinn des Lebens'? Odo MARQUARD, dessen systematisches Interesse für Pluralität und Komplexität sich mit dem hier Vorgestellten vielfach überkreuzt, hat ein einschlägige Notiz FREUDS und eine Replik Viktor FRANKLS mehrfach herangezogen: Im Jahre 1937 schrieb FREUD in einem Brief an Marie BONAPARTE: „Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, ist krank', - die spätere Replik FRANKLS lautet „Wer nicht nach dem Sinn des Lebens fragt, wird krank"37. Hinter diesen hübschen Akzentuierungen steht - neben anderem - die Frage, ab wann aus historischer Perspektive die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt wurde - oder gestellt werden konnte. Es scheinen in ihr zwei notwendige Prämissen zusammenzulaufen: Die eine ist die zunehmender Säkularisierung, die andere eine Entwicklung, in welcher sich „das erfahrene Leben in das Produkt der eigenen Handlungen und der selbstbestimmten Entscheidungen verwandelt"38. Beide Prämissen fuhren auf das 19. Jahrhundert, und in der Tat läßt sich die Formel vom Sinn des Lebens nicht vor dem 19. Jahrhundert nachweisen, NIETZSCHE und DILTHEY sind ihre ersten Vertreter. Mit der Bilanzierungsproblematik des Lebens ist die Frage nach Werten und Wertorientierung unlösbar verknüpft. , Werte' sind freilich nicht nur Bezugspunkte einer philosophischen Wertlehre, sondern, in pragmatischer Transformation, zugleich Elemente jeder Ökonomie. Als Werte im allgemeinsten Sinne gelten emotional besetzte Überzeugungen, was zu erstreben oder abzulehnen, richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen sei. Für die meisten Kulturen lassen sich zentrale Wertvorstellungen finden, die systematisch aufeinander bezogen sind. Innerhalb der kulturellen Vielfalt variieren persönliche Wertvorstellungen natürlich erheblich. Zentrale Wertvorstellungen garantieren den Grundbestand sozialen Verhaltens und die Zielvorstellungen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft verfolgt werden. Nach PARSONS Modell der Sozialordnung39 basiert social order auf der Existenz allgemeiner Werte, die als geltend und verbindlich angesehen werden, die als Matrix und Kriterium für die Bestimmung von Zielen angesehen werden. Zwischen Sozialsystem und Persönlichkeitssystem wird 35
Hitzler 1988, 168f. Lübbe 1994, 13ff. 37 Zitiert ebd., 23f. 38 Ebd., 24. 39 Vgl. Sigrid Brandt: Religiöses Handeln in der modernen Welt. Talcott Parsons' Religionssoziologie im Rahmen seiner allgemeinen Handlungs- und Systemtheorie, Frankfurt (M.) 1993. 36
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auf dem Wege über die Sozialisation eine Verbindung geschaffen, die eine Verinnerlichung der Werte herstellt. Eine Anwendung dieses Wertbegriffs auf konkrete ökonomische Verhältnisse bereitet zunächst Schwierigkeiten. Der Wertbegriff ist in den Wirtschaftswissenschaften im allgemeinen - zugleich in der Reihenfolge der Häufigkeit - durch folgende drei Charakteristika bestimmt, 1. den Tausch-Wert oder -Preis, eine deskriptive Bestimmung, die keine utilitarische oder normative Implikation mittransportieren soll, 2. den Gebrauchswert oder Nutz-Wert, der auf die eine oder andere Weise die Unterordnung unter eine allgemeinere Nützlichkeits-Erwägung bedeutet, und 3. den gerechten Preis, der sich utilitaristisch oder nicht-utilitaristisch begründet läßt. Im kulturellen (und religiösen) Bereich gibt es zunächst einmal durchaus an den genannten Wertvorstellungen orientierte Güter und Dienstleistungen, die im Schema wirtschaftlichen Erwerbs und einfacher Kaufverträge erworben oder geordert werden können. Devotionalien etwa und Hochzeitszeremonien lassen sich als Güter und Dienstleistungen verkaufen. Als primärer Geschäftspartner erscheinen hier freilich, um bei den angeführten Beispielen zu bleiben, Handwerker und Priester, die etwas Konkretes 'anbieten'. Diese Abbildungsebene eines unmittelbaren, intendierten Erfolgs gibt auch noch, wenn bestimmbare Leistungen erbeten oder abgefragt werden. Das 'richtige' Orakel und die dauerhafte Heilung sind Erfolge, in die man investieren kann: Mit der Höhe der ausgelobten Gabe steigert sich die Wahrscheinlichkeit, das gewünschte Ergebnis zu erreichen. In dem wohl sehr verbreiteten System von Bittgabe und Dankesgabe (oder Opfer ex voto) konkretisiert sich so etwas wie ein Sequenz von Investition und Reinvestition: Mit der ständigen Beteiligung der Götter an Erfolgen bleiben sie theologisch wie ökonomisch Teil des Handlungssystems. Eine Übertragung ökonomischer Grundprinzipien auf 'religiöse Güter' wird in den Maße schwieriger, wie sich eine 'Erfolgskontrolle' von einer Investitionsstrategie ablöst. Noch schwieriger wird es, wenn Götter unmittelbar zu Kontrahenten derartig ökonomisch konstruierter Beziehungen gemacht werden, sie also nicht nur die Erfolge vermittelten oder sicherstellen, sondern selber 'Geschäfts-Partner' sind. Die Geschichte des Opfers und der Gabe ist unter dieser Perspektive schon sehr früh von einer grundsätzlichen Opferkritik begleitet: Bestechlichkeit der Götter - oder ein unangemessenes Preis-Leistungsverhältnis - werden kritisiert, besonders gern natürlich im Blick auf die jeweils 'anderen' Götter: di venales sunt, spottet TERTULLIAN40, „man kann sich die (sc. heidnischen) Götter kaufen". Mit einer Verlagerung der in religiösen Kontexten erstrebten Güter in einen nichtempirischen Bereich hinein wachsen die Bewertun^sprobleme noch einmal an und die Frage nach dem Wert eines 'economic approach' stellt sich von neuem. Wenn in einem erheblichen Maße Güter investiert werden, um für einzelne, herausgehobene Personen eine bessere und dauernde postmortale Existenz zu garantieren, vollzieht sich eine wesentliche Verlagerung auch der ökonomischen Strategien von Kulturen. BACHOFEN hatte schon daraufhingewiesen, daß 'die Alten' für das Jenseits in Stein gebaut hätten, fiir das Diesseits aber in (billigem) Holz. 'Investiert' wurde schon in der Antike in das 40
Dazu Burkhard Gladigow: Religionsökonomie - Zur Einführung in eine Subdisziplin der Religionswissenschaft, in: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.): Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995, 253-58. 41 Richard Robertson: The Economization of Religion? Reflections on the Promise and Limitations of the Economic Approach, in: Social Compass 39 (1992), 147-57.
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Jenseits: Welche Folgen hatte das eigentlich für die 'Volkswirtschaften'? Von besonderer Relevanz sind die mit dem 5. Jahrhundert vor Christus in Griechenland einsetzenden Erwägungen, daß das Leben nach dem Tode letztlich länger dauere als das irdische Leben. Aus diesem Kakül zieht Antigone in der S0PH0KLEischen Antigone die Konsequenz42, daß sie den Ansprüchen der Götter des Totenreichs länger genügen müsse, als denen im Diesseits. In einem bilanzierenden Kalkül entscheidet sie sich gegen ihre aktuellen Interessen (nämlich ihr Leben zu behalten) und für ihre langfristigen (im Jenseits 'gerecht' zu sein). Es geht hier nicht darum, daß die Götter der Unterwelt 'mehr Macht' hätten, oder daß sie im Pantheon eine wichtigere Stellung einnähmen, sondern darum, daß der Mensch 'es mit ihnen länger zu tun habe'. Wenn eine klar konzipierte Soteriologie konsequent ökonomisch bezogen wird, werden Investitionen größter Reichweite und höchsten möglichen Umfangs möglich: Bilanzierungen des Lebens und Methodik der Lebensführung können dann über pragmatische Erwägungen hinaus, gegen pragmatische Erwägungen, 'Warenströme beeinflussen' und Investitionen lenken: oeconomia salutis. 6. Kultur als reward system In dem zuvor entworfenen und skizzierten Rahmen ließe sich Kultur unschwer als ein Belohnungssystem {system of rewards) im weitesten Sinne beschreiben, ein System, das im Bereich kurzfristiger Belohnungen mit anderen kulturellen Veranstaltungen konkurriert, im Bereich von long term investments aber singulär ist. Fruchtbarkeit, Reichtum und Gesundheit - oder militärische Siege - sind die klassischen primären Gratifikationen (auch) für richtiges religiöses Handeln. Diese primären Gratifikationen sind nicht allein dem 'kultischen Bereich' im engeren Sinne zuzuordnen, - sie können ganz allgemein auch als Indikatoren dafür dienen, 'von den Göttern geliebt zu sein': der Tun-ErgehenZusammenhang der mediterranen Kulturen. Eine negativer Status auf diesen Gebieten wirft unweigerlich die Theodizee-Frage auf und ist traditionellerweise vor allem durch die Kontingenzen zwischen 'Investitionen' auf religiösem Gebiet und ihrem Erfolg charakterisiert. Ein wesentlicher Teil der Professionalisierung von Religionen ist diesen Kontingenzen gewidmet: der 'leidende Gerechte' und der 'erfolgreiche Ungerechte' werden über komplexere Zuordnungen relativiert und tauschen ihre Positionen im Blick auf eine höhere Gerechtigkeit. Ein Anwendung einfacher ökonomischer Strategien auf religiöses Handeln ist solange plausibel und kohärent, wie zwischen menschlicher (Vor-)Leistung und göttlicher Gegenleistung eine Äquivalenz-Beziehung besteht. Zu dem Preis, der gezahlt wird, und zu dem bei Gebet, Opfer und Investitur auch der gewünschte Gegenwert genannt wird (Gnade, Heilung von der Krankheit, Erlösung), gehört die konkrete, gewünschte und erkennbare Gegenleistung. In das einfache do-ut-des-Prinzip sind natürlich sehr schnell Kontigenzen eingebaut worden {„do utpossis dare"), die das Problem des 'Leistungsverzugs' zu lösen in der Lage waren und trotzdem eine Erwartung auf eine Gegenleistung aufrecht erhielten. Im Blick auf die hier verfolgte Fragestellung ergibt sich eine neue Situation, wenn praktisch alle religiösen Investitionen auf einen Bereich hinzielen, der so keine Kontrolle, kein feed-back zuläßt. Ob ich wirklich in einem Jenseits an dionysischen Gastmäh42
In einem weiteren Rahmen vorgestellt bei Burkhard Gladigow: Unsterblichkeit und Moral. Riten der Regeneration als Modelle einer Heilsthematik, in: ders.: Religion und Moral, Düsseldorf 1976, 11 Iff.
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lern teilnehmen werde - wie in den Dionysischen Mysterien versprochen - oder beim jüngsten Gericht auf die Seite der Gerechten gestellt werde, kann ich erst feststellen, wenn ich mich in dieser Situation befinde. Bis dahin sind alle Investitionen an Mitteln und methodischer Lebensführung auf guten Glauben hin (auch ein Begriff der Rechtssphäre) getätigt. Der Charme der WEBERschen Protestantismus-Kapitalismus-These liegt auf diesem Felde gerade darin, daß sogar (und gerade) unter den Bedingungen von Prädestination die Erwählung am (wirtschaftlichen) Erfolg ablesbar ist. Wenn man einmal den WEBERschen Sonderfall des 'Kapitalismus' herausläßt, läßt sich Religion vor allem als ein sekundäres Belohnungssystem {secondary reward system) bezeichnen, das sich von den üblichen materiellen und sozialen reward systems dadurch unterscheidet, daß, was Belohnungen im wohlverstandenen Sinne eigentlich sind, erst 'gelernt' werden muß. Der Wert der Belohnung wird im Rahmen des Sozialisationsprozesses erfahren und im Schema konditionierter Verstärkung (secondary reinforcement) mit anderen Stimuli verbunden. Das bedeutet, daß dann auch Erscheinungen und Konzepte als rewards gewertet werden können die vorher nicht als 'Belohnung' gesehen wurden. Als ein wesentlicher und wirksamer Teil der kulturellen Belohnungssysteme, zu denen auch 'Religion' gehören soll, läßt sich die 'Belohnungsverzögerung' (delayed reward) als klassische Konditionierungstechnik bezeichnen. - Belohnungserwartung {reward expectancy, Edward C. Tolman) und Belohnungsverzögerung entsprechen sich ebenso wie Gewinnerwartung und verzögertes Eintreten des Gewinns, - letztlich wie Heilserwartung und Parusie-Verzögerung. Ökonomischen Strategien und kulturellen Mustern lassen sich in dieser Weise unter bestimmbaren Bedingungen vergleichbare Lern- und Konditionierungs- Prozesse unterstellen. Der homo oeconomicus 3 und der homo religiosus sind so nur auf den ersten Blick unvereinbare Aspekte menschlicher Lebensgestaltung. Die ältere ökonomische Theorie war von einem einfachen, auf Selbstsorge und rationale Marktübersicht beruhendem Modell des homo oeconomicus ausgegangen, die modernere setzt hier eine Strategie im Verhältnis von knappen Gütern {scarce resources) und akzeptierten Handlungszielen an, die auch wirtschaftliches Handeln nicht allein auf eine selfish consideration beschränkt. Mit der Ablösung religiöser Investitions-Strategien von dem unmittelbaren 'innerweltlichen' Erfolg komplizieren sich freilich die religiösen und kulturellen Muster: Was ist nun Gegenwert und Belohnung? Die monotheistischen Religionen und die Mysterienkulte, die in dieser Hinsicht vergleichbar sind, haben die Muster dramatisiert: Erlösung oder Verdammnis, Platz an der Tafel der Seligen oder modriger Hades! Mit den Investitionen größter Reichweite sind die des größten Umfangs verknüpft: Nicht ein Körnchen Salz, jene sprichwörtliche mica salis, die den Laren geopfert wird, ist das investierte Gut, sondern 'das ganze Leben', die Belohnung, der Gegenwert, dann die ,ewige Seligkeit'. In 'religionsökonomischer' Hinsicht regelmäßig unbeachtet, spielt die Seelenkonzeption der entwickelten Religionen hier eine besondere Rolle: Schon 'während' dieses Lebens bilden sich alle Verfehlungen, aber auch positiven Leistungen an der Seele ab: Die Seele läuft als Kontokorrent 'neben dem Leben' des Menschen her, in ihr und an ihr notieren sich alle positiven und negativen 'Einträge'. Zum Zeitpunkt des Todes wird das 'Konto geschlossen' und der Status des Menschen in einer Gesamtbilanz für die post43
Gary S. Becker: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 32, Tübingen 1993; Gerhard Kirchgässer: Homo Oeconomicus, 1991.
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mortale Existenz bestimmt. Die Seelenbegriff mit der einen Seele, die dem Menschen unlösbar zugehört, liefert nun die Verbindungsgröße zwischen den kurzfristigen und falsifizierbaren Handlungsstrategien und den longe rawge-Perspektiven, die die soteriologischen Schemata der großen Religionen ausmachen. Diese Art von Rechnungslegung und Rechnungsführung hat ihre Erweiterung und systematische Komplettierung in Seelenwanderungs-Vorstellungen gefunden. Die Sequenz der Existenzformen und ihrer Existenzhöhe - im europäischen Kontext am deutlichsten bei EMPEDOKLES zu erkennen - ist über jeweilige 'Bilanzierungen' definiert. Die Seelenwanderungsvorstellung - auch im indischen Bereich, trotz wesentlich differierender Grundannahmen - ist in einem solchen Maße durch Gewinn-und-Verlust-Rechnungen bestimmt, daß hier wohl mehr als nur metaphorischen Anwendungen von 'Buchführung' vorliegen. Schon mit den ersten, zunächst sehr viel enger konzipierten Versuchen eines economic approach zur Interpretation von Religion und Kultur wurden notwendigerweise auch die Grenzen dieses Zugangs diskutiert44. Als Problem stellte sich vor allem die Frage, inwieweit hier lediglich eine metaphorische Verwendung von Begriffen aus dem Wirtschaftsleben vorliege, oder ob es für wirtschaftliche Strategien und religiöses Verhalten eine gemeinsame kulturelle Ausgangsbasis gebe. Talcott PARSONS hat diese Zugangs· und Sichtweise unter dem Titel Religious and Economic Symbolism in the Wes45 tern World diskutiert , MOLLER-ARMACK unter dem Begriff der ,Wirtschaftsstile' in Korrespondenz zu Kulturstilen zu fassen gesucht46. Nach ganz anders gearteten, auf Maximierungsstrategien ausgerichteten Vorläufern im 19. Jahrhundert, hat Peter L. BERGERS Markt-Modell für religiöse Orientierung eine Forschungsrichtung vorgegeben, die das Schema von Produkt-Wahl und rationaler Kalkulation in die Diskussion einbrachte47. In der Erweiterung des ursprünglich nur 'ökumenischen' Kontextes wurde dann die rationale Kalkulation, die Notwendigkeit der Wahl, zu einem Zwang zur Häresie: Die Pluralisierung der religiösen Möglichkeiten und die Entscheidung zwischen ihnen sind für BERGER, LUCKMANN und WILSON die Kehrseite (oder ein Aspekt) von Säkularisierung. Etwa in der gleichen Zeit, in der BERGERS Ansatz zu einer gewissen Resonanz kam, hat Pierre BOURDIEU eine religiöse 'Feldtheorie' entwickelt, die sich ihrerseits strukturell und systematisch von dem Handlungsgefüge der auf dem Feld Handelnden absetzt48. Das führt dann für BOURDIEU auch zu einer grundsätzlichen Distinktion in der Wirksamkeit des ökonomischen Ansatzes: „[...] most actions are objectively economic without beinj> subjectively economic, without being the product of a rational economic calculation" . Mit dieser Trennung zwischen 'objektiver Ökonomie' und Handlungsstrukturen bei BOURDIEU ist das Modell einer Wahl unter den Bedingungen eines Pluralismus auf zwei unterschiedliche Entscheidungsebenen verlagert worden. 44
Robertson 1992, 147-57. In: Sociological Inquiry 49 (1979), 1-48. 46 Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, 46-244 (Genealogie der Wirtschaftsstile). 47 Peter L. Berger: Α Market Model for the Analysis of Ecomenicity, in: Social Research 30 (1963), 77 bis 93; ders.: The Heretical Imperatitve. Contemporary Possibilities of Religious Affirmations, Garden City, N.Y. 1980 (deutsch: Der Zwang zu Häresie); parallel dazu Bryan R. Wilson: Religion in Sociological Perspective, Oxford 1982. 48 Pierre Bourdieu: Distinction. Cambridge 1984; ders.: Legitimation and Structural Interests in Weber's Sociology of Religion, in: S. Whimster/S. Lash (Hg.): Max Weber, Rationality and Modernity, London 1987. 49 Pierre Bourdieu: In Other Words, Oxford 1990, 91. 45
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Vor allem ROBERTSON hat dem entgegengehalten, daß der religiöse Pluralismus der Neuzeit dadurch charakterisierbar sei, that „one can now choose from, as well as combine items within religions, which satisfy individual, as well as communal, societal, or indeed global needs" . Hintergrund dieser neugefaßten Synthese aus den gegensätzlichen Positionen von BERGER und BOURDIEU ist eine „metacultural basis of the economic point of view", die - BAUDRILLARD folgend - sowohl zu einer Ökonomie der Zeichen (economy of signs) fuhren kann, wie zu einer 'Ökonomie der Wirtschaft'. Als eine Rahmenbedingung von Wissenschafts- und Kulturgeschichte hatte T. PARSONS schon zuvor 51 das bloß ökonomische Deutungsmuster {'economics-is-aW) kritisch eingeordnet und dessen Absolutheitsanspruch („'things economic', that latter-day demon") in den Kontext anderer Optionen, insbesondere „the erotic and the intellectual position", gestellt. PARSONS' Kritik von 1979 lief darauf hinaus, daß ein Analyse von Kultur in economic terms selbst Teil eines europäischen Prozesses war, der, mit dem 18. Jahrhundert beginnend, zu einem 'establishment economism' führte . 7. Bilanz und Kompensation: Zum protektiven Charakter von Kultur Die bisherigen skizzenhaften - aber zugleich programmatischen gemeinten - Bemerkung über die Binnenstruktur von Kulturen, das Verhältnis von Kulturen in der Kultur, kulturellen Subsystemen als Umwelten anderer Sybsystem - um unterschiedliche Sprachspiele anzuwenden - und das mitlaufende Grundthema „Bilanzen in Kulturen" lassen sich nicht zusammenfassen, ohne ein Wort zu den RITTER-MARQUARDschen Kompensationsthese zu sagen. Diese These ist in der Tat einschlägig, weil hier - in der von MARQUARD ausgestalteten Zuspitzung - durch Wissenschaften repräsentierte Teile von Kultur in eine rechenhafte Beziehung zueinander gebracht werden. Was in WEBERS .Polytheismus der Werte' eher exklusiv gegeneinander gestaltet ist: Der „Kampf der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte" fuhrt zu Entscheidungen („Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit"), nicht aber zu Kompensationen und Kompromissen. Die aktuelle Diskussion um die 'Kompensationsthese' - die These also, die Geisteswissenschaften hätten gegenüber den Nachteilen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts eine kompensierende Funktion - spiegelt diese Schwierigkeiten eines Pluralismus auf einer vergleichbaren Ebene: den unterschiedlichen 'Kulturen in der Kultur'. Die Diskussion um die Kompensationsthese, die Kritik an einer 'Konjunktur des Polytheismus' und Klagen über eine 'neue Unübersichtlichkeit' sind auf einer vergleichbaren Ebene Indikatoren fur die Schwierigkeit, im internen und externen Kontext von Wissenschaften mit Vieldeutigkeit, Sinnvielfalt und Komplexität umzugehen. Der Umgang mit konkurrierenden 'Sinndeutungssystemen' erfordert von ihren Benutzern oder Anwendern andere Qualitäten und Qualifikationen, als es eine Orientierung an traditionellen Religionen oder konservativen Bildungstraditionen verlangt hat oder verlangen würde. Da diese Sinnentwürfe jeweils den kulturellen Ausdifferenzierungsprozessen folgen, ist es für eine pragmatische Orientierung notwendig, sie kulturell 'einordnen' zu 50
Robertson 1992, 155. T. Parsons: Religious and Economic Symbolism in the Western World, in: Sociological Inquiry 49 Π 979), 1-48. 2 Vgl. Louis Dumont: From Mandeville to Marx. The Genesis and Triumph of Economic Ideology (Homo aequalis: Genöse et öpanouissement de Γ Ideologie öconomique), Chicago 1977. 53 Weber: WL (wie Anm.10), 588. 51
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können, kulturell kompetent zu sein. Ausgangspunkt der Konzeption RITTERS - und später MARQUARDS - ist die Figur des homo compensator, in der MARQUARD ein zentrales Motiv der philosophischen Anthropologie sieht54, ein Motiv, das Anthropologie letztlich seit der Antike begleitet habe. Daß die moderne Variante des Kompensationsbegriffs aus der LEiBNizschen Theodizee abgeleitet wird55, ist fur die hier verfolgte Fragestellung von zentraler Bedeutung: Weber leitet den Passus über die Typologie der Gottesvorstellungen in der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen mit einem - völlig berechtigten - Hinweis auf die Theodizee des Glückes ein („Das Glück will 'legitim' sein"); erst dann folgt in der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen eine längere Erörterung über die „rationale Theodizee des Unglücks." Aus PLESSNERS Bild vom Menschen in seiner 'exzentrischen Positionalität' (nackt, gleichgewichtslos, halb), der in Kultur die Kompensation seiner Halbheit findet5 , wird bei MARQUARD eine Aussage über das Verhältnis von Wissenschaftsgruppierungen im Rahmen von Kultur: Die „Geisteswissenschaften" kompensieren die „lebensweltlichen Verluste" der harten Naturwissenschaften; sie ermöglichen solchermaßen die Ausbildung von „Handlungs- und Lebenssinn". Die These von der Unvermeidlichkeit und „unüberbietbaren Modernität" der Geisteswissenschaften ist als neo-konservatives Palliativum heftig angegriffen worden: MARQUARDS Geschichtsphilosophie biete hier „mentale Teddybären" für „geisteswissenschaftliche Bejahungshelfer"57. Wenn man die Diskussion aus ihrer politischen Frontstellung herauslöst, bleibt ein Unbehagen an MARQUARDS Wissenschaftssystematik bestehen, die es ihm so einfach erlaubt, „eine quasignostische Verlagerung der Theodizee" in einen Zwischenraum zwischen den Wissenschaften zu vollziehen. PLESSNER hatte hier, wohl plausibler, Kultur in ihrer Gesamtheit zu Korrektiv erhoben, RITTER, der unmittelbare Vorläufer, die Geschichtslosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft als zu kompensierendes Defizit58 angesehen. Ernst CASSIRER hat in verschiedenen Orten seines Werkes, zusammenfasend in seinem Alterswerk Essay on Man den Menschen als animal symbolicum charakterisiert oder definiert, das Wesen also, daß Symbole herstellt und anwendet und in einer Art 'symbolischem Netz' sich in einem 'symbolischen Universum' ansiedelt59. Diese schon vielfach und in anderen Formulierungen getroffen Feststellung - die Stoa sprach bereits von der Kultur als zweiter Natur {secunda natura) des Menschen - hat Hans LENK durch ein weiteres Spezifikum aufgegriffen und erweitert: Der Mensch habe - anders als die Tiere - die Fähigkeit, immer abstraktere Symbolisierungen zu erzeugen , die Symbole 54
Odo Marquard: Homo compensator. Zur anthropolgischen Karriere eines metaphysischen Begriffs, in: G. Frey/J. Zeiger (Hg.): Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen. Anthropologie der Gegenwart, Bd.l, Innsbruck 1983, 55-66. 55 Ebd., 57f. 56 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Gesammelte Schriften, Bd.4), 385 u. 395. 57 Norbert Bolz: Politik des Geistes. Von mentalen Teddybären und geisteswissenschaftlichen Bejahungshelfern. Eine Kritik des Marquardschen Kompensationstheorems, in: Loccumer Protokolle 18 (1988), 20 bis 25; J. Dierken: „Kompensation" - Bemerkungen zu einer wissenschaftsfunktionalen These von Odo Marquard, in: ebd., 177-89. Herbert Schnädelbach: Kritik der Kompensation, in: Kursbuch 91, Berlin (W.) 1988, 35-45. 8 Joachim Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Subjektivität, Frankfurt (M.) 1974, 105-40. 9 Hans Lenk, Schemaspiele. Über Schemainterpretationen und Interpretationskonstrukte, Frankfurt 1995, lOf.
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Burkhard Gladigow
selbst metasprachlich und metatheoretisch zu untersuchen und anzuwenden: der Mensch sei das metasymbolisierende Wesen60. Der Mensch ist „[...] dasjenige Wesen, das seine Interpretationen auch wiederum interpretieren kann und auch stets von neuem interpretieren muß - und diese auch nur so verstehen kann."61 Von diesem Hintergrund, in einer Erweiterung des Ansatzes von LENK, ließe sich dann Kultur auch als Interpretationsgemeinschaft62 verstehen, als ein Kulturspiel, das die verschiedenen Sprach-, Bild-, Symbol-, Handlungs- und Schema-Spiele auf einer Metaebene fortsetzt. Die Innen- und Außenverhältnisse von Wissenschaften (Stichwort: Wandel der Disziplinkonstellationen) im Ensemble kultureller Entwicklungsprozesse anzusprechen, geht über den traditionellen Rahmen von Wissenschaftsgeschichte hinaus. Sekurisierungsprozesse als elementare Komponenten kultureller Entwicklungen, Bilanzierungen von Leben und Lebensinn in komplexen Kulturen (die dies erst eigentlich fordern) und Ausdifferenzierungen von Wissenschaften samt den (von ihnen nolens volens mit transportierten) Orientierungsmustern, sind Weiterfuhrungen eines bilanzierenden Pluralismus. Die „alten vielen Götter" zeigen sich, so scheint es, weniger in einem „ewigen Kampf, als vielmehr in einem schwer durchschaubaren, komplexen Szenario, in dem man sich arrangieren kann: Gegenüber der resignativen Forderung WEBERS, den Dämon zu finden und ihm zu gehorchen, der seines Lebens Fäden hält, und FREUDS umfassendem Unbehagen in der Kultur wird der protektive Charakter von Kultur notorisch zu gering geschätzt. Die „Netze der Spinnen" in Ignaz von BORNS Parabel63 und CASSIRERS „symbolisches Netz" binden nicht nur, sie tragen vor allem.
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Ebd., 14. Ebd., 15. Zu diesem Begriff Hans LENK, ebd., 252. Assmann 1996 (wie Anm.29), 16f.
Johannes Rau Die Tradition von 1848 und die deutsche Sozialdemokratie1 Vor 150 Jahren war Revolution in Deutschland. Siebzehn Monate lang schien der Traum von einem freiheitlichen und geeinten Deutschland zum Greifen nahe. Das war vom März 1848 bis zum Sommer 1849. Nie zuvor hatten sich die Deutschen mutiger an die Reform ihres Landes gemacht, eines Landes, das in neununddreißig Staaten zersplittert war. Nie zuvor waren die Landesherren so verunsichert. Nie zuvor waren die Deutschen so selbstbewußt, nie zuvor hatten sie so entschieden auf ihre Bürgerrechte gepocht. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte schlossen die Deutschen zu den liberalen und demokratischen Bewegungen in Europa auf. Der Funke der Revolution war aus Paris über den Rhein gesprungen: In Köln sangen die Menschen sogar im Karneval die Marseillaise. Dichter und Denker bereiteten den Weg und ergriffen Partei fur die neue Zeit: Ferdinand FREILIGRATH, Georg HERWEGH und Georg WEERTH schrieben für die Revolution. Johann Peter HASENCLEVER und Christian KÖHLER malten für die Revolution. Gottfried SEMPER und Richard WAGNER gingen für die Revolution auf die Barrikaden. Sie alle und mit ihnen viele andere träumten den Traum Friedrich HECKERS, den Traum von der freien Republik. Heute wissen wir: Dieser Traum ging in Deutschland noch lange Zeit nicht in Erfüllung. Vor 150 Jahren wankten die Throne, aber sie fielen nicht. Im Kalender der beiden Revolutionsjahre liegen deshalb Tage des Hoffens und Tage des Scheiterns nahe beieinander. Da gibt es den 18. März 1848, an dem das Volk von Berlin auf die Barrikaden ging und den 19. März, an dem sich der preußische König vor den Märzgefallenen beugen mußte. Da gibt es allein drei badische Aufstände: den unter Friedrich HECKER vom 20. April und den unter Gustav von STRUVE vom 24. September 1848. Beide endeten tragisch, genauso wie der letzte verzweifelte Versuch vom Juli 1849, als mit der badischen Festung Rastatt die letzte Bastion der Revolution von 1848 fiel. Da gibt es den 1. Mai 1848 mit den Wahlen zur Nationalversammlung und den 18. Mai, an dem dieses erste gesamtdeutsche Parlament in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat. Und da ist der 9. November 1848, an dem Robert BLUM in Wien erschossen wurde und an dem der preußische General von WRANGEL die Revolution aus Berlin vertrieb. An diesem 9. November begann auch die schicksalsschwere Tradition deutscher Novembertage, die erst am 9. November 1989 in Einheit und Freiheit ihr glückliches Ende fand. Die meisten dieser Tage sagen uns mehr über das Scheitern als über das Gelingen deutscher Geschichte; das sind Tage, die uns in Erinnerung rufen, daß wir Deutsche in einem schwierigen Vaterland leben. Schwierig auch deshalb, weil die Revolution von 1848 nach ihrem Scheitern im eigenen Land nur wenig galt. Der Reaktion war mehr gelungen, als die Nationalversammlung auseinanderzujagen und das badische Revolutionsheer zu schlagen. Die Gegenrevolution siegte auch im Kampf um die Herzen und um die Köpfe vieler Deutscher. Revolution von unten galt fortan als unsittlich, als staatsfeindlich, ja als verdammungswürdig. Die Revolution von oben dagegen wurde zum Königsweg der deut1 Leicht überarbeitete Fassung der Rede, die Ministerpräsident Johannes Rau auf dem Forum der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD am 21.3.1998 im Abgeordnetenhaus zu Berlin gehalten hat.
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sehen Geschichte verklärt. Geschichte wurde fortan nicht mehr als „Geschichte der Freiheit" gesehen und - von Ausnahmen abgesehen - auch nicht geschrieben. „Revolution machen in Preußen eben nur die Könige". Dieses BISMARCK-Wort wurde zur herrschenden Meinung. Zu Recht schrieb der Historiker Veit VALENTIN in den dreißiger Jahren: „Es war die eigentliche Meisterleistung der Gegenrevolution, im deutschen Volk die Überzeugung von seinem Mangel an politischer Begabung zu verbreiten"; so weit und so nachhaltig zu verbreiten, daß die Furcht vor Revolutionen und sogar die Furcht vor toten Revolutionären bis in unsere Tage fortwirkte. Vor wenigen Jahren wollten Rastatter Sozialdemokraten eine Schule nach Ernst ELSENHANS benennen, dem sprachgewaltigen Freigeist, dem Prediger der Revolution und dem Herausgeber des Rastatter Festungsboten von 1849. Das Projekt scheiterte. Ein revolutionärer freiheitlicher Kopf - und sei es ein historischer - als Vorbild für die Jugend - das ging der Mehrheit des Stadtrates dann doch zu weit. Daß die meisten Deutschen ihre Revolutionäre nicht geschätzt haben, das zeigt auch das Beispiel Friedrich HECKERS. In den Vereinigten Staaten gibt es fast ein Dutzend Denkmäler für den badischen Revolutionär - in Deutschland keines. Im deutschen Bürgertum hatte die MärzRevolution mehr Verächter als Verfechter. Harte Kritik kam aber auch von links. Die Liberalen unter den Achtundvierzigern, so hieß es, hätten die Revolution aus eigensüchtigen Motiven verraten. Den Demokraten wurde angekreidet, sie hätten nur am „Krückstock des Alten Fritz das gelobte Land der bürgerlichen Freiheit zu betreten gewagt," wie Franz MEHRING geschrieben hat. Aufs Ganze gesehen war es aber doch die demokratische Arbeiterbewegung, die sich den Ideen und den Idealen von 1848 am meisten verpflichtet fühlte, obwohl es eine bürgerliche Revolution war und obwohl in der Frankfurter Paulskirche kein einziger Arbeiter saß. Friedrich EBERT zum Beispiel hat 1 9 2 3 bei der 75-Jahr-Feier der Revolution das Wollen und Wirken der Achtundvierziger hochgehalten, ihnen die so lange Zeit vorenthaltene staatliche Anerkennung verschafft und die junge Republik von Weimar in die Tradition von 1 8 4 8 gestellt. Nach 1 9 4 9 war es Gustav HEINEMANN, der früher als die meisten anderen die revolutionäre Volksbewegung der Jahre 1 8 4 8 / 4 9 wieder in ihr historisches Recht setzte. Er hat als Bundespräsident zu einer Zeit, als das alles andere als „politisch korrekt" war, diese Freiheitsbewegung aus der kollektiven Verdrängung hervorgeholt, um sie, wie er sagte, mit unserer Gegenwart zu verknüpfen. Auch aus heutiger Sicht bleibt es wichtig, nach Ursachen und Folgen der Revolution zu fragen, ihren Nachhall und ihre Wirkungen in der deutschen und in der europäischen Geschichte zu erforschen. Für Sozialdemokraten kann es sehr erhellend sein, zu wissen, was die Revolution von 1848 für die demokratische Arbeiterbewegung in Deutschland bedeutet hat und bedeutet. Dabei ist zunächst einmal an die lange Reihe der Opfer dieser Revolution zu erinnern. Sie reicht von den Märzgefallenen in Berlin bis zu den Freiheitskämpfern in der Festung Rastatt. Von ihnen haben die sogenannten Sieger der Geschichte im Juli 1849 jeden Zehnten ohne Gnade erschossen. Dann darf auch die Unterdrückung und die Vertreibung der freiheitlichen Kräfte nicht verschwiegen werden, die nach 1849 einsetzte. Allein aus Baden mußten 80.000 Menschen fliehen oder wurden ausgewiesen. Viele suchten und fanden, wie Carl SCHURZ, der spätere amerikanische Innenminister, in der neuen Welt ihr Glück. Wir können heute nur ahnen, welcher Aderlaß an Bürgersinn das gewesen ist und was für ein Verlust an politischem Engagement.
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Deutschland hätte beides in den folgenden Jahrzehnten bitter nötig gehabt. Statt dessen sah die Mehrheit der Deutschen in der gescheiterten Revolution von unten eine Legitimation für BISMARCKS Revolution von oben. Diese sogenannte „Weiße Revolution" brachte zwar die Einheit, aber nicht in Frieden und Freiheit, sondern durch „Blut und Eisen". Nach den Einigungskriegen blieben überkommene Machtpositionen in PreußenDeutschland beherrschend - und auch unzeitgemäße Sonderrechte, vor allen Dingen der Krone und des Adels. Seinen wirtschaftlichen Rückstand gegenüber den westlichen Industrienationen holte das Land rasch auf. In Wissenschaft und Forschung schlug das Kaiserreich bald alle Konkurrenten aus dem Feld. Politisch blieb Deutschland allerdings eine „verspätete Nation", wie Helmut PLESSNER gesagt hat. Die große Mehrheit der Bürger richtete sich - mit Thomas M A N N ZU sprechen - in einer „machtgeschützten Innerlichkeit" häuslich ein, die ein Staat garantierte, der stärker tat und aussah, als er letzten Endes war. Den Achtundvierzigern freilich sind diese politischen Verspätungen und gesellschaftlichen Verzögerungen Deutschlands sicher nicht anzulasten. Und noch weniger die fatalen Konsequenzen für die deutsche Geschichte, die sich daraus auf längere Sicht ergaben und die zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte so vieles beigetragen haben. Auch die Volks- und Freiheitsbewegung der Revolutionsjahre hatte ihre Schattenseiten: Da war in ihrer Mitte nicht selten ein rücksichtsloser Nationalismus, und es gab einen aufkeimenden Antisemitismus an ihren Rändern, der sich nicht zuletzt bei den Bauernaufständen regte. Auf diese Schattenseiten hat der Historiker Lothar GALL jüngst noch einmal aufmerksam gemacht, und das zu Recht, wie ich meine, denn gewiß wäre es falsch, in einem Gedenkjahr wie diesem darüber idealisierend hinwegzugehen. Zum Mythos darf uns die Revolution von 1848 nicht werden. Falsche Feierlichkeit wäre fehl am Platze. Deshalb dürfen wir auch an der inneren Schwäche der revolutionären Kräfte jener Tage nicht vorbeisehen. Die Klassenangst des Bürgertums vor Demokratie und sozialer Veränderung war offenkundig, ebenso die politische Unerfahrenheit und - daraus resultierend - die Unentschlossenheit der Freiheitskämpfer. Zu scharf, ja wohl unaufhebbar, blieb schließlich in der revolutionären Bewegung von 1848 der Gegensatz zwischen liberalen Freiheitsrechten, demokratischen Gleichheitsansprüchen und Sozialrevolutionären Zukunftsvisionen. Trotzdem standen die Achtundvierziger in ihrem Denken und Handeln weit eher für die weiße als für die schwarze Linie deutscher historischer Kontinuität, wie Helga GREBING das einmal gesagt hat. Und heute wissen wir auch, daß diese Revolution weit mehr an der Stärke ihrer Feinde als an der Schwäche ihrer Freunde gescheitert ist. Sie hat sich auch daran zerrieben, daß zu viele Probleme gleichzeitig auf der politischen Tagesordnung standen. Das war die Frage nach der nationalen Einheit, nach den Grenzen der deutschen Nation, das war aber auch die Diskussion um liberale Freiheitsrechte und die Forderung nach einem Stück mehr sozialer Gerechtigkeit. Auf einen Schlag wären diese Fragen, Probleme und Forderungen auch unter glücklicheren Umständen kaum zu lösen gewesen. Wie hätten denn die Achtundvierziger - fragte Eugen KOGON zu Recht - der gegebenen Machtverhältnisse Herr werden können? „Die Gesinnung der Menschen, trotz alledem biedermeierisch, die Armeen aus Bauernsöhnen, trotz alledem gehorsam in der Hand der Fürstengeneräle, das Geld in den Kassen der Höfe, die Verwaltungen landesherrlich und ständisch." So blieb die Revolution - wie Michael FREUND schreibt - „ein in den Lüften schwebender Baum, keine Wurzel erreichte die Erde." Das war aber nicht
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nur in Deutschland so. 1848 - das war ein europäisches Revolutionsjahr, und auch die Volks- und Freiheitsbewegungen jenseits der deutschen Grenzen scheiterten, selbst in den Ländern, die ihre nationale Einigung längst hinter sich hatten. Die bürgerliche Revolution von 1848/49 war in Deutschland ein historischer Wendepunkt, an dem die deutsche Geschichte sich eben nicht wendete. Das ist unter Historikern ein geflügeltes Wort, und auf den ersten Blick hat es viel für sich. Schaut man jedoch genauer hin, dann sieht manches anders aus. Die deutsche Geschichte wechselte gewiß nicht die Richtung, aber sie geriet doch stark in Bewegung. Die Revolution wurde zur Basis einer beschleunigten Evolution, und gerade im Gedenkjahr gibt es zum Glück viele Beiträge, die ausgewogen Bilanz ziehen, die festhalten, was die Revolution an zukunftsträchtigen Entwicklungen in den deutschen Staaten angestoßen hat: Beispielsweise den endgültigen und unwiderruflichen Übergang zum Verfassungsstaat, wie eng dessen Grenzen zunächst auch immer gezogen waren; dann das politische Vereinswesen und die Gründung von Parteien, den Abschluß der Agrarreformen, das Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit und nicht zuletzt die ersten sozialpolitischen Gesetze und längst überfalligen Strafrechtsreformen. Schließlich verdanken wir der Paulskirchen-Versammlung einen großartigen Fundus an verfassungspolitischen Leitgedanken, darunter die liberalen Grundrechte mit insgesamt fünfzig Paragraphen in neun Artikeln. Dazu gehört auch viel von dem, was wir den Deutschen jener Zeit vielleicht nicht zugetraut hätten: Die Aufhebung des Adels als Stand und die Abschaffung aller Standesunterschiede; die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung; die Freiheit von Wissenschaft und Lehre; die Versammlungsund Vereinsfreiheit auch innerhalb des Heeres und der Kriegsflotte; und - das will ich auch nennen - nicht nur die Schulgeldfreiheit, sondern auch die beamtenrechtliche Stellung der Lehrer an öffentlichen Schulen. Aus den Verfassungstraditionen der Frankfurter und später der Weimarer Nationalversammlung schöpfte das Bonner Grundgesetz von 1949, schöpfte auch die deutsche Einigung des Jahres 1990. Zu Recht hat man deshalb die Paulskirchen-Verfassung einen „großen Augenblick der deutschen Geschichte" genannt. Auch Schicksal und Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sind mit der Revolution von 1848/49 eng verbunden. Das Bürgertum gewann nach der Revolution finanziellen und wirtschaftlichen Spielraum, verlor aber im Politischen die Identität mit sich selber. Bei den lohnabhängigen Schichten war das anders. Sie steckten Niederlage auf Niederlage ein, aber das trug dazu bei, daß sie zum Bewußtsein ihrer Klasseninteressen gelangten. Michael STÜRMER hat das zu Recht eine der großen Paradoxien der Revolutionszeit genannt. Das Jahr 1848 gab den entscheidenden Gründungsimpuls für die Organisationen der Arbeiter in Deutschland. In diesem Jahr prägten sich auch jene beiden Ausdrucksformen des politischen Engagements aus, deren Mit- und Gegeneinander die deutsche und die internationale Arbeiterbewegung lange und intensiv beschäftigten, die sie später aber auch so verhängnisvoll entzweiten und spalteten. Das eine war die revolutionäre Vision, die von Karl M A R X und Friedrich ENGELS und dem Bund der Kommunisten ausging, der 1847 gegründet wurde; das andere war die reformorientierte Praxis, wie sie sich in Stefan BORNS „Arbeiterverbrüderung" von 1848 verkörperte. Die „Arbeiterverbrüderung" überlebte die Revolution nur wenige Jahre. Aber ohne sie und ohne die Erfahrungen von 1848, die Stefan BORN in Berlin, Ferdinand L A S SALLE in Düsseldorf und Wilhelm LIEBKNECHT in Baden gemacht hatten, wäre das, was
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folgte, kaum denkbar gewesen. Was folgte, das war die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im Jahr 1863, der Eisenacher Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahr 1869 und schließlich die Vereinigung der deutschen Arbeiterbewegung auf dem Gothaer Parteitag von 1 8 7 5 . Die Eisenacher waren die Partei August BEBELS; und August BEBEL hat später wie kein Zweiter den Kampf der deutschen Arbeiterbewegung personifiziert - den Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus; und auch, was wir nicht vergessen dürfen, den Kampf für die volle soziale und politische Gleichberechtigung der Frauen. Die Erfahrungen der Revolutionszeit blieben nicht nur in der Führung, sondern auch in der Mitgliedschaft der Arbeiterbewegung stets gegenwärtig. Die revolutionären Opfer der Erhebungen und Barrikaden-Kämpfe und vor allem die Berliner Märzgefallenen wurden im Gedächtnis der Arbeiterbewegung zu einer moralischen Macht und, so wie die Toten der Pariser Commune, auch zu einem identitätsstiftenden Faktor. Es gehörte bald zur festen sozialdemokratischen Tradition, das ehrende Gedenken an die Gefallenen der internationalen Arbeiterbewegung dem nationalistischen Jubel entgegenzusetzen, den der Sedan-Tag im Kaiserreich gewöhnlich auslöste. Doch die junge Arbeiterbewegung übernahm zunächst auch die Widersprüche der Achtundvierziger-Revolution. Der Gegensatz von großdeutsch und kleindeutsch trennte Eisenacher und LASSALLEaner; und ebenso die Frage nach dem richtigen Bündnispartner, die Frage also, ob man sich an das fortschrittliche Bürgertum oder an das rückschrittliche Preußen binden sollte. Erst die Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahre 1871 schuf da vollendete Tatsachen. Die kleindeutsche Lösung hatte sich endgültig durchgesetzt, und mit einer bürgerlich-liberalen Opposition gegen BISMARCKS Revolution von oben war auf lange Sicht nicht zu rechnen. Für die kommenden Jahrzehnte blieb die sozialdemokratische Arbeiterbewegung auf sich allein gestellt. Das stärkte ihre Geschlossenheit, das kam ihrer Selbstbehauptungskraft zugute, das isolierte sie aber auch von der übrigen Gesellschaft, deren Meinungsmacher und Eliten sie als „Reichsfeinde" und „vaterlandslose Gesellen" verunglimpften, ausgrenzten und mit Verboten überzogen. Erst jetzt übrigens entfaltete ein Dokument seine volle Wirkung, das ebenfalls aus dem Revolutionsjahr stammt. Das war das „Kommunistische Manifest" von Karl M A R X und Friedrich ENGELS. Über dieses Dokument ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden. Das hat vermutlich nicht nur mit dem Jubiläum zu tun, sondern auch damit, daß dieser historische Text in einer für damalige Verhältnisse erstaunlich hellsichtigen Prognose das beschreibt, was wir heute Globalisierung nennen: „Den allseitigen Verkehr und die allseitige Abhängigkeit der Nationen" und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche - weltweit. Das „Manifest" ist eine politische Kampfschrift, die praktische Philosophie und politische Ökonomie mit einer sozialen Vision verbindet, und es ist nach wie vor ein Stück Weltliteratur. Aber in vielem wurde das Kommunistische Manifest auch zu einem Schlüsseltext für die totalitären kommunistischen Parteien und für ihre doktrinären Ideologien. Das kam nicht von ungefähr, denn es schreibt Heilsgeschichte in der profanen Sprache der Nationalökonomie, und es verkündet nicht mehr und nicht weniger als die Entdeckung der Bewegungsgesetze von Geschichte und Gesellschaft. Damit hat es seine große Wirkung auch in den Reihen der SPD nicht verfehlt. Auch für viele Sozialdemokraten wurde das Kommunistische Manifest „ein Buch der Hoffnung auf eine menschliche Welt", wie Günter BRAKELMANN kürzlich geschrieben hat.
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Diese Hoffnung hatte allerdings eine Kehrseite. Sie beförderte eine Haltung in der SPD, die Historiker heute „revolutionären Attentismus" nennen. Das war eine Haltung, in der reformistische Praxis und revolutionäre Theorie unverbunden nebeneinander standen, in der sich radikales Pathos im Wort und Fatalismus im Tun mischten. Der Wille zur Veränderung war in der deutschen Arbeiterbewegung da. Er wurde aber häufig überdeckt und gehemmt durch den unerschütterlichen Glauben an den Sieg des Sozialismus, den man mit „Naturnotwendigkeit" kommen sah. Der Sozialismus war das Ziel. Der Weg dorthin war die Demokratie. Lange Zeit galt die Demokratie in der SPD nur als Mittel zum Zweck. So kann man das in vielen Parteiprogrammen nachlesen. Erst in der alltäglichen Praxis, bei der Reformarbeit der kleinen Schritte, zu der vor allem die Gewerkschaften fanden, lernte man dazu; lernte die demokratische Arbeiterbewegung, daß Demokratie kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck ist, nicht nur eine Leiter zum Sozialismus. Demokratie ist, so hat es Gustav RADBRUCH treffend gesagt, „in Wahrheit die große, bereits verwirklichte und in jedem Augenblick zu verwirklichende Hälfte des Programms der Arbeiterbewegung." Die andere Hälfte, das war, ist und bleibt die Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in der Demokratie. Das sind die Grundwerte der deutschen Sozialdemokratie. Sie kommen aus unterschiedlichen geistigen, religiösen und sozialen Traditionen. Immer sind sie aber gleichrangig, und für uns Sozialdemokraten gehören sie stets zusammen. Sie bedingen einander, sie gelten nicht nur für wenige, sondern für jede und für jeden, nicht nur in einzelnen, sondern in allen Lebensbereichen. Für uns sind sie Eckpfeiler dessen, was wir soziale Demokratie nennen. Der Weg von 1848 bis heute ist der Weg vom Rechtsstaat zum Rechts- und Sozialstaat, von der formalen Freiheit zur realen Chancengleichheit, damit Freiheit nicht das Privileg jener wird, die es sich materiell leisten können. Das Rad der Geschichte wollen und dürfen wir in dieser Hinsicht nicht zurückdrehen. Aber wir wissen auch: Bloß fortgeschriebene Vergangenheit ist noch keine Zukunft. Wir Sozialdemokraten müssen uns deshalb immer fragen, was für uns Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute bedeuten, wie wir diese Grundwerte weiterentwickeln müssen, damit wir sie sichern können. Denn eines ist klar: Erst ein Grundgefuhl von Sicherheit, Verläßlichkeit und Vertrauen macht offen für neue Wege und für den Mut zum Experiment, ohne den es keinen Fortschritt geben kann. Ein Grundgefuhl der Sicherheit und Gerechtigkeit, das nicht lähmt, sondern das beflügelt - das ist der Stoff, aus dem Erneuerung entsteht. Wir dürfen es deshalb nicht zulassen, daß Freiheit allein auf individuelle Entscheidungsfreiheit ohne soziale Verantwortung verkürzt wird. Wir müssen uns dagegen wehren, wenn unter Berufung auf vorgeblich ökonomische Sachzwänge Ungleichheit eingefordert wird, weil nur sie Flexibilität und Dynamik bringe. Wir Sozialdemokraten wollen eine erfolgreiche, aber wir wollen auch eine humane Gesellschaft. Wenn wir aus der Geschichte und aus der Gegenwart unserer Welt eines gelernt haben, dann ist es das: Nur humane - und das heißt immer auch sozial und ökologisch verantwortlich handelnde - Gesellschaften können auf Dauer erfolgreiche Gesellschaften sein. Solche Gesellschaften Schotten sich nicht ab. Sie wissen, daß sie etwas tun müssen gegen Unfreiheit, gegen Unterdrückung und gegen Unterentwicklung - bei sich selber, aber auch jenseits ihrer Grenzen.
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Deshalb empfinde ich die Globalisierung auch als eine Chance - trotz ihrer krisenhaften wirtschaftlichen und sozialen Begleiterscheinungen. Für uns Sozialdemokraten ist sie eine große Herausforderung. Sie stellt uns auch vor die Aufgabe, unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur lokal, regional und national, sondern auch international, ja global zu definieren. In unseren Grundwerten kommen Erwartungen an die Gegenwart und an die Zukunft mit historischen Erfahrungen zusammen. Zu diesen historischen Erfahrungen gehört unabdingbar die Tradition von 1848; dazu gehören die Freiheitsforderungen der badischen Freischärler, der Hanauer Turner und der freiheitsliebenden Rheinländer; dazu gehören auch die Ideale der Heidelberger Liberalen und der Dresdner Demokraten. Dazu zählt schließlich das Wünschen und Wollen der Berliner Arbeiter und Gesellen, die, wie wir heute wissen, eine der größten Stützen der Berliner Volkserhebung vom März 1848 waren. Der Frühling der Freiheit, der vor 150 Jahren auch von Berlin ausging, ist eine starke Wurzel der deutschen Demokratie, er bleibt ein Stück unverlierbarer europäischer Freiheitstradition. Die SPD ist mit dieser Tradition eng verwachsen. Sie hat von den positiven Impulsen der Revolution gezehrt, sie hat aber auch unter den Folgen der Revolutionsjahre gelitten. Beides ist Teil unseres Erbes, beides gehört zu unserer Identität. Wir Sozialdemokraten wollen darauf nicht verzichten. Wir wollen und können nicht lassen vom Traum Friedrich HECKERS. Wir hängen an der freien Republik! Für uns war, ist und bleibt sie eine ständige Aufgabe - seit 150 Jahren. Ich wüßte keine vergleichbare politische Kraft in unserem Land, die genauso lange und ebenso beharrlich gestanden und gestritten hat für Einheit in Freiheit und für Demokratie in sozialer Verantwortung. In unseren Reihen hatten die Ideen von 1848 einen festen und sicheren Platz, und darum waren und sind sie bei uns gut aufgehoben.
Jürgen Kocka Geschichtsbewußtsein, Demokratie und Nation. Vier Thesen* I. Erinnerung als Ressource In Italien wurde ein - oft stilisiertes und geschöntes - Bild vom Widerstand gegen den Faschismus zu einem wichtigen Baustein der Legitimationsbasis der demokratischen Republik nach 1945. In der Bundesrepublik Deutschland hat die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus nie eine ähnlich starke Rolle gespielt. Vermutlich lag dies nicht nur allgemein an der unübersehbaren Schwäche des deutschen Widerstands 1933-45, sondern spezifisch auch daran, daß die HITLER-Diktatur, anders als die MUSSOLINIS, nicht einmal angesichts der sicheren Niederlage von innen gestürzt wurde, sondern nur durch die Eroberung von außen zu Ende gebracht werden konnte. Doch die Erinnerung an den Nationalsozialismus selbst ist in der Bundesrepublik in den letzten Jahren immer lebendiger geworden. Ohne diese Erinnerung gäbe es nicht den anti-nationalsozialistischen Konsens, der zur ideologischen Grundlage der Bundesrepublik gehört und heute stärker ist als 1949. Die Erinnerung an die „deutsche Katastrophe" der Jahre 1933-45 ist zweifellos eine Last. Der Umgang mit ihr ist nicht einfach. Über die „Vergangenheit, die nicht vergeht" hat so mancher geseufzt, und diese Vergangenheit ist heute gegenwärtiger denn je. Doch diese Erinnerung wirkt nicht nur als Last und schon gar nicht als Lähmung. Vielmehr kann sie auch Quelle politischer Kraft sein: als Anreiz zum politischen Engagement mit dem Ziel, Ähnliches zu verhindern; als Baustein der demokratischen Identität der Bundesrepublik, in bewußter Absetzung von ihrer diktatorischen Vergangenheit; sogar als Basis eines gewissen Stolzes darüber, daß die Bundesrepublik ihr nationalsozialistisches Erbe vergleichsweise gründlich überwunden hat und mit ihr in Deutschland zum ersten Mal eine funktionierende, stabile Demokratie entstanden ist. In diesem Sinn gehört die Erinnerung an den Nationalsozialismus zur Identität der Bundesrepublik unverzichtbar hinzu. Die Arbeit der Historiker trägt zum historischen Bewußtsein einer Gesellschaft, einer Kultur, eines Staates bei. Doch man soll ihren Einfluß nicht überschätzen. Bescheidenheit ist angesagt. Das historische Bewußtsein einer Zeit wird nur indirekt durch geschichtswissenschaftliche Beiträge geprägt, sehr viel stärker dagegen durch persönliche Erzählungen und vor allem durch die Medien. Wie hoffnungslos die Position von wissenschaftlich argumentierenden Historikern sein kann, wenn sie mit mächtigen Medienereignissen konkurrieren müssen, hat zuletzt das Buch von Daniel GOLDHAGEN gezeigt 1 . Fast einhellig wurde es von den professionellen Historikern kritisiert und zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde es zum großen Publikums- und Medienerfolg. Auf dem Gebiet der historischen Erinnerung gibt es offensichtlich weitverbreitete Bedürfnisse nach Verurteilung und Mythologisierung, nach Glorifizierung und Vereinfachung, die von der Geschichtswissenschaft nicht befriedigt werden können. Deren Aufgabe ist letztlich doch die Kritik. Ergänzte Fassung von Thesen, die ich auf der u.a. vom Goethe-Institut Rom veranstalteten Konferenz „Un Passato che Passa? Germania e Italia tra memoria e prospettiva" am 21. November 1996 in Rom vorgetragen habe. ' Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
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II. Wandlungen im Bild vom Nationalsozialismus Die nationalsozialistischen Jahre gehören zu den am besten untersuchten Perioden der deutschen Geschichte. Auf Einzelheiten ist hier nicht einzugehen. Blickt man auf die letzten Jahrzehnte, zeichnen sich aber auch gewisse Veränderungen im Gesamtbild ab, das sich Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, mit vielen Unterschieden, vom Nationalsozialismus machen. 1. Es fand eine starke Relativierung marxistischer Interpretationen statt, schon vor 1989/90, aber erst recht seitdem. Dies hatte u.a. die Konsequenz, daß die breite Verankerung des Nationalsozialismus im deutschen Volk besser erkannt worden ist. Man hat sich eindeutiger der unangenehmen Tatsache gestellt, daß der Nationalsozialismus eine Sache sehr vieler Deutscher war und nicht nur von kleinen Führungsgruppen verschuldet wurde, wie es die historisch-materialistische Theorie des „Anti-Faschismus" in der DDR und ähnliche Sichtweisen auch im westlichen Deutschland oft unterstellen. 2. Im Gegensatz zu früher wird der Nationalsozialismus heute weniger als ein Resultat vormoderner Überreste und anachronistischer Traditionen verstanden, vielmehr als ein Phänomen der Moderne selbst. Wiederum heißt das für das Verständnis des Nationalsozialismus: nostra causa agitur. Diese Umakzentuierung geht Hand in Hand mit wachsender Bereitschaft, die unvernünftigen Momente und bedrohlichen Schattenseiten der Moderne stärker wahrzunehmen. 3. Es besteht die Tendenz, den Nationalsozialismus nicht mehr ausschließlich - oder primär - als deutsches Phänomen zu betrachten, vielmehr zunehmend als Teil eines größeren europäischen Phänomens zu verstehen. Ernst Nolte hat Mitte der 80er Jahre die Europäisierung der Interpretation des Nationalsozialismus in einer radikalen Variante vorgeschlagen. Das entbehrte nicht der apologetischen Züge, wurde im „Historikerstreit" kritisiert und hat sich nicht durchgesetzt . Als einflußreicher dürfte sich der Versuch von F r a n c i s FÜRET erweisen, der kürzlich ebenfalls die europäischen Faschismen (einschließlich ihres radikalsten Falls, des deutschen Nationalsozialismus) in ihrem großen europäischen Zusammenhang und ihrer Wechselwirkung mit dem sowjetischen Bolschewismus interpretierte3. Insgesamt bleibt dies eine Aufgabe der historischen Forschung und Interpretation: Der vergleichende Blick auf die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts in ihrem Wechselverhältnis wird die nationalgeschichtliche Nabelschau zunehmend ablösen müssen. Auch gegen den Vergleich „brauner" und „roter" Diktaturen ist an sich nichts einzuwenden, im Gegenteil. Doch am Ende wird man nicht davon ablenken können und dürfen, daß Deutschland das Hauptland des europäischen Faschismus war und der Zweite Weltkrieg wie auch der Holocaust aus Deutschland hervorgingen. Der Europäisierung der Nationalsozialismus-Interpretationen sind insofern klare Grenzen gezogen. III. Diktaturenvergleich und Totalitarismus Manche fürchteten vor einigen Jahren, daß die Umwälzung von 1989/90 die Erinnerung an die Zäsur von 1945-1949 überlagern und damit die Erinnerung an den Nationalsozia2
Rudolf Augstein u.a.: „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987. 3 Francois Füret: Das Ende der Illusionen. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1995. Jetzt auch ders. und Ernst Nolte: „Feindliche Nähe". Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel, München 1998.
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lismus verdrängen würde. Dies ist nicht geschehen. Ganz im Gegenteil, die „Erinnerungsindustrie" boomt, Bücher und Filme beschäftigen sich weiterhin intensiv mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, einschlägige Ausstellungen haben Hochkonjunktur, Denkmäler werden geplant und errichtet. Die spektakuläre und im Endeffekt auch in Deutschland positive Rezeption des Buchs von Daniel GOLDHAGEN ist ein Beleg dafür unter anderen. Je mehr sich die Öffentlichkeit mit der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur, der DDR, beschäftigte, desto aufmerksamer wurde sie für die Geschichte der ersten, der nationalsozialistischen. Allerdings kann die Heftigkeit der demonstrativen öffentlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Opfer die Unsicherheit nicht verbergen, die den Umgang der Deutschen mit diesem Stück ihrer Geschichte weiterhin prägt. Auch mag es in großen Teilen der Bevölkerung mehr Reserviertheit gegenüber allzu gewollter Erinnerungsarbeit geben als in der veröffentlichten Meinung sichtbar wird. Der Vergleich zwischen „Drittem Reich" und SED-Regime ist häufig. Tatsächlich ähnelten sie einander in der Verneinung des Rechts- und Verfassungsstaats, der Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte, der Zurückweisung des politischen und kulturellen Pluralismus, im Streben nach politischer Kontrolle der sozialen und kulturellen Verhältnisse, in bestimmten Formen der Repression, bis hin zum Terror. Beides waren Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Es setzt sich immer mehr durch, beide als „totalitär" zu bezeichnen. Auch das scheint nicht unberechtigt, insbesondere dann, wenn man mit dem Begriff „totalitär" darauf abhebt, daß diktatorische Herrschaft die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse steuert, kontrolliert und prägt. Gemessen an der Gründlichkeit und Nachhaltigkeit der politischen „Durchherrschung" von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft war die DDR die totalitärere der beiden deutschen Diktaturen 4 . Wenn man dagegen in Anlehnung an Hannah ARENDT und Emil LEDERER als zentrale Kennzeichen totalitärer Regime ihre hohe Neigung zu ständiger Mobilisierung, ihre große Vernichtungsenergie nach innen und außen, ihre aggressive Dynamik bis hin zur Selbstzerstörung sowie exzessive Gewalt und Terror versteht, dann war zweifellos das „Dritte Reich" sehr viel totalitärer als die DDR. Versteht man „totalitär" in dieser Weise, dann mag man bezweifeln, ob die - nach dieser Umschreibung - zweifelsfrei totalitären Fälle des Hitlerfaschismus und der stalinistischen Sowjetunion mit der - nach dieser Umschreibung - kaum noch totalitären DDR unter HONECKER durch ein und dasselbe kennzeichnende Attribut (eben „totalitär") auf eine Stufe gestellt werden sollten. Sollte man die DDR der siebziger und achtziger Jahre, ähnlich wie Polen und Ungarn (wenn auch nicht im gleichen Maße wie diese) nicht eher als „post-totalitäre" kommunistische Diktatur fassen und die DDR unter Ulbricht als kommunistische Diktatur im Übergang vom Totalitarismus zum Post-Totalitarismus 5 ? Der wissenschaftlich verantwortliche Vergleich zielt immer auf die Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Je mehr man das nationalsozialistische Deutschland und die DDR wissenschaftlich vergleicht, desto deutlicher treten die großen Unterschiede zwischen diesen beiden Diktaturen hervor: nicht nur in bezug auf ihre Ideologie, Gesellschaftsordnung und Wirtschaftsstruktur, sondern auch in bezug auf das Verhältnis von 4
So etwa Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt (M.) 1992. 5 In gewisser Anlehnung an Juan Linz/A. Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore/London 1996, bes. 295 (Anm.4).
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Partei und Staat, das Ausmaß des Terrors, die von ihnen ausgehende Vernichtungsenergie nach innen und außen sowie in bezug auf das Mischungsverhältnis von Dynamik und Erstarrung, das ihnen eigen war. Allerdings bestanden auch gravierende Ähnlichkeiten zwischen dem „Dritten Reich" und dem SED-Regime, die im kontrastiven Vergleich zum liberalen Verfassungs- und Rechtsstaat sehr deutlich werden. Beides waren Diktaturen, und die Kenntnis ihrer diktatorischen Merkmale gehört nicht nur zur historischen Wahrheit, sondern mag auch die wünschenswerte Distanzierung von beiden stärken, den „antidiktatorischen Konsens", an dessen Existenz in der heutigen Bundesrepublik nicht zu zweifeln ist6. IV. Z u m Problem der Nation Die Debatte über das Verhältnis der Historiker zur deutschen Nation ist derzeit nicht allzu lebhaft, doch wohl noch nicht beendet. Jens H A C K E R Z . B . wird nicht müde, „deutsche Irrtümer" zu geißeln und Historikern wie Heinrich August W I N K L E R , Hans-Ulrich W E H LER und Hans M O M M S E N vorzuwerfen, vor 1989/90 das Ziel der staatlichen Einheit der Deutschen aus den Augen verloren, ihm direkt widersprochen oder in anderer Weise der nationalen Sache die auch damals angebrachte intellektuelle Unterstützung verweigert zu haben 7 . Karl Dietrich B R A C H E R wird rückblickend dafür getadelt, die „transnationale Offenheit" und den „postmodernen" Charakter der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre hinein billigend analysiert und fehleingeschätzt zu haben 8 . Umgekehrt wirft neuerdings der in Wales lehrende Historiker Stefan BERGER denselben Historikern vor, nach dem Umbruch von 1989/90 von ihren früheren Positionen abgerückt zu sein und an einer „Renationalisierung" des deutschen Geschichtsbildes mitzuwirken, die er als gefährlich einschätzt 9 . Nun soll nicht bezweifelt werden, daß sich mancher in den Jahrzehnten vor 1989/90 geschriebene Satz zur „deutschen Frage" heute nicht mehr verteidigen läßt und als vorschnelle Verallgemeinerung aus einer historischen Situation zu erkennen ist, die sich als wandelbarer erwies als erwartet. Die Korrektur einstmals vertretener Positionen ist sicher bisweilen nötig, und Umorientierungen finden statt. Jeder Fall ist anders, und um Einzelne geht es jetzt nicht. Aber generell ist zu betonen, daß es gerade die Konsistenz
6 Vgl. die Debatte „Zur Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart", in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. v. Deutschen Bundestag, Bd.IX, Baden-Baden u. Frankfurt (M.) 1995, 576-675; dort 588-97, 611-13 ausführlicher zu meiner Position. 7 Jens Hacker: Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992; 2 1994 mit neuem Nachwort. 8 Vgl. die Leserbriefe in der FAZ v. 11.11.1997 und v. 20.11.1997. 9 Stefan Berger: Der Dogmatismus des Normalen. Wer sind wir denn? Über die Renationalisierung der Geschichtswissenschaft, in: Frankfurter Rundschau v. 16.4.1996; ausführlicher ders.: The Search for Normality, Providence 1997.
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in der grundsätzlichen Orientierung an zivilgesellschaftlichen Werten10 verlangt, die Problematik der deutschen Nation nach 1989/90 anders zu diskutieren als vor 1989/90. Bis 1989 war die Existenz der Bundesrepublik ein Beleg fur die These, daß es zur Realisierung und Festigung zivilgesellschaftlicher Grundsätze auch in Staaten kommen kann, die nicht als Nationalstaaten verfaßt sind. In der Bundesrepublik gelang es, und zwar erstmals in der deutschen Geschichte, einen stabilen liberal-demokratischen Verfassungsstaaat zu errichten, eine relativ offene Gesellschaft zu verwirklichen, eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit tiefgreifenden sozialstaatlichen Korrekturen zu verknüpfen und eine Kultur zu prägen, die einigermaßen an Grundsätzen der Zivilität orientiert war - all dies jedenfalls im Grundsatz, trotz vieler Einschränkungen im Einzelnen und unbeschadet der Tatsache, daß gerade einer solchen zivilgesellschaftlichen Ordnung tiefe Probleme (z.B. nicht legitimierbare Ungleichheit und gefahrliche Lebensrisiken) inhärent sind, deren langfristige Beherrschung keineswegs ausgemacht ist. Aber diese „Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik setzte die Zurückstufung nationalstaatlicher Einheitsziele grundsätzlich voraus. Wer nämlich damals vorbehaltlos das Ziel der nationalstaatlichen Wiedervereinigung beschwor, war in der Gefahr, diese Bundesrepublik als Provisorium auf Zeit abzuqualifizieren, als ungeliebtes Produkt einer von außen erzwungenen Spaltung, mit begrenzter, ja fraglicher, Legitimität. Gerade wer sich zivilgesellschaftlichen Grundsätzen verpflichtet wußte, mußte das deutsch-nationale Argument als tatsächlich oder potentiell kontraproduktiv für deren - schließlich nicht selbstverständliche, immer gefährdete - Realisierung begreifen und sich entsprechend verhalten, zumal die zurückliegenden Jahrzehnte genügend viele Beispiele dafür gebracht hatten, daß Nationalstaat und Diktatur durchaus kompatibel sind, dagegen Nationalstaat und zivilgesellschaftliche Grundsätze im harten Gegensatz zueinander stehen können. Aus dem auch in der Rückschau richtigen und insgesamt erfolgreichen Eintreten für die zivilgesellschaftliche Grundstruktur der Bundesrepublik ergab sich bis 1989/90 mit gewisser Notwendigkeit die auf sehr verschiedene Art und Weise formulierte Distanz zur nationalstaatlichen Zielsetzung, und zwar nicht nur aus strategisch-politischen Gründen, sondern prinzipiell - was im übrigen die scharfe Kritik an dem diktatorischen Charakter der DDR nicht ausschloß, im Gegenteil. Die Möglichkeit des Umbruchs, wie er 1989/90 vollzogen wurde, hatten die Vertreter des geschilderten Denkansatzes allerdings nicht eingerechnet. Hier liegt ihr, wenn man will, Fehler, ein Fehler, den sie allerdings mit den allermeisten Vertretern der allermeisten anderen Positionen teilten. In dem Augenblick, als die reale Möglichkeit auftauchte, die nationalstaatliche Einigung zu vollziehen und dabei die „westlich" geprägte Verfassungs- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik nicht auf dem Altar einer ganz anders verfaßten, ganz anders eingebetteten „nationalen Lösung" zur Disposition zu stellen, sondern sie vielmehr nach Osten hin auszudehnen, änderte sich die Argumentation. Man mochte weiterhin die Erinnerung an die vergangenen Perversionen des Nationalstaats im mittleren Europa bewahren, die Grenzen dieser Staatsform im Zeitalter sich beschleunigender Globalisierung kennen und weit von heißer Begeisterung über die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats entfernt sein - das liberal-demokratische, zivilgesellschaftliche Argument gegen den Nationalstaat und seinen historischen Sinn in 10 Zur Umschreibung des Begriffs „Zivilgesellschaft" (Bürgergesellschaft) und als Beispiel für den geschichtswissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs: Jürgen Kocka: The difficult rise of a civil society: societal history of modern Germany, in: Mary Fulbrook (Hg.): German History since 1800, London 1997, 493-511, bes. 498.
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Deutschland verlor jedenfalls schlagartig an Gewicht. Dies um so mehr, als es nunmehr möglich erschien, die Wiedervereinigung als besten Weg zur Festigung freiheitlicher Demokratie und zur sozialen Besserstellung der Ostdeutschen zu sehen, d. h. als mögliches Instrument der Veränderung unter zivilgesellschaftlicher Zielsetzung, nicht als deren Hindernis". Damit stellen sich zahlreiche neue Probleme, die Antworten darauf sind so vielfältig wie es die Antworten auf die (anderen) Probleme vor 1989 waren. Nur zweierlei sei betont: Einerseits halte ich es nicht für richtig, die links von der Mitte in der Zeit vor 1989/90 verbreitete Skepsis und Distanz gegenüber Nation und Nationalstaat als „linke Lebenslüge" zu bezeichnen 12 . Andererseits sollte man nicht als inkonsistente, anpasserische Kurskorrektur kritisieren, daß ein und derselbe Historiker nach 1989/90 über Nation und Nationalstaat anders urteilt als vorher. Gerade wer die Frage nach einer nationalstaatlichen Organisation von Politik und Gesellschaft nicht verabsolutiert, nicht durch heißes Bekenntnis beantwortet, sondern als ein Problem begreift, das in verschiedenen historischen Situationen nach Vor- und Nachteilen abgewogen werden muß, wenn denn Grundwerte wie Freiheit, demokratische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit optimal verwirklicht werden sollen, wird zu einer neuen Beurteilung der nationalen Sache in der durch 1989/90 stark veränderten Konstellation bereit sein. Das Gegenteil wäre verwunderlich.
" Dies ausführlicher in Jürgen Kocka: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, 9-32, bes. 23-28. 12 So Heinrich August Winkler: Kehrseitenbesichtigung. Zehn Jahre danach: Ein Rückblick auf den deutschen Historikerstreit, in: Frankfurter Rundschau v. 20.10.1996.
Helmut Berding Völkische Erinnerungskultur und nationale Mythenbildung zwischen dem Kaiserreich und dem „Dritten Reich" „Wenn die nationalsozialistische Bewegung wirklich die Weihe einer großen Mission für unser Volk vor der Geschichte erhalten will, muß sie [...] den Mut finden, unser Volk und seine Kraft zu sammeln zum Vormarsch auf jener Straße, die aus der heutigen Beengtheit des Lebensraumes dieses Volkes hinaus fuhrt zu neuem Grund und Boden und damit auch für immer von der Gefahr befreit, auf dieser Erde zu vergehen oder als Sklavenvolk die Dienste anderer zu besorgen." Mit diesen Worten sprach Adolf HITLER im zweiten Band seines Buches Mein Kampf (1926) einen zentralen Punkt der nationalsozialistischen Weltanschauung an: die Eroberung von Lebensraum für das deutsche Volk. Die völkische Lebensraumideologie, die sich im Nationalsozialismus mit einem obsessiven Antisemitismus verband und den Weg in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges bahnte, war keine Erfindung HITLERS und seiner Gesinnungsgenossen. Sie beruhte auf einer langen Tradition, die im frühen 19. Jahrhundert wurzelt, im Deutschen Kaiserreich mächtig an Einfluß gewann und in der Weimarer Republik weiter Auftrieb erhielt. So führt eine wenn auch vielfach gebrochene Verbindungslinie von den Volkstumsideologen der politischen Romantik über den integralen Nationalismus der Alldeutschen bis hin zur Lebensraum- und Volkstumsforschung des neuen Nationalismus in der sogenannten „Konservativen Revolution". „Volk" und „Raum" waren die zentralen Kategorien dieses Denkens, das sich mit der deutschen Nationalidee verband, zu einer geschlossenen Weltsicht und Geschichtsauffassung verdichtete, in einem idealisierten Germanentum den Ursprung und in der Schaffung eines großgermanischen Reichs die historische Mission des deutschen Volkes erblickte. Diese Verschmelzung von Vergangenheitsvorstellungen und Zukunftsvisionen begründete einen nationalen Mythos, der, längst bevor er im Nationalsozialismus seine mobilisierende und integrierende Kraft voll entfaltete, erheblichen Einfluß auf die Erinnerungskultur in Deutschland gewann. Darum geht es in den folgenden Überlegungen, die sich nach einem kurzen Rückblick auf die Anfänge der völkischen Erinnerungskultur (I) mit dem Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich (II) und dem Volk-ohne-Raum-Mythos in der Weimarer Republik (III) befassen*. I Die völkische Erinnerungskultur beruht auf ideengeschichtlichen Voraussetzungen, die von der Philosophie und Sprachforschung des deutschen Idealismus geschaffen worden waren. Bekanntlich entwickelte Johann Gottfried HERDER als erster die Vorstellung, daß jedes Volk eine eigene, vornehmlich in der Sprache begründete Eigenart besitze, den „Volksgeist". Auf diese Weise erschienen Völker als historische Individualitäten sui generis. Hatte HERDER damit alle Völker gleichermaßen aufgewertet, schrieb Johann Gottlieb FICHTE ihnen unterschiedliche Werte zu. In seinen Augen stellten die Deutschen * Grundlage dieser Erörterungen bilden die noch laufenden Untersuchungen zum Thema „Völkische Erinnerungskultur und nationale Mythenbildung", die im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen durchgeführt werden. Für wichtige Hinweise und Anregungen habe ich Annette GÜMBEL und Rainer KIPPER zu danken.
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aufgrund ihrer niemals verfälschten Sprache das „Urvolk" dar, während die ursprünglich ebenfalls zur germanischen Sprachfamilie gehörenden „neulateinischen" Völker durch die Verfremdung des Idioms ihre Originalität eingebüßt und damit ihre schöpferische Kraft verloren hatten. Hier kehrte, eingekleidet in eine veränderte Argumentation, der in der TACITUS-Rezeption entwickelte Topos von der germanisch-deutschen Ursprünglichkeit zurück. Damit entstand ein romantisches Germanenbild. Es erneuerte den Germanenmythos der frühen Neuzeit, hypostasierte den im Humanismus entworfenen Volksbegriff und verlieh ihm damit neues Gewicht und neue Qualität. Mit dem romantischen Germanenbild verbreitete sich in den 1830er und 1840er Jahren eine als „Germanismus" bezeichnete Ideologie. Sie sah in den germanischen Völkern und ihrer Kultur eine universalhistorische Kraft von besonderer geschichtlicher Geltung und normativer Relevanz. Gestützt auf die Geschichtsphilosophie Georg Friedrich Wilhelm HEGELS interpretierten vornehmlich protestantische Historiker Vorgänge und Geschehnisse der Universalgeschichte wie beispielsweise die Eroberung Galliens durch die Franken oder die Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents als Siege oder Niederlagen des Germanentums (Heinz GOLLWITZER). Die Überzeugung, daß das Germanentum Träger überlegener, vorbildlicher, zukunftsweisender Ideen und Werte sei, geriet seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Sog der sich ausbreitenden Rassentheorien. Neben der kulturtheoretischen Rassenlehre von Arthur Graf GOBINEAU gewann vor allem die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie von Charles DARWIN Einfluß. So entfernte sich das völkische Denken Schritt für Schritt von seinen idealistischen Anfängen und näherte sich immer mehr dem Biologismus an. Zur Popularisierung eines rassentheoretisch eingefärbten Germanenmythos leistete der Bayreuther Kreis, allen voran Richard WAGNERS Schwiegersohn Houston Stewart CHAMBERLAIN, einen wichtigen Beitrag. Sein Bestseller Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts stellte dem mediterranen „Völkerchaos" die wertvolle Rasse der Nordeuropäer gegenüber, erhob den Gegensatz von Germanentum und Judentum zum zentralen Thema der Weltgeschichte und sprach damit einem „Erlösungsantisemitismus" das Wort, der aus der Furcht vor rassischer Entartung und aus dem religiösen Glauben an Erlösung hervorging (Saul FRIEDLÄNDER). Im Vordringen des völkischen Denkens spiegelte sich die geistige Situation der Reichsgründungszeit. Der Ausgang der nationalen Einigungskriege und der inneren Auseinandersetzungen um die Lösung der deutschen Frage warf schwierige Identitätsprobleme auf. Im kleindeutschen Reich, das wirtschaftlich und sozial, politisch und konfessionell, regional und kulturell stark fragmentiert und von erheblichen Spannungen durchzogen war, fehlte es an einer konsensfähigen historischen Tradition. Die nationale und kulturelle Identität der im protestantischen Hohenzollernreich vereinten Deutschen mußte erst noch hergestellt werden. An der Identitätsfrage entzündete sich eine heftige Diskussion. In ihr verband sich das Ringen um ein neues nationales Selbstverständnis mit politischen Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der deutschen Politik. So schwangen beispielsweise in der politischen Agitation der Kolonial- und der Flottenenthusiasten oder im Verlangen nach deutscher Weltpolitik und in den Mitteleuropaplänen der Politiker stets bestimmte Vorstellungen vom „Beruf der Deutschen in der Welt" mit, kam die Geschichte ins Spiel und diente der Rückgriff auf die Vergangenheit zur Rechtfertigung politischer Forderungen. Dabei vollzog sich das Erinnerungsgeschehen in drei Teilkulturen, die in der Diskussion um die nationale Identität der Deutschen und um die Zielsetzung der deutschen Politik miteinander konkurrierten. Da war einmal die althistorische Erinnerungskultur. Sie konnte, vorwiegend durch die Gymnasialbildung vermit-
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telt, an die große normative Bedeutung der antiken Mythologie und Geschichte in früheren Jahrhunderten anknüpfen, eine Verbindungslinie von der griechischen zur deutschen Nation ziehen und sie in ein neuhumanistisches Gewand hüllen. Da war sodann die mediävistische Erinnerungskultur. Sie wurde vornehmlich von der sich entfaltenden Geschichtswissenschaft ausgestaltet und spielte in den nationalpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit eine erhebliche Rolle. Man denke etwa an den berühmten SYBELFLCKER-Streit über die mittelalterliche deutsche Kaiserpolitik. Da war schließlich die neuzeitlich-borussische Erinnerungskultur. Sie interpretierte, zumal nach 1871, die Geschichte der Hohenzollernmonarchie als Vorgeschichte des deutschen Nationalstaats, auf den sie die preußischen Tugenden übertrug. Parallel zur althistorischen, mediävistischen und neuzeitlich-borussischen Erinnerungskultur entwickelte sich die völkische Erinnerungskultur. Sie sah im Volk den Träger des Geschichtsprozesses und beantwortete die Frage nach der nationalen Identität mit dem Rückgriff auf die germanische Frühzeit. II In der Zeit unmittelbar nach der Reichsgründung deutete eine ganze Reihe von symbolträchtigen Geschehnissen auf die Ausbreitung einer völkischen Erinnerungskultur hin. So wurde beispielsweise im Jahre 1875 das HERMANNsdenkmal im Teutoburger Wald fertiggestellt und eingeweiht. Ein Jahr später eröffnete Richard WAGNER in Anwesenheit von Kaiser WILHELM I. das Bayreuther Festspielhaus mit einer Vorführung des Rings der Nibelungen. Die Germanen boten sich als Identifikationsmodell an, das aufgrund seiner „Ursprünglichkeit" konfessions-, schichten- und parteiübergreifend integrationspolitisch wirksam werden konnte. Zudem besaß der „Germanenmythos" in Deutschland eine lange Tradition. Sie reichte zurück bis zur Rezeption der Germania von TACITUS und hatte den Deutschen durch die Abgrenzung gegen Rom oder die romanischen Völker bei der Suche nach ihrer nationalen Identität immer schon gute Dienste geleistet. Daran konnte die deutsche Nationalbewegung in den Befreiungskriegen von 1813 anknüpfen und in der Frontstellung gegen die französische die Tugenden der deutschen Nation herausstellen. Dieser Vorgang der nationalen Selbstfindung durch die Projektion eines Feindbildes setzte sich im deutschen Einigungskrieg von 1 8 7 0 / 7 1 fort und verstärkte den aggressiven Charakter des deutschen Nationalismus. In die Reihe populärer Bezugnahmen auf die Germanen zählen nicht zuletzt die in großer Zahl veröffentlichten historischen Romane. Soweit ersichtlich, erschienen zwischen 1871 und 1918 ein- bis zweihundert Titel mit germanischen Inhalten. Besonders große Wirkung erzielten Gustav FREYTAGS sechsbändiges Werk Die Ahnen ( 1 8 7 2 - 8 0 ) und Felix DAHNS Schrift Ein Kampf um Rom ( 1 8 7 6 ) . Beide Werke entwickelten sich in kurzer Zeit zu Bestsellern, die nicht nur die Phantasie der Zeitgenossen beflügelten, sondern auch das Geschichtsbild späterer Generationen beeinflußten. Die Ahnen, die Chronik einer deutschen Bürgerfamilie von der Germanenzeit bis in das 19. Jahrhundert, erreichten allein in der Standardausgabe zwischen dem Erscheinungsjahr 1872 und 1900 2 7 Auflagen, bis zum Ende des Kaiserreichs gar 6 2 Auflagen mit zusammen 1 8 0 . 0 0 0 Exemplaren. Ein Kampf um Rom, das den Untergang des Ostgotenreiches in Italien im 6. Jahrhundert schildert, erlebte zwischen 1876 und 1900 30 Auflagen, bis 1912 stieg die Zahl auf rund 60. Nur wenige Romane erzielten einen derartigen Erfolg und erreichten ein so breites Publikum. Gustav
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war bereits vor der Veröffentlichung der Ahnen der wohl populärste
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deutsche Schriftsteller seiner Zeit. Geboren 1816 als Sohn einer bürgerlichen Honoratiorenfamilie in der schlesischen Kreisstadt Kreuzburg und aufgewachsen im deutschpolnischen Grenzgebiet Oberschlesiens, hatte er zunächst eine akademische Laufbahn eingeschlagen, sich dann jedoch dem Beruf eines Schriftstellers zugewandt. Hervorgetreten war er in den 1850er und 1860er Jahren vor allem mit zwei Zeitromanen, Soll und Haben und Die verlorene Handschrift. In diesen Büchern stellte er seinen Lesern vorbildhafte Vertreter des Besitz- und Bildungsbürgertums vor Augen. Der Propagierung und Überhöhung bürgerlicher Werte und Tugenden dienten auch Die Ahnen. In diesem monumentalen Werk imaginierte FREYTAG über einen Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden hinweg die Ahnenreihe einer „idealtypischen" Familie des Bildungsbürgertums seiner Zeit. Ihr Stammvater ist der vandalische Königssohn INGO, der Held des ersten Bandes Ingo und Ingabran. INGO gelangt im 4. Jahrhundert auf der Flucht vor römischen Truppen nach Thüringen, gerät in verschiedene Verwicklungen und kommt im Kampf gegen die Thüringer um. Lediglich sein Sohn überlebt und wird zum Ahnherrn eines neuen thüringischen Geschlechts, das sich im 8. Jahrhundert unter BONIFATIUS zum Christentum bekehrt. Im dritten Band Die Brüder vom deutschen Hause verläßt Ivo, ein weiteres Glied in der langen Ahnenkette, Thüringen, schließt sich mit seiner Gemahlin FRIDERUN den Rittern des Deutschen Ordens an, steigt zum „Burgmann von Thorn" auf und findet hier eine neue Heimat. In Thorn spielt auch der vierte Band. Ein Nachkomme Ivos, der Kaufmann Markus KÖNIG, hilft dem Deutschordensmeister ALBRECHT von Brandenburg gegen den polnischen König SLEGLSMUND. Als sich ALBRECHT dem polnischen König unterstellt, kehrt Markus KÖNIG in die thüringische Heimat seiner Vorväter zurück. Am Ende der langen Ahnenkette steht Viktor KÖNIG, der in der Revolution von 1848 seine Berufung zum politischen Schriftsteller entdeckt und den Fortschritt des deutschen Bürgertums verkörpert. Der Nachweis einer genealogisch begründeten Kontinuität in diesem Fortschritt mit dem Ziel der historischen Legitimation des kaiserzeitlichen Bürgertums kann als zentrales Anliegen der Ahnen angesehen werden. Ganz anders als bei Gustav FREYTAG lagen die Dinge bei Felix DAHN. Er lehrte als Professor der Rechtsgeschichte an den später sogenannten „Grenzlanduniversitäten" Königsberg und Breslau. Sein fast gleichzeitig mit den Ahnen erschienener Kampf um Rom spielt in der Völkerwanderungszeit und beschreibt den zum Scheitern verurteilten Krieg der Ostgoten in Italien gegen ihre übermächtigen byzantinischen Feinde und gegen eine römische „Nationalbewegung". Der aussichtslose Kampf endet mit einer apokalyptischen Niederlage der Ostgoten am Vesuv. Angeregt wurde das Werk durch die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Einigung Italiens seit den 1850er Jahren. Für den Erfolg und die Wirkung des Romans wichtiger als dieser aktuelle Zusammenhang war jedoch die zutiefst pessimistische Lebenshaltung DAHNS, seine Weltanschauung des „tragischen Heroismus", die Idealisierung des heldenhaften Kampfes ohne Aussicht auf Lohn und Erfolg, lediglich um seiner selbst willen. Dieses historisch-ästhethische Schauspiel, das der Nachwelt bewundernde Anerkennung abnötigen sollte, begeisterte ganze Generationen zumeist jugendlicher Leser. DAHNS Darstellung von dem Heldenkampf der Ostgoten und ihrem Untergang weist interessante Parallelen auf zu den tragisch-heroischen Vorstellungen des um Ernst JÜNGER und seinen Kreis gruppierten „neuen Nationalismus" der Weimarer Zeit und zu der Beschwörung von Untergangsszenarien am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wohl nicht zufällig sprach HITLER 1944 beim Rückzug der deutschen Truppen aus Italien von einem „Kampf um Rom". Als schließlich das „Dritte Reich" unter dem Bomben- und Granatenhagel der Alliierten
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Streitkräfte zusammenbrach, drängte sich die Erinnerung an den von Felix D A H N heroisch verklärten Untergang der Ostgoten wohl unvermeidbar auf. Die beiden Beispiele - der Fortschrittsoptimismus in Gustav FREYTAGS Die Ahnen und die Untergangsstimmung in Felix DAHNS Ein Kampf um Rom - zeigen, welche verschiedenartige Ausprägung der literarische Germanenmythos annehmen konnte. Der Eindruck von der großen Vielfalt verstärkt sich noch, wenn man nicht nur das als paradigmatisch verstandene Gegensatzpaar FREYTAG-DAHN in den Blick nimmt, sondern die große Fülle der deutschvölkisch inspirierten historischen Romane über die Germanenzeit mit ihren populären Gründer- und Heldengestalten, den Schlachten und Kriegen, den Wanderungsbewegungen und Staatsbildungsprozessen, den Volkscharakteren und Gesellschaftsordnungen. Alle diese Aspekte einer weit entrückten Vergangenheit wurden in den historischen Romanen über den oftmals sehr kleinen Kern an gesicherten Fakten hinaus mit bestimmten wandlungsfähigen Sinn- und Bedeutungsgehalten aufgeladen und mythisch verklärt. So trug die literarisch oder künstlerisch gestaltete Rückbesinnung auf die germanische Vergangenheit einerseits dazu bei, diese im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Andererseits führten die literarisch hervorgebrachten Einzelmythen dazu, aktuelle Geschehnisse auf sie zu beziehen und ihnen dadurch einen bestimmten Sinn zu verleihen. Auf diese Weise bestimmten Mythen ganz wesentlich die Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit, und sie tun es wohl heute noch. Damals, im Wilhelminischen Deutschland, prägte der deutsche Reichskanzler Fürst von BÜLOW 1909 für die unverbrüchliche Bündnistreue zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn das Schlagwort von der Nibelungentreue. Im Jahre 1943 verglich Hermann GÖRING Stalingrad mit „ETZELS Halle". Beispiele dieser Art ließen sich in beliebiger Zahl ergänzen. Dies zeigt die außerordentliche Bedeutung, die dem historischen Roman für die Verbreitung der völkischen Erinnerungskultur beizumessen ist. Er eignet sich wie kein anderes Medium, die Erinnerung an die graue Vorzeit der Germanen mit konkreten und anschaulichen Vorstellungen zu füllen. Denn der historische Roman nimmt aufgrund seiner gattungsspezifischen Eigenart eine eigentümliche Stellung im Grenzbereich zwischen Fiktum und Faktum ein. In ihm verbindet sich literarische Freiheit mit dem Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit. Die Möglichkeiten des Autors, innerhalb gewisser Grenzen Geschichte ex post zu gestalten, läßt weiten Raum für die Bildung von Identifikationsmustern und für ideologische Projektionen. Ob ihre Konstruktion in kritischer oder affirmativer Absicht erfolgt, immer stellt sie eine Reaktion auf die eigene Zeit dar und erlaubt besonders deutliche Rückschlüsse auf die Gegenwartsbezogenheit des Erinnerns, auf den Stellenwert und die Funktion des Germanenmythos in der Erinnerungskultur des Deutschen Kaiserreichs. Es stellt sich das Problem der wechselseitigen Abhängigkeit von Wissenschaft, Literatur und Öffentlichkeit bei der Konstruktion historischer Mythen. Damit sind zahlreiche Fragen aufgeworfen: Lassen sich wissenschaftliche Analyse und literarische Imagination überhaupt klar voneinander trennen? Bestanden bei allen Unterschieden nicht auch Wechselbeziehungen zwischen beiden Bereichen? Gab es Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß literarischer Popularisierung, der politischen Instrumentalisierung des Mythos und der Intensität akademischer Forschung? Welche Bedeutung hatte zum Beispiel die institutionelle Etablierung einer deutschen Vorgeschichtsforschung seit der Jahrhundertwende für das Geschichtsbewußtsein der Zeitgenossen? Standen methodische Innovationen in einem Wirkungszusammenhang mit historischer Aufklärung oder
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leisteten sie, genau umgekehrt, der Ideologisierung von Geschichtsbildern Vorschub? Wirkte die Wissenschaft selber mythenbildend? Wie gestaltete sich das Verhältnis verschiedener Teilkulturen des Erinnerns mit je unterschiedlichen Zeithorizonten und Legitimationspotentialen? Standen sie sich in starrer Konkurrenz gegenüber oder kam es zu wechselseitigen Anpassungs- und Durchmischungsvorgängen? Welche politischen Richtungen und sozialkulturellen Milieus optierten in welchem Ausmaß für bestimmte Teilkulturen? War überhaupt eine solche Partikularität bestimmend oder setzte sich nicht, gerade im Zusammenhang mit der völkischen Erinnerungskultur, eine national integrative Tendenz durch? Diese durchweg spannenden Fragen, die sich noch nicht abschließend beantworten lassen, lenken den Blick auf die Art und Weise, in der sich moderne Erinnerungskulturen formieren und verändern, auf die diskursiven und institutionellen Zusammenhänge und Mechanismen des Erinnerungsgeschehens und auf die Bedeutung, die der Germanenmythos über die Zeit des Deutschen Kaiserreichs hinaus im kollektiven Gedächtnis der Deutschen erlangte. III Vom Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich führt eine direkte Verbindungslinie zum Volk-ohne-Raum-Mythos in der Weimarer Republik. Beide sind der völkischen Ideologie verhaftet. Nur hat sich mit der veränderten politischen Situation der Akzent vom „Volk" auf den „Raum" verlagert. Wenn im Deutschen Kaiserreich der Begriff „Volk" im Vordergrund gestanden hatte, lag dies zum einen in den Spannungen und Konflikten begründet, die zur Zeit der Reichsgründung in der Debatte über die nationale Identität immer wieder die Frage nach der Zugehörigkeit zum deutschen Volk aufwarf. Man denke nur an die Stellung der nationalen Minderheiten im Reich, vor allem an die Polen und Dänen, an das Problem Elsaß-Lothringen, an die Agitation der Antisemiten, an den „Kulturkampf gegen die Katholiken, an die Verfolgung der Sozialdemokraten und an andere Aspekte der BiSMARCKschen Politik einer negativen Integration. Zum anderen belebten der Übergang zur „Weltpolitik" in der Wilhelminischen Epoche und die Weltmachtträume der sozialdarwinistisch ausgerichteten Alldeutschen die völkische Idee von der Überlegenheit der im deutschen Volk am reinsten verkörperten germanischen Rasse. Demgegenüber trat in der Weimarer Republik die Kategorie des Raumes verstärkt hervor. Auch hierfür liegen die Gründe auf der Hand. Deutschland war 1914 mit großen Hoffnungen und weit gesteckten Expansionszielen in den Krieg gezogen, errang aber nicht den ersehnten „Platz an der Sonne", sondern mußte im Friedensvertrag von Versailles mit seinen demütigenden Bestimmungen beträchtliche Gebietseinbußen und den Verlust der Kolonien hinnehmen. Die Empörung, die Versailles in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung auslöste, begünstigte die Ausbreitung eines militanten Rechtsextremismus, der vor Mordanschlägen nicht zurückschreckte, und gab dem integralen Nationalismus starken Auftrieb. In der sogenannten „Konservativen Revolution", die die Speerspitze der breiten antidemokratischen Strömung in der Weimarer Republik bildete, formierten sich völkische Intellektuelle und propagierten einen neuen Nationalismus. Er ging in seinen raumpolitischen Vorstellungen erheblich über die ihrerseits weitgesteckten Eroberungsziele der deutschen Politik im Ersten Weltkrieg hinaus und übertraf zum Teil sogar das maßlose Expansionsstreben der Alldeutschen. Für die Propagierung der Lebensraumideologie in der Weimarer Republik spielte Heins GRIMM, der dem Umfeld der „Konservativen Revolution" zuzurechnen ist, eine ähnliche Rolle wie Gustav FREYTAG und Felix DAHN für die Popularisierung des Ger-
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manenmythos im Deutschen Kaiserreich. GRIMMS Roman Volk ohne Raum von 1926 verlieh dem damals verbreiteten Gefühl einer physischen und psychischen Raumenge literarischen Ausdruck. Der mit feinem Gespür für populäre Stimmungen gewählte Romantitel lieferte das Schlagwort, das sich die völkische Bewegung aneignete. Parallel zum Aufstieg des Nationalsozialismus zu einer Massenpartei entwickelte sich Hans GRIMMS Roman rasch zum Bestseller. Das Buch fand noch im Erscheinungsjahr über 60.000 Käufer. 1935 erreichte die Auflage 315.350, 1945 über 650.000 Exemplare. Nach dem Zweiten Weltkrieg hörte der Boom keineswegs auf. Die Auflage kletterte von 780.00 im Jahre 1963 auf fast eine Million im Jahre 1985. Dieser Verkaufserfolg dokumentiert die Wirkungsmacht des Volk-ohne-Raum-Mythos, der bis heute seine Popularität nicht vollständig eingebüßt zu haben scheint. Hans G R I M M , der von 1875 bis 1959 lebte, nahm innerhalb der „Konservativen Revolution" eine Sonderstellung ein. Bestimmendes Thema seiner von den kolonialistischen Gedichten Felix D A H N S beeinflußten Romane war nicht Ostmittel- oder Osteuropa, sondern Afrika. Seine Begeisterung für den schwarzen Kontinent hat Hans GRIMM, der von 1897 bis 1908 als Auslandskaufmann in Südafrika lebte, von seinem Vater, dem Gründer des Deutschen Kolonialvereins, übernommen. Der Erfolgsroman Volk ohne Raum, der starke autobiographische Züge trägt, erzählt auf fast 1.300 Seiten den Lebensweg Cornelius FRIEBOTTS, eines Bauernsohnes aus dem Weserbergland. Teil I schildert unter der Überschrift Heimat und Enge die aussichtslose Lage des heranwachsenden strebsamen Mannes, der als Bauer ohne Boden gezwungen ist, seine ländliche Heimat zu verlassen, dann im Bochumer Bergbau sein Leben fristet und hier unter der Enge der Bergwerksstollen und der Arbeiterunterkünfte ebenso leidet wie unter der Bevölkerungsdichte des Ruhrgebiets. Im Teil II, der mit Fremder Raum und Irregang betitelt ist, nimmt FRIEBOTT als Mitglied der deutschen Kampftruppe am Burenkrieg teil und bemüht sich dann, in Südafrika seinen Lebensunterhalt als Handwerker zu verdienen. Teil III, Deutscher Raum benannt, schildert die Teilnahme FRIEBOTTS am sogenannten Hottentotten-Krieg - dem völkermörderischen Kampf gegen die Hereros - und den Kauf einer Farm. Hier scheint sich sein Leben zu erfüllen. Doch im Ersten Weltkrieg, der zum Verlust der Kolonie führt, muß Cornelius FRIEBOTT Südwestafrika verlassen. Er kehrt nach Deutschland zurück. Hier verkündet der Romanheld dem Volk ohne Raum - so lautet der Titel des IV. Teils - sein völkisches Credo: „Der Mensch braucht Raum um sich und Sonne über sich und Freiheit in sich". Anders gewendet: Deutschland braucht Kolonien. Kurz vor dem symbolträchtigen 9. November 1923, dem Tag des sogenannten „Marsches auf die Feldherrnhalle", wird FRIEBOTT, der rastlos als Wanderprediger durch die Lande zieht, bei einer öffentlichen Rede von dem Steinwurf eines sozialistischen Arbeiters getötet. Mit dem Märtyrertod des Helden beendet Hans GRIMM seinen Roman, der in monotoner Wiederholung das Volk-ohne-Raum-Thema traktiert, dabei mit der Idealisierung des bäuerlichen Lebens einem Blut- und Bodenmythos huldigt, einen mit antisemitischen und antisozialistischen Elementen durchsetzten Antimodernismus vertritt, ein positiv verzerrtes Bild von der deutschen Kolonialherrschaft zeichnet und durch diese erinnerungsstifitende Darstellung einer noch nicht allzu entfernten Vergangenheit den Kolonialrevanchismus rechtfertigt. Längst nicht alle, die Hans GRIMMS Schlagwort vom Volk ohne Raum übernahmen, schauten nach Afrika. Größer war die Zahl derjenigen, die ihren Blick nach Osten richteten. So beschworen Schriftsteller wie Hans SCHWARZ, Friedrich SCHINKEL und Carl D R Y S S E N , die sogenannten Ostmystiker, in ihren literarischen Werken die Tradition der deutschen Ostkolonisation. Dieses Nebeneinander von kolonialrevanchistischer und ost-
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expansionistischer Literatur fordert zum Vergleich auf zwischen den unterschiedlichen raumpolitischen Vorstellungen der Schriftsteller, den verschiedenen Bildern, die sie von den Kolonien und Siedlungsräumen gezeichnet haben, den Darstellungen der Kolonialherren und der Ostsiedler, der afrikanischen Stämme und der slawischen Völkerschaften, des Verhältnisses von Unterdrückern und Unterdrückten. Die vergleichende Betrachtung gibt wichtige Aufschlüsse auch über das Verhältnis des literarischen zum politischen und zum wissenschaftlichen Lebensraum-Diskurs. GRIMM stand in engem Kontakt zu Arthur MOELLER van den Bruck, dem jungkonservativen Verfasser des Buches Das dritte Reich. Beide Schriftsteller publizierten in der Zeitschrift des Berliner Juniklubs Das Gewissen und reihten sich damit ein in die Schar der konservativen Revolutionäre und neuen Nationalisten, die sich an der breiten Diskussion über die räumliche Neuordnung Europas und der Welt beteiligten. Dabei vertrat die völkisch-konservative Gruppe um Edgar Julius JUNG, Arthur MOELLER van den Bruck, Hans FREYER, Ernst NIEKISCH und den TAT-Kreis vergleichsweise gemäßigte territoriale Ansprüche. Andere Intellektuelle aus dem Umkreis der „Konservativen Revolution" und des neuen Nationalismus wie etwa Oswald SPENGLER, Wilhelm STAPEL und Ernst JÜNGER mit seinem Kreis entwickelten globale Vorstellungen eines neuen Reichs. Hans GRIMM vertrat weder kontinental begrenzte noch global unbegrenzte raumpolitische Ziele, sondern war auf Afrika fixiert. Daher hatte er es trotz seines enormen Romanerfolges schwer, in den Intellektuellen-Kreisen der politischen Rechten die Diskussion maßgeblich zu beeinflussen. Anders verhielt es sich in den literarischen Zirkeln. Hans GRIMM rief 1934 selbst ein regelmäßiges Dichtertreffen ins Leben. Bis der Ausbruch des Krieges 1939 dem Dichtertag ein Ende setzte, versammelten sich jedes Jahr im Lippoldsberger Klosterhaus, dem Domizil GRIMMS, nationalkonservative Autoren aus dem In- und Ausland. Nach Kriegsende ließ Hans GRIMM diese Tradition aus den 30er Jahren wieder aufleben. Wie schon in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft fand der Lippoldsberger Dichtertag auch in den Jahren danach großes Echo. Das Klosterhaus GRIMMS entwickelte sich zu einem Refugium von völkischen Dichtern und Schriftstellern, von rückwärtsgewandten NS-Kulturpreisträgern, von Anhängern der alten und der neuen Rechten, von Mitgliedern der rechtsradikalen „Deutschen Reichspartei", der revisionistischen „Gesellschaft für freie Publizistik" und des revanchistischen „Bundes heimattreuer Jugend". Sie alle spendeten Beifall, wenn zum Beispiel im Jahre 1968 Wolf Rüdiger H E S S in einem Vortrag die Freilassung seines Vaters, des Stellvertreters des „Führers", aus dem Gefängnis Berlin-Spandau forderte oder wenn im Jahre 1978 „ostdeutsche Dichter" aus Nordmähren, Posen, Oberschlesien und dem Sudentenland aus ihren neuesten Werken vorlasen. Darin zeigt sich die Zählebigkeit des Volk-ohne-Raum-Mythos, der selbst die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges überdauerte. Zu seinen Urhebern zählten neben Hans GRIMM, deh Ostmystikern und anderen literarischen Wegbereitern der völkischen Raumideologie die Begründer einer neuartigen „Wissenschaft vom Raum", die sich in der Weimarer Republik herausgebildet hatte. Besonders herauszustellen ist Karl HAUSHOFER, der in Deutschland fuhrende Vertreter der Geopolitik. Der Münchener Geographieprofessor, den sein Schüler Rudolf H E S S glühend verehrte, sah „Lebensraum" als Grundlage aller Gemeinwesen, als prägenden Faktor jeder Kultur, als Nährboden des „Volkscharakters" an. Ähnlich wie HAUSHOFER erhob sein Kollege aus Halle, Otto SCHLÜTER, „Lebensraum" zum Schlüsselbegriff einer Geographie, die in Anknüpfung an das organologische Denken der politischen Ro-
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mantik Natur und Volk in eins setzte, damit einen alten Hut der völkischen Ideologie wissenschaftlich aufdrapierte und in politisches Kapital ummünzte. S C H L Ü T E R und H A U S H O F E R verkündeten im Namen der von ihnen in ein geopolitisches Fahrwasser gelenkten neuen Wissenschaft vom Raum, daß nur ein einziger Weg aus der Misere herausführe, in die Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg geraten war: die Vergrößerung des Lebensraums. Nur sie biete die Chance, die politische und soziale Lage des deutschen Volkes zu verbessern. Nüchtern betrachtet bedeutete dieses mit wissenschaftlichem Anspruch vorgetragene Credo der völkischen Bewegung nichts anderes als die Aufforderung zum Eroberungskrieg, den mehr oder weniger offen auch die Anthropogeographie propagierte. In den Kreis der wissenschaftlichen Disziplinen, die von völkischen Überzeugungen durchdrungen waren, gehört neben der Geopolitik und Anthropogeographie schließlich noch die Volksgeschichte. Auch sie etablierte sich, wie wir erst seit einigen Jahren wissen, in der Weimarer Republik als neuartige „Wissenschaft von Volk und Raum", wandte sich vornehmlich der Erforschung der ländlichen Bevölkerung im ostmitteleuropäischen Raum zu, verband dabei siedlungsgeographische mit ethnisch-sozialgeschichtlichen Fragestellungen, betonte die Bedeutung der Grenzlandkämpfe und stellte sich von 1933 bis 1945 in den Dienst der Nationalsozialisten, insbesondere der Volkstums- und Raumordnungspolitik in den eroberten Ostgebieten. Hier drängt sich erneut die Frage nach dem Zusammenhang von wissenschaftlicher Innovation und völkischer Ideologisierung der Wissenschaft auf. Dieselben Probleme, die schon bei der Erörterung des Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich aufgetaucht waren, treten bei der Beschäftigung mit dem Volk-ohne-Raum-Mythos in der Weimarer Republik in Erscheinung. Es lohnt sich, die an der Herausbildung der völkischen Erinnerungskultur mitwirkenden Faktoren herauszuarbeiten, die mythenbildende Funktion von Literatur, Wissenschaft und Politik näher zu bestimmen, die Wechselwirkung zwischen diesen erinnerungsstiftenden Instanzen auszuloten und damit einen Beitrag zu leisten zur Beantwortung der Frage, unter welchen Ideologie- und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen der völkische Germanen- und der Volk-ohne-Raum-Mythos weite Teile der deutschen Bevölkerung in seinen Bann schlagen und sie dazu bringen konnte, H I T L E R und seinen Gesinnungsgenossen Gefolgschaft zu leisten, sich zu willigen Helfern seiner Eroberungspolitik und des nationalsozialistischen Völkermords zu machen.
Gangolf Hübinger Geschichtsmythen in „völkischer Bewegung" und „konservativer Revolution". Nationalistische Wirkungen historischer Sinnbildung Am Werk Jörn RÜSENS läßt sich der Wandel theoretischen Denkens über Geschichte der letzten zwei Jahrzehnte plastisch ablesen. Die von RÜSEN entwickelte „disziplinare Matrix" hatte seinerzeit den „inneren Zusammenhang" von Interessen, Ideen, Methoden, Formen und Funktionen historischen Denkens als logisch stringent demonstriert1. Mit dem gegenwärtigen Interesse an Prozessen „historischer Sinnbildung" rückt er jetzt die vielfachen Brüche und Unvereinbarkeiten dieser fünf Ebenen in den Mittelpunkt der Untersuchungen2. Rationale Geschichtsforschung, ästhetische Geschichtsschreibung und politische Geschichtsmythen folgen je eigenen Regeln. Die ursprünglich leitende Frage, wie sich Gesellschaften ein historisches Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen, ist zurückgetreten gegenüber dem Interesse an nichtwissenschaftlichen Erinnerungsformen und ihren Darstellungsweisen. Selbstvergewisserung in subjektiven Zeit- und Traditionsbezügen erscheint als eine anthropologische Nötigung von Individuen und Gruppen schlechthin: „Durch Erzählen gewinnt Zeit die sinnhafte Subjektivitätsqualität, die die Menschen kulturell benötigen, um in ihr leben zu können."3 Geschichtsmythen erfüllen eine solche Funktion, und mein Beitrag thematisiert eine prekäre Form kollektiver historischer Sinnbildung im Deutschen Kaiserreich mit dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik. Es handelt sich um Arten und Wirkungsweisen von Geschichtsmythen, mit denen die „völkische Bewegung" den Nationalismus des Kaiserreichs ins Extreme geführt und auf deren Grundlage die „konservativen Revolutionäre" der Weimarer Republik die demokratische Verfassungsordnung delegitimiert haben. Die „völkische Bewegung" und die so genannte „konservative Revolution" sind zwei mentalitätsprägende Erscheinungen, die sich in den Epochen des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik wechselseitig verstärken. Sozial- und ideengeschichtlich sind sie alles andere als miteinander identisch. Aber eines haben sie gemeinsam. Beide Bewegungen leben von der Kraft ihrer Geschichtsbilder. Das reicht von den Bestsellern Paul de LAGARDES und Oswald SPENGLERS bis zu den kleinen lebensreformerischen Bünden und den esoterischen literarischen Zirkeln. Geschichtsmythen wie der „gotische Mensch" oder der „germanische Christus" - nur zwei beliebte Schlagworte um 1900 indizieren Traditionsbezüge, die sich mehr und mehr von der professionellen Fachhistorie absetzen. Sie enthalten ein hohes politisches Protestpotential. Sie symbolisieren Alternativen zur modernen Lebenswelt. Mit ihnen entfalten sich eigene Kommunikationswege in Verlagen und Presse und werden eigene Netze von rechtsintellektuellen Eliten geknüpft. Sie stimulieren nicht zuletzt militarisierte Massenbewegungen der Weimarer Zeit. 1
Jörn RUsen: Historische Vernunft. GrundzUge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, 29. 2 Siehe Klaus E. Mtlller/Jörn RUsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997. Diese Tendenz ist auch ablesbar an den gut 100 Beiträgen in: Wolfgang Küttler u.a. (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bde.1-5, Frankfurt (M.) 1993-98. 3 Jörn Rüsen: Was heißt: Sinn der Geschichte?, in: Müller/Rüsen 1997, 17-47, Zitat 30.
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„Völkische Bewegung" und „Konservative Revolution" sind beides Reaktionen auf den komplexen und in Deutschland zeitlich sehr dichten Transformationsprozeß von der Agrargesellschaft in eine industriekapitalistische Massengesellschaft - auch Massenkommunikationsgesellschaft, das ist wichtig, denn das erst verschafft den intellektuellen Resonanzboden. De facto ist der Industrialisierungsprozeß um 1890 abgeschlossen. Inlandsinvestitionen, Verkehrssystem, die Wachstumsbranchen der Chemie und Elektrotechnik, Aktiendividenden und Kommunikationsmedien sprechen eine eindeutige statistische Sprache. Mentalitätsgeschichtlich beginnen aber erst die Konflikte. Völkische Gruppierungen und revolutionär-konservative Intellektuelle mobilisieren sich über der Frage, mit welchen Traditionsbezügen und welchen Staatsideen die kapitalistische Entwicklung entweder rückgängig gemacht werden oder aber überwunden werden kann. Damit liefern sie der momentanen Diskussion um „Sozialgeschichte oder Kulturgeschichte" zugleich ein Lehrstück, wie weit soziale Strukturgeschichte und kulturell symbolisierte Erfahrungsgeschichte auseinanderfallen können. Beide Bewegungen formieren sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, werden beherrschend in den ideenpolitischen Kämpfen des Ersten Weltkrieges und entfalten in der Weimarer Republik eine starke Kraft kultureller Vergesellschaftung. Kurz zu klären ist vorab, was meinen die Kennzeichnungen als „völkische Bewegung" und „Konservative Revolution"? Wie grenzen sie sich voneinander ab? Was heißt „Geschichtsmythen" im engeren und weiteren Sinn? Die hunderte von völkischen Vereinen, Bünden und Orden, ihre Autoren wie August Julius LANGBEHN oder Jörg LANZ von Liebenfels, sind in der älteren Forschung immer als ein Element der vage definierten „Konservativen Revolution" mit Werner SOMBART, den Brüdern JÜNGER oder Hans FREYER gesehen worden. Die neuere Forschung widerlegt dies nicht unbedingt, differenziert aber wesentlich stärker. Für die „Völkischen" dient der Begriff „Volk" einer anthropologischen Letztbestimmung, dient der Bezug darauf einer nationalen Vitalisierung völkischer Ursprünge und arteigener Lebensformen, bekommen Antisemitismus und Sozialdarwinismus einen hohen integrierenden Stellenwert, um eine vermeintlich verlorengegangene ethnische oder sprachlich-kulturelle Homogenität wiederzuerlangen. Die „Konservative Revolution", wie sie insbesondere Stefan BREUER in ihrer Anatomie freigelegt hat, ist weniger durch einen solchen Antimodernismus als durch „ein Ensemble von Orientierungsversuchen und Suchbewegungen in der Moderne" gekennzeichnet, ist vom modernen Voluntarismus und Ästhetizismus durchdrungen 4 . Ihre Vertreter entstammen zwar wie die „Völkischen" primär der Sozialschicht des Kleinbürgertums, geistig repräsentieren sie aber eine „reflexive Moderne". Ihre Doktrinen und Ideologien sind intellektuell schärfer konturiert als die der Völkischen, die auf niederer Bewußtseinsebene wiederum Mentalitätslagen der wilhelminischen Gesellschaft unmittelbarer widerspiegeln. Am Beispiel der Geschichtsmythen und der Geschichtspolitik soll dies überprüft werden. Der kulturtheoretisch zu neuer Bedeutung gelangte Ernst CASSIRER hat Mythen neben Kunst, Sprache und Wissenschaft zu den symbolischen Grundformen des geistigen Lebens gerechnet. Mythen dienen der Funktion, eine feste Orientierung in Raum und Zeit zu organisieren. Geschichtsmythen können in diesem Sinne in enger Definition als Ursprungsdeutungen sozialer Gruppen, in weiterer Fassung als historische Erzählung ohne Beweisführung aufgefaßt werden. Gleichwohl ist es schwierig geworden, im Kontext der gegenwärtigen Fragestellungen zu den pluralisierten Geschichtsdiskursen der 4
Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993, 5.
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Neuzeit logisch eindeutig zwischen Zuschreibungen wie „Geschichtsmythos", „Historische Sinnbildung", „Geschichtspolitik" und „Geschichtswissenschaft" zu trennen. Die Grenzen haben sich sehr verflüssigt. Dies zeigt sich wenn man bedenkt, daß eine auf Max W E B E R beruhende Sozial- und Kulturgeschichte des abendländischen Rationalismus von den einen als wissenschaftliche Referenz, von den anderen als Masterstory mit mythenbildenden Funktionen angesehen wird. Ich werde hier pragmatisch vorgehen und Geschichtsmythen als spezifische Konstruktionen begreifen, die der Sakralisierung oder umgekehrt der Verteufelung von Erinnerungsorten dienen, die Traditionen als Ursprungs· oder Endzieldeutungen erfinden oder die Prozesse und Epochen als Heilswege oder Irrwege, zumindest als richtig oder falsch beurteilen und damit gegenüber dem Hypothesencharakter moderner Wissenschaften eindeutige und oft religiös gefärbte Identifikationen anbieten. Fünf Aspekte werden dazu thematisiert, was bei der Fülle der empirischen Bezugsmöglichkeiten nur sehr selektiv möglich ist: (1.) Die Krise des Historismus als Voraussetzung moderner Mythenbildung, (2.) Religiöse Geschichtsmythen und völkische Konstruktionen, (3.) Verlage als Organisatoren völkischer Geschichtsmythen, (4.) Die symbolischen „Ideen von 1914" und ihre Folgen und (5.) Die Konservative Revolution und die Handlungsmacht in der Geschichte. 1. Die Krise des Historismus als Voraussetzung moderner Mythenbildung Die Bildungssprache des 19. Jahrhunderts ist historisch. Wissenschaften, welche gesellschaftliches Orientierungswissen liefern wollen, profilieren sich als historische Schulen: historische Rechtsschule, historische Schule der Nationalökonomie, religionsgeschichtliche Schule in interdisziplinärem Kontakt zur professionalisierten Fachhistorie. Ein wesentliches Merkmal besteht im gemeinsamen Identifikationsangebot. In diesen Schulen des Historismus, vom Geschichtstheoretiker Johann Gustav D R O Y S E N bis zum Religionshistoriker Adolf H A R N A C K fallen in der Regel nationale Identitätsgeschichte, bürgerliche Emanzipationsgeschichte und individuelle Freiheitsgeschichte zusammen. Es handelt sich um eine Art „whig-interpretation of History" also eine teleologisch auf das eigene Gesellschaftsbild hin konstruierte Erfolgsgeschichte. Für das protestantische und assimilierte jüdische Bürgertum, nach und nach auch für katholische Bildungsschichten, besaß der idealistische Historismus eine hohe Sinnbildungskraft. Die Sinnbildungskraft schwand aber in dem Maße unter den Bedingungen der Hochindustrialisierung zum Jahrhundertende hin, als nationale Identitäts-, bürgerliche Emanzipationsund individuelle Freiheitsgeschichte auseinanderfielen und zu Gegensätzen wurden. Oder, so beschreibt Dieter L A N G E W I E S C H E den bildungsbürgerlichen Autoritätsverlust, als „unter dem doppelten Druck des kulturellen Massenmarktes und der neuen Kultureliten die kulturelle Exklusivität des Bildungsbürgertums und die Homogenität seiner kulturellen Normen zerbrach." 5 Neben den etablierten Wissenschaften - und gegen sie, sofern sie sich neukantianisch als hypothetische Konstruktionen sozialer Wirklichkeit verstehen und Werte von Tatsachen trennen - entsteht jetzt ein neuer Raum für erzählte Geschichte und Traditionsbindung, bei der sich völkisch-religiöse Geschichtsmythen in den Vordergrund spielen.
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Dieter Langewiesche: Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, 95-121, Zitat 112.
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2. Religiöse Geschichtsmythen und völkische Konstruktionen Ein neues Handbuch zur „völkischen Bewegung" 6 porträtiert die Geschichtsmythologen dieser Zeit in unterschiedlicher Dichte und Qualität: Felix DAHN, oder den Bestseller Autor der Jugendbewegung Hermann BURTE. Es zeugt für die Unsicherheit zeitgenössischer literarischer Urteilsbildung wenn BURTE, der 1912 das Kultbuch Wiltfeber, der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers schreibt, dafür durch den populären Richard DEHMEL ausgerechnet den Kleistpreis verliehen bekommt. Zu Recht hat dieses Handbuch die „völkische Bewegung" aus ihrer seit Arnim MÖHLER ständig wiederholten Subsumierung unter die „Konservativen Revolution" von 1918 herausgelöst und strukturell in die Geschichte des Kaiserreichs eingebaut. Verfolgt man diese Geschichte, ihre antisemitische Codierung wie ihre soziale Organisation in einer Vielzahl von Orden und Bünden zur Feier des germanischen oder nordischen Wesens, so wird deutlich, es handelt sich im Kern um religiöse oder besser um religiös imprägnierte aber extrem antikirchliche panreligiöse oder neuheidnische Kultbewegungen. Drei Beispiele können das illustrieren. Zuerst ein Buch des Bremer Telegraphenamtdirektors Otto Sigfrid REUTER, in jungen Jahren erfolgloser Roman- und Bühnenautor. Der Titel des 1910 erschienenen „Aufrufs" lautet: Sigfrid oder Christus. Kampfruf an die germanischen Völker zur Jahrtausendwende. Von einem Deutschen. Christus, so der Kampfruf, habe „die Kraft zur Tat [...] gelähmt". „Durch Leiden und Dulden, durch Frieden wollte der Nazarener, daß wir den Sieg gewännen; unsere Religion ist die der tatfrohen Lichtkämpfer, durch Sieg zum Frieden. Das ist die Rede von Sigfrid." 7 REUTER gründet in der Folge einen „Deutschen Orden". Es ist nur ein Beispiel von vielen noch vor dem Ersten Weltkrieg. Immer wird der Verfall des deutschen Wesens als Schreckbild der historischen Zukunft beklagt. Nicht nur die Juden, auch die Miserabilität des Christentums, trage die Schuld. Um ein „gesundes und starkes Leben" aufzubauen, das hätte sich der so vulgarisierte NIETZSCHE nicht träumen lassen, bedarf es des historischen Rückgriffs auf die germanischen Ursprünge. Die Frontstellung, die hier geschichtsmythologisch aufgebaut wird, richtet sich also nicht nur gegen die katholisch romanische Kultur wie in den protestantischen Geschichtskonstruktionen, sondern gegen die christlich - abendländische Kultur mit ihren naturrechtlichen und ehtischen Leitwerten insgesamt. Der intellektuelle, auch wissenschaftliche Ideengeber ist zweifellos Paul de LAGARDE. LAGARDE in einer Doppelrolle, als anerkannter Orientalist und Philologe und als völkisch - antisemitischer Polemiker, der publizistisch die Konsolidierung des Bismarckreiches begleitet. Gegen den Geist der Reichsgründung und gegen die sie tragenden Konfessionen setzt LAGARDE in seinen „Deutschen Schriften" den Austausch von historischen Gedächtnisorten gezielt politisch ein. 1878 heißt es in dem Aufsatz Die Religion der Zukunft nach einem sehr kenntnisreichen Überblick über die semitischen Kulturen und mit Verweis auf Jakob GRIMMS Deutsche Mythologie·. „Die unschuldig herben Formen deutschen Rechts sind unsern Zeitgenossen so tot, wie die alten Sagen und Bräuche unserer Nation. Wir haben nie eine deutsche Geschichte gehabt, wenn nicht etwa der regelrecht fortschreitende Verlust deutschen Wesens deutsche Geschichte sein soll. [...] So ist unsere ureigene Individualität durch keine Entwicklung zu uns herübergerettet: bei Warschau und Fehrbellin, bei Großbeeren und Dennewitz wie bei 6 7
Uwe Puschner u.a. (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung" 1871-1918, München 1996. Zitiert nach Stefanie von Schnurbein: Die Suche nach einer „arteigenen" Religion, in: ebd., 180.
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Sedan hat Niemand an Siegfried und die Nibelungen gedacht, so wenig Göthe bei Werther und Götz an sie gedacht hat, und darum haben unsere alten Sagen im allgemeinen nur noch antiquarisches Interesse"8. Die geschichtspolitische Botschaft ist eindeutig. Die Religion der Zukunft speist sich aus den Ursprungsmythen germanischer Vergangenheit. Das jedenfalls ist die Botschaft, die nach LAGARDES Tod 1 8 9 1 mit anschwellender Begeisterung in unterschiedliche Schichten, so in die lebensreformerische Jugendbewegung mit ihrem Wunschbild der artreinen Körperlichkeit wie auch in Teile der etablierten protestantischen Bildungseliten reicht. Es ist ein Forschungsfeld, das weder von Theologen noch von Historikern bisher mehr als in Fallstudien bearbeitet worden ist. Zu den wichtigsten publizistischen Multiplikatoren zählt der Ex-Pfarrer Arthur BONUS. B O N U S schreibt von der Toskana aus in der liberalen Christlichen Welt Martin RADES über die „Germanisierung des Christentums". „Gott trägt die Volksfarbe", so lautet der Kernsatz . 1911 erscheinen von B O N U S unter dem Obertitel Zur religiösen Krisis im Verlag Eugen DIEDERICHS in Jena die beiden Bände Zur Germanisierung des Christentums und Vom neuen Mythos. Allerdings unterscheidet sich B O N U S von geschichtsmythischen Konfrontationen wie Sigfrid oder Christus. Für ihn ist der deutsche Mann 10 LUTHER der entscheidende Repräsentant einer germanisierten Offenbarung Gottes . Von B O N U S kommt aber auch der Anstoß zum verlegerischen Großprojekt der Sammlung Thüle und anderer nordischer Schriften, das über Jahrzehnte das Profil des EugenDLEDERLCHS-Verlags in einer eigentümlichen Mischung aus wissenschaftlicher Akribie und Mythenbildung bestimmen wird. 3. Verlage als Organisatoren völkischer Geschichtsmythen Das völkische Verlagswesen im Kaiserreich, vor allem die vielen Kleinverlage, sind etwa durch die Arbeiten von Justus ULBRICHT besser erforscht11 als die vagabundierenden völkischen Religionsgruppen. Deren Hauptorganisator dürfte fraglos der Verlag von Eugen DIEDERICHS gewesen sein. Hierzu gehört nicht zuletzt die Prägung einer „neuidealistischen", „neuromantischen" oder „neumystischen" Gedächtniskultur, so weisen es die changierenden Selbstbezeichnungen aus. DIEDERICHS versteht sich in einer sehr aufdringlichen Art als der fuhrende Kulturverleger seiner Zeit. Ursprünglich Landwirt und bildungsbürgerlicher Autodidakt, liebte DIEDERICHS jede Art von historischer Symbolisierung. Der Donatello-Löwe von Florenz und die Uta von Naumburg dienen dem 1896 in Florenz und Leipzig gegründeten und dann bedeutungsvoll von der Großstadt ins romantische Jena verlegten Verlags als Erkennungszeichen. Er versammelt in seinem Verlag weltweit und universalgeschichtlich alles, was der wilhelminischen Spießerkultur die spiritualistische Öffnung zu einer neuen „Volksbewegung" verspricht. Das nicht nur vom ökonomischen Erfolg, sondern von gezielter Kulturpolitik gespeiste Ver-
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Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, Göttingen 4 1892, 239. * Arthur Bonus: Germanisierung des Christtentums, in: Die Christliche Welt, Jg. 1899, 103, hier zitiert nach Rainer Lächele: Protestantismus und völkische Religion, in: Puschner u.a. 1996, 159. 10 Vgl. ausführlich Friedrich Wilhelm Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur „Verlagsreligion" des Eugen Diederichs Verlags, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort modemer Geister. Der Eugen Diederichs Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, 243-98, bes. 253ff. " Siehe zuletzt Justus H. Ulbricht: Das völkische Verlagswesen im deutschen Kaiserreich, in: Puschner u.a. 1996, 277-301.
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lagsprogramm ist historistisch und historismuskritisch zugleich12. Es erstreckt sich von den Märchen und Sagen der Welt zu den Mystikern der Moderne, von den französischen Idealisten wie Henri BERGSON zu den britischen Fabiern wie die Sozialtechnokraten Sidney und Beatrice W E B B , von den linksbürgerlichen Volksbildnern in Deutschland zum Hauptratgeber Arthur BONUS. DIEDERICHS bewegt sich damit immer am Rand völkischer Mythenproduktion und mehr und mehr über den Rand hinaus. Deshalb noch einmal zur Sammlung Thüle. Nach dem Anstoß durch Arthur B O N U S werden die besten Alt-Nordisten zur Neuübersetzung und Herausgabe der Edda und der anderen Sagas geworben. DIEDERICHS piaziert die von Felix NIEDNER herausgegebene Reihe europäisch abgrenzend ins völkische Feld: „Die Isländer des Mittelalters haben für die Geschichte des Germanentums die Bedeutung, daß sie den gleichen höchsten Menschentypus verwirklicht haben, wie die Griechen des Altertums und die Italiener der Renaissance auf der Höhe ihrer Kulturen", so kündigt der Verlagsalmanach von 1913 Band 1 der Edda an. Die Nordistik heute ist sich einig, daß unter dem Vorzeichen einer derartigen „germanischen" Vereinseitigung „eine der bemerkenswertesten Literaturen des europäischen Mittelalters für ein breites Publikum erschlossen" worden ist13. Ein Jahr später, 1914, erhält DIEDERICHS für seine Gesamtproduktion eine bemerkenswerte kulturelle Prämie. Auf der Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik (Bugra) in Leipzig reserviert Karl LAMPRECHT, der mit einem großen internationalen Mitarbeiterstab eine universale Entwicklungsgeschichte des Buchwesens und graphischer Ausdrucksformen von urzeitlichen Felszeichnungen bis zur industriellen Massenproduktion organisiert hatte, allein dem Diederichsverlag in der so genannten "Halle der Kultur" den Abschlußraum, den "Raum des modernen Kulturverlegers"14. DIEDERICHS beschreibt in seinen unveröffentlichten Erinnerungen sein symbolüberladenes Konzept: "Den Raum entwarf ein befreundeter Jenenser Architekt, Oskar ROHDE, in Form einer Kapelle, deren Hauptschmuck zwei Gestalten aus dem Naumburger Dom bildeten. Der ganze Raum war in blaues Licht getaucht. Rings oben lief ein Fries von Autorenporträts, darüber stand der Spruch LAGARDES vom heimlichen Bund der Verschworenen. Ringsum an den Wänden baute sich der Verlag von der Vergangenheit zur Gegenwart systematisch auf und endete mit der Arbeit am germanischen Volkstum, dessen erster Vertreter GRUNDTVIG war."
Die Prämierung solcher Genealogien läßt erkennen, welche Bedeutung der Verlag für die Vermittlung einer industrieskeptischen und antirationalistischen Geschichtskultur am Vorabend des Ersten Weltkriegs besessen hat. Das bedeutet noch nicht pauschal eine Einbahnstraße von den Germanen und Isländern über LUTHER ins Geisterreich des Nationalsozialismus. DIEDERICHS verlegte ein internationales Spektrum modernitätskritischer Literatur, so in aufwendigen Übersetzungen die Gesamtwerke von KIERKEGAARD, Maurice MAETERLINCK oder Leo TOLSTOIS. Er war der Entdecker von Wladislaw Stanislaw REYMONT, „Die polnischen Bauern", der nicht zuletzt durch die Bekanntheit auf dem deutschsprachigen Markt 1924 den Literatur-Nobelpreis erhielt. Mit dem literarischen Spektrum des DIEDERICHS-Verlages läßt sich eine generelle These zur religiösen und nationalen Geschichtskultur dieser Umbruchperiode und zu signifikanten Verschiebungen im Kulturdiskurs der deutschen Bildungsschichten verbinden. Die religiösen Geschichtsdeutungen können sich öffnen zum universalreligiösen und religionspsychologischen Verständnis der Weltkulturen, ihrer Märchen und ihrer 12
Ausführlicher Gangolf Hübinger: Der Verlag Eugen Diederichs in Jena: Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 31-45. 13 Kurt Schier: Die Literaturen des Nordens, in: Hübinger 1996 (wie Anm.10), 411-49, hier 417. 14 Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Amtlicher Katalog, Leipzig 1914, 23-48.
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Mythen. Religiöse Geschichtsdeutung kann sich aber auch reduzieren auf einen hegemonialen germanischen Christus, wie hier an Arthur BONUS dargestellt. Die nationalen Geschichtsdeutungen können sich ebenfalls öffnen im Sinne von HERDERS romantischem Historismus mit einer Pluralisierung der Weltkulturen. Auch HERDER gehört mit einer Anthologie zum Verlagsprogramm. Und sie können sich homogenisierend abschließen mit Paul de LAGARDES Fixierung auf eine weltbeherrschende rassische Volksgemeinschaft. Für alle vier Deutungsmuster gibt es bis in den Ersten Weltkrieg hinein Belege. In dem Maße dann, wie sich seit dem welthistorischen Epochenjahr von 1917 die deutsche Kriegsniederlage abzuzeichnen beginnt, werden die reduktionistischen Welt- und Selbstdeutungen strukturdominant. 4. Die symbolischen „Ideen von 1914" und ihre Folgen Am Beginn des „Kulturkrieges", als der er vielfach bezeichnet wurde, standen die identitätsstiftenden „Ideen von 1914" gegen 1789, und es stand der Aufruf der 93 Intellektuellen, in dem der europäischen „Kulturwelt" mitgeteilt wurde, daß die preußisch-deutsche Tradition, fur die man kämpfe, auf Weimar und Potsdam, den Referenzorten für Kultur und Militär, gleichermaßen liege. Georg BOLLENBECK spricht in diesem historischen Sinnbildungskontext von „symbolischer Vergesellschaftung" 15 . Am Ende steht die Verarbeitung des Kriegserlebnisses durch die „Konservative Revolution". Aber erst zur historischen Mythenbildung der Anfänge. Es geht gar nicht anders als sich hier auf den Nationalökonomen Johann PLENGE ZU beziehen. PLENGE veröffentlicht 1 9 1 6 die Schrift 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes. PLENGE, der KANT, HEGEL und MARX für sich benutzt, ist weit entfernt von völkischen Ideen, auch zählt er nicht zu den konservativen Revolutionären. Er hat aber die entscheidende Formel geprägt, um sich vom westlichen Geschichtsdenken absetzen zu können: „Wir sagen nicht mehr Ί 9 1 4 ' , wir sagen 'Ideen von 1914' und tragen den Gedanken hinzu: aus dem historischen Einzelvorgang wird der geschichtliche Begriff." 16 In der Sache ist hier die welthistorische Dominanz der „Organisation" vor der „Individualität" gemeint. Die Devise der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" wird übertragen in die Devise: „Schaffe mit", „Gliedere Dich ein", „Lebe im Ganzen" 17 . Darauf gründen eine Reihe der Geschichtsutopien führender konservativer Revolutionäre, allen voran Oswald SPENGLER. SPENGLERS Versuch, im Anschluß an Johann Plenge aus der Unabwendbarkeit der modernen Zivilisation neue politische Gestaltungsprinzipien zu entwickeln, erweiterte sich bekanntlich zu einer überdimensionalen Morphologie der Weltgeschichte. Der Untergang des Abendlandes, in deutscher Siegeserwartung geschrieben und aus der Perspektive der Niederlage 1918 zehntausendfach gekauft und gelesen, deutet den Weltkrieg als punischen Krieg zwischen Karthago/England und Rom/Deutschland und als Indikator der Spätphase der abendländischen Zivilisation ganz allgemein. Berühmt ist die Eingangspassage: „In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der west-
ls Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt (M.) 1994, 278, bezogen auf die Desorientierungen der fin-de-siecle-Zivilisationskritik. 16 Johann Plenge: 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916, 87. 17 Ebd., S.90.
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europäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen." Hierin steckt schon das ganze historische Konstruktionsprinzip. England und Deutschland als ursprünglich germanische Zwillinge, entfremdet im Prozeß der Neuzeit, Hauptgegner im Weltkrieg und extrem polarisiert im Kampf um die Weltherrschaft des 20. Jahrhunderts. Plutokratisches Prinzip steht gegen bürokratisches Prinzip. Aus der deutschen Niederlage heraus erwachse die neue historische Mission, in einer Symbiose aus preußischen Tugenden und Staatssozialismus die Macht des angelsächsischen Kapitalismus zu brechen . Eine parlamentarische Demokratie wie die von Weimar sei vor diesem universalen Hintergrund eine historische Todsünde. M a x WEBER, der mit SPENGLER disputierte, und Ernst TROELTSCH, der ihn ausfuhr-
lich rezensierte, haben die einflußreichste Geschichtsdarstellung in der Gründungsphase der Weimarer Republik als gigantischen Mythos abgelehnt. TROELTSCH greift dazu Passagen auf wie die folgenden: „'die geheimnislose zahlenmäßige Natur des ARISTOTELES und KANTS, der Sophisten und DARWINS, der modernen Physik, gegenüber der erlebten, grenzenlosen, gefühlten Natur HOMERS, der Edda, des dorischen und gotischen Menschen', das ist doch einfach Phantasie." Oder: „Als um das Jahr Tausend der Gedanke an das Weltende sich verbreitete, wurde die Faustische Seele dieser Landschaft geboren [...] Das mag als Beispiel genügen. Aus Kenntnis und Betätigung quellenmäßiger Geschichtsforschung ist diese Geschichtstheorie jedenfalls nicht geboren." 19 Methodische Geschichtsforschung war auch nicht SPENGLERS Anliegen, und Urteile wie dasjenige TROELTSCHS standen isoliert neben dem enormen Publikumserfolg. Für weite Teile der Weimarer Öffentlichkeit lieferte SPENGLER Identifikationsbilder und festes Orientierungswissen. So wie es zur Struktur der Konservativen Revolution in ihren unterschiedlichen Spielarten insgesamt gehört, historische Umwertungen und Umdeutungen zur Legitimierung politischer Alternativen, in der Regel cäsaristischer oder neuständischer Art vorzunehmen. 5. Die Konservative Revolution und die Handlungsmacht in der Geschichte Von vielen Intellektuellen ist der Weltkrieg als ein „Geschichtszeichen" apokalyptischer Natur aufgefaßt und beschrieben worden. Nach KANTS Prägung des Begriffs „Geschichtszeichen" - er selbst hatte die Französische Revolution vor Augen - konstituiert die Reaktion auf ein Geschehen ein „Geschichtszeichen". Eben dies geschieht in der Verarbeitung des Krieges durch Publizisten, Wissenschaftler und Literaten unterschiedlicher Couleur, die zur Gruppe der Konservativen Revolution zusammengefaßt werden, wie auf kategorial präzise Weise durch Stefan BREUER. BREUER konstituiert deren engeren Kreis idealtypisch aus Carl SCHMITT, den Brüdern JÜNGER, SPENGLER, MOELLER van den Bruck, Wilhelm STAPEL, Hans FREYER, Edgar JUNG und Hans ZEHRER. Er
verbindet mit ihnen die These, die sie von der völkischen Vergangenheitssehnsucht nach Rasse, Stamm, Landschaft oder Muttersprache unterscheidet: Unter der apokalyptischen Kriegswirkung kennzeichnet die „Konservative Revolution" ein reflexives Begreifen der Moderne in der Moderne und im Zeichen eines „neuen Nationalismus". Chiliasti-
" Der erste Band von Untergang des Abendlandes erschien München, September 1918; in politischer Zuspitzung Spengler: Preußentum und Sozialismus, München 1919; zur Verbindung von Geschichte und Politik vgl. die schlüssige Interpretation von Rolf Peter Sieferle: Zivilisation als Schicksal: Oswald Spengler, in ders.: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt (M.) 1995, 106 bis 131. " Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd.4, Tübingen 1925 (ND: Aalen 1981), 680.
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sehe Metaphern wie insbesondere die vom „Dritten Reich" gewinnen wie durch M O E L LER van den Bruck an wachsendem Einfluß. Untersucht man, wie Geschichte gegen die Weimarer Verfassungskultur unter den Prämissen von „Bindung" und „Ganzheit" - so die bekannte Definition durch Hugo von H O F M A N N S T H A L 1927 - umgeschrieben wird, so ist das Personenspektrum etwas zu verändern, es sind etwa der populäre Werner S O M B A R T und der geistesaristokratische Kreis um Stefan G E O R G E einzubeziehen. Es kann hier nicht in einer Enzyklopädie aller Positionen vorgeführt werden, in welcher Spannweite im Geschichtsbruch nach 1918 Konservative Revolutionäre deutsche Identität neu konstruieren. Nur zwei Aspekte sollen den Abschluß dieser Überlegungen bilden: a) der Wandel des Geschichtsdiskurses vom kategorialen Begreifen der Wirklichkeit zur imaginativen Kraft der Bilder in der aggressiven Gegnerschaft zum liberalen Geschichtsdenken; b) die Karriere des geschichtlichen Grundbegriffs „Volk" und die gedachte politische Ordnung der „Volksgemeinschaft", die daraus in den hier angesprochenen Gruppierungen abgeleitet wird. a) In den scharfen intellektuellen Kontroversen zu Beginn der Weimarer Republik hat Max W E B E R zur Enttäuschung seiner Studenten anstelle politischer Werturteile demonstrativ wissenschaftliche Vorträge über das „abendländische Bürgertum" gehalten21. Damit verband er gleichwohl eine geschichtspolitische Absicht von großer Dimension. Dem verunsicherten Bürgertum sollten zur Legitimierung seiner neuen Ordnung die universalen historischen Entwicklungsbedingungen vor Augen geführt werden. Er nennt sie ganz komprimiert: „unsere von Europa 'ausstrahlende' christlich-kapitalistischrechtsstaatliche Kultur in ihrem Gegenwartsstadium"22. Aus ihr könne man nicht aussteigen, wie aus einem Fiaker, heißt es in Politik als Beruft. Ernst T R O E L T S C H , neben W E B E R der markanteste liberale Kulturwissenschaftler in dieser Phase, unterstützt diese intellektuelle Grundhaltung. Sein Spätwerk, Der Historismus und seine Probleme", ist der gigantische Versuch, dem europäisch-nordamerikanischen Kulturkreis angesichts der Urkatastrophe des Weltkrieges und der sich vollziehenden mythischen - so TROELTSCH - „Revolution" in Bildung und Wissenschaft eine fundierte liberale Wertperspektive mit politischen Ordnungsmustern aufzuzeigen, die historisch auf dem hebräischen Prophetismus ebenso aufruhe wie auf dem neuzeitlichen Individualismus24. Exakt das ist aber die gemeinsame Intention revolutionär konservativen Geschichtsdenkens, aus dem von W E B E R und TROELTSCH für den Wertepluralismus einer modernen Industriegesellschaft herangezogenen Gedächtniskultur so rasch als möglich „auszusteigen". Man funktionalisiert die katholische Bilderwelt, um die Trias von Rationalismus, Protestantismus und Kapitalismus aufzusprengen, wie im Stefan-GEORGE-
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Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, Erstdruck in: Neue Rundschau 7 ( 1 9 2 7 ) , 11 ff. " Vgl. Max Weber: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Gangolf Hübinger, Tübingen 1984 (MWG 1/15), 781. 22 Ders.: Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, 257. 23 Ders.: Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf, hg. v. Wolfgang Mommsen u.a., Tübingen 1992 (MWG 1/17), 234, 246. 24 Vgl. in Abgrenzung zu anderen kulturgeschichtlichen Positionen Gangolf Hübinger: Konzepte und Typen der Kulturgeschichte, in: Küttler u.a.: Geschichtsdiskurs, Bd.4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrung und Innovationen 1880-1945, Frankfurt (M.) 1997, 136-52, bes. 145ff.
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Kreis. Ernst KANTOROWICZS symbolische Biographie Kaiser Friedrich der Zweite dient Ende der 20er Jahre dem „geheimen Deutschland" als Identifikationsschrift. Oder Werner SOMBART schreibt sein Buch Der proletarische Sozialismus in der 10. Auflage von 1924 entscheidend um. Er wirbt nun für die Re-Agrarisierung, die Rückkehr zur vorkapitalistischen Lebenswelt des Handwerks und der bäuerlichen Landwirtschaft. Nicht nur historische Prozesse, auch einzelne Gedächtnisorte dienen den Weimarer „Symbolkämpfen", wie eine Studie zum Hermannmythos treffend resümiert und vom Kaiserreich absetzt: „Im Kaiserreich symbolisiert der Cherusker als Gründungsmythos eine historisch dimensionierte Identität im Lichte der nationalstaatlichen Einigung [...]. In der Weimarer Republik [...] wird der Mythos [...] als symbolische Waffe zur Destruktion der Republik und zum charismatischen Verweis auf eine 'bessere' Ordnung genutzt, die teilweise als revitalisiertes Reich, teilweise als 'völkische Gemeinschaft' gedacht ist." 26 b) Analysen zur „historischen Sinnbildung" haben deshalb den Verwendungskontexten des Begriffs „Volk" und seiner Konnotationen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. So auffällig wie semantisch ungeklärt ist die sich breit durchsetzende, destruierende Rethorik der „Volksgemeinschaft". Der Begriff „Volk", so Reinhart KOSELLECK in den Geschichtlichen Grundbegriffen, „indiziert (seit 1914) eine sittlich-religiöse, politisch-soziale und geschichtliche Letztinstanz [...] 'Volk' war ein Allgemeinbegriff, an dem alle politischen Lager partizipieren mußten, wenn sie sich jegitimieren wollten." Der hier zitierte Artikel Volk, Nation, Nationalismus und Masse differenziert leider nicht hinreichend zwischen den konträren semantischen Konnotationen, wie vor allem zwischen „Volksstaat" und „Volksgemeinschaft". Denn trotz mancher identischer Verwendung wie bei Friedrich MEINECKE repräsentieren die beiden Begriffe gedachte historische Ordnungen im politischen Gegensatz. Wer wie Sozialdemokraten in einigen Länderverfassungen 28 oder wie Hugo PREUSS und Max WEBER in Wahlkämpfen von „Volksstaat" spricht, akzeptiert die Institutionen und Strukturbedingungen einer modernen Konfliktgesellschaft und verstärkt die internationalen Beziehungen nach Westen. Wer wie schon früh Johann PLENGE und dann bis in den ursprünglich republikanisch gesinnten Jungdeutschen Orden hinein von „Volksgemeinschaft" spricht, fordert staatliche und wirtschaftliche Homogenität und schwört auf den deutschen Sonderweg. Das ist idealtypisch zugespitzt. Aber zu den Überbürdungen der Weimarer Republik gehört neben der wirtschaftlichen und außenpolitischen Belastung der Geschichtsdiskurs um die „Volksgemeinschaft" als dem wirkungsvollsten aller historischpolitischen Mythen. Denn mit ihrer heroisierenden Geschichtsutopie von charismatischen Führern und organisch-völkischen Gemeinschaften treffen sich die im Kaiserreich dominierende „Völkische Bewegung" und die mit Kriegsende wortführende „Konservative Revolution". Ihr reduktionistisches Geschichtsbild erweist sich als anschlußfähiger als das mit „Volksstaat" indizierte demokratische Föderativmodell. In der
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Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, 198-201 nennt Friedrich GUNDOLF, Rudolf PANNWITZ, Friedrich WOLTERS, Karl WOLFSKEHL. 26
Andreas Dörnen Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen 1995, 11. 27 Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus und Masse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.7, Stuttgart 1992, 3 9 I f f . 28 Für Bayern spricht Kurt EISNER vom „föderativen Volksstaat"; auch heißt es „Volksstaat Hessen" oder „Freier Volksstaat Württemberg".
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seriellen Literatur lassen sich ausreichend Belege finden, nicht zuletzt in der Zeitschrift des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten 29 . Selbst im jungakademischen Milieu bergen die Prozesse historischer Sinnbildung nicht nur Vernunftpotentiale, sondern in hohem Maße auch Potentiale der historischen Unvernunft, trotz aller methodisch bereitgestellten „geltungssichernden Prinzipien des historischen Denkens", auf deren Basis Jörn R Ü S E N jenseits von ästhetisch-politischen „priesterlichen Gebärden der Wahrheitsverkündung" die ^Möglichkeiten zur Steigerung der Vernunftpotentiale in der Geschichtskultur" auslotet .
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Friedrich Siebert: Der Gedanke der Volksgemeinschaft", in: Akademische Blätter 36 (1922), 50f. Dort die Aufforderung zur „völkischen Lebensgestaltung", die „wir späteren Schüler der Rassenlehre" zu befolgen haben. Hauptgegner ist der bürgerliche Freisinn mit Friedrich NAUMANN. 30 Jörn Rüsen: Vernunftpotentiale der Geschichtskultur, in: Jörn Rüsen u.a. (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt (M.) 1988, 105-14, Zitate 112-14.
Detlef Hoffmann Gezeichnete Orte - Spur, Signatur, Denkmal Individuelles wie kollektives Erinnern bedarf der benennbaren Orte. Ich meine dies weniger im Sinne von Pierre N O R A S „Lieux de memoire", der auch geistige Orte (eine Zeitschrift, einen Gedenktag, ein historisches Werk) unter diesem Obertitel versammelt. Ich möchte vielmehr in diesem Essay „Orte" im geographischen Sinn verstehen, ein benennbares Stück Erde oder Wasser, eine Stadt oder einen Flußlauf. An derartigen Orten wäre das zu erinnern, was dort stattgefunden hat oder stattgefunden haben soll - ein Unterschied, der in den Erinnerungskulturen selten von grundsätzlicher Bedeutung ist. Jeder dieser Orte ist mit einer Erzählung umgeben, aus der die Bedeutung des Ortes (und des Ereignisses) für die erinnernde Gruppe hervorgeht. Im Zentrum meiner Überlegungen sollen Plätze und Gebäude stehen, denen wir ansehen können, daß in der Vergangenheit, an diesem Ort etwas geschehen ist1. Doch bevor ich drei Formen von Zeichen untersuche, die sich am Ort der Erinnerung befinden können und ihn so von den anderen Plätzen unterscheiden, ihn zu einem spezifischen Ort der Erinnerung machen, möchte ich noch auf die im Titel „gezeichnete Orte" angedeutete Doppelgesichtigkeit eingehen, die Erinnerungsorte prägen kann. Eine Spur hat den Ort auf Abbildung 1 gezeichnet, geprägt. Es ist ein Trottoir in der kleinen englischen Stadt Tewksbury. Ohne eine Erzählung können wir sehen, daß hier ein Hund vorbeiging; zu einer Zeit, als der Beton noch frisch war. Da der Hund niemals mit einer Bedeutung ausgestattet war, seine Handlung - das Überqueren des frischen Betons - ebenfalls nicht, wurde diese Straße in Tewksbury (obwohl der Ort gekennzeichnet ist) bisher nicht zu einem Ort der Erinnerung. Gezeichnet im Sinne von „gemalt" oder - wie wir heute sagen - re-präsentiert ist der Ort auf Abbildung 2: wir sehen auf dem Gemälde von Henry HOLLIDAY aus dem Jahre 1861, wie DANTE zum ersten Mal BEATRICE erblickt. Der Überlieferung nach war BEATRICE die Tochter des Florentiner Bürgers Folco PORTINARI; sie starb im Juni 1290 im Alter von 24 Jahren. Der im Mai 1265 geborene DANTE Allighieri soll sie in seinem neunten Lebensjahr zum ersten Mal gesehen haben. In der „Vita nuova" (1292-95) und in der „Divina Comedia" (an der er von 1311 bis zu seinem Tod im ravenatischen Exil arbeitet) verherrlicht er sie. Vielleicht sollte das prosaische Faktum nachgetragen werden, daß sich DANTE um 1293 mit Gemma DONATI vermählte.
1
Vgl. hierzu Detlef Hoffmann (Hg.): Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler, 19451955, Frankfurt (M.) 1997, mit weiterführender Literatur; siehe auch ders.: Der Teutoburger Wald und andere Orte der Erinnerung, in: Mamoun Fansa (Hg.): Varusschlacht und Germanenmythos, Oldenburg 1994, 87-107; ders. (Hg): Orte der Erinnerung. Wie ist heute sichtbar, was einmal war?, Rehburg-Loccum 1996.
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Henry HOLLIDAY lokalisiert die fur den Dichter so entscheidende Begegnung. Er erhöht das Alter wohl aus zwei Gründen. Der erste ist antiquarischer Natur: die überlieferten Portraits sind aus späterer Zeit. HOLLIDAY n i m m t
f ü r DANTE
das
zum
Vorbild, das die Überlieferung mit dem Namen GLOTTO verbindet. Der zweite Grund ist sentimentalischer Natur: der Nordländer HOLLIDAY konnte sich eine romantische Liebesgeschichte zwischen zwei Neunjährigen nicht vorstellen. Er mußte die Szenen so fassen, daß Betrachterinnen und Betrachter vom Strahl der eigenen individuellen Erinnerung an die erste Liebe oder auch an eine Liebe auf den ersten Blick getroffen werden. Insofern ist das Anekdotische universalisierbar, die Erscheinung der BEATRICE im Paradies der „Divina Comedia" nicht. Während Henry HOLLIDAYS Gemälde in Walker's Art Gallery zu Liverpool eine marginale Rolle spielt, ist es in Florenz als Postkarte überall anzutreffen. Der Ort, an dem Henry HOLLIDAY die Begegnung stattfinden läßt, ist heute leicht auffindbar, er ist auch mit eindeutigen Kennzeichen versehen: der „Ponte Vecchio", die Mauer entlang des Arno, das Pflaster. Ort und Ereignis werden in einer Weise zusammengebracht, daß jeder Besucher und jede Besucherin aus der eigenen Reise-Erfahrung (Erinnerung) das Material mitbringt, mit dem das Ereignis (kollektiv) rekonstruiert wird. An die berühmte Bastille2 erinnert vor Ort nur • ,_„_ noch der Name des Platzes: „Place de la BastilQ s* LQ KSA5TILLC en ι / β » . ,, . . . , , . . PARIS le . Die Erinnerung selbst ist jedoch komplexer Art. Zum einen müssen wir uns der gehaßten Zwingburg erinnern, um der zerstörenden Leistung des Volkes von Paris inne zu werden. Wäre vor der Revolution die Bastille nicht ein berühmt-berüchtigtes Gefängnis gewesen, hätte es nicht zum Sturm mit der durch die Zeit nachhallenden symbolisierenden Wirkung getaugt. Insofern ist eine Postkarte, die 1989 in Paris verkauft wurde {Abb. 3), nicht ausschließlich eine Masche der Souvenir-Industrie. Der versendbare Ausschneide- und Klebebogen ermöglicht es, die Zwingburg wieder aufzubauen und so die Ursache für den berühmten Sturm mit Pappe und Kleister wieder zu errichten. Unser Kulturkreis ist nicht gewohnt, eine Negation zu erinnern. Das ist das Problem der Erinnerungsarbeit an Plätzen ehemaliger Konzen2
Vgl. Hans-Jürgen Liisebrink/Rolf Reichhardt: Die „Bastille". Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt (M.) 1990.
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trationslager. Sie wurden und werden deswegen zu Orten des positiven Heldengedächtnis gemacht: in Buchenwald gedachte die DDR Ernst THÄLMANNS, im Stammlager von Auschwitz wird Pater KOLBE verehrt, in Birkenau Edith STEIN. E S scheint sehr schwer, sich des Verbrechens an den Namenlosen zu erinnern - obwohl die meisten Menschen sich mit ihnen identifizieren können müßten. Welch eigenartige Verschmelzungen zu einem „Ort der Erinnerung" fuhren können, sehen wir am Empire State Building in New York. 1931 war das höchste Gebäude der Welt errichtet worden. Der Architekt William Frederic L A M P hat das 102 Stockwerke zählende, 3 8 1 m hohe Gebäude entworfen. 1933 erhielt der Superlativ mit dem Film „King Kong" seinen Mythos (Abb. 4). Als das „Empire State Building" 1970 auf Platz 2 verwiesen wurde, dann weiter in der Liste der höchsten Gebäude absank, wurde ein zweiter King Kong-Film gemacht. Obwohl er schlecht war, konnte er dem Mythos nicht mehr schaden. Nun ist das „Empire State Building" ein Ort, an dem man sich nicht nur des riesigen Affens erinnert, denn der King Kong-Film von 1933 war der Großstadt gewidmet, Manhattan war der Gegenpol zur Wildnis geworden. Und obwohl im Film der Sieg der Wildnis gezeigt wird (die nicht wegen ihrer Schwäche, sondern wegen ihrer edlen Gefühle unterliegt), wird der Wolkenkratzer zum Symbol der modernen Großstadt von „Metropolis". Das bauliche und soziale Gebilde „Großstadt" hat in dem Film von 1933 seine Geschichte gefunden und seinen an seiner Liebe scheiternden Helden: der „gezeichnete Ort" ist die Re-präsentation New Yorks. Im Untertitel meines Beitrags habe ich drei Typen von Zeichen genannt: Spur, Signatur und Denkmal. Ich möchte - wie schon mit dem Titel „Gezeichnete Orte"- damit die doppelte Bewegung andeuten, die die „Orte der Erinnerung" prägt. Sie sind weder reine Überlieferung, reines So-sein, „eigentliche" Geschichte, noch verdanken sie ausschließlich der Erzählung, der Zu-Schreibung ihre Existenz: sie gehen weder in der Faktizität noch in der Konstruktion auf, eins bedingt das andere. 1. Die Spur Der Begriff der „Spur" und weitergehend der der „Spurensicherung" stammt aus der Welt der Jäger und Kriminalisten 3 . Wenn ich richtig sehe, war es Gustav HEINEMANN, der Historiker und Kriminalbeamte, Sherlock HOLMES und Leopold von RANKE, mit diesem Begriff verband - und auch wieder trennte. Die Spuren, die der Kriminalbeamte sichert, sind selten schriftlicher Art: es sind Kratzer und Fingerabdrücke, Gegenstände, die sich auffallig zu ihrem Umfeld verhalten. Natürlich können es auch Fußspuren oder Abdrücke von Autoreifen sein, die der Kriminalist zu sichern hat. Es gilt nicht nur die Spuren zu finden, sie müssen auch gesichert, also transloziert werden, ohne daß ihre 3
Vgl. Bärbel Schmidt: „Aufbewahrt in wohl verschlossenen Bildern". Spuren und ihre Narrative, in: Ina Poppinga: Eindruck vom Abdruck, Oldenburg 1997, 4-26; siehe auch Detlef Hoffinann: Die materielle Gegenwart der Vergangenheit. Überlegungen zur Sichtbarkeit von Geschichte, in: Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung - Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, 473-501.
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Beweiskraft leidet. Der Spurensicherer weiß nur sehr bedingt, wen er sucht: jemanden, der ein Verbrechen beging. Der Ort der Tat, seine materielle Befindlichkeit, muß sich im phantasierenden Blick des Suchenden zu einer Hohlform ausbilden, in die ein Positiv paßt. Der ist ein guter Kriminalbeamter, bei dem sich Phantasie und Realität zu einer deckungsgleichen Einheit verbinden. Während der Kriminalbeamte jedoch von Zeit zu Zeit das Glück hat, sein Phantasma mit einer Person, gar einer geständigen, zu vergleichen, ist dem Historiker und der Historikerin dieses Glück nie vergönnt. Hier wetteifern die Phantasmen lediglich um die Evidenz der materiellen Spuren. Spuren sind noch nicht verschriftlichte Beweise. Sie sind einem Ort (auch einem Ding, einer Person) eingeprägt oder sie befinden sich (noch) an einem Ort. In dem Zustand alter Spuren (Abb. 5) erscheinen die Wracks von Kampfwagen entlang der Straße vom Meer nach Jerusalem. Natürlich sind die Spuren das Resultat einer Kriegshandlung, danach wurden sie intensiv gepflegt. Die Kämpfe um die Straße nach Jerusalem war für die Juden äußerst verlustreich. Die Wracks, die hier liegen blieben, werden gepflegt, am UnabhängigkeitsΓ' tag tragen sie Schmuck. ..-...,..,..,., . π Spuren an Orten der Erinnerung, so müßten wir mit Alois RIEGL 4 formulieren, sind Denkmale aus der Zeit. Ihre Sicherung (die Pflege, der jährlich neue Anstrich) verwandelt sie in Denkmale an die Zeit, nicht ohne in der Sicherungsmaßnahme schon wieder eine neue Spur auszulegen. Positive Sicherung des Bestandes muß als Konstitution einer neuen Spur begriffen werden. In die Spur phantasiert der Blick des Nachgeborenen das, was gewesen sein könnte nicht anders als Henry HOLLIDAY, der 1861 das erste Zusammentreffen von DANTE und BEATRICE imaginiert hat. Doch die Dichte der Spuren mag Phantasie und Ratio - also Wissenschaft - zu Konkreterem beflügeln, das Gefühl stabilisieren, hier - an dieser Spur - bestünde ein direkter Kontakt zu dem, wie es „eigentlich" war: immer sind die Zeichen der Gegenwart dichter präsent als die der Vergangenheit. Nicht jeder Ort, an dem Spuren, viele Spuren zu finden sind, wird auch zu einem „Ort der Erinnerung" gar des kollektiven Gedächtnisses. Die Entdeckung Pompejis im späten 16. Jahrhundert, die ersten Ausgrabungen seit 1748 (in Herculaneum 1709) und die großen, systematischen Grabungskampagnen seit 1860 haben viele Emotionen gebunden, haben auch ein nie versiegendes öffentliches Interesse zu verzeichnen - ein Ort kollektiven Erinnerns ist Pompeji nie geworden. Die Spuren sind von eindrücklicher Kraft, sie zeigen den Todeskampf der Menschen. Alle diese Spuren sind in Literatur und Gemälden und Filmen verlebendigt worden. Orte des kollektiven Gedächtnisses brauchen in jeweiligen Gegenwarten Kollektive, die (aus welchen Gründen auch immer) der Erinnerung bedürfen. Im Juli 1992 stieß man bei Ausschachtungsarbeiten für ein Bürohaus in New York 4
Alois Riegl: Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen und seine Entstehung, Wien/Leipzig 1903. Riegl basiert im großen und ganzen auf Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen Uber Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1857), hg. v. Rudolf Hübner, Darmstadt 1979.
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auf einen Friedhof aus der Kolonialzeit. Hier waren schwarze Sklaven begraben worden. Die Bauarbeiten wurden gestoppt, systematische archäologische Ausgrabungen begannen, es wurde der Plan für ein „Memorial to Slaves" erörtert5. Der Roman und die Fernsehserie „Roots", die Diskussion um „Ethnicity", die Politik der „Black Community" suchte nach Vergegenständlichung. Sonden waren in die Vergangenheit getrieben worden, und nun lag - durch Zufall - ein eindeutiger wissenschaftlicher Befund vor, Spuren vergangenen schwarzen Lebens in Amerika konnten optisch und haptisch erfahren werden. Der Spur aus der Vergangenheit muß eine Sehnsucht nach Symbolisierung in gegenwärtiger kollektiver Befindlichkeiten entsprechen. Hier gilt, was man fur die Spur des Lichts, die Fotografie gesagt hat: sie berichtet mehr über den Menschen hinter der Kamera als über das fixierte Motiv. Doch genauso wenig bestritten werden kann, daß ein Friedhof schwarzer Sklaven im 18. Jahrhundert in New York vorhanden gewesen ist, so wenig kann bestritten werden, daß sich das Motiv, das das Foto zeigt, vor der Kamera zu sehen war. Es gibt durchaus positive Bestände, „Fakten"; allein ihre Revitalisierung in jeweiligen Gegenwarten findet in immer neuer Form statt, völlig frei von der Quelle kann die gegenwärtige Verbildlichung jedoch nicht sein. Den Ort der Erinnerung, seine Spur, bewahrt das Gedächtnis der Fotografie oder einer Fotopostkarte, die gelegentlich mit Markierungen, etwa der Kennzeichnung des Hauses, in dem man gewohnt hat, präzisiert wurde. In seltenen Fällen ist die Spur jedoch nicht eindeutig nachweisbar, die Quellen halten der Kritik aller nicht stand, ihre Deutung ist kontrovers. Trotzdem kann der Nachhall überwältigend sein. Ein solcher Ort ist Lourdes in den französischen Pyrenäen. Lourdes ist durch das Wunder geprägt, das eigenwillig unsichtbare Spuren hinterläßt {Abb. 6). Es ist im materialistischen 19. Jahrhundert der Gegenbeweis gegen die Gültigkeit von Naturgesetzen. Insbesondere die Medizin erhält durch das Wunder verwirrende Lektionen. Die erste Auflage des von Michael BUCHBERGER herausgegebenen „Lexikons für Theologie und Kirche" (1934) berichtet unter dem Stichwort „Lourdes" folgenden Hergang: „Der 14jährigen Müllerstochter Bernadette SOUBIROUS erschien nach ihren Aussagen stehend in einer Grotte des Felsens Massabielle in Lourdes am Ufer des Gave ganz unerwartet am 11. Februar 1858 die selige Jungfrau MARIA, dann wiederholt, im ganzen 18mal, zuletzt am 16. Juli. Sie befahl ihr am 25. Februar in der Grotte zu trinken und sich zu waschen aus einer Quelle, die erst unmittelbar darauf entsprang, anfangs spärlich, allmählich reicher flöß (seit Jahren täglich 122 0 0 0 Liter Wasser).' BERNADETTE hat sich mit der von ihr so genannten „Dame" unterhalten. Auf ihre Bitte hat die „Dame" schließlich ihren Namen gesagt: „Ich bin die unbefleckte Empfängnis." Mit den nicht nur in Tschenstochau sondern auch in Lourdes zum Verkauf angebote5
Vgl. den Bericht „N.Y. Work Halted on GSA Building", in: The Washington Post, 31.7.1992. Siehe s.v. Lourdes, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hg. v. Michael Buchberger, Bd.6, Freiburg (Br.) 1934, Sp. 660-664.
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nen Statuen tritt der Käufer direkt in den Kultus der Erinnerung ein. Die Figur wurde von dem Bildhauer F A B I S C H nach den Angaben der B E R N A D E T T E gefertigt. Am 4. April 1864 erhielt sie ihren Platz in der Grotte (Abb. 6). Damit gehört das inzwischen industriell hergestellte Erinnerungsstück zu den nicht von der Hand gemachten Heiligenbildern (a-cheiro-poietos, lat. non-manufactum). Daß die Kunstgeschichte dieses Bild nicht zu ihren Inkunabeln zählt, ist durchaus konsequent, handelt es sich doch nicht um eine künstlerische Erfindung, sondern um eine Offenbarung der Gottheit, die mit ihrer Botschaft auch ihr Bild zur Erde gesandt, sprich: verzeitlicht hat. Deswegen erkennen wir Stilmerkmale der Mitte des 19. Jahrhunderts. Reisende nehmen mit der Statue das an dieser Stelle öffentlich gemachte, publizierte Bild der „unbefleckten Empfängnis" in ihren privaten Lebensvollzug hinein. Mit der Statue ragt ein Aspekt kollektiven Gedächtnisses in die Alltagswelt. Diese Form der Erinnerung an die Präsenz der Gottheit, einer Gottheit auf Erden, kennt nicht nur die römische Kirche 7 . Schon C I C E R O beschreibt ein Wunderbild der C E R E S als „nicht von menschlicher Hand gemacht, sondern nach allgemeinem Glauben vom Himmel gefallen." Auch die Apologeten des Kultbildes von Ephesos verteidigten die A R T E M I S gegen die Angriffe des P A U L U S mit dem Hinweis, das Bild sei himmlischen Ursprungs. Doch nicht nur das von ihr hinterlassene Bild provoziert die Erinnerung an die Anwesenheit des Außerirdischen auf dieser Erde, auch die Grotte erweist sich durch das wundertätige Wasser als ein Ort von Spuren, die die Erinnerung wachhalten. Durch das Wasser wurde die Grotte zu einer anderen, das Heilige hat sich ihr eingeschrieben. Wunder sind seit ältesten Zeiten Nachweise für die Auszeichnung von Orten durch Götter. Da es wesentlich zu Wundern gehört, daß sie un-glaublich sind, gibt es überall, wo es Wunder gibt, auch Kundige, die bestätigen müssen, daß das Wunder ein Wunder und kein Hokuspokus ist. Auch in Lourdes wurde eine solche Kommission von Weisen eingerichtet; bis Ende 1861 hatte sie 100 Heilungen testiert, 15 davon wurden als Wunder anerkannt. Statue und Wunder machen die Besonderheit des Ortes gegenüber anderen Plätzen sichtbar. Sie führen vor Augen, daß das Narrativ nicht das Entscheidende ist, sondern die Auszeichnung des Ortes durch die Berührung der Gottheit. Das so markierte Gelände wird nun durch Bauwerke organisiert: Oberhalb der Grotte baute man eine Kirche in gotischen Formen, Bischof G U I B E R T von Paris weihte sie am 2. Juli 1876. Darunter, im Fels, folgte dann von 1883 bis 1901 die Rosenkranzkirche, ein Kuppelbau mit 15 Kapellen. Den gesamten Ort erfaßte ein Bau-Boom, ein heiliger Kurort entstand. 1933 sollen 1,5 Millionen Pilger in Lourdes gewesen sein, Menschenströme, die es zu kanalisieren galt. Schließlich sei darauf verwiesen, daß Pius IX 1854 die „Immaculata Conceptio" zum Dogma erklärt hatte. M A R I A ist frei vom Makel der Erbsünde empfangen worden. Die Statue der weißen Dame gibt uns ein Bild dazu. In Lourdes eignet das kollektive Gedächtnis in Ritualen der Wundererwartung und im Rosenkranzgebet sich dieses Dogma an.
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Vgl. zum folgenden Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2 1991, bes. Kapitel 4: Himmlische Wandbilder und irdische Porträts. Lukasbild und 'ungemaltes' Original in Rom und im Orient, 60-91.
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2. Die Signatur Viele Menschen haben die Angewohnheit, an Plätzen, an denen sie verweilen, Botschaften zu hinterlassen. Oft signieren sie diese Plätze. Auch der große historische Ort geht eine Verbindung mit dem Namen, der individuellen Signatur ein. Selten findet man Signaturen ohne Datum. Die einmalige Person will zu einem fixierten Moment erinnert werden. Insofern ist die Signatur am Ort vergleichbar der Postkarte, die am Ort geschrieben, frankiert und abgesandt wurde. Hier mag ein offizieller Stempel die Anwesenheit des Schreibenden noch zusätzlich dokumentieren. Es gibt Berge in Bayern, da ist am Gipfelkreuz ein Stempel befestigt, mit dem man sich seine Anwesenheit bestätigen kann. Diese Signaturen auf hohen Bergen das gilt auch für den berühmten Felsen Massada 8 {Abb. 7) - beweisen zum einen, daß es eine bestimmte Person geschafft hat, einen mühseligen Weg hinter sich zu bringen. Insofern ist es ein Zeichen individueller Erinnerung, nicht anders als die Ritzungen in Baumrinden und auf Parkbänke. Doch wann immer ein Netz an Initialen Bäume überzieht, scheint es so etwas wie einen Wiederholungszwang gerade an diesem Ort zu geben - der in unse— — — rem Fall im Gegensatz zur Parkbank präzise benennbar ist. In Massada kann die Signatur sich auch der allgemeineren Bedeutung - Trutzburg Israel - einschreiben, sich mit ihr verbinden. Paulinzella 9 ist eine Entdeckung der Romantik, die Signaturen hier beginnen im 18. Jahrhundert {Abb. 8 a, 8 b), die alten sind zahlreicher als die modernen. Damit ist die
Klosterruine als ein vergangener Ort der Erinnerung ausgewiesen, gegenwärtige Besucher empfinden den Besuch nicht als herausragend. Es ist ein stiller, beschaulicher Ort, 8
Vgl. Yigael Yadin: Massada. Herod's Fortress and the Zealot's Last Stand, Jerusalem/Tel Aviv, Haifa 1966; Mireille Hadas-Lebel: Massada. Der Untergang des jüdischen Königreichs oder die andere Geschichte von Herodes, Berlin 1995. Eine schöne, kurze Einfuhrung gibt Friedrich Möbius: Die Klosterkirche Paulinzella, Berlin 3 1980.
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an dem der romantische Kunstfreund sich vergangener Zeiten erinnern kann - er ist eine Erinnerung an die Erinnerung. Mit Signaturen an drei Plätzen der kollektiven Erinnerung möchte ich diesen Abschnitt schließen. Nach christlicher Auffassung befindet sich die Grabeskirche in Jerusalem10 an der Stelle, an der JESUS CHRISTUS begraben wurde. Noch heute gehen Pilger davon aus, daß sie den Platz besuchen, an dem der Körper CHRISTI mehrere Tage lag. In der mittelalterlichen Grabeskirche werden nicht nur das heilige Grab und die Stelle gezeigt, an der das Kreuz gefunden wurde, man kann auch den Golgatha-Berg, eine Kreuznagelungskapelle und den Ort der Kreuzigung besichtigen. In der Geschichte der Entstehung dieses Ortes kollektiver Erinnerung wird deutlich, welch komplexe Erzählung die geritzten Zeichen an vielen Wänden der Grabeskirche voraussetzen (Abb. 9, gegenüberliegende Seite). Der „Auffindung des heiligen Kreuzes" wird in der Liturgie der römischen Kirche am 3 . Mai gedacht. An diesem Tag habe die Kaiserin HELENA im Jahre 3 2 0 das Kreuz JESU gefunden. Die ersten Berichte darüber stammen von AMBROSIUS. Der Feiertag des 3. Mai ist seit dem 8. Jahrhundert in Rom nachweisbar. In der griechischen Kirche wird die Kreuzauffindung zusammen mit der Weihe der Grabeskirche am 14. September gefeiert. Dieses Datum wurde von GREGOR dem Großen auch in den römischen Festkalender übernommen. An diesem Tag erinnerte sich die westliche Kirche eines weiteren Ereignisses. Nach der Einnahme von Jerusalem im Jahre 614 habe der Perserkönig CHOSRAN II das Kreuz aus der heiligen Stadt geraubt, Kaiser HERAKLIUS habe es 6 2 8 zurückerobert und an seinen ursprünglichen Ort verbracht. Auffindung, Diebstahl und Rückkehr an „seinen" Ort, so wird der Geschichte des heiligen Kreuzes am 14. September in der römischen Kirche gedacht. In unserem Zusammenhang ist die Geschichte der Kreuzfindung von besonderem Interesse. Am ausfuhrlichsten wird sie - mit allen Varianten - in der „Legenda aurea"11 des JACOBUS DE VORAGINE aus den Jahren 1 2 6 3 bis 1 2 7 3 berichtet. Es ist die Geschichte der Zuordnung eines Ortes zu einem tradierten Ereignis. Das Geschehnis, der Tod CHRISTI am Kreuz, war überliefert worden, der Ort jedoch in Vergessenheit geraten. Die Legende nimmt - um die fast 300 Jahre zu überbrücken - eine geheime mündliche Überlieferung an: Der Jude JUDAS habe den Ort gekannt, den die Heiden durch den Bau eines Venustempels besonders nachhaltig verborgen hätten. HELENA habe ihn gezwungen, sein Geheimwissen preiszugeben. Der so bekannt gemachte Ort hat sich dann selbst zu erkennen gegeben: JUDAS ging an die Stätte und betete daselbst „da bewegte sich alsbald die Erde, und ein Rauch breitete sich umher von köstlichem Geschmack [...]." Die Grabungskampagne verlief positiv, man fand die drei Kreuze. Um das Kreuz CHRISTI ZU ermitteln, wurde ein Toter mit allen dreien berührt; nur eines war wundertätig. Die Geschichte vereinigt einige Beweistypen, die für Orte der Erinnerung in Gebrauch sind. Der erste ist das Narrativ, öffentlich oder im Geheimen tradiert. Es bezeichnet Ort und Ereignis. Dann kann sich der Ort selbst zu erkennen geben, durch Naturerscheinungen, hier ein Erdbeben und seltene Dämpfe. Der dritte Beweistypus, die archäologische Gra10 Zur Grabeskirche noch immer grundlegend Karl Schmaltz: Mater Ecclesiarum. Die Grabeskirche in Jerusalem. Studien zur Geschichte der kirchlichen Baukunst und Ikonographie in Antike und Mittelalter, Straßburg 1918. Vgl. auch zur Liturgie im 4. Jahrhundert John Wilkinson: Egerias Travels to the Holy Land, Jerusalem/Warminster 2 1981. 11 „Von dem heiligen Kreuze als es erhöhet ward", in: Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt v. Richard Benz, Heidelberg o. J., 698-705.
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bungskampagne, ist der unserem wissenschaftlichen Denken am vertrauteste. Stimmen Narrativ und ergrabener Befund überein, ist eine hohe Plausibilität erreicht. (Anders als die Kaiserin HELENA hat sich Heinrich SCHLIEMANN geirrt: man kann auch ein Narrativ auf einen falschen Befund aus anderer Zeit projizieren.) Die Beweiskraft des Wunders ist recht populär, wissenschaftlich jedoch umstritten. Der so ermittelte Ort wurde durch ein Bauwerk ausgezeichnet. Wie in der individuellen, so gewinnt auch in der kollektiven Erinnerung ein Ereignis im zeitlichen Abstand an Bedeutung. Erst im 19. Jahrhundert begann der Abstand zwischen Erinnerung und Ereignis sich zunehmend zu verkürzen. An mehreren Stellen in und auf der Grabeskirche (Abb. 9) haben Pilger Kreuze geritzt. Jedes Kreuz signalisiert den Glauben des Erinnernden an die heilbringende Kraft des Ortes. Während die Signaturen und Daten von der Anwesenheit von Individuen zu einer bestimmten Zeit künden, veranschaulichen die zahllosen gleichförmigen Kreuze einen aus einem kollektiven Gedächtnis hervorgehenden gemeinsamen Glauben. Mein zweites Beispiel kündet von kollektiver Identität - von Gleichgestimmtheit. So entlegen wie der Tel Maresha in der Nähe des Kibbutz Beit Guvrin ist, finden nur wenige in die unterirdische Höhle, in der die Worte „Warszawa" und „Poland" eingeritzt sind. Die Geschichte dieser Signaturen ist lang und komplex. In dem hügeligen Gebiet nördlich des Negev (Abb. 10 a) wurden schon in hellenistischer Zeit aus dem weichen Kreidegestein Quader abgebaut. Die Steinbrüche waren für eine weitere nicht sicher zu klärende Verwendung gedacht: „Taubenlöcher" („Columbarii") in der Wand geben davon Zeugnis. Dieser große Komplex hellenistischer Steinbrüche, die bis in islamische Zeit - etwa als Ölpressen und Öllager genutzt wurden, wird in unserem Jahrhundert - bis heute - ausgegraben. In eine dieser Höhlen stiegen 1942 Soldaten der Armee des General Wladyslaw auf ihrem Weg von der Sowjetunion über Persien und Irak zu den Kämpfen in Nordafrika und Italien, bis hin zu dem berühmten Einsatz des II. polnischen Corps in Monte Cassino. ANDERS war im September 1939 als Brigadekommandant von den Sowjets gefangengenommen worden. Nach der polnisch-sowjetischen Vereinbarung vom August 1942 stellte er aus Kriegsgefangenen in der Sowjetunion polnische Verbände auf, die die Stärke von 80000 Mann erreichten. Auf britischen Druck mußte STALIN nachgeben und den Truppen der „ANDERS-Armee" den Weg ins Britische Mandatsgebiet Irak und Iran ermöglichen. Vielleicht sollte ich in Erinnerung rufen, daß dem GeneANDERS,
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ral 1946 die polnische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde.
Die Soldaten dieser Armee ritzten in den kreidigen Stein den Namen ihres Staates und den Namen ihrer Hauptstadt ein. Beide Worte bezeichnen das, was alle verbindet, es erklärt, warum sie in Palästina für Polen kämpfte {Abb. 10 b). Die Geschichte der „ANDERS-Armee" war wie der Massenmord von Katyn in der Volksrepublik Polen tabu. Doch das ist nicht der Grund, warum dieser Ort kollektiver Selbstvergewisserung nicht ins kollektive Gedächtnis einging. Er ist einerseits zu weit abgelegen, andererseits zu unpathetisch, um die Bedeutung zu erlangen, die das, was er vergegenständlicht, verdient. Die Zitadelle von Akko war während der Zeit des englischen Mandats ein Militärgefangnis. Wichtige Personen des jüdischen Widerstandes befanden sich als Gefangene an diesem Ort, der mit einer berühmten Gefangenenbefreiung nicht nur an Demütigungen, sondern auch an Siege erinnert. In Leon URIS' Roman „Exodus" (1958) spielt dieses Gefängnis eine wichtige Rolle, der Film „Exodus" (I960) 12 wurde an dem historischen Schauplatz gedreht. Die konkurrierenden Untergrundbewegungen ordnen sich auch noch heute unterschiedlichen Kräften in der israelischen Gesellgnaturen sind auch als Spuren beschreibbar, die nem angestrengten Heroismus, differenziertes Leben geben. Diese Sibisher keinen Fährtenleser gefunden ha3. Das Denkmal Das Denkmal an einem Ort vergangenen Geschehens ist eine spätere Interpretation des Ortes und des Geschehens. Das Denkmal aus der Zeit wird durch ein Denkmal an die Zeit mit Sinn, mit Bedeutung ausgestattet. Anders als der Begriff der Spur und der Si12 13
Unter der Regie Otto Premingers. Ich habe bisher keine weiteren Informationen zu diesen Signaturen erhalten.
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gnatur stammt der des Denkmals aus dem Bereich der Religion. Er wurde von LUTHER bei der Übersetzung des Buches Exodus für das hebräische Teffilin geprägt: in der Bedeutung von Erinnerungszeichen. Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird er zunehmend Synonym mit dem lateinischen „Monumentum" gebraucht, in dem Sinn von Baudenkmal - also aus der Vergangenheit überkommenem (Relikt) - wie auch im Sinne von Memorial, Erinnerungszeichen an etwas Vergangenes. Denkmale versuchen, vergangene Ereignisse (oder Personen) in jeweiligen Gegenwarten sinnvoll anwesend sein zu lassen. Anders als die moderne Signatur (die eine individuelle Zuordnung zum Ort der Erinnerung ist) ist die Setzung, Planung und der Bau eines Denkmals der Versuch von Kollektiven, einen gemeinsamen Sinn zu formulieren. In dem Maße, in dem man feststellen muß, daß große Kollektive keine inhaltlichen Gemeinsamkeiten haben, kommen Denkmalsetzungen in den Streit der Meinungen. Die Analyse wird sie bestimmten Gruppen zuordnen. An Orten, an denen jede Sinnkonstruktion scheitern muß, wie den Konzentrationslagern oder Plätzen des bürokratisch geplanten und industriell durchgeführten Massenmordes, scheitern Denkmäler. Sie sind trotzdem unerläßlich. Ich will abschließend über ein Denkmal an einem „Ort der Erinnerung" berichten, ein Denkmal, das mehrere Plätze in besonderer Weise zeichnete. Ob ich Grunwald sage (wie der Ort heute heißt) oder Grünfeld (wie er auf deutsch genannt wird) oder Tannenberg (das einige Kilometer entfernt davon liegt) oder Stebark (wie der Ort heute heißt) ist ein jeweils anderes Narrativ auf ein jeweils anderes Ziel hin. Am 15. Juli 1410 fand zwischen Grunwald und Stebark eine der größten Schlachten des zu Ende gehenden Mittelalters statt: Polnisch-Litauische Verbände besiegten mit Unterstützung der Tartaren das Heer des Deutschen Ordens. Bis ins 18. Jahrhundert wird diese Schlacht im religiösen Brauchtum erinnert. Mit dem Ende des polnischen Königtums Ende des 18. Jahrhunderts beginnt die Geschichte des Mythos von Grunwald als eines nationalen Ursprungsmythos. Er richtet sich gegen Preußen, das als Nachfolger des Deutschen Ordens gesehen wurde. Zwei Denkmate sind diesem Mythos gewidmet: Jan MATEJKOS Grunwaldgemälde von 1878 und das von dem Komponisten PANDEREWSKI gestiftete Grunwald-Denkmal in Krakau. Zur Feier des halben Milleniums wurde dieses Monument 1910 errichtet (Abb. 12). Nachdem die 8. deutsche Armee vom 23. bis 31. August 1914 die 2. russische Armee unter A.W. SAMSONOW in Masuren besiegt hatte, beschlossen die siegreichen Kommandanten Paul VON H I N D E N B U R G und - vor allem - Erich LUDENDORFF dem großräumigen Geschehen den Namen: „Schlacht bei Tannenberg" zu geben. Die Kreuzritter waren gerächt. Nach langen Diskussionen in der Weimarer Republik wurde das Reichsehrenmal in Tannenberg errichtet, 1927 fand die Einweihung statt. Der Besetzung Krakaus durch die deutsche Wehrmacht 1939 folgte die Zerstörung des Grunwald-Denkmals von 1910. Die Spolien jedoch wurden von Polen geborgen. Die von Osten mit den siegreichen Truppen vorrückende „polnische Volksarmee" über-
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nahm die Grunwald-Tradition: Ende 1943 wurde der Grunwald-Orden gegründet, bis heute die höchste militärische Auszeichnung. Als sich 1944 die polnische Heimatarmee in Warschau gegen die Wehrmacht erhob, übernahm Heinrich HIMMLER die Leitung des deutschen Gegenschlags, der militärisch auch deswegen problematisch war, weil er viele Truppenteile band. Die Begründung HIMMLERS dafür ist irrational, mythisch: über die fünf, sechs Wochen des Kampfes komme man hinweg. „Dann aber ist Warschau, die Hauptstadt, der Kopf, die Intelligenz dieses ehemaligen 16-/17-Millionen-Volkes der Polen, ausgelöscht, dieses Volkes, das uns seit 700 Jahren den Osten blockiert und uns seit der ersten Schlacht bei Tannenberg immer wieder im Wege liegt." Wie ein Heiligtum, das den Ungläubigen nicht in die Hände fallen darf, wird das „Reichsehrenmal" bei Tannenberg 1945 von der SS gesprengt. Der „Ort der Erinnerung" ist heute polnisches Territorium. 1960 weihte der polnische Staat eine riesige Denkmalsanlage bei Grunwald ein, sie feiert den Sieg von 1410 (Abb. 13). Thema der Reden war auch der „westdeutsche Revanchismus", die Forderung nach Anerkennung der Oder-Neisse Linie als polnische Westgrenze. Wie Reliquien sind in die Anlage die Spolien des Krakauer Denkmals von 1910 eingefügt (Abb. 14). Über die Zerstörung von 1939 triumphiert der Sieg von 1945. Wie beim Jüngsten Gericht die „membra disjecta" wieder zusammenfinden, so hat hier eine übermenschliche Kraft wieder Gerechtigkeit hergestellt. Besucher durchschreiten am Ort der Erinnerung an den Sieg von 1410 ein symbolisches Narrativ von der leidenden zur siegreichen Nation, von der Antithese zur Synthese. Während die Spur ohne Deutung nichts ist, eine latente Information, die allerdings durch ihre formale Struktur Deutungen provozieren kann, setzt die Signatur eine Verleihung von Bedeutungen an den Ort voraus. Welcher Art diese Bedeutungen waren oder sind, sehen wir der Signatur nicht an. Hierzu bedarf es eines Denkmals an die vergangenen Geschehnisse, das mit seiner je gegenwärtigen Rhetorik die Relikte zum Verschwinden bringen kann.
Nach Michael Foedrowitz: „Mit Feuer und Rauch", in: Die Zeit, 29.7.1994.
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Abbildungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8 a. 8 b. 9. 10 a. 10 b. 11. 12. 13. 14.
Spur in Beton, Tewksbury, 1993. Henry Holliday: Begegnung von Dante und Beatrice, Öl/Leinwand, 1861; Liverpool, Walker Art Gallery. Jean-Mari Lemaire: La Bastille en 1789, Postkarte 1986. Golden Apple Postcards: Empire State Building, hergestellt von Kina Italia, Mailand, gekauft 1992. Naomi Salmon: Zerstörte Kampfwagen im Sha'ar Hagajai bzw. Bab el Wad, 1994. Stereo-Postkarte der Mariengrotte in Lourdes, gekauft 1981 auf dem Hauptbahnhof München. Signaturen auf dem Felsen von Massada, fotografiert 1990. Klosterkirche Paulinzella, Ansicht von Südosten, Anfang 12. Jahrhundert. Signatur von 1827 im Presbyterium der Klosterkirche Paulinzella, fotografiert 1984. Geritztes Kreuz auf dem Dach der Grabeskirche in Jerusalem, fotografiert 1989. Beit Guvrin, Tel Maresha. „Polish Cave", Graffito. Signatur von 193 8, Turm der Zitadelle von Akko. Grunwald-Denkmal in Krakau, erbaut 1910, von Deutschen zerstört 1939, wieder aufgebaut 1983. Denkmal bei Grunwald, errichtet 1960. Spolien des Krakauer Grunwald-Denkmals von 1910, errichtet auf dem Weg zum Denkmal bei Grunwald von 1960.
Gertrud Koch Das Riesenrad der Geschichte. The Third Man von Carol Reed, GB 1949 Wien ist in vielerlei Hinsicht eine Stadt der Passagen und des Transits wie auch Berlin. Städte, die gleichzeitig Zentrum sind und peripher, ausgestattet mit den Spuren der Macht, die sich aus Herrschaftsräumen herleiten, die sie ins Zentrum stellen und mit deren Abriegelung sie wieder Peripherie werden. In solchen Städten gedeihen die Phantasien von Reichen, Herrschern und feudaler Macht in alle Richtungen, nach vorne, rückwärts und seitwärts. So konnte man Wien im Herzen der K.u.K.-Monarchie wähnen, in die Nähe zu K A F K A S Prag und SVEVOS Triest rücken und in Richtung Berlin den Balkan nach hinten sich verlieren lassen. Wo solche Träume blühten, bleiben in den Trümmern jenes Glanzes Macht und Herrschaft als Wunsch bestehen, der, wo er nicht mehr auf Reales zielt, so doch noch im Zwielicht schimmert. Die Wiener haben das verstanden. Wer heute als Tourist die Stadt durchstreift, sieht sich Hinweistafeln und Reklameschildern gegenüber, die zu einer Führung neuen Typs einladen, in ein unterirdisches Reich: Auf den Spuren von Harry Lime, dem dritten Mann, geht es da in die Abwasserkanäle Wiens, im Schatten des Riesenrads der Geschichte, wie sie uns Carol R E E D S Film aus dem Jahre 1 9 4 9 dargestellt hat. Der letzte große Reichsanschluß ist ein Abstieg in die Unterwelt im Anschluß an einen Film, der Wien als Ort moralischen Zwielichts, gestürzter Gemütlichkeit zeigt. The Third Man hat vermutlich das Bild von Wien als großer Transitstadt zwischen Ost- und Westeuropa, als Domino-Stein auf den Spielfeldern des Kalten Krieges weit mehr geprägt als irgendein Film, der in Wien produziert worden ist. Die schrägen Kameraperspektiven von Robert K R A S K E R , die enervierende Zithermusik von Anton K A RAS haben das aufdringliche Bild eines nostalgisch verzierten Wiens verblassen lassen, die schräge Kameraperspektive ist nachgerade zum trotzigen Signet jener Wiener Filmszene geworden, die sich wie Valie E X P O R T und Elfi M I K E S C H gegen das 'offizielle' Wien für dessen experimentelle Unterhöhlung entschieden haben. Aber es ist auch Orson WELLES, der als heimliches Gravitationszentrum in Bann schlägt. Natürlich kann man die Frage aufwerfen, welchen Status ein kinematographisches Gebilde hat, an dem ein britischer Regisseur, ein weit berühmterer amerikanischer Schauspieler und Regisseur, deutschsprachige Schauspieler so unterschiedlicher Statur wie Ernst D E U T S C H und Paul H Ö R B I G E R , zerbombte Schauplätze und Kloaken beteiligt sind. Die Off-Stimme, die sich zu den Bildern von Schwarzmarktaktivitäten, Wasserleichen und Militärjeeps, Hinweisschildern der vier unter den Alliierten aufgeteilten Zonen und barocker Architektur zu Wort meldet, rückt Wien, zumindest das von 1945, in die Nähe Konstantinopels, eine offensichtliche Orientalisierung', die im Namen des Drehbuchautors Graham G R E E N E unternommen wird. Mit ihr ist die Freisetzung von verrechtlichten Zonen und Räumen gemeint, mit ihr wird alles möglich, die semantische Neuschöpfung der Welt zum Beispiel, die Harry Lime von den Höhen des Riesenrades vornimmt: Harry Lime (Orson Welles): „Schau da runter. Würde es Dir wirklich leid tun, wenn einer der Punkte da unten für immer aufhören würde, sich zu bewegen? Wenn ich Dir zwanzigtausend Pfund fur jeden Punkt bieten würde, der sich nicht mehr rührt, na Alter, würdest Du mir wirklich erzählen wollen, daß ich mein Geld behalten soll, oder würdest Du ausrechnen, wieviele Punkte
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auszusparen Du Dir leisten kannst? Steuerfrei. Das ist der einzige Weg Geld zu sparen - heutzutage."!
Das Töten von Menschen wird zu einem Glücksspiel, bei dem es darum geht, soviele Punkte wie möglich anzuhalten, Geld ist das einzige Steuerungsmedium, das übriggeblieben ist. Die Herrenmoral des Übermenschen Limes hat Vorbilder in der Geschichte, RASKOLNIKOFF ist Renaissance-Mensch: Lime: „In Italien herrschten unter den Borgias für fünfundzwanzig Jahre Krieg, Terror, Mord und Blutvergießen, aber sie brachten auch Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance hervor. In der Schweiz dagegen gab es brüderliche Liebe, fünfhundert Jahre Demokratie und Frieden - und was hat das hervorgebracht? Die Kuckucks-Uhr." 2
Der Manipulateur, der sich vom Riesenrad der Geschichte aus zum Herrn über Leben und Tod macht, wird zum erstenmal in einer Großaufnahme seines Gesichtes gezeigt, das aus dem dunklen Schatten eines Hauseingangs durch den jähen Lichteinfall eines geöffneten Fensters aufscheint, spitzbübisch lächelnd wie ein pausbäckiges Kind, das ein besonders raffiniertes Versteckspiel ersonnen hat. Die manichäische Aufteilung der Blickperspektiven und der Lichteinfälle ist kennzeichnend für den ganzen Film. Das hat einen anderen Autor dazu gebracht, von Konstantinopel wieder nach Prag zurückzukehren und Wien mit Prag zu verbinden, indem er REED mit WELLES und WELLES mit KAFKA verbindet. Gilles DELEUZE schreibt: „Orson Welles zeichnet häufig zwei sich zusammenfügende Bewegungen: eine horizontale Fluchtlinie gleich einem langgestreckten Käfigraster, in das Licht einfällt, und eine Kreisbewegung, deren vertikale Achse sich in Aufnahmen steil von oben oder von unten umsetzt: wenn dies Bewegungen sind, die bereits das literarische Werk Kafkas erfüllen, wird man durchaus auf eine Verwandtschaft von Welles und Kafka schließen können, die sich nicht auf den Film Le Proces beschränkt, sondern erklärt, wieso Welles eine unmittelbare Konfrontation mit Kafka brauchte; findet man dann solche Bewegungen dicht kombiniert in The Third Man von Reed wieder, so liegt der Schluß nahe, daß Welles in diesem Film mehr war als ein Schauspieler und an seiner Herstellung aktiv beteiligt war - oder Reed war ein inspirierter Schüler von Welles." 3
Auf alle Fälle, so kann man wohl sagen, ist das pausbäckige Gesicht des Todesengels Zentrum einer anderen Art von Film, als die moralische Konversionsgeschichte, die auf der Handlungsebene erzählt wird - die Geschichte eines 'naiven' Amerikaners, der von einem 'korrekten' Briten dazu gebracht wird, den Freund zu fangen, also vom tragischen Konflikt zum pragmatischen Abwägen gebracht wird. Eine Bewegung auf der Vertikalen, welche die geheimnisvolle Freundin aus Prag nicht mitmacht. Sie geht zweimal auf die Beerdigung und zweimal hat sie Grund zu trauern, zweimal denselben Grund, den Tod des Geliebten. In der tragischen Tradition der ANTIGONE weigert sie sich den Geliebten zu verraten, auch als sie gezwungen wird an seine Gleichgültigkeit und Kälte zu glauben. So stehen sich in den Figuren kulturelle Handlungsmuster gegenüber, die sich zu nichts mehr als zu gegenseitiger Achtung bringen können. Zweifellos ist das blasse, von Bosheit und Spiellust überglänzte Gesicht Orson WELLES ein visuelles Zentrum des Films. Wenn er erst im Lichtschein des Fensters, dann im Lichtein1 Übersetzung von mir. In der Originalfassung heißt es: „Look down there. Would you really feel any pity if one of these dots stopped moving for ever? If I offer you twenty thousand pounds for every dot that stopped, would you really, old man, tell me to keep my money, or would you calculate how many dots you could afford to spare? Free of income tax. It's the only way to save money nowadays." 2 Übersetzung von mir. Im Original heißt es: „In Italy for thirty years under the Borgias they had warfare, terror, murder and bloodshed, but they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci and the Renaissance. In Switzerland, they had brotherly love; they had five hundred years of democracy and peace - and what did that produce? The cuckoo clock." 3 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt (M.) 1989, 39.
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fall der sich öffnenden Restauranttür, schließlich unter den Stäben eines Kanaldeckels bleich aufscheint, dann ist er charakterisiert als der Herrscher der Dunkelheit, ein bleicher Mond des Hades. Der triumphalistische Blick vom Riesenrad auf die „Punkte" wird nun zum Blick von unten durch ein Gitter auf die in der Froschperspektive vergrößerten Verfolger. Die Wasserleiche des Anfangs, die Abwässer und Kanäle der toten Körpermaterien am Ende umspielen das Motiv des doppelten Todes, der zwei Beerdigungen. Ist es nicht die größte aller Größenphantasien, sich bei der eigenen Beerdigung unter die Trauergäste mischen zu können, erhaben über den eigenen Tod und den Schmerz der anderen. The Third Man beginnt mit der stärksten Verdoppelung, der des eigenen Todes, in die der Film am Ende mündet. Dazwischen so könnte man sagen, bewegt sich die Symbolfigur des Dritten Mannes, der Dritte, der sich zwischen mich und mein Spiegelbild schiebt, ist einer traditionellen Symbolik zufolge der Tod selbst, der den Blick bricht. Carol R E E D war trotz seines robusten Gehabes und des flotten Kommentars am Ende doch ein inspirierter Schüler von W E L L E S - weniger an den stolzen Siegen der Gerechtigkeit interessiert als an der Morbidezza der Schönheit der Trümmer. Haben der britische Charme und die amerikanische Nonchalance zusammen einen Traum gehabt? „Lime", so der Name, den Graham G R E E N E seinem dritten Mann gibt, ist vieldeutig. Nicht nur bezeichnet er die Limonen (Konstantinopels, des Orients, des 'türkischen' Wien), nicht nur ist er der Leim, mit dem man Vögel fängt, der 'Umgarner' und 'Verführer', er ist auch „lime" ohne 'light' -jemand, dessen Bühne die Dunkelheit ist, die andere Seite des Lichts. Insofern ist The Third Man auch als Kino-Metapher der Sichtbarmachung des Unsichtbaren zu verstehen, für die Leimruten des Suspense, die Furien des Verschwindens. Ins Licht getaucht, ins Rampenlicht geholt, an die Öffentlichkeit gezerrt, vor die neugierigen Augen der Zuschauer, des britischen und amerikanischen Publikums, das den Suspense sucht, im Halbdunkel der Kinosäle. Vienna, die Stadt mit dem Frauennamen und der barocken prächtigen Fassade, wird in R E E D S Film zu einer Allegorie auf den Tod. Der Umschlag von erzählter Zeit in stillgestellte Zeit deutet sich schon in dem ersten Begräbnis an, aber auch an der generellen Struktur der Verspätung, die die Dramaturgie des Films bestimmt und darin an das Melodrama anlehnt. Immer ist schon alles passiert, wenn der amerikanische Autor populärer phantastischer Geschichten ankommt, ist der Freund schon tot, die Polizei schon da, der Zeuge schon ermordet, die Frau schon vergeben. Erst nachträglich wird eine Leiche für das dazugehörige Grab geschaffen und nachträglich verstehen die praktischen Herren, daß Lime nicht nur eine Geliebte hatte, sondern von dieser auch geliebt wurde. Eine besondere Rolle spielt in The Third Man die Musik. Zentrales Motiv ist eine Zither-Melodie, die ebenso stupid wie bösartig animiert wirkt. In ihrer ohrwurmhaften Monotonie kennt sie vor allem das An- und Abschwellen. Sie verfolgt die Handlung und deren Personal auf eigenständige und perfide Art. Im Gegensatz zu den visuellen Verstellungen besitzt sie die irreale Rachsucht einer Stimme aus dem Nirgendwo, die immer schon da ist. Man könnte sagen, daß diese Zither-Musik einen grotesk verdrehten Plan ausführt: statt aus der Unterwelt orphisch zu befreien, fuhrt sie direkt in sie hinein. Wie der KAFKAsche Odradek - jene merkwürdige Zwirnrolle, die ein eigenes Leben fuhrt, den Hausvater zur Verzweiflung treibt - und, Sorge aller Sorgen, alle überleben wird, wirkt diese Zither-Musik, die eigentlich Odradek heißen müßte: „Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskin-
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der mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche." 4
Es geht die Legende, daß Graham GREENES Drehbuch auf einer Vorarbeit basiert, die ein Wiener Autor geschrieben hat; und von dem Komponisten K A R A S geht die Legende, daß er mit dieser einen Musik sein Werk abgeschlossen habe und mit dieser einen Muik die Unsterblichkeit gewonnen habe. Was diese Legenden und Geschichten beleen, ist, daß die filmische Konstruktion Vienna 1945 nicht einfach eine Projektion von Außen war, sondern auf ein Selbstverständnis traf, das in Wien selbst vorzufinden war. Pierre SORLIN notiert im Kontext der 'verhangenen Bilder der Städte' des europäischen Kinos: „Städte wurden zu menschlichen Landschaften, die ebenso die Schicksale einzelner Charaktere einschlossen wie auch mitunter direkt beeinflussen konnten. In Carol Reed's Odd Man Out (1947) und The Third Man (1949) vereinen Belfast und Wien Realität und Mysterium, Tod und Wunder; sie zeichneten verantwortlich für die Leben ihrer Einwohner, während sie zugleich den Zuschauern etwas boten, was nicht einfach zum Ausdruck zu bringen war - die Stärke, die Schönheit und auch das Elend der von Menschenhand geschaffenen Umstände und Umgebungen." 5
Die Städte in Trümmern, die in den vierziger Jahren noch als Schauplätze und Drehorte verfügbar waren, verschwinden in den fünfzigern in Studiokulissen, die Trümmerhaufen und hohle Fensterfronten von Fassaden-Spezialisten wieder aufbauen ließen. Man könnte vermutlich sagen, daß die zertrümmerten Städte als eigenständige Faktoren wirkten,- gerade in ihrem Sturz stieben noch einmal die Träume hoch, die sich mit ihnen verbanden. In späteren Studiofilmen, wie Never Say Goodbye (Jerry HOPPER, 1956), einem Melodrama mit Rock HUDSON, das ebenfalls in Vienna 1945 beginnt, werden die Pappkulissen als Ausgangspunkt für eine Kalte Kriegsstory errichtet, die rasch nach Chicago wechselt, in die freie Welt. Wien wird dabei zum Verwechseln ähnlich mit dem Berlin aus anderen Filmen, außer den naturgemäß größeren Torten und dem freundlicheren Tonfall. Wien ist darin ganz durch die Dramaturgie des Kalten Krieges, die Aufteilung in Ost und Westzonen determiniert - und nicht zufällig führt das zu einer revisionistischen Sichtweise, in der die NS-Geschichte Wiens verwischt wird. Die Wiener sind die unschuldigen Opfer der Geschichte und wenn die von den Russen gefangengenommene und verschleppte junge Frau wieder in den Westen kommt, in Chicago in einer Bar genauso am Klavier sitzt wie einst in Wien, dann wird sie für das fällige Melodrama mit Kategorien beschrieben, die rund zwanzig Jahre später für die Opfer des Nationalsozialismus zu passen schienen, als lebende Tote, ohne Lebenswillen und -mut. Wien ist Kultur, dahinter die Barbarei, die Barbarei vor 1945 wird mit keinem Wort erwähnt. Dagegen setzt The Third Man direkter an der Geschichte an, auch in diesem Film wird von den zurückliegenden Vernichtungen nicht gesprochen, sind die unschuldigen Wiener Kinder die Opfer - aber Reed versteht es, die Grausamkeiten einer Logik, die ganz auf die Legitimität von Selbsterhaltung und Eigeninteresse als letztem Ziel der 4
Franz Kafka: Die Sorge des Hausvaters, in ders.: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt (M.) 1970, 140. Pierre Sorlin: European Cinemas. European Societies 1939-1990, London 1991, 134f. Übersetzung von mir. Im Original: „Cities became human landscapes likely to enclose and sometimes to influence the fate of individual characters. In Carol Reed's Odd Man Out (1947) and The Third Man (1949) Belfast and Vienna combined reality and mystery, death and wonder; they accounted for the lives of their inhabitants, while offering the viewers something which could not easily expressed - the strength, beauty and misery of a man-made environment." 5
Das Riesenrad der Geschichte
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eigenen Handlungsmaxime setzt, als eine Disposition autoritärer Herrschaftsanmaßung zu zeigen, und diese ebenso attraktiv wie abgründig als Dispositiv der Skala menschlicher Möglichkeiten abstrakter Tötung, 'jene Punkte da unten', wachzuhalten. Ein Reflex von Zerstörung auf Verstörung. Jahre später wird ein anderer Film mit den morbiden Ikonographien der Kulturstadt Wien, dem Ort der gehobenen Musik, der barocken Pracht, spielen. Liliana CAVANIS II Portiere di Notte (1973) zeigt einerseits Wien als nazistische Fluchtburg, andererseits kehrt er die Strategie aus The Third Man genau um. Gegen die Grausamkeit abstrakten Tötens, bloßer Nummern beschwört er die feinsinnige Hörigkeit im gemeinsamen symbiotischen Genuß eines sadomasochistischen Paares - einer jüdischen Überlebenden und ihres KZ-Aufsehers -, das sich in Wien trifft und einander verfallt. Abgesehen von der Absurdität des Szenarios, das sich der Vernichtungswelt des KZ's lediglich bedient, um eine sexuelle Romanze zu erzählen, bleibt der Film nicht ohne Eindruck. Vor das Wien einer konservativen Hochkultur von Luxushotels und klassischer Musik setzt CAVANI einen mehrfach geschichteten Untergrund politischer und sexueller Dekadenz. Der Preis der Kultur ist die Verdrängung des Todes und der Kloake, in der The Third Man endet. So kehren sich die Perspektiven noch einmal um - gegenüber der SM-Zuckerbäckererotik von II Portiere di Notte nimmt sich die harte und 'schräge' Perspektive des Third Man ungleich dichter jener Zusammenhänge an, die zwischen den Kälteströmen von Tötenwollen und Todeswunsch bestehen mögen.
Klaus Bergmann Die neue Geschichtsdidaktik Ein langer Blick zurück und ein kurzer Blick nach vorn Es gehört seit Jahren zu den Ritualen geschichtsdidaktischer Selbstreflexion, Klagelieder über den Zustand der Disziplin anzustimmen und fast wehmütig an die Kontroversen zu erinnern, die die Phase der Ausformung einer gesellschaftskritischen, geschichtstheoretisch fundierten und pädagogisch verantwortbaren Geschichtsdidaktik bestimmten, die sich heute als umfassende Theorie historischen Lernens versteht. Es gebe - so heißt es - keine nennenswerte Diskussion, kaum einmal eine Kontroverse, wenig Kritik und viel Flucht in andere Arbeitsbereiche. „Es herrscht so etwas wie Friedhofsruhe", hat etwa Jörn RÜSEN 1991 behauptet 1 , und Joachim ROHLFES spricht 1997 von einer anhaltenden „Flaute der geschichtsdidaktischen Theorie- und Prinzipiendiskussion" . Zugleich damit wird eine Krise der Geschichtsdidaktik unterstellt, deren Ursachen wesentlich in der Geschichtsdidaktik selber zu suchen seien: „Die Krise der Geschichtsdidaktik ist teilweise hausgemacht; es handelt sich auch um den Zusammenbruch überzogener und uneingelöster Selbstansprüche" 3 - ein Vorwurf, den aus anderer Sicht und in anderer Absicht bereits Thomas NIPPERDEY erhoben hatte, als er 1974 der Didaktik „den uferlosen Anspruch einer General- und Kommissarwissenschaft über alle Wissenschaften" 4 vorwarf. 1. Ein langer Blick zurück 1.1. Die Ausgangslage Die Geschichtsdidaktik hat sich in den letzten fünfundzwanzig bis dreißig Jahren in der kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis des Geschichtsunterrichts und mit ideologisch hoch aufgeladenen und wirkungsvollen Aussagen über den Geschichtsunterricht und über die rechte Vermittlung von geschichtlichen Kenntnissen an Schüler (Schülerinnen wurden nicht gesondert mitbedacht) herausgebildet. Sie hat sich in diesem Vierteljahrhundert von einer Theorie des historischen Lernens in der Schule zu einer umfassenden und anspruchsvollen Theorie historischen Lernens überhaupt entfaltet zur neuen Geschichtsdidaktik. Was und wie war die alte Geschichtsdidaktik? Noch bis weit in die sechziger Jahre hinein dominierten bildungsidealistische und traditionalistische Aussagen über Aufgaben und Ziele des Geschichtsunterrichts, die in einer heute seltsam unbußfertig anmutenden Sprache eine merkwürdige Kontinuität ausdrückten. Als sei nichts gewesen, als sei keine kritische Selbstreflexion erforderlich und keine neue Sprache angezeigt, wurde da von „Verantwortung vor dem Staat" oder dem „Volksganzen", von der Anteilnahme 1 Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktik heute - was ist und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)?, in: Geschichte lernen, Heft 21 (1991), 14. 2 Joachim Rohlfes: Literaturbericht Geschichtsdidaktik - Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 41. 3 Bodo von Borries: Krise und Perspektive der Geschichtsdidaktik - eine persönliche Bemerkung, in: Geschichte lernen, Heft 15 (1990), 3. 4 Thomas Nipperdey, in: Die Welt v. 30.11.1974, zit. nach Wolfgang Hilligen: Zur Didaktik des politischen Unterrichts I, Opladen 1975, 23.
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des Schülers „am Schicksal seines Volkes"5 gesprochen. Richtlinien und Bildungspläne der Länder enthielten Forderungen wie die folgenden: „In der Begegnung mit der Geschichte sollen die Kinder zur Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Duldsamkeit und zur Ehrfurcht erzogen werden. Das Bewußtsein der Schicksalsverbundenheit und Schuldverhaftung der Menschen wird dabei geweckt, die Liebe und Verantwortung gegenüber Volk und Heimat vertieft, die Achtung vor der Leistung anderer Völker verstärkt und ein einfaches Verständnis für die politischen Gegenwartsaufgaben angebahnt" .
Noch 1967 schrieb ein seinerzeit bekannter Geschichtsdidaktiker, im Geschichtsunterricht müsse der junge Mensch „sich in seinem völkischen Zusammenhang und als Glied eines Staatswesens sehen lernen" und „zu der Einsicht geführt werden, daß er mit diesen Gemeinschaften schicksalhaft verbunden ist" . Mit solchen Vorstellungen war kein demokratischer Geschichtsunterricht als wissenschaftsorientierter und damit zugleich diskursiv angelegter Geschichtsunterricht zu machen, auch wenn den (Schülerinnen und) Schülern die „Liebe zur demokratischen Staatsform"8 abverlangt wurde. (Wie anders übrigens Gustav HEINEMANN, der nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten auf die Frage, ob er den Staat liebe, lakonisch antwortete: „Ich liebe meine Frau".) Friedrich J. LUCAS, neben Richard FREYH in Frankfurt erster universitärer Geschichtsdidaktiker auf dem Lehrstuhl in Gießen, persiflierte in einem Text, an dem seine Studentinnen und Studenten kritisches Denken lernen sollten, Sprache und Argumentationsweise der frühen Geschichtsdidaktik: „Geschichtliche Schau entdeckt in der Mannigfaltigkeit des Geschehens in der Welt eine unerschöpfliche Vielfalt von Schickungen. Diese Unausschöpfbarkeit der Geschichte ist letztlich Gnade. Sie fuhrt uns die Schicksalhaftigkeit unseres Lebens in der Gemeinschaft vor Augen. In den mannigfaltigsten Vorgängen erkennt der Schüler an den unterschiedlichsten Persönlichkeiten, was der Mensch ist. Lebendig gezeichnete individuelle Gestalten treten ihm in packender Erzählung entgegen und zeigen ihm exemplarisch, wozu Menschen fähig sind. Elementare Urerlebnisse des Menschentums begegnen ihm in den verschiedensten Zeiten. Sie sprechen seine eigene humanitas an und prägen sein Bild vom Menschen. In Freud und Leid, in allem, was die Geschichte uns auferlegt, erahnen und erspüren wir die Verflechtung und Verpflichtung unseres Lebens in Gemeinschaft mit allen anderen Gliedern unseres Volkes. Der berechtigte Stolz auf das Edle und Große in unserer Tradition wird geweckt, und so m a g der Geschichtsunterricht dazu beitragen, uns aus der unseligen Zerspaltenheit, in die unser Volk durch die tragischen Brüche seiner Geschichte und die über uns hereingebrochenen Katastrophen gestürzt wurde, wieder zu einem einheitlichen Geschichtsbild zu führen [...]."
In der Tradition einer vom Staat her gedachten und gleichwohl auf Mündigkeit bedachten Pädagogik war die Geschichtsdidaktik einem Belehrungsunterricht verpflichtet, der auf das Gedeihen des Staates als Voraussetzung für das Gedeihen des Einzelnen abzielte. Sie saß dabei dem Grundübel eines jeden Belehrungsunterrichts auf - der Vorstellung, die Welt und die Geschichte zweifelsfrei und widerspruchsfrei erklären und vermitteln, ja die eine Sicht als die eine Wahrheit gleichsam verkündigen und als verpflichtendes Wissen und Lernpensum aufgeben zu können. Die Vertreter der in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren formulierten „bildungstheoretischen Didaktik" versprachen 5
Hans Döhn: Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen, Hannover 1967, 51. Bildungsplan Baden-Württemberg v. 10.1.1958 - stellvertretend für viele Richtlinien und Bildungspläne der Zeit. 7 Döhn 1967, 53. Die Formulierung stammt aus einem 1972 gültigen Bildungsplan, zit. nach Lucas 1985 (wie Anm.l 1), 39. 9 Ders.: Über den Sinn des Geschichtsunterrichts - Oder: Unsinn über den Geschichtsunterricht?, in: betrifft: erziehung 3 (1970), H.6, 12. 6
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zwar nach 1945 „neue Wege im Geschichtsunterricht" (Erich WENIGER10), blieben aber der im Dritten Reich desavouierten Grundannahme verpflichtet, der Staat als die über allen gesellschaftlichen Parteiungen stehende und selber an der Mündigkeit seiner Bürger interessierte Instanz sei für die Regelung der Aufgaben und Ziele des Geschichtsunterrichts zuständig. Nur der als neutral gedachte Staat garantiere die Distanzierung der übrigen „geistigen Mächte". Daß der Staat auch als Organ der Herrschenden - der politisch, ökonomisch, sprachlich und kulturell „tonangebenden" Kreise - gesehen werden konnte, der die herrschenden Gedanken als die Gedanken der Herrschenden durchzusetzen bestrebt war, wurde zunächst kaum bedacht. 1.2. Neue Orientierungen für historisches Lernen in der Schule Das Vertrauen in „die mediatisierende Rolle des Staates gegenüber den Forderungen der gesellschaftlichen Kräfte" 11 war letztlich der zentrale Bezugspunkt dieser Geschichtsdidaktik und er blieb es bis in die 68er-Zeit. Zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des historischen deutschen Faschismus aber wurde allenthalben in Frage gestellt, was bis dahin sich wirkungsvoller Übereinkunft im Denken der meinungsführenden Schichten des Weststaates - in der Absetzung von der „Sowjetzone" oder „SBZ" - verdankte. Auch in den drei Bereichen, die für die Entwicklung der Geschichtsdidaktik bestimmend waren - in den Bereichen der empirischen Geschichtsforschung, der Geschichtstheorie oder „Historik" und der Pädagogik - , begann eine Phase des Umbruchs12. In der Geschichtsforschung ging die Zeit der nationalkonservativen Zunftvertreter zu Ende; die FiscHER-Kontroverse zeigte das Ende eines gleichsam verpflichtenden nationalen „Geschichtsbildes" an und ließ zugleich den Gedanken zu, daß Kontroversen zur Normalität der historischen Wissenschaft gehören; die einsetzende theoretische Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft ließ die Forderung nach einer „erneuerten Historik"13 aufkommen; die jüngeren Historiker (von Historikerinnen konnte noch kaum gesprochen werden) entdeckten in der Auseinandersetzung mit den alten Zunftvertretern und ihrem national getönten Historismus die Sozialgeschichte, die Strukturgeschichte und stießen zu einer theoretisch fundierten „Historischen Sozialwissenschaft" und einer „Gesellschaftsgeschichte" vor, die ihre kategorialen Zugriffe eher an Karl 14 MARX, Max WEBER und Jürgen HABERMAS als an RANKE entwickelte . Im Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit eines wissenschaftlich begründbaren und ideologisch nicht mehr so anfälligen Geschichtsunterrichts ergab sich die Notwendigkeit, die Disziplin „Geschichtsdidaktik" vor allem eng an die Erkenntnisse der Historik anzubinden, um die Fragestellungen, Kategorien und Methoden und Ergebnisse der Geschichtsforschung didaktisch, d.h. auf ihren „Bildungswert" hin zu durchmustern und Geschichte mehr als einen für die politische und soziale Lebenspraxis
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Erich Weniger: Neue Wege im Geschichtsunterricht, Frankfurt (M.) 1949. " So 1974 Friedrich J. Lucas: Geschichte als engagierte Wissenschaft. Zur Theorie einer Geschichtsdidaktik, Stuttgart 1985,201. 12 Vgl. etwa die Darstellung dieser Entwicklung bei Susanne Thum: „... und was hat das mit mir zu tun?" Geschichtsdidaktische Positionen, Pfaffenweiler 1993,27ff. 13 Jörn Rtlsen: Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1976. 14 Vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt (M.) 1974 und die Einleitung von WEHLER im ersten Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte, München 1987.
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ertragreichen Modus des Denkens und des Nachdenkens über Gegenwart und Zukunft denn als ein Ensemble von Wissen und Wißbarkeiten zu begreifen. Beim Nachdenken über eine Geschichtsdidaktik, die vor allem das Erlernen des historischen Denkens und der „historischen Methode" im Geschichtsunterricht für wichtig erachtete, sich endlich vom Erbe einer hoheitlichen und herrschaftlichen Sicht der Geschichte löste und nach Geschichte als einem Arbeits- und Leidenszusammenhang von Frauen, Männern und Kindern fragte, ergaben sich umstrittene normative Überlegungen einer an politischer Bildung interessierten Geschichtsdidaktik: „Mündigkeit", „Emanzipation", „Selbst- und Mitbestimmung" oder „Ich-Identität" waren noch nie zuvor in einem solchen Ausmaß als leitende Prinzipien des Lernens von Geschichte reflektiert worden. Umstritten waren diese Überlegungen dort, wo man der Illusion nachhing, es gebe ein allgemein zustimmungsfähiges „Geschichtsbild" - „das Geschichtsbild der Deutschen", ein Konstrukt, in dem die „Volksgemeinschaft" überlebt hatte -, das in der Form eines chronologisch sortierten historischen Wissens an Schülerinnen und Schüler vermittelt werden könne und sogar müsse. Solche normativen Überlegungen ergaben sich auch aus der pädagogischen Diskussion, die an unüberholte Maximen der Aufklärung anknüpfte und an den Vorrang der Rechte und Ansprüche des Subjekts gegenüber den Ansprüchen und Bedürfhissen des Staates und den Zumutungen der gesellschaftlich herrschenden Machtgruppen erinnerte. Als Gewinn aus der Auseinandersetzung mit der Pädagogik - vor allem ihrer damals so genannten „kritisch-kommunikativen" Richtung15 - war der Gedanke wichtig, daß die Pädagogik der fürsorgliche Mandatar noch unerwachsener Menschen sei, die zu eigenem Denken angeleitet werden sollten, um aus ihrer noch unverschuldeten Unmündigkeit herausfinden zu können. Sie wurde in der vielfach angefochtenen regulativen Idee des „Schülerinteresses" und in der Distanzierung von allen Versuchen deutlich, in denen die Schülerinnen und Schüler „für die Zwecke der Zeit abgerichtet werden" sollten17. Die Schülerinnen und Schüler lernen zu lassen, im Geschichtsunterricht wie in anderen Fächern selber zu denken und sich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, wurde erstmalig in der Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts zur unbedingten Forderung einer schulbezogenen Geschichtsdidaktik - und schon bald kam der ausdrückliche Hinweis auf das Bedürfnis und den Anspruch der Schülerinnen hinzu, eine eigene historische Identität zu gewinnen. 1976 erschien das erste Heft der Zeitschrift Geschichtsdidaktik. Probleme - Projekte Perspektiven, die als Konkurrenzorgan zur alten, eher traditionalistischen und betulichen Zeitschrift des Geschichtslehrerverbandes, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, gedacht war und wirkte. Das erste Heft war nicht zugleich die Geburtsurkunde der neuen Geschichtsdidaktik; zuvor waren die kritischen und vorwärtsweisenden Aufsätze oder Bücher von Friedrich J. LUCAS, Rolf SCHÖRKEN, Annette K U H N , BERGMANN, B E R G M A N N / P ANDEL und anderen erschienen. Aber es zeigte doch die Bildung einer Gruppe an, die eine neue Geschichtsdidaktik wollte. Überdies waren 1972 die hessischen Rahmenrichtlinien für „Gesellschaftslehre" erschienen, die eine in der deutschen Schulgeschichte einmalige Kontroverse über den Geschichtsunterricht auslösten, in de15 Vgl. Karl-Hermann Schäfer und Klaus Schaller: Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik, Heidelberg 1971. 16 Vgl. dazu die Ausführungen bei Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte, München 1974. 17 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1873), Stuttgart 1967, 54.
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ren Mittelpunkt die geschichtstheoretisch unumstrittene, öffentlich weitgehend unverstandene Kategorie der Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit von Geschichte stand 18 . Die gleichzeitig auftauchende Sozialisationsforschung ließ sich - unter anderem auch aus der Sorge um das Subjekt deuten, über dessen Möglichkeit zur Selbstbestimmung ohne die kritische Reflexion über die „heimlichen Erzieher" - einflußreiche und wirkungsmächtige gesellschaftliche Instanzen, Medien, tradierte klassen- und schichtspezifische Mentalitäten in den Elternhäusern u.a. - Aussagen kaum möglich schienen. In der Geschichtsdidaktik kam dabei auch die Frage nach der Geschichtssozialisation von Mädchen und dem Anspruch der Mädchen auf eine eigene historische Identität auf. Vor allem durch Annette K U H N wurden „der heimliche Lehrplan im alltäglichen Geschichtsunterricht und seine unheimlichen Folgen" 19 für die Schülerinnen folgenreich thematisiert. Es ergab sich eine beachtliche theoretische Grundla^endiskussion, in deren Verlauf sich immer stärker ein Paradigmawechsel abzeichnete . Bei allen Kontroversen der „untereinander heillos zerstrittenen didaktologischen Heerscharen" (WEHLER21) entstanden unverlierbare Erkenntnisse - so etwa die aus der didaktischen Reflexion der Historik gewonnenen Erkenntnisse, daß Geschichte als gegenwärtiges und auf Zukunft gerichtetes, immer auch kontroverses Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden anzusehen sei oder daß es keinen Belehrungsunterricht mehr geben konnte, der in naiver Weise bestimmte Sinnbildungen der Geschichtsforschung als verpflichtendes Lernpensum aufgeben konnte, daß vielmehr die Multiperspektivität der Zeugnisse und die Kontroversität der Sinnbildungen der Geschichtsforschung in den geschichtsdidaktischen Reflexionen berücksichtigt und in der Praxis des Geschichtsunterrichts präsent sein mußten, um den Schülerinnen und Schülern eine nach Maßgabe des Möglichen eigenständige Auseinandersetzung mit vergangenem menschlichem Handeln und Leiden zu ermöglichen. Es entstand eine Geschichtsdidaktik, die sich wesentlich den Rechten und Ansprüchen der Schülerinnen und Schüler verpflichtet wußte und unziemliche Forderungen des Staates und der in ihm sprach- und wirkungsmächtigen Gruppen abwehrte. Es war der Anfang einer neuen Geschichtsdidaktik.
18 Vgl. ausfuhrlich zu dieser Kontroverse Klaus Bergmann/Hans-Jürgen Pandel: Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein, Frankfurt (M.) 1975 (mit dokumentarischem Anhang). Vgl. Annette Kuhn: Der heimliche Lehrplan im alltäglichen Geschichtsunterricht und seine unheimlichen Folgen, in: Die Schule ist weiblich. Dokumentation, hg. von der SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein, Kiel 1990. 20 Vgl. dazu ausführlicher Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft, in: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen, Paderborn 1980, 17-47, jetzt in: Klaus Bergmann: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, Schwalbach (Ts.) 1998, 33-52. 21 Hans-Ulrich Wehler: Antiquierte Aversionen gegen Geschichte? (1982), in: ders.: Preußen ist wieder chic. Politik und Polemik in 20 Essays, Frankfurt (M.) 1983, 191. Ich habe mich immer über diese deutliche Aversion gegen Geschichtsdidaktik geärgert, zumal WEHLER andernorts ausdrücklich rühmte, daß „die Historikerschaft heterogener geworden" sei und dies mit dem Satz begründete: „Konflikte sind nicht lästige, zu vermeidende Störungen der Gelehrtenharmonie, sie treiben [...] den wissenschaftlichen Fortschritt voran, verhelfen zu einem freieren kritischen Bewußtsein" (Hans-Ulrich Wehler: Geschichtswissenschaft heute, in: Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit", hg. von Jürgen Habermas, Bd.2: Politik und Kultur, Frankfurt (M.) 1979, 752f).
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1.3. Die Hinwendung zu Geschichtskultur und Geschichtsbewußtsein Ein entscheidender weiterer Schub ergab sich aus der von der Sozialisationsforschung angeregten Erkenntnis, daß der Geschichtsunterricht in den Schulen nicht der einzige, eher der weniger einflußreiche Ort ist, an dem historisches Lernen stattfindet: Die Geschichtsdidaktik entdeckte die Frage nach der Entstehung und Beschaffenheit und nach der Beeinflussung von Geschichtsbewußtsein durch alle, wo auch immer in der Gesellschaft stattfindenden, Prozesse historischen Lernens als die Frage, die sie als Wissenschaft und den Gegenstand ihrer Überlegungen und Forschungen begründete. Geschichtsbewußtsein als (fast) immer schon vorhandene Voraussetzung und als Ergebnis historischen Lernens - schon bei D R O Y S E N hieß es: „Jeder einzelne ist ein historisches Ergebnis"22 - war die eine Seite einer Medaille, deren andere Seite die Frage nach der Präsenz von Geschichte in der außerschulischen Lebenswelt war. „Geschichte in der Öffentlichkeit" oder „Geschichte in der außerschulischen Öffentlichkeit" oder „Geschichte im Alltag" hießen die ersten Benennungen fur die Forschungsgebiete, die sich aus der weit gewordenen Fragestellung der Geschichtsdidaktik logisch ergaben, bevor die Benennung als „Geschichtskultur"2 alle Formen der öffentlichen Präsenz und Präsentation von Geschichte unter einem Begriff bündelte24. Insofern die „Geschichtskultur" oder „Erinnerungskultur" - den Aufnehmenden bewußt oder unbewußt - als „heimliche Erzieherin" historisches Lernen beeinflußt und insofern historisches Lernen bewußt und unbewußt - ob vor, während oder nach der Schulzeit - an der Geschichtskultur stattfindet, ist sie zu einem wesentlichen Denk- und Forschungsbereich der zunächst noch stark schulbezogenen Geschichtsdidaktik geworden. Man kann sogar sagen: Die Geschichtskultur ist wesentlich eine Entdeckung der neuen Geschichtsdidaktik, in der seit den siebziger Jahren25 danach gefragt wurde, wie sich in der Begegnung mit Geschichtlichem und Geschichte außerhalb der Schule individuelles oder gesellschaftliches Geschichtsbewußtsein ausdrückt und bildet26. Die neue Geschichtsdidaktik hat sich Schritt fur Schritt, genötigt durch ihre erkenntnisleitenden Interessen und Fragestellungen, von einer staatsorientierten Didaktik des Geschichtsunterrichts zu einer wissenschaftsorientierten Theorie des historischen Lernens in der Schule und danach tendenziell zu einer Theorie historischen Lernens überhaupt entfaltet, die beansprucht, wesentliche Aussagen zur Geschichtskultur und Erinnerungskultur machen zu können. Grundsätzlich kann gesagt werden: Die Geschichtsdidaktik war - und ist - auf dem Weg zu einer Sozialwissenschaft, die darauf angelegt ist,
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Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1857), hg. v. Rudolf Hübner, München 6 1971, 15. 3 Vgl. Klaus Fröhlich u.a. (Hg.): Geschichtskultur, Pfaffenweiler 1992, und darin vor allem den programmatischen Aufsatz von Jörn RÜSEN. 24 Vgl. die Ausführungen von Heinrich Theodor GRÜTTER im einleitenden Aufsatz zum letzten Kapitel des Handbuchs der Geschichtsdidaktik. Seelze-Velber 5 1997. 25 Vgl. den Tagungsband von Wilhelm van Kampen und Hans Georg Kirchhoff (Hg.): Geschichte in der Öffentlichkeit, Stuttgart 1979; vgl. z.B. auch Bergmann/Pandel 1975 (wie Anm.18) oder Klaus Bergmann: Warum sollen Schüler Geschichte lernen? (1976), jetzt in: ders. 1998 (wie Anm.20), 80: „Denn wenn wir fragen, warum Schüler Geschichte lernen sollen, müssen wir zunächst feststellen und zur Kenntnis nehmen, daß Schüler Geschichte gelernt und rezipiert haben, noch längst bevor sie Geschichte lernen sollen und müssen, und daß sie außerschulisch und nachschulisch Geschichte lernen und rezipieren". 26 Vgl. etwa die frühen geschichtsdidaktischen Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein - so der Untertitel bei Bergmann/Pandel 1975 (wie Anm.18).
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historisches Lernen in der Gesellschaft theoretisch zu reflektieren, empirisch zu erforschen und praktisch anzuleiten. 1.4. Die begleitende Kritik Diese Entwicklung war immer schon von Kritik begleitet, am deutlichsten in den kulturkämpferischen Auseinandersetzungen um die hessischen Rahmenrichtlinien. Die einen kritisierten frühzeitig, die geschichtsdidaktische Diskussion sei praxisfern und in ihren Inhalten den Lehrerinnen und Lehrern nicht vermittelbar; wenn jetzt behauptet wird, „hochgestochener Begriffsgebrauch und fremdwortstarrender Sprachstil"27 habe die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen teils abgeschreckt, teils überfordert, so ist das ein alter Topos und nur eine halbe Wahrheit. Gewiß gab es sprachliche Vergehen wie etwa die Redewendung von den „heterogen konditionierten Sozialisationssubjekten (Schüler)"28, und keiner kann sich davon freisprechen, nicht gelegentlich einem modischen Jargon verfallen gewesen zu sein - aber waren sie typisch und die Regel? Und hat es gehindert, daß die neue Geschichtsdidaktik in die zweite Phase der Lehrerausbildung eindrang und damit in den Schulen einen neuen Geschichtsunterricht ermöglichte? „Feiertagsdidaktiker" war der beliebteste Vorwurf gegenüber denjenigen, die sich um die angeblich schmuddelige Alltagspraxis der Geschichtslehrer „vor Ort" angeblich nicht scherten und dafür lieber in theoretische Sphären entschwebten - als sei nicht theoretisches Vermögen die Grundlage einer vernünftigen und kompetenten Praxis. Andere kritisierten, es koste nichts, nicht einmal eine gedankliche Anstrengung, in wohlfeilen Worten hehre Ziele fur den Geschichtsunterricht wie „Emanzipation", „Mündigkeit", „Humanität", „Ich-Identität" oder „historische Identität" auszusprechen2 - als sei mit diesen Orientierungen am lernenden Subjekt nicht der Paradigmawechsel der Geschichtsdidaktik eingeleitet worden. Und immer wieder kamen Befürchtungen und Vorwürfe auf, die neue Geschichtsdidaktik begreife historisches Lernen in der Schule als linken Gesinnungsunterricht30 - als wollte die neue Geschichtsdidaktik die historisch fast durchgängige „rechte" Überwältigung der Schülerinnen und Schüler durch eine „linke" ablösen, als habe die neue Geschichtsdidaktik nie auch nur einen Satz über das „Überwältigungsverbot" gesagt und als habe die neue Geschichtsdidaktik nicht die strikte Forderung nach Multiperspektivität und Kontroversität beim schulischen historischen Lernen als Voraussetzung für eigenes Nachdenken über die uns betreffende Vergangenheit gefordert31. Wieder andere kritisierten, die Zuwendung zu dem, was zuerst „Geschichte in der Öffentlichkeit" genannt wurde, heute als „Geschichtskultur" oder „Erinnerungskultur" bezeichnet und kategorial erfaßt wird, entferne die Geschichtsdidaktik von ihrer eigentlichen Aufgabe, Geschichte fur Kinder und Jugendliche lehrbar und lernbar zu machen - und sie übersahen dabei, daß die Zuwendung zur Geschichtskultur als einer ungemein einflußreichen „heimlichen Erzieherin" sich geradezu aufdrängte und vonnöten ist, wenn man historisches Lernen in der Schule auch in der Absicht anleiten will, daß die Schülerinnen und Schüler den öffentlich wirkungsvoll vorgetragenen Sinn- und Unsinnbildungen nicht unberaten und unbeholfen gegenüberstehen. 27
Bodo von Borries, in: Geschichte lernen (1990), 3. Das Zitat ist nachweisbar. 29 So u.a. Joachim Rohlfes: Objektivität und Parteilichkeit im Geschichtsunterricht, in: SUssmuth 1980 (wie Anm.20), 376. 30 Rohlfes, ebd., 374-76. Zuerst 1972 und dann in zahlreichen folgenden Beiträgen Klaus Bergmann: Personalisierung im Geschichtsunterricht - Erziehung zu Demokratie?, Stuttgart 1972, 64ff. 28
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Vor einigen Jahren hat Bodo von BORRIES, durchaus auch offen für die „Gegenrechnung der unverlierbaren Erkenntnisse" 32 , den Zustand der Geschichtsdidaktik in harscher Form kritisiert: „Den Sprung von einer normativen und spekulativen Redeweise zu einer empirischen und pragmatischen Wissenschaft hat die Geschichtsdidaktik mehrfach versprochen, [...] aber nie vollzogen" 33 . Erster Einspruch: Normative und spekulative Reflexion ist keine „Redeweise", sondern notwendiger Bestandteil einer jeden Wissenschaft und ist eine andere, keine minderwertige Form der Wissenschaft als die „empirische und pragmatische Wissenschaft". Theorie und Spekulation über Normatives schützen vor blinder oder beliebiger Empirie und Praxis. Wenn die Geschichtsdidaktik sich heute als eine anspruchsvolle Theorie historischen Lernens begreift und mit diesem Anspruch auch das historische Lernen in der Schule, dem Jahr für Jahr Millionen von Kindern und Jugendlichen ausgesetzt sind, wesentlich beeinflußt, so verdankt sich dieses Ergebnis einer sehr kontroversen Grundlagenreflexion in den vergangenen Jahrzehnten, die überaus ertragreich war. Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Bruch mit einer Art, über historisches Lernen nachzudenken und historisches Lernen zu regeln, die theoretisch immer obsolet und einer Gesellschaft unangemessen war, die sich als vom Anspruch her demokratische Gesellschaft dem Diskurs und nicht der hoheitlich verordneten Belehrung verpflichtet weiß. Die Rede von einem „demokratischen Geschichtsunterricht" war ja mehr als „normative und spekulative Redeweise": Sie war das Einklagen einer neuen Form historischen Lernens, das - ausgehend von Erkenntnissen der Historik und unabdingbar gebunden an die von der Historik herausgearbeitete „historische Methode" - jeder Schülerin und jedem Schüler ermöglichen sollte, für das eigene politische, soziale und kulturelle Leben historisch denken zu lernen. Im Bereich der Theorie ist - auf hohem Niveau - sicherlich eine Sättigung erreicht, sind unverlierbare und allgemein zustimmungsfähige Erkenntnisse gewonnen, die nicht hintergehbar sind. Zweiter Einspruch, den angeblich fehlenden Sprung zur Empirie und Pragmatik betreffend: Im Bereich der Empirie sind vor allem durch Bodo von BORRIES selber, auch durch PANDEL und RÜSEN, wesentliche und umfangreiche Forschungen betrieben oder organisiert worden - zum Teil freilich bezogen auf das historische Lernen in der Schule. Im Bereich der Pragmatik - auch hier im wesentlichen beschränkt auf den Bereich des historischen Lernens in der Schule - ist in den unterrichtspraktisch orientierten Zeitschriften, vor allem in Geschichte lernen, mehr für eine theoretisch gut unterfütterte Praxis des historischen Lernens in der Schule geleistet worden, als die Kritiker der kontroversearmen Zeit berücksichtigen - man schaue sich nur die Themenhefte darauf hin an, was sie an neuen Themen und an neuen Vorschlägen zu alten Themen beinhalten, und man wird viele und bemerkenswerte Innovationen entdecken. Die Methodik des historischen Lernens ist reflektierter, vielfältiger und reichhaltiger geworden; die geschichtsdidaktischen Reflexionen über den Einsatz von Medien haben eine Fülle genuin geschichtsdidaktischer Möglichkeiten des Arbeitens und Lernens an den Medien ergeben; die Schulbücher - immer noch das wichtigste Medium des historischen Lernens in der Schule - sind als Arbeitsbücher angelegt, die das eigene Denken und Urteilen ermöglichen. Für das historische Lernen in der Schule hat die neue Geschichtsdidaktik in den Bereichen der Theorie, der Empirie und der Pragmatik Beachtliches geleistet und - etwa in 32 33
Wie Anm.3. Ebd.
Die neue Geschichtsdidaktik
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der didaktischen Reflexion der Notwendigkeit von Frauen- und Geschlechtergeschichte, der Umweltgeschichte und der angeblich so theorielosen Alltagsgeschichte - auch anregend in die übrige Geschichtswissenschaft gewirkt. Respektabel sind all diese Leistungen vor allem, wenn man sich bewußt hält, unter welch widrigen Umständen sie zustandegekommen sind. 2. Geschichtsdidaktik unter widrigen Bedingungen Die widrigen Bedingungen sind zu bekannt, als daß sie in einer umfangreichen Apologie dargestellt werden müßten. Dazu gehörte der Widerstand argwöhnender Geschichtsunterrichtsdidaktiker, die sich sehr schwer taten, der neuen Geschichtsdidaktik und ihrem Selbstverständnis als einer die Geschichtskultur umfassenden Theorie historischen Lernens zu folgen; dazu gehört vor allem der rigide Entzug von Stellen und Finanzmitteln ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die Geschichtsdidaktik ihren Blick auf die für die historische und politische Bildung in der Gesellschaft so eminent wichtige und das Geschichtsbewußtsein aller beeinflussende Geschichts- und Erinnerungskultur zu richten begann. Zu den widrigen Bedingungen gehörte und gehört auch eine hartleibige Geschichtsforschung, die den Anspruch der Geschichtsdidaktik, eine Instanz der Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft und - später - auch der Reflexion der Geschichtskultur, deren Teil sie ist, zu sein, kaum je wahrgenommen und angenommen hat. Der ärgerliche Jörn R Ü S E N spricht von einer „beeindruckenden Mischung von Ignoranz und Arroganz" und von „einer geradezu bornierten Geringschätzung, ja Verachtung, die die Geschichtswissenschaft der Geschichtsdidaktik als eigener Subdisziplin im Schnittfeld zwischen Historie und Pädagogik angedeihen läßt" 34 . Die Geschichtsforschung neigt zur Haltung einer esoterischen Fachgenügsamkeit und kennt - summarisch gesprochen - nur eine Wissenschaft: die empirisch verfahrende Forschung. Die arbeitsteilig vollzogene Selbstreflexion in den beiden Formen der Historik, die über die Grundlagen der empirischen Geschichtsforschung nachdenkt, und der Geschichtsdidaktik, die über historisches Lernen und Geschichtsbewußtsein nachdenkt und dabei Erkenntnisse der Geschichtsforschung und der Historik didaktisch reflektiert, hält sie kaum für wissenschaftlich, sondern eher für „normative und spekulative Redeweise". Ihr Unverständnis zeigt sie in der nach vielen Erfahrungen immer noch verbreiteten Annahme, Geschichtsdidaktik habe zu zeigen, wie man „die" Ergebnisse „der" Geschichtsforschung an Schülerinnen und Schüler vermitteln könne. Als gebe es „die" Ergebnisse „der" Geschichtswissenschaft. Als lehrte nicht die Historik, daß es notwendigerweise in Raum und Zeit unterschiedliche narrative Sinnbildungen über historische Sachverhalte gibt und als gebe es nicht in der Geschichtsforschung jenen von Ute D A N I E L so genannten „gewissermaßen schluckaufartigen Pluralisierungsschub" 35 der letzten Jahre und Jahrzehnte, der zu höchst unterschiedlichen Zugriffen der Geschichtsforschung auf die erkennbare menschliche und immer auch unmenschliche Vergangenheit geführt hat. Und als gebe es nicht die geschichtsdidaktischen Überlegungen über die Selbstbegründung des historischen Lernens, über mögliche und begründbare Ziele historischen Lernens, über die Auswahl des Lernwürdigen aus der Fülle des Lernmöglichen oder über die Probleme der Darstellung 34
Jörn Rüsen: Trauer als historische Kategorie. Überlegungen zur Erinnerung an den Holocaust in der Geschichtskultur der Gegenwart, in: Hanno Loewy/Bemhard Moltmann (Hg.): Erlebnis - Gedächtnis - Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt (M.)/New York 1996, 58. 35 Ute Daniel: Clio unter Kulturschock, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 197.
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Klaus Bergmann
von Geschichte zu Zwecken eigenen historischen Denkens. Und als gebe es nicht - zumindest in Ansätzen - die Beiträge der Geschichtsdidaktik zu einer Reflexion und Erforschung der Geschichtskultur oder Erinnerungskultur. 3. Ein kurzer Blick nach vorn Die im Lauf der Entwicklung entstandene Weite der Fragestellung ist zugleich das Dilemma der neuen Geschichtsdidaktik. Sie hat durch ihre erkenntnisleitenden Interessen und ihre Fragestellung einen Forschungsgegenstand entdeckt und gewonnen, der für die Ausbreitung der „historischen Vernunft" 6 in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Sie hat wichtige, wesentliche Fragen, die sie als eine weiter als bisher gefaßte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft begründen können, ja geradezu darauf drängen, sie in den Fakultäten und Fachbereichen zu stärken - aber sie hat nicht mehr als diese Fragen. Denn wie steht sie da, die Geschichtsdidaktik, die ihren Anteil an der Entdeckung der Geschichtskultur hat, wie steht sie da in einer Zeit, in der sich ihre Frage nach dem historischen Lernen in der Gesellschaft angesichts einer geradezu wuchernden Geschichtskultur als wesentlich und notwendig, ja als dringlich erweist? Elend steht sie da, personell ausgedünnt und ausgezehrt, mittellos, fast nur noch vertreten durch Jubilare und baldige Jubilare, ohne Nachwuchs, der - sei es als Vater- oder Muttermörder oder als die Generation, die die Versprechen der Alten einlösen kann - die Entwicklung vorantreiben könnte. Daß dies notwendig ist, sollte außer Frage stehen: Die Geschichts- und Erinnerungskultur, zu der auch das historische Lernen in der Schule gehört, ist für das historische und politische Denken in der Gesellschaft ein so wichtiges Feld, daß sie nach einer Wissenschaft verlangt, die ihr in den Bereichen der Theorie, der Empirie und der Pragmatik nachgeht. Die Geschichtskultur - „So viel Geschichte wie heute war nie"37 bedarf einer solchen Wissenschaft, um bedacht, erforscht und nach Maßgabe des Möglichen vernünftig geregelt zu werden. Die kategorialen Begriffe „Geschichtskultur" und „Erinnerungskultur" legen ja den Gedanken nahe, es ginge um einen grundsätzlich seriösen, kultivierten, wissenschaftlich verantwortbaren Umgang mit der Vergangenheit und der Geschichte, wo doch offenkundig ist, daß gerade dieser Anspruch in der Marktund Mediengesellschaft mehr hintergangen als eingelöst wird. Die „unverlierbaren Einsichten" der Geschichtsdidaktik sind sowohl bei der Erforschung und der Kritik der Geschichtskultur als auch bei der Teilhabe an der Geschichtskultur - etwa bei Fragen der Auswahl, der Darstellung und Präsentation von Geschichte im außerschulischen öffentlichen Raum, in Museen und Ausstellungen, an Gedenktagen, in den Medien und bei vielen anderen Gelegenheiten - anwendbar. Ja, die Reflexion der Geschichtskultur und Erinnerungskultur, die Einmischung in sie und die Teilhabe an ihr sind nicht ohne die Einsichten der Geschichtsdidaktik über historisches Lernen und sind nicht ohne die ihr eigene normative und spekulative Reflexion denkbar. Aber: Die Geschichtsdidaktik ist bislang - abgesehen vom historischen Lernen in der Schule - nicht mehr als ein Programm, das theoretisch viel für sich hat. Sie ist betrachtbar als der Entwurf einer Disziplin, die ausgerechnet in dem Augenblick an Auszehrung 36
Vgl. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, und ders.: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989. 37 Vgl. Klaus Bergmann: „So viel Geschichte wie heute war nie" - Historische Bildung angesichts der Allgegenwart von Geschichte, in: ders. 1998 (wie Anm.20), 13fF.
Die neue Geschichtsdidaktik
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leidet, wo sie gegenüber der wuchernden Geschichtskultur notwendiger denn je als kritische Disziplin gebraucht würde: Mehr als Programm, mehr als Entwurf einer Disziplin, die sich mit dem weiten Feld historischen Lernens befaßt, ist sie nicht - oder sollte man sagen können: noch nicht? Die neue Geschichtsdidaktik hat zwar das historische Lernen in der Schule theoretisch revolutioniert und praktisch erheblich beeinflußt - das ist ihre bedeutende Leistimg und ein nicht unwichtiger Beitrag zu einer vernünftigen Geschichtskultur. In diesem Bereich ist viel erreicht worden, auch wenn hier weitere Kontroversen erst noch bevorstehen. Es ist etwa absehbar, daß das Entlangtrotten an der „staubigen Straße der Chronologie" (R. KOSELLECK) in nächster Zukunft vermehrt in Frage gestellt werden wird, da es sich schlecht mit dem Befund verträgt, Geschichte sei ein von gegenwärtigen Bedürfnissen und von Zukunftserwartungen ausgehendes Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. In das weitere Feld der übrigen Geschichtskultur ist die neue Geschichtsdidaktik in der Tat nur sporadisch und in Einzelbereichen vorgedrungen. Der verschwindend kleinen Gruppe von Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktikern vorzuwerfen, sie habe zwar die wesentlichen und zukunftsträchtigen Fragestellungen aufgebracht, aber sie nicht mit dem nötigen Eifer verfolgt, wäre wenig hilfreich und zielte an der wesentlichen Aufgabe der nächsten Zeit vorbei: immer und immer wieder die gute Ausstattung einer auf alle Bereiche der Geschichtskultur und des historischen Lernens gerichteten Disziplin zu fordern und für sie alle Möglichkeiten und Freiheiten der Wissenschaft einzuklagen, ihre Theorie, ihre Empirie und ihre Pragmatik zu verfolgen, auf daß die Geschichtskultur zur Geschichtsfai/fwr werden kann.
Bodo von Borries Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins. Am Beispiel einer Studie zum empirischen Kulturvergleich Seit etwa 30 Jahren hat der Begriff „Geschichtsbewußtsein" eine steile und erstaunliche Karriere gemacht, die längst vor den bekannten Vorträgen von JEISMANN, RÜSEN und 1 VIERHAUS auf dem Historikertag 1976 (Kosthorst 1977) begonnen hat . Schon 1972 hat z.B. SCHÖRKEN in einem Aufsatz „Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein" den denkwürdigen Satz geschrieben, es komme darauf an „das Unbemerkte zum Bemerkten zu machen und damit Geschichtsbewußtsein zu Geschichtsbewußtsein werden zu lassen" (Schörken 1972, 97), und so in vieler Hinsicht ein bis heute uneingelöstes Programm bezeichnet. Unbeschadet des fast beängstigenden Sieges dieses Konzepts als Ankerbegriff der wissenschaftlichen Geschichtsdidaktik und als Aufgabe und Gegenstand des schulischen Geschichtslernens erheben sich eine ganze Reihe vielfach diskutierter, aber in wichtigen Punkten ungelöster Theoriefragen, von denen hier nur wenige angerissen werden können: Wenn Geschichte stets nur als Bewußtseinsphänomen in Form der „Auslegung von Auslegungen" (Jeismann 1989, 49) auftritt, wo bleibt dann der Begriff „Realgeschichte" (Unzulässigkeit? aber: „Dokumente", „Fakten")? Wenn die Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom Geschichtsbewußtsein definiert wird, was geschieht dann mit dem Phänomen „Geschichts-Unbewußtheit" (SchulzHageleit 1989)? Wenn geschichtliches Erkennen einer anderen Logik als die Syllogismen folgt (so Rüsen 1986, 22-47), nämlich „narrative Struktur" besitzt, gibt es dann noch einen Unterschied zwischen „Geschichtsbewußtsein" und „narrativer Kompetenz"? Wenn Geschichtsbewußtsein durch die drei Schritte der historischen Wahrnehmung, historischen Deutung und historischen Orientierung erworben wird (so Rüsen 1994 b, 64-73, 156-70), wie ist dann das Verhältnis zum Zentral-Begriff „historische Identität" - mit seiner fast gleich steilen Erfolgskurve - zu bestimmen (Gleichsetzung, Differenzierung, Reflexivität)? Wenn Geschichtsbewußtsein ein hoch-komplexer mentaler Prozeß ist, wie kann dann seine - gattungsgeschichtliche und individual-biografische - „Genese und Entwicklungslogik" gedacht/entschlüsselt werden? Wenn „kommunikatives Gedächtnis" und „kulturelles Gedächtnis" im wesentlichen kollektive Phänomene sind, wie erklären sich dann (von „subkulturellen Besonderheiten" zu schweigen) „individuelle Unterschiede" und „persönlich-biografische Ausgestaltung"?
1 Gleichwohl k o m m t der schmalen Publikation eine Schlüsselstellung bei der Konkretisierung und Verbreitung zu. Bei der Geschichtsdidaktik als „Wissenschaft v o m Geschichtsbewußtsein" sollte man daher auch v o m JEISMANN/RÜSEN-Ansatz, nicht bloß v o m JEISMANN-Ansatz sprechen. Außerdem ist zu bedenken, daß RÜSEN später ( 1 9 8 5 / 8 7 , jetzt 1994b, 7 4 f f ) die Definition weiterentwickelt und das historische Lernen in die Begriffsbestimmung der Geschichtsdidaktik einbezogen hat.
140
Bodo von Borries
Natürlich ist die Literatur zu vielen dieser Felder inzwischen unübersehbar geworden, so daß sich ein Einzelner bei einem kurzen Streifzug eigentlich nur blamieren kann. Das gilt um so mehr, als für die Erforschung mehrerer Zentralprobleme des Geschichtsbewußtseins jeweils andere Nachbarwissenschaften (mit-)zuständig sind, für Entwicklungslogik und Biografieverankerung die Psychologie, für politische Orientierungen die Soziologie/Politologie, für das „kommunikative" und „kulturelle Gedächtnis" neuerdings die Kulturwissenschaften. Ein Versuch zu einem Rundumschlag wäre unter diesen Bedingungen fahrlässig. 1. Lassen sich Zustände und Prozesse des Geschichtsbewußtseins quantitativ-empirisch erfassen? Statt dessen soll versucht werden, einige wenige Hinweise zu einem Theorie- und Methodenproblem zu geben, das sich quer durch fast alle beschriebenen Bereiche zieht: die Verklammerung von theoretischen Zugriffen und quantitativer empirischer Forschung. Prinzipiell ist ja unbestritten, daß nur Theorie, Empirie und Pragmatik zusammen und interdependent (vgl. Rüsen 1994b,77f) das Feld der Geschichtsdidaktik ausmachen2. Theorie ohne empirische Absicherung bleibt abgehoben, Empirie ohne theoretische Anleitung platt. Inzwischen ist manches Wichtige über jugendliches Geschichtsbewußtsein erhoben worden: Insbesondere „Epochengebundenheit", „Kulturabhängigkeit", „Entwicklungslogik" und „Sozialisationseinflüsse" sind wenigstens in einigen Studien angegangen worden. Tatsächlich erfahrt man aus solchen Untersuchungen eine Menge über Kenntnisse, Meinungen, Vorlieben und Defizite von bestimmten Gruppen der Gesellschaft (vgl. z.B. v. Borries u.a. 1992; 1995). Das hat zur Bestätigung von wichtigen Theoriestücken beigetragen. Aber die Auskünfte der Befragten geben mehr konventionsgeprägte Zustände der jeweiligen Gesellschaften wieder als wirkliche Prozesse der individuellen Orientierung. Sie präsentieren naturgemäß eher sedimentiert stillgestellte Gesteinsschichten als lebendig weiterwachsende Baumringe. Man kann auch von „passivem Orientiertsein" statt von „aktiver Orientierung" sprechen. Das ist nur teilweise eine (unvermeidliche) methodische Schwäche solcher Studien, teilweise wahrscheinlich auch ein Defizit der Theoriebildung zum Feld des Geschichtsbewußtseins selbst. Es ist ja theoretisch keineswegs plausibel, daß alle Menschen produktiv und kreativ Geschichtsdeutungen für ihr Privatleben entfalten, wo sie doch Trivial-, Schrumpfund Ersatzformen, die für ihre Bedürfnisse völlig ausreichen, allüberall aus den Stammtischgesprächen und aus den Massenmedien (von Zeitung und Comic bis Video und Internet) entnehmen können. Wenn die historische Abfolge „Traditionsleitung", „Innenleitung" und „Außenleitung" (vgl. Riesman 1958) einigermaßen triftig ist, dann muß sie gerade auch für das Geschichtsbewußtsein gelten. Untersuchungen des „kulturellen Gedächtnisses" in vormodernen (eben „traditionsgeleiteten") Gesellschaften (vgl. J. Assmann 1997) - oder auch in „innengeleiteten" des 18./19. Jahrhunderts (vgl. A. Assmann 1993) - sind dann nur noch von begrenztem systematischen (und um so größerem mentalitätsgeschichtlichen) Wert.
2
Dabei mtlßte auch das Problem der Entfaltung und Legitimation von Normen einbezogen werden.
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins
-
141
Es ist ja kaum zweifelhaft, daß Geschichtsbewußtsein primär nicht (mehr) durch Weitergabe und Internalisierung heiliger Texte in Gemeinden und feierlicher Traditionen in Nationen erworben wird. Auch Erinnerungsrituale, Bildikonen und Gedenkorte haben in einer massenmedialen Freizeitgesellschaft nur ein sehr begrenztes Publikum. Gerade massenmediale Großereignisse geschichtlicher Erinnerung („Jubiläen") haben aber selbst den Charakter bloßer Durchlauf-Erhitzer von Wegwerf-Information . Steht es bei der obligatorischen Unterweisung in der Schule wirklich anders? Wissenschaftler gehören - ob sie es wollen oder nicht - einer intellektuellen Minorität (ja „Elite") an und machen sich meist keinerlei Begriff davon, wie entschieden kulturelle Traditionen und historische Zeitverlaufsvorstellungen überhaupt bei vielen „einfachen Leuten" inzwischen erodiert sind. Die in diesem Sinne kontrollierende und ernüchternde Funktion repräsentativer, d.h. nicht nur Abiturienten, sondern auch Lehrlinge und Arbeitslose einbeziehender, quantitativer Empirie kann daher kaum überschätzt werden4.
Wo also kann die empirische Erforschung zur Klärung von Theoriezusammenhängen des Geschichtsbewußtseins beitragen? Im folgenden ist nur von einigen Ergebnissen eines großen Kulturvergleichs jugendlichen Geschichtsbewußtseins in Europa zu berichten, die ein besonderes Licht auf zentrale Theoriepunkte werfen. Befragt wurden 1995 fast 32.000 Neuntkläßler (etwa 15 Jahre alt) in 27 überwiegend europäischen Ländern (mit der Türkei, Israel und Palästina) sowie ihre über 1.250 Geschichtslehrer(innen). Dem Anspruch nach sind die Angaben der Stichproben für die Jugendlichen der jeweiligen Länder (oder Minderheiten) repräsentativ. Das Material ist insgesamt im Druck und auf CD-ROM zugänglich (vgl. Angvik/v. Borries 1997), aber keineswegs in allen theorierelevanten Details ausgewertet und interpretiert. Technisch gesehen hatten die Befragten Statements, Assoziationen, Entscheidungen oder Begründungen auf fünfstufigen Likertskalen, z.B. von „nein, gar nicht" (1) über „eher nein" (2), „unentschieden" (3) und „eher ja" (4) bis , ja, sehr" (5), anzukreuzen. Deshalb bedeuten Mittelwerte deutlich unter 3.00 mehr oder weniger intensive Ablehnung, Mittelwerte merklich über 3.00 mehr oder weniger energische Zustimmung und Mittelwerte von etwa 2.75 bis 3.25 Neutralität5. 2. Lassen sich geschichtslogische Sinnbildungsniveaus empirisch verifizieren? Zu den wichtigsten Einsichten der Theorie des Geschichtsbewußtseins gehören die „Sinnbildungsniveaus" (vgl. Rüsen 1990,153-230; 1994, 53ff, 85ff, 150ff, 23Iff). Es gibt keinen Zweifel, daß es wirklich etwas grundlegend Verschiedenes bedeutet, Ge3
Wer wird im nächsten Jahr noch aus dem Ramsch der modernen Antiquariate - die Restauflagen der Flut von Büchern über die Revolution von 1848 kaufen? Und das, obwohl die „Lehren von 1848" - falls es solche gibt - für geschichtliche Sinnbildung im nächsten Jahr kein bißchen weniger aktuell sein werden als 1998. 4 Freilich geraten Empiriker leicht in die Lage, unerwünschte Nachrichten zu überbringen. Schon den altorientalischen Despoten hat es nichts genutzt, nach schweren Niederlagen die Boten hinrichten zu lassen. Auch heute wäre es wichtiger, die Strategien von Theoriebildung und Unterrichtspragmatik zu überprüfen statt die (wenigen) Empiriker zu Ubergehen oder zu tadeln. 5 Wichtig ist außerdem die Standardabweichung, da sie Auskunft über die jeweilige Streuung (Homogenität oder Inhomogenität) der Meinungen gibt und in die Formeln zur Bestimmung der Signifikanz von Unterschieden eingeht.
142
Bodo von Borries
schichte „traditional", „exemplarisch" oder „genetisch" - oder auch „kritisch"6 - auszulegen und daß diese Differenzen im Unterricht beachtet und bewußt gemacht werden sollten. So überzeugend die Idealtypen sind, als so schwierig hat sich allerdings ihre Operationalisierung für quantitativ-empirische Studien erwiesen. Um das hypothetische Abwägen der Lernenden gegenüber Dilemma-Situationen (vgl. für die Versuche der RÜSEN-Gruppe Schmidt 1987) abzutesten, wären sehr komplizierte Laborsituationen nötig; Papier-Bleistift-Verfahren genügen nicht. Statt dessen haben wir im erwähnten Kulturvergleich nur versucht, die plakativ und explizit geforderte Nutzung der vier Ebenen zu erfassen. Die folgenden Fragen richteten sich auf die Relevanz von Geschichte einerseits, auf den erteilten Geschichtsunterricht andererseits. In jedem Fall aber ging es - im Sinne theoretisch-normativer Überzeugung - um offizielle Ziele und Leistungen des Faches Geschichte7. Von den 27 Ländern sollen nur einige beispielhaft herausgehoben werden. Tabelle 1: Sinnbildungsfiguren in Schülerwahrnehmung (Mittelwerte ausgewählter Länder auf Skalen von 1 bis 5) Gesamt
Pal.
Rußl.
Pol.
Frkr.
Norw.
Dtl.
Traditionen und Werte unseres Volkes und unserer Gesellschaft anerkennen
3.21
3.82
2.99
3.52
2.78
2.81
2.86
Den Wert der Erhaltung historischer Überreste schätzen
3.04
3.69
2.95
3.18
2.65
2.90
2.79
3.37
3.46
3.38
3.40
3.47
3.34
3.14
Eine Menge lehrreicher Beispiele für richtig oder falsch, gut oder schlecht
3.37
3.43
3.46
3.14
3.42
3.66
3.30
Ein Schulfach und nicht mehr
2.40
2.32
2.24
2.52
2.23
2.64
2.86
Etwas Totes und Vergangenes, das mit meinem Leben nichts zu tun hat
2.04
2.21
1.85
2.01
2.02
1.98
2.34
2.49
2.74
2.07
2.62
2.66
2.88
2.78
Sinnbildungsfiguren
Eine Chance, aus dem Scheitern und den Erfolgen anderer zu lernen
Eine Ansammlung von Grausamkeiten und Katastrophen
6
Besser wäre es allerdings, „Kritik an Tradition", „Kritik an Exempeln" und „Kritik an Genese" zu unterscheiden. 7 Daß der Wortlaut der Items teilweise unmittelbar auf Geschichtstheorie, teilweise indirekt über den Umweg der Unterrichtsziele auf sie gerichtet ist, hat die Antworten nachweislich nicht wesentlich abweichend beeinflußt.
143
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins
Hintergrund der gegenwärtigen Lebens-
3.60
3.44
3.83
3.16
3.97
3.91
3.55
3.56
3.36
4.17
3.55
3.92
3.53
3.30
3.33
3.76
4.00
3.66
3.51
3.15
3.12
3.15
3.90
3.08
3.10
3.12
2.62
2.72
2.93
3.20
3.08
2.79
3.22
2.95
2.86
weise, Erklärung heutiger Probleme Bedeutung von „Verständnis der Gegenwart" Bedeutung von „Orientierung für die Zukunft" Mittel, mein Leben als Teil geschichtlicher Veränderungen zu meistern Die Welt heute erklären und Tendenzen der Veränderung herausfinden
Wie man sieht, werden die vier Ebenen normativ und explizit durchaus in unterschiedlichem Maße betont. „Kritische" Positionen werden am wenigsten eingenommen, wahrscheinlich auch, weil sie als Äußerung von bloßer Demotivation (d.h. Ekel und Langeweile) mißverstanden werden (können) 8 . „Exemplarische" Nutzung wird angeblich etwas stärker geschätzt als „traditionale", doch kommen beide über neutrale Angaben (Mittelwerte um 3.00) nicht wirklich hinaus. Ausschließlich „genetische" Verwendungen von Geschichte, nämlich zur Erklärung der Gegenwart werden (angeblich) stärker befürwortet und praktiziert. Man muß aber sehen, daß die Zustimmung stark schrumpft, sobald das persönliche Leben und eine Verlängerung der Entwicklung in die Zukunft hinein ins Spiel kommen. Das verstärkt den Verdacht, die wirkliche „Genese" (d.h. die Orientierung in einem anhaltenden Änderungsprozeß) finde nicht statt, und die Zustimmung gelte nur der konventionellen Formel „Erklärung der Gegenwart" 9 . Auf die beträchtlichen nationalen Differenzen ist später einzugehen. Als Ergebnis läßt sich festhalten: Den Jugendlichen sind durchaus theoretische Formeln auf allen vier Sinnbildungsebenen vertraut, die sie in unterschiedlichem Maße akzeptieren, d.h. deutlich abstufen. Diese Bevorzugungen fallen durchaus kulturspezifisch aus, sind also wenigstens teilweise Eigenheiten der jeweiligen National- oder Gruppenkonventionen („kulturelle Selbstverständlichkeiten"). Über das tatsächliche Verhalten allerdings geben die programmatischen Äußerungen der Jugendlichen keine zuverlässi-
8
Die Vermischung der „Sinnbildungsfiguren" mit der „Geschichtsmotivation" stellt insgesamt ein Methodenproblem des hier vorgestellten empirischen Zugangs dar. 9 Die Items „Mittel, mein Leben als Teil geschichtlicher Veränderungen zu meistern" und „Die Welt heute erklären und Tendenzen der Veränderung herausfinden" sind sogar aus der folgenden Faktorenanalyse sinnvollerweise entfernt worden, weil sie Doppelladungen (auf „traditionaler" und „genetischer" Deutung) zeigten. Ausgerechnet da, w o Zukunft erwähnt ist, wird also auch auf Traditionsorientierung zurückgegangen. Unter diesen Bedingungen sollte statt von „genetischer Sinnbildung" vielleicht bescheidener vom „Gegenwartsbezug" gesprochen werden.
144
Bodo von Borries
ge Auskunft. Im Gegenteil, viele Beobachtungen legen die Interpretation als „sozial erwünschte Antworten" nahe; die Meinungen der Befragten spiegeln genau damit Differenzen der nationalen Geschichtskulturen bzw. deren je spezifisches normatives Selbstverständnis. Hier nun läßt sich eine differenziertere Analyse anschließen: Eine Faktorenanalyse über zehn der erwähnten Items (die beiden letzten werden - wie erwähnt - besser herausgenommen) ergibt tatsächlich in mustergültiger Klarheit und Qualität die vier theoretisch geforderten „Sinnbildungsniveaus" . Allein darin kann eine äußerst wichtige Bestätigung der Tragfähigkeit der Theorie zu „traditionaler", „exemplarischer", „kritischer" und „genetischer" Sinnbildung gesehen werden". Tabelle 2: Programmatische Sinnbildungsmuster (Faktor-Scores auf vier orthogonalen Dimensionen) Teilnehmerländer
Traditional
Exemplarisch
Kritisch
.16
-.09
-.08
.02
Norwegen
-.29
.33
.22
-.01
Dänemark
-.36
.05
.32
-.16
Schweden
-.48
.22
.25
-.01
Finnland
-.15
-.04
.23
.21
.14
.05
.11
-.28 .81
Island
Estland
Genetisch
Litauen
-.01
-.13
.29
Rußland
-.20
-.06
-.26
.64
Ukraine
.35
-.04
.05
-.03
Polen
.29
-.22
.11
.06
Ungarn
-.31
-.19
-.06
-.06
Tschechien
-.44
.12
-.54
-.19
Slowenien
.14
-.18
.27
-.28
Kroatien
.12
.13
-.16
.04
Bulgarien
.02
.33
-.18
-.15
Griechenland
.81
-.12
-.28
-.60
Türkei
.63
.21
-.47
.19
-.33
-.34
-.24
-.32
.52
.13
.33
-.06
Israel (jüdische Staatsbürger) Israel (arabische Minderheit) Palästina
.69
.03
.24
-.01
Portugal
.38
-.07
-.23
.06
Spanien
.17
-.17
-.06
.02
10
Die Qualität der gefundenen vier Faktoren ist beachtlich, wenn auch auf jedem Faktor nur zwei bis drei Items hoch laden (das liegt an der Operationalisierung selbst). Eine zusätzliche Bestätigung kann in der fast perfekten interkulturellen Stabilität gesehen werden. Faktorenanalysen nur jeweils über einen nationalen Datensatz würden (fast ausnahmelos) substanziell gleiche Faktoren wie in ganz Europa erbringen. " Daß die vier Niveaus bei RÜSEN als Hierarchie von Stufen (mit Einschluß der jeweils niedrigeren in die höheren) erscheinen und nicht als vier orthogonale Dimensionen, ist kein Einwand, da die Logik von Faktorenanalysen in der Herstellung von Dimensionen besteht, also die Verhältnisse nicht anders abbilden kann.
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins Italien (nationale Stichprobe)
145
-.11
.07
-.28
-.03
-.12
.13
.05
-.05
-.24
-.07
.38
-.16
-.55
-.27
.27
-.06
-.57
-.34
.14
.08
-.45
.38
.30
-.12
-.21
.26
.18
-.10
Dto., Südtirol (drei Sprachgruppen) Deutschland Niederlande (verspätete Abgabe) Belgien (nur Flandern) Großbritannien (England und Wales) Großbritannien (Schottland) Frankreich Gesamt
-.44
.19
.00
.35
.00
.00
.00
.00
Erst die Faktor-Scores belegen, wie massiv die geschichtskulturellen Unterschiede sind. Bei der (angeblichen) „traditionalistischen" Nutzung liegt die Spitzengruppe (Griechenland, Palästina, Türkei, arabisches Israel) etwa eine Standardabweichung von der Nachhut-Gruppe (Belgien, Niederlande, Schweden, Großbritannien, Frankreich und Tschechien) entfernt. Das ist ein sehr großer kultureller Effekt, der sich zudem leicht als Polarität von „Modernisierung" und „Traditionalismus" entschlüsseln läßt12. Im Norden und Nordwesten Europas finden sich die „modernisierten", „individualistischen" und „säkularisierten" Länder mit niedrigen Werten. Im Südosten, Süden und Osten des Kontinents dagegen zeigen die „religiös gebundenen", „gemeinschafts-orientierten" und eben „traditionalen" Länder weit höhere Werte. Dieses regionale und systematische Muster zieht sich mit erheblichen Auswirkungen durch die Schülerantworten auf einen großen Teil aller Fragebogenitems von YOUTH AND HISTORY. Bei der „exemplarischen" Sinnbildung sind die Differenzen zwischen Großbritannien, Norwegen und Bulgarien einerseits sowie Israel, Belgien und den Niederlanden andererseits viel geringer (unter drei Vierteln der Standardabweichung). Außerdem folgt die Verteilung der Länder keiner einlinigen und einfachen politisch-geografischen Einteilung. Um so klarer ist wieder die Streuung der als besonders „kritisch" und der als eher „unkritisch" intendierten Haltungen. Fast im gesamten Norden und Westen des Kontinents (auch in Teilen seiner Mitte) bevorzugen die Jugendlichen eine kritische Nutzung weit mehr als im Südosten (ohne beide arabischen Gruppen!), Teilen des Südens (Spanien, Italien), der Mitte (Tschechien) und des Ostens (Rußland). Der Kontrast zwischen 12
Die Begriffe „Modernisierung" und „Traditionalität" werden hier - soweit irgend möglich - rein deskriptiv und wertfrei verwendet. Im Zeitalter der „Umweltverwüstung" und „Innenweltverschmutzung", der „Globalisierung der Arbeitslosigkeit" und der „Kolonialisierung der Lebenswelt" sollte es sich ohnehin verbieten, „Innovation" und „Beschleunigung" per se heilig zu sprechen. Hinzu kommt, daß mit der „Modernität" im Feld der Historie eindeutig Demotivation und Bedeutungsschwund einhergehen - für Historiker nicht gerade eine Empfehlung.
146
Bodo von Borries
Deutschland als „kritischstem" und Tschechien als „kritik-unwilligstem" Land umfaßt beinahe eine Standardabweichung. Die Äußerungen zur „genetischen" Sinnbildung fallen noch weiter auseinander; hier liegen offenbar Welten zwischen Litauen und Rußland einerseits sowie Griechenland und Israel andererseits. Für die osteuropäischen Länder ist man versucht, an ihre heutige Krisensituation als Ursache zu denken (Befreiung durch intensiven Zukunftsbezug?). Freilich stören die Nachbarländer in ähnlich verunsichernder mentaler und ökonomischer Lage (Bulgarien, die Ukraine und Estland), aber ohne starke genetische Sinnbildung, diese Interpretation. Umgekehrt ist bei den südöstlichen Ländern kaum zu erkennen, warum sie sich - nach Äußerungen ihrer Jugend in besonderem Maße vor „genetischen" Überlegungen scheuen. Für jedes Land läßt sich also - im Vergleich zu einem allerdings nicht sicher repräsentativen europäischen Mittel - ein spezifisches Profil der Sinnbildung beschreiben 13 . In Deutschland z.B. wird - programmatisch - weniger „traditional" und „genetisch" gedacht, dafür mehr „kritisch". In Portugal (aber auch in Griechenland und der Türkei) ist das Muster fast umgekehrt: überdurchschnittliche „traditionale" und unterdurchschnittliche „kritische" Sinnbildung. Schwedische und norwegische Befragte benehmen sich fast wie deutsche, betonen aber auch die historischen „Exempel" in entschiedenerer Weise. Israel ist allen vier Deutungsfiguren gegenüber besonders skeptisch. Das sagt möglicherweise Wichtiges über die Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft nach Holocaust, Staatsgründung und Sechstagekrieg, aber vor einem dauerhaften Frieden. 3. Lassen sich verschiedene mentale Zugriffe auf Geschichte nachweisen? Neben den Sinnbildungsfiguren gibt es verschiedene methodische Zugriffsweisen auf Geschichte, die unterschiedliche psychische Bereiche ins Spiel bringen. Gerade RÜSEN hat immer wieder darauf hingeweisen, daß neben rein kognitiven (quasi „wissenschaftsförmigen") Zugängen z.B. auch ästhetisch-phantasievolle und politisch-moralische eine große und unersetzbare Rolle spielen. Viel schwieriger als diese grundsätzliche Anerkennung ist die Frage, wie denn empirisch und normativ mit den außerkognitiven (nicht zuletzt den triebhaft-projektiven) Geschichtsbedürfnissen und -bestrebungen umzugehen ist. Schon die empirische Abbildung mit quantitativen Mitteln macht - anders als die mittels biografischer Materialien (vgl. v. Borries 1988; 1996) - beträchtliche Mühe. Im europäischen Kulturvergleich YOUTH AND HISTORY von 1995 wurden den Jugendlichen als Ziele des Geschichtslernens (vereinzelt auch als geschichtstheoretische Positionen) eine Reihe von Items angeboten, die sich problemlos unter „neopositivistische" Sammeltätigkeit („Kenntnisse von Hauptfakten"), „moralisierende" Betrachtung („Urteile über Gut und Böse"), „emphatische" Zuwendung („Rekonstruktion durch Einfühlung") und „ästhetisierende" Projektion („Faszination mittels Imagination") subsumieren lassen. Jede Form ist durch mindestens zwei Formulierungen vertreten 14 .
13 Nur bei sehr ähnlichen Nachbarländern ergeben sich parallele Profile, die in erwünschter Weise die Zuverlässigkeit der Daten und des Auswertungsverfahrens bestätigen. In unserem Material ist das z.B. für England/Wales und Schottland (trotz abweichenden Bildungswesens!), aber auch für die Niederlande und Belgien (Flandern) sowie für Norwegen und Schweden der Fall. Aus Platzgründen muß hier auf eine volle Tabelle verzichtet werden.
147
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins
Zunächst ist festzuhalten, daß unter den vier Zugriffen nur der „faktenorientierte" lebhaft befürwortet wird (Mittelwert!»3.75) 15 . Zu den anderen dreien haben europäische Jugendliche offenbar keine ausgeprägte und entschiedene Meinung, sondern signalisieren bloße Neutralität, wenn nicht Gleichgültigkeit (Mittelwert«3.00). Zudem läßt sich zeigen, daß tatsächlich jeweils kulturspezifisch reagiert wird. Ein Beispiel stellt die herausragend hohe Bedeutung des „Faktischen" in Rußland (M > 4.00) bzw. seine geringe Wertschätzung in Palästina (M < 3.50) dar. Zweitens ist erkennbar, daß junge Norweger keinen guten Zugang zur Historie als einfühlsamer „Rekonstruktion" besitzen (M«2.50). Einen dritten Beleg stellt die unterdurchschnittliche Betonung der „moralischen" Dimension in Frankreich und Norwegen dar (M»2.75). Ein weiteres Beispiel ist in der überdurchschnittlichen Hervorhebung von „Faszination und Imagination" in Polen zu sehen ( M > 3.00). In einer Faktorenanalyse ergeben die acht Items tatsächlich eine international recht stabile Struktur mit vier unabhängigen Dimensionen verschiedener Zugriffe auf Geschichte, nämlich aus neopositivistisch-sammelnder, emphatisch-rekonstruierender, moralisierender und ästhetisierender Richtung 16 . Schon diese Dimensionierung ist ein wichtiges (und theoretisch befriedigendes) Ergebnis, zumal es sich ^angesichts mäßiger Korrelationen in allen Richtungen) nicht unbedingt voraussagen ließ . Tabelle 3: Programmatische mentale Zugriffsweisen (Faktor-Scores auf vier orthogonalen Dimensionen) Teilnehmerländer
Neopositivistisch
Emphatisch
Moralisierend
Island
.05
-.15
.18
-.42
Norwegen
.08
-.48
.00
-.02
Dänemark
-.77
-.62
-.06
-.16
Schweden
-.45
-.51
.18
-.13
Finnland
.05
-.32
-.30
.16
Estland
.01
.07
-.05
-.26
Litauen
.21
.03
.11
.46
Rußland
.42
.18
.18
-.05
Ukraine
-.06
.14
.19
.30
.07
-.07
.15
.49
-.02
-.18
-.01
-.27
Tschechien
.57
-.34
-.14
.16
Slowenien
-.86
-.21
.11
.33
Kroatien
-.02
.13
-.10
.08
Bulgarien
-.12
.16
.25
-.14
.48
.31
.08
.20
Polen Ungarn
Griechenland
Ästhetisierend
15 In naivem Verständnis - so auch bei den Befragten - wird Historie im wesentlichen mit Informationssammeln gleichgesetzt; in einer entfalteten Theorie handelt es sich um einen (legitimen) Zugang neben anderen, nämlich den „antiquarischen". 16 Die internationale Stabilität zeigt sich darin, daß in den allermeisten Teilstichproben bei rein nationaler Analyse sehr ähnliche Faktoren entstehen würden. Den j e kulturspezifischen Daten wird also keine Struktur übergestülpt, die auf sie gar nicht paßt (vgl. v. Borries/Angvik, Β 15-18). Der Eigenwert der beiden letzten Faktoren bleibt (leider) dicht unter 1.00. 17 Das Urmaterial ist - unvermeidlich - erneut durch den ziemlich großen Einfluß allgemeiner Motivation auf alle Einzelitems verschmutzt.
148
Bodo von Borries .04
.18
.04
.24
-.03
-.14
-.31
-.39
-.25
.30
.17
-.07
Palästina
-.51
.14
.22
.15
Portugal
.26
.34
.23
.57
Spanien
.19
-.19
-.20
-.41
-.31
.06
.23
-.12
Dto., Südtirol (drei Sprachgruppen)
-.24
.12
.09
-.34
Deutschland
-.02
.11
-.21
-.00
Niederlande (verspätete
-.37
.04
-.40
-.24
-.02
.10
-.47
-.11
.21
.03
-.48
-.20
.37
.14
-.37
-.40
-.11
.27
-.01
-.50
.00
.00
.00
.00
Türkei Israel (jüdische Staatsbürger) Israel (arabische Minderheit)
Italien (nationale Stichprobe)
Abgabe) Belgien (nur Flandern) Großbritannien (England und Wales) Großbritannien (Schottland) Frankreich Gesamt
Beim neopositivistischen Zugang ergibt sich zwischen den Maximum-Ländern (Tschechien, Griechenland, Rußland, den Niederlanden und Schottland) und den MinimumLändern (Slowenien, Dänemark, Palästina und Schweden) ein besonders großer Abstand. Es handelt sich aber nicht einfach um eine Abbildung des Schemas „Traditionalismus" versus „Modernität". Im Falle Dänemarks und Schwedens (und Sloweniens?) gibt es wohl auch eine Beziehung zur prekären Stellung des Faches Geschichte im Curriculum. Bei den Arabern spielt vermutlich die fremdbestimmte Auswahl der Geschichtsinhalte (Besatzungsgmacht, Minderheitsstatus) eine Rolle. „Moralisierende" Geschichtsschreibung wird, wenn man den Jugendlichen trauen darf, im Osten (Rußland, Ukraine, Bulgarien) Süden (Portugal, Italien) und Südosten (Araber in Israel und Palästina) in besonderem Maße vertreten, während sie in Westeuropa (mit Israel, Spanien und Finnland) am stärksten zurückgedrängt wird. Insgesamt sind die Gegensätze aber viel milder als beim „faktenorientierten" Zugriff (drei Viertel statt fast anderthalb Standardabweichungen). Es ist gerade nicht so, daß die „Menschenund Bürgerrechte" von den westlichen marktwirtschaftlichen Nationalstaaten dem Rest der Welt intensiv vorgelebt und aufgedrängt, ja aufgezwungen würden. In unserem Material vertreten die Jugendlichen aus stärker „kollektiv" denkenden Ländern die Menschenrechte in besonderem Maße . 18
Dazu gibt es Bestätigungen aus anderen Itemgruppen des Fragenbogens.
149
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins
„Rekonstruierende Empathie" - man könnte auch von einem Hauptmerkmal des „Historismus" sprechen - ist gewiß nicht die ganze Methode der Geschichtswissenschaft, aber ein unverzichtbar wichtiger Teil. Sie ist in zwei Regionen deutlich unternormal ausgeprägt, nämlich Skandinavien und Ostmitteleuropa (von Polen bis Slowenien). Auf der anderen Seite finden sich die höchsten Werte meist in relativ „traditionalen" Gesellschaften wie Portugal, Griechenland, arabischem Israel und (ausnahmsweise) Frankreich. Der Andersartigkeit und Fremdheit von Vergangenheit durch sorgfaltige Beachtung damaliger Bedingungen „gerecht" zu werden, gewinnt so einen etwas „altmodischen" Anstrich - jedenfalls in der offiziellen Programmatik. Können sich „moderne" und „genetisch" denkende Gesellschaften diese Position wirklich leisten? Besonders spannend ist schließlich der eher fiktionale Zugriff auf „Faszination" oder „Spannung"; hier zeigen die nord- und westeuropäischen Länder fast durchweg weit unterdurchschnittliche Werte (nur Deutschland erreicht u.a. wegen Ostdeutschlands fast das gesamteuropäische Mittel). Ihre „Modernität" senkt also nicht nur die Zuwendung zur Geschichte insgesamt, sondern in spezifischer Weise auch die zu den projektiven Formen. Umgekehrt haben ostmitteleuropäische (Polen, Litauen, Slowenien, Ukraine) und nahöstliche (Türkei, Griechenland, Palästina) Länder - dazu Portugal - die höchsten Werte. Das sind durchweg eher „traditionale" Länder. Es besteht der gut abgesicherte Verdacht, daß die ästhetischen und abenteuerlichen Zugriffe im Rahmen „individualistischer", „säkularisierter" und „aufgeklärter" Weltsicht nicht mehr zugegeben werden können („sozial erwünschte Antworten"). 4. Orientieren sich Jugendliche durch Deutung zeitgeschichtlicher Erfahrungen? Von besonderem theoretischen Interesse ist das Verhältnis von „biografischer Erfahrung", „kommunikativem Gedächtnis", „kultureller Überlieferung" und „wissenschaftlicher Forschung". Es geht um die Frage, wann und wie eigentlich kulturelle Überlieferung entsteht und weitergegeben wird, wie sie kommunikatives Gedächtnis teils auslöscht und ablöst, teils übernimmt und fixiert. Im Rahmen der erwähnten kulturvergleichenden Studie (vgl. Angvik/v. Borries 1997) haben wir 1995 die Neuntkläßler auch nach ihrer Deutung der Entwicklung in Osteuropa seit 1985 befragt. Tabelle 4: Assoziationen zu „Osteuropa seit 1985" (Mittelwerte ausgewählter Länder auf Skalen von 1 bis 5) Gesamt
Rußl.
Estl.
Pol.
Dtl.
Frkr.
Pal.
3.27
3.29
3.23
3.27
2.90
3.31
3.24
3.29
3.36
3.21
3.09
2.99
3.45
3.23
3.64
3.65
3.68
3.50
3.36
3.74
3.39
3.09
2.86
3.04
2.92
2.81
3.01
3.46
2.99
3.08
3.12
2.89
2.58
2.94
3.38
Freiheit für die Mitglieder des Warschauer Paktes Demokratisierung der sowj. Gesellschaft Zusammenbruch der UdSSR Sieg der USA im Kalten Krieg Verrat an sozialistischen Ideen
150
Bodo von Borries
Einführung der Marktwirtschaft in Osteuropa
3.49
3.73
3.65
3.37
3.39
3.34
3.61
Nationale Konflikte und Bürgerkriege
3.53
3.60
3.48
3.61
3.46
3.59
3.55
Das Moment der politischen Befreiung ist ausgesprochen schwach vertreten; der Begriff „Warschauer Pakt" scheint wenige Jahre nach seiner Auflösung bereits weitgehend unbekannt. Aber das Bild vom Reformprozeß als „Demokratisierung" ist kaum günstiger, obwohl die Jugendlichen auch im Osten Demokratie eher befürworten und keineswegs ablehnen (wie die Antworten zu anderen Items beweisen). Die Frage nach dem Sozialismus löst - erwartungswidrig - keine besonders lebhaften Antworten oder gar Meinungsverschiedenheiten aus (die Mehrheit ist „unentschieden"). Der Vorstellung, daß das Ergebnis einem Sieg der USA „im Kalten Krieg" gleichkommt, treten die Jugendlichen nicht näher; darüber scheint nicht nachgedacht zu werden. Etwas besser vertraut sind nur der Zusammenbruch der UdSSR, die Konflikte und die Marktwirtschaft; alle anderen Assoziationen werden eigentlich nur „neutral" eingeschätzt. Vielleicht noch verblüffender sind die geringen nationsspezifischen Unterschiede zwischen „Gewinnern" und „Verlierern" des Prozesses seit 1985: Polen und Ungarn, Litauer und Esten äußern sich kaum anders als Russen und Ukrainer. Auch zwischen Beteiligten und Betrachtern bleiben die Differenzen gering. Franzosen und Briten, Griechen und Italiener, Skandinavier und Iberer sehen die Entwicklung nicht abweichend von Ost- und Ostmitteleuropäern. Fast könnte man zweifeln, ob die „Perspektive", die „Lebenssituation" und das „Interesse" für geschichtliche Interpretationen wirklich so wichtig sind, wie das theoretisch festzustehen scheint. Wer nämlich einen - noch so wichtigen - Prozeß überhaupt nicht nennenswert wahrnimmt, der hat auch keine spezifische Perspektive. Freilich gibt es doch einige interessante Ausnahmen. Die deutschen Jugendlichen äußern sich zu praktisch allen Items viel zurückhaltender als das europäische Mittel. Sie (besser: ihre Eltern) scheinen von der ganzen Entwicklung noch viel weniger mitbekommen zu haben als andere Jugendliche (und Familien). Offenkundig waren sie (wie tendenziell auch die Slowenen) völlig durch die Ereignisse im eigenen Lande absorbiert. Anderes wurde nicht mehr recht registriert, auch wenn es „objektiv" als Voraussetzung der nationalen Entwicklung gar nicht wegzudenken war. In ähnlicher Weise ragen die Palästinenser bei den beiden Assoziationen „Sieg der USA im Kalten Krieg" und „Verrat am Sozialismus" heraus. Ihnen sind die Verbündeten im Kampf gegen Israel abhanden gekommen. Die Verschlechterung ihrer Lage haben sie deutlicher als jedes andere Land wahrgenommen; an zweiter Stelle liegen in beiden Fällen die arabischen Bürger von Israel. Was aber bedeuten diese Befunde theoretisch? Die Jugendlichen kennen sich mit dem erfragten „politischen Erdbeben" innerhalb der Zeitgeschichte bemerkenswert schlecht aus und sind ausgesprochen unentschieden über die Deutungen, obwohl die gegenwärtige politische Lage eindeutig durch eben diese Reformbewegung bestimmt wird. Es fehlt einschlägige biografische Erfahrung, da der Prozeß in die frühe eigene Kindheit fiel. Eine kognitive Verarbeitung so früher generationsspezifischer (u.U. auch traumatischer) Erlebnisse scheint es nicht zu geben. Es mangelt aber erstaunlicherweise offenbar auch an kommunikativem Gedächtnis. Das heißt, die Erwachsenen diskutieren zweifellos keineswegs intensiv in Anwesenheit
Forschungsprobleme einer Theorie des Geschichtsbewußtseins
151
der Jugendlichen über Gewinne und Verluste als Folgen der Politik der letzten zehn Jahre. Von besonders entschiedenen, ja parteilichen Stellungnahmen findet sich nichts (die Standardabweichungen sind viel kleiner als bei anderen Fragen). An sich müssen in vielen Elternhäusern sehr lebhafte Aufstiegs- bzw. Krisenerfahrungen vorliegen. Sie spiegeln sich in den Äußerungen der Jugendlichen jedoch eindeutig nicht lebhaft. Das spricht gegen eine intensive familiäre Kommunikation über Zeitgeschichte und KausalZurechnung der Erfolge und Mißerfolge seit 1985. Kulturelle Überlieferung als verbindliche Festlegung der nationalen Deutungsmuster fehlt ebenfalls noch oder ist jedenfalls den befragten Heranwachsenden weitgehend unbekannt geblieben. Für die eben erst wieder unabhängig (Estland, Litauen, Ukraine) oder politisch handlungsfähig gewordenen Staaten (Polen, Tschechien) ist das eher erstaunlich. Man sollte vermuten, daß die Heranwachsenden die neuen amtlichen oder konventionellen Deutungen über die Massenmedien erworben haben, wenn schon nicht in der Schule. Im Prozeß des „nation building" wird das vermutlich künftig bald nachgeholt werden19. Mit einem energischen Einfluß wissenschaftlicher Forschung (schon gar im internationaler Austausch) auf das Schülerbewußtsein wird man angesichts der kurzen seither verflossenen Zeit ohnehin nicht rechnen, auch wenn selten eine so rasche Öffnung von Archiven und eilfertige Förderung von Forschungen erfolgt sein dürfte. Das heißt natürlich nicht, daß sich künftig nicht eben jene interessengebundenen verschiedenen Perspektiven einstellen dürften, die gegenwärtig in den - wie erwähnt überaus blassen - Erinnerungen bei Gewinnern und Verlierern des Prozesses noch weitgehend ausgeblieben sind. Wissenschaft kann solche Prozesse partikularar Sinnbildung keineswegs verhindern. Sie ist insgesamt wohl eher geeignet, bestehende (ja: herrschende) Sinnbildungsvorschläge einerseits zu legitimieren und detaillieren, andererseits zu relativieren und destruieren. Ersetzen oder schaffen kann sie das - noch fehlende - lebensweltliche Bedürfnis nicht20. Erwähnte Literatur Magne Angvik/Bodo von Borries (Hg.): YOUTH AND HISTORY. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents. Volume A: Description, Volume B: Documentation (Containing the Database on CDROM), Hamburg 1997 Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt (M.) 1993 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997 Bodo von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie, Stuttgart 1988 Bodo von Borries (unter Mitarbeit von Susanne Dähn, Andreas Körber und Rainer H. Lehmann): Kindlich-jugendliche Geschichtsverarbeitung in West- und Ostdeutschland 1990. Ein empirischer Vergleich, Pfaffenweiler 1992 19
Berichte über entsprechend traditionelle Richtlinien- und Schulbuchentwicklungen gibt es zuhauf. Es sei zugegeben, daß hier eine schwierige Argumentationsfigur - nämlich die Schlußfolgerung aus einem fehlenden statt aus einem vorhandenen Gedächtnisinhalt - versucht wurde („ex silentio"). Deshalb müssen die Konsequenzen mit einiger Vorsicht gezogen werden.
152
Bodo von Borries
Bodo von Borries (unter Mitarbeit von Sigrid Weidemann, Oliver Baeck, Sylwia Grzeczkowiak und Andreas Körber): Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen in Ost- und Westdeutschland, Weinheim 1995 Bodo von Borries: Imaginierte Geschichte. Die biografische Bedeutung historischer Fiktionen und Phantasien, Köln 1996 Karl-Ernst Jeismann: Geschichte als Horizont der Gegenwart, Paderborn 1985 Karl-Ernst Jeismann: „Geschichtsbewußtsein" als zentrale Kategorie des Geschichtsunterrichts, in: Gerold Niemetz (Hg.): Aktuelle Probleme der Geschichtsdidaktik, Stuttgart 1990, 44-78 Erich Kosthorst (Hg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung - Theorie, Göttingen 1977 David Riesman u.a.: Die einsame Masse, o.O. 1958 Jörn Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschimg, Göttingen 1986 Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt (M.) 1990 Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994 (a) Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Köln 1994 (b) Hans-Günther Schmidt: „Eine Geschichte zum Nachdenken", in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), 28-35 Rolf Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein, in: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft?, Bd.l, Stuttgart 1972, 87-101 Peter Schulz-Hageleit: Was lehrt uns die Geschichte?, Pfaffenweiler 1989
Ursula A.J. Becher Interkulturelle Dimensionen der Schulbuchforschung Schulbücher haben erst in jüngerer Zeit das Interesse der Forschung gefunden. Für den Gebrauch in Schulen bestimmt, wurden sie wohl auf ihre Tauglichkeit als pädagogisches Medium geprüft und von Ministerien und Schulbehörden - gelegentlich in einem aufwendigen Verfahren - für den Unterricht zugelassen, sie wurden von Lehrern und Eltern beurteilt, von Schülern mit mehr oder weniger großem Gewinn zum Lernen benutzt. Doch diese Beschäftigungen mit dem Schulbuch gehörten in einen engen Verwendungszusammenhang, der Wissenschaftler über einen kleinen Kreis unmittelbar betroffener Pädagogen hinaus kaum interessierte. Das änderte sich in den siebziger Jahren: Mit der Hinwendung zu sozialgeschichtlichen Fragestellungen und Methoden, der Wiederentdeckung und der Erneuerung des Programms der Aufklärung und einer zunehmenden gesellschaftlichen Politisierung gewannen ideologiekritische Verfahren eine große Bedeutung. Es galt, traditionelle Gewißheiten in Frage zu stellen, um sie, wenn überhaupt, nach sorgfältiger, radikaler Analyse auf einer neuen Basis wiederzugewinnen oder auf immer zu verlieren, Verblendungen als solche bewußt zu machen, Irrtümer zu erkennen. Diese Intention ließ sich mit Gewinn an Texten verfolgen, deren ideologischer Gehalt in einer kritischen Lektüre und in analytischen Verfahren herausgefiltert wurde. Im Kontext dieses Denkens fanden Schulbücher ein neues Interesse: Sie sind kein interesseloses Abbild der Welt, sondern in ihnen sind Wissen und Wertvorstellungen gesammelt, welche die Generation von Lehrern und Eltern der nachwachsenden Generation vermitteln will. Schulbücher sind daher eine wichtige, vielleicht noch zu wenig genutzte Quelle für die Bewußtseins- und Mentalitätsgeschichte einer Zeit. Internationale Schulbuchforschung arbeitet komparatistisch. Ihr geht es um den Vergleich von Interpretationen, Wahrnehmungen, Denkmustern, Wertvorstellungen in den Schulbuchdarstellungen verschiedener Länder. Sie wird mit verschiedenen und unterschiedlichen kulturellen Repräsentationen und Traditionen konfrontiert, die sie auf eine noch zu klärende Weise miteinander vermitteln muß. Ihre Überprüfung setzt eine Untersuchung des Forschungsgegenstandes voraus. Geschichtsbücher für den Schulgebrauch - sie spielen in der internationalen Schulbuchforschung eine bevorzugte Rolle - stellen eine Form der Geschichtsschreibung dar. Was allgemein von der Geschichtsschreibung zu sagen ist, trifft auch auf die Schulgeschichtsschreibung zu. In beiden Fällen werden Ergebnisse der historischen Forschung in sprachlich-literarischer Form vermittelt. Die deutliche Verwendungsabsicht der Schulbücher, die sich im Stil und in der Struktur der Darstellung niederschlägt, findet zwar in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung keine eindeutige Entsprechung, aber auch diese geht in den Prinzipien wissenschaftlicher Rationalität nicht auf. Auch sie hat einen „Sitz im Leben"1. Wenn auch der Geschichtsschreiber das Ziel verfolgt, historische Tatbestände festzuhalten und komplexe historische Zusammenhänge zu klären und dadurch einen Beitrag zur geschichtswissenschaftlichen Forschung zu leisten, so geht seine Deutungsleistung über ein aufgrund innerwissenschaftlicher Faktoren be1 Jörn Rilsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, 7-14.
154
Ursula A. J. Becher
ruhendes Urteil weit hinaus. Schon in seine Fragestellung gehen - wenn auch bisweilen eher implizit - die Orientierungsbedürfnisse der Gesellschaft ein, in der er lebt; auch seine Darstellung ist ohne den Adressatenbezug nicht zu verstehen. Schließlich verdanken wir Roland BARTHES, Hayden WHITE und denen, die ihnen folgten, Hinweise, wie sehr der Stil der Darstellung die Argumentation steuert und den wissenschaftlichen Gehalt der Geschichtsschreibung berührt. So zeigt dieser erste Vergleich zwischen Schulbüchern und Geschichtsschreibung eine höchstens graduell unterschiedene Lebensnähe, aus der noch keine Einwände gegen die Dignität historischer Erkenntnis abgeleitet werden können, die in beiden Arten der Darstellung vermittelt wird 2 . Dieser Zusammenhang von wissenschaftlicher Rationalität und gesellschaftlichen Orientierungsbedürfnissen in der Geschichtsschreibung ist nicht erst in der jüngsten postmodernen Debatte problematisiert worden. Er ist als Problem schon öfter thematisiert worden. In der französischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts galt die literarische Qualität der Darstellung als Vorzug und Voraussetzung ihrer öffentlichen Wirksamkeit. Im Zuge der stärkeren Etablierung und Institutionalisierung der Historie als Wissenschaft freilich wurde Wissenschaft gegen Literatur ausgespielt: Der Charakter der Historie als Wissenschaft wurde strikt an den Prozeß der historischen Erkenntnis gebunden und von der literarischen Darstellung abgelöst. Dadurch wurden die Orientierungsfunktion und der kommunikative Aspekt historischen Erzählens als belanglos oder gar dem wissenschaftlichen Anspruch widerstreitend ausgeblendet 3 . Eine vergleichbare Entwicklung läßt sich auch in der deutschen Geschichtswissenschaft beobachten 4 . Es ist eines der Verdienste von Jörn RÜSEN, die Haltlosigkeit einer solchen Entgegensetzung von Wissenschaft und Literatur auf der Grundlage eines systematischen Entwurfs seiner Historik nachgewiesen zu haben. Mit Hilfe der dort entwickelten wissenschaftlichen Kategorien verteidigt RÜSEN die Rationalitätskriterien der Geschichtsschreibung gegen deren Auflösung in der postmodernen Debatte. Gerade weil er nicht bestreitet, daß die Historie ihren Platz im Leben hat, und demzufolge ihre Orientierungsfunktion als wichtigen Faktor des historischen Denkens systematisch verortet, ist seine Position unter dem Ansturm des „linguistic turn" nicht erschüttert. Dieser linguistischen Wende, in deren Zusammenhang vielfältige neue Ansätze diskutiert wurden, verdankt die Geschichtswissenschaft tiefere Einsichten in die Bedeutung und Struktur des umfassend verstandenen Textes5, die auch von der Schulbuchforschung aufgenommen und auf ihre Analysen bezogen werden können. Nimmt man diesen Begriff ernst, so erschließt sich die Bedeutung eines Schulbuches nicht allein aus der Lektüre der einzelnen Kapitel, sondern beachtet werden müssen zusätzlich mit den Richtlinien, die eine Vorgabe darstellen, die Zulassungspraxis der Ministerien, die Auswahl durch Lehrer, die Art der Verwendung der Schulbücher im Unterricht, Faktoren, die in den Text hineingehören und daher für die Interpretation belangvoll sind. Das Schulbuch möchte zum Zwecke historischen Lernens die Ergebnisse der historischen Forschung Schülern vermitteln. Die Frage aber nach dem, was der Schüler lernen 2
Hierzu: Ernst Hanisch: Die linguistische Wende, in: Wolfgang Hardtwig/Hans Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, 212-30. Ursula A. J. Becher: Methodenkonzeption und politische Funktionalisierung der Geschichtsschreibung Frankreichs im 19. Jahrhundert, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Methode (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd.5), München 1988, 181-99. 4 Rüsen 1989, 19ff. 5 Roger Chartier: Die unvollendete Vergangenheit, Berlin 1989, 58-82.
Interkulturelle Dimensionen der Schulbuchforschung
155
soll, ist im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich beantwortet worden. Sie ist zentral, denn es geht um das Lernen von Schülern und Schülerinnen; der Adressatenbezug ist bei dieser Textgattung konstitutiv. Der kommunikative Aspekt, der in jeder Geschichtsschreibung wirksam ist, in der literarischen Gestaltung freilich verborgen sein kann, muß im Schulbuch, das allein dem lernenden Schüler dient, offenkundig sein. Ein historischer Rückblick zeigt freilich, daß Schülerinteressen die Schulbuchkonzeption selten oder lange nicht bestimmt haben. Leitfadenhaft gedrängte Zusammenfassungen historischen Wissens sollten vom Schüler angeeignet werden. Seine möglichen Fragen an die Geschichte blieben unberücksichtigt, da sie dem Autor gar nicht in den Sinn kamen. Die didaktische Bestimmung dessen, was lernwürdig und lernnotwendig sei, fehlte, da das konventionelle geschichtliche Wissen unbefragt weitergegeben wurde. Wahrheitsfragen wurden nicht gestellt, Fiktionales und Faktisches wurden vor allem in den Büchern fur jüngere Schüler vermischt, Rationalitätskriterien spielten keine erkennbare Rolle. Daß wir heute das Faktum als solches problematisieren und seine Grenze zum Fiktionalen reflektieren, läßt keine Kontinuitätslinie zu diesen Schulbüchern zu, die weitgehend unreflektiert überholten entwicklungspsychologischen Vorstellungen folgten 6 . In den letzten dreißig Jahren haben sich die Schulbücher in Deutschland und in den westeuropäischen Ländern in der Weise verändert, daß sie den kommunikativen und deshalb auch den didaktischen Aspekt stark gewichten. Das lernende Subjekt steht im Mittelpunkt der Konzeption neuer Geschichtsbücher, in denen der Rekonstruktionscharakter der Historie und daher auch Methodenfragen einen breiten Raum einnehmen. Der Schüler soll die Methoden lernen, mit deren Hilfe er Fragen an die Geschichte stellen und Antworten finden kann 7 . Mag sich diese Auffassung auch zwingend aus wissenschaftstheoretischen und geschichtsdidaktischen Überlegungen ableiten, ihre Grundtendenz entspricht bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt haben. Die Aufgabe historischen Lernens, wie sie in der modernen Geschichtsdidaktik definiert wird, das individuelle Geschichtsbewußtsein und die persönliche Identität des Schülers in ihrer Entwicklung zu fordern, das Subjekt des Lernens ernst zu nehmen, steht in der Tradition der Aufklärung und der Reformpädagogik, läßt sich aber auch verstehen aus Voraussetzungen und Anforderungen im Prozeß der Individualisierung, der gegenwärtig weit fortgeschritten ist. Daß es nicht vorrangig um einen Kanon von Bildungsgütern geht, den sich Schüler anzueignen haben, um Prüfungen zu bestehen, sondern um Fragen und Lerninteressen eines Schülers als Subjekt seines Lernens, diese Vorstellung zielt auf ein autonomes Individuum, das wiederum als Leitbild gegenwärtige Lebens- und Berufsprofile prägt. Nachdem einheitliche und lebenslange Berufskarrieren fraglich und unwahrscheinlich geworden sind und dem Einzelnen eine sichere Lebensplanung versagt ist, muß er einen hohen Grad an Autonomie erwerben, um in den Wechselfallen und Unsicherheiten seines Lebens sich selbst als Person durchzuhalten und zugleich sehr flexibel auf Situationen sinnvoll zu reagieren, Chancen für neue Planungen zu nutzen und immer wieder neue begründete Entscheidungen zu tref-
6
Zur Frage von Faktum und Fiktionalität vgl. Johannes Fried: Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 291-316. 7 Jörn Rüsen: Das ideale Schulbuch. Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts, in: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992), 237-50.
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Ursula A. J. Becher
fen 8 . Die gesellschaftlichen Veränderungen als Folge dieses Individualisierungsprozesses sind offenkundig und an kulturellen Zeichen und Praktiken abzulesen. Ein Beispiel bietet die veränderte Struktur der Schulbücher für Geschichte, die mit ihren verschiedenen Elementen dem Lernenden entgegenkommen, der für seine Fragen an die Geschichte Antworten finden soll. In allen westeuropäischen Ländern hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen, und doch lassen sich bei bilateralen Schulbuchprojekten Unterschiede in Vorstellungen und Perspektiven feststellen, die auf verschiedenen kulturellen Traditionen beruhen und bei den Schulbuchgesprächen ins Spiel gebracht werden müssen, um als eine Voraussetzung ihres Gelingens eine gemeinsame Verständigung zu ermöglichen. Daß in einer schon lange bestehenden Kooperation mit gleichsam befreundeten Nachbarn Unterschiede in Wahrnehmungen und Urteilen, in ihren kulturellen Praktiken deutlich werden, ist nicht verwunderlich, verfugt doch keine Seite über eine einheitliche, uniforme nationale Kultur, sondern über vielfältige Traditionen und Mentalitäten aus regionalen, sozialen, lange auch religiös-konfessionellen Ursprüngen herrührend. Sind bei der föderalen Struktur Deutschlands prägende regionale Besonderheiten zu erwarten, so ist auch Frankreich seit einiger Zeit dabei, seine Regionen zu entdecken und ein regionales Bewußtsein zu entwickeln. Solche Besonderheiten werden in Denkweisen, in Präferenzen und methodischen Ansätzen deutlich, die bis in die Argumentationsweisen und Interpretationen wirksam sind. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche sind hierfür ein sehr gutes Beispiel. Sie haben bereits in den fünfziger Jahren begonnen und werden in der Gegenwart fortgesetzt - eine so lange und fruchtvolle Kooperation bringt eine Fülle von Erfahrungen in den interkulturellen Dialog. So besteht auf französischer Seite die Neigung, von Institutionen her zu denken und von daher staatlichen Richtlinien und Lehrplänen ein großes Gewicht beizumessen, ein Ansatz, der den deutschen Teilnehmern der Gespräche, die vom Thema und den Gesichtspunkten der Forschung aus dachten, weniger wichtig war. Diese Unterschiede hemmten den Fortgang der gemeinsamen Arbeit nicht, sie bereicherten vielmehr die Diskussion um Aspekte, die dem allein nationalen Denken fehlen. Auch die Neigung der Franzosen, die Ergebnisse der gemeinsamen Schulbuchprojekte mit knapp und präzise formulierten Empfehlungen abzuschließen, in denen die Deutschen nicht alle ihre Argumente wiederfanden, gehört in diesen Kontext. 9 So werden selbst in der deutsch-französischen Schulbuchkommission, in der das wechselseitige Verständnis groß ist, zumal ihre Mitglieder Experten für die Geographie und Geschichte des anderen Landes sind, Verschiedenheiten deutlich, so daß wir auch hier trotz des gemeinsamen europäischen Kulturzusammenhangs von einem interkulturellen Dialog sprechen können. Auch im 8
Hierzu in vielen Veröffentlichungen Ulrich BECK. Vgl. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt (M.) 1986. 9 Die Unterschiede beschreibt Ernst HINRICHS treffend: „Die deutschen und französischen Kommissionsmitglieder, die sich seit 1981 jährlich zu Gesprächen trafen, konnten sich niemals auf Texte gleicher Argumentationsstruktur und besonders gleicher Länge einigen. Hielten die französischen Teilnehmer es für wichtig, den Verlegern, Lektoren und Autoren nur solche Empfehlungen ins Haus zu schicken, die in aller Kürze die wichtigsten Gravamina fast stichwortartig aufführen, so legten die deutschen Teilnehmer Wert auf besondere Ausführlichkeit, Beschreibung der Hintergründe, Erläuterung des Forschungsstandes. Aus dieser Verschiedenheit, in der nicht zuletzt das unterschiedlich lastende Erbe der Vergangenheit zum Ausdruck kommt, ergaben sich viele, immer sehr freundschaftlich geführte Diskussion - nicht selten auch mit freundschaftlich-nachbarlichen Anspielungen auf die unterschiedlichen Sprach- und Stilgewohnheiten beider Kommissionsteile." Deutschland und Frankreich. Raum- und Zeitgeschichte. Empfehlungen für die Behandlung in Geschichts- und Geographieunterricht beider Länder, Frankfurt (M.) 1988, 16.
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engen nachbarschaftlichen Raum muß es um interkulturelle Verständigung gehen. Das bedeutet zunächst Aufmerksamkeit auf Bedeutungen, die Zeichen und Texten gegeben werden; Wahrnehmungen von Gesten und Symbolen, die bestimmten kulturellen Praktiken entsprechen10. Nur auf diese Weise wird ein fruchtbarer Dialog möglich, in dem eine Verständigung über die Interpretation möglicherweise kontroverser Themen und Probleme der gemeinsamen Geschichte erreicht wird. Diese Verständigung verlangt keine Einebnung von Unterschieden, keine Vereinheitlichung von Perspektiven und Standpunkten. Ein solcher Versuch würde die wechselseitige Wahrnehmung blockieren und Verständigung verhindern, die doch grade erzielt werden soll. Eine Feststellung von Unterschieden oder unterschiedlichen Gewichtungen dagegen kann einen Denkprozeß in Gang setzen, in dem tiefere Einsichten in das Eigene und Fremde gewonnen werden, eine Erkenntnis, die der jeweiligen eigenen Identitätsbildung zugute kommt. Im interkulturellen Dialog bilateraler Schulbuchgespräche spielen historische Erfahrungen hinein, die ihren Niederschlag in historischen Urteilen und Wertungen finden. Die französischen Partner haben in den verschiedenen Schulbuchprojekten nicht gezögert, nationale Interessen zu vertreten, in der Erwartung, daß ihre deutschen Kollegen es ihnen gleich tun. Die Selbstverständlichkeit dieses Anspruchs auf französischer Seite und das Zögern auf deutscher in den achtziger Jahren sind mit den historischen Erfahrungen dieses Jahrhunderts leicht zu erklären, hatte sich die französische Nation doch in zwei Weltkriegen am Ende behauptet, während die deutsche gespalten und zerrissen erst wieder ihr Selbstverständnis finden mußte. Die Darstellung der französischen Revolution in den Geschichtsschulbüchern zeigt anschaulich den Zusammenhang von vergangener Erfahrung und historischem Urteil. In Schulbuchkonferenzen kritisierten französische Experten, daß deutsche Schulbücher der französischen Revolution nach ihrer Meinung ein zu großes Gewicht beimessen, dagegen die Geschichte der Dritten Republik fast ganz aussparen, in der nach französischer Meinung der eigentliche Prozeß der Modernisierung Frankreichs und der Implantierung der Ideen der Revolution stattfand. Die Franzosen verstehen - spätestens seit den achtziger Jahren - die große Revolution nicht mehr als Bruch, sondern als ein Ereignis innerhalb der Kontinuität ihrer Geschichte. Sie gehört zu den Grundlagen der europäischen Zivilisation, und ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als ein Element unter anderen11. Die deutschen Schulbücher dagegen, die bis in die fünfziger Jahre hinein, der Sonderwegsideologie folgend, die Revolution abgelehnt hatten, interpretieren sie nun als die Gründungsurkunde der modernen Welt, an der wir endlich teilhaben, und geben ihr daher als einem Ereignis von universaler Bedeutung ein starkes Gewicht12. Nicht allein die Schulbücher folgen diesem Verständnis der Revolution, es war für die Neuorientierung nach dem Krieg fur viele junge Menschen, die nach neuen Perspektiven verlangten, von großer Bedeutung, öffneten sich ihnen doch über das Bild der Revolution das Tor zur westlichen Welt, das ihnen bisher verschlossen war13. Am Beispiel der deutsch-französischen Schulbuchgespräche wird deutlich, daß trotz der nachbarschaftlichen Nähe und einer gemeinsamen europäischen Herkunft ein inter10
Chartier 1 9 8 9 , 2 1 - 3 6 . Rainer Riemenschneider (Hg.): Bilder einer Revolution, Frankfurt (M.) 1994, 45. 12 Ders.: La Revolution fran?aise dans les manuels d'histoire de la RFA, in: ebd., 377-91, bes. 389ff. 13 Karl Ferdinand Werner: Ein Historiker der „Generation 1945", in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit, Wien 1997, 240f. 11
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kultureller Dialog geführt wird, freilich auf einer gemeinsamen europäischen Grundlage 14 . In der Regel wird der Begriff interkulturell auf die Auseinandersetzung großer entfernter Kulturen bezogen, die sich nach ihren Symbolwelten, ihrer Religion und Lebensformen deutlich unterscheiden. Es scheint in öffentlichen Debatten die Meinung verbreitet, daß der Grad der Fremdheit einer Kultur fur interkulturelle Begegnungen prädestiniert. In der internationalen Schulbuchforschung kann eine Vermittlung von zunächst unvereinbar erscheinender Fremdheit ein Ziel sein, das aber nicht gelingen muß. Was unter Nachbarn erst in intensiver Kommunikation als anders codierte Zeichen und dadurch trotz aller Nähe als fremde Kultur erscheint, kommt im „fernen Dialog" vielleicht gar nicht zur Sprache. Diese Erfahrung verdanke ich den deutsch-chinesischen Schulbuchgesprächen. Die fremde Kultur wurde in den Gesten des Umgangs, den Riten, den Lebensformen deutlich, und man hätte sie festhalten können ähnlich wie Roland BARTHES in seinem „Reich der Zeichen", die japanische Kultur wiedergab, indem er ihre Zeichen beschrieb, ohne ihre Deutung zu versuchen. Und wie BARTHES, SO hätte auch ich sagen können: „Was wir in der Betrachtung des Orients anstreben können, sind keine anderen Symbole, keine andere Metaphysik, keine andere Weisheit [...], sondern die Möglichkeit einer Differenz, einer Mutation, einer Revolution im Charakter der Symbolsysteme." 15 Aber genau diese Differenz kam in der Schulbuchkonferenz in Beijing nicht zur Sprache, nicht das eigentlich Chinesische, die chinesische Kultur oder liegt in dieser Erwartung, das Fremde, das Eigentliche würde in diesem Kontext präsentiert, nicht eine unzulässige Naivität? -, dargelegt und eingefordert wurde als alleiniges Erklärungsmodell für die chinesische und deutsche Geschichte der historische Materialismus, ein in Europa entwickelter und inzwischen verabschiedeter Theorieentwurf. Sind andere Differenzierungen, etwa durch Religionen bestimmte, die in jüngster Zeit zu immer stärkeren Trennungen und Abgrenzungen geführt haben, für dieses Thema ergiebiger? Mit islamischen Ländern, die sich als Beispiel dafür eignen würden, sind bisher keine intensiven und offiziellen Schulbuchgespräche geführt worden. Die lateinamerikanischen Konferenzen - Chile/Argentinien, Mexiko/Guatemala - die freilich nicht kontinuierlich fortgeführt wurden, schienen gelegentlich Fremdes zu verdecken, weil sich unsere chilenischen Partner mit der Kultur ihrer europäischen Vorfahren identifizierten, in der Zusammenarbeit mit Mexiko und Guatemala dagegen trat der multikulturelle Charakter dieser Gesellschaften deutlicher hervor 16 . Zwar nehmen keine Vertreter diskriminierter Ethnien an diesen Konferenzen teil, aber die Teilnehmer waren sich - nicht zuletzt aufgeschreckt durch die zapatistischen Aufstände - der Problematik bewußt. Wie wird in einer multiethnischen Gesellschaft Geschichte gelehrt? Kann das mexikanische Beispiel Anregungen für europäische Schulbücher geben, die zunehmend Schülern und Schülerinnen verschiedener kultureller Herkunft ihre Geschichte vermitteln? Die Analyse der meisten mexikanischen Schulbücher zeigte, daß den Schülern aller Bevölkerungsgruppen ein einheitliches Bild der Nation gelehrt werden soll, um die Herausbildung einer nationalen kulturellen Identität, die nicht besteht, die Mexicanidad, zu erreichen.
14 Rainer Riemenschneider: Transnationale Konfliktbearbeitung. Die deutsch-französischen und die deutsch-polnischen Schulbuchgespräche im Vergleich, 1935-1997, in: Internationale Schulbuchforschung 2 0 (1998), 71-79. 15 Roland Barthes: Das Reich der Zeichen, Frankfurt (Μ.) 1981, 13f. 16 Michael Riekenberg (Hg.): Politik und Geschichte in Argentinien und Guatemala, Frankfurt (M.) 1994.
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Viele Projekte internationaler Schulbuchforschung beziehen sich auf unmittelbare Ländervergleiche. Die Darstellung eines beide Länder interessierenden Themas - nicht selten kontrovers beurteilte Ereignisse der gemeinsamen Geschichte - wird in den Schulbüchern verglichen, um Unterschiede der Konzeption und Interpretation, der methodischen Ansätze und gewählten Perspektiven herauszufinden. Wenn man sich an die Anfange der internationalen Schulbuchrevision am Ende des 19. Jahrhunderts und auf Initiative des Völkerbundes in der Zwischenkriegszeit erinnert, so war es die Hypothese von der verheerenden Wirkung von Feindbildern in den Schulbüchern auf das Geschichtsbewußtsein und die Weltsicht von Jugendlichen, die diese Bewegung zur Verbesserung durch Versachlichung der Darstellung antrieben. Schulbuchrevision bedeutete daher Eliminierung von Feindbildern. Doch wie erscheinen Feindbilder im Text? Es verwundert nicht, daß die engagierten Fachwissenschaftler und Lehrer, die in der Frühphase der Schulbuchforschung noch ganz unter der Erfahrung des Krieges, an die Arbeit gingen, über die Berichtigung von Fehlern Feindbilder zu verhindern meinten. Eine - dem Forschungsstand entsprechende - „richtige" Darstellung konnte keine Feindbilder mehr enthalten. Diese Annahme schien sich in einer Zeit, in der europäische Schulbücher einer einsinnigen nationalistischen Perspektive folgten und ganz naiv die eigene Nation zuungunsten der Nachbarn verherrlichten, auf den ersten Blick zu bestätigen, moderne Geschichtsbücher dagegen sind sehr viel komplexer angelegt und legen ihre Vorurteile und Stereotypen weniger offen und unverschleiert dar. Ihre Analyse verlangt ein sehr viel verfeinertes und subtileres methodisches Verfahren, das noch weiterer Entwicklungen bedarf. Das bloße fachwissenschaftliche Kriterium der Richtigkeit - d. h. der Übereinstimmung mit dem Forschungsstand - allein, das nicht aufgegeben, sondern präziser angewandt werden muß, verengt die Suche auf die Oberflächenstruktur der Sätze. Fehler auf dieser Ebene sind leicht entdeckt. Aber ist mir ihrer Richtigstellung die Wirkung des Textes auf das Bewußtsein der Schüler und Schülerinnen erkannt, die Entwicklung von Feindbildern bei ihnen ausgeschlossen? ® 17 . Zweifellos muß die Analyse differenzierter angelegt sein . Sie müßte sich zu einer Wirkungsforschung erweitern, die textlinguistische, soziologische und psychologische Elemente einschließt. Ein erster Schritt zu einer umfassenderen Einschätzung bestünde darin, die unterschiedliche Verwendung der Schulbücher zu berücksichtigen. In den südostasiatischen Ländern dienen die Schulbücher weitgehend als Kompendien des Wissens, die vorrangig zur Einprägung und Memorierung im Hinblick auf Prüfungen dienen. Zwar zeigt die Erfahrung, daß angelerntes Wissen rasch vergessen wird, dennoch läßt es in der Regel das Bewußtsein nicht unberührt, wird ihm doch als offiziell sanktioniertem Wissen ein hoher Stellenwert eingeräumt. Anders ist die Wirkung von Schulbüchern zu beurteilen, die als Arbeitsgrundlage im Geschichtsunterricht dienen. Sie wollen den Schülern und Schülerinnen kein fertiges, „richtiges" Geschichtsbild bieten, das es - wissenschaftstheoretisch begründet - nicht geben kann. So enthalten diese Bücher, die in Westeuropa verbreitet sind, Texte und Materialien, die verschiedene Perspektiven und unterschiedliche, kontroverse Urteile enthalten. Zwar sollen der Konzeption nach diese Quellen nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern zur Auseinandersetzung und zur historischen Urteilsbildung der Lernenden fuhren, doch ob dies gelingt und welche Vorstellungen ein und demselben Buch entnommen werden, entzieht sich unserer Kenntnis. Nicht immer ist bekannt, ob 17
Vgl. die verschiedenen relevanten Beiträge in: Internationale Schulbuchforschung 17 (1995), Heft 1, 5 bis 76, 95-103.
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das von der Schule ausgewählte Geschichtsbuch tatsächlich im Unterricht eingesetzt wird. Die vom Lehrer stattdessen verwendeten Materialien sind dem Schulbuchforscher unbekannt - ein Faktum, das bei einer stärkeren Nutzung des Internets ein noch größeres Gewicht bekommen wird. Kann so die für die Schulbuchforschung wichtige Wirkungsforschung zur Zeit eher sporadisch und dann exemplarisch herangezogen werden, so könnte die Textlinguistik ohne großen Aufwand das Analyseinstrumentarium verfeinern. Durch linguistische und medientheoretische Untersuchungen sollte die Tiefenstruktur des Textes erfaßt und seine impliziten Bedeutungen, seine verborgenen Annahmen („underlying assumptions") entdeckt werden. Die heute in vielen europäischen Geschichtsbüchern vielfaltig abgedruckten Bilder dürften dabei nicht als bloße Illustration des geschriebenen Textes aufgefaßt, sondern müßten als Zeichensysteme gelesen und in ihrer spezifischen Bedeutung entschlüsselt werden. Die Wirkung der Bilder auf das Bewußtsein der Schüler und Schülerinnen ist wohl bekannt, ohne daß sie meist in die Analyse der Schulbücher konstruktiv aufgenommen wird. Zwar enthält ein Bild auch eine Aussage, die auf einen Begriff gebracht und in eine Kenntnis oder Erkenntnis eingebracht werden kann, daneben oder auch darunter berührt der Anblick des Bildes die affektive Dimension des Lernens, weckt Anmutungen, ruft Gefühle der Anteilnahme, der Ablehnung, des Ekels, des Widerstandes hervor. Blendet man die irrationalen Wirkungen von Schulbuchelementen aus der Betrachtung aus, so übersieht man einen wichtigen Faktor bei der historischen Urteilsbildung: Was aufgrund des Informationstextes, der Auswertung von statistischem Material, der Interpretation verschiedenartiger Quellen als historische Erkenntnis benannt wird, kann durch die nicht zur Sprache gebrachten Anmutungen beim Betrachten von Bildern bei einzelnen Schülern und Schülerinnen entwertet sein18. Wenn auch geschichtsdidaktische Aspekte und Kategorien in der internationalen Schulbuchforschung in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen haben, so steht die fachwissenschaftliche Klärung kontroverser historischer Deutungen weiterhin im Zentrum der Diskussionen. In einer bemerkenswerten Untersuchung hat Falk P I N G E L das verbreitete übliche Verfahren internationaler Schulbuchforschung als „Konsensmodell" oder „Harmoniemodell" charakterisiert19: Diesem Verfahren liege der Gedanke zugrunde, daß der Vergleich verschiedener oder auch kontroverser Ansichten zu einem Kompromiß der Standpunkte fuhren müsse. Daher zielten die Empfehlungen auf das, was den Partnern gemeinsam sei, und blende gerade das Widerständige aus. Als pädagogisches Ziel sei zu erkennen, wie vieles in gleicher Weise verstanden wird, und damit werde die Erwartung begründet, daß die noch offenen Probleme gelöst werden könnten. Dagegen wendet Pingel ein, daß die Differenzen gerade für historisches Lernen bedeutsam sein können. Der Vorwurf ist nicht unbegründet, lädt doch das Verfahren des Vergleichs dazu ein, Gemeinsamkeiten herauszustellen. Und dennoch läßt sich zeigen, daß in den deutschpolnischen und den deutsch-französischen Schulbuchgesprächen nicht allein nach diesem Modell verfahren wurde. Die deutsch-polnische Schulbuchrevision fand im Kalten Krieg statt und konnte sich politischen Vorgaben nicht ganz entziehen. So durfte etwa, um ein signifikantes Bei" Ursula A.J. Becher: Schulbuch, in: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch - Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach (Ts.) 1998 [erscheint demnächst]. 19 Falk Pingel: UNESCO Guidebook on Textbook Research and Textbook Revision [erscheint demnächst].
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spiel zu nennen, der Hitler-Stalin-Pakt nicht erwähnt werden. Dennoch ist die Leistung dieser Kommission außerordentlich, wagte sie es doch in einer Zeit, in der Politiker und Medien sich jedem Dialog durch das Beharren auf der Grenzfrage entzogen, Empfehlungen für die Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen vom Mittelalter bis zur Nachkriegszeit zu entwickeln. Der Stil dieser Empfehlungen kann gelegentliche Anklänge an diplomatische Formeln nicht verbergen, so wenn - wie etwa in Empfehlung 13 - Ergebnisse der gemeinsamen deutsch-polnischen Kommission in Sollenssätze gefaßt sind . Die Bemühungen um Konsens freilich schließt die unterschiedlichen Sichtweisen gerade nicht aus, sondern hebt sie ganz bewußt hervor. Eine Weile wollte man sogar lediglich so^enannte „Selbstdarstellungen" gegenüberstellen, ohne ihre Vermittlung anzustreben . Etwas von dieser Tendenz findet sich in Empfehlung 4, in der die in der deutschen und polnischen Geschichtsschreibung unterschiedlichen Perspektiven zur Geschichte Pommerns und Schlesiens im Mittelalter begründet werden, deren Kenntnis hilfreich für das Verständnis unterschiedlicher Interpretationen ist. Programmatisch wird in der Einführung und im Vorwort zur ersten Auflage der Empfehlungen (1976) dargelegt, daß sich die Empfehlungen auf die „neuralgischen Punkte" (Gotthold ROHDE) der deutschen und polnischen Interpretation ihrer Geschichte beziehen, und nicht auf jene, bei denen Übereinstimmung besteht. „Sie bemühen sich in erster Linie dort um Aussagen, wo die Beurteilung der Ereignisse besonders kontrovers gewesen ist oder wo bisher die andere Seite zu wenig zur Kenntnis genommen wurde. Wichtige Ereignisse, über die es kaum Unterschiede in der Beurteilung gibt [...] bleiben deshalb unerwähnt." 2 Wenn auch nach der Feststellung Klaus ZERNACKS „im Detail mit Kompromissen gearbeitet werden mußte", so fallen doch bei der Lektüre der Empfehlungen solche Sätze auf, die die Offenheit des Diskurses dokumentieren, wie etwa die Empfehlung 6 (Polen und der Deutsche Orden): „Dieser Problemkomplex bedarf trotz gewisser Fortschritte, die auf der Konferenz in Thorn im September 1974 erzielt werden konnten, noch weiterer gründlicher Behandlung."23 In seinem Rückblick „ 2 0 Jahre danach" hat Klaus ZERNACK die Mängel der deutschen und polnischen Schulbücher in ihrer Darstellung der gemeinsamen Geschichte so charakterisiert: „Während die Mängel in deutschen Schulbüchern auf das Konto der Ignoranz und des Dilettantismus gingen, waren sie auf polnischer Seite durch parteiliche Überzeugungspädagogik verursacht."24 Auch in anderen Schulbuchprojekten sind es häufig Indifferenz und Unkenntnis, weniger bewußte Irreführung, die zur fehlerhaften Darstellung geführt haben. So werden in den deutsch-französischen Empfehlungen neben Einseitigkeiten auch „Wahrnehmungsdefizite" beklagt. So führt internationale Schulbuchforschung zu einer veränderten genaueren Wahrnehmung des anderen, der fremden Kultur. Um dies noch präziser tun zu können, ist - darin ist Falk Pingel zuzustimmen - ein neuer, umfassender Zugang notwendig, um die Konstruktion von Gruppenidentitäten 20
Empfehlungen für die Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen. Erweiterte Neuauflage, Braunschweig 1995, 23. 21 Vgl. Klaus Zernack: Zwanzig Jahre danach, in: ebd., 8. 22 Ebd., 13f. 23 Ebd., 19. 24 Ebd., 9.
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von Selbst- und Fremdbildern in den Texten zu erfassen . Geschichtsbücher enthalten über die Darstellung bestimmter historischer Themen hinaus gleichsam einen Überschuß an Bedeutung, werden doch mit den Interpretationen Bilder vermittelt, Ansichten der Welt wie auch Bilder des Selbst und - oft in Absetzung oder Abgrenzung - das Bild des Anderen. Dies wird offenkundig in der Darstellung politischer oder kriegerischer Konflikte, ist aber in subtiler verwandten Unterscheidungen immer anwesend, bei der Beschreibung von Sitten und Gebräuchen des Alltags wie bei der Reflektion gesellschaftlicher Wandlungen. Es scheint, daß diese Unterscheidung von „Ich" und „Du", „Wir" und „Sie", vom „Selbst" und den „Anderen" dem Menschen eigentümlich ist, der sich in Raum und Zeit orientieren und seinen Platz finden muß. Wer bin ich? Wer sind wir? Beide Fragen, ergänzt durch solche nach Herkommen und Zukunft, sind notwendig im Prozeß der eigenen Identitätsbildung. Wolfgang JACOBMEYER hat Geschichtsbücher einmal „nationale Autobiographien" 26 genannt und mit dieser Bennenung die Form offiziöser Selbstdarstellung charakterisiert, die Schülern und Schülerinnen vorgelegt wird. Aber dieser Begriff läßt sich noch anders, umfassender deuten: Ein Schulbuch zur Nationalgeschichte enthält eine Fülle selbstbezüglicher Zeichen. Wie in einer individuellen Autobiographie wird der bislang zurückgelegte Lebensweg reflektiert, bestimmte bedeutsame Ereignisse vergegenwärtigt, im Gewirr zunächst unbegriffener Schicksale und vermeintlicher Zufälle Strukturen erkannt, Zukünftiges imaginiert. Nun finden sich Selbstbilder nicht allein in nationaler Konnotierung. Bei der Vielzahl denkbarer Identifikationen kann sich das Selbstbild aus ganz verschiedenen Gruppenbezügen aufbauen, seien es regionale, konfessionelle, kulturelle. Aus der Beschreibung und Definition fremder Kultur wird das Bild der eigenen gewonnen, zumindest schärfer wahrgenommen. Freilich muß die Darstellung offen angelegt sein, um das Wechselspiel zwischen den Kulturen einzufangen, die sich beeinflussen und befruchten. Der oder das Andere ist nicht der Feind, sondern das Gegenüber, von dem man sich abhebt und mit dem man sich doch in Beziehung setzt, ein Umgang, der starre Entgegensetzungen abschleift. In den Schulbüchern sind solche Veränderungen im Wechsel von Zuschreibungen und Interpretationen deutlich. Ein Vergleich der Darstellung der Französischen Revolution in den deutschen Schulbüchern der Kaiserzeit und der Gegenwart zeigt, daß sie von einem abscheulichen Exempel der Pöbelherrschaft als dem ganz Anderen heute zum Teil unserer Geschichte geworden ist. Dabei sind eine Fülle ehemaliger Zuschreibungen in neuen Wertungen aufgehoben, so die ehemals beharrliche Unterscheidung von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation. Nicht immer entwickelt sich die Unterscheidung von Selbst- und Fremdbildern innerhalb eines Konzepts friedlichen Austauschs. Die Bilder können in einer konfliktreichen Beziehung feindlich stereotypisiert werden. Zwischen dem überhöhten Selbst und dem gegnerischen Feindbild entsteht dann lediglich eine negative Beziehung. Auch fur diese Art der Darstellung gibt es im interkulturellen Dialog Beispiele. Sie werden am konstruktivsten bearbeitet in Projekten internationaler Schulbuchforschung, die über bloße Ländervergleiche hinausgehen und Vertreter mehrerer Länder über ein sie alle betreffen25
Falk Pingel: Α wider approach to textbook analysis: the construction of group identity, in: U N E S C O Guide. 26 Wolfgang Jacobmeyer: Konditionierung von Geschichtsbewußtsein: Schulgeschichtsbücher als nationale Autobiographien, in: Gruppendynamik (23) 1992, 375-88.
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des Thema zur Zusammenarbeit einladen. Die Darstellung der Balkankriege in serbischen, ehemals jugoslawischen, griechischen, türkischen, mazedonischen Schulbüchern war ein solches Thema, das alle Beteiligten zu einer Reflektion eigener und der anderen Perspektiven veranlaßte und ethnische Stereotypen aufdeckte, die zu weiterem Nachdenken und zu kontinuierlicher Arbeit anregte . Bei einem weitergefaßten Ansatz, der vielfältige Identifikationen und Identitäten wahrnimmt und Selbst- und Fremdbilder aufmerksam analysiert und reflektiert, werden die interkulturelle Dimension der Schulbuchforschung deutlich und ein interkultureller Dialog als Aufgabe wichtig. In Projekten mit außereuropäischen Partnern internationaler Schulbuchforschung wird zudem ein neuer Blick auf Europa möglich: Die Eigentümlichkeit und die Einheit Europas wird dem europäischen Partner in dem Augenblick zur Erkenntnis, in dem gegenüber dem Anderen Europa als das Eigene, das Selbst, begriffen wird. Statt der bisherigen Bezüge zur Nation oder Region wird aus der chinesischen oder japanischen Perspektive Europa neu gedacht. Die Möglichkeit, verschiedene und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Identifikationen zu wechseln, Bilder zu vergleichen, ist eine Voraussetzung für diesen interkulturellen Dialog. Damit ist nicht die Beliebigkeit von Standpunkten oder pure Standpunktlosigkeit gemeint, sondern Reflektion auf das Eigene und das Fremde, von Selbst- und Fremdbildern. In dieser Weise sucht die internationale Schulbuchforschung einen Weg zur interkulturellen Verständigung.
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Wolfgang Höpken: Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa, Hannover 1996.
Klaus Fröhlich Narrativität im Geschichtsunterricht oder: Die Geschichtserzählung vom Kopf des Lehrers auf Schülerfüße stellen 1. Revival des Erzählens in Geschichtskultur und Geschichtsunterricht Schaut man sich in den Äußerungen der Geschichtskultur um, so kann man sich leicht überzeugen: Geschichte „erzählen" hat Konjunktur. Gesucht ist das Farbige, Individuelle, das lebendige Einzelne, das gemütvoll Warme, das sich in der Vorstellung vom Erzähler und seiner Gemeinde erwarten läßt. Gesucht ist die Überschaubarkeit, Geschlossenheit und Wertesicherheit, wie sie in der narrativen Konsistenz und Überzeugungskraft einer guten Erzählung zu finden sind. Der Markt populärer historischer Literatur, die bunten Fernsehspiele, oft mit illustriertem Buch zum Film, der Erfolg ästhetisierender, die Sinne angenehm ansprechender Museumspräsentationen zeugen davon. Auch der Geschichtsunterricht in den Schulen, die am stärksten institutionalisierte und regulierte Äußerung der Geschichtskultur, kann davon nicht unberührt geblieben sein, wenn man die wachsende Zahl von Erzählanregungen und Mustersammlungen in den Produktpaletten der Lehrmittelanbieter als Index nimmt1. Die Wertschätzung des Erzählens hat Hans-Jürgen PANDEL als Reaktion auf den Verlust an ästhetischer Gestaltung und kultureller Gliederung unserer Alltagswelt in der (post-)modernen, normierten Zivilisation gedeutet . Oft scheint sich in solchem „Erzählen" in der Tat eine ästhetisierende Wendung gegen, oder besser: eine Flucht aus dem Rationalitäts- und Effektivitätsdruck des täglichen Lebens zu vollziehen. Entsprechend läßt sich auch die Wiederentdeckung der Erzählung im Geschichtsunterricht interpretieren. Der erzählende Unterricht erscheint dann als die Reaktion auf den theoriebefrachteten, Papiere scheinbar zusammenhanglos hin und her schiebenden Geschichtsunterricht „auf Quellenbasis", wie er sich seit ROSENBERGERS Verdikt über die Lehrererzählung3 im Gefolge der curricularen Wende der Geschichtsdidaktik seit der Mitte der sechziger Jahre in den Schulen breitgemacht haben soll4 - ein Unterricht, der die Schüler anödet und die von der Quellenschnipselproduktion am Kopierer erschöpften 1 Siehe u.a.: Geschichte und Abenteuer, Heft 1-5, Bamberg 1993-96; Harald Parigger: Geschichte erzählt. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 21995; ders.: Die Fundgrube fllr den Geschichts-Unterrricht. Das Nachschlagewerk für jeden Tag, Berlin 1996; Freya Stephan-Kilhn: Was in den Höhlen begann, Würzburg 1992 (von ders.n Autorin sind seit Jahren aus dem Arena-Verlag Taschenbücher mit Titeln wie Viel Spaß mit den alten Römern, Viel Spaß im Mittelalter u.a. im Handel); das Geschichtenbuch für den Geschichtsunterricht in der DDR von Herbert Mühlstädt: Der Geschichtslehrer erzählt, Berlin, hat 1991 noch eine Neubearbeitung in 4 Bänden erfahren, wird im VLB aber jetzt nicht mehr geführt. 2 Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen, in: Geschichte lernen, Heft 2 (1988), 8. 3 Dieter Riesenberger: Die Lehrererzählung im Geschichtsunterricht, in: Hans Süssmuth (Hg.): Historischpolitischer Unterricht. Medien, Stuttgart 1973,41-69. Die massivste Kritik am quellengestützen Arbeitsunterricht hat Gerhard SCHOEBE 1983 formuliert, konnte damit aber letztlich nicht durchdringen. Er setzte ganz auf die Verantwortung des Lehrers für die Erzeugung eines einheitlichen Geschichtsbildes durch „plastische Geschichtsdarstellungen", ohne dafür die Geschichtserzählung als methodische Alternative zur Quellenarbeit explizit ins Spiel zu bringen. Gerhard Schoebe: Quellen, Quellen, Quellen... Polemik gegen ein verbreitetes Unterrichtskonzept, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983), 298-317.
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Lehrer frustriert. Die Rückkehr zum erzählenden Unterricht verheißt dagegen wieder Ruhe in der Klasse, womöglich interessierte Aufmerksamkeit für die Worte des Lehrers, leuchtende Augen, rote Ohren. Es ist nicht zu verkennen, daß es sich bei der unterrichtlichen Geschichtserzählung in einem solchen Verständnis um eine Methode zur Beeindruckung der Kinder handelt, eine Methode, deren Erfolg - die roten Ohren - von der Erzählkunst des Lehrers und nicht von der Lernleistung der Schülerinnen und Schüler abhängt. Hinsichtlich der transportierten Inhalte handelt es sich um eine persuasive Methode, die den Schülern mehr Hingabe als Einsicht, mehr Identifikation als Erkenntnis abverlangt. In beiden Hinsichten steht die so verstandene Erzählung in der Tradition der alten Erzähldidaktik, wie sie, aus dem vaterländischen Unterricht des 19. Jahrhunderts überkommen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang der pädagogischen Reformbewegung „vom Kinde her" theoretisch begründet worden ist und die Praxis des Geschichtsunterrichts bis weit in die sechziger Jahre hinein geprägt hat 5 : novellistisches, nach literarischen Gesichtspunkten absichtsvoll gestaltetes Erzählen als die dominierende Methode der Heranführung der Kinder an die wesentlichen Dinge der Welt im Sinne eines vorgedachten Bildungsplanes. Insofern muß sich auch ein erneuerter erzählender Unterricht im beschriebenen Verständnis grundsätzlich alle die didaktische Kritik gefallen lassen, die die alte Geschichtserzählung zu Recht einst in Verruf und angeblich zum Verschwinden gebracht hat 6 . Es mag dahinstehen, ob mit der Erzählkunst der Lehrer die Motivationslücke im öffentlichen Geschichtsunterricht zu schließen ist. Eine Antwort auf die mittlerweile alt gewordene Frage der Geschichtsdidaktik, wie ein Geschichtsunterricht im Interesse der Schülerinnen und Schüler möglich sein kann 7 , der zugleich die Ansprüche der Gesellschaft auf die Bildung mündiger, zu Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung fähiger Bürger zu befriedigen verspricht8, ist von solchen Erzählversuchen kaum zu erwarten. In die geschichtsdidaktische Diskussion im engeren Sinne ist das Erzählargument von zwei Seiten eingeführt worden. Zunächst wurde nach der erzählenden Darstellung gerufen, um die offensichtlichen Defizite, die die Emanzipations- und Aufklärungsdidaktik im Bereich der affektiven Lernzieldimension aufwies, abzugleichen 9 . Erzählungen, die betroffen machen, sollten die Fähigkeit und Bereitschaft zum Mitleben und Mitleiden stärken, die Distanz zu den vergangenen Realisationsweisen menschlicher 5
Siehe Michael Jung: Die Geschichtserzählung in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht seit 1900 unter besonderer Berücksichtigung der Volksschule, in: Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982, 104-28. 6 Zusammenfassend Gerhard Schneider: Geschichtserzählung, in: Klaus Bergmann u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 5 1997,434-40. 7 Die beiden ersten Hefte der Zeitschrift Geschichtsdidaktik im Jahre 1976 standen unter dem Titel Warum sollen Schüler Geschichte lernen? und Wie sollen Schüler Geschichte lernen?. Siehe darin insbesondere die Beiträge von Klaus Bergmann: Warum sollen Schüler Geschichte lernen?, in: Geschichtsdidaktik 1 (1976), 3-14, und Annette Kuhn: Wozu Geschichtsunterricht? Oder ist ein Geschichtsunterricht im Interesse des Schülers möglich?, in: ebd., 39-47. 8 Vgl. Landtag von Nordrhein-Westfalen: Geschichtsunterricht im demokratischen Staat, in: Geschichtsdidaktik 5 (1980), 221-24; dazu: Klaus Fröhlich/Jürgen Jahnke: Dornröschen, oder wird der Geschichtsunterricht wachgeküßt? Geschichtsunterricht in demokratischer Absicht, in: ebd., 225-30. 9 Michael Tocha: Die Tränen des Prinzen oder Versuch, die Geschichtserzählung auf die Füße zu stellen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27 (1976), 619-24; ders.: Zur Theorie und Praxis narrativer Darstellungsformen mit besonderer Berücksichtigung der Geschichtserzählung, in: Geschichtsdidaktik 4 (1979), 209-22.
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Existenz verringern und mit dem Interesse schließlich auch die Kenntnis und Erkenntnis historischer Zusammenhänge voranbringen. Von TOCHAS „Tränen des Prinzen" fuhrt eine Spur zu den aktuellen Diskussionen der neunziger Jahre über die emotionalen Komponenten im historischen Lernen10 wie über die Bedeutung der Imagination für die historische Wahrnehmung und Darstellung", in denen die Erzählproblematik stets wie selbstverständlich, wenn nicht sogar ausdrücklich und thematisch, präsent ist. Zum anderen ist der Geschichtsdidaktik der Erzählbegriff aus einer ursprünglich rein geschichtstheoretischen Diskussion über die narrative Struktur historischen Wissens zugewachsen12. Es war Jörn RÜSEN, der in einem grundlegenden Aufsatz 1982 „Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik"13 gezogen und diesen Ansatz in der Folgezeit bis zum Grundriß einer Theorie des historischen Lernens weiterverfolgt hat14. „Historisches Erzählen" in einem umfassenden Sinne als „Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden", wird hier zum geschichtsdidaktischen Prinzip, das sowohl das Ziel des Lehrens der Geschichte, nämlich die vernünftige Bildung des Geschichtsbewußtseins und mithin die Inhalte des Unterrichts betrifft, als auch die Form des Lernens von Geschichte und mithin die Lernmethoden. Dagegen ist charakteristisch für die Rezeption der narrativitätstheoretischen Argumente in jener geschichtsdidaktischen Literatur, die sich der Pragmatik des Geschichtsunterrichts stärker annimmt als RÜSEN das tut, daß sie das historische Erzählen 15 meist als Problem „der Geschichtsdarstellung in Wissenschaft und Unterricht" , d.h. der Präsentation des Gegenstandes im Geschichtsunterricht traktiert. So behandeln die drei im Dezemberheft der GWU 1997 unter dem Titelstichwort „Geschichte erzählen" 16
vereinigten Beiträge die Geschichtserzählung als Medium und Methode des Unterrichtens. Im Rekurs auf die lebensweltlichen Grundlagen des Erzählens und im Bewußtsein der umfassenden Bestimmungen der Narrativitätstheorie suchen sie Wege zur Wiedergewinnung bzw. Erneuerung der Geschichtserzählung in angemessen veränderter Gestaltung als legitimes, ja notwendiges Register des Geschichtsunterrichts. Mit der Forderung nach „kritischer Dekonstruktion historischer Erzählungen" als notwendigem Komplement zur „konstruktiven Narration" (HASBERG) und mit dem Hinweis auf „gebrochene" Erzählformen, die den Schülern Eingriffsmöglichkeiten bieten und den Un10
Siehe den Tagungsband der Konferenz für Geschichtsdidaktik 1991 in Braunschweig: Bernd Mütter/Uwe Uffelmann: Emotionen und historisches Lernen. Forschung - Vermittlung - Rezeption, Frankfurt (M.) 1992. " Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, Paderborn 1994; Bodo von Borries: Imagnierte Geschichte. Die biografische Bedeutung historischer Fiktionen und Phantasien, Köln 1996. Zusammenfassung der Grundzüge dieser Rezeption bei Hilke Günther-Amdt: Der grüne Wollfaden oder Was heißt „Geschichte erzählen" heute? Zu alten und neuen Problemen der Geschichtsdarstellung in Wissenschaft und Unterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985), 684-702. 13 In: Quandt/Süssmuth 1982, 129-70. Die wichtigsten Arbeiten sind jetzt zusammengestellt in: Jörn Rüsen: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Köln 1994 (a), darin 74-121 der Text: Historisches Lernen - Grundriß einer Theorie, in dem zwei Aufsätze aus den Jahren 1985 und 1987 zusammengezogen sind. R Ü S E N S geschichtsdidaktische Konzepte sind auf dem Hintergrund seiner geschichtstheoretischen Arbeiten zu lesen. Siehe dazu die Aufsatzsammlungen: Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt (M.) 1990; ders.: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden, Köln 1994(b). 15 Untertitel zu Günther-Arndt 1985. Wolfgang Hasberg: Klio im Geschichtsunterricht. Neue Perspektiven fUr die Geschichtserzählung im Unterricht?; Rolf Schörken: Das Aufbrechen narrativer Harmonie. Für eine Erneuerung des Erzählens mit Augenmaß; und als „Stichwort zur Geschichtsdidaktik": Joachim Rohlfes: Geschichtserzählung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 708-26; 727-35; 736-43.
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terricht zum Wechsel der Perspektiven und der Reflexionsebenen zwingen (SCHÖRKEN), wenden sie zwar den methodischen Zweck der alten Erzählformen in sein Gegenteil, bleiben aber im Repertoire der darbietenden Unterrichtsmethoden und setzen insofern für ihren Begriff des unterrichtlichen Erzählens weiterhin auf den Kopf des Lehrers. Die geschichtsdidaktische Diskussion hat bisher keine zulängliche Auskunft gegeben, wo und wie denn die Schülerinnen und Schüler das historische Erzählen erlernen können. 2. Lernziel narrative Kompetenz Um den Argumentationsraum auszumessen, in dem nach Antworten auf diese Fragen gesucht werden kann, ist es nötij», an Jörn R Ü S E N S didaktische Konsequenzen aus der Narrativitätstheorie zu erinnern . Sie sind in der Auseinandersetzung um die Geschichtserzählung kaum oder nur sehr unzureichend rezipiert und bedacht worden, obwohl hier die Argumente bereitgestellt sind, mit denen sich begründen läßt, daß und warum Schülerinnen und Schüler das historische Erzählen lernen müssen, wenn sie denn Geschichte lernen sollen. R Ü S E N thematisiert das historische Lernen als Prozeß der Bildung von Geschichtsbewußtsein, in dem sich das lernende Subjekt die objektiv vorgegebenen zeitlichen Veränderungen des Menschen und seiner Welt als subjektiven Bewußtseinsinhalt aneignet und in seinem „geistigen Haushalt" verfügbar macht. Er geht aus von dem geschichtstheoretisch begründeten Konstitutionszusammenhang von „Geschichte" als Sachverhalt und der Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins. Geschichte als Inbegriff des Wissens von dem vergangenen menschlichen Handeln und Leiden kann nicht unabhängig von den Interessen und Absichten der gegenwärtig handelnden und leidenden Menschen, die sich um solches Wissen bemühen, gedacht, erkannt und erworben werden. Geschichte ist nicht einfach da und beliebig anzueignen, zu „vermitteln" oder beizubringen. „Geschichte ist vielmehr ein bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen vergangenem und gegenwärtigem Handeln", den gegenwärtig lebende Menschen denkend herstellen, um ihr kontingentes Handeln an übergreifenden Normen der Lebenspraxis orientieren zu können1 . Jede historische Aussage birgt so einen konstitutiven Gegenwartsbezug, ist eine Aussage über das Verhältnis von Vergangenem zu Gegenwärtigen, ist eine Aussage über Zeit als Lebenszeit und deren Qualität, die an der Erwartung eines menschenwürdigen Daseins gemessen wird. Historisches Denken stellt so ein Bewußtsein von dem lebens- und überlebensnotwendigen Zusammenhang her zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es enthält die Erinnerung an vergangenes tatsächliches menschliches Handeln und Leiden, und es bildet über die darin enthaltene Erfahrung einer qualitativen Differenz der Zeiten ein Urteil in der Form einer Kontinuitätsvorstellung, die so gebildet wird, daß die Erwartung, im Wandel der Zeit zu überleben, eine begründete Perspektive gewinnt - kurz, daß Identität gesichert wird. Für den Geschichtsunterricht bedeuten diese Bestimmungen die spezifische Schwierigkeit, seinen Lerngegenstand nicht einfach verfügbar zu haben, sondern buchstäblich Stunde für Stunde in der unterrichtlichen Interaktion herstellen zu müssen. Da es im Geschichtsunterricht nicht um beliebiges oder durch staatliche Verordnung kanonisiertes und so der Beliebigkeit entronnenes Geschichtswissen geht und gehen soll, sondern um das Geschichtsbewußtsein der Schülerinnen und Schüler, muß der Unterricht notwendig 17
Zum folgenden s. Rtlsen 1982, insbesondere 145-56. " Jörn Rtlsen: Geschichte als Wissenschaft, in: Bergmann u.a. 1997, 101.
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auf die geistigen Operationen eines Bewußtseins abstellen, dessen Inhalt „Geschichte" im Sinne des für das Lernsubjekt bedeutsamen Zusammenhangs von Vergangenheit und Gegenwart ist. Diese Operationen sind: Wissen um das vergangene menschliche Handeln und Leiden, (Be-)Deuten der qualitativen Zeitdifferenz zwischen damals und heute, Orientieren im Zeitstrom auf Gegenwart und Zukunft hin19. Wenn dem Geschichtsunterricht die seit langem von keiner Seite bestrittene Aufgabe zukommt, Geschichtsbewußtsein zu bilden, muß er sich darauf einlassen, die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu entwickeln, Vergangenheit zu erinnern, Zeitdifferenzerfahrung zu deuten und die eigenen wie die gesellschaftlichen Hoffnungen auf ein menschenwürdiges Leben an einer realistischen Perspektive zu orientieren, die die Lebensspanne umgreift und über sie hinausweist. Die Operationen des Wissens, Deutens und Orientierens bilden damit die Dimensionen des historischen Lernens, auf die sich die didaktische Intentionalität des Unterrichts beziehen muß. Die Tätigkeit, in der die mentalen Operationen des Geschichtsbewußtseins integriert sind und sich artikulieren, ist die des „Erzählens". Historisches Denken hat stets eine narrative Struktur, oder um es mit Hans Michael BAUMGARTNER zu sagen: „Alle Geschichte [ist] zunächst in Erzählungen über Vergangenes, d.h. in Geschichten, präsent."20 Eine zugleich empirisch gehaltvolle und subjektiv bedeutsame Vergangenheitserinnerung verlangt eine narrative Explikation, in der der Wandel von Lebensweisen im Laufe einer definierten Zeitspanne vor Augen gestellt und durch die Angabe dessen, was mit dieser Lebensweise in der Zwischenzeit geschehen ist, erklärt wird21. Die historische Erzählung, die nichts anderes als eine solche Erklärung darstellt, ist nicht definiert nach Kriterien und Gestaltungsnormen der literarischen Gattung, sondern nach sachlichen Gehalten. Sie enthält drei Elemente: Das Element der Retrospektivität, das die „temporale Sequenz" bestimmt, den Zeitausschnitt, der im Blick ist; das Element der Partikularität, das die „selektive Verknüpfung" der tatsächlich geschehenen und hier berichteten Ereignisse leistet, und das Element der Konstruktivität, das „die Bedeutung" der thematisierten Zeitdifferenzerfahrung, den Sinn der Geschichte, zum Ausdruck bringt22. Diese Elemente sind dem historischen Erzählen nicht äußerlich, nicht von dritter Seite zugemutet, sondern sie markieren exakt den Vorgang, in dem, mit DROYSEN ZU sprechen, „aus Geschäften Geschichte" wird. Der Zeitsinn, den die erzählte Geschichte intendiert, kann selbstverständlich von Fall zu Fall höchst unterschiedlich und argumentativ differenziert begründet sein. Prinzipiell zieht aber der Begriff der Zeit selbst der Sinnbildung eine systematische Grenze. Die Fülle der historischen Sinnbildungen läßt sich daher, wie RÜSEN gezeigt hat, vier idealtypisch zu verstehenden Sinnbildungsmustern zuordnen: dem Typus der traditionalen Sinnbildung - sie erinnert an Ursprünge gegenwärtiger Lebensformen, die bewahrt oder wiederbelebt sein sollen; dem Typus der exemplarischen Sinnbildung - sie erinnert an Fälle in der Vergangenheit, die die Geltung allgemeinerer, zeitlich übergreifender Lebensregeln demonstrieren; dem Typus der kritischen Sinnbildung - sie stellt geltende
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Siehe im einzelnen den Aufsatz von 1993: Erfahrung, Deutung, Orientierung - drei Dimensionen des historischen Lernens, in: Rilsen 1994 (a), 64-73. 20 Hans Michael Baumgartner: Narrativität, in Bergmann u.a. 1997, 157. 21 Zur Logik des für historische Zusammenhänge maßgeblichen narrativen Erklärens nach Danto im Unterschied zum nomologischen und intentionalen Erklären s. Jörn Rtisen: Gesetze, Erklärungen, in: Bergmann u.a. 1997, 164-69. 22 Nach Baumgartner 1997, 157.
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Lebensordnungen oder zugemutete Orientierungen in Frage; dem Typus der genetischen Sinnbildung - sie erinnert an Veränderungen, die aus der vergangenen, anderen Lebensform in gegenwärtige Lebensordnungen fuhren und auf diese Weise Lebenschancen eröffnen 23 . Welches der vier Sinnbildungsmuster im einzelnen Falle in Anspruch genommen wird, hängt von vielen Faktoren ab, darunter sicher auch von der Fähigkeit des „Erzählers", über dieses oder jenes Muster zu verfugen; insoweit sind die Sinnbildungstypen lehr- und lernbar. Da es sich hier aber um Funktionstypen handelt, die die Deutungsund Orientierungsleistungen des Geschichtsbewußtseins differenzieren, dürfte die jeweilige Lebenssituation mit ihren spezifischen Problem- und Interessenlagen einen entscheidenden Einfluß auf die Wahl des Sinnbildungsmusters ausüben. Es ist eine unbewältigte Aufgabe der Geschichtsbewußtseinsforschung, Situationsklassen herauszufinden, in denen je bestimmte Sinnbildungsmuster mobilisiert werden. Ebensowenig hat sich bisher RÜSENs Hypothese, daß die Entwicklungslogik der vier Typen auch die Ontogenese des Geschichtsbewußtseins in der individuellen Sozialisation bestimme 24 , empirisch bekräftigen lassen. Für den Geschichtsunterricht bedeuten diese Bestimmungen des historischen Erzählens als integrale Artikulation der Operationen des Geschichtsbewußtseins, daß Schülerinnen und Schüler, die historisch lernen sollen, mit den gebotenen Sinnbildungsmustern funktionsgerecht umzugehen und sinnvoll zu erzählen lernen müssen 25 . Die Narrativitätstheorie stellt ein heuristisches Instrumentarium bereit zur Analyse dessen, was in dieser Hinsicht im Geschichtsunterricht immer schon geschieht; und sie legt darüber hinaus der Geschichtsdidaktik nahe, die Ziele des historischen Lernens im Geschichtsunterricht, nämlich die Entwicklung der Fähigkeit zu den Operationen des Geschichtsbewußtseins, fachspezifisch so zu differenzieren, daß sie als Dimensionen eines oberen Lernziels narrative Kompetenz26 gedacht und operationalisiert werden können. Historisches Lernen ist balancierter Kompetenzzuwachs in den Funktionsfeldern des Geschichtsbewußtseins: Im Bereich des fVissens - mehr, besseres und sichereres Wissen über das, was in der Vergangenheit der Fall war und uns heute betrifft durch Rezeption der Überlieferungen; im Bereich der Deutung - Erweiterung, Differenzierung und „Verflüssigung" des Deutungsrepertoires im Sinne zunehmender Verfugung über die Grundmuster historischer Sinnbildung bei der subjektgerechten Rekonstruktion gegenwartsrelevanter zeitlicher Zusammenhänge; im Bereich der Orientierung - Überwindung partikularer, sich über den Anderen erhebender Orientierungen durch ihre Transformation unter der universellen Perspektive einer Idee der Menschheit 27 . Dieser drei-
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Rüsen 1982, 140-45; ders.: Historisches Erzählen, in: Bergmann u.a. 1997, 59-62. Die Unterscheidungen gehen zurück auf eine an der Geschichtssschreibung entwickelte Erzähltypologie: Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens [1982], in: Rüsen 1990, 153-230. 24 Rüsen 1982, 157-61 und öfter. 25 Daß die vier Typen fur die Praxis des Geschichtsunterrichts relevant sind, ist in den Beiträgen von HansPeter Appel/Thomas Lorenzen: Traditionale Sinnbildung im Geschichtsunterricht; Hans-Günter Schmidt: Exemplarisches historisches Erzählen; Klaus Fröhlich: Anmerkung zum Typus der kritischen Sinnbildung im Geschichtsunterricht; und Hildegard Vörös-Rademacher: Was heißt: Geschichte genetisch erzählen können?, in: Geschichtsdidaktik 10 (1985), 273-300 aufgezeigt. 26 Siehe insbesondere Rüsen 1982, 149-56 sowie aus dem Grundriß einer Theorie des Historischen Lernens den Abschnitt 7: Zur normativen Orientierung historischer Lernprozesse, in: Rüsen 1994 (a), 101-10. 27 Zu dieser nicht zufälligen Perspektivierung des historischen Lernens s. Klaus Fröhlich/Jörn Rüsen (Hg.): Menschenrechte im Prozeß der Geschichte. Historische Interpretationen, didaktische Konzepte, Unterrichts-
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fache Kompetenzzuwachs erweist und bewährt sich in der Entwicklung der Fähigkeit, historisch erzählen zu können. Narrativität im Geschichtsunterricht ist daher nicht eine bloße Eigenschaft oder Stilisierung der vom Lehrer verbal oder durch das Medienarrangement zu leistenden Geschichtspräsentation. Narrativität muß notwendig auch die Struktur der Lernakte der Schülerinnen und Schüler prägen. Die Schlußfolgerung, daß die Schülerinnen und Schüler das historische Erzählen lernen müssen, wenn sie Geschichte lernen sollen, ergibt sich zwingend aus der Einsicht in die Struktur des historischen Lernens. 3. Geschichtsunterricht als Erzählveranstaltung Die Frage, wo denn die Schülerinnen und Schüler das historische Erzählen lernen sollen, ist ebenfalls im Blick auf die narrative Struktur des historischen Denkens zu beantworten. Geschichte, als narrative Rekonstruktion eines bedeutungsvollen Zusammenhanges der Zeitebenen verstanden, ist immer ein kommunikativer Prozeß. Zum Erzählen gehören mindestens zwei: Erzähler und Zuhörer. „Jemandem eine wahre Geschichte erzählen + Jemandem zuhören, der eine wahre Geschichte erzählt" - das ist der Vorgang, in dem sich Geschichte als soziale Interaktion konstituiert 28 . Erzähler und Zuhörer sind in der gegebenen Erzählsituation, die von einer prinzipiellen Gemeinsamkeit der Fragen und Absichten getragen ist, zusammengeschlossen. In einer solchen Situation liegt die Chance zur symmetrischen Kommunikation, denn Erzählen und Zuhören „bilden einen unentwirrbaren Zusammenhang (Textum), für den nicht einer als der macht- und verantwortungsvoll Handelnde, die anderen als die Behandelten zu gelten haben." 29 Der Erzähler, der auf Fragen und Absichten der anderen keine Rücksicht nimmt, wird keine Zuhörer finden; Zuhörer, die sich nicht auf die Absichten des Erzählers einlassen mögen, werden sprachlos bleiben, wenn es darum geht, ihre Absichten mit denen der anderen in Einklang zu bringen. In beiden Fällen mißlingt die Kommunikation, Langeweile breitet sich aus. (Dies droht der wie auch immer erneuerten auktorialen Geschichtserzählung im Unterricht.) RÖTTGERS These von der Geschichtserzählung als kommunikativem Text formuliert die Einsicht in die Abhängigkeit historischen Wissens und Denkens von gegenwärtigen Interessen und Absichten und darin gründenden (Erzähl-)Situationen auf einer kommunikationstheoretischen Ebene. Sie beschreibt die Bewegungen des Geschichtsbewußtseins, deren Zweck die Orientierung des Subjekts in der Zeit ist, als eine spezifische soziale Interaktion, nämlich als Herstellung von Gemeinsamkeit zwischen sich wechselseitig anerkennenden Subjekten (InterSubjektivität) durch die Konstruktion von Kontinuitäten ihrer Handlungstraditionen und Handlungsabsichten (Intertemporalität). Und solche Gemeinsamkeit wird buchstäblich hergestellt in der Handlung des Erzählens. „Wir erzählen uns Geschichten, weil wir auf die Gemeinsamkeit einer Erfahrungswelt angewiesen sind, wenn wir uns in der Welt und im Handeln wirksam orientieren wollen; wir erzählen uns Geschichten, um in Kommunikationen zu lernen, die je eigene Welt als eine gemeinsame Welt zu erfahren, und um zu gewährleisten, daß die Gegenwart, die
materialien, Pfaffenweiler 1990; darin besonders: Jörn Rüsen: Menschen und Bürgerrechte als historische Orientierung - Vorschläge zur Interpretation und didaktischen Analyse, 1-31, wieder abgedruckt in Rüsen 1994 (a), 204-35. 28 Kurt Röttgers: Geschichtserzählung als kommunikativer Text, in: Quandt/Süssmuth 1982, 29-48, das Zitat 30. 29 Ebd., 46.
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uns im Erzählen kommunikativ umschließt, eine gemeinsame Vergangenheit (und Zukunft) hat. Geschichten sind Momente zugleich temporaler und sozialer Selbstverständigung von Sozialzusammenhängen und Traditionszusammenhängen." 30 Die Bedeutung solcher Sätze für den Geschichtsunterricht will ich versuchen, mit drei Argumenten einsichtig zu machen: a) Geschichtsunterricht ist die größte gesellschaftliche Veranstaltung kollektiver Erinnerung und, wie sämtliche Richtlinien im Einklang mit Bildungspolitiken!, Festrednern und mehreren Bundespräsidenten betonen, für die Sicherung und Fortentwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens unentbehrlich. Eben darin, in der „temporalen und sozialen Selbstverständigung" der Demokraten, besteht der politische Bildungsauftrag des Geschichtsunterrichts. Der Unterschied und der Vorteil der RÖTTGERSschen These vom „kommunikativen Text" gegenüber der appellativen Formelhaftigkeit von Festansprachen besteht darin, daß mit dem Begriff des Erzählhandelns die Ebene der Operationalisierung jenes unbestrittenen Lehrziels angesprochen ist. Der Geschichtsunterricht ist der Ort, wo historisches Erzählen zum Zwecke der Kontinuierung einer demokratischen politischen Kultur absichtsvoll erlernt und eingeübt werden soll. b) Die grundsätzlich symmetrische Struktur des Erzählhandelns, die allen Teilnehmern am Unterricht jederzeit die Chance des Rollenwechsels einräumt, widerspricht nur vordergründig der Unterrichtstheorie, und nur insoweit, als Unterricht als Instruktion im Blick ist. Pädagogisches Handeln mit dem Ziel der Befähigung zur Mündigkeit und zum selbständigen Verstandesgebrauch ist aber seiner Logik nach stets auf Abbau der Hierarchien angelegt, hat den Rollenwechsel, die Befähigung zum selbständigen Erzählen ohne Hilfe eines Dritten, zum selbstverständlichen Ziel. Der Geschichtsunterricht ist daher genau der Ort, an dem die Schülerinnen und Schüler durch praktisches Tun das Erzählhandeln, das heißt: das Wechselspiel von Erzählen und Zuhören, erlernen und einüben sollen. c) Der methodisch geregelte Geschichtsunterricht ist schließlich auch der Lernort, der nicht beliebiges, sondern „vernünftiges" Erzählen garantieren kann und will. Das Kriterium der Vernünftigkeit ist dem narrativistischen Paradigma des historischen Denkens an sich schon eigen 31 ; es sichert dort sowohl den Wirklichkeitsbezug der Erzählung als auch den Geltungsanspruch der Sinnbildung, die „Wahrheit" der erzählten Geschichte. Im Erzählhandeln kommt dieses Kriterium dann zur Wirkung, wenn die subjektiv unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven auf die als gemeinsame erkannte Vergangenheit in einem Prozeß der diskursiven Argumentation (und nicht der persuasiven Überwältigung oder des ästhetischen Rauschs) abgearbeitet werden 32 . Hierfür ist keine Erzählsituation besser geeignet als die absichtsvoll edukativ gestaltete und auf die Rationalität wissenschaftlicher Denkweisen verpflichtete Unterrichtskommunikation. Zusammenfassend kann man hiernach sagen, daß der Status der Erzählung im Geschichtsunterricht dahin zu sichern ist, daß die „Unterrichtsverhandlung" selbst als 30
Ebd., 31. Zum Grundsätzlichen s. neuerdings Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrative Faktoren, in: Internationale Schulbuchforschung 18 (1996), 501-44. 32 Rüsen 1982, 161-67; Rüsen 1994 (a), 72 f. 31
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„narrativer Text" fungiert, in dem die Schülerinnen und Schüler narrative Kompetenz erwerben und erweisen, um sich mit sich selbst und mit anderen zu verständigen über die temporalen und sozialen Zusammenhänge, in denen sie heute leben und künftig leben wollen. Die deutende Rekonstruktion der zeitlichen Zusammenhänge geschieht in und durch die Unterrichtskommunikation selbst, die als aktive Lernhandlung als „historische Interaktion" bezeichnet werden kann. RÖTTGERS spricht diesen Vorgang als Erzählhandeln an, PANDEL unterscheidet ihn als „Narratio" oder „Narrativieren" sowohl von der literarischen Gattung der erzählenden Geschichtsschreibung als auch von der lehrerproduzierten Geschichtserzählung im Unterricht; auch HASBERG benutzt den befremdlichen Terminus „Narrativierung" für das RÜSENsche didaktische Konzept33. In solchen Neologismen drückt sich das Bemühen aus, die narrativitätstheoretisch begründeten didaktischen Konzepte von den semantischen Fallstricken des deutschen Begriffs „Erzählung" mit seinen gemütvollen Konnotationen fernzuhalten. Verständlicher und der Verbreitung der Konzepte vermutlich förderlicher scheint mir, die schülerfreundlichen, interaktiven Elemente des RÖTTGERSschen Begriffs „kommunikativer Text" für den Unterricht zu reklamieren. In einem solchen als „historische Interaktion" didaktisch strukturierten Unterricht gewinnt dann auch die Geschichtserzählung als Medium oder partikulare Lehrmethode ihren angemessenen Platz im Bereich der Unterrichtspragmatik, über den jeweils zu entscheiden ist nach dem Kriterium der Förderung narrativer Kompetenz34. 4. Abstecken des Interaktionsrahmens für den Erwerb narrativer Kompetenz Fragt man danach, wie Schülerinnen und Schüler historisches Erzählen lernen sollen, ist vom Geschichtsunterricht als einem Kommunikationsprozeß auszugehen, in dem die didaktische Intention verfolgt wird, narrative Kompetenz zu entwickeln und einzuüben und für den der methodische Grundsatz der Diskursivität gelten soll. Hierzu gehört die Anerkennung bestimmter Diskursregeln wie wechselseitige Anerkennung der Kommunikationspartner, Wahrung vernünftig begründeter Wahrheitskriterien und situationsadäquater Akzeptabilitätsstandards. Auf der Ebene der Pragmatik wird diese Kommunikation als argumentatives Sprachhandeln vollzogen. Damit dieses Sprechen den Standards eines narrativen Textes genügt, muß es drei Mindestbedingungen erfüllen: a) Es muß von wirklichen Begebenheiten, die nachweislich der Fall waren, die Rede sein; b) die Rede muß über zeitlich geordnete Begebenheiten gehen, so daß die entstehende Geschichte einen markierten zeitlichen Anfang, ein Ende und ein mit beiden zusammenhängendes Dazwischen aufweist; c) diese Rede muß einen Sinn transportieren. Um sich als narrativ auszuweisen, müssen die Sprachhandlungen im Unterricht nicht in allen ihren Phrasen dem Duktus der literarischen Erzählung folgen. Aber sie müssen stets auch in den klassischen Erzählpassagen unabhängig davon, wer die Rolle des Erzählers innehat- argumentativ und damit dialogisch angelegt sein. Eine solche Kommunikation, in der Wissen über die Besonderheit vergangener Lebenswelten weitergegeben und akkumuliert, Zeitdifferenz gedeutet und Orientierung im Wandel der Zeit gewonnen wird, nenne ich historische Interaktion. Es ist die Gesamtheit der auf die Bildung von Ge33
Pandel 1988, 8f, Hans-Jürgen Pandel: Zur Genese narrativer Kompetenz. Empirische Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen, in: Bodo von Borries/Hans-Jiirgen Pandel (Hg.): Zur Genese historischer Denkformen. Qualitative und quantitative empirische Zugänge, Pfaffenweiler 1994, 101; Hasberg 1997, 723. 34 Daß nach RÜSEN der Unterricht selbst die „Erzählung" bilden muß, sieht auch Hasberg 1997, 723. Der Schluß, daß „die geschichtsdidaktische Konkretisierung der narrativen Historik [sie!]" die Geschichtserzählung als „Medium wie als Methode" aus dem Geschichtsunterricht eliminiere, ist jedoch nicht nachvollziehbar.
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schichtsbewußtsein abzielenden Unterrichtshandlungen von Lehrern und Schülern, die insgesamt narrativ organisiert sind. Die historische Interaktion als absichtsvolles Unterrichtsarrangement läßt sich in drei systematisch unterschiedenen Dimensionen entfalten: Im Geschichtsunterricht werden Geschichten unterschiedlicher Herkunft und Formgebung „erzählt" - vom Lehrer, von Schülern, vom Schulbuch, von den Quellen, von den verwendeten Medien; und sie werden von den anderen aufgenommen, rezipiert. Dies macht die Dimension der historischen Rezeption aus. Im Geschichtsunterricht werden weiter Zusammenhänge zwischen zeitdifferenten Ereignissen und zwischen den Zeitebenen unter Bedeutsamkeitsgesichtspunkten rekonstruiert. - Re-Konstruktion deshalb, weil solche Zusammenhänge eben nicht präsentistisch, subjektiv beliebig zu konstruieren sind, sondern immer mit wirklichem Geschehen, mit „objektiv" gegebenen Wirkungs- und Traditionszusammenhängen zu tun haben müssen. - Diese Dimension nenne ich historische Rekonstruktion. Schließlich werden im Geschichtsunterricht durch Standpunkteinnahme und bewußte Vertretung die vorgegebenen, überlieferten Geschichten transformiert in Geschichten, die die Schülerinnen und Schüler betreffen in dem Sinne, daß sie für ihre kulturelle Daseinsorientierung Geltung beanspruchen können - die Dimension der historischen Transformation. In diesen Dimensionen müssen nun die die historische Interaktion bestimmenden Prinzipien der Narrativität, der Diskursivität und des argumentativen Sprachhandelns so ausdifferenziert werden, daß die Unterrichtsverhandlung als methodisch regulierte Bewegung des Geschichtsbewußtseins auf das Lernziel narrative Kompetenz hin beschrieben werden kann. Auf der Ebene der didaktischen Intentionalität erscheinen die Operationen des Geschichtsbewußtseins Wissen, Deuten, Orientieren als die Differentiale des Lernprozesses. Auf der Ebene des Unterrichtshandelns stütze ich mich auf die von Hans-Jürgen P A N D E L entworfene Pragmatik des Erzählens , die vier verschiedene Erzählhandlungen unterscheidet, die Schüler beherrschen müßten, um narrative Kompetenz zu erwerben. Allerdings bezeichnet das von P A N D E L an erster Stelle genannte „Erzählen im ursprünglichen Sinne", die Produktion neuer, „unerhörter" Geschichten, wohl eher die ideale Zielperspektive des Erzählenlernens als einen unterrichtlich planbaren und handhabbaren Lernschritt. Dieser Erzählmodus kann deshalb keiner der genannten Dimensionen der unterrichtlichen historischen Interaktion zugeordnet werden. Als vermittelnde Ebene zwischen didaktischer Intentionalität und Unterrichtspragmatik fungieren die methodischen Prinzipen, die den elementaren Tatbestand der Perspektivität aller historischen Überlieferung und allen historischen Denkens als bewegendes Element des unterrichtlichen Diskurses 36 ins Spiel bringen. Zu unterscheiden ist hier zwischen der Perspektivität der Betroffenen, wie sie sich in der historischen Überlieferung ausdrückt, und der Perspektivität der nachgeborenen Betrachter, die die verhandelte Geschichte tradieren, und von deren Perspektivität ist noch einmal zu unterscheiden die Perspektivität der betroffenen Betrachter, das heißt der am aktuellen Unterrichtsdiskurs Beteiligten, ohne deren Beteiligung die Geschichte in der gegebenen Erzählsituation gar nicht rekonstruiert und rezipiert worden wäre. In der historischen Rezeption geht es um die Kompetenz zu wissen, was geschehen ist. Dem entspricht für die unterrichtliche Vergegenwärtigung des vergangenen Geschehens der Grundsatz der Multiperspektivität , denn historisches Wissen ist stets in Ge35
Pandel 1988, 11. Vgl. Vergangenes sehen. Perspektivität im Prozeß historischen Lernens. Theorie und Unterrichtspraxis von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995. Klaus Bergmann: Multiperspektivität, in: Bergmann u.a. 1997, 301-3, mit weiterer Literatur.
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schichten verfaßt und gegebenenfalls für den Unterricht überliefert, die ihrerseits die Wirklichkeit unter je bestimmten, partikularen Perspektiven wahrnehmen. Nur in Kenntnis der Perspektivität der Überlieferung ist es möglich zu erfahren, was geschehen ist, und nur unter dieser Prämisse kann die gewonnene historische Erfahrung im Wiedererzählen verarbeitet werden. Der Modus der Aneignung überlieferter, in den Unterricht eingebrachter Geschichten kann im Anschluß an Pandel als „Nacherzählen" bezeichnet werden. Nacherzählen ist die Erzählhandlung, in der vorzugsweise traditionale oder exemplarische Sinnbildungen angeeignet und weiterverbreitet werden . Unter dem Dach dieser Erzahlhandlun^ können aber auch alle unterrichtlichen Handlungsmuster und Inszenierungstechniken , die dem Erwerb und der Sicherung von Überblicks- und Orientierungswissen zu einem gegebenen historischen Zusammenhang dienen, versammelt werden. Es ist der Erzählmodus, der im Geschichtsunterricht am nachhaltigsten in den Sozialformen des Frontalunterrichts und der Einzelarbeit geübt wird. In der historischen Rekonstruktion richtet sich die didaktische Intention auf die Kompetenz, zeitliche Unterschiede, Veränderungen und Veränderungsrichtungen qualitativ zu erfassen, um die daraus resultierende Erfahrung des zeitlichen Andersseins (Alterität) als mich und meine Lebenschancen betreffenden Wandel deuten zu lernen. Als methodischen Grundsatz kann man hier den Perspektivenwechsel oder das Prinzip der Kontroversität bei der Interpretation zeitlicher Zusammenhänge festhalten. Der Vielfalt der Sinnbildungsmöglichkeiten und ihrer Abhängigkeit von subjektiven temporalen und sozialen Standpunkten können sich Schülerinnen und Schüler am besten über die Zumutung mehrfachen Perspektivenwechsels versichern, bei dem immer auch die eigene Identität ins Spiel kommt. Erscheinen die zu deutenden historischen Erfahrungen im Unterricht in verschiedenen, womöglich kontroversen Deutungskontexten, können sie von den Schülerinnen und Schülern nicht harmonistisch affirmativ als ein-deutig einfach rezipiert, sondern müssen als Dissonanzerfahrung aufgenommen werden, die den unterrichtlichen Diskurs über die Valenz und die Berechtigung der divergenten Standpunkte und Orientierungen in Bewegung setzt und in Bewegung hält. Auf der Ebene der Pragmatik entspricht der historischen Rekonstruktion die Erzählhandlung „Umerzählen", die P A N D E L SO definiert: „In der Erzählhandlung Umerzählen wird eine produktive Veränderung erzählter Geschichte vorgenommen, wenn die tradierte Geschichte dem eigenen Geschichtsbewußtsein nicht entspricht." Mit dem Umerzählen wird insbesondere die kritische Sinnbildungsleistung herausgefordert, in der sich das lernende Subjekt mit seinem Eigensinn zur Geltung bringt . Die Dimension der historischen Rekonstruktion füllen daher insbesondere jene Unterrichtsverfahren, die die Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler herausfordern - problemorientiertes, entdeckendes Lernen, fragend-forschende Verfahren mit (^uellenarbeit, „heuristisch-instrumentellem" und analytisch-kritischem Mediengebrauch , und es gehören dazu alle die Handlungs-
38 Pandel 1994, 101, der die didaktische Funktion des Nacherzählens einseitig unter dem Aspekt der Traditionsbildung erörtert. Begrifflichkeit und Systematik der allgemeinen Unterrichtsmethodik nach Hilbert Meyer: UnterrichtsMethoden, 2 Bde., Frankfurt (M.) 2 1988. 40 Rüsen 1982, 161-67, das Zitat 163. 41 Pandel 1988, 11. Zur pragmatischen Differenzierung dieses Sinnbildungstypus s. Klaus Fröhlich: Anmerkung zum Typus der kritischen Sinnbildung im Geschichtsuntericht, in Geschichtsdidaktik 10 (1985), 289-95. Siehe u.a. Gerhard Henke-Bockschatz: Entdeckendes Lernen, in: Bergmann u.a. 1997, 406-10, mit weiterer Literatur; die Beiträge in dem vom Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte und dem Ernst-Klett-Verlag herausgegebenen Sammelband: Forschendes Lernen im Geschichtsunterricht, Stuttgart 1992; Klaus Fröh-
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muster und Inszenierungstechniken, die die Fähigkeiten zur standpunktbezogenen Artikulation divergenter Deutungen historischer Erfahrung, kurz - die Fähigkeit zum perspektivischen historischen Erzählen erproben und einüben. In der Dimension der historischen Transformation geht es um die Kompetenz, einen eigenen Standpunkt gegenüber den zeitlichen Veränderungen einnehmen und vertreten zu können, die historische Erfahrung so auf die Erwartungen und Absichten der an der gegebenen Erzählsituation Beteiligten zu beziehen, daß die erarbeitete Geschichte zur zeitlichen Orientierung in einer universalistischen Perspektive dienen kann, in der die subjektiven Eigensinne aufgehoben bleiben. In dieser Dimension der historischen Interaktion wird gleichsam über den Beitrag entschieden, den der Geschichtsunterricht zur Erreichung des allgemeinen Richtziels schulischen Lernens - in den Worten der nordrhein-westfalischen Richtlinien: „Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung" beizutragen im Stande ist. Eine die Unterrichtskommunikation regulierende Rolle spielt diese weitgespannte Zielperspektive immer dann, wenn es gelingt, über die objektivistische Durchmusterung von Bewertungen und Bewertungsparametern hinaus die subjektiven Betroffenheiten der Schülerinnen und Schüler von den zeitlichen Veränderungen als Divergenz unterschiedlicher Standpunkte zum Gegenstand der Verhandlung zu machen und sie „im Medium einer diskursiven Argumentation" aneinander abarbeitet zu lassen 44 . Der methodische Grundsatz, dem die Unterrichtskommunikation in dieser Dimension folgen muß, ist der der diskursiven Verhandlung differenter Standpunkte. Der Sinnbildungstypus, der hier insbesondere wirksam werden sollte, ist der genetische, der die kritische Abwehr zugemuteter Geschichten voraussetzt und dadurch auch die unter dem Kriterium der Eröffnung von Identitäts- und Lebenschancen kritisch durchgearbeiteten traditionalen und exemplarischen Deutungen als Momente der Veränderung und des Wandels in veränderter Qualität aufzunehmen vermag 45 . Auf der Ebene der Pragmatik entspricht dem eine Erzählhandlung, die ich abweichend von PANDELS Terminologie „reflexives Erzählen" nennen will. Gemeint ist damit eine argumentative Sprechweise, in der Elemente der perspektivenbewußten Geschichtserzählung mit metahistorischen Standpunktreflexionen integriert sind. Der dabei entstehende kommunikative Text ist prinzipiell unabgeschlossen, in gebrochenen, jede Illusion der Endgültigkeit vermeidenden Sprachformen, die Öffnungen zum Eingreifen aber auch zum Durchblicken auf neue, womöglich „unerhörte" Perspektiven lassen. Rolf SCHÖRKENs Hinweis auf Beispiele „gebrochener Erzählformen" in der schöngeistigen Literatur des 20. Jahrhunderts 46 kann hier durchaus als Ausblick auf die Erreichbarkeit einer Unterrichtskommunikation genommen werden, die Lehrer und Schüler bisher vielleicht nie realisiert gefunden haben, und wenn doch, dann allenfalls in seltenen, glückhaften Augenblicken, in den sogenannten Sternstunden ihrer Lernbiografien.
lieh: Schulbucharbeit, in: Bergmann u.a. 1997, 422-30, insbesondere 427-29; Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Düsseldorf 1985. 44 Rüsen 1982, 163. 45 Zum systematischen Zusammenhang der Sinnbildungstypen als logische Abfolge von Lernformen s. Rüsen 1994 (a), 85-90. 46 Schörken 1997, 731-33.
Narrativität im Geschichtsunterricht
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5. Das narrativistische Paradigma und die Praxis des Geschichtsunterrichts Von den geschichtsdidaktischen Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik ist wenig in den alltäglichen Geschichtsunterrichtsstunden angekommen. Im 39. Semester Schulpraktischer Studien im Rahmen der Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen muß ich resümieren: der Geschichtsunterricht ist nicht der Ort, wo die Schülerinnen und Schüler das historische Erzählen lernen, zumindest nicht in den Schulen zwischen Duisburg-Meiderich und Hamm-Uentrop. Hans-Jürgen PANDEL bestätigt diesen Eindruck: „Was gelernt wird, sind in hohem Maße Existenzaussagen: wen und was es in der Vergangenheit gegeben hat. Diese Aussagen nehmen aber keine Verlaufsgestalt an und werden nicht in narrative Strukturen integriert." Weitergespannte und deshalb auch ernster zu nehmende empirische Studien vertiefen die Zweifel an der Wirksamkeit des öffentlichen Geschichtsunterrichts noch. So sieht Bodo VON BORRIES sowohl das traditionelle, stofforientiert belehrende Konzept des Geschichtslernens als auch das „progressive", problemorientierte Konzept eines „reflektierenden Geschichtsunterrichts" von den Ergebnissen seiner repräsentativen Untersuchung des Geschichtsbewußtseins Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland „gleichermaßen eher desavouiert als bestätigt"48. Beide Konzepte bleiben im Bereich von Wissen und Können hinter den Erwartungen zurück, der „problemorientierte" Unterricht auch leicht hinter den statistischen Mittelwerten; und während das im traditionellen Geschichtslernen angehäufte Wissen und Können fur die politischen Wertungen und Orientierungen der Lernenden offensichtlich „weitgehend irrelevant" ist, scheint der „reflektierende Geschichtsunterricht" weniger eine Steigerung der Reflexivität, Methodensicherheit und Deutungskompetenz zum Ergebnis zu haben als vielmehr die konventionelle, unbefragte „Übernahme kultureller Selbstverständlichkeiten". Mit anderen, härteren Worten: im problemorientierten Geschichtsunterricht geht man ohne wesentlichen Wissenszuwachs auseinander, nachdem man sich seiner mitgebrachten Vorurteile versichert hat. Die Gründe für die offensichtliche Wirkungslosigkeit moderner didaktischer Konzepte im praktischen Unterricht sind vielfältig, noch mehr die Entschuldigungsgründe der gestreßten Lehrerschaft für die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen. Sie können hier nicht im einzelnen erörtert werden. Ernst zu nehmen ist im gegebenen Zusammenhang aber der oft gehörte Vorwurf, die theoretische Geschichtsdidaktik formuliere ihre Konzepte nicht auf der Ebene, auf der Unterricht nun einmal stattfinde; sie verwechsle deshalb das „Machbare" mit dem „Wünschbaren" und überfordere permanent Schüler, Lehrer und System. Der Vorwurf trifft vermutlich in besonderem Maße die erzähltheoretisch begründeten Konzepte, die ihre Argumente mehr aus den geschichtstheoretischen Diskursen als aus schulpädagogischen Erfahrungen gewinnen; auch die vorstehenden Überlegungen sind insoweit von dem Vorwurf einer konstitutiven Praxisferne nicht auszunehmen. Vor dem Hintergrund der zitierten empirischen Untersuchungen scheint es aber angezeigt, auf einige Berührungspunkte zwischen narrativistischem Paradigma und Unterrichtspraxis hinzuweisen, deren Mißachtung manches zu den für die vorherrschenden unterrichtlichen Praxen desaströsen Ergebnissen der empirischen Unterrichtsforschung beigetragen haben mag, deren Beachtung aber vielleicht doch einen methodischen Einstieg in die Machbarkeit des Wünschbaren, in die Einübung der Schülerinnen und Schüler ins historische Erzählen im Unterricht bedeuten könnte. Die erste und schlichteste Forderung an den Geschichtsunterricht wäre, die von beklagte Produktion von zeitlich punktuellen „Existenzaussagen" aufzugeben
PANDEL
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Pandel 1994, 119. Bodo von Borries: Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher, München 1995, 408.
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zugunsten der Behandlung von Geschichten, die einen zeitlich definierten Anfang und ein Ende haben, eine definierte Veränderung in der Zeit thematisieren. Das heißt - keine Geschichtsstunde ohne Zeitverlaufsaussage. Damit hängt zusammen, daß der Geschichtsunterricht ernst machen muß mit der konstitutiven Bedeutung des Gegenwartsbezugs für das historische Lernen. Er ist in der Anfrage, unter dem der historische Zusammenhang Gegenstand des Unterrichts wird, immer schon enthalten und braucht gar nicht als naive „Moral von der Geschieht'" oder platte Analogie dem Gegenstand übergestülpt zu werden. Das heißt - keine Geschichtsstunde ohne Fragestellung, die die Gegenwartsbedeutsamkeit des verhandelten Gegenstandes aufnimmt, dem Untersuchungsgang der Stunde folgt und am Ende resümierend wieder aufgenommen wird. Weiter sollte der Geschichtsunterricht die Alterität des zeitlich Anderen viel stärker herausstellen statt das scheinbar überzeitlich Gleiche an den behandelten historischen Zusammenhängen zu betonen; dazu sollte er die behandelten Texte tatsächlich als Material für die Rekonstruktion erzählbarer, konkreter Zusammenhänge nutzen, statt ihnen durch vorzeitige Abstraktion das historisch Besondere (und damit das Narrative) so lange auszutreiben, bis als Unterrichtsergebnis eine dürre Liste von inhaltsleeren, zeitlich nicht mehr differenzierbaren Spiegelstrichen an der Tafel steht. Das heißt - keine Geschichtsstunde ohne historische Konkretisierung, ohne Thematisierung von Distanz und Nähe, Vertrautheit und Fremdheit der behandelten historischen Zusammenhänge. Und schließlich sollte der Geschichtsunterricht die vergeblichen Versuche aufgeben, die durch den Verzicht auf die lehrerproduzierte Geschichtserzählung verlorengegangene Eindeutigkeit der historischen Zusammenhänge durch die Hereingabe monoperspektivisch zusammengeschnittener Textbruchstücke wiedergewinnen zu wollen. Statt dessen sollte er den Blick öffnen für die Vieldeutigkeit der Geschichte, indem er den Schülerinnen und Schülern die Spielräume für die Findung eines eigenen Urteils aufweist und zur Einübung in das Urteilen „die Methoden und die Rationalitätskriterien des Schreibens und Erzählens von Geschichte" lernen und üben läßt . Mit diesem Hinweis auf die notwendige Selbsttätigkeit der Schüler für einen gelingenden Prozeß des historischen Lernens steht die oben entwickelte Modellvorstellung historischen Lernens ganz in der Nähe gemeinpädagogischer Konzepte, die in den letzten Jahren in der Unterrichtsmethodik mehr und mehr an Boden gewonnen haben. Ich meine das Konzept des „handlungsorientierten Unterrichts" . Die vier didaktischen Kriterien, die nach Hilbert M E Y E R diesem Konzept zugrunde liegen, nämlich: subjektive Schülerinteressen als Bezugspunkt der Unterrichtsarbeit, Selbständigkeit der Schülerhandlungen, Öffnung der Schule gegenüber ihrem Umfeld sowie Integration von Kopf- und Handarbeit im Unterrichtshandeln, lassen sich leicht in der Skizze eines Geschichtsunterrichts als Erzählveranstaltung im Sinne der Theorie des kommunikativen Texts wiederfinden. Die Anregungen, die von der Idee eines Geschichtsunterrichts als kommunikativer Erzählveranstaltung und hier besonders vom Begriff des Erzählhandelns ausgehen können, sind noch kaum ausgelotet 51 . Die Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer seien eingeladen, das aus dem narrativistischen Paradigma entwickelte Modell als fachspezifische Formulierung eines Projekts „handlungsorientierter Geschichtsunterricht" zu lesen und dessen Pragmatik im Institutionen und Disziplinen übergreifenden Kontakt mit der akademischen Geschichtsdidaktik handlungsorientiert zu entwickeln. ^ Ebd. Siehe Herbert Gudjons: Handlungsorientiert Lehren und Lernen, Bad Heilbrunn 1986; Meyer 1989, Bd.2, 395-424. 51 Vgl. Ulrich Mayer: Handlungsorientierung, in: Bergmann u.a. 1997, 411-16; Themenheft Handlungsorientierter Unterricht in: Geschichte lernen, Heft 9 (1989).
Heinrich Theodor Grütter Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen 1. Didaktische Forderungen Für eine Didaktik historischer Museen1 hat Jörn R Ü S E N vor genau zehn Jahren plädiert, und er tat dies vor dem Hintergrund eines seltsamen Mißverhältnisses in der öffentlichen Geschichtskultur der Bundesrepublik Ende der achtziger Jahre. In den vorangegangenen zwei Jahrzehnten, also in der Zeit nach 1968, hatte sich die Zahl der Museen mit fast 2500 beinahe vervierfacht2. Die Gründe dafür waren vielschichtig. Zum einen sind sie sicherlich in der Prosperierungsphase der Bundesrepublik zu suchen, in der die Kultur in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft als Standortfaktor erkannt wurde und sich fast alle deutschen Großstädte ganze Museumsmeilen und -ufer zulegten. Bedenkt man aber, daß es sich bei den Museumsneugründungen zum größten Teil um im weitesten Sinne historische Museen handelte, so spielt sicherlich die vor allem von Hermann L Ü B B E entwickelte Musealisierungsthese eine entscheidende Rolle3. Sie besagt, daß eine zunehmende Musealisierung auf die belastende Erfahrung eines änderungsbedingten Vertrautheitsschwundes unserer Lebenswelt reagiert. In dem Maße, in dem die Modernisierung diejenige Vergangenheit, in der die Gegenwart sich noch wiederzuerkennen vermag, verkürzt und damit eine Perspektivierung der Zukunft in der Erwartung weiterer Veränderungen immer problematischer wird, werden spezielle Bemühungen der Aneignung einer fremd gewordenen Vergangenheit als eigener Vergangenheit notwendig. Die Desorientierung in einer fremd gewordenen Gegenwart befördert die Ausbildung eines historischen Bewußtseins als Medium kultureller Identitätsvergewisserung. Diese weit über das Museum hinausgehende Gegenwartsdiagnose basiert wiederum auf der von Joachim R I T T E R entwickelten und in der Kulturphilosophie breit rezipierten Kompensationstheorie4. Sie besagt, daß sich mit einer der Entstehung der bürgerlich-industriellen Gesellschaft einhergehenden Zersetzung von Traditionen kompensativ Institutionen wie die historischen Geisteswissenschaften, das Museum, die Denkmalpflege herausbilden, die über den Traditionsabbau hinweg historischen Sinn ermöglichen. Die reale Geschichtslosigkeit der modernen Gesellschaft treibt als Kompensation des Geschichtsverlustes diese Erinnerungsorgane hervor. Es mag zunächst dahingestellt bleiben, ob die am Museum als dem charakteristischen Ort der Vergangenheitsbewahrung entwickelte Musealisierungsthese auf das Museum selbst überhaupt zutrifft oder viel eher für bestimmte denkmalpflegerische Bemühungen und nostalgische Effekte gilt5. Wenn man aber beachtet, daß es sich bei der überwältigenden Mehrheit der Museumsgründungen um Heimatmuseen handelt oder um Spezialmuseen, die bestimmte Alltagsgegenstände sammeln oder vergangene Lebens1 Jörn Rüsen: Für eine Didaktik historischer Museen, in: ders./Wolfgang Ernst/Heinrich Theodor Grütter £Hg.): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen, Pfaffenweiler 1988, 9-20. Vgl. Gottfried Korff: Aporien der Musealisierung - Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er benannt ist, hinter sich gelassen hat, in: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, 57-71, hier 59. Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum, in: ders.: Die Aufdringlichkeit der Geschichte: Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz u.a. 1989, 13ff; ders.: Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz u.a. 1983, 9ff. 4 Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt (M.) 1974, lOff. 5 Vgl. Korff 1990.
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oder Produktionsformen zum Thema haben, so drängt sich der Verdacht auf, daß es sich bei dem Museumsboom zumindest teilweise um eine Suche nach Identität und der Vertrautheit verlorengegangener Lebenswelten handelt. Dies gilt im übrigen auch für die zahlreichen Industrie- und Technikgeschichtlichen Museen, die ab Anfang der achtziger Jahre gegründet wurden. Auch sie laufen Gefahr, das Industriezeitalter eher verklärend darzustellen, seine materiellen Hinterlassenschaften, die Maschinen und Gebäude, zu fetischisieren und die sozialen Konflikte und problematischen Arbeitsbedingungen - die als solche ja auch kaum ausstellbar sind - weitgehend zu vernachlässigen. Die Authentizität der industriellen Produktionsformen und die soziale Wärme seines Milieus scheinen im postindustriellen und immateriellen Zeitalter ihren nostalgischen Reiz zu entwickeln. Zeitlich parallel und organisatorisch eng verbunden mit den Museumsgründungen entwickelte sich ebenfalls seit den siebziger Jahren ein reges Ausstellungswesen6. Seine Ursprünge und Vorläufer liegen in den kulturhistorischen Ausstellungen zur Kunst des christlichen Abendlandes (Ars Sacra, München 1950; Werdendes Abendland, Essen 1 9 5 6 ) , ihre Bedeutung als kulturelles Großereignis und prominenter Ort der Geschichtsvermittlung gewann die historische Ausstellung aber erst Mitte der siebziger Jahre. Es waren weiterhin die großen Mittelalterausstellungen wie Rhein und Maas, 1972, Monumenta Annonis, 1975 und Die Parier, 1978, allesamt in Köln und dann die großen Kulturausstellungen wie Tut-ench-Amun 1 9 8 0 / 8 1 , El Dorado - Der Traum vom Gold 1 9 7 8 / 7 9 , und Das Gold der Thraker, 1 9 8 0 , die einen vorher nie gekannten Ausstellungsboom mit hunderttausenden von Besuchern begründeten. Eine stärkere historische Zuspitzung erhielt das Ausstellungswesen zunächst durch die großen dynastischen Ausstellungen in der Tradition der Europaausstellung über KARL den Großen in Aachen 1965. Einen ersten Höhepunkt stellte die legendäre Stuttgarter Staufer-Ausstellung von 1977 dar, ihr folgten Ausstellungen zu KARL IV. (Nürnberg 1 9 7 8 ) , MARIA THERESIA (Wien 1 9 8 0 ) , die Wittelsbacher (München 1 9 8 0 ) , die Preußen (Berlin 1 9 8 1 ) und FRIEDRICH den Großen (Berlin 1 9 8 5 ) . Die Häufung dieser dynastischen Ausstellungen hängt sicherlich mit dem föderalen System der Bundesrepublik zusammen, in dem sich die einzelnen Bundesländer - angeregt durch die Württembergische Staufer-Ausstellung - um eigenständige Tradition bemühten. Dies gilt im übertragenen Sinne auch für die deutschen Großstädte, in denen ab den achtziger Jahren entweder bedeutende Epochen (Zwanziger Jahre in Berlin, 1971; Gotik und Renaissance in Nürnberg; Prinzregentenzeit in München, 1989 - hier muß man auch noch Wien um 1900, 1985, nennen) oder die gesamte Stadtgeschichte ausgestellt wurden (Braunschweig 1 9 8 1 , Berlin 1 9 8 7 , Köln 1 9 8 8 ) . Inzwischen gibt es kaum eine mittelgroße Kommune, die trotz leerer Stadtkassen nicht nach einem geeigneten Datum sucht, das eine historische Ausstellung im Kontext eines zu feiernden Stadtjubiläums irgendwie plausibel erscheinen läßt. Spätestens mit den stadthistorischen Ausstellungen wurde aber endgültig der Wechsel von der kunstgeschichtlich orientierten Ausstellung des älteren Typs hin zur sozialgeschichtlichen ausgerichteten vollzogen. Richtungsweisend war hier sicherlich die Braunschweiger Ausstellung Stadt im Wandel im Jahre 1985. Standen bis dahin die Hochkulturen, die Dynastien und Herrscher sowie die Kirchenschätze im Mittelpunkt, 6
Vgl. zum Folgenden: Ekkehard Mai: Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens, München u.a. 1986 sowie Hartmut Bookmann: Geschichte im Museum? Zu den Problemen und Aufgaben eines Deutschen Historischen Museums, München 1987.
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so kam nun der Alltag in den Blickpunkt. Zunehmend wurde neben den „großen" politischen Ereignissen das Leben, Arbeiten und Wirtschaften der Menschen, zunächst in den vormodernen Jahrhunderten, zum Thema gemacht. Dabei blieb es aber nicht. Aufbauend auf den Forschungsergebnissen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte war es die Geschichte der Industrialisierung, die in den achtziger Jahren mit den Gründungen von Industriemuseen in Mannheim und Nürnberg, Hamburg, dem Rheinland und Westfalen nicht nur ins Museum drängte sondern auch in großen Sonderausstellungen präsentiert wurde. Im Jahre 1984 eröffnete die neue Ausstellung des Essener Ruhrlandmuseums zur Industrie- und Sozialgeschichte des Ruhrgebietes, im Jahre 1985 folgten die Ausstellungen Aufbruch ins Industriezeitalter in Augsburg und Leben und Arbeiten im Industriezeitalter in Nürnberg und 1987 die Oberösterreichische Landesausstellung Arbeit Mensch - Maschine in Steyr. Im Zuge dieser zahlreichen Museums- und Ausstellungseröffnungen hat es natürlich unendlich viele Präsentationsformen gegeben, die - teilweise im Rückgriff auf Vorbilder der Jahrhundertwende und der Zwanziger Jahre - versucht haben, ihr Thema und ihren Gegenstand adäquat darzustellen. Dabei war zunächst das Bemühen maßgeblich, die historische Ausstellung gegenüber der Kunstausstellung aber auch gegenüber der Naturkunde- oder Ethnologischen Ausstellung zu definieren und zu etablieren. Zeichensetzend war hier die neue Konzeption des 1972 wiedereröffneten Frankfurter Historischen Museums7. Sie versuchte am radikalsten, ihre teilweise hervorragenden Objekte nicht mehr als isolierte Kunst- und Kultgegenstände auszustellen, sondern sie als Beleg und Anschauungsobjekt bestimmten historischen Thesen und Aussagen zu- und auch unterzuordnen. Die vehemente Kritik, die sich daran nicht nur von Seiten der Kunstmuseen entzündete, richtete sich vor allem gegen die Behandlung der Exponate, aber auch gegen die Textlastigkeit, die dem Medium Museum als Ort der sinnlichen Anschauung und Erfahrung zuwiderlaufe. Von „Lesetapeten" und der Degradierung der Originalobjekte zu „optischen Fußnoten" von als Indoctrination empfundenen historischen Interpretationen war die Rede8. Die aus heutiger Sicht nicht unberechtigte erscheinende Kritik ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, richtete sie sich doch in weiten Teilen nicht gegen die zweifelsohne museologisch und ästhetisch problematische Ausstellungsform sondern implizit auch gegen die demokratische Öffnung der Institution Museum, die unter dem Stichwort „Lernort contra Musentempel" zusammengefaßt worden ist9. Insofern ist es zu begrüßen, daß die Kritik nicht zu einer Rückkehr zur herkömmlichen Vitrinenausstellung und zum Verzicht auf historische Deutungs- und Aussageabsichten führte, sondern zu den unterschiedlichsten Versuchen, Geschichte auch sinnlich 7
Vgl. Detlef Hoffmann/Almut Junker/Peter Schirmbeck (Hg.): Geschichte als öffentliches Ärgernis oder: Ein Museum für die demokratische Gesellschaft, Gießen 1974 und Jürgen Steen: Didaktische Aspekte einer Theorie des historischen Museums, in: Annette Kuhn/Gerhard Schneider (Hg.): Geschichte lernen im Museum, Düsseldorf 1978, 49ff. 8 Zur Diskussion und mit der älteren Literatur vgl. Jürgen Steen: Ausstellung und Text, in: Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.): Wie zu sehen ist. Essays zur Theorie des Ausstellens, Wien 1995,46-62. 9 Vgl. etwa Ellen Spickemagel/Brigitte Walbe (Hg.): Das Museum: Lernort contra Musentempel, Gießen 1976; Kuhn/Schneider 1978; Hermann Glaser u. a. (Hg.): Museum und demokratische Gesellschaft, Nürnberg 1979; Ausstellungen - Mittel der Politik?, Internationales Symposion 10.-12. September 1980 in Berlin, Berlin (W.) 1981; Historisches Museum Frankfurt (Hg.): Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit - Museumsgeschichte und Geschichtsmuseum, Frankfurt (M.) 1982; Heidi Hense: Das Museum als gesellschaftlicher Lernort, Frankfurt (M.) 1985.
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darzustellen, die man unter dem weiten Begriff der Inszenierung zusammenfassen kann. Im historischen Ausstellungswesen bedeutete hier sicherlich die Preußen-Ausstellung in Berlin im Jahre 1981 eine Zäsur. Sie zeigte nicht mehr die Devotionalien und Kunstwerke der Kaiser- und Königshäuser, sondern auch die Politik und sozialen Fragen und ironisierte gleichzeitig den Mythos Preußen. Die Arbeitsbedingungen, den Alltag und die Lebenswelt der Menschen inszenierte zunächst das Museum der Stadt Rüsselsheim 198010 und dann vor allem das Essener Ruhrlandmuseum im Jahre 198411. Die einzelnen Objekte wurden hier nicht mehr als singulare Artefakte, sondern in Ensembles gezeigt, in denen sie sich gegenseitig erläuterten und sich zu Bildern, szenischen Darstellungen vergangener Wirklichkeit zusammensetzten. In den folgenden Jahren wurden diese Präsentationsformen variiert und häufig in direkter Abgrenzung oder Bezugnahme weiterentwickelt, häufig von Künstlern, Architekten und Bühnenbildnern, die in den achtziger Jahren die Profession des Ausstellungsgestalters etablierten, der zumindest bei Großausstellungen, inzwischen aber auch bei der Gestaltung selbst kleiner Stadt- und Heimatmuseen, regelmäßig hinzugezogen wird. Bemerkenswerterweise kam es aber - trotz einer regen Ausstellungskritik im Feuilleton und in Fachzeitschriften - bis Ende der achtziger Jahre weder zu einer dezidierten Museums- und Ausstellungstheorie noch zu einer wirklich gehaltvollen museologischen Diskussion 12 . Dies zeigte sich überdeutlich bei der Planung und Konzeptionierung der beiden großen Museumsprojekte zur deutschen Geschichte, welche die Bundesrepublik Ende der achtziger Jahre realisierte: das Deutsche Historische Museum in Berlin und das Haus der Geschichte in Bonn. Der Streit um ihre Konzeption, der in Berlin offensiv und kontrovers 13 , in Bonn eher intern und hinter geschlossenen Türen ablief, fand weitgehend ohne Museumsleute und Geschichtstheoretiker, bzw. Didaktiker statt, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt eine fast zwanzigjährige Erfahrung mit historischen Ausstellungen und Museumskonzeptionen hätten miteinbringen können. Es ist dieses Mißverhältnis, das Jörn RÜSEN 1988 beklagte, wenn er auf die Lücke in Diskurs über historische Museen hinweist: „Dieser Diskurs wird im wesentlichen von Fachhistorikern und Politikern bestimmt [...] Die vorgegebene Deutung wird durch das Museum nur realisiert, und Didaktik ist nichts anderes als die Strategie und Technologie solcher Realisation. Museumsdidaktik ist 'Umsetzungs'-Technologie und sonst nichts." 14 Demgegenüber forderte RÜSEN vehement eine Einbeziehung didaktischer Gesichtspunkte und die Entwicklung einer museologischen Theorie:
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Vgl. Peter Schirmbeck: Das Museum der Stadt Rüsselsheim, in: Historisches Museum Frankfurt 1982, 123-47. 11 Vgl. Ulrich Borsdorf: Das Ruhrlandmuseum Essen, in: Michael Fehr/Stefan Grohe (Hg.): Geschichte, Bild, Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, 89-94. 12 Ausnahmen: Olaf Schwencke (Hg.): Museum - Verklärung oder Aufklärung? Kulturpolitisches Kolloquium zum Selbstverständnis der Museen, Loccum 1986; Helmut Ottenjahn (Hg.): Kulturgeschichte und Sozialgeschichte im Freilichtmuseum. Historische Realität und Konstruktion des Geschichtlichen in historischen Museen, Cloppenburg 1985; Gottfried Korff: Objekt und Information im Wiederstreit, in: Museumskunde 49 (1984), 83-93; ders.: Bildung durch Bilder? Zu einigen neueren historischen Ausstellungen, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), 93-113. Vgl. zusammenfassend Christoph Stölzl (Hg.): Deutsches Historisches Museum. Ideen - Kontroversen - Perspektiven, Berlin (W.) 1988. 14 Rüsen 1988, 9f.
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„Eine solche Erweiterung des museologischen Sichtfeldes müßte von der Tatsache ausgehen, daß die durch ein Museum vermittelte sinnliche Erfahrung nicht hinreichend als bloße Erfüllung einer vorgegebenen Deutung betrachtet werden kann. Das Eigenrecht und Eigengewicht der sinnlichen Erfahrung von Geschichte muß gegen ihre Instrumentalisierung zur bloßen Veranschaulichung von Deutung zur Geltung gebracht werden. [...] Das Medium der sinnlichen Anschauung müßte als fundamentale Bestimmungsgröße in den Diskurs über die Konzeption historischer Museen aufgenommen und eigens bedacht und gewürdigt werden. Worin unterscheidet sich die Präsentation von Geschichte von fachwissenschaftlicher Historiographie und von der Verwendung von Geschichte zu politischen Zwecken? Worin liegen die Spezifika und das Eigenrecht musealer Präsentation von Geschichte? Mit dieser Frage soll dem historischen Museum ein didaktisches Eigenrecht gegen seine Indienstnahme durch Wissenschaft und Politik zugesprochen, ihm sein eigener Status in der öffentlichen Auseinandersetzung um Formen und Inhalte des Geschichtsbewußtseins zugewiesen werden."
2. Die gegenwärtige Situation Wie verhält es sich heute, zehn Jahre nach RÜSENS Kritik mit den von ihm erhobenen Forderungen? Zunächst sei ein Blick auf die zwischenzeitliche Entwicklung der Museums- und Ausstellungswesen gerichtet. Zweifelsohne hat sich der Anstieg der Museumsneugründungen in den neunziger Jahren etwas verlangsamt. Dies liegt vor allem an den leeren Stadtkassen und an einem gewissen Sättigungsgrad, indem heute praktisch jede Gemeinde über ein historisches Museum verfügt. Das heißt jedoch nicht, daß es keine weiteren Neugründen geben wird. Ganz im Gegenteil sind es in den letzten Jahren vor allem die Spezialmuseen, welche die Zahl der Museumsgründungen weiter erhöhen. Sie beruhen meist auf umfangreichen Privatsammlungen, die ihre Inhaber im Wohlstandsland Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten zusammengetragen haben und die jetzt in der Sorge um weitere Betreuung und wissenschaftliche Bearbeitung, manchmal auch in der Hoffnung auf (posthumen) Ruhm und Anerkennung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und in öffentliche Trägerschaft übergeben werden. Dabei ist der Charakter dieser Sammlungen höchst unterschiedlich. Sie variieren von hervorragenden kulturgeschichtlichen Konvoluten etwa zur Geschichte des Films, der Fotografie oder der gesamten visuellen Wahrnehmungen, für deren Besitz große Museen dankbar wären, bis hin zu Kuriositäten und Absurditäten wie morphologisch geordneter und auf Vollständigkeit zielender Kollektionen von Knöpfen, Nachttöpfen, Schlüsseln oder Beschlägen16. Die Kommunen bekommen mit diesen Privatsammlungen zunehmende Probleme. Zwar werden sie von ihren Besitzern meist als Schenkung oder Stiftung angeboten aber häufig sind diese mit umfangreichen Auflagen und Bedingungen wie der ständigen Präsentation in einem eigenen Haus, der wissenschaftlichen Betreuung und Bearbeitung und der Sicherung ihrer Weiterfuhrung verbunden. Die sich daraus ergebenden Nachfolgekosten sind immens und kaum kalkulierbar. Und selbst die - vernünftige - Integration solcher Sammlungen in schon bestehende Museen wirft Probleme der Magazinierung und Erfassung, der Restaurierung und wissenschaftlichen Betreuung auf, die meist nicht ohne weiteren Raum und weiteres Personal zu meistern sind. Insofern sind solche Sammlungen in Zeiten leerer Kassen Danaergeschenke, was ihren emphatischen Besitzern und Begründern häufig nicht klar ist und zu Irritationen und Brüskierungen fuhrt. Trotzdem lassen sich die Kommunen immer wieder zu solchen Museumsgründungen "Ebd., lOf. Vgl. z.B. Helmut Seitz: Auf den Spuren außergewöhnlicher Museen, München 1990 und Michael Glasmeier (Hg.): Periphere Museen in Berlin, Berlin 1993.
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hinreißen, entweder weil der politisch erzeugte Druck der Stifter groß genug ist oder die Sammlung so bedeutend ist, daß man Angst hat, sie zu verlieren. Denn trotz der hohen Dichte an Museen müssen sich die einzelnen Städte in der Kulturkonkurrenz um spektakuläre und einzigartige Museen bemühen, die sie aus dem eher faden und außerhalb der Stadtgrenzen wenig Aufsehen erregenden Einheitsbrei der Stadt- und Heimatmuseen herausheben. Und hierbei will sich kein Stadtvater oder Kulturpolitiker sagen lassen, er habe eine bedeutende Sammlung verloren, die dann in einer anderen Stadt gezeigt wird. Diese fatale Entwicklung zeigt sich vielleicht am besten am Museumsufer in Frankfurt, das mit seinen zahlreichen Spezialmuseen nicht unerheblich zum kulturpolitischen Kollaps der Stadt beiträgt. Neben dieser Tendenz zu immer neuen Museumstypen, deren Entwicklung offen und thematisch überhaupt nicht zu begrenzen ist, da es sich ja praktisch um die Musealisierung der gesamten Lebens und Warenwelt der modernen Konsumgesellschaft handelt, die progressiv immer neue Sachkultur erzeugt17, sind erst in den letzten Jahren zahlreiche der ehrgeizigen Museumsgründen der achtziger Jahre eröffnet worden oder werden noch eröffnet. Vor allem die Industriemuseen sind größtenteils immer noch in der Vorbereitungsphase und geraten gleichzeitig in eine Entwicklung, welche nicht nur bestimmte industrielle Produktionsweisen und Lebens- und Arbeitsbedingungen musealisiert, sondern ganze Fabrikensembles und Industrielandschaften unter Denkmalschutz stellt. Sie werden zu großen industriellen Freilichtmuseen umgedeutet und touristisch vermarktet18, ähnlich wie dies mit den älteren Phasen der Geschichte etwa entlang der romantischen Straße, der Straße der Romanik oder der Weserrenaissance mit der Musealisierung ganzer Stadtensembles und Landschaften schon seit dem letzten Jahrhundert geschieht. Insofern meinen die Schlagworte vom „Zeitphänomen Musealisierung"19 oder „Musealisierung total"20 viel mehr als die Institution Museum selbst, nämlich die Konservierung und Ästhetisierung ganzer vergangener Lebenswelten21. Auch das Ausstellungswesen hat sich in den letzten zehn Jahren rasant weiterentwickelt. Zum einen sind die zahlreichen Museen nun in immer stärkeren Maße zu Wechsel- und Sonderausstellungen gezwungen, da ihre Dauerausstellungen schon nach wenigen Jahren von den potentiellen Besuchern gesehen worden sind und neue Besucher ohne mehr oder weniger spektakuläre Ausstellungsereignisse ausbleiben. Ebenso hat sich das System der mit besonderen Aufwand und bedeutenden Finanzmitteln betriebenen Großausstellungen etabliert. Es sind hier immer noch die alten Themen, etwa das sakrale Mittelalter, die an Attraktivität nichts verloren haben, wie die Bernward-Aus17 Vgl. hierzu: Michael Thomson: Theorie des Abfalls, Stuttgart 1982; Michael Fehr: Müllhalde oder Museum. Endstationen der Industriegesellschaft, in: Fehr/Grohö 1989, 182-96; Gottfried Korff: Popularisierung des Musealen und die Musealisierung des Populären, in: Gottfried Fliedl (Hg.): Das Museum als soziales Gedächtnis. Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft und Museumspädagogik, Wien 1988, 9 bis 21. Das beste Beispiel stellt zur Zeit wohl das Ruhrgebiet da, in dem in der Nachfolge der Internationalen Bauausstellung Emscherpark eigene Tourismusagenturen geschaffen werden, die den erwarteten Besucherstrom durch die noch ruinösen oder bereits musealisierten oder umgenutzten ehemaligen Industrieanlagen leiten sollen. Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Kommunalverband Ruhrgebiet (Hg.): Standorte. Jahrbuch Ruhrgebiet 1996/97, 137ff. 15 Wolfgang Zacharias: Zeitphänomen Musealisierung, in: ders. 1990, 9-30. Gottfried Korff: Musealisierung total? Notizen zu einem Trend, der die Institution, nach der er bekannt ist, hinter sich gelassen hat, in: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rtlsen (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln u.a. 1994, 129-44. 21 Vgl. Eva Sturm: Konservierte Welt. Museum und Musealisierung, Berlin 1991.
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Stellung in Hildesheim und die Imagination des Unsichtbaren" in Münster im Jahre 1993 oder die Ausstellungen Klosterwelt in Essen und Papst Leo und Karl der Große in Paderborn im kommenden Jahr zeigen. Auch die dynastische Herrscherausstellung existiert ungebrochen weiter. Neben den letzten noch nicht gezeigten mittelalterlichen Geschlechtern und Potentaten wie den Saliern (Speyer 1992) oder HEINRICH dem Löwen (Braunschweig 1995) wurden in den letzten Jahren in Berlin praktisch alle mehr oder weniger bedeutenden Preußenherrscher mit einer Ausstellung geehrt (FRIEDRICH II. 1986, WILHELM II. 1991 und FRIEDRICH W I L H E L M IV. 1995). In letzter Zeit sind es in Ermangelung weiterer deutscher Herrscher vor allem ausländische Potentaten, die den Ausstellungsreigen in Bewegung halten. Gezeigt wurden PETER der Große (Bremen 1991 und Amsterdam 1997), K A T H A R I N A die Große (Amsterdam 1997, Kassel 1998), die Romanows (Speyer 1994, Köln 1997) oder N A P O L E O N (Speyer 1998) und selbst eine dem deutschen Publikum eher fremde Königin wie CHRISTINA von Schweden wird im Jubiläumsjahr des Westfälischen Friedens ausstellungswürdig (Osnabrück 1998). Der Zuwachs der alten Geschlechter in den neuen Bundesländern (August der Starke, Dresden 1998) läßt ebenfalls auf weitere dynastische Highlights hoffen und sonst fängt man eben mit dem Abstand von über zwanzig Jahren mit den Karolingern und Staufern wieder von vorne an. Selbst die stadthistorischen Ausstellungen sind beileibe nicht an ihr natürliches Ende gekommen. Von allem in Folge der großen Hamburger Hanse-Ausstellung von 1988 veranstalteten mehrere der deutschen Hansestädte ebensolche Ausstellungen in kleinerem Maßstab (Wesel 1991, Soest 1994, Magdeburg/Braunschweig 1996). Und es wird weiterhin Stadtjubiläen geben wie 1994 das zwölfhundertjährige in Frankfurt, die zu großen Selbstdarstellungen der eigenen Geschichte Anlaß geben. Fehlt ein solches Jubiläum oder gibt die Geschichte der Stadt dies nicht her, so kann man auch hier auswärtige Metropolen präsentieren, wie es die Essener Villa Hügel mit anfänglich großen Erfolg einige Jahre lang versucht hat (Dresden 1986, Prag 1988, St. Petersburg 1996, London 1992, Paris 1994). Den mit Abstand größten Anteil am historischen Ausstellungswesen haben jedoch weiterhin die kulturhistorischen Ausstellungen, deren Zahl in den neunziger Jahren noch zugenommen hat. Hierbei handelt es sich zum einen um die Präsentation der klassisch griechisch-römischen Antike wie Kaiser Augustus (Berlin 1987), Pompeji (Stuttgart/ Hamburg 1993), Großgriechenland (Bonn 1996, Köln 1998) oder Delphi (Karlsruhe 1996). Dabei bleiben Ausstellungen mit klassischer Archäologie aber eher die Ausnahme, wahrscheinlich, weil in allen wichtigen europäischen Museen hervorragende Exponate im ausreichenden Maße in den Dauerausstellungen gezeigt werden, und die Stätten des klassischen Altertums zum festen Repertoire des Bildungstourismus gehören. Viel größere Beachtung finden die eher unbekannten Hochkulturen der Antike, wie Sumer, Assur und Babylon (Berlin 1988), die Phönizier (Venedig 1988, Hannover 1990), die Etrusker (Florenz 1985, Berlin 1993), die Kelten (Venedig 1992, Rosenheim 1993) oder die mykenische Welt, die anläßlich des 100. Todestages Heinrich SCHLIEM A N N N S ins Rampenlicht trat (Berlin 1990, Essen 1990) und mit der Präsentation des wieder aufgetauchten Priamos-Schatzes (Moskau 1996) ihren Höhepunkt fand. Es sind aber nicht nur die Hochkulturen des Mittelmeerraumes, die ausstellungswürdig sind, sondern praktisch alle europäischen Frühkulturen. Gezeigt werden die Skythen (Bonn 1997) und Skipetaren (Hildesheim 1988), die Germanen, Hunnen und Awaren (Nürn-
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berg/Frankfurt 1987/8), die Helvetier (Zürich 1991), die Wikinger, Waräger und Normannen (Berlin 1992), die Goten (Mailand 1993/4), Franken (Mannheim/Berlin 1996/ 1997), die Alemannen (Stuttgart 1997) und Iberer (Bonn 1998). Als Dauerbrenner erwies sich in der Nachfolge der Tut-ench-Amun-Schau das Thema Ägypten, das in immer neuen Präsentationen aufgelegt wurde (Kleopatra, München 1989; Pharaonendämmerung, Paris/Berlin 1990/91; Gott - Mensch - Pharao, Wien 1992; Götter Ägyptens, Hildesheim/Hamm 1993; Ägyptomanie, Paris 1994). Ähnlich verhält es sich mit der chinesischen Kultur. Allein in den neunziger Jahren fanden nicht weniger als fünf China-Ausstellungen statt: Jenseits der großen Mauer und Chinas goldenes Zeitalter 1990 bzw. 1993 in Dortmund, Kunst und Kultur des alten China und 5000 Jahre Erfindungen im alten China 1990 und 1994 in Hildesheim und schließlich Menschen und Götter im Alten China 1995/96 in Essen und München. Gerade die China-Ausstellungen gehören zu einem Typus, der weniger die zeitlich zurückliegenden und verschwundenen als vielmehr die räumlich entfernten und unbekannten Kulturen zeigt, also weniger auf Vertrautheit und Wiedererkennung als auf Alterität und Fremderfahrung setzt. Dies sind vor allem in der Tradition der El DoradoAusstellung die süd- und mittelamerikanischen Hochkulturen. Gezeigt werden die Kultur der Maya (Brüssel 1993), die altmexikanische Kultur (Stuttgart 1987, Brüssel 1993) und immer wieder das Inkagold aus Peru, das im Jahre 1994 als Gold der Fürstengräber erneut in Deutschland auftauchte. Es sind aber nicht nur die altamerikanischen Kulturen, die präsentiert werden. Es können afrikanische Kulturen wie die der Numider (Bonn 1980) oder des alten Sudan (München 1996), der Vordere Orient (Osmanisches Reich und Europa Und der Orient, Berlin 1988 bzw. 1992) oder der Ferne Osten sein (Mongolen, München 1989; Japan und Europa, Berlin 1994; Korea, Essen 1999). In den letzten Jahren kommen verstärkt die bisher kaum zugänglichen Kunst- und Kulturgüter der ehemaligen Sowjetunion hinzu (Aus den Schatzkammern Eurasiens, Zürich 1993; Armenien, Bochum 1999; Schätze bzw. Gold aus dem Kreml, Wien 1991, Bremen 1993, Rotterdam 1995). Es gibt praktisch keine Kultur, die zeitlich oder räumlich zu weit entfernt wäre, als daß sie nicht Gegenstand einer Ausstellung werden könnte. Ständig werden nur neue Exotische Welten (so der programmatische Titel der Stuttgarter Ausstellung von 1992 über die Vorstellung vom Alten Amerika) vorgestellt, welche sowohl das Sensationsbedürfnis der Besucher als auch den Innovationszweck, dem die Veranstalter ausgesetzt sind, befriedigen. All dies ist aber nur eine, nämlich die kulturhistorische Seite des Ausstellungswesens. Ausgelöst durch die Diskussion über die Verarbeitung der NS-Vergangenheit im sogenannten Historikerstreit und die Eröffnung der beiden deutschen Geschichtsmuseen in Berlin und Bonn kam es ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zu den ersten großen Ausstellungen zur Zeitgeschichte. Ausstellungen wie Kulissen der Gewalt 1986 in Nürnberg, Inszenierung der Gewalt 1997 in Berlin und Hauptstadt der Bewegung 1994 in München thematisierten das NS-System, Präsentationen wie Überleben im Krieg in Essen und 1.9.39 in Berlin im Jahre 1989, Der Krieg gegen die Sowjetunion in Berlin 1991 und die inzwischen berühmt gewordene Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg. Dabei spielen die zahlreichen Gedenktage und Jubiläen ab Ende der achtziger Jahre eine wichtige Rolle. Das Umbruchjahr 1989 war nicht nur der fünfzigste Jahrestag des Kriegsbeginns sondern auch der vierzigste - und letzte - Jahrestag der beiden deutschen Staaten und führte in der Bundesrepublik gleich zu mehreren Ausstellungen ihrer jungen
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Geschichte in Bonn, Nürnberg und Berlin und zu einer offiziellen Wanderausstellung der Bundesregierung durch alle Landeshauptstädte. 1994 kam es anläßlich des Kriegsbeginns 1914 zu Ausstellungen über den Ersten Weltkrieg (Die letzten Tage der Menschheit in Berlin, Der Erste Weltkrieg. Vision und Realität in Hamburg) ebenso wie über die Zwischenkriegszeit (Die Zwanziger Jahre. Zwischen Traum und Trauma in Mannheim). Es sind überhaupt die Jahrestage und Jubiläen, die zunehmend das Ausstellungsgeschehen bestimmen und neue Themen anliefern. So fanden im Jahre 1989 neben den bereits genannten Ausstellungen zum Kriegsbeginn und der Gründung der BRD eine ganze Reihe von Ausstellungen zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution statt, u.a. in Paris, Hamburg, Frankfurt und Nürnberg. 1992 feierte man die fünfhundert Jahre zurückliegende Entdeckung Amerikas mit Ausstellungen in Berlin, Stuttgart und Sevilla und in diesem Jahr wird nicht nur des 350ten Jahrestages des Westfälischen Friedens mit einer gigantischen Doppelausstellung in Münster und Osnabrück, sondern auch der Revolution von 1848 mit Ausstellungen in Frankfurt, Karlsruhe, Trier und weiteren süddeutschen Städten und schließlich der 68er-Bewegung mit Ausstellungen u.a. in Düsseldorf, Frankfurt und Essen gedacht. Ähnliches gilt für die Geburts- oder Todesdaten berühmter Persönlichkeiten. Seit dem LUTHER-Jahr 1983, in dem sich beide deutschen Staaten in mehreren Ausstellungen u.a. in Hamburg und Ostberlin um die Traditionslinie zu dem Reformator bemühten, werden unterschiedlichste Personen mit Ausstellungen und begleitenden Kulturveranstaltungen geehrt. Und bei der Auswahl gibt es praktisch keine Einschränkungen: es kann sich um Komponisten (MOZART, Wien 1 9 9 1 ) , Dichter (GOETHE, Frankfurt 1 9 9 4 ) , Wissenschaftlicher (DARWIN, Dresden 1 9 9 3 ) , Unternehmer (ROTHSCHILDS, Frankfurt 1 9 9 4 ) , Staatsmänner (BISMARCK, Berlin 1 9 9 6 ) oder Politiker (RATHENAU, Berlin 1 9 9 3 ) handeln. Hier erwächst dem Ausstellungswesen für die nächsten Jahre ein unerschöpfliches Themenreservoire. Dabei dienen die Personen und ihre Lebensdaten häufig nur als Anlaß für ganze Zeitpanoramen. Und damit liegen sie im aktuellen Trend des Ausstellungswesens, das sich beeinflußt durch die neuen Paradigmen der Mentalitätsgeschichte, der Mikrohistorie und der historischen Anthropologie - seit Beginn dieses Jahrzehnts verstärkt Kulturanthropologischen Themen widmet. Diese sind in ihrer Vielfalt praktisch unbegrenzt. Sie reichen von der Massenunterhaltung im 19. Jahrhundert (Sehnsucht, Bonn 1993) über das Freizeitverhalten um die Jahrhundertwende (Viel Vergnügen, Essen 1997) bis zur Kulturgeschichte des Films (Die Ufa, Berlin 1992/93; Filmstadt Babelsberg, Potsdam 1994) und des Fernsehens {Der Traum vom Sehen, Oberhausen 1997/98), von der Geschichte der Mode {Anziehungskräfte, München 1986; z.B. Schuhe, Zürich u.a. 1991; Die verlassenen Schuhe, Bonn/Heidelberg 1994/95) bis zur Geschichte des Reisens (Die Reise nach Berlin, Berlin 1988; Zeit der Postkutsche, Frankfurt 1992; Der Petersburger auf Reisen, Petersburg u.a. 1996/97). Themen können die Seuchen sein ebenso wie die Pille (Dresden 1996), die Geschichte von Genußmitteln wie dem Wein (Speyer 1996), aber auch mentale Dispositionen wie die Liebe zum Teddybären (Essen/Wien 1991/92; München 1996). Sicherlich kristallisieren sich Schwerpunkte heraus, etwa die Geschichte der Frauenemanzipation und der Geschlechterverhältnisse, die schon seit Mitte der achtziger Jahre zu einer Reihe von Ausstellungen gefuhrt hat (Eva und die Zukunft, Hamburg 1985; Die Braut, Köln 1985; Die Bonnerinnen, Bonn 1989; Sklavin oder Bürgerin?, Frankfurt
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1989; Männerbünde, Köln 1990; Die Galerie der starken Frauen, Düsseldorf 1995; „Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren", Münster 1995/96; Bubikopf und Gretchenzopf. Die Frau in den 20er Jahren, Böblingen 1996; Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich, Köln 1997/98). Es sind aber beileibe nicht nur menschliche Dispositionen oder Sichtweisen, die ausgestellt werden. Gezeigt wird die Geschichte von Flüssen (Elbe, Dresden u.a. 1991/92; Rhein, Bonn u.a. 1995) und von Straßen (Transit Brügge-Norgorod, Essen 1997), von der Veränderung der Landschaft {Die Eroberung der Landschaft, Niederösterreich 1992) und den ökologischen und sozialen Folgen {Erdsicht, Bonn 1992). Das Ausstellungswesen ist im Verlauf der letzten zwanzig Jahre pluralistisch geworden, es folgt einem weiten Kulturbegriff und ist gleichzeitig längst fester Bestandteil des allgemeinen Kulturbetriebes, der ständig bemüht ist, neue, aufsehenerregende Kulturereignisse zu kreieren. Der Museums- und Ausstellungsboom der achtziger und neunziger Jahre stellt beileibe keine separate Erscheinung dar. Er ordnet sich vielmehr ein in die allgemeine Konjunktur für Geschichte, die sich in äußerst erfolgreichen Filmen und Fernsehreihen, in einer Flut von historischen Sachbüchern und Romanen und zahllosen historischen Jubiläumsfeiern, Jahrmärkten und Kostümspektakeln äußert. Jörn RÜSEN hat für dieses Phänomen, das der Geschichte einen völlig neuen Stellenwert im öffentlichen Bewußtsein und im Grenzbereich zwischen Politik, Wissenschaft und Ästhetik zuweist, ebenfalls vor exakt zehn Jahren den Begriff „Geschichtskultur"22 vorgeschlagen. Er beschreibt sowohl die unterschiedlichen Formen der öffentlichen Geschichtsdarstellung und analysiert zugleich die ihnen zugrundeliegenden Intentionen und Funktionen. Zwar hat dieser Begriff sich in der öffentlichen Debatte verblüffend schnell durchgesetzt23, die theoretische Reflexion darüber läßt aber mehr als zu wünschen übrig. So findet innerhalb der Fachwissenschaft Geschichte und selbst in ihren theoretischen und didaktischen Teildisziplinen bis auf wenige Ausnahmen eine Diskussion über die öffentliche Geschichtskultur im allgemeinen und über das historische Museum, bzw. die historische Ausstellung im besonderen nicht statt.24 Aber auch innerhalb des Museumswesens ist weiterhin ein tiefes Mißverhältnis zwischen pragmatischen Tatendrang und theoretischer Selbstreflexion festzustellen. Zwar kam es gerade im Vorfeld der oben beschriebenen Debatte um die beiden deutschen Geschichtsmuseen und durch die öffentliche Beachtung und politische Bedeutung, die den Museen in dieser Zeit zuteil wurde zu einer ganzen Reihe von Tagungen und Kongressen, die dann ab Ende der achtziger Jahre zu einer Reihe von Sammelbänden führten. Sie beschäftigten sich zum einen 22
Jörn Rüsen: Vernunftpotentiale der Geschichtskultur in: ders./Eberhard Lämmert/Peter Glotz (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt (M.) 1988, 105-14; ders.: Geschichtskultur als Forschungsproblem, in: Klaus Fröhlich/Heinrich Theodor Grütter/Jöm Rüsen (Hg.): Geschichtskultur, Pfaffenweiler 1992, 39-50; ders.: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Füßmann/Grütter/Rüsen 1994, 3-26; ders.: Geschichtskultur, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), 513-21; ders.: Geschichtskultur, in: Klaus Bergmann/Klaus Fröhlich/Annette Kuhn/Jörn Rüsen/Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 5 1997, 38 bis 41. 23 So existiert im Ruhrgebiet seit einigen Jahren das Forum Geschichtskultur an Rhein und Emscher, in dem sich die Geschichtsvereine und -initiativen der Region zusammengeschlossen haben, die ehemaligen Industrieanlagen werden in Zukunft von der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur betreut und der Bereich Geschichtskultur existiert bei der regionalen Kulturförderung als eigene Kultursparte neben Musik, Tanz, Theater und Kunst. 24 Eine der seltenen Ausnahmen stellt der Beitrag von Bodo von Borries: Präsentation und Rezeption von Geschichte im Museum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 337-43 dar.
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mit dem gesellschaftlichen Prozeß der Musealisierung , zum anderen nahmen sie aber auch die unterschiedlichen Konzeptionen von Museen und Ausstellungen und damit die ästhetische Dimension des Mediums Museum in den Blick.26 Aber bei aller vergleichender Analyse von Ausstellungskonzeptionen, bei der Erörterung der Frage des Verhältnisses von Objekt und Inszenierung, von Inhalt und Gestaltung kam es trotzdem zu keiner geschlossenen oder auch nur ansatzweisen Theoriebildung, und so sind es praktisch nur Stephen BANN27 in England, Gottfried KORFF28 in Deutschland und Gottfried FLIEDL2 in Österreich, die sich mit unterschiedlichen Rückgriffen auf John RUSKIN, Aby WARBURG, Walter BENJAMIN und Hayden WHITE um Bausteine für eine Museumsund Ausstellungstheorie bemühen. Die allgemeine Diskussion zur Museologie ist bereits Mitte der neunziger Jahre wieder eingeschlafen30 und angesichts leerer Kassen und rückläufiger Besucherzahlen in den Dauerausstellungen beschäftigt man sich vornehmlich mit Fragen des Marketings, Merchandisings und Fundraising und sonnt sich dabei in der neuen Rolle des „Kulturmanagers"31. Ähnlich verhält es sich mit dem Ausstellungswesen. Nach anfänglicher Kritik an Prestige- und Imponiergehabe zu Lasten der normalen Museumsarbeit , nach konservatorischen Bedenken gegenüber den wandernden Kulturgütern, dem „Tod auf Reise-Raten"33 und dem Zweifel an Erkenntnis- und Kritikpotentialen der affirmativen Jubelausstellun-
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Zacharias 1990; Sturm 1991; vgl. auch Henri Pierre Jeudy: Die Welt als Museum, Berlin 1987 Fliedl 1988; Fliedl/Muttenthaler/Posch 1992; Fdhr/Grohö 1989; Rüsen/Grütter/Ernst 1988; Oliver Bätz/Udo Gößwald: Experiment Heimatmuseum. Zur Theorie und Praxis regionaler Museumsarbeit; Marburg 1988; Hans-Hermann Groppe/Frank Jürgensen (Hg.): Gegenstände der Fremdheit. Museale Grenzgänge, Marburg 1989; Udo Liebelt: Museum der Sinne. Bedeutung und Didaktik des originalen Objekts im Museum, Hannover 1990; Hermann Auer (Hg.): Museologie. Neue Wege - Neue Ziele, München u.a. 1989; Achim Preiß/Karl Stamm/Frank Günter Zehnder (Hg.): Das Museum. Die Entwicklung in den 80er Jahren, Köln 1990; Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.): Erzählen, Erinnern, Veranschaulichen. Theoretisches zur Museums- und Ausstellungskommunikation, Wien 1992; Margarete Erber-Groiß/Severin Heinisch/Hubert C. Ehalt/Helmut Konrad (Hg.): Kult und Kultur des Ausstellens. Beiträge zur Praxis, Theorie und Didaktik des Museums, Wien 1992; Gottfried Korff/Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt (M.) u.a. 1990; Gottfried Korff/Hans-Ulrich Roller (Hg.): Alltagskultur passi? Positionen und Perspektiven volkskundlicher Museumsarbeit, Tübingen 1993. 27 Vgl. z.B. in deutscher Übersetzung: Stephen Bann: Das ironische Museum, in: Rüsen/Ernst/Grütter 1988, 63-68; ders.: Die Kleidung der Clio. Die Präsentation von Geschichte im Museum des 19. Jahrhunderts, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstäte, Museum, Frankfurt (M.) 1998. 28 Vgl. z.B. Gottfried Korff/Martin Roth: Einleitung, in: Korff/Roth 1990, 9-37; Korff 1994; ders.: Ausgestellte Geschichte, in: Saeculum 43 (1992), 21-35. Vgl. z.B. Gottfried Fliedl: Testamentskultur: Musealisierung und Kompensation, in: Zacharias 1990, 166-79; ders.: Die Zivilisierten vor den Vitrinen, in: Groppe/Jürgensen 1988, 22-40. 30 Ausnahmen sind teilweise sehr gute Bände zu Spezialthemen wie Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hg.): Reaktionäre Modernität und Völkermord. Probleme des Umgangs mit der NS-Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten, Essen 1994 oder Hans-Martin Hinz (Hg.): Der Krieg und seine Museen, Frankfurt (M.) u.a. 1997. 31 Vgl. etwa den letzten Icom-Band: Hans-Albert Treff (Hg.): Museen unter Rentabilitätsdruck. Engpässe-Sackgassen-Auswege, München 1988. 32 Mai 1986, 92ff, Lenz Kriss-Rettenbeck: Das Problem großer historischer Ausstellungen, in: Museumskunde 45 (1980), 115-33. 33 So der Titel des Artikels von Helmut Börsch-Supan in: Die Zeit v. 17.10.1985. 26
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gen 34 sind diese Vorbehalte längst verschwunden. Im Gegenteil giert jedes Museum, jede Ausstellungshalle und jeder Kulturpolitiker nach großen Ausstellungs-"Events", die mediale Beachtung und Rekordbesucherzahlen versprechen. Eine wirkliche Ausstellungskritik oder gar eine theoretische Auseinandersetzung findet praktisch nicht mehr statt. Ausstellungen sind zum Teil eines großen Freizeitanimations- und Amüsementsbetriebes geworden, der nach immer neuen und größeren Effekten schreit. 3. Theoretische Überlegungen Wie sollte nun aber eine Theorie des historischen Museums aussehen, die auf der einen Seite kohärent und allgemeingültig, auf der anderen Seite offen für die unterschiedlichsten Museen und Ausstellungen ist 5; die das Besondere des Mediums Museum gegenüber anderen Formen der Geschichtsdarstellung ebenso herausarbeitet wie das spezifisch historische des Geschichtsmuseums gegenüber anderen Museumsformen? Sicherlich ist das besondere Charakteristikum von der Erforschung und Vermittlung von Geschichte im Museum der Objektbezug und zwar in zweierlei Hinsichten: Das historische Museum versammelt zum einen die materiellen, nichtschriftlichen Hinterlassenschaften der Vergangenheit, es ist ein großes Sacharchiv der materiellen Kultur. Zum anderen macht es diese Überreste einer Öffentlichkeit zugänglich und ermöglicht damit eine bestimmte Form historischer Erkenntnis. Damit unterscheidet es sich sowohl von anderen Speichern der Vergangenheit, wie der Bibliothek oder dem Archiv, als auch von anderen Formen der Geschichtsvermittlung, wie dem Geschichtsbuch, aber z.B. auch dem Film. Dabei definieren sich die Aufgaben des Museums im Sammeln, Bewahren, Erforschen, Ausstellen und Vermitteln der historischen Relikte. Will man innerhalb dieser Tätigkeiten eine Hierarchie aufstellen, so liegt sie zumindest im öffentlichen Museum einer demokratischen Gesellschaft beim Ausstellen, denn alle anderen Aktivitäten sind dem Zweck untergeordnet, die Exponate einem Publikum unter bestimmten Maßgaben und Intentionen zu zeigen 36 , ebenso wie das letzte Ziel der Geschichtswissenschaft die historische Darstellung ist. Genau wie diese bildet das historische Museum Vergangenheit nicht einfach ab, sondern es formuliert Interessen mit Dingen zeitspezifisch und entspricht damit dem Erkenntnisprozeß des historischen Denkens, welchem wiederum auch die Geschichtswissenschaft folgt. Schon die Sammlungsstrategien der Museen zeigen diese historische Bedingtheit. Museale Sachüberlieferung bildet sich im Unterschied zu manchen Archivkomplexen, die aus den Geschäften hervorgehen, nicht von selbst. Museale Sammlungen sind das Ergebnis einer Tätigkeit, in der historische Auswahlkriterien, Bewertungen und Interessen eine Rolle spielen. Sie gehören zum „System der kulturellen Überlieferung, in dem die Überreste gefiltert werden" 37 . Und dies geschieht nicht etwa auf natürliche oder unschuldige Weise. Dieser Prozeß ist häufig mit politischen Interessen, restriktiven Gesetzen und Kodierungen von Vergangenheit und Zukunft verbunden. Insofern offenbart das Museum mit seinem Vorhaben der kulturellen Erhaltung ebenso die Willkür der kul-
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Gerhard Majce: Großausstellungen. Ihre Kulturpolitische Funktion - ihr Publikum, in: Fliedl 1988, 63 bis 79; Gottfried Fliedl: Ausstellungen als populistisches Massenmedium, in: Ästhetik und Kommunikation 1 8 ( 1 9 8 7 ) , H.67/68. 35 Vgl. zum Folgenden Heinrich Theodor Grütter: Geschichte im Museum, in: Bergmann/Fröhlich/Kuhn /Rilsen/Schneider 1997, 7 0 7 - 1 3 sowie ders.: Die historische Ausstellung, ebd., 668-74. 36 Vgl. Krszystof Pomian: Museum und Kulturelles Erbe, in: Korff/Roth 1990, 41-64, hier 41. 37 Korff/Roth 1990, 19.
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turellen Auswahl. Durch seine musealen Selektionen und Darstellungsbasichten formt und gestaltet das Museum selbst die geschichtliche Überlieferung. Dieser Tatsache muß sich das Museum und jede Ausstellung bewußt sein, indem sie nicht suggerieren, sie verfugten potentiell über die gesamten Relikte der Vergangenheit, sondern indem sie den Überlieferungszufall selbst thematisieren. Die Bewahrung von Objekten im Museum läßt ihnen einen speziellen Schutz zuteil werden, der deshalb notwendig wird, weil sie ihrem ursprünglichen Gebrauchszusammenhang entzogen worden sind und keinen Gebrauchs- oder Materialwert haben, der vom Markt reguliert wird, sondern in ihrer neuen Funktion einen symbolischen Wert besitzen. Verkürzt läßt sich sagen, je älter, je seltener und vor allem je symbolträchtiger ein Objekt ist - also je nachdem, auf welche bedeutenden Personen, Ereignisse und Zusammenhänge der Vergangenheit es verweist - desto höher ist sein Wert und desto größere Sicherheitsvorkehrungen müssen im Museum getroffen werden. Dabei steigt der Wert der Objekte tendenziell immer weiter. Denn im Unterschied zu ihrem ursprünglichen Entstehungs- und Gebrauchszusammenhang sind sie endlich. Sie können nicht in der jeweiligen Gegenwart reproduziert oder kopiert werden, denn ihr Wert besteht ja gerade darin, daß sie einer Vergangenheit entstammen, die verschwunden und nicht wieder einholbar ist. Walter B E N J A M I N hat dieses Phänomen der Authentizität, der physischen Existenz in der Gegenwart und der Herkunft aus der Vergangenheit mit dem Begriff der „Aura" beschrieben, die den Objekten eigen ist38. Mit dem Funktionswandel, den ein Objekt im Musealisierungsprozeß erfahren hat, ist es in den Zustand der Dauerhaftigkeit getreten, der seine physische Erhaltung notwendig erscheinen läßt. Hierzu haben die Museen zahlreiche Konservierungstechniken entwickelt und entwickeln diese weiter, auch wenn es sich dabei um eine Sisyphusarbeit handelt, da kein Objekt dem Alterungsprozeß auf Dauer gänzlich entzogen werden kann. Die konservatorischen Probleme des Museums fuhren aber unmittelbar zu Fragen der Restaurierung, das heißt, welche dem Objekt inkorporierte Zeitschicht und Lebensspur erhalten werden soll. Und diese Frage wiederum ist eng mit der Erforschung der Objekte verbunden. Diese folgt zunächst einmal den quellen- und traditionskritischen Methoden der modernen Geschichtswissenschaften, das heißt, sie bearbeitet zuerst das konkrete Material des einzelnen Objektes, erforscht die Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte sowie die historischen und soziokulturellen Strukturen, denen das Objekt entstammt, schließlich das System von Zeichen und anderen Gebilden, die das Objekt konstituieren. Am Ende steht die Einordnung in den Sammlungsbestand des Museums39. Dieser Forschungsprozeß geht zwar vom jeweiligen Objekt aus, er zieht jedoch alle potentiellen Vergleichsobjekte und vor allem alle von den allgemeinen Geschichts- und Kulturwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse hinzu. Er ist insofern museumsspezifisch, als er das originale Objekt mit seinen Aussagepotentialen zum Ausgangspunkt nimmt. Er ist zugleich aber auch Teil der gesamten geschichtswissenschaftlichen Forschung, die versucht, aus unterschiedlichsten Quellen ein immer wieder neues Bild der Vergangenheit zu zeichnen; und er ist für die Vermittlung von Geschichte im Museum um so bedeutender, als das im Prozeß der Musealisierung aus seinem ursprünglichen Funktionszusammenhang herausgefallene Objekt als einzelnes keinerlei historische Aussagekraft hat und zunächst schweigt. 38 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt (M.) "1970, 18. 39 Kriss-Rettenbeck 1980, 116f.
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Gerade dadurch, daß die Überreste der Vergangenheit im Museum von ihrem ursprünglichen Kontext enträumlicht und entzeitlicht werden, werden sie in dem Maße unverständlich, fremd und interpretationsbedürftig, in dem sie ihre ursprüngliche Bedeutung abgestreift haben. Sie bedürfen, wie Gottfried KORFF es nennt, der „Redimensionierung" und „Rekontextualisierung"40, der immer neuen Aneignung, Deutung und Erklärung, und zwar vom Standpunkt der jeweils gegenwärtigen historischen Erkenntnis. Das Museum hat somit nicht nur eine bewahrende, sondern auch eine interpretierende Beziehung zur Vergangenheit. Die Erstellung eines Beziehungs- und Bedeutungszusammenhanges erfolgt im Museum in Form der Ausstellung. In der Ausstellung werden die in der Erforschung des Objektes gewonnenen Informationen vermittelt. Dies geschieht zunächst in Form von Objektbeschriftungen und begleitenden Informationstexten. Sie geben aber nur im Ansatz die zahlreichen und unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionsweisen wieder, die ein Objekt bei seiner Entstehung und in seiner Objektgeschichte gewonnen hat. Vor allem sagen sie nichts oder nur wenig über die Lebensweisen und historischen Zusammenhänge aus, in denen das Objekt eine Rolle gespielt hat. Dabei kann das Museum vergangenes Leben in seinem ganzen Umfang sowie nicht zur Darstellung bringen. Schon DROYSEN hat die Vorstellung von der lückenlosen Darbietung des Historischen, die in den Museen in einer Auffassung von einem ganzheitlichen und richtigen Verständnis der Vorzeit durch die Vollständigkeit der Quellen, der dinglichen, bildlichen und schriftlichen Zeugnisse besteht, in das Reich der Illusion verwiesen41. Geschichte als historischer Prozeß selbst ist nicht ausstellbar42. Versteht man Geschichte aber nicht als das zeitliche Geschehen selbst, sondern als dessen Interpretation durch das sich erinnernde und orientierende Bewußtsein, wie es die moderne Geschichtstheorie nahelegt43, so entsteht ein neues Gebilde, das nicht als Spiegelbild des realen Lebensgeschehens aufgefaßt werden kann. Die dem Museum adäquate Präsentationsform versucht, die Objekte nicht allein über den Text zu erläutern, sondern durch die Zusammenstellung aussagekräftiger Ensembles von Objekten, die sich wechselseitig erläutern und erklären - ein Mittel der Erkenntnis, das in der Logik des Museums als Ort der Sammlung anschaulicher Objektwelten liegt. Das sinnkonstituierende Moment über die Semantik der einzelnen Objekte hinaus ist somit die konkrete Raumsituation, jenes auf der räumlichen Anordnung der Dinge basierende Beziehungsgeflecht, das sich dem sehenden Betrachter erschließt44. Gerade die Anordnung der Objekte im dreidimensionalen Raum, der ja nach Standort und Perspektive unterschiedliche Sichtweisen und Kombinationen zuläßt, garantiert die Mehrdeutigkeit und unterschiedliche Lesbarkeit der Exponate, die ja nicht nur innerhalb des Zusammenhanges, in den sie die Ausstellung einordnet, ihre Bedeutung haben. Sie setzt zumindest potentiell ihren Sinnüberschuß frei und ermöglicht die Multiperspektivität ihrer Deutung.
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Korff 1994, 139. Vgl. Bernward Deneke: Realität und Konstruktion des Geschichtlichen, in: Korff/Roth 1990, 65-86, hier 74. 42 Werner Schäffke: Geschichte ist nicht darstellbar, in: Preiß/Stamm/Zehnder 1990, 279-97. 43 Vgl. Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik l-III, Göttingen 1983-89. 44 Vgl. Sigrid Godau: Inszenierung oder Rekonstruktion? Zur Darstellung von Geschichte im Museum, in: Fehr/Groh