Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“ 9783110366112, 9783110370461

Wittgenstein wanted to adopt “a far-distant point of view” and look at philosophical problems from an ethnological persp

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German Pages 467 [468] Year 2014

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Table of contents :
Einleitung
1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede
1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff
1.1.1 Der Mensch in der roten Glasglocke
1.1.2 Symbolische Bedeutung
1.1.3 Ein Leben beschreiben: beeindruckende Darstellungen
1.1.4 Der Handlungscharakter ethischer Sätze
1.2 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“
1.2.1 „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen“ – Renans Primitive
1.2.2 Das „Charakteristische am erwachenden Geist des Menschen“
1.2.3 James Jeans geheimnisvolles Universum
2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough
Vorbemerkung 1: „A long chronicle of folly and crime“. Der Golden Bough und seine Theorien
Vorbemerkung 2: ‚Wild‘ und ‚primitiv‘. Wortfelder bei Wittgenstein
2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied
2.1.1 Der erste Gedankengang: Metaphysik als eine „Art der Magie“
„Die magische Auffassung der Zeichen statt der logischen“. Ogden, Richards und der Glaube an die „Macht der Worte“
Die Magie in der Logik des modernen Menschen. Wittgenstein über die Logisch-philosophische Abhandlung
Die Quelle des Irrtums: Die Mythologie in den Formen unserer Sprache
Universalistische Tendenzen. Das Fremde und das Eigene
Wandlungen der Bedeutung in Sprache und Ritus
Missverständnisse der Sprachlogik. Paul Ernst, Frazer und Wittgenstein
2.1.2 Der zweite Gedankengang: wider die intellektualistische Deutung der Magie
Wissen-Wie und Wissen-Dass: Meinungen und Handlungen
Die Handlungen eines zeremoniellen Tiers. Riten und Techniken
„Es ist höchste Zeit, daß wir diese Erscheinungen mit etwas anderem vergleichen“. Zweckhandlungen und/oder Ausdruckshandlungen?
2.2 „Nichts ist so schwierig wie […] Gerechtigkeit gegen die Tatsachen.“ Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?
2.2.1 Erklärung und Beschreibung
Form der Darstellung als Weltanschauung?
Die „Oktaeder-Darstellung“
„Vielleicht treffen unsere Einwände überhaupt nicht den Inhalt des entworfenen Bildes, sondern nur die Form der Darstellung dieses Inhalts“
„Es kann einem Buch ein Mißverständnis seiner Funktion und Bedeutung zugrunde liegen“
2.2.2 „Poetische Anthropologie.“ Eine rätselhafte und grausame Regel
„The priest who slew the slayer, and shall himself be slain“. Viele Fragen und keine
Gleichartigkeit religiösen Handelns
„It is a somber picture, set to melancholy music“. „Wenn Frazer anfängt und uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt […]“
Symbole zusammenstellen
Sätze in der ersten Person und ihre ‚phänomenologische‘ Deutung
2.2.3 Die Urpflanze und die Mistel: eine Morphologie des Rituellen
Formale Zusammenhänge übersichtlich darstellen
Formale Zusammenhänge erfinden. Paul Ernst und Goethe
Goethes Morphologie und die Sprache in ihrer Umgebung
„[S]ome sort of order and system“. Ist Wittgensteins Darstellungs-Konzept zu eng an den Golden Bough angelehnt?
2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff
2.3.1 Ein neues Kontextbewusstsein
2.3.2 Spengler: Morphologie als Kunst des Vergleichens
3 Wittgensteins „propaganda for a descriptive method, instead of an explanatory.“ Die Vorlesung im May Term 1933
3.1 Moores Mitschrift
3.2 „A Rainbow of Meanings“. Ästhetische Untersuchungen
3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933
3.3.1 „When a man worships idols“. ‚Gott‘ und seine Grammatik
3.3.2 „Looking for o n e cause t h e cause, when there are 50.“ Der Begriff „Überlebsel“ und die Irrtümer der Entstehungsgeschichte
3.3.3 Darwin über menschlichen Ausdruck
3.3.4 So tun, als ob: Die „Zerstörung eines Ebenbildes“ und ihre eigentümliche Ernsthaftigkeit
3.3.5 „That they point, is all there is to it“
3.3.6 Frazer, Darwin und Freud
3.3.7 „Why does this thing impress us so much?“
4 Die spätere Auseinandersetzung mit dem Golden Bough: Die losen Blätter in der Abridged Edition (MS 143)
4.1 Familienähnlichkeit und „Assoziation der Gebräuche“
4.2 „Die Gelehrten die immer e i n e Theorie haben möchten!!!“ Sonnentheorie und Reinigungstheorie
4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in den Bemerkungen über die Fire-festivals of Europe
4.3.1 „Der Begriff des ‚Festes‘“ und seine historischen Wandlungen
4.3.2 „Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche sie erwartet“
4.3.3 Eine freudsche Urszene?
5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen. Wittgensteins „ethnologische Betrachtungsweise“
5.1 Genrebild und Porträt. Mentalistische Versuchungen
5.2 „Das kommt drauf an, was für eine Rolle sie in seinem Leben spielen.“ Im Gespräch mit Sraffa
5.3 Ethnologische Übersetzungen. Malinowski, Ogden und Richards, Waismann
5.4 „Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele.“ Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?
5.4.1 „Allerlei Grade“, Zwischenstufen und Formen von Glauben
5.4.2 Unbewusster Glaube?
5.4.3 „Wie können sie das glauben?“ – „Wie glauben sie es?“
5.5 „What the hell’s the point of doing this“? Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘
5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen
5.6.1 Ein gemeinsames Weltbild
5.6.2 „Wir würden trachten, ihm unser Weltbild zu geben“
Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough im Kontext des Nachlasses
Konkordanzen
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Ludwig Wittgenstein. Werk- und Briefausgaben
James George Frazer. Schriften
Sonstige Literatur
Namenregister
Sachregister
Danksagung
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Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“
 9783110366112, 9783110370461

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Marco Brusotti Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“

Über Wittgenstein

Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. von James Conant, Wolfgang Kienzler, Stefan Majetschak, Volker Munz, Josef G.F. Rothhaupt, David Stern und Wilhelm Vossenkuhl

Band 2

Marco Brusotti

Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-037046-1 e-ISBN 978-3-11-036611-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung  . .. .. .. .. . .. .. .. 

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24 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede 24 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff 24 Der Mensch in der roten Glasglocke 27 Symbolische Bedeutung Ein Leben beschreiben: beeindruckende Darstellungen Der Handlungscharakter ethischer Sätze 37 42 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“ „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das 42 Erstaunen“ – Renans Primitive Das „Charakteristische am erwachenden Geist des 54 Menschen“ James Jeansˈ geheimnisvolles Universum 57

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Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough 62 Vorbemerkung 1: „A long chronicle of folly and crime“. Der Golden 62 Bough und seine Theorien Vorbemerkung 2: ‚Wild‘ und ‚primitiv‘. Wortfelder bei 68 Wittgenstein Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer 74 Unterschied Der erste Gedankengang: Metaphysik als eine „Art der 76 Magie“ „Die magische Auffassung der Zeichen statt der logischen“. Ogden, Richards und der Glaube an die „Macht der Worte“ 76 | Die Magie in der Logik des modernen Menschen. Wittgenstein über die Logisch-philosophische Abhandlung 82 | Die Quelle des Irrtums: Die Mythologie in den Formen unserer Sprache 89 | Universalistische Tendenzen. Das Fremde und das Eigene 93 | Wandlungen der Bedeutung in Sprache und Ritus 98 | Missverständnisse der Sprachlogik. Paul Ernst, Frazer und Wittgenstein 107

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Inhalt

Der zweite Gedankengang: wider die intellektualistische Deutung der Magie 120 Wissen-Wie und Wissen-Dass: Meinungen und Handlungen 120 | Die Handlungen eines zeremoniellen Tiers. Riten und Techniken 148 | „Es ist höchste Zeit, daß wir diese Erscheinungen mit etwas anderem vergleichen“. Zweckhandlungen und/oder Ausdruckshandlungen? 165 „Nichts ist so schwierig wie […] Gerechtigkeit gegen die Tatsachen.“ 191 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen? Erklärung und Beschreibung 191 Form der Darstellung als Weltanschauung? 191 | Die „Oktaeder-Darstellung“ 195 | „Vielleicht treffen unsere Einwände überhaupt nicht den Inhalt des entworfenen Bildes, sondern nur die Form der Darstellung dieses Inhalts“ 199 | „Es kann einem Buch ein Mißverständnis seiner Funktion und Bedeutung zugrunde liegen“ 201 „Poetische Anthropologie.“ Eine rätselhafte und grausame 205 Regel „The priest who slew the slayer, and shall himself be slain“. Viele Fragen und keine 205 | Gleichartigkeit religiösen Handelns 210 | „It is a somber picture, set to melancholy music“. „Wenn Frazer anfängt und uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt […]“ 219 | Symbole zusammenstellen 223 | Sätze in der ersten Person und ihre ‚phänomenologische‘ Deutung 227 Die Urpflanze und die Mistel: eine Morphologie des 232 Rituellen Formale Zusammenhänge übersichtlich darstellen 232 | Formale Zusammenhänge erfinden. Paul Ernst und Goethe 242 | Goethes Morphologie und die Sprache in ihrer Umgebung 248 | „[S]ome sort of order and system“. Ist Wittgensteins Darstellungs-Konzept zu eng an den Golden Bough angelehnt? 253 262 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff 262 Ein neues Kontextbewusstsein Spengler: Morphologie als Kunst des Vergleichens 264 Wittgensteins „propaganda for a descriptive method, instead of an explanatory.“ Die Vorlesung im May Term 1933 274 274 Moores Mitschrift

Inhalt

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„A Rainbow of Meanings“. Ästhetische Untersuchungen 276 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933 282 „When a man worships idols“. ‚Gott‘ und seine 282 Grammatik „Looking for o n e cause t h e cause, when there are 50.“ Der Begriff „Überlebsel“ und die Irrtümer der 284 Entstehungsgeschichte 291 Darwin über menschlichen Ausdruck So tun, als ob: Die „Zerstörung eines Ebenbildes“ und ihre eigentümliche Ernsthaftigkeit 294 297 „That they point, is all there is to it“ Frazer, Darwin und Freud 299 „Why does this thing impress us so much?“ 302 Die spätere Auseinandersetzung mit dem Golden Bough: Die losen 305 Blätter in der Abridged Edition (MS 143) 305 Familienähnlichkeit und „Assoziation der Gebräuche“ „Die Gelehrten die immer e i n e Theorie haben möchten!!!“ 308 Sonnentheorie und Reinigungstheorie Selbstverstehen und Fremdverstehen in den Bemerkungen über die 310 Fire-festivals of Europe „Der Begriff des ‚Festes‘“ und seine historischen 310 Wandlungen „Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche 311 sie erwartet“ Eine freudsche Urszene? 327 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen. Wittgensteins „ethnologische Betrachtungsweise“ 332 332 Genrebild und Porträt. Mentalistische Versuchungen „Das kommt drauf an, was für eine Rolle sie in seinem Leben 336 spielen.“ Im Gespräch mit Sraffa Ethnologische Übersetzungen. Malinowski, Ogden und Richards, Waismann 346 „Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele.“ Bildlicher 353 Ausdruck oder Missverständnis? „A l l e r l e i G r a d e “, Zwischenstufen und Formen von 353 Glauben Unbewusster Glaube? 359

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Inhalt

„Wie können sie das glauben?“ – „W i e glauben sie es?“ 362 „What the hell’s the point of doing this“? Frazersche 370 Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘ Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen 382 Ein gemeinsames Weltbild „Wir würden trachten, ihm unser Weltbild zu geben“

382 389

Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough im Kontext des Nachlasses 398 406

Konkordanzen Siglenverzeichnis

411

Literaturverzeichnis 416 Ludwig Wittgenstein. Werk- und Briefausgaben 416 James George Frazer. Schriften Sonstige Literatur 417 Namenregister

436

Sachregister

447

Danksagung

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416

Einleitung Die Philosophischen Untersuchungen reden immer wieder apodiktisch von der Philosophie: Wittgensteins Denken tritt hier scheinbar unhistorisch als die Philosophie schlechthin auf. Eigentlich aber ist er sich spätestens seit den frühen dreißiger Jahren darüber im Klaren, dass ‚die‘ Philosophie seine Philosophie ist: eine besondere historische und individuelle Gestalt. Die Untersuchungen haben ein therapeutisches Anliegen. Sie bieten keine Theorie und wollen erst recht kein System aufbauen, sondern einzelne Probleme lösen, ja auflösen. Aber Wittgenstein durchschaut die historische Bedingtheit und kulturelle Prägung dieses Anliegens. Eine spätere Epoche wird „die alten Probleme“ (MS 131: 49) vielleicht nicht mehr verstehen; zwar könnten die Lösungen, die er bietet, s. E. diese philosophischen Probleme selbst überdauern. Wittgensteins Philosophie wäre dann aber möglicherweise keine ‚Therapie‘ mehr. Darin liegt die Grenze vieler therapeutischer Interpretationen: Die philosophischen Probleme sind für Wittgenstein keine Existenzialien, ihre Brisanz ist historisch bedingt, und sie können verschwinden. Eine spätere Epoche wird deshalb seiner Voraussicht nach nur schwer imstande sein, seine Philosophie und ihre tiefen Antriebe nachzuvollziehen.¹

1 Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough und die ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ In der Logisch-philosophischen Abhandlung liegen Kulturunterschiede gleichsam unter der Schwelle philosophischer Aufmerksamkeit: Einer allen Sprachen (und der Welt) gemeinsamen tiefen Struktur steht ein kulturell nicht differenzierbarer Bereich des ‚Mystischen‘ (Ethischen, Ästhetischen, Religiösen) gegenüber, über den letztlich keine sinnvollen Aussagen möglich sind.² Sowohl die universal Für die Erfahrung, nicht verstanden zu werden, und im Allgemeinen für die Fremdheitserfahrungen, die Wittgenstein ‚schon immer‘ prägen, verwendet Klagge 2011 die Metapher des Exils. Da Wittgenstein spätestens seit Russells Einleitung für und Freges Reaktion auf die Abhandlung weiß, wie schwierig es ist, sein Anliegen zu verstehen, steht das ‚Exil‘ bei Klagge für das Selbstverständnis nicht nur des ‚zweiten Wittgenstein‘.  Zu diesem Punkt vgl. Gellner 1998, dessen Kritik ansonsten meist über das Ziel hinausschießt. Laut Gellner ist Wittgenstein dann mit seiner zweiten Philosophie zum entgegengesetzen Standpunkt übergegangen – oder besser gesprungen. – K.-O. Apel sieht im Tractatus eine „‚reductio ad absurdum‘ der Hermeneutik durch transzendentale Semantik“; denn es könnte „– dank der einen Sprache – kein Verständigungsproblem zwischen den einzelnen (und zwischen Völkern, Kulturen, Religionen) entstehen“ (Apel 1973: 348). Die Kritik ist ebenfalls überzogen.

2

Einleitung

sprachliche logische Syntax wie das, was Wittgenstein unter dem ‚Mystischen‘ versteht, sind letzten Endes kulturunabhängig. Der späte Wittgenstein hat eine Wende vollzogen: Er hebt die nicht reduzierbare Vielfalt von Sprachspielen, Handlungsweisen, Lebensformen und Weltbildern hervor.Während seine frühe Methode die Unterschiede kaum zur Kenntnis nimmt, lenkt die späte den Blick auf kulturelle und historische Fremdheit. Wittgenstein schreibt 1940, er verwende „die ethnologische Betrachtungsweise“, aber ohne deshalb „die Philosophie für Ethnologie erklären“ (MS 162b: 67v). Er nimmt für sich die Fähigkeit in Anspruch, philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick zu sehen, und will sich diesen Ansatz hauptsächlich in seinen Gesprächen mit Sraffa angeeignet haben.³ Dem „Ansporn“ des Ökonomen verdanke er – so das Vorwort der Philosophischen Untersuchungen – „die folgenreichsten der Ideen dieser Schrift“. Darf man bereits Wittgensteins extrem kritische Auseinandersetzung mit James Frazers Hauptwerk The Golden Bough. A Study in Magic and Religion im JuniJuli 1931 als eine frühe Einübung in die ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ ansehen? Es würde dem Gesagten nicht widersprechen: Wittgenstein lernte Sraffa bereits 1929 kennen, ihr erstes Treffen fand offenbar am 17. Februar 1929 statt (vgl. Schweizer 2012: 142), und „regular meetings for discussion“ (McGuinness in WC: 191) begannen schon im Oktober 1930. Sprach Wittgenstein mit dem Ökonomen, der ihn bereits ‚anspornte‘, auch über den Golden Bough? Wohl möglich. Nachweisen lässt sich hingegen, dass Wittgenstein im Februar 1932 gegen Sraffas naturgeschichtliche Betrachtungsweise erst einmal ähnliche Einwände richtete, wie er sie kurz zuvor gegen den Golden Bough formuliert hatte.⁴ Die Tiefenstruktur der gemeinsamen Sprache ist laut dem Tractatus so gut versteckt, dass man sogar die Formen der eigenen Sprache nicht übersieht. Man erkennt z. B. nicht unmittelbar, ob ein Sprachgebilde, das ein Satz scheint, in Wirklichkeit nicht sinnlos ist.  „Wittgenstein once remarked to Rush Rhees that the most important thing he gained from talking to Sraffa was an ‚anthropological‘ way of looking at philosophical problems.“ (Monk 1990: 261; Dt.: S. 281). Zu Rheesˈ Auffassung von Wittgensteins „anthropological method“ siehe unten S. 21, Anm. 31. Folgende Beiträge heben bereits im Titel die ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ (Brusotti 2007a; Durt 2007; Rothhaupt 2011) bzw. die ‚anthropologische Betrachtungsweise‘ (Majetschak 2012; Engelmann 2013a) hervor.  Eine längere Aufzeichnung, die sich auf ein Gespräch mit Sraffa bezieht, weist bedeutende thematische Anklänge an die ein gutes halbes Jahr zuvor entstandenen Frazer-Notate auf. Vgl. MS 113: 25r, 25v, 26r (20. 2.1932) und siehe unten S. 338 ff. Über die Frage, inwieweit Wittgenstein Sraffas „Ansporn“ „die folgenreichsten Ideen“ (PU, Vorwort) der Philosophischen Untersuchungen verdankt, hat man lange nur auf Grund von spärlichen indirekten Zeugnissen und einer Anekdote spekuliert. (In dieser Arbeit kann ich weder auf Sraffas neapolitanische Geste eingehen noch auf die oft formulierte Annahme, Sraffa habe Wittgenstein Ideen von Gramsci und Marx vermittelt.) Jetzt sind Wittgensteins und (in geringerem Maß) Sraffas Nachlässe leichter zu-

Einleitung

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Es sei gleich vorausgeschickt, dass Wittgenstein nicht von Frazer gelernt hat, die Dinge ‚ethnologisch‘ zu betrachten. Man wäre eher versucht zu sagen, dass der Philosoph seine ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ als Gegenreaktion gegen den Golden Bough entworfen hat. Aber auch das wäre falsch. Wittgenstein liest das Buch nicht lange nach seiner Rückkehr nach Cambridge, und seine Philosophie entwickelt sich damals erstaunlich rasch; aber seine Position im Februar 1932 – und a fortiori im Juni-Juli 1931 – ist noch fern von dem, was er später ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ nennt. Seine frühe Auseinandersetzung mit Frazer stellt noch keinen Durchbruch dar. Wittgensteins erste kritische Betrachtungen über den schottischen Ethnologen sind vom Standpunkt der Philosophischen Untersuchungen weit weg. Gerade dies wird in der Regel jedoch nicht beachtet. Die Edition legt diese Art der Rezeption nahe; denn die unzureichenden auf Rush Rhees zurückgehenden Ausgaben mit dem Titel „Bemerkungen über James Frazers Golden Bough“ reißen diese Aufzeichnungen aus dem Zusammenhang von Wittgensteins damaligen Reflexionen.⁵ Die vorliegende Arbeit verfährt anders: Wittgensteins Frazer-Kritik ist im Kontext des Manuskripts zu lesen, in dem sie zuerst aufgezeichnet wurde. Vor allem dieses Manuskript, MS 110, gewährt nämlich Aufschluss über Wittgensteins damaligen philosophischen Standpunkt.⁶ Man muss seine frühe Lektüre des Golden Bough in dieser Umbruchsphase situgänglich; ein Teil ihres Briefwechsels wurde wieder aufgefunden und veröffentlicht (in WiC). Vgl. dazu Schweizer 2012. Besonders hingewiesen sei außerdem auf Rossi-Landi 1981; Kienzler 1997: 51 ff.; Kitching/Pleasants 2002; Sen 2003; Marjanović 2005; McGuinness 2008; Gebauer 2009, insbes. 75 ff.; Venturinha 2012; Engelmann 2013b.  Zu den voneinander abweichenden Ausgaben der „Bemerkungen über den Golden Bough“ und deren Unzulänglichkeiten siehe den Anhang, S. 398 ff.  Dem ersten Teil besagter Ausgaben liegt nicht die erste Fassung in MS 110 zugrunde, sondern die spätere Übertragung in TS 211. Beim Diktieren der Bemerkungen über den Golden Bough vom MS 110 ins Typoskript TS 211 nahm Wittgenstein – abgesehen von Umstellungen und Auslassungen – kaum Änderungen vor. In der fast wörtlichen Abschrift spielen die neuen bedeutungstheoretischen Einsichten, die er in der Zwischenzeit gewonnen hatte, daher keine Rolle. Der theoretische Standpunkt bleibt der von Juni-Juli 1931. Die Herstellung von TS 211 und anderer maschinengeschriebener Synopsen war weniger eine konsistente Gliederung des Materials als eine erste Vorbereitung zu dessen weiterer Bearbeitung. Vgl. M. Nedos Einleitung in Wi11: XIII. Zu den philologischen Details siehe Anhang, S. 398 ff., insbes. S. 402 f. – Der erste bedeutende, noch heute lesenswerte Beitrag zu Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazer ist Rhees 1976. In Cioffi 1998 und Bouveresse 2000 sind die Aufsätze zweier Autoren gesammelt, die sich über Jahrzehnte mit dem Thema beschäftigt haben. Monographischen Charakter haben auch Clack 1999 und Lara 2005. Von den zahlreichen Aufsätzen, die im Literaturverzeichnis angeführt werden, seien hier erst einmal nur Rudich/Stassen 1971, Needham 1985, Hacker 1992, Margalit 1992, Phillips 1993, Brusotti 2000, 2007a, 2007b, 2013, Lara 2003, Rothhaupt 2011, Majetschak 2012 genannt. Gebauer 2009 über „Wittgensteins anthropologisches Denken“ berührt die Auseinandersetzung mit Frazer indes nur beiläufig.

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Einleitung

ieren; erst dann kann man den Stellenwert der Frazer-Notate in seiner Denkentwicklung richtig ermessen. Denn sie sind nicht Wittgensteins letztes Wort – weder über Frazer noch in Hinsicht auf die in ihnen behandelten theoretischen Fragen. In späteren Jahren wird der Philosoph Grenzen dieser frühen Position erkennen und seinerzeit erreichte Ergebnisse relativieren. Dies geschieht in den losen Blättern (MS 143), die als ‚zweiter Teil‘ der erwähnten Editionen bekannt sind, aber auch in anderen späteren Reflexionen, die sich in seinen Manuskripten verstreut finden, und, wie Moores unveröffentlichter Mitschrift zu entnehmen ist, in der Vorlesung vom May Term 1933.

2 Die ‚dynamische‘ Betrachtung der Zeichen und die symboltheoretischen Grundlagen von Wittgensteins früher Frazer-Kritik Man kann nicht einfach voraussetzen, dass die Auseinandersetzung mit der Ethnologie, auch die mit aktuelleren Ansätzen als dem überholten Frazers, Wittgenstein zu dem geführt hat, was er dann gelegentlich seine ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ nennt. Und das Problem von deren Genese ist mit dem anderen, wie der Philosoph mit Kulturunterschieden theoretisch umzugehen lernt, zwar verbunden, aber nicht identisch. Bei dieser zweiten Frage setzt mein Buch ein. Wittgenstein beginnt schon sehr früh, die in ihrem Grund unhistorische Betrachtungsweise seiner Erstlingsschrift hinter sich zu lassen und ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede zu entwickeln. Aber er geht erst allmählich vom universalistischen Ansatz der Logisch-philosophischen Abhandlung zu einer ausgeprägten Anerkennung von Kulturdifferenz über. Seine Philosophie – das macht bereits Anfang der dreißiger Jahre den Kernpunkt von Wittgensteins historischer Selbstreflexion aus – ist in eine Kultur eingebettet, selbst wenn sie gegen deren ‚Hauptstrom‘ geht. Er verdankt vor allem dem von Sraffa geringgeschätzten Spengler⁷ eine neue Aufmerksamkeit für Kulturunterschiede, die sich auf seine Überlegungen zu Frazer jedoch nur begrenzt auswirkt.

 Die kontroversen Gespräche, die Wittgenstein und Sraffa über Spengler führten, waren offenbar nicht frei von Spannungen. Vgl. Wittgensteins Brief an Sraffa vom 15. 3.1939 in WC: 301; vgl. auch Schweizer 2012: 221 f. – In einer oft zitierten Stelle erklärt Wittgenstein, er habe „nie eine Gedankenbewegung e r f u n d e n“, sondern immer nur von anderen Denkern empfangen und „sogleich leidenschaftlich zu [s]einem Klärungswerk aufgegriffen“: „So haben mich |Boltzmann, Hertz, Schopenhauer,| Frege, Russell, |Kraus, Loos, Weininger,| Spengler, Sraffa beeinflußt.“ (MS 154: 16r; VB: 476) Die erste Fassung dieser Liste besteht, wie aus der Transkription ersichtlich, nur aus vier Namen: Frege und Russell für die Abhandlung, Spengler und

Einleitung

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Etwas mehr als ein halbes Jahr, bevor er seine ersten Bemerkungen über den Golden Bough notiert, befasst er sich mit Ernest Renans Histoire du Peuple d’Israël. Die Einwände, die Wittgenstein gegen Renans positivistische Erklärung früher Religionen vorbringt, liefern dann gleichsam eine Folie für seine Kritik des Golden Bough. Im Allgemeinen ist die Frazer-Lektüre ein geeigneter Ausgangspunkt, um Wittgensteins Auseinandersetzung nicht nur mit Spengler, Renan oder Sraffa, sondern auch mit Ogden und Richards, Paul Ernst, Goethe und vielen anderen in den Blick zu nehmen. Mit ethnologischer Literatur muss etwa Sraffa ungleich vertrauter gewesen sein als Wittgenstein, dessen einschlägige Kenntnisse wohl begrenzt waren. Aber selbst wenn er sich explizit nur auf Goethe, Spengler und Ernst beruft, sind seine Reflexionen in ihrer Beziehung nicht nur zu Frazers alter vergleichender Methode zu erläutern, sondern auch zu anderen ethnologisch und kulturphilosophisch relevanten Ansätzen, mögen diese dem damaligen ethnologischen Forschungsstand entsprechen oder nicht. Auf dem Weg über Paul Ernst greift Wittgenstein gelegentlich auf eine frühere Tradition zurück (Max Müller); zugleich aber trifft er sich in mehreren Punkten seiner Frazer-Kritik sowohl mit Ethnologen wie Marett, der noch die evolutionäre Richtung vertrat, als auch mit der jüngeren Generation, insbesondere mit Malinowski und mit seinem neuen funktionalistischen Ansatz.⁸ Einige von Wittgensteins Einwänden gegen den Golden Bough waren schon vorgebracht worden, unter anderen von Philosophen, und er variierte auch damals verbreitete, z. B. anti-intellektualistische Argumente. Dennoch wiederholte er nicht einfach lang Bekanntes, ganz im Gegenteil. Bereits in die frühe Frazer-Kritik fließen immer wieder Einsichten ein, die Wittgenstein zuerst in anderem Kontext gewonnen hat, in einem theoretischen – und auch in einem ethischen. Sprechen sei Handeln: Darin sieht Wittgenstein anfangs noch eine Eigenart ethischer und religiöser Äußerungen. Er formuliert

Sraffa für die Zeit danach (vgl. Rothhaupt 1996: 182; McGuinness 2008: 147). Als Wittgenstein sich zum ersten Mal mit dem Golden Bough auseinandersetzt, hat er Spenglers „Gedankenbewegung“ bereits „aufgegriffen“; diejenige Sraffas, der ihn schon damals ‚anspornt‘, ist ihm allerdings noch sehr fremd. – Zu Spengler siehe unten S. 24 ff. und S. 27 ff., zu seinem essentialistischen Kulturbegriff, der Kulturdifferenz verabsolutiert, S. 264 ff. und zu den im Text angedeuteten Grenzen seines Einflusses insbes. Anm. 441, S. 269. Vgl. auch Brusotti 2011, insbes. 345, Anm. 49. Zu Wittgenstein und Spengler vgl. Haller 1985; Wright 1990: 214 ff.; Ferber 1991; Brusotti 2000, insbes. 32 ff.; Iacono 2011; Plaud 2011; Kienzler 2013. Zu Neuraths AntiSpengler vgl. Brusotti 2011.  Zu Marett siehe unten etwa S. 121 ff., 156 ff., 171 ff., zu Malinowski insbes. S. 348 ff. u. vgl. Brusotti 2007b: 102 ff., sowie Rothhaupt 2011: 143 ff. Zu weiteren möglichen ethnologischen Lektüren Wittgensteins vgl. Rothhaupt 2011, etwa zu Sapir (148 ff.) und zu Hocart (155 ff.). Zu Myers siehe unten S. 174, Anm. 251, und vgl. Rothhaupt 2011: 149 ff.

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diese Betrachtungen über die performative Natur ethischer Sätze in der Zeit kurz nach dem Vortrag über Ethik und wendet sie dann im Juni-Juli 1931 auf die im Golden Bough beschriebenen rituellen Handlungen an. Erst viel später wird er diese anti-intellektualistischen Argumente auf Sprachspiele überhaupt ausdehnen. Aber schon im Februar 1932 bietet die Ethik das Modell für einen Ansatz, der der normativen Dimension des Sprechens Rechnung trägt. Zwei „Axthiebe“, erinnert sich Wittgenstein Jahre später, hätten die Philosophie der Abhandlung zu Fall gebracht: die Idee, das Verstehen sei „kein pneumatischer Vorgang“, und der „Begriff der Familie“ (Ms 157b: 5r).⁹ Als Wittgenstein sich zum ersten Mal mit Frazer auseinandersetzte, war seine ‚Axt‘ noch nicht gefallen; er sah in der Metaphysik – und in seiner eigenen Abhandlung – eine „Art der Magie“, dachte jedoch selbst noch ‚pneumatisch‘. In einer groben Vereinfachung könnte man seine äußerst komplexe Gedankenentwicklung ab 1929 schematisch so zusammenfassen: Er lässt zuerst die allen Sprachen gemeinsame logische Syntax zugunsten einer Vielheit von Kalkülen hinter sich; dieser logische Pluralismus weicht dann (erst) allmählich einem, sagen wir, pragmatischen.¹⁰ Zur Zeit der ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough liegt dieser pragmatische Ansatz noch in weiter Ferne, und Wittgenstein verfügt über die meisten für diese Philosophie charakteristischen begrifflichen Instrumente, ‚Sprachspiel‘, ‚Familienähnlichkeit‘ usw., noch nicht. Zurück in Cambridge hatte er zuerst begonnen, eine ‚Phänomenologie‘ auszuarbeiten,¹¹ von der er sich aber bereits im Oktober 1929 verabschiedete. Zu diesem Zeitpunkt hat er wesentliche Grundsätze der Logisch-philosophischen Abhandlung (z. B. die Unabhängigkeit der Elementarsätze) bereits preisgegeben. Aber noch im Februar 1930 verteidigt er die „Bild-Auffassung“ und die „Intention“

 McGuinness (2008: 148) bringt den ersten ‚Axthieb‘ mit Sraffa, den Wittgenstein namentlich anführt (vgl. Ms 157b, S. 5v), und den zweiten mit Spengler in Verbindung. Zum Begriff des ‚Pneumatischen‘ vgl. Schulte 2006 und siehe unten S. 80, Anm. 43; zu Spengler und zur Familienähnlichkeit siehe unten S. 264 ff.  Laut D. G. Stern, der sich in der Terminologie an Toulmin anlehnt, lässt Wittgenstein den logischen Atomismus des Tractatus zugunsten eines ‚logischen Holismus‘ hinter sich und diesen wiederum zugunsten eines ‚praktischen Holismus‘ (vgl. Stern 1995, insbes. § 4 „From Logical Atomism to Practical Holism“, S. 91 ff.). Diese Ausdrucksweise darf indes nicht über die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Wittgensteins Anti-Atomismus und Quines bzw. Davidsons Holismus hinwegtäuschen. M. Williams schreibt Wittgenstein dementsprechend eher einen Nicht- oder Anti-Atomismus als einen Holismus zu (Williams 1999: 10).  Zur ‚Phänomenologie‘ – der Term ist von Wittgenstein selbst, der damit freilich eher an einen Autor wie Boltzmann als an Husserl anschließt – vgl. etwa Hintikka/Hintikka 1996, insbes. S. 198 ff.; Sedmak 1994: 48 ff.; Stern 1995: 128 ff.; Rothhaupt 1996: 69 ff.; Kienzler 1997: 107 ff.; Paul 2007, insbes. Kap 2: 51 ff.; Engelmann 2013a: 6 ff.

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(MS 107: 289) – die mentale ‚Projektions-Methode‘ der Abhandlung – gegen Ogdens und Richards’ Kritik. (Neben dem Russell von The Analysis of Mind sind die Autoren von The Meaning of Meaning die Hauptvertreter der Kausaltheorie der Bedeutung.) Dann aber – im Sommer 1930, d. h., ein knappes Jahr vor der Auseinandersetzung mit Frazer im Juni-Juli 1931 – vollzieht Wittgenstein einen „Schritt“, der ihm „dem der Relativitätstheorie ähnlich“ (MS 108: 270; 30.7.1930) scheint: Diese neue „Denkbewegung“ (MS 109: 199) führt ihn zur Autonomie der Grammatik. Letztere ist willkürlich, insofern weder die Struktur der Wirklichkeit noch psychologische Prozesse noch instrumentelle Erfordernisse sie zwingend determinieren oder begründen. Wittgenstein sah in diesem ‚relativitätstheoretischen‘ Gedankenschritt eine entscheidende Wende. Im Rückblick gesehen, hatte er nur bis zu einem gewissen Grad recht. Zwar verabschiedete die neue Denkbewegung weitere wesentliche Grundpfeiler der Abhandlung, eben die ‚Bildauffassung‘ und die ‚Intention‘. Aber er brauchte noch lange, bevor er sämtliche mentalistische Versuchungen durchschaute (die ‚Meinung‘ und die Täuschung des ‚Bedeutungskörpers‘ z. B.). Die neue „Denkbewegung“ führte zwar zur Autonomie der Grammatik, aber zunächst verstand Wittgenstein diese autonome, willkürliche Grammatik noch nicht in pragmatischem Sinn. Dies änderte sich nicht auf einmal, im Gegenteil, und auf jeden Fall erst einige Zeit nach der ersten niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Wittgensteins frühe Kritik von Frazers evolutionärer Ethnologie hat ihre symboltheoretischen Grundlagen in der ‚dynamischen‘ Betrachtung der Zeichen, die er vor allem im Zuge einer Kritik an der Kausaltheorie entwickelt. Die Kausaltheorie der Bedeutung – so Wittgenstein – fokussiert nur auf die kausale Wirkung des einzelnen Zeichens. Ein Zeichen gehört jedoch zu einem ‚Kalkül‘ bzw. zu einem Zeichensystem, nicht zu einem Mechanismus, und die Bedeutung ist nicht die kausale Wirkung des einzelnen Zeichens, sondern dessen Rolle in einem Zeichensystem bzw. in einem „Kalkül“. Vom Zeichensystem sieht die Kausaltheorie dennoch völlig ab, und ebenso davon, ob das Zeichen artikuliert ist oder nicht. Während die Kausaltheorie einen (z. B. psychologischen) „Mechanismus“ erklären will, beschreibt Wittgensteins ‚logische‘, ‚grammatische‘ Betrachtungsweise einen „Kalkül“ (bzw. ein Zeichensystem). In der Philosophie geht es nicht um „Kausal-“, sondern um „Zeichenerklärungen“. Diese sind selbst Zeichen, gehören zum Zeichensystem und treten aus diesem nicht heraus. Sie stellen einfach Symbole zusammen bzw. setzen jeweils ein Zeichen für ein anderes, verweisen von Zeichen auf Zeichen. Diese ‚grammatische‘ Betrachtungsweise wendet Wittgenstein nicht nur auf Wortsprachliches an: Auch Bilder, Muster und Gesten sind im Rahmen des jeweiligen Zeichensystems und der darin gegebenen alternativen Optionen zu

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analysieren. Zwar hat schon diese ‚dynamische‘ Betrachtung der Zeichen im System bzw. im Kalkül einen ‚holistischen‘ Charakter, aber erst später stellt sich heraus, dass der ausschlaggebende grammatische Kontext kein „frei im Raume schwebender Kalkül“ (MS 113: 66v) ist, sondern eine gemeinsame Lebensform. Wittgensteins ablehnende Haltung gegenüber Frazers Ethnologie ist in der eben skizzierten ‚grammatischen‘ Sprachauffassung vorgeprägt. Er geht von seiner Kritik an Russells bzw. Ogdens und Richards’ Kausaltheorie der Bedeutung aus und bezichtigt auch Frazer mit z.T. ähnlichen Argumenten der Fehlanwendung kausaler Betrachtungen. Seine ersten Einwände gegen den Golden Bough kreisen um den Gedanken, dass derjenige, der ein Ritual interpretiert, im Grunde nur Symbole zusammenstellt, also eigentlich Zeichenerklärungen vorlegt und über eine Beschreibung nicht hinauskommt, selbst wenn er sein Verfahren als kausales Erklären missversteht. Frazers vermeintliche Kausalerklärungen sind demnach eigentlich verkappte Zeichenerklärungen.¹²

3 Zwei Gedankengänge: Die Mythologie in unserer Sprache und die spezifische Rolle der Bilder im rituellen Handlungszusammenhang Wittgensteins Frazer-Lektüre hat nur bedingt einen ethnologischen Schwerpunkt im heutigen Sinn oder in dem der damaligen funktionalistischen Anthropologie. Ihn bewegte ein persönliches, existenzielles Anliegen, und ebenfalls ein ethisches, religionsphilosophisches, vielleicht sogar religionskundliches. Der Golden Bough war indes auch für sein „Buch“ interessant: Die Arbeit der Sprache sei an Ritualen besonders gut zu erkennen.¹³ Die gleichen ‚primitiven‘ Bilder führten noch die heutigen Philosophen irre. (Aus ähnlichen Gründen – wegen der von Frazer gewährten Einblicke in die ‚Macht der Worte‘ – war der Golden Bough auch für Ogdens und Richards’ Semiotik von Bedeutung.) Im Herbst 1930 war Wittgenstein noch davon ausgegangen, dass bestimmte Bilder auch im rituellen Kontext falsch sind: Die Akteure missverstehen ein Gleichnis wie den Sündenbock.¹⁴ Die Vorstellung, Metaphysik und ‚Magie‘ seien miteinander verwandt, leitet dann die Bemerkungen über den Golden Bough ein; aber im Zusammenhang

 Siehe dazu unten § 1.1.4, insbes. S. 40 ff., u. § 2.2.2.4, S. 223 ff. In der ursprünglichen Fassung dieser Arbeit war Wittgensteins philosophischem Standpunkt zur Zeit der ersten Frazer-Notate ein ausführliches erstes Kapitel gewidmet; es muss hier wegen Überlänge wegfallen.  Rhees fokussiert diesen Aspekt, und zwar nahezu ausschließlich, macht also aus diesem Ausgangspunkt und ersten Antrieb das Ganze von Wittgensteins Untersuchung. Zu einer Kritik daran vgl. Clack 1999: 95.  Siehe dazu unten S. 107 ff.

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der Lektüre hat sich Wittgensteins Schwerpunkt verlagert: von der Ähnlichkeit der Bilder zum Unterschied in der Verwendung. Diese neue Aufmerksamkeit für die spezifische Rolle jener Bilder im rituellen Handlungszusammenhang ist eine Reaktion auf die Provokation durch (Renans und) Frazers Analogie zwischen ‚Magie‘ und Wissenschaft. Im Herbst 1930 hatte Wittgenstein noch angenommen, ein falscher Vergleich bewege die Akteure zum Vollziehen des ‚Sündenbockrituals‘; im Juni-Juli 1931 setzt sich nun eine andere Leitidee durch: Zu falschen Vergleichen neigen weniger die Akteure als vielmehr ihre westlichen Interpreten, die rituelle Handlungen mit Zweckhandlungen analogisieren. Zwei Gedankengänge durchziehen daher Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. – A) Die gleiche in den Formen unserer Sprache niedergelegte Mythologie, auf die magische Anschauungen zurückgehen, führt auch die Philosophen in die Irre. – B) Magische und religiöse Anschauungen sind keine Irrtümer, sofern es sich bei ihnen gewöhnlich nicht um Meinungen oder Theorien handelt; und nur bei Letzteren kann man sinnvoll von Irrtümern reden. Zwischen diesen zwei Gedankengängen besteht kein direkter Widerspruch, aber doch eine gewisse Spannung. Ein Hauptanliegen meiner Rekonstruktion ist zu zeigen, wie sich aus dieser Spannung in den Folgejahren allmählich eine reflektiertere und nuanciertere Position entwickelt. Im Juni-Juli 1931 konzentriert sich Wittgenstein auf die Frage, inwiefern magische und religiöse ‚Anschauungen‘ mit (irrtümlichen) Theorien vergleichbar sind. Ob sie tatsächlich geglaubt werden, ist für ihn zwar schon damals nur vordergründig eine schlichte Ja-oder-Nein-Frage; aber er tendiert immer wieder zu aprioristischen Stellungnahmen.Wenn er rituelle Handlungen mit Ausdrucks- bzw. Instinkthandlungen analogisiert, stellt er zwar keine sogenannte strikt expressivistische und/oder emotivistische Theorie auf; aber er unterscheidet auch nicht deutlich zwischen ‚Gegenstand der Betrachtung‘ (rituellen Handlungen) und ‚Vergleichsobjekt‘ (Instinkt- und Ausdruckshandlungen). Da er noch nicht über sein reifes begriffliches Instrumentarium verfügt, behandelt er damals Riten noch nicht wie eine ‚Familie‘, deren Mitglieder nicht unbedingt gemeinsame Wesensmerkmale aufweisen müssen; und selbst dort, wo er die Beziehung des ‚zeremoniellen Tiers‘ zu seiner Umwelt mit einer symbiotischen Lebensgemeinschaft vergleicht, ist er von einer ‚community view‘ noch weit entfernt. Von einer Position dieser Notate mit ihrem Hin und Her kann eigentlich keine Rede sein. Aber nicht zuletzt die in diesen frühen Betrachtungen durchaus vorhandenen Spannungen und Inkonsequenzen halten Wittgensteins Denken in

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Bewegung und führen allmählich auch zu einer differenzierteren Analyse der entsprechenden Phänomene. Schließlich wird sich bei ihm eine neue, komplexere und offenere, Fragestellung durchsetzen, die der Pluralität von Lebensformen und Weltbildern gerechter wird.

4 Das Eigene im Fremden: weder Relativismus noch ein ausgeprägter Sinn für kulturelle Unterschiede Vor 50 Jahren, 1964, griff Peter Winch als erster auf Wittgensteins damals unveröffentlichte kritische Bemerkungen über den Golden Bough zurück. Seitdem stehen sie im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion um das Verstehen fremder Kulturen.¹⁵ Allerdings war der schlichte Gegensatz zwischen Universalismus und Relativismus, um den die von Winch ausgelöste ‚Rationalitätsdebatte‘ kreiste, bei Wittgenstein 1931 nicht das Thema: „Our Standards and Theirs“ spielten in seiner Auseinandersetzung mit Frazer keine Rolle. Seine Auseinandersetzung mit dem Golden Bough zeigt tatsächlich alles andere als relativistische Tendenzen. Vielmehr abstrahiert Wittgenstein im Juni-Juli 1931, obwohl ihm zufolge die Grammatik autonom ist, weitgehend von kulturellen Unterschieden. Er betont allgemeinmenschliche Gemeinsamkeiten weit stärker als kulturelle oder sonstige Besonderheiten. Es ist nicht sein Anliegen, der historischen und kulturellen Variabilität sowie den mit ihr einhergehenden Deutungsproblemen gerecht zu werden. Auch insofern ist der Relativismus-Vorwurf völlig deplatziert. Dass kulturelle Unterschiede nicht im Vordergrund stehen, liegt zum Teil, aber nur zum Teil, an dem von Wittgenstein gelesenen Text. Während Tylor, der Gründervater der evolutionären Ethnologie, dem Fach eine klassische Definition von Kultur (‚das komplexe Ganze…‘) vererbte, hat Frazer eigentlich keinen Kulturbegriff. „Frazer lacks any idea of culture as the matrix of social intellectual, and behavioral facts, relationships, and institutions […]“ (Ackerman 1987: 99). Diese Kulturblindheit ist, selbst mit damaligen Maßen gemessen, besonders radikal. Aber das Problem des interkulturellen Verstehens ist nicht nur bei Frazer alles andere als zentral; auch frühe Kritiker des Golden Bough sprechen es kaum an. Noch Anfang der dreißiger Jahre, als die interkulturelle Problematik wiederum seit etlicher Zeit im Fokus der ethnologischen Diskussion stand, fällt es  Zu Winch siehe unten S. 398. Zu seiner Auseinandersetzung mit Mounce vgl. Burley 2012. Zur ‚Rationalitätsdebatte‘ vgl. Fretlöh 1987; Deloch 1997. Von den Sammelbänden, die Fragen der Interkulturalität bei Wittgenstein thematisieren, vgl. Lütterfelds/Roser 1999; Lütterfelds/Mohrs 2000; Lütterfelds/Salehi 2001; Neumer 2000; Kanzian/Runggaldier 2006.

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Wittgenstein schwer, sich Fragen des interkulturellen Verstehens (anders als der Untergang des Abendlandes) mythologiefrei oder (anders als der Golden Bough) überhaupt zu stellen. Der Philosoph teilt zwar mit Frazers Study in Magic and Religion das Interesse für die „magischen und religiösen Anschauungen“ (MS 110: 178); aber trotz seiner Spengler-Lektüre fesselt ihn die Mannigfaltigkeit religiöser Handlungen und Erfahrungen – ähnlich wie James – nicht als kulturelle Vielfalt. Kulturelle Unterschiede sind ihm nur eine Oberfläche, unter der sich eine substantielle Gleichartigkeit zeigt. Die rituellen Handlungen der ‚Primitiven‘ scheinen ihm über Kulturunterschiede hinweg für jeden nachvollziehbar, der nicht von der heutigen ‚Zivilisation‘ verblendet ist. Die Vertreter Letzterer, die vom Religiösen bzw. vom ‚Geist‘ keine Ahnung haben, können wiederum nicht nur die ‚Primitiven‘ nicht verstehen, sondern auch ihn, Wittgenstein, nicht. Zwar bezichtigt er Frazer der Unfähigkeit, „ein anderes Leben zu begreifen als das englische seiner Zeit“ (MS 110: 184; TS 211: 317); aber 1931 sieht auch Wittgenstein, selbst wenn er die kulturelle Voreingenommenheit, die eurozentrisch beengte Sichtweise des schottischen Ethnologen bloßstellt, die eigentlichen Schwierigkeiten nicht im Verstehen des kulturell Fremden. Er betont eher die Verständnisschwierigkeiten zwischen säkularisierter und nicht säkularisierter Weltsicht. Die interkulturellen Schwierigkeiten kommen dagegen bei allem Respekt für Spengler kaum jemals in Betracht. Daher durchschaut Wittgenstein 1931 noch nicht, dass Frazer die jeweiligen Gebräuche aus ihrem kulturellen Kontext isoliert.¹⁶ Der Philosoph übt sich vor allem darin, im Menschen den Menschen zu sehen. Dies mag man ihm hoch anrechnen; aber seine Kritik läuft damals noch allzu sehr darauf hinaus, hinter dem Fremden immer wieder das Eigene zu entdecken.

5 Der Gegenstand von Wittgensteins Kritik: Frazers ‚Form der Darstellung‘ Mit Frege, Russell und Moore führte Wittgenstein sein Leben lang ein Gespräch; aber die ausgedehnteste schriftliche Auseinandersetzung, die wir von ihm ken-

 Dewey (1902: 11) dagegen ist sich bereits am Anfang des Jahrhunderts des Problems bewusst. Zu Wittgensteins Bild der Symbiose (von Floh und Hund) und seinen Grenzen siehe unten S. 142ff., 262 f. In seiner Auseinandersetzung mit dem Golden Bough blendet Wittgenstein soziale Konflikte völlig aus; obwohl er den Blick immer wieder auf den Alltag und auf die Techniken richtet, schenkt er dem sozialen, politischen Aspekt noch weniger Aufmerksamkeit als Frazer. Auch die ‚institutionelle‘ Wende, die freilich erst einige Zeit nach den frühen Frazer-Notaten stattfindet, bedeutet nicht, dass Wittgenstein dann politische und soziale Konflikte wirklich in den Blick bekommt. Zu seiner „Abstinenz gegenüber dem Gesellschaftlichen“ vgl. Gebauer 2009: 236.

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nen, galt nicht einem Philosophen, sondern – man hat mehrfach darauf hingewiesen – einem Ethnologen, eben James George Frazer. In der Wittgenstein-Forschung steht der Golden Bough immer wieder stellvertretend für „a scientific text“ (Rudich/Stassen 1971: 84); er möge zwar schon lange überholt sein, aber Frazers Untersuchung sei „unambiguously empirical“ (Cioffi 1998: 12) und die Hauptfrage des Buches „ostensibly empirical“ (Cioffi 1998: 2). Diese Behauptung steht in merkwürdigem Gegensatz zur wissenschafts- und kulturhistorischen Wahrnehmung: Gilt Frazer sonst doch eher als ein Forscher, der eigentlich keine fokussierte Frage und daher auch keine Antwort hatte (Smith 1973), und der Golden Bough als ein Buch, das die Leser intuitiv als Literatur wahrgenommen haben (vgl. Vickery 1973: 8). Als Musterbild eines (wenn auch veralteten) wissenschaftlichen Werks ist der Golden Bough auf jeden Fall denkbar ungeeignet. Er wurde um der Argumentation willen zu einem solchen stilisiert: In einer philosophischen Debatte, die vor allem um den sogenannten ‚Wittgensteinian fideism‘ kreiste, wollte man auf Wittgensteins Haltung zur Wissenschaft überhaupt schließen: Seine eingehende Auseinandersetzung mit dem Golden Bough sollte seine negative Einstellung zur empirischen Forschung repräsentativ vorführen (Rudich/Stassen 1971: 84). Nun war Frazer für Wittgenstein tatsächlich auch ein Stellvertreter: Der Philosoph sah in dem Ethnologen den „dummen Wissenschaftler“ (MS 143: 27), der (wie bereits Renan) den „dumme[n] Aberglaube[n] unserer Zeit“ (MS 110: 197 f.) beispielhaft verkörperte. Frazer war für Wittgenstein jedoch kein reiner Empiriker. Wittgenstein war nicht der einzige Philosoph, der sich 1931 mit dem Golden Bough auseinandersetzte.¹⁷ Er griff damals zwar nach einem weiterhin extrem populären und einflussreichen, wissenschaftlich aber im Grunde nicht mehr aktuellen Buch.¹⁸ Die wissenschaftliche Rückständigkeit des Golden Bough steht in merkwürdigem Kontrast zu seiner breiten und erstaunlich lange anhaltenden Rezeption außerhalb des Faches, nicht nur bei Philosophen, sondern auch bei Dichtern und Schriftstellern. Zu diesem Erfolg trug der literarische Aspekt entscheidend bei. Die ‚poetische Anthropologie‘ (so noch Hubert Fichte) sprach ein großes Publikum an,

 Im selben Jahr hielt Otto Neurath vor dem Wiener Ernst-Mach-Verein einen Vortrag über ‚Magie und Technik‘ (Neurath 1931a). Seine im Ganzen affirmativen Reflexionen, nicht nur in diesem Vortrag, bilden gleichsam die Kehrseite zu Wittgensteins extrem kritischen Bemerkungen. Neuraths so gut wie vergessene Überlegungen zu „Magie und Technik“ werden ausführlich behandelt in Brusotti 2011.  Zu Frazers Golden Bough und zur Forschungstradition der evolutionären Anthropologie siehe unten S. 62 f.

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darunter auch Leser, die weit weniger rationalistisch orientiert waren als der Autor selbst. Letzteres war in der Faszinationsgeschichte des Golden Bough sogar eher die Regel. Frazers Forschungsbereich und Absicht sind aus einer Reihe von Gründen mit denen heutiger Ethnologen nicht einfach gleichzusetzen. Wer davon ausgeht, der Golden Bough sei ein ethnologisches Werk in heutigem Sinn, nur eben ein antiquiertes und ethnozentrisches, missversteht den Autor – und daher auch Wittgensteins kritische Bemerkungen. (Dementsprechend wird hier dieses eigentümliche Buch in seinen verschiedenen Ausgaben immer wieder herangezogen.) Frazer unterscheidet einen harten wissenschaftlichen Kern des Golden Bough (die collections of facts), die prekären, in seinen eigenen Augen bald überholten wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien, die dieses Material strukturieren, und die literarisierende Darbietung, Einkleidung, die s. E. den besagten harten wissenschaftlichen Kern nicht anficht, sondern lediglich zugänglicher macht. Wittgenstein räumt mit Frazer der Tatsachensammlung einen Vorrang gegenüber den Theorien ein und betrachtet anders als Frazer (wenigstens der ‚offizielle‘) auch die literarische Seite des Golden Bough als wesentlich: Frazers evokative Beschreibungen sind dem Philosophen wichtiger als die Theorien. Dass die ethnologische Methode, mit der Wittgenstein sich befasste, schon 1931 überholt war, hat die spätere Rezeption seiner kritischen Reflexionen indes kaum beeinträchtigt. Sie fanden breite Aufnahme – u. a. in ethnologischen und kulturphilosophischen Diskussionen über die Tragfähigkeit deskriptiver Ansätze und den sogenannten hermeneutic turn.¹⁹ Wittgensteins Bemerkungen werden nicht nur in diesem Kontext sehr unterschiedlich interpretiert und oft gegensätzlich bewertet. (1) Man hat gegen sie eingewandt, die in der Tat kompromisslose Kritik von Frazers kausalen Erklärungen komme einem radikalen „descriptivist approach“ (Henderson 1988) gleich, dem das komplexe Zusammenspiel von Beschreiben und Erklären in den Geisteswissenschaften letzten Endes entgehen müsse. (2) Wittgenstein – und insbesondere seiner Kritik von Frazers Golden  „The influence of Ludwig Wittgenstein on the comparative analysis of social facts has been late, little, and slow.“ (Needham 1985: 149, vgl. S. 151) Das stimmt heute nur noch bedingt. Während für Needham vor allem das Konzept der ‚Familienähnlichkeit‘ von Bedeutung war, wurde in späteren Jahren Wittgensteins Ansatz immer wieder zu Clifford Geertz’ ‚dichter Beschreibung‘ in Beziehung gesetzt, einem Begriff, der übrigens auf Ryle zurückgeht. Fritz W. Kramer nimmt Wittgensteins Begriff der übersichtlichen Darstellung auf und mit ihm die antikausalistische Position, dass man „im Bereich der Ethnologie nicht nur nichts erklären muß, sondern auch nichts erklären darf, weil jede Erklärung eine Scheinerklärung wäre“ (Kramer/ Rees 2005: 388). Unter den Ethnologen, die Wittgenstein rezipieren, seien hier außerdem Stanley Jeyaraja Tambiah und Veena Das erwähnt. Zur Rezeption Wittgensteins innerhalb der Ethnologie vgl. Andronico 1998, insbes. S. 280 ff.; Griesecke 2001a, insbes. S. 54 ff.

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Bough – wurde zudem das Bewusstsein der Schwierigkeit, andere Zeiten, Sprachen und Kulturen zu verstehen, immer wieder abgesprochen. Er unterschätze gewaltig die Probleme, die mit der Überwindung historischer und kultureller Distanz einhergehen, und plädiere für eine letztlich unhistorische Methode, für die Einfühlung in die jeweiligen Akteure.²⁰ Tatsächlich aber geht Wittgenstein auf historischen Wandel und Abstand immer wieder ein, und zwar bereits seit Anfang der dreißiger Jahre. Ein spätes Notat, höchstwahrscheinlich eine Reminiszenz aus dem Golden Bough, betont die Distanz zwischen uns und den von Frazer postulierten frühen Feiernden, die Feste „möglicherweise“ – wir wissen es nicht – „nur mit Furcht und Grauen“ (MS 137: 137a) verbanden. Hier scheint es alles andere als ausgemacht, dass wir den Abstand überhaupt zu überbrücken vermögen. In Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Golden Bough ist historische und kulturelle Distanz indes tatsächlich kaum irgendwo das Thema.²¹ Zum ersten Einwand ließe sich außerdem bemerken: Der späte Wittgenstein betrachtet es doch als legitim, dass Ökonomen und Sozialwissenschaftler Kausalzusammenhänge etwa durch Statistik ermitteln – ein Beispiel ist „the cause of the rise of unemployment“ (LA: 15). 1931 wiederum, als er sich zum ersten Mal mit Frazer auseinandersetzte, tendierte er tatsächlich dazu, kausale Erklärungen überhaupt abzulehnen. Er meinte, dass die magischen und religiösen Handlungen nur beschrieben und nicht erklärt werden können. Die Rekonstruktion wird zeigen, inwieweit hier Motive aus der frühen Ethik eine Rolle spielen und inwieweit theoretische Gründe, die für Wittgenstein auch später gültig bleiben. Frazers Methode ist eine vergleichende und genetisch erklärende: Der Vergleich mit verwandten Riten ist nur der Weg, um einen Ritus entwicklungsgeschichtlich, d. h. kausal, zu erklären. Wittgenstein will das, was bei dem schottischen Ethnologen zusammengehört, scharf trennen: Er löst die vergleichende Seite von der erklärenden ab und entwirft ein nur noch vergleichendes, nicht mehr erklärendes Verfahren: die übersichtliche Darstellung. Wenn er die „übersichtliche[] Darstellung“ als eine „Art der ‚Weltanschauung‘“ bezeichnet, „wie sie scheinbar für unsere Zeit typisch ist“ (MS 110: 257), mag er vor allem an Spengler denken; aber auch eine Reihe noch heute bedeutender Autoren folgt damals der Spur von Goethes Morphologie: Das Verfahren, ein Problem durch eine Synopse des historischen Materials zu lösen, ist zu dieser Zeit

 Siehe dazu unten S. 311 f.  Dies gilt auch für Wittgensteins späte Bemerkungen (MS 143), aber m. E. nicht aus denselben Gründen wie für die im Juni-Juli 1931 entstandenen Notate (MS 110).

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nämlich keineswegs unbekannt: Es ist z. B. im Hamburger „Problemgebäude“ der Bibliothek Warburg gewissermaßen verkörpert.²² Nun aber scheinen Wittgenstein alle Ansätze problematisch, die formale (morphologische) und historische Betrachtungen verquicken, nämlich die ersteren mit den letzteren verwechseln und vermengen.²³ Ihm schwebt darüber hinaus keine empirische Beschreibungsmethode vor, keine mögliche Ethnologie. Man hat dennoch öfter behauptet, er wolle die Rolle empirischer Beobachtungen in der Ethnologie bestreiten.²⁴ Aber eher als dies zu tun, zieht er vielmehr die empirische (ethnologische) Natur des Problems in Zweifel: Frazer missverstehe die eigene Fragestellung und damit auch die eigene Leistung.²⁵ Er verwechsle seine Zeichenerklärungen mit Kausalerklärungen. Als Philosoph richtet Wittgenstein seine Kritik nicht so sehr gegen den empirischen Gehalt des Golden Bough, sondern gegen Frazers ‚Form der Darstellung‘. Er will weniger empirische Irrtümer berichtigen als grammatische Missverständ-

 „Die Bibliothek Warburg […] dient der Bearbeitung e i n e s Problems, und zwar so, daß sie […] durch Auswahl, Sammlung und Anordnung des Bücher- und Bildmaterials das Problem, das sie fördern will, d a r s t e l l t […]. Das Problem ist das vom Nachleben der Antike.“ Untersucht wird „die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit“: „Welcher Art sind die von der Antike geprägten Formen, d a ß sie nachleben?“ (Saxl 1930: 331; vgl. Syamken 1980: 47) Im Sinn von Goethes Morphologie sollen geprägte Formen und ihre lebendige Entwicklung untersucht werden, d. h. „das Erbe an geprägten Formen, das die Antike hinterließ“, und dessen Nachleben. Die Bibliothek ist also ein „Problemgebäude“ (Saxl 1930: 334; bei Saxl in Anführungszeichen) im wörtlichsten Sinn. Bücher und Abbildungen sammeln sich hier um eine „Kernfrage“: „Die Bedeutung der Antike im Entwicklungsverlauf der europäischen Geistigkeit“ (Minerva. Handbuch Deutscher Bibliotheken 1929, zit. in Syamken 1980: 47). Vgl. auch Cassirer 2009b, Bd. 2: XV. Wittgenstein war zwar mit anderen zeitgenössischen Ansätzen zu einer morphologischen Betrachtung vertraut (nicht nur mit demjenigen Spenglers), wusste aber von Warburg wahrscheinlich nichts.  ‚Hybride‘ Ansätze möchte Carlo Ginzburg (1989) gegen Wittgensteins Frazer-Kritik verteidigen.  Rudich und Stassen (1971) zufolge will Wittgenstein historische Fragen a priori lösen und hält historisches Verstehen für unmöglich. (Vgl. außerdem Ayer 1985.) Auch Cioffi kritisiert „Wittgensteinˈs denial of the appropriateness of empirical inquiry“ (Cioffi 1998: 1). Eine Gegenposition beziehen Baker und Hacker: „[…] Wittgenstein does not repudiate the possibility of causal explanations in anthropology.“ (Baker/Hacker 1980b: 540, Anm. 67) Mit Cioffis Kritik (jetzt in Cioffi 1998: 185) setzt sich Hacker 1992 auseinander (vgl. auch das Postscript in Hacker 2001: 74– 97). Auch nach Redding 1987 schließt Wittgenstein kausale Erklärungen von Riten nicht aus. Clack (1999, S. 91 ff.) zufolge sieht der Philosoph in der empirischen Untersuchung ritueller Vorgänge keinen Irrtum und ist gegenüber historischer Forschungen nicht absolut skeptisch eingestellt (Clack 1999: 141), hat dafür jedoch einfach kein Interesse.  Zur Idee, dass Frazer sich selbst missversteht, siehe unten S. 202 ff. Vgl. auch Redding 1987; zu seiner Kritik an Cioffi in diesem Punkt siehe unten S. 202, Anm. 310.

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nisse. Philosophie ist für ihn „Arbeit an Einem selbst“, und dies gilt auch für seine Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Als Philosoph arbeitet man „[a]n der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)“ (MS 112: 24r)²⁶ Indem Wittgenstein die ‚Form der Darstellung‘ des Golden Bough kritisch durchleuchtet, arbeitet er an der eigenen – daran, wie er selbst ‚die Dinge‘ sehen und darstellen soll. Er hatte schon vor seiner Frazer-Lektüre die Absicht, die grammatischen Regeln übersichtlich darzustellen. Aber ursprünglich hatte er unter diesem Vorhaben etwas wie das Farben-Oktaeder verstanden, ein Diagramm, das die dem Sprachgebrauch zugrundeliegenden strikten Regeln eines dem Sprecher nicht bewussten genauen Kalküls in eine übersichtliche, anschauliche Ordnung bringt. In seinen Bemerkungen über den Golden Bough fasst Wittgenstein nun die übersichtliche Darstellung anders auf. In seiner Auseinandersetzung mit dem Ethnologen – die hier zugleich Kritik und Anknüpfung ist – geht es um eine „Form der Darstellung“, die weder Frazers kausalgenetische ist noch die ‚geometrische‘ des Farbenoktaeders. Frazers evolutionäre Darstellungsform lasse sich leicht in eine an Goethe orientierte morphologische abwandeln, in eine „übersichtliche Darstellung“ der im Golden Bough kollationierten grausamen Rituale. Die übersichtliche Darstellung modifiziert sich hier (und wird zu einer Morphologie) eben deshalb, weil sie etwas Neues zum Gegenstand hat: kulturelle Zusammenhänge bzw. einen goetheschen ‚Chor‘ ritueller Bräuche. Aus dieser morphologischen Betrachtung, die Wittgenstein nicht als empirische auffasst, geht indes schließlich eine neue philosophische Methode hervor; die bereits existierende Idee, die grammatischen Regeln übersichtlich darzustellen, erfährt damit eine tiefe Wandlung. Dies geschieht allerdings nicht direkt in der Auseinandersetzung mit Frazer und auch nicht unmittelbar danach, sondern erst nachdem Wittgenstein Begriffe wie ‚Familienähnlichkeit‘, ‚Vergleichsobjekt‘ und ‚Sprachspiel‘ eingeführt hat. Die ersten zwei tauchen dann zum ersten Mal in einem (auch) kulturphilosophischen Kontext auf.

 „Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die/eine/ Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)“ (MS 112: 24r; VB: 472). Zur Philosophie als Arbeit an Einem selbst vgl. Majetschak 2006 sowie die Aufsätze in Gebauer/Goppelsröder/Volbers 2009; zu dieser Auffassung im Zusammenhang von Wittgensteins ‚anthropologischem Denken‘ vgl. Gebauer 2009.

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6 Familienähnlichkeiten. Die losen Blätter in der Abridged Edition (MS 143) und die Vorlesung vom May Term 1933 In den losen Blättern, die Wittgenstein Jahre später in sein Exemplar der Abridged Edition einlegt (MS 143), bilden die im Golden Bough kollationierten Riten – wie früher einen ‚Chor‘ – jetzt etwas wie eine ‚Familie‘. Aber Wittgenstein wechselt hier nicht einfach die Metaphorik: Die neuen bedeutungstheoretischen Einsichten, mit denen nicht erst die Philosophischen Untersuchungen die Metapher der ‚Familienähnlichkeit‘ verbinden, prägen nun seinen Denkstil, und die ‚Familienähnlichkeit‘ ist zum Leitbegriff seiner Frazer-Kritik geworden. Den entscheidenden Schritt vollzieht er spätestens in der nicht eigenhändig überlieferten Vorlesung vom May Term 1933: Hier schlägt sich die allgemeine Weiterentwicklung seines Denkens in der Auseinandersetzung mit dem Ethnologen nieder.Während Moores ‘in Echtzeit‘ entstandene ausführliche Mitschrift unberücksichtigt geblieben ist, erfreut sich sein Jahrzehnte später verfasster und in Mind erschienener wesentlich kürzerer Bericht über Wittgensteins Vorlesungen großer Beliebtheit. Die im Vergleich zum Hin und Her von Wittgensteins Autographen viel profiliertere Wiedergabe, in der Moore implizit, aber doch eindeutig zu Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazer Stellung nahm, war extrem einflussreich. Dafür, dass Moores späte Kritik wirklich berechtigt ist, gibt jedoch seine eigene frühe Mitschrift keine Anhaltspunkte. Sie ist schon aus diesem Grund interessant. Aber nicht nur: Von Moores publiziertem Bericht wird immer wieder auf Wittgensteins frühere Frazer-Kritik im Juni-Juli 1931 zurückgeschlossen; und einige offensichtliche Schwächen der früher entstandenen autographen Bemerkungen bleiben dabei ausgeblendet. Diese Rückschlüsse auf Früheres sind jedoch nicht legitim: Die Mitschrift (und z.T. auch Moores Bericht in Mind) zeigt, dass Wittgenstein sich im May Term 1933 in einer ganz anderen Begriffswelt bewegt: Er setzt Begriffe und Gedanken ein, mit denen er im Juni-Juli 1931 noch nicht arbeitete. Auch Wittgensteins schwer datierbare Reflexionen über die europäischen Feuerfeste zeigen, dass er nach 1931 seinen Blick für den intrakulturellen Zusammenhang des einzelnen Ritus geschärft hat. Frazer nimmt den im Golden Bough aufgelisteten Gebräuchen den Kontext, der allein ihren Sinn verständlich machen könnte. Dieser Hauptfehler der alten vergleichenden Methode, den Wittgenstein 1931 nur bedingt durchschaute, entgeht ihm nun nicht mehr: Frazer beschreibe die „U m g e b u n g einer Handlungsweise“, wenn überhaupt, nur äußerst unzulänglich. Daher hebe er zu sehr die Ähnlichkeiten (den angeblichen gemeinsamen Zweck) und zu wenig die Unterschiede zwischen den Riten hervor. Wittgensteins Betrachtungen über die frazerschen Feuerfeste zeigen zwar ein neues Kontextbewusstsein, aber ihr Vorhaben ist alles andere als ein historisches

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oder ethnologisches: geschichtlich-kulturelle Distanz und ihre Überwindung sind auch hier nicht das Thema. Eher als sich mit dem Wahrheitsgehalt von Frazers Theorien und mit der historischen Wahrheit seiner Interpretation auseinanderzusetzen, versucht Wittgenstein, über die Erfahrung und das Anliegen des Autors und seiner Leser Klarheit zu erzielen. Seine Bemerkungen werden missverstanden, wenn man von diesem besonderen Schwerpunkt absieht. Die philosophische Arbeit an ihm selbst beinhaltet hier das Durcharbeiten der eigenen Erfahrung beim Lesen des Golden Bough. ²⁷

7 Die Entwicklung der ‚ethnologischen Betrachtungsweise‘ Ramsey hatte die logischen Einsichten des Tractatus durch einen pragmatistischen Aspekt ergänzen und damit gleichsam eine „Lücke“ („gap“) in Wittgensteins Philosophie füllen wollen. „[T]he essence of pragmatism“ heißt für ihn: „the meaning of a sentence is to be defined by reference to the actions to which asserting it would lead, or, more vaguely still, by its possible causes and effects.“ (Ramsey 1990b: 51) Die pragmatische Seite, durch die er die logische Auffassung zu integrieren versucht, versteht er im Sinn von Russells Kausaltheorie der Bedeutung. Wittgenstein aber lehnt kausaltheoretische Ergänzungen seiner logischen bzw. grammatischen Auffassung als irrelevant und irreführend ab. Anfang der dreißiger Jahre widerstreitet sein Anliegen, sich von der Kausaltheorie abzugrenzen, zuerst der Beachtung pragmatischer Zusammenhänge. Letztere gehören – so Wittgensteins damaliger Standpunkt – ausschließlich zur ‚Geschichte‘ des Zeichensystems, und diese ‚Geschichte‘ ist eine rein kausale, von der eine ‚dynamische‘ Betrachtung der Zeichen absieht; die allen Menschen gemeinsamen elementaren bzw. primitiven Reaktionen und die Abrichtung, aber auch die Rolle sprachlicher Äußerungen im Kontext des Lebens sind Vorgänge, die als nur kausale zum Mechanismus und nicht zum Kalkül der Sprache gehören. Gerade in ethischem und anthropologischem Kontext erhalten „InstinktHandlungen“ (MS 110: 297 f.) nun zum ersten Mal bedeutungstheoretische Relevanz. Wittgenstein kommt in seiner Kritik des Golden Bough den Ethnologen sehr nahe, die gegen intellektualistische Ansätze (Tylor, Frazer) den Primat des Kultes vor dem Mythos festhalten. Frazer führt fremde Gebräuche und Rituale auf irrtümliche Theorien zurück bzw. erklärt sie durch abergläubische Meinungen. Dagegen erhebt Wittgenstein Einspruch: Die Meinung sei bestenfalls Teil und

 Siehe dazu unten § 4.3, S. 310 ff., und zur Analogie mit der Psychoanalyse insbes. S. 327 ff.

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nicht Ursache des Rituals; sie gehöre zum Ritus und erkläre ihn nicht. Auf ähnliche Weise sieht Wittgenstein – allerdings erst Jahre nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer – in der Überlegung einen „Teil des Sprachspiels“ (MS 137: 55b; BPP II, § 632): Die Überlegung gehört zum Sprachspiel, sie erklärt es nicht. Aus dem Verhältnis von Ritual und Meinung wird also schließlich das Paradigma des Verhältnisses zwischen Sprachspiel und Überlegung, d. h. zwischen Handlungsund Denkweisen überhaupt. ²⁸ Nun könnte es auf den ersten Blick so scheinen, als ob aus den gegen Frazer gerichteten Argumenten, die dem Ritus einen Vorrang vor dem Mythos einräumen, unmittelbar allgemeinere handlungs- und sprechakttheoretische Einsichten hervorgegangen seien. 1931 hat Wittgenstein indes den Sprachspielbegriff noch nicht; und tiefliegende mentalistische Voraussetzungen erlauben ihm damals nicht, intellektualistische Modelle des Sprachgebrauchs auszuschalten. Es vergehen daher Jahre, bevor er die Argumente, mit denen er Frazers Ethnologie zurückgewiesen hat, in seine Sprachspielauffassung einarbeitet; aus den Einsichten über magische und religiöse Gebräuche werden erst viel später Einsichten über Sprachspiele. Unterscheiden sich Wissen-Wie und Wissen-Dass, vor-prädikatives Können und propositionale Erkenntnis, grundlegend voneinander? Oder ist Wissen-Wie letzten Endes nur eine Form von Wissen-Dass? Genießt Letzteres zu Recht einen systematischen Vorrang? Stanley und Williamson (2001) behaupten es, sie bestreiten, dass dieser Vorrang nur eine „intellectualist legend“ ist, und ihr Aufsatz hat die Debatte darüber neu entfacht. Ihre Kritik richtet sich vor allem gegen Ryle. Auf Wittgenstein beziehen sie sich kaum. Aber seine Philosophie, und nicht zuletzt die Frazer-Kritik, ist ein locus classicus anti-intellektualistischer Auffassungen. Frazers Ethnologie interpretiert das Wissen-Wie nach dem Modell des WissenDass; und sie stellt unter den intellektualistischen Ansätzen einen besonders krassen Fall dar. Frazers naive intellektualistische Erklärungen, die menschliches Handeln im Wesentlichen auf Theorien zurückführen, gehören zwar zu einem längst untergegangenen Paradigma ethnologischer Forschung. Aber es besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Art, wie er magische und religiöse Anschauungen auffasst und aus ihnen fremde Gebräuche kausal erklärt, und weit über die evolutionäre Ethnologie hinaus verbreiteten Positionen. Im Allgemeinen liegen intellektualistische Erklärungen der Philosophie und den Kognitionswissenschaften noch viel näher als der Ethnologie.

 Zur Meinung als Teil des Ritus siehe unten § 2.1.2.1.5, S. 137 ff., und zur Überlegung als Teil des Sprachspiels S. 384 ff.

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Dieselben Argumente treffen jedes Modell, das den Handelnden den Standpunkt des Theoretikers unterschiebt, z. B. die von Bourdieu kritisierte scholastic view der strukturalistischen Ethnologie,²⁹ aber auch die kognitivistischen Ansätze, die als Grundlage sprachlicher Verständigung eine universelle Tiefenstruktur postulieren.³⁰ Modelle wie diejenigen der strukturalistischen Ethnologie legen dem Handeln ein kohärentes System von Regeln zugrunde und verwechseln die Gründe des Handelnden mit Ursachen. Aus dem praktischen Sinn mit seinen unsystematischen Gründen wird im theoretischen Modell ein kohärentes System von Ursachen. Damit wird auch die ‚Logik‘ des Handelns missverstanden, die unsystematische Kohärenz des praktischen Sinns mit der kalkülähnlichen Systematik einer Theorie verwechselt. Begeht aber Wittgensteins ethnologische Betrachtungsweise nicht gerade diesen Fehler? Selbst wenn dies nicht der Fall ist, könnte es auf den ersten Blick so aussehen: „Wenn wir die ethnologische Betrachtungsweise verwenden, heißt das, daß wir die Philosophie für Ethnologie erklären? Nein es heißt nur, daß wir unsern Standpunkt weit draußen einnehmen, um |die| Dinge o b j e k t i v e r sehen zu können.“ (MS 162b: 67v; vgl.VB: 502; 1940) Stimmt dieses Gleichnis wirklich? Passt das Objektivitätsideal des teilnahmslosen Zuschauers, der von einem externen Standpunkt aus das Beobachtete registriert, nicht eher zu einem Ethologen oder Entomologen als zu einem Ethnologen? Ein Ethnologe à la Malinowski will gerade kein distanzierter Zuschauer sein; er versucht vielmehr, so weit es geht, teilnehmend zu beobachten. Der kulturelle Abstand hat natürlich auch seinen Erkenntniswert, aber der Blick von außen auf eine fremde Gesellschaft stellt in der Ethnologie den Ausgangspunkt dar, nicht das Ziel. Und worauf will die Metapher eigentlich hinaus? Was ist ein „Standpunkt weit draußen“ in der Philosophie? Können wir ihn wirklich einnehmen? Was Wittgenstein unter diesem Standpunkt und mithin unter ‚ethnologischer Betrachtungsweise‘ versteht, leuchtet also nicht unmittelbar ein. Schon hier kann man aber vorwegnehmen: Der „Standpunkt weit draußen“, von dem aus wir uns selbst ‚ethnologisch betrachten‘, ist keine view from nowhere, kein „Marsstandpunkt“ (TS 211: 498; vgl. Z, § 711), er liegt nicht außerhalb unseres, ja jedes Weltbilds; und wir können von ihm aus zwar die „Dinge o b j e k t i v e r sehen“ (MS 162b: 67v), aber nicht: objektiv. Kann man nun eine ethnologische (oder naturgeschichtliche) Betrachtungsweise verwenden, ohne die Philosophie zur Ethnologie (bzw. zur Naturgeschichte)  Vgl. Bourdieu 1980. Der Ausdruck scholastic view stammt von Austin. Zu „Wittgensteins Abkehr von der scholastischen Sicht“ vgl. Gebauer 2009: 27 f., 32. Gebauer setzt Wittgenstein und Bourdieu des Öfteren in Beziehung. Vgl. auch Bourdieu 2002.  Vgl. dazu Schneider 2002; Schneider 1997; Schneider 1999.

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zu erklären? Anfang der dreißiger Jahre hält Wittgenstein dies für unmöglich. Dementsprechend lehnt er die naturgeschichtliche Betrachtungsweise ab. Zwar könnte er seine anti-intellektualistischen Einwände gegen den Golden Bough mit Sraffa besprochen haben, ja, sie könnten von dem Ökonomen mit angeregt sein. Aber offenbar stieß Sraffas anti-intellektualistischer und anti-individualpsychologischer Ansatz bei Wittgenstein zunächst auf ähnliche Vorbehalte wie der ganz anders angelegte Frazers. Um von Sraffa zu lernen, philosophische Probleme mit ethnologischem (bzw. naturgeschichtlichem) Blick zu betrachten, musste Wittgenstein gegen Sraffa lernen, die Philosophie nicht zur Ethnologie (Naturgeschichte) zu erklären. Das heißt, er musste lernen, pragmatische Zusammenhänge einzubeziehen, ohne seinen normativen Standpunkt aufzugeben und zu einem kausaltheoretischen überzugehen. Als Wittgenstein endlich so weit war, gab er zu Gegenständen seiner frühen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough differenziertere Stellungnahmen ab. Seine Kommentare zu dem, was er über wirklich gegebene ‚fremde‘ Lebensformen ‚gehört‘ bzw. gelesen hat, lassen sich nicht immer von den unzähligen Bemerkungen scharf trennen, in denen er eine ‚imaginäre‘ bzw. ‚spekulative‘ Ethnologie einsetzt.³¹ Selbst wenn der schon damals überholte Ansatz des Golden Bough ebenfalls Spuren hinterlässt, orientiert sich der Philosoph auch an viel aktuelleren Auffassungen von Ethnologie und Feldlinguistik. Zu seinen Modellen gehört nicht nur und nicht hauptsächlich der ‚Lehnstuhlethnologe‘ Frazer, sondern auch und vor allem ein Feldforscher à la Malinowski. Knappe Statements zu diesen Themen klingen indes hin und wieder ‚frazerianisch‘, manchmal auch allzu sehr. Aber in der Regel behandelt Wittgenstein nun auf überzeugendere Weise Probleme, die in seiner frühen Auseinandersetzung mit dem schottischen Ethnologen nicht wirklich gelöst worden waren. An Frazer erinnern viele der zahlreichen Beispiele, in denen unser Verstehen am scheinbar Irrationalen scheitert; hier bieten frazersche Missverständnisse zuweilen Gleichnisse und Analogien für philosophische Verwechslungen.  „He used to say that what we might call ‚the anthropological method‘ had proved particularly fruitful in philosophy: that is, imagining ‚a tribe among whom it is carried on in this way: …‘ And once when I mentioned Goering’s ‚R e c h t i s t d a s , w a s u n s g e f ä l l t ‘, Wittgenstein said that ‚even that is a kind of ethics. It is helpful in silencing objections to a certain attitude. And it should be considered along with other ethical judgments and discussions, in the anthropological study of ethical discussions which we may have to conduct.‘ (Rhees 1965: 25) Wittgensteins erfundene Beispiele, die Rhees hier schon „the anthropological method“ nennt, werden in der Literatur je nachdem als ‚spekulative Ethnologie‘ (Bouveresse 2000), ‚imaginäre Ethnographie‘ bzw. ‚Anthropologie‘ (Bourdieu 2002: 149, 150), ‚fiktive Naturgeschichte‘ oder auch ‚imaginary Scenarios‘ (Cerbone 1994) bezeichnet. In den beiden Letzteren geht es nicht immer nur um einen fiktiven ‚Stamm‘ bzw. eine fiktive Gesellschaft.

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1931 tendierte Wittgenstein bei derartigen Fällen immer wieder zu einer antikognitivistischen Strategie: An etwas, was uns absurd scheint, glauben doch auch die gemeinten Menschen nicht (bzw. ‚nicht eigentlich‘). Später wird aus dieser Fragestellung eine andere, komplexere: ‚Wie glauben sie es?‘. Wittgenstein geht also davon aus, dass sie an dies und das doch irgendwie glauben, aber auch davon, dass die ‚Grammatik‘ dieses Glaubens, seine Rolle in ihrer Lebensform, äußerst kompliziert sein und eine eingehende Beschreibung Letzterer erfordern kann. Auch in anderen Fällen müssen wir uns falscher Analogien erwehren. In einem bekannten Sprachspiel der fiktiven Ethnologie geht es nicht um einen Glaubenssatz, sondern um eine Institution, die wir nicht nachvollziehen können.³² Wir verwechseln mit einem Handelssystem eine Institution, die im Leben eines fiktiven Stammes eine ganz andere Rolle hat: Als ökonomisches System aufgefasst, scheint jenes Sprachspiel unvernünftig, unlogisch. Die scheinbare logische Fremdheit entpuppt sich jedoch als ein ethnologisches Missverständnis. Der Beobachter trägt hier die utilitaristische Brille und sieht wie Frazer überall nur Zweckhandlungen. Auch Sraffas ganz andere Betrachtungsweise ist vielleicht gemeint, denn dieses Sprachspiel ist nur scheinbar ein einfaches Wirtschaftssystem wie Sraffas Modelle. Wie in vielen fiktiven Sprachspielen sind die Regeln hier ex hypothesi eher einfach, und wir können sie leicht nachvollziehen; verschlossen bleibt uns aber der „Witz“ dieses Sprachspiels. Der Grund ist nun, dass eine falsche Analogie mit vertrauten Institutionen unserer Gesellschaft uns dazu verleitet, dem Sprachspiel einen „Witz“ zuzuschreiben, den es nicht hat.

8 Gliederung und Ausblick Die Gliederung der vorliegenden Arbeit entspricht diesen Zusammenhängen. Der erste Abschnitt zeigt, dass Wittgenstein vor seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough im Juni-Juli 1931 ein neues Bewusstsein für Kulturunterschiede entwickelt. Rekonstruiert wird dabei auch, in welchen Kontexten kritische Argumente entstehen, die er dann gegen Frazer vorbringt (1). Der darauffolgende Abschnitt behandelt Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit dem Golden Bough in Hinsicht auf die angedeuteten Schwerpunkte: die ‚primitiven Formen unserer Sprache‘ und die in ihnen niedergelegten ‚primitiven Bilder‘, das ‚zeremonielle Tier‘ und seine rituellen Handlungen sowie im Allgemeinen Wittgensteins handlungstheoretischen und ‚anthropologischen‘ Standpunkt (2.1); die

 Zu diesen ‚Holzhändlern‘ siehe unten S. 370 ff.

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„Form der Darstellung“ und den deskriptiven Ansatz (2.2). Die allgemeine Weiterentwicklung von Wittgensteins Denken schlägt sich in seinen späteren Stellungnahmen zum Golden Bough nieder, in der Vorlesung vom May Term 1933 (3) und in den losen Blättern (MS 143), die in die einbändige Ausgabe des Golden Bough eingelegt waren (4). Die Entstehung von Wittgensteins ‚ethnologischer Betrachtungsweise‘ wird nicht Schritt für Schritt nachgezeichnet; aber auf wichtige Etappen, z. B. auf einen Austausch mit Sraffa nicht lange nach der ersten Frazer-Lektüre, geht der letzte Abschnitt ausführlich ein. Wittgensteins spätere Reflexionen nehmen Beobachtungen und Argumente der frühen Golden BoughLektüre wieder auf; frazersche Themen und Probleme bleiben präsent, und auch unabhängig von dem schottischen Ethnologen befasst sich Wittgenstein mit Fragen der ethnologischen Übersetzung und der interkulturellen Hermeneutik. Einflüssen von und Übereinstimmungen mit aktuelleren ethnologischen Ansätzen als dem Frazers, wie sie sich auch, aber nicht nur, in Wittgensteins ‚imaginärer Ethnologie‘ finden, wird daher ebenfalls nachgegangen. Abschließend ist zu zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Golden Bough noch in seinen letzten Reflexionen nachwirkt; diese werfen jedoch das Problem der Kommensurabilität unterschiedlicher „Weltbilder“ in viel eindringlicherer Weise auf als die Texte von 1931 (5).

1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede 1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff 1.1.1 Der Mensch in der roten Glasglocke Dass alle Sprachen (und die Welt) dieselbe logische Syntax teilen, gehört zu den Grundauffassungen, die in der Abhandlung explizit vorgetragen werden. Es heißt hingegen nicht ausdrücklich, dass das Mystische (das Ethische, das Religiöse, das Ästhetische) in seinem Wesen überall gleich ist. Ein Fragment aus dem Jahr 1925 behauptet dagegen ohne Umschweife die transkulturelle Natur des ‚Geistigen‘.¹ Dieser Text – eine der seltenen Verlautbarungen aus dem sogenannten ‚verlorenen Jahrzehnt‘ zwischen der Fertigstellung der Abhandlung und der Rückkehr nach Cambridge – stellt zugleich einen ersten Ansatz zu einer (wenn auch sehr begrenzten) Anerkennung von Kulturunterschieden dar. Wittgenstein beginnt also bereits sehr früh, die im Grunde unhistorische Betrachtungsweise der Abhandlung zugunsten einer wesentlich differenzierteren hinter sich zu lassen. Er entwickelt jedoch erst allmählich ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede. Wittgensteins erster Versuch, derlei Unterschiede anzuerkennen, ist u. a. durch den Untergang des Abendlandes angeregt; und dass er v. a. im Umgang mit Spengler auf Probleme des Kulturverstehens aufmerksam wird, zeigen auch Aufzeichnungen vom Mai 1930. Die durch Spengler geprägten Texte von 1925 und 1930 stellen gegenüber der Abhandlung nicht nur einen Fortschritt dar. Das Fragment von 1925 ist ein Stück ziemlich naiver Metaphysik, das nach den strengen Maßstäben des Frühwerks eigentlich jeden Sinn entbehrt. „Wenn man das reine geistige (das religiöse) Ideal mit weißem Licht vergleicht so kann man die Ideale der verschiedenen Kulturen mit den gefärbten Lichtern vergleichen die entstehen wenn das reine Licht durch gefärbte Gläser scheint.“ (LUS: 44) Wittgensteins Gleichnis steht in der metaphysischen Tradition der una religio in ihren unterschiedlichen Varianten: Es geht hier um ein transkulturelles, überhistorisches religiöses Ideal in verschiedenen kulturellen Färbungen. Kulturunterschiede werden eingeräumt, haben jedoch eine sehr eingeschränkte Tragweite: Sie betreffen nur das Äußerliche, die ‚Färbung‘, nicht das ‚Licht‘.

 Es handelt sich um das Fragment eines [vor dem 2.10.1925] vermutlich an Hermine Wittgenstein gerichteten Briefes („Der Mensch in der roten Glasglocke“). Vgl. die editorische Notiz (LUS: 77).

1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff

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Während Spengler eine seltsame Synthese von Metaphysik und Relativismus versucht, schlägt Wittgenstein eine eindeutig dualistische Richtung ein: Die Kulturen sind nur wie Farbfilter, durch die dieselbe metaphysische Realität in einem jeweils eigentümlichen Farbton durchscheint. Alle Erscheinungen einer Kultur haben demnach eine nur ihnen gemeinsame ‚Färbung‘. Es schwingt dabei allerdings mit, dass die Glasglocken das reine, weiße Licht nur zum Teil durchlassen (Farben enthalten nur einen Anteil an weißem Licht, je nach Farbe einen anderen), d. h., dass Kulturen das Überkulturelle (mehr oder weniger) verunreinigen und vereinseitigen. Letzten Endes verträgt sich die Position, die Wittgenstein einnimmt, mit der des hier nicht genannten Spengler nicht. Bezieht sich Wittgenstein also überhaupt auf ihn?² Oder verweisen manche Züge dieser Skizze doch spezifisch und unmissverständlich auf den Autor des Untergangs? Die zeitlichen Grenzen der ‚abendländischen Kultur‘ sind in dem Fragment die gleichen wie bei Spengler: „Der Mensch in der roten Glasglocke ist die Menschheit in einer bestimmten Kultur zum Beispiel in der abendländischen die etwa mit der Völkerwanderung angefangen und im 18 Jahrhundert einen ihrer Gipfel – ich glaube ihren letzten – erreicht hat.“ (LUS: 44) „Mit dem Anfang des 19. Jahrh. (des geistigen) ist die Menschheit an die Grenze der abendl. Kultur gestoßen. Und nun stellt sich die Säure ein […]“ (LUS: 45). Spengler unterscheidet die abendländische Kultur von der antiken (und von der ‚magischen‘) und setzt den Gipfel der ersteren in der Zeit Goethes und Beethovens an. Erst nach diesem Gipfel, und nicht um 1800, beginnt das eigentliche (Wittgenstein: das ‚geistige‘) neunzehnte Jahrhundert; denn der Tod der beiden Geistesgrößen markiert die Grenze zwischen (lebendiger) Kultur und (toter) Zivilisation. „Der bedeutende Mensch“ mag – so Wittgenstein – „in-

 Zur Verbindung von spenglerschen Motiven mit dem Spengler fremden Gedanken eines überkulturellen Absoluten in diesem Fragment vgl. jetzt auch Kienzler 2013: 322. – Ludwig Hänsel hatte mit Wittgenstein schon am Nachmittag des 13. Novembers 1921 „[ü]ber Spengler“ gesprochen (vgl. Hänsels Tagebucheintrag, in TLH 2012: 98, und dazu Kienzler 2013: 321). Hänsel hatte am 26. Oktober „[i]n S p e n g l e r, U n t e r g a n g des Abendlandes hineingeschaut“ (TLH 2012: 94) und sich in den Tagen vor Wittgensteins Besuch mit dem Buch „beschäftigt“ (TLH 2012: 98). Hänsels Spengler-Lektüre war also der Anlass für das Gespräch: Ob Wittgenstein bereits zuvor von Spengler wusste und/oder ihn kurz darauf las, ist Hänsels Zeugnis nicht zu entnehmen. Der zweite Band des Untergangs kam erst 1922 heraus. 1921 lag nur der erste vor, in der Ausgabe von 1918 oder in einer der vielen ‚unveränderten Auflagen‘. Es liegt nahe, dass Wittgenstein dann in beiden Bänden las und vom ersten Band die 1923 erschienene „33. bis 47. völlig umgestaltete Auflage“ oder eine spätere benutzte. Vor allem bei diesem ersten Band ist die Frage, auf welche Ausgabe(n) er zurückgegriffen hat, nicht unerheblich. Den unten erwähnten Ausdruck „Wortklänge“ z. B. verwendet Spengler in den ersten Auflagen des ersten Bandes nicht.

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1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede

mitten der Kultur“ leben oder – und dies ist in der Zivilisation, der Verfallsphase einer Kultur, immer der Fall – „an die Grenze der Kultur“ (LUS: 45) gelangen. Diese Grenze trennt nicht eine Kultur von der anderen, sie ist vielmehr die Grenze, an der die Glasglocke vom Licht berührt wird bzw. jede Kultur auf die transkulturelle religiöse Dimension trifft, das „Kulturideal“ auf das (reine, geistige, religiöse) „Ideal“ (LUS: 44). An der Grenze der Kultur setzt sich der „bedeutende Mensch“³ nicht mit anderen Kulturen auseinander, sondern mit dieser transkulturellen Dimension. „D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e m G e i s t , m i t d e m L i c h t , ergreift.“ (LUS: 45) Das Fragment scheint einen Schritt hinter die Position der Abhandlung zurückzugehen. Im Frühwerk selbst besteht eine Ambiguität, die frühen Kritikern wie Ramsey und Neurath nicht entgangen ist. Die Abhandlung – schreibt Wittgenstein 1919 an Russell – soll die „Theorie“ von dem enthalten, was nicht gesagt, „sondern nur gezeigt werden kann“ (19. 8.1919, in CB 1980: 88; CC 1995: 124), und das ist einerseits die logische Form, andererseits das Mystische. Aber was heißt es überhaupt, dass das Mystische sich zeigt (vgl. TLP 6.522)? Dass man über das Mystische schweigen soll? Es klingt so, bemerkte Neurath kritisch, „als ob es ‚ein Etwas‘ gebe, von dem man nicht sprechen könne“: Man dürfe zwar schweigen, „aber nicht ‚über etwas‘.“⁴ Der explizite Rückschritt in ein metaphysisches Weltbild, den Wittgenstein im gleichnishaften Text von 1925 vollzieht, scheint Neuraths Misstrauen gegenüber der Abhandlung zu bestätigen, verträgt sich indes kaum mit den als New Wittgenstein bekannten Interpretationen des Frühwerks. 1925 sagt Wittgenstein nämlich das, was die Abhandlung – nach Ramseys bekanntem Bonmot – zu ‚pfeifen‘ versuchte.⁵ Er spricht sich nun ausgiebig über das aus, ‚worüber‘ die Frühschrift zum Schweigen aufforderte. 1925 hält er sich also nicht an den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen, demzufolge Sätze nur Tatsachen beschreiben können, während das Mystische sich zeigen muss. Was

 Wittgenstein scheint hier insbesondere an Kierkegaard zu denken, z. B., wenn er auf Humor und Melancholie anspielt. Wittgensteins Verwendung von „Geist“ ist bereits vor der Abhandlung durch seine leidenschaftliche Aufnahme von Tolstois Kurze Darlegung des Evangelium geprägt. Vgl. Weiberg 2011. Vgl. jetzt auch Ludwig Hänsels ausführlichen Bericht über „Wittgensteins erste ergriffene Vorlesung“ (TLH 2012: 55) aus der Darlegung und über die anschließenden kontroversen Gespräche, auch über die „Erneuerung der Menschen durch den Geist“ (TLH 2012: 55) bei Tolstoi.  „Der Schluß des ‚Tractatus‘ […] ist mindestens sprachlich irreführend; es klingt so, als ob es ‚ein Etwas‘ gäbe, von dem man nicht sprechen könne. Wir würden sagen: falls man sich wirklich ganz metaphysischer Stimmung enthalten will, so ‚schweige man‘, aber nicht ‚über etwas‘.“ (Neurath 1931b: 396)  „But what we can’t say, we can’t say, and we can’t whistle it either.“ (Ramsey 1990c: 146). Vgl. dazu sowie zu Neuraths Einwand Hacker 2000, insbes. S. 355.

1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff

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Wittgenstein in dem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Fragment schreibt, ist nach den strengen Maßstäben der Abhandlung sinnlos. Was bringt den Philosophen dazu, über das Religiöse oder, wie es 1930 heißt, über das Symbolische zu reden? Die nun zu erläuternden Aufzeichnungen von 1930 folgen dem Autor des Untergangs: Wittgensteins Begriff des ‚Symbolischen‘ klingt an Spengler an (und vermittelt durch diesen an Goethe) – mit einem weit stärkeren dualistischen Akzent: Im Symbolischen zeigt sich der ‚Geist‘. Bei Spengler gibt es in jeder Kultur einen Kern, der nicht ausgesprochen, dargestellt oder begriffen werden kann: das Ursymbol (vgl. UdA 1920, Bd. 1: 243 ff.; UdA 1923, Bd. 1: 228 ff.). Höchstens Wortklänge können es für das Gefühl evozieren (vgl. UdA 1923, Bd. 1: 229). Das Ursymbol ähnelt damit oberflächlich dem Mystischen der Abhandlung: Allerdings nur, wenn Wittgenstein den schon von Ramsey und Neurath bemängelten Fehler begeht und aus dem ‚absolut Ethischen‘ eine irgendwie geartete Wesenheit macht. Wer über das Ethische im absoluten Sinn redet, rennt noch laut dem Vortrag von 1929 „gegen die Wände unseres Käfigs“ (VE: 19; vgl. LE: 44) an, gegen die Sprachgrenzen. Das heißt aber nicht, dass jenseits dieser Grenzen ‚etwas‘ liegt, sondern, dass das Gesagte sinnlos ist: Die entsprechenden Wörter referieren nicht, sie entbehren eines Bezugs. Das, was Wittgenstein 1925 das Geistige nennt, liegt jenseits der Grenze der Kultur in einem anderen, metaphysischen Sinn. Die Sprache aber – wird Wittgenstein bald erklären – ist kein Käfig (vgl. WWK: 117). Und eine Kultur – fügen wir hinzu – ist keine Glasglocke.⁶

1.1.2 Symbolische Bedeutung⁷ Im Mai 1930 setzt sich Wittgenstein erneut mit dem Untergang des Abendlandes auseinander. Er stellt „trotz des vielen Unverantwortlichen im Einzelnen“ (MS 183: 16) eine weitgehende Übereinstimmung zwischen sich und Spengler fest. Ein gutes Jahr, bevor er seine ersten Bemerkungen über den Golden Bough niederschreibt, skizziert er hier ein allgemeineres Bild der Art,wie Wert, Bedeutung, Symbolik sich je nach Kultur und Epoche verschieben. Diese Texte markieren eine frühe, aber wichtige Station in Wittgensteins graduellem Abrücken vom Weltbild der Abhandlung. Die Begrifflichkeit bleibt allerdings metaphysisch überfrachtet, und das nicht nur wegen der ideologischen Anleihen bei Spengler. Dessen Auffassung des Symbolischen wird auch hier in eine dichotomische Betrachtungsweise eingear-

 Darauf läuft auch Neuraths Spengler-Kritik hinaus. Vgl. Brusotti 2011: 344 ff.  Der vorliegende Abschnitt ist eine ergänzte Fassung von Brusotti 2000: 32 ff.

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1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede

beitet, die um den im Vortrag formulierten Unterschied zwischen Ethik in relativem und Ethik in absolutem Sinn kreist. Dieser Unterschied erhält dabei eine historische Dimension. Spenglers Vision ist eigentlich keine uneingeschränkt relativistische: Ihm zufolge setzt jede Kultur etwas als absolut gültig, was Menschen anderer Kulturen fremd und unzugänglich bleiben muss: Das Ursymbol ist gleichsam ein relatives Absolutes. Bei Wittgenstein kennt jede Kultur das Ethische im absoluten Sinn – oder, wie es nun mit Spengler heißt: das Symbolische, die „Bedeutung“ –, aber in einer nur ihr zugänglichen ‚Färbung‘. Auch 1930 bleibt eine Kultur für Wittgenstein im Wesentlichen eine „Verkörperung“ (MS 183: 46) des Geistes, und dieser wird sie überleben, über ihrer Asche schweben (vgl. MS 183: 46). 1930 ist Spenglers Einfluss stärker als 1925, und dies zeigt sich darin, dass Wittgenstein nun Kulturunterschiede stärker betont. Ihn interessiert weiterhin der von Spengler diagnostizierte historische „Umschwung“ der abendländischen Kultur, ihr Eintritt in die Phase der „Zivilisation“; seine Aufmerksamkeit richtet sich hier jedoch nicht nur auf den Unterschied zwischen abendländischer Kultur und transkulturellem und -historischem „Geist“ (zwischen der Glasglocke und dem Licht), sondern auch auf die Unterschiede zwischen den Kulturen. Wittgenstein findet im Untergang „v i e l e wirkliche, bedeutende Gedanken“, die sich mit seinen eigenen berühren, und hebt zwei besonders hervor: die „Möglichkeit einer Mehrzahl abgeschlossener Systeme welche wenn man sie einmal hat ausschauen als sei das eine die Fortsetzung des Anderen“, und die Auffassung, „daß wir gar nicht wissen (bedenken) wieviel dem Menschen genommen – oder auch gegeben – werden kann.“ (MS 183: 17) Wie hier zwischen den Kulturen (den ‚abgeschlossenen Systemen‘) und dem Menschen unterscheidet Wittgenstein sonst zwischen den einzelnen Kalkülen (später: Sprachspielen) und allgemeinen Begriffen wie ‚Sprache‘ oder ‚Mathematik‘. Erstere sind fest begrenzte abgeschlossene Systeme, Letztere jedoch nicht.Weder bei den einen noch bei den anderen kann eigentlich von ‚vollständig‘ oder ‚unvollständig‘ die Rede sein.⁸  Wenn Wittgenstein erklärt, er selbst habe beide Gedanken und ihren Zusammenhang bereits gedacht, dürfte er nicht primär kulturphilosophische Betrachtungen meinen. Hier sei nur ein Vergleich mit einem späteren Diktat an Waismann angedeutet. Gerade fließenden Begriffen wie ‚Sprache‘ und ‚Mathematik‘, bei denen wir ebenfalls nicht wissen, wieviel ihnen „genommen – oder auch gegeben – werden kann“, stellen wir eine „Mehrzahl abgeschlossener Systeme“ gegenüber, „welche wenn man sie einmal hat ausschauen als sei das eine die Fortsetzung des Anderen“ (MS 183: 17). Derlei „festumschriebene Gebilde“ (VW: 66), sind fiktive einfachere, ‚primitive‘ Regelsysteme, die wir aber nicht als „unkomplett“ (VW: 66) bezeichnen dürfen; denn die Grammatik ist willkürlich, d. h., nicht an einem externen Maßstab zu messen. Diese geschlossenen Regelsysteme – z. B. die Arithmetik des (von Wittgenstein nicht als reine Fiktion betrachteten) Stammes, der nur bis 5 zählen kann – bestehen neben unserer Sprache

1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff

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Bei Spengler stehen jene abgeschlossenen Systeme, die Kulturen, jeweils symbolisch für eine bestimmte, deutlich individuierte Art Mensch (vgl. UdA 1923, Bd. 1: 65). Gerade weil jede Kultur für eine völlig andere Art Mensch steht, darf man jedoch nicht sagen, dass die eine die Fortsetzung der anderen ist, selbst wenn sie zeitlich aufeinanderfolgen. Wittgenstein betont wiederum nur, dass jene abgeschlossenen Systeme „so ausschauen“, und zwar sofern sie sich in einer geordneten morphologischen Reihe darbieten. Er sieht einen Zusammenhang zwischen der „Möglichkeit einer Mehrzahl abgeschlossener Systeme“ und der Möglichkeit untereinander höchst verschiedenartiger Lebensformen.⁹ Wittgenstein ist hier von einem „Urbild“ besonders angezogen, das er bald als dogmatisch verwirft: dem abgeschlossenen Organismus.¹⁰ Die Möglichkeiten einer, und insbesondere unserer, Kultur sind nicht unerschöpflich, man darf von einem unendlichen Fortschritt nicht ausgehen: Sie kommt irgendwann zu einem Abschluss. In dieser Vision haben Kulturen jeweils eine feste Grenze, weil jede symbolisch für eine besondere Art Mensch steht, der Mensch selbst hat jedoch keine solche Grenze. Bei der Vielheit der Kulturen darf der Menschenbegriff nicht allein vom modernen westlichen Menschen her bestimmt werden. Die Vorstellung unbestimmter Grenzen, die an Musils ‚Möglichkeitssinn‘ erinnert, ist in Bezug auf den Menschen problematischer als in dem auf ‚Sprache‘ und ‚Mathematik‘. Der Gedanke, „daß wir gar nicht wissen (bedenken) wieviel dem Menschen genommen – oder auch gegeben – werden kann“, bedeutet für Wittgenstein, dass auch scheinbar selbstverständliche Fähigkeiten nicht notwendig zum Wesen des Menschen gehören. „D. h. wir halten alles was wir h a b e n für selbstverständlich und wissen gar nicht daß wir complett sein können auch ohne dem und dem [sic] was wir gar nicht als besondere Fähigkeit erkennen weil es uns zur Vollständigkeit unseres Verstandes zu gehören scheint.“ (MS 183: 19) Ebenso wenig dürfte man dabei von „geistiger Zerrüttung“ reden. Wittgenstein

und Mathematik „zurecht“ (VW: 66). Gerade in der „Umgebung“ dieser Systeme zeigen sich die ‚fließenden‘ Grenzen (vgl. VW: 66) unserer Sprache (und unserer Mathematik); sie ist kein durch notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen definiertes Ganzes. Was zu ihr gehört und was nicht, ist nicht genau „bestimmt“ (VW: 66) worden, d. h., wir müssten hier erst eine Entscheidung treffen. Zum Diktat „Die Sprache in ihrer Umgebung“ siehe unten S. 248 ff., zur ‚Stammesarithmetik‘ S. 69, Anm. 23. – Hacker 1986 (121, Anm. 9) weist auf die Betrachtungen über die kulturelle Relativität der Mathematik im Untergang des Abendlandes (2. Kapitel) hin, denen zufolge der Vielfalt der Kulturen eine der Mathematiken entspricht. Zur Bedeutung Spenglers für Wittgensteins Philosophie der Mathematik vgl. jetzt auch Kienzler 2013: 332 ff.  So bestätigt diese Aufzeichnung die These, dass die Spengler-Lektüre Wittgensteins Blick für die Vielfalt möglicher Lebensformen geschärft hat. Hilmy hat diese These schon vor Entdeckung des Tagebuchs aus dem Koder-Nachlass (MS 183) vertreten (vgl. Hilmy 1987: 299, Anm. 428).  Zu Spenglers „Dogmatismus“ siehe unten S. 268 ff.

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betrachtet hier selbst die Fähigkeit, bekannte Menschen wiederzuerkennen, nur als „eine spezielle Fähigkeit“; sie scheint „selbstverständlich“, „natürlich“, könnte „uns“ aber „sehr wohl abhanden kommen ohne daß wir als minderwertig zu betrachten wären.“¹¹ Eine ethische Betrachtung spielt also mit hinein: Man darf den ‚Wert‘ eines Menschen nicht von bestimmten psychologischen Fähigkeiten abhängig machen. Wittgenstein stellt hier Normalität als philosophische und ethische Kategorie in Frage: Er will eigentlich zwei Versuchungen abwehren, die Versuchungen, von einer empirischen, hier psychologischen, Gegebenheit kurzerhand (1) philosophisch auf eine begriffliche Notwendigkeit und/oder (2) ethisch auf eine moralische Minderwertigkeit zu schließen. Im Sinne von (1) wird eine „spezielle“ Fähigkeit, die wir doch entbehren könnten, mit etwas verwechselt, was dem menschlichen Intellekt notwendig und selbstverständlich gehört. Diese Verwechslung ist ein Sonderfall eines Fehlschlusses, den Wittgenstein in anderer Form bei Renan und Frazer moniert: Die täuschende Selbstverständlichkeit des Gegebenen, z. B. unserer Lebensform, führt dazu, Faktisches mit Notwendigem zu verwechseln.¹² Der Nachweis gelingt Wittgenstein in seiner Kritik von Frazer und Renan jedoch weitaus besser als am geschilderten Beispiel; und die in Spenglers Originalversion ethisch nicht unbedenkliche relativistische Theorie einer unbestimmten Variabilität des Menschen ist nicht das beste Argument für das Prinzip, dass die Würde (den ‚Wert‘) des Einzelnen nicht Frage bestimmter bzw. mehr oder weniger entwickelter psychologischer Fähigkeiten ist. Spengler ist ein erbitterter Gegner kausaler Erklärungen in der Geschichte. Er stellt der kausalen Erklärung die symbolische Deutung als einzige adäquate historische Methode gegenüber. Kausalität sei der Grundbegriff der Naturwissenschaft, der Grundbegriff der Geschichte sei dagegen das Schicksal (vgl. UdA 1923, Bd. 1: 34 f.).¹³ Das Ideal kausaler Erklärung dürfe man nicht von den Naturwissenschaften auf die Geschichte übertragen. Aufgabe seiner Morphologie der Weltgeschichte sei also nicht, Ereignisse kausal zu erklären, sondern Kulturformen als „Symbole“ zu „deuten“ (UdA 1923, Bd. 1: 4; vgl. S. 8 und passim).  Als Beispiel führt Wittgenstein Thomas Manns Schilderung des Schicksals von Hanno Buddenbrook an. Am Ende des Buches wird wie nebenbei mitgeteilt, daß der an Typhus erkrankte Hanno schließlich „niemanden mehr erkannte“ (Mann 2011: 758).  Siehe dazu unten S. 50 ff.  Das antihistorische Weltbild des jungen Wittgenstein hängt nicht nur mit seiner naturwissenschaftlichen und logischen Ausbildung zusammen; auch Autoren wie Schopenhauer, Tolstoi, Weininger, um nur wenige zu nennen, prägen ihn in diesem Sinn. Der Autor des Untergangs stellt eine Art Gegengewicht gegen diese mächtigen antihistorischen Einflüsse dar. Zugleich aber erlaubt Spenglers ausgeprägte antikausale Tendenz dem Philosophen, dessen ‚Weltanschauung‘ eigenwillig aufzunehmen und mit jenen antihistorischen Einflüssen zu verbinden.

1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff

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Wittgenstein erkennt sich in dieser antikausalistischen Tendenz wieder: Er sieht nun einen Eindruck bestätigt, den er „vor 16 Jahren“ hatte, als auch Spengler an seinem Buch arbeitete: Zur selben Zeit sei Wittgenstein auf „eine Betrachtung der Welt“ gekommen, die das an sich bedeutungslose „Gesetz der Kausalität“ „nicht im Auge“ gehabt und mit diesem „Gedanken“ „das Gefühl vom Anbrechen einer Neuen Epoche“ (MS 183: 21) verbunden habe. Die Abhandlung und der Untergang leiten hiernach eine Zeitenwende ein (und beide Schriften wird Wittgenstein bald der gleichen Fehler bezichtigen). Er sieht offenbar eine Verwandtschaft zwischen Spenglers Goethe abgeschautem Begriff des Symbolischen und seiner eigenen Auffassung des Ethischen. Das Grundanliegen des Vortrags über Ethik war, Wert in relativem und Wert in absolutem, ethischem Sinn streng zu trennen. Jedes relative Werturteil kann als Tatsachenfeststellung reformuliert werden, Ethik dagegen nie. (Sie kann ohne irgendwelchen Missbrauch der Sprache überhaupt nicht formuliert werden.) „[D]as Gute liegt außerhalb des Tatsachenraumes.“ (MS 107: 196; VB: 454) Außerhalb des Tatsachenraums liegt offenbar auch „der echte Nymbus [sic]“, „das wahre Pathos“, der wahre Ernst, dem die von Spengler angeregten Betrachtungen gelten. „D. h. der Nymbus, nämlich der echte Nymbus haftet nicht an der äußern Tatsache d. h. nicht an der Tatsache.“ (MS 183: 24 f.) Die „praktische Bedeutung“ einer Handlungsweise (etwa ihre Nützlichkeit oder Schwierigkeit) „kann man, gleichsam, von außen beurteilen“, nicht aber ihre symbolische Bedeutung, das „Pathos das mit der Handlungsweise verbunden ist“ (MS 183: 23). Diese symbolische Bedeutung (Wittgenstein redet von „Bedeutung“ schlechthin oder von „Symbolik“) haftet je nach Epoche Verschiedenem an. Nicht der Geist ist kulturbedingt, sondern die Art, wie er sich nach außen ausdrückt; so, „daß das Verschwinden einer Kultur nicht das Verschwinden menschlichen Wertes bedeutet sondern bloß gewisser Ausdrucksmittel dieses Werts“ (MS 109: 206). Letztere hängen vom jeweiligen „Zeitabschnitt“ (MS 183: 23) ab.¹⁴ Sie verschieben sich mit der Zeit. „Das Trinken, zu einer Zeit symbolisch ist zu einer anderen Zeit Suff.“ (MS 183: 24)¹⁵ Und was in einer früheren Kulturperiode eine echte „Heldentat“ war, ist

 Spenglerisch sogar von der „Rasse“ (MS 183: 23)! Dass Wittgenstein Anfang der dreißiger Jahre gegen eine (freilich nicht biologistische) Spielart des Rassegedankens nicht immun ist, zeigen auch Stellen wie etwa MS 183: 41, 99.  Der ethische Nicht-Kognitivismus der Abhandlung ist kein Relativismus. Er beinhaltet im Gegenteil die volle Andersartigkeit des Ethischen gegenüber jeder relativen Betrachtung. Wittgenstein ist auch im Tagebuch MS 183 nicht auf eine relativistische Position aus, oder nur in einem eingeschränkten Sinn: Welche Handlungen symbolisch sind und welche nicht, ändert sich zwar mit der Zeit, aber der Unterschied zwischen praktisch (relativ) und symbolisch bleibt.

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später nur noch „reine Sportsache“. Es ist also eine Täuschung, dass „die Größe, die Bedeutung […] notwendig in jener Handlungsweise“ (MS 183: 24) liegt. Der irrtümliche Glaube daran „wird immer erst dann ad absurdum geführt, wenn durch einen Umschwung eine umwertung [sic] der Werte eintritt d. h. das wahre Pathos nun sich auf andere Handlungsweise [sic] legt.“ (MS 183: 24) Den „Umschwung“ der abendländischen Kultur, die von Nietzsche vorausgeahnte „Umwertung aller Werte“ (MS 183: 53)¹⁶, versteht Wittgenstein als den Übergang zu einer neuen Kulturperiode, in der bestimmte Handlungsweisen ihre Bedeutung einbüßen und andere einen symbolischen Charakter erhalten. Kulturwandel, vor allem eine regelrechte Umwertung, macht Kulturverstehen schwer. Welche Handlungsweisen haben ihre symbolische Bedeutung verloren? Welche erhalten nun eine? Bei den von Wittgenstein angeführten Beispielen handelt es sich meist um Fälle, in denen der Verlust an symbolischer Bedeutung nicht richtig bemerkt wird. Gerade in der Zeit des „Umschwungs“, in der die westliche „Zivilisation“ planetarisch wird, kann man leicht übersehen, dass zwischen scheinbar analogen Erscheinungen verschiedener Epochen ein Abgrund klafft. Sie sind innerlich weit weniger verwandt, als es den Anschein hat. Wittgenstein zeigt hier zwar ein ausgeprägteres Bewusstsein für Kulturunterschiede, denkt jedoch weniger an den Abstand zwischen Kulturen als an den angeblichen epochalen Unterschied zwischen (früherer) Kultur und (gegenwärtiger) Zivilisation. Jene eigenartige Blindheit soll zwar jeden Epochenwandel kennzeichnen, in besonderem Maße jedoch den aktuellen „Umschwung“ und die immer weiter voranschreitende westliche „Zivilisation“. Wittgenstein variiert im Anschluss an Spengler den verhängnisvollen Gegensatz zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“: Letztere beobachtet demnach alles wie von außen und nimmt nur die praktische Bedeutung, die Dimension des Tatsächlichen, Kausalen wahr. Diese moderne westliche Weltbetrachtung tut sich schwer, etwas wie den „Geist“, die symbolische Bedeutung und den von dieser hinterlassenen tiefen Eindruck zu verstehen.¹⁷

 Bei Spengler steht Nietzsches ‚Wort‘ für den Übergang jeder Kultur (nicht nur der abendländischen) zu ihrer späten (Verfalls‐)Phase, zur „Zivilisation“. Dazu und zur „Umwertung aller Werte“ vgl. Brusotti 2009: 343 ff.  Zu diesem charakteristischen Mangel an Verständnis jeder „geistigen Angelegenheit“ bei Frazer siehe unten S. 212 f. – Dass Wittgenstein mit seinen Betrachtungen an den Untergang anschließt, heißt natürlich nicht, er kenne den damals geläufigen Gegensatz von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ erst und nur durch Spengler. Zu ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ im Zusammenhang seiner Spengler-Lektüre vgl. Wright 1990: 214 ff., Cavell 1989, Bouveresse 2000, Brusotti 2000, Klagge 2011.

1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff

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Wittgensteins neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede tritt also in einer problematischen Begrifflichkeit auf, die Spenglers Metaphysik an die eigene „Metalogik“ anpasst. Neuraths Bemerkung über Spenglers Untergang, Gegensätze seien „das Um und Auf dieses Buches“ (Neurath 1921: 90; vgl. Brusotti 2011: 344 ff.), trifft auch für Wittgensteins Überlegungen zu. Sie artikulieren sich in lauter Gegensätzen: zwischen praktischer und symbolischer Bedeutung, zwischen „Tatsache“ und „Geist“, zwischen dem Staunen über eine außergewöhnliche Tatsache und dem „Eindruck“, den Symbole hinterlassen (bzw. dem Verstehen des Symbolischen). Hinter diesen Dichotomien steckt noch, verstärkt nun durch Spenglers Metaphysik, die frühe Metalogik, von der sich Wittgenstein damals, Anfang der 30er Jahre, in theoretischem Kontext gerade löst. Der Eindruck, den man von einer Handlung erhält, hängt demnach von ihrem Geist ab,¹⁸ und ebenfalls davon, ob man sie „in dem richtigen Geiste“¹⁹ betrachtet. Eindrucksvoll in diesem metaphysischen Sinn sind Handlungen nur „als Symbole“ für den Geist. Die Dimension des Symbolischen ist – ähnlich wie bei Spengler – kausalen Erklärungen unzugänglich: Die Handlung kann nur, ihr Geist kann nicht einmal beschrieben werden. Er zeigt sich, wenn überhaupt, in der Beschreibung der Handlung. Im gleichen Sinn wehrt Wittgenstein in Bezug auf das geplante Buch die „große Versuchung“ ab, „den Geist explizit machen zu wollen“; „der Geist eines Buches“ muss „sich in diesem zeigen“ und kann „nicht beschrieben werden“; man muss „[a]lles rituelle (quasi Hohepriesterliche)“ (MS 109: 209) streng vermeiden. Diese Reflexionen über den Eindruck des Symbolischen unterscheiden also weiterhin zwischen Ethik in absolutem und Ethik in relativem Sinn und damit zwischen Zeigen und Sagen: Das Ethische (in absolutem Sinn) bzw. der „Geist“ lässt sich nicht sprachlich formulieren, es bzw. er zeigt sich. Noch unmittelbar vor seiner ersten dokumentierten Auseinandersetzung mit Frazer denkt Wittgenstein über Beschreibung weitgehend in den fragwürdigen Kategorien, die seine spenglerianischen Betrachtungen über symbolische Bedeutung prägen: Auf der einen Ebene stehen die Tatsachen- oder Handlungsbeschreibung sowie die beschriebenen Handlungen und Tatsachen selbst, auf einer ganz anderen der Eindruck, den diese Beschreibung auf einen macht.

 „Wenn ich im Märchen lese, daß eine Hexe einen Menschen in ein wildes Tier verwandelt, so ist es doch auch der Geist dieser Handlung, der mir/auf mich/ den Eindruck macht. | (Man sagt von einem Menschen, wenn er könnte, er würde den Andern/Gegner/ durch seinen Blick töten.)“ (MS 183: 84 f.)  „Ich muß das Ganze schon in dem richtigen Geiste lesen, um das Wunderbare darin zu empfinden [um das Wunder darin zu sehen/empfinden/.]“ (MS 183: 84) Dazu und zur Verwechslung zwischen unterschiedlichen Formen von Verwunderung siehe unten S. 45 ff.

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1.1.3 Ein Leben beschreiben: beeindruckende Darstellungen „Wenn ich die Wirklichkeit beschreibe, so beschreibe ich, was ich bei den Menschen vorfinde. Die Soziologie muss ebenso unsere Handlung und unsere Wertungen beschreiben wie die der Neger. Sie kann nur berichten, was geschieht. Aber nie darf in der Beschreibung der Soziologen der Satz vorkommen: ‚Das und das bedeutet einen Fortschritt.‘“ (WWK: 116; 17.12.1930) Für Wittgenstein, der hier noch von der strikten Trennung von Wert und Tatsache ausgeht, muss die „Beschreibung der Soziologen“ (WWK: 116) wertfrei und selbst die Beschreibung von „Wertungen“ eine reine Tatsachenbeschreibung sein. Es gebe nur eine Alternative: Man könne wie er selbst in seinem Vortrag über Ethik „in der ersten Person“ (WWK: 117) reden; und wenn er sich über Religion „nicht lustig“ mache, ja „den Hut davor“ ziehe, spreche er lediglich für, ja, eigentlich „v o n [ s i c h ] s e l b s t “ (WWK: 118). Wenn Wittgenstein sich wenig später zu einem deskriptiven Ansatz bekennt, meint er „keine Beschreibung der Soziologie“ (WWK: 118), keine Beschreibung in der dritten Person, sondern eine, auf die der Leser, wenn überhaupt, dann gleichsam in der ersten Person antworten muss. Im Sommer 1931 lehnt Wittgenstein jeden nicht rein deskriptiven Ansatz im Umgang mit magischen und religiösen Handlungen ab: Die Varieties of religious experience können nur beschrieben, nicht kausal erklärt werden. In diesem Sinn kritisiert er Frazers Golden Bough. Inwieweit geht er dabei von Ansichten aus, die der Philosophie der Abhandlung und des Vortrags über Ethik noch verhaftet sind? Über die Hauptgestalt des Golden Bough heißt es: Wer sich über den Priesterkönig in Nemi wundert, kann zuletzt nur den Vorgang beschreiben – „und sagen: so ist das menschliche Leben“; der „Eindruck, den uns das Beschriebene macht“ (MS 110: 180), steht auf einem ganz anderen Plan als eine eventuelle hypothetische Erklärung. Wenige Tage vor seinen ersten Aufzeichnungen über Frazer hält Wittgenstein, diesmal in einem eindeutig religionsphilosophischen Kontext, Ähnliches fest: Wer das Leben eines Apostels beschreibt, muss den „Eindruck den diese Beschreibung auf Andere macht […] diesen überlassen“. Ein Apostel sein ist ein L e b e n . Es äußert sich wohl zum Teil in dem was er sagt, aber nicht darin daß es wahr ist, sondern darin daß er es sagt. Für die Idee leiden macht ihn aus, aber auch hier gilt es, daß der Sinn des Satzes „dies/dieser/ ist ein Apostel“ die Art seiner Verification ist. Einen Apostel beschreiben heißt ein Leben beschreiben. Den Eindruck den diese Beschreibung auf Andere macht muß man Diesen überlassen. An einen Apostel glauben heißt, sich zu ihm so und so zu verhalten – tätig zu verhalten. (MS 183: 73 f.; 6.5.1931)

Der Leser muss demnach selber sehen, ob diese Lebensbeschreibung sein eigenes Leben auflockert, wie er sich zu ihr „tätig“ verhält, d. h., ob sie ihn drängt, wie

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jener Apostel zu leben. Wittgenstein denkt also nicht an eine wissenschaftliche Biographie, sondern an religiöse Literatur, hier in erster Stelle an Kierkegaard. „Zu Kierkegaard: Ich stelle Dir ein Leben dar und nun sieh, wie Du Dich dazu verhältst, ob es Dich reizt (drängt) auch so zu leben, oder welches andere Verhältnis Du dazu gewinnst. Ich möchte quasi/gleichsam/ durch diese Darstellung dein Leben auflockern.“ (MS 183: 75)²⁰ Den „Eindruck“, den man hier empfangen kann, den Drang, ein als vorbildlich hingestelltes Leben nachzuahmen oder in ein ähnliches Verhältnis dazu zu treten, identifiziert Wittgenstein ausdrücklich mit dem ‚Glauben‘, hier mit dem Glauben „[a]n einen Apostel“ (MS 183: 74), in anderen Reflexionen mit dem christlichen Glauben überhaupt.²¹ Er unterscheidet nämlich in diesem Sinn das Christentum als „eine Beschreibung eines tatsächlichen Vorgangs im Leben des Menschen“ (MS 118: 56v) von einer „Theorie“ (MS 118: 56r): „Die, die davon sagen, […] beschreiben einfach, was ihnen geschehen ist; was immer einer dazu sagen will!“ (MS 118: 56v; VB: 488; 1937) Diese Selbstbeschreibungen ähneln eher einem avowal als einer historischen Beschreibung im gewöhnlichen Sinn. Der eigentümliche „Sinn des Satzes ‚dieser ist ein Apostel‘“ besteht in der besonderen „Art seiner Verifikation“; er wird nämlich anders ‚verifiziert‘ und anders geglaubt als ein empirischer Satz oder eine Theorie: An ihn glauben heißt einfach danach handeln, sich zu ihm „tätig […] verhalten“. Merkwürdig ist hier

 Ähnlich wie Kierkegaards Denken geht die mögliche Ethik vor, die Wittgenstein Jahre später vorschwebt: „Es kann eine Ethik geben, die Fälle beschreibt, zusammenstellt, und fragt: was sagst Du nun d a z u ? Sieh’ wie Du von dem und dem Faktor beeinflußt wirst u. s. w.“ (MS 127: 111) J. Rothhaupt hat mündlich darauf hingewiesen, dass diese Bemerkung in der Bergen Electronic Edition falsch entziffert ist (‚These‘ statt ‚Ethik‘).  Dass eine Darstellung wie bei Kierkegaard nicht jeden beeindrucken muss, begründet Wittgenstein nur manchmal ‚pneumatisch‘ (der Eindruck sei Sache des ‚Geistes‘); zumeist kommt er ohne derlei Begründungen aus. Er setzt diese besondere Art, beeindruckt zu sein, oft mit dem Glauben gleich, erklärt dabei allerdings, dass er selbst weder in diesem Sinn beeindruckt ist noch glaubt („But I am not so impressed.“ „Now do I believe that this happens? I don’t.“). „The only way for me to believe in a miracle in this sense would be to be impressed by an occurrence in this particular way.“ (MS 128: 47; vgl. VB: 513) Wittgenstein nennt hier ein Wunder eine Gebärde („A miracle is […] a g e s t u r e which God makes“, „a symbolic occurrence, a gesture of nature“). Die Beschreibung und der Eindruck, den sie auf einen macht, sind in diesem Fall genauso unzertrennlich verbunden wie bei der expressiven Gebärde eines Tieres. („Just as I might say ‚It is impossible to see the face of this dog and not to see that he is alert and full of attention for |to| what his master is doing‘.“) Wer von „the mere report of the w o r d s |and life| of a saint“ (MS 128: 47) auf diese Weise beeindruckt ist, glaubt an das berichtete Wunder, d. h., das nennt man hier ‚Glauben‘; der Eindruck, den er von einer Geste, einem Symbol empfängt, enthält wie unmittelbar den Glauben daran. Im Eindruck ist der Glauben enthalten: als eine besondere Art, die Welt zu sehen, nicht als eine Theorie.

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zuerst, dass Wittgenstein überhaupt von „Verifikation“ redet. Dass der Sinn eines Satzes in der besonderen Art seiner Verifikation besteht, entspricht der Maxime, die in den Philosophischen Untersuchungen so relativiert wird: „Die Frage nach der Art und Möglichkeit der Verifikation eines Satzes ist nur eine besondere Form der Frage ‚Wie meinst du das?‘ Die Antwort ist ein Beitrag zur Grammatik des Satzes.“ (PU, § 353)²² Würde Wittgenstein 1930 ein Verifikationsprinzip etwa im Sinn Schlicks vertreten, dann hätte der Satz ‚dieser ist ein Apostel‘ entweder eine triviale Verifikation oder keine: Im letzteren Fall wäre er sinnlos. Bei Carnap wäre er eine emotionale Äußerung ohne echten propositionalen Inhalt. Wittgenstein ist hier aber weit davon entfernt, diesen Schluss zu ziehen. Er will den Verifikations- und mit ihm den Sinnbegriff erweitern. Er will mit jener besonderen Bedeutung des Verbs ‚glauben‘ eine besondere Bedeutung von ‚Verifikation‘ verbinden. Noch in MS 143 (= GB II) stellt sich im Fall der im Golden Bough beschriebenen Feuerfeste die Frage: „[W]as sind unsere Daten, was ist die Verifikation“ (MS 143: 14)? Das Problem ist aber eigentlich, gibt es hier überhaupt eine? Um die Grammatik eines Satzes zu klären, kann man nach den Gründen fragen, die für ihn sprechen (sofern Gründe hier überhaupt eine Rolle spielen). Warum sollte man aber diese Gründe immer „Verifikation“ nennen und bei jedem Satz von der „Art seiner Verifikation“ sprechen? Nicht nur in den Erfahrungswissenschaften oder im Alltag, sondern auch in Ethik und Ästhetik? Im Endergebnis wird Wittgenstein die Tragweite des Verifikationsbegriffs eher relativieren als erweitern; und die Ausdehnung des Verifikationsbegriffes auf allerlei Sätze würde ein craving for generality verraten.²³ Hier interessiert jetzt aber eine andere Frage: Steht dieselbe eigentümliche „Art“ von „Verifikation“ im Hintergrund, wenn Wittgenstein nur Tage später gegen Frazers Erklärungen Einspruch erhebt? Die im Golden Bough erläuterten ‚Anschauungen‘ sind ihm zufolge ebenfalls religiöse (Selbst‐)Beschreibungen und zumeist keine Theorien. Auch das Leben des Priesterkönigs kann man lediglich beschreiben; und der „Eindruck, den uns das Beschriebene macht“ (MS 110: 180), steht auf einer ganz anderen Ebene als eine eventuelle hypothetische Erklärung. Insofern hält Wittgenstein in beiden Fällen ähnliche Deutungsrichtlinien fest. Meint er aber, dass das Leben des Priesterkönigs ähnlich beschrieben werden sollte wie das eines Apostels? Welche Maßstäbe trägt er also an den Golden Bough

 Die Unterstellung, jemals ein ‚Verifikationsprinzip‘ vertreten zu haben, weist Wittgenstein weit von sich. Vgl. WC: 289, Nr. 238, und siehe unten S. 277, Anm. 9. Der Unterschied zwischen seinem Verifikationismus der frühen dreißiger Jahre und dem Wiener Verifikationismus in seinen verschiedenen Varianten ist auf jeden Fall größer als zumeist angenommen.  Zur ‚deflationären‘ Auffassung von Verifikation in der Vorlesung vom May Term 1933 siehe unten S. 276 ff.

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heran? Sind es überhaupt empirische, wissenschaftliche Standards? Passen sie zu einem Werk, das andere Ziele hat als Kierkegaards Schriftstellerei?

1.1.4 Der Handlungscharakter ethischer Sätze Die erläuterten religionsphilosophischen Reflexionen sind einerseits noch der dichotomischen Denkweise der Abhandlung und des Vortrags verhaftet, andrerseits erkunden sie neue handlungstheoretische Ansätze. Sie nehmen die pragmatische Grundorientierung von Wittgensteins späterer Philosophie z.T. vorweg. 1930 erklärt Wittgenstein, in der Ethik lasse „sich nichts mehr konstatieren“; er habe deshalb in dem ein Jahr zuvor gehaltenen Vortrag „nur als Persönlichkeit hervortreten und in der ersten Person sprechen“ (WWK: 117; 17.12.1930) können. Im Vortrag selbst steht es jedoch anders: Auch wer sich über Ethik in der ersten Person äußert, rennt gegen die Grenze der Sprache an. Diese Idee wird nun widerrufen. Das Wesen der Religion kann offenbar nicht damit etwas zu tun haben, daß geredet wird, oder vielmehr: wenn geredet wird, so ist das selbst ein Bestandteil der religiösen Handlung und keine Theorie. Es kommt also auch gar nicht darauf an, ob die Worte wahr oder falsch oder unsinnig sind. Die Reden der Religion sind auch kein G l e i c h n i s ; denn sonst müßte man es auch in Prosa sagen können. Anrennen gegen die Grenze der Sprache? Die Sprache ist ja kein Käfig. (WWK: 117)

Religiöse Äußerungen sind nicht unbedingt sinnlos, sondern können eins von dreien sein – „wahr oder falsch oder unsinnig“ (WWK: 117). Damit wird die Auffassung der Abhandlung verabschiedet: Der Punkt ist nicht, dass das Gesagte keinen Sinn und deshalb auch keinen Wahrheitswert hat, sondern dass es auf Sinn oder Wahrheitswert nicht wirklich ankommt. Wittgenstein zitiert gerne einen Satz aus den Bekenntnissen: „Was, du Mistvieh, du willst keinen Unsinn reden? Rede nur einen Unsinn, es macht nichts!“ (WWK: 69; 30.12.1929)²⁴ Das Leben eines Apostels zeigt sich in seinen Handlungen, auch in seinen Sprechhandlungen, aber eben nicht darin, dass das Gesagte „wahr ist, sondern darin daß er es sagt“ (MS 183: 74; 6. 5.1931). Es kommt nicht auf die Worte an, die man „ausspricht“, „sondern auf den Unterschied, den sie an verschiedenen Stellen im Leben machen. […] D i e P r a x i s gibt den Worten ihren Sinn.“ (MS 173: 92v-93r; vgl. BÜF III, § 317) Diese späte Aufzeichnung ist in einem Punkt klarer: Auch Ausdrücke wie ‚Abra-

 Vgl. auch M. OˈC. Drurys Mitteilung in MDN: 89 f. Es handelt sich um ein nicht wörtliches Zitat aus Augustinus: Confessiones I, 4. Zum Originaltext vgl. Koritensky 2002: 143.

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kadabra‘, die in der Betrachtungsweise der Abhandlung schlechthin sinnlos sind (sie bilden keine Tatsache ab), haben im Handlungszusammenhang eine (jeweils spezifische) Rolle. Insofern gibt die Praxis auch diesen ‚sinnlosen‘ Ausdrücken einen Sinn. Wenn man den Unterschied zu Worten wie ‚Buch‘ oder ‚Tisch‘ markieren will, darf man ‚Abrakadabra‘ ruhig ‚sinnlos‘ nennen, aber entscheidend ist die funktionale Einbettung des Ausdrucks in den Handlungszusammenhang. Die sprachliche Äußerung ist ein „Bestandteil der religiösen Handlung“ (WWK: 117), die Sprechhandlung gehört zum Ritus und ist keine Theorie, sofern es nicht von Belang ist, ob sie einen (deskriptiven) Sinn hat oder keinen, ob sie wahr ist oder nicht. In der Auseinandersetzung mit Frazer wird Wittgenstein ähnlich argumentieren: Religiöse ‚Anschauungen‘ sind keine Irrtümer, aber nicht, weil sie sinnlos sind (und nicht falsch); der Grund ist vielmehr eben, dass es bei diesen ‚Anschauungen‘ anders als bei Theorien auf den Wahrheitswert nicht ankommt, sondern nur auf die Funktion im Zusammenhang religiösen Handelns.²⁵ In seinem Tagebuch (MS 183) geht Wittgenstein einen entscheidenden Schritt weg vom Primat der Darstellungsfunktion hin zu einem pragmatischen Ansatz. Die frühere Ethik wird hier handlungstheoretisch reinterpretiert.Wittgenstein lässt nun die Auffassung hinter sich, dass alle Sätze Tatsachen abbilden und einen mit der Wirklichkeit isomorphen wahrheitsfunktionalen Kern haben. Wenn selbst empirische Sätze keine isomorphen Abbildungen von Tatsachen sind, dann gibt es keinen Grund mehr zu verneinen, dass ethische Äußerungen Sätze sind. Es gibt also ‚Sätze der Ethik‘. Es gibt jedoch keine allgemeine Satzform, die sie mit den empirischen teilen. Dass ethische Äußerungen keine sinnlosen Pseudosätze sind, heißt nämlich nicht, sie hätten mit ‚Konstatierungen‘ einen propositionalen Inhalt gemeinsam, den man „auch in Prosa“ (WWK: 117) angeben könnte. Es gibt keinen den unterschiedlichen Sprechhandlungen gemeinsamen propositionalen Kern. Ist die auf Frege zurückgehende sprechakttheoretische Unterscheidung zwischen Inhalt und ‚Kraft‘ nun hinfällig? Die ethischen Reflexionen nehmen hier spätere Entwicklungen vorweg. Bereits die Abhandlung hatte die Tragweite der Unterscheidung relativiert. Wittgenstein schließt Freges Begriff der ‚Kraft‘ aus der Logik aus. Freges Behauptungszeichen gehört nicht in die Logik: Den Logiker geht nur der unbe-

 Der in einem theoretischen (wissenschaftlichen oder philosophischen) Kontext fundamentale Unterschied zwischen ‚sinnvoll‘ (wahr oder falsch) und ‚sinnlos‘ kann in einem anderen, z. B. religiösen, Kontext unwichtig sein. Diese Auffassung Wittgensteins ist für die Interpretation seiner frühen Bemerkungen über den Golden Bough von entscheidender Bedeutung. In der Sekundärliteratur wird indes dem Unterschied zwischen ‚falsch‘ und ‚sinnlos‘ in der Regel nicht der Stellenwert zugewiesen, den er in Wittgensteins Frazer-Kritik eigentlich hat. Siehe dazu unten S. 132 f.

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hauptete Satz an,²⁶ der mit der Wirklichkeit isomorphe propositionale Inhalt, den Aussage, Frage und Befehl gemeinsam haben. Die ‚Kraft‘, die sie voneinander unterscheidet, ist Sache der Psychologie, nicht der Logik. Dementsprechend hat auch der besondere Status der Ethik damit nichts zu tun. Es gibt keine Sätze der Ethik. Die entsprechenden sprachlichen Gebilde sind eigentlich keine sinnvollen Sätze; sie haben überhaupt keinen propositionalen Inhalt, den sie bejahen oder verneinen. Darin unterscheiden sie sich von den eigentlichen (bivalenten und bipolaren) Sätzen, nicht durch eine eigentümliche ‚illokutionäre Kraft‘. Ein Unterschied in Letzterer (wie zwischen Aussagen, Fragen und Befehlen) wäre – so die Abhandlung – lediglich ein psychologischer. Anfang der dreißiger Jahre wiederum erkennt Wittgenstein ethische Sätze an, spricht ihnen aber die assertorische ‚Kraft‘ ab. Statt ihnen eine alternative ’illokutionäre Kraft’ zuzuschreiben, fragt er allerdings nach ihrem spezifischen Gebrauch.²⁷ Die ethische Aufforderung unterscheidet sich von der „Konstatierung einer Tatsache“ „[w]ie ein Ausruf der Bewunderung“. Ethische Sätze sind keine naturgeschichtlichen: Sie stellen nicht fest, was eine gegebene Menschengruppe sagt und tut („diese Menschen sagen das sei gut“). Sie sind Imperative („Du sollst das tun!“) oder Äußerungen („Das ist gut!“) – und zuletzt persönliche Handlungen. „Es ist gut, weil es Gott so befohlen hat“ ist der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit Ein ethischer Satz lautet „Du sollst das tun!“ oder „Das ist gut!“ aber nicht „Diese Menschen sagen das sei gut“. Ein ethischer Satz ist aber eine persönliche Handlung. Keine Konstatierung einer Tatsache. Wie der/ein/ Ausruf der Bewunderung. Bedenke doch daß die Begründung des „ethischen Satzes“ nur versucht den Satz auf andere zurückzuführen die Dir einen Eindruck machen. Hast Du am Schluß keinen Abscheu vor diesem und keine Bewunderung für jenes so gibt es keine Begründung die diesen Namen verdiente. (MS 183: 75 f.; 6. 5.1931)²⁸

 Zum unbehaupteten Satz (unasserted proposition) in der Abhandlung vgl. Hacker 1986: 31 f.  Zwar schlagen die ethischen Bemerkungen schon Anfang der dreißiger Jahre diese Richtung ein, aber das heißt nicht, dass in TS 211 der auf Frege und Meinong zurückgehende Unterschied zwischen ‚Meinung‘ und ‚Annahme‘ keine Rolle mehr spielt. Wittgenstein lässt ihn erst später hinter sich. Siehe dazu § 5.1, S. 332 ff.  Zum ersten Satz dieser Textstelle vgl. die bekannte Auseinandersetzung mit Schlick am 17. Dezember 1930 in WWK: 115. – Neopositivisten wie Carnap schwächten die Position der Abhandlung ab und gelangten so zu einer neuen Variante von ethischem Nichtkognitivismus: Ethische Äußerungen drücken Einstellungen, Attitüden aus; sie sind also nicht sinnlos, entbehren aber jedweden kognitiven Gehalt. Wittgenstein selbst modifiziert hier also die Position der Abhandlung. Der ethische Nicht-Kognitivismus ist im vorliegenden Buch aber nicht das Thema.

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1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede

Der Handlungscharakter unterscheidet hier ethische Sätze und Tatsachen-Sätze (Konstatierungen). Bald aber gibt Wittgenstein die Dichotomie von Wert und Tatsache auf. Er erkennt dann allen Sätzen Handlungscharakter zu. Die hier, etwa einen Monat vor der ersten Auseinandersetzung mit Frazer, formulierten Ideen finden letzten Endes weit über die Ethik hinaus Anwendung. Aus den Einsichten in die performative Natur ethischer Sätze wird bald eine normative Sprachauffassung. Ethik und Pragmatik gehören in einer längeren Aufzeichnung vom 20. Februar 1932, die offenbar an ein Gespräch mit Sraffa anschließt, noch unmittelbar zusammen. Erst danach treten die ethischen Reflexionen deutlich zurück. Bis dahin jedoch hat Wittgenstein seinen Blick für den Unterschied zwischen deskriptivem und normativem Gebrauch von Sätzen sowie generell für die vielfältigen Arten des Sprachgebrauchs geschärft, und Merkmale, die zuerst ethische Sätze auszuzeichnen schienen, stellen sich als viel allgemeinere Züge unserer Sprachspiele heraus.²⁹ Übergreifende Geltung beansprucht dann z. B. die im Mai 1931 formulierte Auffassung von ‚Begründung‘: Die „Begründung“ führt den ethischen Satz auf andere zurück und setzt dabei so oft einen Satz anstelle eines anderen, bis sie zu Sätzen gelangt, „die Dir einen Eindruck machen“ (MS 183: 76). Bei diesen macht sie schließlich Halt. Im besten Fall – denn vielleicht gelangt sie erst gar nicht bis zu Sätzen, die andere beeindrucken. Das Plädoyer des Verteidigers kann den Richter ansprechen, muss es aber nicht. Ebenso verhält es sich in der Ethik. Die Beschreibung kann hier gleichsam einen neuen Aspekt zeigen, und bei dem, den sie beeindruckt, einen Aspektwechsel herbeiführen, d. h., seine Betrachtungsweise ändern – er wird dann gleichsam „umgedreht“ (MS 132: 168; VB: 525). Möglicherweise aber sagt ihm die Beschreibung gar nichts (vgl. MS 120: 54r-54v; VB: 495). Ähnlich wie in der Ästhetik (vgl. MS 137: 21a; VB: 548) muss der Gesprächspartner die Erklärung nicht annehmen.³⁰ Diese Beschreibungen haben also den nicht zwingenden Charakter, der Wittgenstein je nachdem veranlasst, ‚beschreiben‘ und ‚begründen‘ gegenüberzustellen oder im Gegenteil von einer besonderen, ‚ästhetischen‘, Begründung zu reden. Er versteht also derartige Beschreibungen manchmal überhaupt nicht als

 Siehe dazu unten S. 340 f.  Wittgensteins Leser muss ein ‚Gleichgesinnter‘ sein und bestimmte Erfahrungen bzw. Sprachspiele teilen. Vgl. Koritensky 2002: 139; vgl. auch Klagge 2011, passim. Cioffi macht daraus einen Einwand: Wittgensteins behaupte die „irrelevance of empirical inquiry“ (Cioffi 1998: 16) und „the priority of clarificatory interests“ (Cioffi 1998: 11); aber diese Haltung präge nur eine kleine ideale Gemeinde von Gleichgesinnten, ja, außer Wittgenstein selbst nur „an imagined audience“ (Cioffi 1998: 16).

1.1 Aporien von Wittgensteins frühem Kulturbegriff

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Begründungen,³¹ manchmal dagegen als Begründungen sui generis. Im letzteren Fall nennt er die entsprechenden Gründe ästhetische und erklärt, ästhetische Gründe seien Beschreibungen.³² Es geht aber in beiden Fällen darum, Letztbegründungen auszuschließen. Später wird Wittgenstein zu dem Schluss gelangen, dass es nicht nur in der Ethik so ist: In Sprachspielen überhaupt haben Gründe und Erklärungen irgendwo ein Ende, und zwar zumeist bei ‚primitiven‘, vorsprachlichen Reaktionen.³³ Bleiben wir aber bei der Ethik. Ethische Äußerungen sind selbst Handlungen (Sprechhandlungen) und können beeindrucken oder auch nicht. Ethische Normen ‚begründen‘ oder ethische Handlungen ‚erklären‘ heißt demnach nichts weiter, als bei anderen durch Handlungen bzw. Handlungsbeschreibungen einen starken Eindruck hervorrufen. Wen die Lebensbeschreibung etwa eines Apostels beeindruckt hat, der wird entsprechend handeln, d. h., sein eigenes Leben nach ihr gestalten. Zu den von Frazer beschriebenen Phänomenen sucht Wittgenstein einen ähnlichen Zugang: Auch hier geht es um eine Handlungsbeschreibung – das Duell zwischen dem amtierenden Priesterkönig und seinem Herausforderer – und um den Eindruck, den sie auf den Leser macht. Wittgenstein stellt in dieser Hinsicht ethische Argumente und Erläuterungen religiöser Handlungen auf dieselbe Ebene. Letztbegründung ethischer Normen und kausale Erklärung ritueller Handlungen fallen demselben sprach- und zeichentheoretischen Argument zum Opfer. Wittgenstein geht von der „Art Relativitätstheorie der Sprache“ aus, die er in

 „Es werden Lebensregeln in Bilder gekleidet. Und diese Bilder können nur dienen, zu b e s c h r e i b e n , was wir tun sollen, aber nicht dazu, es zu b e g r ü n d e n . Denn um begründen zu können, dazu müßten sie auch weiter stimmen.“ (MS 118: 118r-118v; VB: 490 f.) Ein Gleichnis betont eine Ähnlichkeit. Begründen hieße hier, die Parallele fortsetzen, die im Gleichnis betonte Ähnlichkeit auszudehnen, auf andere Aspekte zu erweitern. Die Analogien, denen Philosophen aufsitzen, sind gerade insofern falsch, als sie sich nicht durchhalten lassen: Das Gleichnis suggeriert weitere Ähnlichkeiten, bis es dann zusammenbricht und der Philosoph ratlos ist. Bei religiösen Gleichnissen kann es sich ähnlich verhalten; Paul Bunyans Bilder etwa werden aus verwandten Gründen falsch. „[…] Die Religion sagt: T u d i e s ! – D e n k s o ! – aber sie kann es nicht begründen, und versucht sie es auch nur, so stößt sie ab; denn zu jedem Grund, den sie gibt, gibt es einen stichhaltigen Gegengrund. | Überzeugender ist es, zu sagen: ‚Denke so! – so seltsam dies scheinen mag. –‘ Oder: ‚Möchtest Du das nicht tun? – so abstoßend es ist. –‘“ (MS 118: 118v-119r) – Zum Unterschied zwischen Beschreiben und Erklären siehe ausführlich unten S. 191 ff., 203 ff., 221 ff.  So in der Vorlesung vom May Term 1933. Siehe dazu unten S. 279 ff.  Siehe unten S. 384 ff. Zu den Ideen vom Mai 1931 (MS 183), die Wittgenstein bald weit über die Ethik hinaus ausdehnt, gehört auch der Unterschied zwischen Norm und Konstatierung: Grammatische Regeln, heißt es dann, sind Normen und keine naturgeschichtlichen Sätze. Zu dieser Fragestellung in seiner Auseinandersetzung mit Sraffa siehe unten S. 338 ff.

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1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede

kritischer Auseinandersetzung mit der Kausaltheorie der Bedeutung ausgearbeitet hat. Gegen Ogdens und Richards kausaltheoretische Semiotik unterscheidet seine Sprach- und Zeichenauffassung zwei Bedeutungen von ‚Erklärung‘: „Kausalerklärung“ und „Zeichenerklärung“ („Erklärung“ heißt in diesem letzteren Fall „Erläuterung“). Zeichenerklärungen setzen einfach ein Symbol (oder ein Set von Symbolen) für ein anderes: hinweisende Erklärungen, z. B., ein Wort für ein Muster. Sie bleiben innerhalb der Sprache.³⁴ Zeichen lassen sich nicht ins Unendliche durch andere ersetzen. Irgendwo haben Erklärungen und Gründe ein Ende. So auch, wenn man menschliche Handlungen beurteilt oder beschreibt: In beiden Fällen – auch bei einer Beschreibung – sind Gefühle wie „Abscheu“ oder „Bewunderung“ die letzte Instanz. Auch Wittgensteins Kritik an Frazers Ethnologie nimmt von dem Gegensatz zwischen Beschreibung eines formalen und Erklärung eines kausalen Zusammenhangs ihren Ausgang. Seine ersten Einwände gegen den Golden Bough kreisen um folgende Idee: Wer ein Ritual interpretiert, legt eigentlich Zeichenerklärungen vor, er stellt nur Symbole zusammen bzw. setzt ein Symbol für ein anderes; er mag wie Frazer dieses Vorgehen als kausales Erklären missverstehen, in Wirklichkeit aber kommt er über eine Beschreibung nicht hinaus.

1.2 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“ 1.2.1 „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen“ – Renans Primitive Frazers Auffassung der Magie als (falsche) kausale Erklärung und als (unwirksame) Technik mag in der Zunft nie unumstritten gewesen sein.³⁵ Wittgenstein sieht darin jedoch nicht einfach den Irrtum eines Einzelnen: In diesen Ansichten finde vielmehr „der dumme Aberglaube unserer Zeit“ (MS 110: 197 f.) zu einem exemplarischen Ausdruck, ein ähnlicher „primitiver Aberglaube“ (MS 109: 202), wie Wittgenstein ihm bereits in der Histoire du Peuple d’Israël begegnet war.³⁶ Die

 Siehe dazu oben S. 7 f. und unten S. 223 ff.  Vgl. dazu Stocking 1996: xxii f. Zur Rezeption des Golden Bough vgl. auch Stocking 1995: 148 ff. – Zu einer frühen Fassung des vorliegenden Abschnitts vgl. Brusotti 2000, § 5: 51– 59.  Die Histoire du Peuple d’Israël (1887– 1893), eine Spätschrift Renans (1823 – 1892), erscheint in denselben Jahren wie die erste Ausgabe von Frazers Hauptwerk (1890). Einige Jahre zuvor, 1886, hatte Renan der rätselhaften Gestalt, die der Golden Bough dann erklären will, ein Drama gewidmet: Le Prêtre de Némi (Renan 1886; vgl. Ackerman 1987: 93; Hacker 1992: 298, Anm. 5). Zwischen dem wesentlich jüngeren schottischen Ethnologen und dem von diesem bewunderten

1.2 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“

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Einwände, die er im Herbst 1930 gegen das Werk des von Frazer hochgeschätzten Ernest Renan richtet, wiederholt er weniger als ein Jahr später gegen den Golden Bough. Der bei beiden Autoren diagnostizierter Aberglaube ist laut Wittgenstein kein „Überlebsel“ vorwissenschaftlicher Denkweisen, sondern gerade heute weit verbreitet. Er steckt im Selbstverständnis des modernen Menschen und kennzeichnet dessen Versuche, fremdes, angeblich ‚primitives‘ Verhalten zu erklären. Gegen Renan setzt Wittgenstein dieselbe rhetorische Strategie ein wie dann gegen Frazer: Die selbsternannten Erforscher primitiven Aberglaubens sind eigentlich selbst auf ihre Weise primitiv und abergläubisch. In diesem Aberglauben sieht Wittgenstein eine Weltanschauung, die in der modernen Wissenschaft selbst heimisch ist. Schon die Abhandlung weist in diese Richtung. Die darin formulierte kryptische Definition von Aberglauben steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu der Wittgenstein damals unbekannten Auffassung Frazers. Magie und Wissenschaft sind im Schema des schottischen Ethnologen Gegensätze, insofern Erstere an eine falsche, Letztere an eine wahre Kausalität glaubt.³⁷ Der magische Aberglaube verwechselt eine mentale Assoziation (eine Ähnlichkeits- oder Kontiguitätsbeziehung) mit einem realen Kausalverhältnis: Aberglaube ist der so begründete Glaube an eine falsche Kausalität. Unter Machs und Russells Einfluss erscheint dem frühen Wittgenstein dagegen nicht eine bestimmte, imaginäre, Art von Kausalität (die übernatürliche) als Aberglaube, sondern Kausalität schlechthin: „Der Glaube an den Kausalnexus ist

französischen Autor bestehen eine Reihe von Verbindungen. (Auf einige ging Frazer selbst 1920 in seinem „Address to the Ernest Renan Society“ ein (vgl. Frazer 1931c).) – Zur Lektüre von Renans Spätschrift dürfte Wittgenstein zuerst eher das Thema ‚Judentum‘ angeregt haben als das Interesse für archaische Lebensformen, selbst wenn es in seinem kritischen Kommentar v. a. um Letztere geht. Anfang der dreißiger Jahre setzt er sich mit einer Reihe von Autoren auseinander, die mehr oder weniger ausgeprägte antisemitische Tendenzen aufweisen (Weininger, Spengler usw.). In Hinsicht auf den Antisemitismus stellt die Histoire für den nicht gerade unbelasteten Renan einen späten Wendepunkt, eine Umkehrung früherer Positionen dar (vgl. Rétat 2005). – Wittgenstein hat die Reflexionen zu Renan und diejenigen zu Frazer dann mit einem „Kringel“ markiert (vgl. KrBu und siehe dazu unten S. 403; vgl. auch Rothhaupt 2011; Rothhaupt 2013). Zwischen Wittgensteins Bemerkungen zu Renan und denjenigen zu Frazer besteht darüber hinaus ein sachlicher Zusammenhang, den auch Hacker bemerkt (Hacker 1992: 298 f.). – Wittgenstein wusste schon lange, bevor er die Histoire las, von Renans Leben Jesu. Ludwig Hänsel, der über die gemeinsame Tolstoi-Lektüre mit Wittgenstein im Mai 1919 berichtet, erwähnt, dass Tolstoi das „Romanhafte[]“ an Renans Jesus-Bild „verurteilt“ (vgl. TLH 2012: 55).  Der Aberglaube ist – so Tylor – „a blind belief in processes wholly irrelevant to their supposed results“, während der relevante Ursachenzusammenhang eventuell übersehen wird. Zu Tylors Definition vgl. Phillips 1993b: 73. Zu Frazers Theorien siehe unten S. 62 ff.

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der Aberglaube.“ (TLP 5.1361)³⁸ In jedem Aberglauben wird ein kontingenter Zusammenhang mit einem notwendigen verwechselt.³⁹ Der Glaube an den Kausalnexus ist der Glaube, es gebe nicht nur logische, sondern auch nomologische Notwendigkeit. Hier wird Beschreibung mit Erklärung verwechselt; und dazu gehört auch der Glaube an die kausale Erklärung der Natur, den die Abhandlung der „ganzen modernen Weltanschauung“ (TLP 6.371) zugrunde liegen sieht. „Der Glaube an den Kausalnexus“ deutet empirische in logische Verbindungen, das Faktische ins Notwendige um. Dies ist kein Irrtum, sondern Unsinn. Der Aberglaube ist also nicht falsch, sondern sinnlos. Anfang der 30er Jahre erblickt Wittgenstein in der von ihm zuerst bei Renan und dann bei Frazer kritisierten Fehlinterpretation eine speziellere Form jenes Aberglaubens: Sie betrifft die Rolle kausaler Erklärungen im Leben der Menschen. Frazer und Renan teilen den Aberglauben, dass die Naturphänomene den primitiven Menschen beeindrucken, erschrecken, erstaunen müssen, und dies,weil er sie sich nicht erklären kann.⁴⁰

 Zum „Aberglauben“ vgl. Schulte 1990c.  Anlässlich der englischen Übersetzung der Abhandlung heißt es in einem der Blätter, die Wittgenstein seinem Brief an Ogden vom 23. April 1922 beilegt: „[…] I didn’t mean to say that the belief in the causal nexus was one amongst superstitions but rather that superstition is nothing else than the belief in the causal nexus. In the German this is expressed by the definite article before ‚Aberglaube‘.“ (CCO: 31; vgl. auch Schulte 1990c: 45.)  Renans und Frazers Ausführungen gehören in den weiteren Kontext einer im neunzehnten Jahrhundert virulenten Auseinandersetzung über den Ursprung von Religion. Frazer ist als klassischer Philologe auch mit der bei Renan ebenfalls erwähnten antiken Tradition vertraut („primus in orbe deos fecit timor“); in Hinsicht auf den Ursprung von Aberglauben und Magie aus der Furcht knüpft er jedoch eher an Tylor an (und wie dieser an Hume). Wesentlich für seine Theorie ist, dass diese Furcht intellektuell begründet ist, d. h., auf einen Mangel an kausaler Einsicht zurückgeht. Der Hauptgegner ist zuerst der antipositivistisch eingestellte Max Müller, nach dem Religion direkt Gefühlen wie ‚Awe‘, ‚Schauder‘, ‚Ehrfurcht‘ entspringt. Frazer sieht sich in dieser Hinsicht im Gegensatz auch zu seinem Freund und Mentor Robertson Smith, weil dieser eher „benevolent emotions (love, confidence, and gratitude“) betont und im Opfer „m a i n l y a f o r m o f c o m m u n i o n w i t h t h e d e i t y “ sieht (Frazer an John Sutherland Black, 15.7.1911, in Frazer 2005: 312 f.; vgl. Ackerman 1987: 91). Auch als Müllers ‚vergleichende Mythologie‘ überholt ist, stehen Tylors und Frazers ‚intellektualistischer‘ Theorie sogenannte ‚emotionalistische‘ Ansätze gegenüber, wie sie in England von Marett und in Deutschland von Preuss vertreten werden. Renan ist hier wie überhaupt in seiner Einstellung zur Religion ambivalenter als Frazer. Die Primitiven beurteilt er ähnlich, aber er ist für den emotionalen Aspekt deutlich sensibler. Renans Ambivalenz geht bei Wittgenstein unter: Er sieht in ihm nur den Positivisten. Da Wittgenstein den Ursprung der Religion nicht ergründen will, ist seine Kritik weniger spekulativ als die mancher sogenannter Emotionalisten; von der Einstellung her ist er ihnen jedoch näher als einem Intellektualisten wie Frazer. Zu Intellektualismus, Emotionalismus und deren Unzulänglichkeit siehe unten S. 120 ff., 125 ff.

1.2 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“

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Wittgenstein zitiert eine Stelle aus dem Kapitel Vocation religieuse des sémites nomades: „La naissance, la maladie, la mort, le délire, la catalepsie, le sommeil, les rêves frappaient infiniment, et, même aujourd’hui, il n’est donné qu’à un petit nombre de voir clairement que ces phénomènes ont leurs causes dans notre organisation.“ (Renan 1953: 47; vgl. MS 109: 200; VB: 457) Ähnlich wie Frazer meint auch der ebenfalls durch die Fortschrittsidee geprägte Renan, nur eine kleine Elite wissenschaftlich Gebildeter habe den Aberglauben überwunden, in dem die meisten Zeitgenossen sowie frühere Epochen und fremde Kulturen noch befangen seien. Renan führt die Grundeinstellung der Primitiven zu den Naturerscheinungen auf deren mangelnde Einsicht in die Kausalverhältnisse zurück. Unter den bekannten antiken Völkern seien die semitischen Nomaden dank ihrem ‚frühreifen gesunden Verstand‘ – Wittgenstein hält den Ausdruck „bon sens précoce“ (Renan 1953: 55; vgl. 76)⁴¹ zustimmend fest (vgl. MS 109: 202) – dem „Spiritismus“, „dem Grundirrtum des Wilden“ (Renan 1953: 54), am wenigsten verfallen, weit weniger etwa als die primitiven Arier. Der übertriebene Spiritismus („spiritisme exagéré“) (Renan 1953: 48), den Renan den primitiven Semiten trotzdem zuschreibt, prägt also a fortiori die anderen Stämme: Unwissenheit und Irrtum sowie Furcht vor dem nicht oder falsch Erklärten sind die intellektuellen und emotionalen Grundgegebenheiten primitiven Lebens. La terreur, l’affolement, le vertige étaient la conséquence de ce système de la nature tout à fait erroné. Primus in orbe deos fecit timor est une formule admirablement vraie. L’homme se croyait entouré d’ennemis qu’il cherchait à apaiser. L’éducation de ses sens étant à peine faite, il était dupe de perpétuelles hallucinations. Un souffle inattendu, un bruit inexpliqué étaient pour lui des signes intentionnels. (Renan 1953: 47 f.)⁴²

Wie bei Taine und Tarde erreicht der Schrecken auch bei Renan das Ausmass individueller und kollektiver Halluzinationen. Es ist aber laut Wittgenstein „ein primitiver Aberglaube“, dass „diese primitiven Völker […] alle Phänomene anstaunen “ (MS 109: 201 f.); ein ebenso primitiver Aberglaube ist „der, daß sie sich vor allen Naturkräften fürchten m u ß t e n und wir uns |natürlich| nicht fürchten müssen/brauchen/“ (MS 109: 202).⁴³ Wittgensteins Kritik hebt zuerst auf Begriffe wie ‚Eindruck‘, ‚Staunen‘ und ‚Verwunderung‘ ab, denen sein Vortrag über Ethik besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auf den Furchtbegriff geht seine Renan-Kritik erst in einem

 „Une sorte de bon sens précoce préserva cette race des chimères où d’autres familles humaines trouvèrent tantôt leur grandeur, tantôt leur anéantissement.“ (Renan 1953: 55)  Wittgenstein zitiert diese Stelle nicht.  Zu dieser Aufzeichnung vgl. auch Schulte 1990c: 50 f.

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zweiten Schritt ein – und unter Klammern, gleichsam um das Versäumte nachzuholen. Der französische Denker nämlich kennzeichnet das primitive Verhältnis zu den Naturphänomenen vor allem durch diesen Begriff. Zwar behauptet er auch, dass jene physiologischen Erscheinungen die Primitiven „beeindruckten“; aber was auf sie Eindruck machte, waren ihm zufolge eher noch Kultur- als Naturerscheinungen; er hebt vor allem hervor, wie die Zivilisation Babylons auf die Nomaden „la plus vive impression“ (vgl. Renan 1953: 73) machte: Sie waren „vivement frappés“ (Renan 1953: 75) von den Großstädten und der Architektur, aber auch von der babylonischen Mythologie. Das Staunen vor diesen Bauleistungen (vor der ‚Zivilisation‘) ist für Wittgenstein offenbar weniger interessant als der Eindruck der Naturerscheinungen; es lässt sich schwerer als ethisches Phänomen deuten. Der von Wittgenstein diagnostizierte primitive Aberglaube unserer Zeit besteht also in einer bestimmten Interpretation dessen, was eine Erscheinung „eindrucksvoll“, „bedeutend“, „geheimnisvoll“ macht. „Verwunderung“ (bzw. „Wunder“) zählte im Vortrag über Ethik zu den ethischen Worten, die auf zwei inkompatible Weisen gebraucht werden: in einem relativen und in einem absoluten Sinn (wobei letzterer eigentlich Unsinn ist und ein Missbrauch der Sprache).⁴⁴ Im relativen Sinn meint man mit „Wunder“ einfach eine Tatsache, die nur insofern erstaunlich ist, als ihre Ursachen unbekannt sind. Für die wissenschaftliche Weltbetrachtung gibt es keine anderen „Wunder“ als solche außergewöhnlichen, (noch) unerklärten Sachverhalte; der Wissenschaftler, der über sie staunt, wundert sich im relativen Sinn des Wortes. „The truth is that the scientific way of looking at a fact is not the way to look at it as a miracle. For imagine whatever fact you may, it is not in itself miraculous in the absolute sense of that term.“ (LE: 43) Im absoluten Sinn gebraucht Wittgenstein das Verb „wundern“, wenn er sein persönliches Erlebnis beschreibt: Wer sich wie er über die Existenz der Welt wundert, erlebt die Welt als Wunder: „[T]he experience of wondering at the existence of the world […] is the experience of seeing the world as a miracle“ (LE: 43)⁴⁵. Jede Beschreibung derartiger Erlebnisse aber, meint Wittgenstein selbst, ist zuletzt „nonsense“ (LE: 44) und der absolute Gebrauch ethischer Worte ein

 Zu Wittgensteins Bemerkungen über Kulturwandel und zu seinem Versuch, im Anschluss an Spengler den Unterschied zwischen Ethik in absolutem und in relativem Sinn als Unterschied zwischen symbolischer und praktischer Bedeutung einer Handlungsweise zu reformulieren, siehe oben S. 27 ff.  Dass der Vortrag das Wunder als psychologisches Erlebnis, als eine persönliche Erfahrung anführt, markiert J. Churchill zufolge den Unterschied zum Tractatus (Churchill 1994: 397 f.; vgl. auch Koritensky 2002: 134 f.).

1.2 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“

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Missbrauch der Sprache. Wer so ein Erlebnis zur Sprache zu bringen versucht, rennt gleichsam gegen ihre Grenzen an. Den zwei Verwendungen von „Verwunderung“ und „Staunen“ entsprechen also zwei Erlebnisse, die nichts miteinander zu tun haben: einerseits die Verwunderung über eine außerordentliche, (noch) nicht zu erklärende Tatsache, andrerseits ein ethisches Erlebnis, von dem man nur in der ersten Person reden kann und selbst dann nicht ohne einen Missbrauch der Sprache.⁴⁶ Zur Zeit seiner Auseinandersetzung mit Frazer, im Jahr 1931, ist Wittgenstein von der Vorstellung abgekommen, es gebe so etwas wie ein Anrennen gegen die Sprachgrenzen. Trotzdem bleibt für ihn auch nach dem Vortrag eine Übersetzung der ethischen Verwunderung in eine Frage nach kausaler Erklärung ein Missverständnis. Im selben Sinn wie der Vortrag unterscheidet noch eine religionsphilosophische Reflexion von 1931 zwischen dem Staunen über eine außergewöhnliche Tatsache und dem „Eindruck“, den Symbole hinterlassen, bzw. dem Verstehen des Symbolischen. Die sichtbare Handlung sei „nur ein Symbol“, „(gleichsam) eine Geste“ (MS 183: 83), ein „Ausdruck“ (MS 183: 84) für den „Geist“. Das „Wunderbare“ (MS 183: 83) bezeichne nicht „eine außerordentlich seltsame Tatsache“ (MS 183: 84); es bezeichne überhaupt keine Tatsache, auch nicht „das Außergewöhnliche, oder noch nie Dagewesene“, sondern den „Geist“ (MS 183: 83). Ohne den „wunderbaren Geist“ sei ein Wunder „nur eine außerordentlich seltsame Tatsache“ (MS 183: 84), die man „höchstens erstaunlich“ (MS 183: 82 f.) finden könne; man könne dann den Menschen „anstaunen aber mehr nicht“ (MS 183: 83).⁴⁷ „Geheimnisvoll“, „eindrucksvoll“, „bedeutend“ (symbolisch) seien Tatsachen an und für sich nie. Sie seien es nur – wie es dann in den Bemerkungen über Frazer heißt – für den „erwachenden Geist des Menschen“ (MS 110: 198; TS 211: 319), für „den erwachenden Menschengeist“ (MS 110: 197; TS 211: 319) und als

 „Das Erstaunen kann nicht in Form einer Frage ausgedrückt werden, und es gibt auch gar keine Antwort. Alles, was wir sagen mögen, kann a priori nur Unsinn sein. Trotzdem rennen wir gegen die Grenze der Sprache an. […] Dieses Anrennen gegen die Grenze der Sprache ist die E t h i k .“ (WWK: 68. Etwa zur Zeit des Vortrags über Ethik, am 30. Dezember 1929.) Hier wird „das Erstaunen, daß etwas existiert“, im Kontext einer Erläuterung von Heidegger und Kierkegaard erwähnt. Später wird es Wittgenstein im Wesentlichen darum gehen, dass Fragen, die ein derartiges Erstaunen zum Ausdruck bringen, wie etwa „‚Woher ist alles, was ich sehe?‘“ (MS 173: 92r; BÜF III, § 317), höchst missverständlich sein können. Dazu und zur Frage „warum geschieht dies?“ beim Lesen des Golden Bough siehe unten S. 226, 228 ff.  „Die Tatsachen sind für mich unwichtig. Aber mir liegt das am Herzen, was die Menschen meinen, wenn sie sagen, daß ‚ d i e We l t d a i s t ‘.“ (WWK: 118) Noch im Vortrag war fraglich, ob sie damit überhaupt etwas meinen; diejenigen, die sich wie Wittgenstein selbst wundern, „daß ‚ d i e We l t d a i s t ‘“, schienen dort gegen die Grenzen der Sprache anzurennen. Jetzt heißt es dagegen: „Anrennen gegen die Grenze der Sprache. Die Sprache ist ja kein Käfig.“ (WWK: 117).

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dessen Ausdruck. Das ‚Erwachen‘ – auch eine spenglersche Kategorie⁴⁸ – bildet hier gleichsam eine ethische Voraussetzung des Symbolischen. Wittgensteins Einspruch gegen die Auffassung der Verwunderung, die er aus Renan und Frazer herausliest, hängt mit den erläuterten ethischen und religionsphilosophischen Anschauungen eng zusammen. Wie dann auch Frazer denkt Renan nur an das Staunen über noch unerklärte Sachverhalte.Wittgensteins Ethik suggeriert ihm eine andere Grammatik. Wenn eine kausale Erklärung fehlt und sie auch tatsächlich vermisst wird oder wenn man überhaupt eine Tatsache als staunenswert empfindet (beides muss nicht sein), staunt man in der Begrifflichkeit des Vortrags im relativen, nicht im absoluten Sinn des Wortes. Will Wittgenstein nun darauf hinaus, dass der ‚primitive‘ Aberglaube unserer Zeit sich über den grundlegenden grammatischen Unterschied zwischen dem relativen und dem absoluten Gebrauch ethischer Ausdrücke hinwegsetzt? Nicht direkt.Weder ist von einem solchen absoluten Gebrauch die Rede, noch behauptet Wittgenstein gegen Renan, wer von einer außergewöhnlichen Naturerscheinung wie dem Blitz ins Staunen versetzt werde, sei im absoluten (‚ethischen‘) Sinn verwundert; Letzteres würde der Auffassung des Vortrags auch nicht entsprechen. Aber Wittgenstein moniert, dass Renan – wie dann auch Frazer – eine andersartige Einstellung als Verlangen nach kausaler Erklärung missversteht. Wesentlich für die Renan-Kritik ist also zuerst, dass der Vortrag eine alternative Lesart der Verwunderung bereitstellt. Wittgenstein sind andere Beunruhigungen, andere Erfahrungen der Verwunderung vertraut: Etwas wie sein persönliches Erlebnis, die Verwunderung über die Existenz der Welt, kommt bei Renan nicht vor. Renans (und Frazers) Interpretation scheint nicht mehr zwingend, wenn man mehrere Arten des Verwunderns unterscheidet; und die Tatsache, dass sie Alternativlosigkeit vortäuscht, macht sie sogar zu einem „Aberglauben“. Nun stellen sich aber einige Fragen. Wittgenstein spricht den primitiven Hebräern das moderne Bedürfnis nach naturwissenschaftlicher Erklärung ab. Tut er dies nur, um auf diese Stämme dann eine ebenfalls moderne religiöse Unruhe zu projizieren, wie sie ihn selbst kennzeichnet? Unterstellt er ihnen die scharfe Unterscheidung zwischen Frage nach den Tatsachen und ethischer Verwunderung, zwischen Kausalität und Symbolik, also den fragwürdigen strikt dichotomischen

 Spengler unterscheidet zwischen ‚Dasein‘ und ‚Wachsein‘ (vgl. etwa UdA 1922, Bd. 2: 8). Von einem ‚Erwachen des Geistes‘ ist bei ihm nicht direkt die Rede, dafür etwa vom „Erwachen des Ich“ (UdA 1923, Bd. 1: 81), der Seele, des Innenlebens, oder zum Selbstbewusstsein. (Zu den tolstoischen Wurzeln von Wittgensteins Begriff ‚Geist‘ siehe oben S. 25, Anm. 3, und vgl. Weiberg 2011.) Zu dem, was das Symbolische „für sinnenwache Menschen“ (UdA 1923, Bd. 1: 214) bezeichnet, siehe unten S. 220 f. Kroß 2013: 312 ff., behandelt das Erwachen zum Staunen und zur Wahl und weist auf den möglichen Spengler-Bezug von Wittgensteins Betrachtungen hin.

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Ansatz des Vortrags über Ethik? Projiziert Wittgenstein selbst, der im Vortrag ja an ein persönliches Erlebnis anschließt, bedenkenlos seinen eigenen Erfahrungshorizont und sein Kategorienschema auf fremde, ihm ganz unbekannte Lebensformen, und zwar gerade dort, wo er bei Frazer und Renan unbemerkte Projektionen aufdecken will? Werden die primitiven Hebräer wie in Renans Geschichte des Möglichen auch in Wittgensteins Reflexionen zum Gegenstand einer projektiven, imaginären Anthropologie? Wittgenstein setzt Renans Deutung keine schlüssige Hypothese entgegen, sondern formuliert in rascher Abfolge mehrere alternative, ja einander widersprechende, Vorschläge. Am Anfang streitet er einfach ab, dass der primitive Mensch sich über jene physiologischen Erscheinungen „wundern m u ß “ (MS 109: 201). Es besteht „gar kein Grund“ dazu, „weil sie so alltäglich sind“ (MS 109: 200). An diese Position wird er in seiner Auseinandersetzung mit Frazer wieder anknüpfen, hier lässt er sie stillschweigend fallen; so alltäglich erscheinen ihm die Naturphänomene doch nicht, wenigstens nicht alle: Der Blitz, bemerkt er weiter unten, ist heute nicht „alltäglicher oder weniger staunenswert“ „als vor 2000 Jahren“ (MS 109: 201). Wittgenstein erwägt dann die Hypothese, „daß die Menschen quasi plötzlich aufgewacht sind“ und abrupt begonnen haben, sich über ihnen lang vertraute Dinge zu wundern. Wenn der Mensch zum Staunen erst erwachen muss, ist es dann nicht berechtigt, „daß man es primitiv nennt sich nicht über die Dinge zu wundern“ (MS 109: 201)? Wittgenstein legt sich nicht fest. Aber er merkt kulturkritisch an, dass dann auch die heutigen Menschen als primitiv erscheinen. Was sie von Menschen unterscheidet, die zum Staunen noch nicht erwacht sind, ist in Wittgensteins antimoderner Sichtweise lediglich, dass sie schon wieder ‚eingeschlafen‘ sind: „Zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist ein Mittel um ihn wieder einzuschläfern.“(MS 109: 201)⁴⁹ Demnach beseitigt die Wissenschaft wirklich Furcht und Staunen, aber nicht auf dem von Renan vermuteten Weg. Jene Gefühle verschwinden, aber nicht, weil

 Kann man auch bei Völkern von einem derartigen geistigen Erwachen reden? Wittgenstein ist sich dessen zu Recht ungewiss. Auch die Analogie zwischen dem „Erwachen“ beim einzelnen Menschen und bei einem Volk dürfte Der Untergang des Abendlandes mit inspiriert haben: Hier ist das Erwachen des Einzelnen „zum Selbstbewußtsein“ (UdA 1923, Bd. 1: 422) die Folie für das „Erwachen einer Nation zum Bewußtsein ihrer selbst“ (UdA 1922, Bd. 2: 206). Immer wieder vergleicht Spengler das „Erwachen der Seele“ (UdA 1923, Bd. 1: 228) bzw. des „Weltgefühls“ (UdA 1923, Bd. 1: 100) einer Kultur – oder einfach: das Erwachen einer Kultur (vgl. UdA 1923, Bd. 1: 420) – „m i t d e m E r w a c h e n d e s I n n e n l e b e n s beim einzelnen Menschen“ (UdA 1923, Bd. 1: 242) d. h. „in einem Kinde“ (UdA 1923, Bd. 1: 218).

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die kausal erklärte und technologisch beherrschte Natur nicht mehr erstaunlich und bedrohlich scheint. Primitiv ist gerade der Glaube, „die Erklärung der Wissenschaft könne das Staunen heben“ (MS 109: 201), die Vorstellung, der wissenschaftliche und technologische Fortschritt setze Staunen und Furcht vor den unerklärten und nicht beherrschten Naturerscheinungen ein Ende. Abergläubisch und ethisch primitiv ist diese Vorstellung, weil sie zwischen kognitivem und emotionalem Zustand einen notwendigen Zusammenhang annimmt: Sie geht wie selbstverständlich davon aus, Staunen und Furcht würden jeweils auf das NichtBegreifen und auf das Nicht-Beherrschen der Natur zurückgehen. Furcht und Staunen sind jedoch nicht unbedingt primitive Erscheinungen, sondern vielleicht mit einer möglichen „hochzivilisierte[n]“ (MS 109: 202) Lebensform und mit ihrer Wissenschaft durchaus vereinbar. Wenn Furcht und Staunen in der modernen Zivilisation entschwinden, dann nur, weil hier die ethische, ‚geistige‘ Dimension erlischt. „Freilich ist es wahr, daß der G e i s t in dem die Wissenschaft heute betrieben wird mit einer solchen Furcht nicht vereinbar ist“. Diesen „G e i s t “, den Geist der westlichen „Zivilisation“ (MS 109: 202), sieht Wittgenstein als Gegensatz zu dem seiner eigenen Philosophie. Wittgenstein setzt dem Positivismus, den er bei Renan einseitig herausarbeitet, eine antimoderne Weltanschauung entgegen: Sie prägt seine Kulturdiagnose und spiegelt sich auch in seinen tentativen Äußerungen über die primitiven Hebräer wieder. Trotzdem hat sein Hauptargument eigentlich die schlichte Form einer grammatischen Bemerkung: Renan dürfte das Modalverb ‚müssen‘ nicht verwenden. Renan macht aus einer bloßen Möglichkeit bzw. aus einer (übrigens rein hypothetischen) Wirklichkeit eine Notwendigkeit.Vor dem Übergang von einem ‚kann‘ (oder von einem ‚ist‘) zu einem ‚muss‘ warnt Wittgenstein in den heterogensten Zusammenhängen: „He is always substituting ‚must‘ by ‚can‘.“⁵⁰ Dieses modale Argument gehört in mancher Hinsicht zu den Konstanten seines Denkens: Es hat einen zentralen Stellenwert etwa in seiner Philosophie der Psychologie.⁵¹ Zwar möchte sich Wittgenstein gegen Renan (wie dann auch gegen Frazer) auf eine grammatische Betrachtung beschränken; aber es stellt sich die Frage, in-

 So Drury in seiner Dublin Lecture on Wittgenstein (Drury 2003: 5).  Wenn ein Wort unter anderem „zur Bezeichnung eines |sogenannten| ‚seelischen‘ Vorgangs oder Zustands verwendet“ wird, „der/welcher/ eine Handlung vorbereitet“, und diese Vorbereitung „in einer Klasse von Fällen“, aber wohl nicht in allen, „die |praktische| Bedingung für das Zustandekommen der Handlung“ ist, sind wir dann „gewöhnt, zu sagen, sie |der seelische Vorgang| m u ß stattgefunden haben, damit die Handlung geschehen |stattfinden| konnte; wir sind nun geneigt eine solche seelische Vorbereitung als Vorbedingung der/zur/ Handlungen zu p o s t u l i e r e n“ (MS 115: 230; EPB: 196). Dieses Postulat ist eine grammatische Täuschung.

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wieweit das modale Argument auch im ethnologischen Kontext diese rein grammatische Natur behält. Zu einer grammatischen Bemerkung gehört, dass sie sich über das ‚ist‘ nicht ausspricht. In diesem Punkt ist die wesentlich kürzere Renan-Besprechung konsequenter als die späteren Bemerkungen über Frazer. Der Aberglaube gründet darin, dass Renan und Frazer nur die Verwunderung über noch unerklärte Sachverhalte kennen und diese Einstellung auf alle Kulturen projizieren. Sie begehen Wittgenstein zufolge zwei Fehler. Sie führen Staunen und Verwunderung auf ein Unvermögen zurück: Wer Naturphänomene (wissenschaftlich) nicht erklären könne, müsse sie anstaunen. Renan und Frazer machen so aus der Verwunderung eine notwendige, unvermeidliche Erscheinung. Wittgenstein möchte dagegen die positive Vorbedingung betonen: Zur Verwunderung muss der Geist erst erwachen. Der Philosoph sieht hier also ein Vermögen, nicht ein Unvermögen, ein Können, nicht ein Müssen, eine Möglichkeit, nicht eine Notwendigkeit. Staunen (im relativen Sinn des Vortrags) müssen die Primitiven nicht, aber wie alle (‚geistig erwachten‘) Menschen können sie in einem anderen Sinn staunen; und Wittgenstein befürchtet v. a., dass die (‚geistig eingeschlafenen‘) Zeitgenossen Letzteres nicht mehr vermögen. Die Idee, dass der Geist zur Verwunderung erst erwachen muss, hat gravierende anthropologische und religionsphilosophische (um nicht zu sagen: religiöse) Voraussetzungen. Inwieweit lässt sich diese Idee nur – oder überhaupt – als grammatische Bemerkung verstehen? Wittgenstein selbst bemerkt die Gefahr, hier den grammatischen Standpunkt zu verlassen. Er führt gegen jene angebliche Notwendigkeit Alternativen an und schwankt dabei zwischen zwei Möglichkeiten: A) Primitive staunen einfach nicht, oder B) sie sind zum Staunen erwacht, d. h., sie staunen anders, sind anders beeindruckt, als Renan und Frazer meinen. Wittgenstein braucht hier keine Entscheidung zu treffen: Die Alternativen müssen nicht wirklich gegeben sein. Selbst in diesem Fall erreicht die grammatische Bemerkung ihr Ziel; denn jenes Bild zwingt sich nun nicht mehr auf, und zwar nicht einmal dann, wenn es sich als empirisch korrekt erweist. Wittgenstein schließt Letzteres keineswegs aus. Er möchte sich als Philosoph empirischer Aussagen enthalten und räumt ausdrücklich ein, dass jene Völker vielleicht alle Naturphänomene angestaunt und gefürchtet haben; „die Erfahrung mag lehren, daß gewisse primitive Stämme sehr zur Furcht vor den Naturphänomenen neigen.“ (MS 109: 202) Diese empirische Frage geht den Philosophen nichts an.Wittgenstein kann und will sie nicht beantworten. „Vielleicht“ ist es „richtig“ zu sagen: „[D]iese Völker[] h a b e n alle Dinge ihrer Umgebung

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angestaunt. – Daß sie sie anstaunen mussten, ist ein primitiver Aberglaube.“ (MS 109: 202)⁵² Das Argument hat also ein minimalistisches Ergebnis: Es muss nicht sein, aber es kann sein. Die Hypothese, dass sie alle Dinge ihrer Umgebung angestaunt haben, kann wahr oder falsch sein. In letzterem Fall irrt Renan. Aber ein Irrtum ist noch kein Aberglaube. Irrtum und Aberglaube unterscheiden sich wie Empirie und Grammatik, Wissenschaft und Philosophie, echte Probleme bzw. kausale Fragen und begriffliche bzw. philosophische Schwierigkeiten. Einen Irrtum kann man berichtigen, ohne die grammatischen Regeln zu ändern. Der Aberglaube steckt dagegen in der Grammatik: Er ist eine Form der Darstellung, die bestimmte Möglichkeiten von vornherein ausschließt bzw. nicht vorsieht, ein Bild, das in der Grammatik tief sitzt und sich so als die einzige Möglichkeit aufdrängt. Der Aberglaube ist also eine ‚Weltanschauung‘, und wer hier ‚den Aspekt wechselt‘, d. h., diese Art der Betrachtung aufgibt, entscheidet sich für ein neues grammatisches System (oder, wie es dann heißt: Sprachspiel), für einen neuen Denkstil. Im allgemeinen Sprachgebrauch geht es bei ‚müssen‘ nicht unbedingt um nomologische oder logische Notwendigkeit.⁵³ Trifft Wittgenstein also Renans Standpunkt? Behauptet dieser wirklich nomologische Notwendigkeit? Eigentlich beabsichtigt Renan eine Art Geschichte des Möglichen: Man kann nämlich keine Geschichte von dem aufzeichnen, was in jenen frühen Zeiten eigentlich gewesen ist. Man wird jene frühen Tatsachen nie erfahren können. „[I]l s’agit de se figurer les diverses manières dont elles ont pu se passer.“ (Renan 1953: 19)⁵⁴ Der von

 Ähnlich argumentiert Wittgenstein gegen den Golden Bough. Folgende spätere Bemerkung bezweifelt nicht Frazers Tatsachenfeststellung, sondern nur ihre angebliche Selbstverständlichkeit. „Nichts spricht dafür, warum das Feuer mit solchem Nimbus umgeben sein sollte. Und, wie seltsam, was heißt es eigentlich, ‚es schien vom Himmel gekommen zu sein‘? von welchem Himmel. Nein es ist gar nicht selbstverständlich, daß das Feuer so betrachtet wird; – aber es wird eben so betrachtet.“ (MS 143: 10) Wittgenstein bezieht sich hier auf FGB 1922: 618 (vgl. PO: 142, Anm. 15, VE: 41). Im Übrigen bemerkt auch Frazer an anderer Stelle, „the conception of fire as an emanation of the sun […] is far less simple and obvious“ „the conception of fire as a destructive agent“ (FGB 1922: 648). Zu diesen Auffassungen siehe unten § 4.2, S. 308 ff.  Oft ist das ‚muss‘ nur ein emphatisches ‚ist‘ (oder ‚kann‘), ein rhetorisches Mittel, um das (wahrscheinliche) Bestehen oder baldige Eintreten eines Sachverhaltes zu unterstreichen (‚sie muss im Ausland sein‘, ‚es muss jeden Moment losgehen‘). Mit ‚müssen‘ gebildete Sätze blenden manchmal die alternativen Möglichkeiten einfach aus oder halten sie auf Distanz. Es gibt hier ein breites Spektrum von Verwendungen. Der Gebrauch eines Modalverbes wie ‚müssen‘ verrät manchmal, dass der Satz eigentlich eine (uneingestandene) Darstellungsnorm ist (vgl. Baker 2004c: 244). In diesem Fall schließt die Grammatik bestimmte Möglichkeiten aus.  Frazer formuliert seine Konjekturen auf ähnliche Weise: Er macht von Adverbien wie „necessarily“ (FGB 1922: 194) oder „naturally“ (FGB 1922: 205) ausgiebig Gebrauch. Eine ähnliche Einstellung soll Wittgenstein 1944 bei Leopold von Ranke kritisiert haben, nämlich die

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Wittgenstein bemängelte Fehler kennzeichnet bei Renan, der seine Schrift mit ‚vielleichts‘ spickt, nur einige Stellen bzw. einzelne Redewendungen. Auf der Seite, aus der Wittgenstein zitiert, enthält eine rhetorische Frage die von ihm kritisierte Gedankenfigur: „La nature de la foudre n’a été découverte qu’il y a une centaine d’années; comment était-il possible que l’homme primitif y vit autre chose que le débordement de colère d’un être très puissant […]?“ (Renan 1953: 47)⁵⁵ Aber einige Seiten weiter heißt es, gerade im Sinn Wittgensteins, dass die Semiten „offenbar“ davon sehr beeindruckt waren, also nicht, dass sie es sein mussten, dass es nicht anders sein konnte, sondern, dass es so scheint, dass es Indizien dafür gibt.⁵⁶ Man kann gegen Renan, der gleich im ersten Satz „un esprit philosophique“ als „un esprit préoccupé des origines“ definiert, grundsätzlich einwenden, dass er immer wieder ‚just so stories‘ erfindet: Wie die damaligen evolutionistischen Ethnologen spekuliert er über Sachverhalte, für die historische Belege gänzlich fehlen.⁵⁷ Der plausible – und entscheidende – Einwand ist dann die Unbelegbarkeit seiner Spekulationen. Wenn der Historiker nomologische Notwendigkeit nicht wirklich behauptet, sondern nur einen Wahrscheinlichkeitsschluss beabsichtigt, scheint die Tragweite von Wittgensteins Argument jedoch begrenzt. Aber wer auf einen ursprünglichen Zustand zu schließen sucht, selbst wenn er nur einen Wahrscheinlichkeitsschluss beabsichtigt, macht aus dem mehr oder weniger Wahrscheinlichen, tendenziell etwas, was sich nur auf eine bestimmte Weise hat ereignen können. Selbst wenn Renan keine zwingende Schlussfolgerung intendiert und nomologische Notwendigkeit nicht wirklich behauptet, wirken seine Ursprungsgeschichten nicht nur auf Wittgenstein so, als ob sie aus dem Möglichen etwas Notwendiges machten.

Verwendung von Adjektiven wie ‚unvermeidlich‘ (Rhees: ‚inevitable‘), „as though no one could have imagined things going in any o t h e r way“ (R. Rhees: Anm. 44, in MDC: 224).  Gegen Renans Vergleich wendet Wittgenstein, wie bereits angeführt, ein: „Als ob der Blitz heute alltäglicher oder weniger staunenswert wäre als vor 2000 Jahren.“ (MS 109: 201)  „Les pasteurs sémites, à ce qu’il semble, en furent très frappés et s’habituèrent à envisager Iahoua comme synonyme de El ou Elohim. Les Kenaanis, au moins les Hamathites, adoptèrent la même synonymie.“ (Renan 1953: 80) An diese und ähnliche Sachverhalte erinnert Wittgensteins Anmerkung: „Identifizierung der eigenen Götter mit Göttern andrer Völker. Man überzeugt sich davon daß die Namen die gleiche Bedeutung haben.“ (MS 110: 225; TS 211: 321) Vgl. auch Spengler über „[d]ie Angleichung einheimischer Ortsgötter an die Namen der großen – magischen – Gottheiten der Kultkirche, vor allem an Mithras-Sol-Jupiter“ (UdA 1922, Bd. 2: 319).  In der späteren Ethnologie gelten derartige Phantasie-Übungen für wertlos, „when there is absolutely no means of discovering, in the absence of historical evidence, what was its origin [i. e. the origin of some custom or belief; MB]“ (Evans-Pritchard 1965: 101; zu dieser Stelle vgl. Phillips 1993d: 105).

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1.2.2 Das „Charakteristische am erwachenden Geist des Menschen“ Im Herbst 1930 bleibt einiges im Vagen, nicht nur die Vorstellung einer Wissenschaft, die mit einem anderen, ‚wachen‘ „Geist“ getrieben wird; auch die Idee, dass der Geist zur Verwunderung erst erwachen muss, wird nur ansatzweise skizziert. Die Naturphänomene sind „so alltäglich“ (MS 109: 200): Diesen ersten Einwand gegen Renan lässt Wittgenstein damals gleich fallen.⁵⁸ Ein Jahr später, im Juni-Juli 1931, diesmal in Auseinandersetzung mit Frazer, nimmt er den Faden jedoch wieder auf. Auch die Idee vom Erwachen des Geistes erhält nun schärfere Konturen. Im Allgemeinen enthalten die Theorien des Golden Bough, mit denen Frazer allerdings eher leger umgeht, ausdrücklich eine gesetzmäßige Entwicklung, d. h. nomologische Notwendigkeit.⁵⁹ Der Einwand, den Wittgenstein zuerst gegen Renan richtet, trifft also merkwürdigerweise vor allem Frazer. Auch die von Wittgenstein beanstandete Denkfigur ist bei dem schottischen Ethnologen wichtiger, und er formuliert sie deutlicher als Renan: Eine Reihe von Erscheinungen – Frazer listet sie auf – „must have excited the wonder“ der frühen Philosophen, die daraufhin Erklärungen gesucht und in magischen „views of natural causation“ gefunden haben (FGB III 1: 246; FGB 1922: 62). Wittgenstein paraphrasiert diese Stelle: Daß der Schatten des Menschen der wie ein Mensch ausschaut, oder sein Spiegelbild, daß Regen, Gewitter, die Mondphasen, der Jahreszeitwechsel, die Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Tiere untereinander und zum Menschen, die Erscheinungen des Todes, der Geburt und des Geschlechtslebens, kurz alles was der Mensch jahraus jahrein um sich wahrnimmt, in mannigfaltigster Weise mit einander verknüpft, in seinem Denken (seiner Philosophie) und seinen Gebräuchen /auftreten/eine Rolle spielen/ wird ist selbstverständlich, oder ist eben das was wir wirklich wissen und interessant ist. (MS 110: 197; TS 211: 317)

Bei Frazer heißt es:

 Ist die Tatsache, dass sie so alltäglich sind, wirklich ein Einwand? In diesem Diskurszusammenhang unterscheidet Canguilhem zwei Traditionen. Laut der einen (Fontenelle) will primitive Religion die alltäglichen Phänomene erklären. Laut der anderen (Hume, Smith, de Brosses, Comte) will der Mensch das Außergewöhnliche, Überraschende erklären. (Vgl. Canguilhem 2002.) Renan steht also in einer Tradition: In Frankreich vertritt bereits Comte, der dabei auf Adam Smith zurückgreift, eine ähnliche These. Wittgenstein unterscheidet offenbar kaum zwischen beiden Thesen, weil ihm zufolge die Religion und die Primitiven weder das Alltägliche noch das Außergewöhnliche erklären wollen.  Die nun folgenden Seiten sind eine leicht geänderte Fassung von Brusotti 2013: 236 ff. Vgl. auch Brusotti 2000, S. 53 ff.

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The properties of drugs and minerals, the causes of rain and drought, of thunder and lightning, the changes of the seasons, the phases of the moon, the daily and yearly journeys of the sun, the motions of the stars, the mistery of life, and the mistery of death, all these things must have excited the wonder of these early philosophers […] (FGB III 1: 246; FGB 1922: 62).⁶⁰

In Frazers Spekulation über den Ursprung der Magie heißen die zentralen Gestalten – wie schon bei Tylor – ‚Philosophen‘: Diese „early philosophers“ sind jedoch eher Protowissenschaftler, die über die Ursachen der Naturerscheinungen spekulieren. Ihre kausalen Hypothesen, obwohl im Prinzip rational, müssen bei diesem Wissensstand unweigerlich fehlgehen. Auch diese primitiven Philosophen kennen daher das Staunen. Aber Wittgenstein, für den das philosophische Staunen ganz anderer Natur ist als eine kausale Frage, greift hier die Anspielung nicht auf: In seiner Frazer-Variation geht es nicht um Philosophen, sondern im Allgemeinen um den Menschen. Wenn Frazer erklärt, „all these things must have excited the wonder of these early philosophers […]“, verkleidet er als (pseudo)historische Hypothese über ‚frühe Philosophen‘ etwas, was wir von uns selbst wissen und wovon wir beim Menschen überhaupt ausgehen. Wittgenstein buchstabiert diese allgemeine anthropologische Annahme aus, indem er Frazers Behauptung implizit reformuliert: Alles, was zum Leben des Menschen gehört, spielt „eine Rolle“ in seinem Denken. Dies „ist eben das was wir wirklich wissen und interessant ist“ (MS 110: 197; TS 211: 319). Der Rest ist Spekulation. „In pretending to understand the reason for these rites Frazer is saying more than he really knew.“ (Drury 2003: 8 f.)⁶¹ Zu diesen Erscheinungen, die „der Mensch jahraus jahrein um sich wahrnimmt“, gehört auch „das Feuer oder die Ähnlichkeit des Feuers mit der Sonne“ (MS 110: 197; TS 211: 319). Wittgenstein fährt fort: „Wie hätte das Feuer oder die Ähnlichkeit des Feuers mit der Sonne verfehlen können auf den erwachenden Menschengeist einen Eindruck zu machen. Aber nicht vielleicht ‚weil er sichˈs nicht erklären kann‘ (der dumme Aberglaube unserer Zeit) – denn wird es durch eine ‚Erklärung‘ weniger eindrucksvoll? –“ (MS 110: 197 f.; TS 211: 319) Frazer – wie übrigens auch Renan – missdeutet demnach als Verlangen nach kausaler Erklärung etwas, was anderer Natur ist: Dass Naturerscheinungen wie das Feuer den Menschen beeindrucken oder verwundern, heißt nicht, dass er nach einer Kau-

 Wittgensteins Paraphrase wurde als solche erst in Brusotti 2013 erkannt. Dort, S. 237, ist Wittgensteins Aufzeichnung nach den Entsprechungen zum Golden Bough aufgeschlüsselt.  Siehe dazu unten S. 222 f., insbes. Anm. 352.

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salerklärung verlangt.⁶² Kein Naturphänomen muß dem Menschen nur aus dem Grund geheimnisvoll erscheinen, dass er es sich nicht erklären kann. Nicht die Unerklärtheit macht Naturerscheinungen wie das Feuer eindrucksvoll; auch erklärliche Phänomene können geheimnisvoll erscheinen, und eine Erklärung nimmt den bis dahin unerklärten nicht ihre beeindruckende Natur. Die erste von Wittgensteins Fragen ist dennoch überraschend: Dass etwas nicht hätte „verfehlen können“ auf den Menschen „einen Eindruck zu machen“, suggeriert nämlich gerade die Alternativlosigkeit, die der Philosoph an Renans Analyse moniert hatte. Wittgenstein scheint hier zuerst wenigstens zuzugeben, dass jene Erscheinungen den Menschen beeindrucken müssen bzw. dass sie im menschlichen Denken eine Rolle spielen müssen. Aber damit hat er Frazer („must have excited the wonder“) mehr zugestanden, als er eigentlich möchte. Dementsprechend macht er einen Schritt zurück und korrigiert sich noch auf derselben Seite: Ich meine nicht daß gerade das F e u e r jedem einen Eindruck machen muß. Das Feuer nicht mehr wie jede andere Erscheinung, und die eine Erscheinung Dem, die andere Jenem. Denn keine Erscheinung ist an sich besonders geheimnisvoll aber jede kann es uns werden und das ist eben das Charakteristische am erwachenden Geist des Menschen daß ihm eine Erscheinung bedeutend wird. […] (MS 110: 198; TS 211: 319)⁶³

Für den erwachenden menschlichen Geist bekommen bestimmte Naturerscheinungen Bedeutung, sie können dabei auch geheimnisvoll werden und ihn in Staunen versetzen. Sie müssen es aber nicht, und wenn doch, dann unabhängig davon, ob er sie sich erklären kann oder nicht. Wittgensteins mystisch gefärbte Terminologie darf nicht über den wichtigen Punkt hinwegtäuschen, den auch die Schule der Année sociologique und EvansPritchard bemerken. Insgesamt stehen diese alltäglichen Phänomene zwar im Mittelpunkt menschlichen Nachdenkens: Alle können besonders markiert werden, aber kein bestimmtes ‚muss‘ es. So ist in einer gegebenen Gesellschaft ein Phä-

 Die auch an Spengler anklingende problematische Idee würde der spätere Wittgenstein wohl präzisieren. Zuletzt betrachtet er unseren komplexen Ursachenbegriff nämlich als eine ‚Familie‘, in der mehrere einfachere ‚Urbilder‘ – einige bereits dem Kind vertraut (stoßen, ziehen), andere eher nicht (Statistik) – einander überlagern und auch durchkreuzen. In lebensweltlichen Kontexten wie denen, um die es in der Auseinandersetzung mit Renan geht, sucht man auch, in der Wissenschaft dagegen ausschließlich nach einer ‚Kausalerklärung‘; und unter ‚Kausalerklärung‘ wird hier und dort jeweils etwas anderes verstanden.  Zum „Erwachen des Intellekts“, das „mit einer Trennung von dem ursprünglichen B o d e n der ursprünglichen Grundlage des Lebens vor sich“ geht, und zur „Entstehung der W a h l “ (MS 110: 298) siehe unten S. 142 ff.

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nomen bedeutend, ein anderes jedoch nicht unbedingt;⁶⁴ und ein (allgemeines) Phänomen, das in einer Gesellschaft bedeutend ist (z. B. der Schatten des Menschen⁶⁵), muss es in einer anderen nicht sein (und kann sowieso eine ganz andere Bedeutung haben). Derlei Unterschiede sind nicht eine Frage individueller psychologischer Reaktionen, sondern der sozialen Markierung (eine Frage der Lebensform und ihrer Sprachspiele).Wittgensteins Punkt ist jedenfalls: Es gibt keine bestimmte Erscheinung, die unbedingt erklärt werden muss, es gibt auch keine, die den Menschen unbedingt beeindrucken muss, und keine, die in seinem Denken und in seinen Gebräuchen eine „Rolle“ spielen muss.

1.2.3 James Jeansˈ geheimnisvolles Universum „Das Verführerische der kausalen Betrachtungsweise ist, daß sie einen dazu führt zu sagen: ‚Natürlich, – so muß/mußte/ es geschehen‘. Während man denken sollte: s o und auf viele andere Weisen/Arten/, kann es geschehen sein.“ (MS 162b: 67r)⁶⁶ Es geht also nicht nur um Renan oder Frazer: Die kausale Betrachtungsweise als solche tendiert dazu, das Faktische, das eigentlich nur eine Möglichkeit unter anderen ist, in eine absolute, selbstverständliche Notwendigkeit umzudeuten.⁶⁷ Denselben Fehlschluss beanstandet Wittgenstein 1940 auch an einem äußerst erfolgreichen populärwissenschaftlichen Buch, James Hopwood Jeans’ The Mysterious Universe (Jeans 1930).⁶⁸ In einer Vorlesung soll Wittgenstein Jeans eine Art Aberglauben vorgeworfen haben: „I might say the title The Mysterious Universe includes a kind of idol worship, the idol being Science and the Scientist.“ (LA: 27) Die abergläubische Götzenverehrung ist im Wort ‚mysterious‘ enthalten: Es vermengt das Fehlen kausaler Erklärungen mit etwas anderem, Heterogenem. Wittgenstein sieht diese abergläubische Selbstüberschätzung in einer scheinbar selbstverständlichen Überzeugung (die Frazer und Renan teilen): Die moderne Wissenschaft erklärt endlich das, was man schon immer als geheimnisvoll  Vgl. Evans-Pritchard 1934: 39; Evans-Pritchard 1933: 139 ff.  Vgl. Evans-Pritchard 1934: 41.  Die nun folgenden Seiten über James Jeans sind eine modifizierte Fassung von Brusotti 2000: 57 ff.  Wittgenstein warnt ständig auch vor einer anderen Gefahr: In der Philosophie wird das logische bzw. mathematische ‚Muss‘ immer wieder als eine besondere Art von nomologischem (kausalem) ‚Muss‘ missverstanden.  Wittgensteins Lesespuren – Anstreichungen und Randbemerkungen – sind erhalten (vgl. SWM 2010: 4 ff.). Wittgenstein selbst zählt The Mysterious Universe zu den „populär-wissenschaftliche[n] Schriften“ (MS 162a: 86). Drury berichtet von einem Gespräch, in dem Wittgenstein Jeansˈ Buch „an abomination“ nannte (MDC: 117).

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empfand und bereits die frühen Naturmythen vergeblich hatten erklären wollen. „Man erklärt die Entstehung gewisser Fabeln aus Naturmythen und die Entstehung dieser, aus dem natürlichen Trieb, die großen, immer wiederkehrenden, Naturerscheinungen |sich| zu erklären.“ (MS 117: 266) Wittgenstein stört daran wie schon bei seiner Lektüre von Frazer und Renan, dass das, was erklärt werden muss, und die Art, wie es erklärt wird, als „selbstverständlich“ angenommen werden: Erklärt werden müssen, meint man, „die großen, immer wiederkehrenden, Naturerscheinungen“ (eher als „die weiteren Tatsachen“), und zwar durch einen Naturmythos. „Und man redet, als sei nichts selbstverständlicher, als daß wir uns Erklärungen |gerade| dieser Naturerscheinungen geben, und auch daß diese Erklärungen von gerade dieser Art sind.“ (MS 117: 266) Dies |Etwas Ähnliches| drückt Jeans, |sehr| dumm aber |sehr| charakteristisch, |so aus|: ‚Primitive man must have found nature singularly puzzling und intricate.‘ (‚M u s t have‘ – besonders, da wir ja wissen, daß sich jeder Bauer den Kopf darüber zerbricht, warum die Sonne auf- und untergeht, |und| warum der Regen aus den Wolken fällt, etc.!) (MS 117: 267)

Müssen diese Tatsachen rätselhaft erscheinen, solange sie unerklärt sind? Wittgensteins spöttische Bemerkung stellt diese Notwendigkeit in Frage – und mit ihr den scheinbar natürlichen Trieb, die Naturerscheinungen zu erklären. Ist die Interpretation der Naturmythen als (übrigens misslungener) Erklärungsversuche wirklich selbstverständlich? Wittgenstein führt hier den Gedanken nicht zu Ende. 1933 hatte er aber notiert: „D a s ist das Verhängnisvolle an der wissenschaftlichen Denkweise (die heute die ganze Welt besitzt), daß sie jede Beunruhigung mit einer Erklärung beantworten will. //daß sie jede Beunruhigung für eine Frage hält und sich wundert, sie nicht b e a n t w o r t e n zu können.//“ (TS 219: 8) Die wissenschaftliche Weltbetrachtung missdeutet nicht nur die Schwierigkeiten der Philosophie, die eigentlich Missverständnissen der Sprachlogik entstammen, als Fragen nach kausaler Erklärung, sondern auch ethische Beunruhigungen. Wittgensteins charakteristische ethische Erfahrung, „das Erstaunen, daß etwas existiert“, lässt sich nicht in eine derartige Frage übersetzen;⁶⁹ und zu den missverstandenen Beunruhigungen gehört auch der schauerliche Eindruck, den die Sukzessionsregel des Waldkönigs beim Leser des Golden Bough hinterlässt. Wittgenstein unterstellt erst Frazer und dann Jeans einen Hang zur Selbstdarstellung.⁷⁰ Positivistische Ethnologen wie Renan und Frazer verstehen religiöse Anschauungen im Grunde als verfehlte wissenschaftliche Ansichten – und nach demselben Muster deuten sie auch die emotionale Einstellung gegenüber der

 Vgl. WWK: 68, und siehe oben S. 47 ff.  „In looking down on them he [Frazer; MB] is indulging his own vanity.“ (Drury 2003: 9)

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Natur. Das Ergebnis dieser falschen Analogien ist eine ethnozentrische Hierarchie: Die westliche Kultur steht wie selbstverständlich an der Spitze, und ihre Wissenschaft erscheint als die lange ersehnte Erfüllung universeller menschlicher Bestrebungen. Die durch Wissenschaft geprägte westliche Kultur bestätigt ihr Selbstbild, indem sie sich mit fremden Lebensformen vergleicht. Insofern durchschaut Wittgenstein den Ethnozentrismus im Selbstverständnis der Positivisten. Aber eine aktualisierende Lektüre, die aus seinen Texten einseitig eine Kritik des Ethnozentrismus herausarbeitete, ginge am Grundanliegen seiner Auseinandersetzung etwa mit Renan vorbei. Seine Ausführungen sind zum Teil deutlich ideologisch konnotiert (‚antimodern‘); und der Gegensatz zwischen Zivilisation und Kultur, Wissenschaft und Religion spielt bei ihm wenigstens eine ebenso große Rolle wie die Ethnozentrismus-Frage. Dennoch kann er von seinem kulturkonservativen Standpunkt aus besser als etwa Neurath die Frage stellen, ob und inwieweit der Okzident Kulturen in ihrer Eigentümlichkeit versteht, deren Lebensform nicht durch Wissenschaft geprägt ist. Da Wissenschaft die westliche Lebens- und Denkform durchdringt, kann man sich bestimmte Sachverhalte nicht mehr anders denken. Scheinbare Selbstverständlichkeiten der westlichen Lebensform werden als angebliche Gesetzmäßigkeiten vorausgesetzt und ganz anders gearteten Kulturen unterstellt. Frazer und Renan schreiben eine uns vertraute Einstellung – das Staunen über kausal unerklärte Sachverhalte – ohne weiteres fernen (bzw. allen) Kulturen zu. So wird das Kontingente mit dem Notwendigen, das in der eigenen Epoche und Kultur faktisch Gegebene mit einer überkulturellen, universellen Erscheinung verwechselt. Begriffe wie Erklärung und Hypothese, die in modernen westlichen Lebensformen selbstverständlich sind, dürfen auf fremde Anschauungen nicht unbesehen angewandt werden. Gegen Renans Auffassung (das Staunen verlangt nach einer kausalen Erklärung, die ihm ein Ende setzt) variiert Wittgenstein ein Argument Goethes, dessen Naturwissenschaft im Staunen nicht nur ihren Ausgangs-, sondern auch ihren Endpunkt haben will.⁷¹ Inwieweit wiederholt Wittgenstein damit die Polemik zwischen evolutionären Ethnologen und naturists (Max Müller)? Um diesen Problemkomplex kreist auf jeden Fall noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine breite ethnologische Diskussion. Ist „Frazers instinctive cu-

 Das Höchste, was ein Urphänomen gewähren kann, ist, dass es uns „in Erstaunen setzt“, und dabei soll es auch bleiben: „Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug; sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.“ (Eckermann 1981: 298; 18. 2.1829) Wittgensteins Betrachtungen über das Staunen klingen auch an die traditionelle Lehre an, dass die Verwunderung die philosophische Stimmung par excellence ist. Vgl. WLP: 32.

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1 Ein neues Bewusstsein für kulturelle Unterschiede

riosity concerning the causes of things“ (Ackerman 1987: 131) nur die Projektion eines westlichen Intellektuellen? Jahrzehnte später tendiert Evans-Pritchard zu dieser Einschätzung: „[I]t is a plain fact that primitive peoples show remarkably little interest in what we may regard as the most impressive phenomena of nature – sun, moon, sky, mountains, sea, and so forth – whose monotonous regularities they take very much for granted.“ (Evans-Pritchard 1965: 54) Evans-Pritchard betont hier nicht nur – wie Wittgenstein gegen Jeans – das geringe Bedürfnis nach kausaler Erklärung der Naturphänomene, sondern stellt auch und gerade die universelle Verbreitung einer Art religiöser Verwunderung vor den Naturphänomenen in Frage. Beide von Evans-Pritchard kritisierten Positionen, die der naturists genauso wie die der Evolutionisten, sind in der kulturellen Tradition Europas beheimatet und von ihr aus gedacht. Beide Alternativen, die sich in Wittgensteins Text gegenüberstehen, sind also eher kulturspezifisch als universell. Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Evans-Pritchard bei den Azande einen Unterschied zwischen empirischer und mystischer Kausalität ausgemacht und dort zwei Formen von Erklärung unterschieden, wo etwa Frazer eine einzige gesehen hatte.⁷² Dass Evans-Pritchard das uns vertraute Anliegen einer Erklärung betont, verrät Tambiah zufolge noch eine gewisse Nähe zu Frazer. Auch wenn EvansPritchard hier eher von Lévy-Bruhl als von Frazer ausgehen mag, sind Tambiahs Zweifel trotzdem berechtigt. Clifford Geertz geht in seiner Diskussion von EvansPritchard diesen Fragen nach. Geertz schreibt der witchcraft die Funktion zu, den common sense abzusichern; anders als Evans-Pritchard betont er aber, dass dieser common sense selbst jeweils kulturspezifisch ist: Er kann sich daher von dem durch Wissenschaft geprägten des westlichen Beobachters deutlich unterscheiden.⁷³ Es geht also nicht darum, pauschal abzustreiten, dass Erkenntnisinteresse und Bedürfnis nach ‚Erklärung‘ in anderen Gesellschaften eine Rolle spielen.⁷⁴ (Eine strikt nicht-kognitivistische Auffassung der Magie schösse tatsächlich weit über das Ziel hinaus.) Es stellt sich aber die Frage, ob das, worum es in bestimmten Gesellschaften geht, sich unter der allgemeinen Überschrift ‚kausale Erklärung‘ noch subsumieren lässt; dies wird nur dann der Fall sein, wenn man die ‚kausale Erklärung‘ viel weiter fasst, als es die (von Renan, Frazer und Jeans zum Äußersten getriebene, aber noch von Evans-Pritchard festgehaltene) Analogie mit den westlichen Naturwissenschaften nahelegt. Einerseits dürfen Faktoren nicht außer Blick geraten, denen bereits EvansPritchards Monographie über die Azande Rechnung trägt, etwa die spezifische  Zu Evans-Pritchard vgl. Merten 1996. Zu Lévy-Bruhl vgl. Tambiah 1990: 84 ff.  Vgl. Geertz 1993d, insbes. S 78 ff.  Bei anderer Gelegenheit unterstreicht Geertz gerade die mangelnde Bereitschaft der Menschen, auf jede Erklärung zu verzichten. Vgl. Geertz 1993c: 101.

1.2 Der „dumme, primitive Aberglaube unserer Zeit“

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Natur des jeweils zu ‚Erklärenden‘ und die existenzielle und soziale Dimension des ‚Erklärens‘; andrerseits ist auch der Unterschied des jeweiligen Sprachspiels zu den uns vertrauten der Naturwissenschaften zu beachten (und im Laufe der Geschichte haben sich die Erklärungsideale der Wissenschaften selbst als sehr wandelbar erwiesen). Man muss hier von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Einzelfall zu Einzelfall und von Situation zu Situation unterscheiden. Schon in der Auseinandersetzung mit Spengler kam es Wittgenstein auf den Gedanken an, „daß wir gar nicht wissen (bedenken) wieviel dem Menschen genommen – oder auch gegeben – werden kann“ (MS 183: 17; 6. 5.1930). Ihm geht es letzten Endes – wie überhaupt in seiner Philosophie – nicht darum, Theorien (hier: über das ‚Primitive‘ o. ä.) aufzustellen; eher macht er auf Möglichkeiten aufmerksam, für die im eigenen Denksystem befangene Gelehrte wie Frazer und Renan keinen Sinn haben. Bei ihm ist die Gefahr eines systematischen Missverständnisses dementsprechend nicht in dem Maß gegeben wie bei jenen: Sein Denken bietet nichts, was mit ihren festen Bildern des Fremden wirklich vergleichbar ist. Dies trifft erst recht für den späten Wittgenstein zu, der die ‚imaginäre Ethnologie‘ zunehmend absichtlich und kontrolliert einsetzt. Beim Wittgenstein der frühen dreißiger Jahre wiederum bereitet gerade die Dichotomie zweier grundverschiedener Arten von Verwunderung die Einsicht vor, die dann den dualistischen Ansatz auflöst. Schon früh gibt er nicht nur die Idee einer Sprachgrenze auf, sondern auch den strikten Unterschied zwischen ‚relativem‘ und ‚absolutem‘ Gebrauch ethischer Ausdrücke. Aber das heißt natürlich nicht, dass er zwischen empirischen und begrifflichen Fragen, zwischen Wissenschaft und Philosophie nicht mehr unterscheidet. Zum Vorschein kommt vielmehr eine ganze „Familie“ heterogener, doch irgendwie verwandter Erscheinungen: eine breite ‚Familie‘ von Beunruhigungen – vor Naturerscheinungen, in Philosophie, Ethik und Ästhetik –, die alle mit wissenschaftlichen, kausalen Fragen nicht zu verwechseln sind. Anstelle von zwei kategorial fremden Grundphänomenen, zwei radikal entgegengesetzten Arten von Verwunderung, zeigen sich allmählich alle denkbaren hybriden Formen (und „Zwischenstufen“).⁷⁵

 Spätestens in der Vorlesung vom May Term 1933 geht Wittgenstein davon aus, dass die Dichotomie des Vortrags die komplexe Grammatik von ‚gut‘, einem Familienähnlichkeitsbegriff, nicht richtig wiedergibt: Es lassen sich mehr als zwei scharf getrennte Verwendungsweisen unterscheiden. Zur Zeit der Frazer-Notate in MS 110 ist Wittgenstein allerdings noch nicht so weit. Zur Ethik in dieser Vorlesung vgl. Stern 2013 und siehe unten S. 276 ff.

2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough Vorbemerkung 1: „A long chronicle of folly and crime“. Der Golden Bough und seine Theorien Drury zufolge wusste Wittgenstein Anfang der dreißiger Jahre längst von Frazers Werk, hatte es aber noch nicht gelesen.¹ Dass der Philosoph den Wunsch schon lange hegte, überrascht nicht. Der Golden Bough war ein großer Publikumserfolg und wirkte weit über die Grenzen der Disziplin und des Landes hinaus.² Für die Fachkollegen war der 1931 plötzlich erblindete Autor noch kein ‚embarrassment‘; der alternde Frazer war im Gegenteil eine öffentlich geehrte und gefeierte Ikone. Sein Ansatz gehörte jedoch bereits der Vergangenheit an. Als Wittgenstein endlich zur Lektüre kam, griff er also nach einem weiterhin extrem populären und einflussreichen, wissenschaftlich aber im Grunde nicht mehr aktuellen Buch. Frazers Schriften gehörten nämlich zu den letzten großen Werken der evolutionären Anthropologie, einem Paradigma anthropologischer Forschung, das sich in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts durchgesetzt hatte.³ Die erste zweibändige Ausgabe war bereits 1890, ein Jahr nach Wittgensteins Geburt, unter dem Titel The Golden Bough. A Study in Comparative Religion erschienen. Erst ein Vierteljahrhundert später schloss Frazer die auf zwölf Bände angewachsene dritte Ausgabe ab: Der zwölfte und letzte Band erschien im Jahre 1915. Das monumentale Werk trug schon seit der zweiten Ausgabe (1900) einen

 Vgl. MDC: 119. Siehe dazu unten den Anhang, S. 399 f.  Es sei hinzugefügt, obwohl es nicht unbedingt von großer Bedeutung gewesen sein muss, dass Frazer Fellow von Trinity war (vgl. Ackerman 1987: 223; Leach 1961: 371) und damit zum selben College gehörte wie Wittgenstein (vgl. Clack 1999: 12, 177 f., Anm. 5). Frazer hatte lange, wie dann der Philosoph, ein Apartment in Whewellˈs Court gehabt, wohnte Anfang der 30er Jahre jedoch in London. 1930 wollte er nach Cambridge zurück (vgl. Ackerman 1987: 301 f.), aber daraus wurde nichts wegen seiner Erblindung im darauffolgenden Jahr. 1932– ’33 hielt er in Trinity eine Reihe von Vorlesungen, die 1933 als The Fear of the Dead in Primitive Religion erschienen (vgl. Downie 1970: 82). Es ist nicht dokumentiert, dass er und Wittgenstein je zusammenkamen, und zu Russell hatte Frazer keine freundliche Beziehung; er gehörte zu denjenigen in Cambridge, die während des ersten Weltkriegs für den Pazifisten Russell kein Verständnis hatten (vgl. Ackerman 1987: 263 f.; Clack 1999. 177 f., Anm. 5).  Die Hauptvertreter der ersten Generation waren Tylor, McLennan und Lubbock (Lord Avebury) in Großbritannien sowie Morgan in den Vereinigten Staaten. Frazer (1854– 1941) war jünger. Zur evolutionären Anthropologie vgl. Stocking 1987; Stocking 1995, zu Frazer insbes. S. 126 ff., zum Funktionalismus S. 233 ff.

Vorbemerkung 1: Der Golden Bough und seine Theorien

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neuen Untertitel: A Study in Magic and Religion. 1922 veröffentlichte Frazer eine gekürzte Ausgabe, freilich keine schmale Broschüre, sondern einen Band von immerhin ungefähr 850 Seiten.⁴ Zu dieser Zeit stand das evolutionäre Paradigma schon lange unter Beschuss. In den Vereinigten Staaten hatte es Franz Boas Jahrzehnte zuvor einer radikalen Kritik unterzogen (vgl. Boas 1896). In England wurde es bald durch den Funktionalismus abgelöst. 1922, also im gleichen Jahr wie die Abridged Edition des Golden Bough, erschienen zwei Monographien, die, wenn auch nur symbolisch, eine Schwelle zu einer neuen Entwicklung der britischen Ethnologie markieren: B. Malinowskis Argonauts of the Western Pacific und A. R. Radcliffe-Browns The Andaman Islanders. Den Funktionalisten erschien die evolutionäre Ethnologie von Tylor bis Frazer als eine grundsätzlich überholte, ja als eine noch vorwissenschaftliche Phase ethnologischer Forschung. An dieser Einschätzung hat sich wenig geändert. Heute kehrt die Anthropologie aus den Tropen zurück (vgl. Latour 2008), Frazer war (noch) nicht einmal hingefahren.⁵ Ich sehe zunächst vom literarischen Aspekt ab wie auch von Frazers eigentümlich zurückhaltender Einstellung gegenüber ethnologischen Theorien überhaupt und den von ihm selbst vertretenen insbesondere.⁶ Die Dreistadienlehre, auf die sich folgende Skizze beschränkt, die bekannteste seiner Hypothesen, vertritt er nicht von Anfang an. Erst die zweite Ausgabe des Golden Bough (1900) unterscheidet Magie, Religion und Wissenschaft als die drei sukzessiven Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes (mind).⁷ In der ersten Ausgabe (1890) war „magic simply one form of the many taken by religion“ (Ackerman 1975: 129). Die zweite macht Magie zu einem selbständigen, früheren Stadium. Auch die dritte postuliert ein der „Steinzeit“ entsprechendes ursprüngliches „Zeitalter der Magie“, „when man trusted to magic alone for the satisfaction of such wants as transcended his immediate animal cravings“ (FGB III 1: 233): „an Age of Religion

 Helen von Bauers deutsche Übersetzung der Abridged Edition erschien 1928 (FGB 1928). Zu den verschiedenen Ausgaben des Golden Bough siehe das Literaturverzeichnis. Zur vertrackten Publikationsgeschichte vgl. Besterman 1934. Zu Frazer vgl. insbes. Ackerman 1987; Fraser 1990a; Fraser 1990b; Stocking 1996.  Frazers Ansatz war zwar rückständig, aber das heißt nicht, dass das Fach sich damals mit seinen Theorien nicht mehr auseinandersetzte: Noch 1933 beginnt Evans-Pritchard eine Reihe dreier Aufsätze, in denen er die theoretischen Grundlagen seiner klassischen Monographie über ‚Hexerei‘ bei den Azande (1937) formuliert, mit einer eingehenden Kritik von (Tylors und) Frazers intellektualistischer Deutung der Magie. Siehe dazu unten S. 122 f., insbes. Anm. 142.  Siehe dazu ausführlich unten S. 254 ff. sowie 210 f., 208 ff.  Zur Entstehung von Frazers Unterscheidung vgl. Fraser 1990a: 117 ff. Auf frühere Stadienlehren etwa bei Hesiod, Vico, Comte oder Spencer kann hier nicht eingegangen werden. Zu Hegel vgl. Brusotti 2011: 335, Anm. 13.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

has thus everywhere […] been preceded by an Age of Magic“ (FGB III 1: 237). Diese frühe Phase menschlicher Entwicklung ist also eine vorreligiöse. Magisches Denken und Handeln sind hier kein Lebensbereich neben anderen, sondern stehen für die Gesamtheit primitiver Anschauungen und Gebräuche, d. h., für eine allgemeine, frühe Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes: eine von theologischen Elementen noch freie ‚wilde Wissenschaft‘ und ‚wilde Technik‘. Magie ist „a spurious system of natural law as well as a fallacious guide of conduct; it is a false science as well as an abortive art.“ (FGB III 1: 53; FGB 1922: 11) Theoretische und praktische Magie – d. h. Anschauungen und Riten – verhalten sich zueinander wie Wissenschaft und Technik: Die eine will die Natur erklären, die andere will sie beherrschen; sie ist eine auf abergläubischen Erklärungen beruhende wirkungslose Technik.⁸ Religion entwickelt sich nicht aus der Magie, sondern infolge ihres Scheiterns. Der Mensch versucht zuerst, die Natur aus eigener Kraft zu beherrschen, und der „savage“ „sees no limit to his power of influencing the course of nature to his own advantage“ (FGB III 1: 51; FGB 1922: 10). Der Mensch schreibt sich selbst zuerst eine grenzenlose Macht zu, muss aber schließlich einsehen, dass seine Zauberkünste nichts bewirken. In Frazers Geschichtsphilosophie stellt diese „great discovery of the inefficacy of magic“ (FGB III 1: 237) – diese „confession of human ignorance and weakness“ (FGB III 1: 238) – einen entscheidenden Wendepunkt dar (die „birth of humility“, wie Marett (1914c) sie nicht ohne Ironie nennen wird). Aus der Einsicht in die eigene Ohnmacht entsteht der Glaube, dass die Welt von unsichtbaren Wesen abhängt. Nachdem magische Kausalität sich als Illusion herausgestellt hat, werden nun die ersehnten Wirkungen von Gottheiten erfleht. Der Magier hatte versucht, die Natur direkt zu beherrschen und auch die Götter, sofern er überhaupt an solche glaubte, durch Rückgriff auf unpersönliche Kräfte zu bezwingen, der religiöse Mensch will die Götter nun versöhnen. Frazer erklärt auch Religion utilitaristisch, selbst wenn er Magie und Wissenschaft einen ausgeprägteren instrumentellen, technologischen Charakter zuschreibt. Auch Religion hat ein theoretisches und ein praktisches Moment: Sie glaubt in „powers higher than man“ und ist bestrebt, „to propitiate or please them“ (FGB III 1: 222; FGB 1922: 50).⁹ Magie wird damit in ihrer Leitfunktion von der Religion abgelöst, und wenn sie nicht verschwindet, bleibt sie fortan nur eine Nebenerscheinung. Erst spät vermittelt die Wissenschaft Einsicht in die tatsächlichen Kausalverhältnisse. Der Mensch, der allmählich auch die Irrtümer der Religion einge-

 Zu theoretischer und praktischer Magie bei Frazer siehe unten S. 138 f.  Vgl. eine erste Formulierung der Theorie in Frazers Brief an Baldwin Spencer vom 28. November 1898 (Frazer 2005: 135 – 138, hier S. 137 f.; vgl. dazu Stocking 1995: 143).

Vorbemerkung 1: Der Golden Bough und seine Theorien

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sehen hat, kehrt nun zu einer einfacheren empirischen Anwendung des Kausalitätsprinzips zurück; er unternimmt noch einmal den Versuch, die Natur aus eigener Kraft zu bezwingen, aber jetzt durch Wissenschaft und Technik. Bei weitem nicht die einzige eurozentrische Konsequenz von Frazers globalem Evolutionsschema ist, dass nur die westliche Kultur dieses dritte und vorläufig letzte Stadium der Entwicklung des menschlichen Geistes erreicht hat. Gerade mit der zweiten Ausgabe des Golden Bough erreichte Frazers Prestige seinen Zenit. Aber die These einer vorreligiösen, ausschließlich magischen Phase kultureller Entwicklung fand nie einen breiten Konsens.¹⁰ Die Vorstellung einer Magie in Reinkultur ist eine künstliche Konstruktion – und dies gilt von Frazers Magiebegriff überhaupt. Nicht erst bei ihm führt die Unterscheidung zwischen Wissenschaft, Religion und Magie (Wissen, Glauben und Aberglauben), wenn sie auf ferne Kulturen angewandt wird, zu tief ethnozentrischen Deutungen. Wie früher schon die christliche Religion, so setzte sich dann auch die neuzeitliche Wissenschaft von der Magie ab, etwa die Astronomie von der Astrologie, die Chemie von der Alchemie. In modernen westlichen Gesellschaften steht ‚Magie‘ für etwas, was religiöser Glaube und wissenschaftliches Wissen strikt von sich weisen: als Aberglauben. In der europäischen Religionsgeschichte gehört seit jeher zu den Kunstgriffen inner- und interreligiöser Polemik, dass den Gegnern Religion (Glauben) abgesprochen und Magie (Aberglauben) zugeschrieben wird.¹¹ Diese alte Tradition abschätziger Fremdbilder wurde bereits lange vor Frazer auf die Weltsicht fremder, angeblich ‚primitiver‘ Völker angewandt, die dann als rein

 Andrew Lang, ein Evolutionist wie Frazer, hatte 1901 den Golden Bough regelrecht verrissen. Deutlich freundlicher im Ton, aber inhaltlich ebenfalls verheerend war die Kritik eines weiteren Evolutionisten, R. R. Marett (siehe unten etwa S. 139, 242). Hubert und Mauss stellen schon früh Frazers Versuch, „[de] faire de la magie une espèce de science avant la science“ (Hubert/Mauss 1902– 1903: 7), in Frage. Zur Frazer-Kritik bei ihnen, Lévy-Bruhl und Durkheim siehe unten S. 121.  Fremder Glaube ist Aberglaube, fremde Religion Magie, fremde Götter sind Dämonen, fremde Priester Zauberer: So urteilten etwa die Römer über Juden und Christen, in der Spätantike wiederum die Christen über die ‚Heiden‘, und ähnlich dachten noch die Protestanten über das katholische opus operatum in der Eucharistie. Zur westlichen Tradition antimagischer Polemik vgl. de Martino 1995. Zu einer kritischen Diskussion des Magiebegriffs und der kulturellen Wurzeln dieser analytischen Kategorie in der europäischen Tradition vgl. Tambiah 1990, der auch auf Wittgensteins „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“ eingeht (vgl. Tambiah 1990: 54– 64). Die Unterscheidung von Magie und Religion – wie übrigens auch der Intellektualismus, der Fokus auf dem Glauben eher als auf dem Ritus – hat bei Tylor und Frazer auch einen spezifischen religionshistorischen Hintergrund: Sie wuchsen jeweils in einer Quäker- und in einer Free Church-Familie auf (zu Tylor vgl. Tambiah 1990: 43; vgl. auch Stocking 1987: 196).

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

magisch bestimmt erschien, d. h. als (noch) nicht religiös.¹² Der Name ‚Magie‘, der im Westen ein ausgegrenztes Randgebiet bezeichnet, wird bei Frazer – aber, wie gesagt, nicht erst bei ihm – zu einem Term für das ganze Weltbild der savages: Sie haben nur Magie, sie sind in Aberglauben verstrickt. Nur bei ‚uns‘ setzt sich (vielleicht) das Wissen durch.¹³ Der Golden Bough ist in seiner Darstellung des Fremden mit tiefen eurozentrischen Vorurteilen durchsetzt; aber die These der evolutionären Vorgängigkeit der Magie hat auch andere Valenzen; denn Frazer hat vor allem eine (je nach Ausgabe mehr oder weniger offene) religionskritische Absicht. Er will – wie Tylor – zeigen, dass im Christentum magische Überreste praktisch überall weiterleben: Wenn man eine relativ kleine Bildungsschicht (und z.T. die Stadtbevölkerung) ausnimmt, sind auch in Europa primitive Formen von Aberglauben allgegenwärtig, aber zumeist nur als unbewusste survivals im Sinne Tylors, als nicht mehr verständliche Überbleibsel überholter Kulturstufen. Frazer gibt nun weit deutlicher als Tylor der antimagischen Polemik eine religionskritische Wendung. Daraus, dass Magie das primitive Stadium ist und Magie und Religion Gegensätze sind, folgt im Golden Bough, dass der Mensch keine angeborenen religiösen Veranlagungen hat. Zwar trennt auch Tylor Magie und Religion voneinander, aber nicht so scharf wie Frazer,¹⁴ und die historische Präzedenz der Magie verträgt sich nicht mit Tylors Animismustheorie.Während er Magie in aller Schärfe zurückweist als „one of the most pernicious delusions that ever vexed mankind“ (Tylor 1871, Bd. 1: 101), ist seine Religionskritik moderater. Tylor verspürt also nicht die geringste Neigung, der Magie irgendeinen Vorrang einzuräumen.¹⁵ Frazer tut seltsamerweise gerade dies: Selbst wenn in seinem entwicklungsgeschichtlichen Schema Religion gegenüber dem rein magisch bestimmten primitiven Weltbild einen Fortschritt darstellen soll, tendiert er in einer entscheidenden Hinsicht dazu, die frühere magische Entwicklungsstufe der späteren religiösen vorzuziehen: Magie – nicht Religion – ist „next of kin to science“ (FGB III 1: 222).¹⁶

 Im neunzehnten Jahrhundert vertrat John Lubbock, eine Galionsfigur der evolutionären Ethnologie, die damals kontrovers diskutierte These, dass die ‚Wilden‘ nur Magie und noch keine ‚Religion‘ haben, nur Aberglauben und noch keinen Glauben.  Einige Differenzierungen wären jedoch nötig, und zwar auch deshalb, weil Frazer alles andere als ein kohärenter Theoretiker ist. Siehe z. B. unten S. 156 f.  Vgl. Evans-Pritchard 1933: 124 f. Überlappungen und Mischzustände gesteht indes auch Frazer zu: als Zeichen späterer Zustände.  Vgl. Tambiah 1990: 45.  Diese Tendenz findet sich dann in besonders ausgeprägter Form bei Neurath wieder. Vgl. dazu Brusotti 2011.

Vorbemerkung 1: Der Golden Bough und seine Theorien

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Frazers Schwerpunkt – Magie und Religion – ist typisch für einen Blick auf fremde Kulturen, der eher das Eigentümliche, Fremde, vom Standpunkt des Betrachters aus Kuriose bzw. ‚Exotische‘ registriert als das Alltägliche, nicht weiter Auffällige. Die Aufmerksamkeit ziehen hier ‚mystische‘ Rituale auf sich, die nur in bestimmten Kontexten eine Rolle spielen, eher als Alltagsgewohnheiten, wirtschaftliche Beschäftigungen oder soziale Beziehungen. In diesem Vergleich sehen die ‚Primitiven‘ ‚mystischer‘ und die ‚Modernen‘ rationaler aus, als sie sind, weil jeweils bestimmte Eigentümlichkeiten herausgestrichen werden (vgl. Evans-Pritchard 1934: 42 f.). Verglichen wird nämlich nicht Alltag mit Alltag, der fremde mit dem westlichen, sondern ihre ‚mystischen‘ Rituale mit ‚unserer‘ Wissenschaft (die hier idealisiert wird und nicht ihrerseits ethnologisch betrachtet).¹⁷ ‚Sie‘ scheinen ‚uns‘ dann ferner und fremder als bei einem fairen Vergleich (Lévi-Strauss). Aber wer sind hier ‚wir‘?¹⁸ Und wer sind ‚sie‘? Wer sind diese ‚Wilden‘, die bei Frazer weder ‚sogenannte‘ sind noch in Anführungszeichen stehen? Letzten Endes kommt es nur bedingt auf das Etikett an: Ob nun von ‚Wilden‘, von ‚Primitiven‘ oder auch nur von ‚Eingeborenen‘¹⁹ die Rede ist, es handelt sich um eine willkürliche, vom westlichen Beobachter vorgenommene diskriminierende Kategorisierung.²⁰ Auch abgesehen von dem herabsetzenden Ton scheren allgemeine Bezeichnungen wie ‚wild‘ oder ‚primitiv‘ die heterogensten Kulturen über einen

 Darin unterscheidet sich Frazer nicht von Lévy-Bruhl, einem weiteren in dieser Hinsicht paradigmatischen Beispiel.  „But who are we?“ (Evans-Pritchard 1934: 43) Evans-Pritchard bemerkt bei Lévy-Bruhl die künstliche Natur des Konstrukts. Bei Frazer sind ‚wir‘ die ‚modernen westlichen Wissenschaftler‘ und ‚sie‘ alle anderen: Die ‚Primitiven‘ gibt es nämlich auch in Europa, in den niederen Schichten, auf dem Lande usw.  Der Ausdruck ‚Eingeborene‘ taucht später auch bei Wittgenstein gelegentlich auf, einmal als Alternative zu ‚Wilde‘: „das Zählen der Eingeborenen/Wilden/“ (MS 117: 245). Hier scheint der Philosoph indes die zweite Variante vorzuziehen. – Wer ‚primitiv‘ durch eine neutralere Bezeichnung wie ‚eingeboren‘ ersetzt (wie z. B. Burley 2012, insbes. S. 351), beseitigt einige negative Konnotationen der alten Bezeichnung. Aber problematisch am Begriff des Primitiven sind bei Weitem nicht nur diese Konnotationen, sondern seine Funktionsweise im Ganzen. Wenn man z. B. statt von ‚primitive religions‘ von ‚indigenous religions‘ redet, ändert sich die Bezeichnung, aber die Referenz bleibt dieselbe; unter dem neuen Etikett werden weiterhin dieselben Erscheinungen und Völker zusammengestellt und von den anderen abgesetzt. Wittgenstein hätte es übrigens abgelehnt, die Religionen der ‚Primitiven‘ als ‚primitive Religionen‘ zu bezeichnen.  „A discourse employing terms such as primitive, savage (but also tribal, traditional, Third World, or whatever euphemism is current) does not think, or observe, or critically study, the ‘primitive’; it thinks, observes, studies i n t e r m s of the primitive. P r i m i t i v e being essentially a temporal concept, is a category, not an object, of Western thought.“ (Fabian 1983: 18.) Vgl. auch Kuper 1988; Kohl 1993: 17 ff. Zu traditionelleren Vorbehalten gegenüber dem Wort ‚primitive‘ vgl. auch Evans-Pritchard 1965: 18 f.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Kamm – als austauschbare Beispiele einer angeblich gleichartigen ‚magischen‘ Weltsicht (Frazer), einer ‚primitiven Mentalität‘ (Lévy-Bruhl) oder eines ‚mythischen Denkens‘ (Cassirer). Ein Begriffsgebilde wie Frazers ‚Magie‘ steht in Wirklichkeit für ein monströses ‚composite portraiture‘, für eine Zusammenstellung von Kuriositäten aus allen Weltecken (denn, wie Wittgenstein selbst hervorhebt, jede Erscheinung ist irgendwo Gegenstand irgendeines Rituals, hat irgendwann ‚mystische‘ Bedeutung). Noch weniger als das Gemeinsame, Allgemeinmenschliche beachtet Frazer also die kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern, die er undifferenziert als savages bezeichnet. Gesellschaften, die untereinander höchst heterogen sind, unterstellt die evolutionäre Schule, nicht nur Frazer, dass sie miteinander weitgehend übereinstimmen und homogene Denkmuster aufweisen. Die gegenwärtigen ‚Wilden‘ bzw. ‚Primitiven‘ werden zwar nicht unmittelbar mit Steinzeitmenschen gleichgesetzt: Sie stellen demnach eine höhere Kulturstufe dar, stehen den Letzteren aber in der Kulturleiter der Menschheit bedeutend näher als wir und gewähren deshalb indirekt Aufschluss über die Denkweise der Urzeiten. Die Unterschiede zwischen den „Amongsthas“ (Stocking 1995: 148) werden in der evolutionären Tradition hierarchisch aufgefasst (als niedrigere bzw. höhere Kulturstufen gedeutet) und zugunsten des great divide zwischen allen ‚Primitiven‘ und dem Westen heruntergespielt.

Vorbemerkung 2: ‚Wild‘ und ‚primitiv‘. Wortfelder bei Wittgenstein Wittgenstein setzt die Wortfelder ‚wild‘, und ‚primitiv‘ oft ironisch ein. Die westlichen Zeitgenossen und ihr Weltbild sind immer wieder die eigentlich Gemeinten: Der Ethnologe „ist viel mehr savage als die meisten seiner savages“ (MS 110: 205; TS 211: 321), „primitiv“ sind gerade „die heutigen Menschen und Renan selbst“ (MS 109: 201), der Gelehrte sitzt einem primitiven ‚Aberglauben‘ (vgl. MS 109: 201) auf, die abendländische Philosophie ist mit der (primitiven) ‚Magie‘ verwandt,²¹ und Philosophen benehmen sich „wie wilde, primitive Menschen“, „die die Ausdrucksweise zivilisierter Menschen hören, sie mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse |aus dieser/ihrer/ Deutung| ziehen.“ (MS 119: 40).Wittgenstein spielt also mit ‚wild‘, und ‚primitiv‘ – wie bereits eine lange Tradition vor ihm – ein komplexes Spiel der Vertauschungen und Umbesetzungen. Er gibt diese Bezeichnungen nicht

 Siehe dazu unten S. 76 ff.

Vorbemerkung 2: ‚Wild‘ und ‚primitiv‘. Wortfelder bei Wittgenstein

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auf, ganz im Gegenteil, sondern macht sie sich selbst zu eigen, wenn auch nicht ohne Vorbehalte. In Wittgensteins kritischem Kommentar zur Histoire du Peuple d’Israël ist von ‚Wilden‘ keine Rede. Er übernimmt Renans Vokabular. Es geht um „de[n] primitive[n] Mensch[en]“ (MS 109: 200 f.) und um seine „Primitivität“ (MS 109: 201), und das Adjektiv bezeichnet nicht nur „die primitiven Völker“ (MS 109: 201) der von Renan imaginierten Vorgeschichte, sondern auch „primitive Stämme“ (MS 109: 202) aus Wittgensteins Zeit. In seiner ersten niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough verwendet er als Adjektiv immer ‚primitiv‘, z. B., wenn er „primitive Gebräuche“ (MS 110: 195; MS 110: 205) erörtert. Als Attribut einer Art von Menschen kommt ‚primitiv‘ hier allerdings nur einmal vor und erst spät: in einer Äußerung über „das Charakteristische des primitiven Menschen“ (MS 110: 297). Als direkte Bezeichnung für die Menschen überwiegt die substantivierte Form von ‚wild‘ (‚die Wilden‘, ‚der Wilde‘). Frazer bevorzugt „savage“,²² und Wittgenstein lehnt sich an seine Wortwahl an. Sie ist dem Philosophen nicht fremd: Den deutschen Ausdruck hatte Wittgenstein schon vorher von sich aus benutzt. In einer früheren Stelle, die mit dem Golden Bough wahrscheinlich nicht unmittelbar in Zusammenhang steht, pflichtete er, wie dann immer wieder auch in späteren Jahren, verbreiteten Vorstellungen über „wilde Völker“ und ihre Arithmetik bei;²³ ein anderes Mal erklärte er, dass „die Wilden“ keine (niedergeschriebene) Grammatik haben.²⁴ Was er über

 Im Anschluss an Tylor, dessen Hauptwerk Primitive Culture heißt, ist bei Frazer etwa von dem ‚primitive philosopher‘ die Rede. Er verwendet jedoch weit öfter ‚savage‘ als ‚primitive‘. Von diesen zwei Wörtern empfindet er offenbar das letztere als das herabsetzendere und bezeichnet es in seiner Lévy-Bruhl-Rezension als ‚very improper‘ (Frazer 1931e: 413). Er versteht es nämlich in der Bedeutung von ‚Steinzeitmenschen‘ und bemerkt deshalb kritisch, man könne es zwar verwenden, aber nur in relativem Sinn.  „Wenn wilde Völker ein Zahlensystem haben in dem auf 5 ein Ausdruck analog unserem ‚viele‘ folgt und sie beim Angeben einer Zahl zuerst auf Finger einer Hand dann auf ihre Haare zeigen so haben diese Leute ein ebenso komplettes Zahlensystem wie wir.“ (MS 108: 152; vgl. dann etwa MS 112: 44r) So verbreitet damals diese Vorstellungen sind (vgl. Cassirer 2009b, Bd. 2: 166 ff., mit einer reichen Bibliographie), so radikal ist Wittgensteins Schlussfolgerung, ihr Zahlensystem sei ebenso komplett wie unseres (zu dieser Ansicht im Zusammenhang seiner Spengler-Lektüre siehe oben S. 28 f., insbes. Anm. 8). Vgl. auch MS 113: 115r, wo es dann heißt: „Überhaupt ist es für unsere Untersuchungen ein guter Trick, sich die Arithmetik oder Geometrie eines primitiven Volks auszumalen/vorzustellen/“.  „Denken wir daran, daß man ja die Regeln der Grammatik nie auszusprechen brauchte und die Sprache dennoch gebrauchen kann. (Die menschliche Sprache bestand gewiß ehe jemand gramm. Regeln aussprach und ein Kind lernt die Sprache ohne solche, und die Wilden haben keine Grammatik. Das heißt natürlich nicht daß ihre Sprache keinen gramm. Regeln folgt, sie

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sie „gehört“ hat, klingt für heutige Leser manchmal seltsam.²⁵ Inwieweit bleibt er also bei aller Kritik spezifischen Ansichten Frazers oder damals gängigen Vorstellungen verhaftet? Und inwieweit gelingt es ihm wiederum, Ausdrücke wie ‚wild‘ und ‚primitiv‘ umzubesetzen? Wittgenstein erwähnt zwar ziemlich am Anfang seiner Auseinandersetzung mit Frazer die „Anschauungen der Wilden“ (MS 110: 179; TS 211: 314), aber er lässt sich auf die (angeblichen) Eigentümlichkeiten der Letzteren zuerst überhaupt nicht ein. Ihm geht es um die Menschen im Allgemeinen, und er neigt zunächst einmal dazu, neutral und allgemein von ‚den Menschen‘ oder den ‚Leuten‘ zu sprechen. Erst im weiteren Verlauf geht er auf Frazers fragwürdige Bezeichnung ein und übernimmt sie, wenn auch nicht ohne Widerstreben. Er misstraut Frazers Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘. Frazer beachte „unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden“ (MS 110: 205; TS 211: 250; TS 212: 1206; TS 213: 433) nicht. Wittgenstein möchte diese „Verwandtschaft“ würdigen, formuliert sie aber weiterhin als eine zwischen ‚uns‘ und „jenen Wilden“. 1931 sind ihm die tiefen kulturellen Unterschiede zwischen den pauschal ‚wild‘ oder ‚primitiv‘ genannten Völkern nicht präsent. Auch die Unzulänglichkeit von Frazers ‚Montagetechnik‘, in der die jeweiligen Gebräuche atomistisch aus ihrem kulturellen Kontext isoliert werden, durchschaut Wittgenstein damals nicht wirklich. (Mit markigen Worten lehnte dagegen Spengler, Wittgensteins nicht nur kulturphilosophische Referenzlektüre, die Vermengung heterogensten ethnologischen Materials ab; aber die Idee einer kulturellen Vielfalt bei den ‚Primitiven‘ war auch dem Untergang des Abendlandes nicht zu entnehmen.²⁶)

sprechen diese Regeln nur nicht aus.)“ (MS 110: 109 f.; die Bergen-Ausgabe liest statt „die Wilden“ falsch „die wieder“.) Vgl. auch TS 211: 203; PG: 62 f. Zu den „Wilden“ und ihren ungeschriebenen Regeln vgl. MS 112: 99r, und siehe unten S. 336.  „Ich habe gehört, es gäbe Volksstämme, die/gibt einen Volksstamm, der/ noch zu primitiv sind |ist|, um zu l ü g e n . […]“ (MS 119: 84)  Spengler, der die Vorstellung einer Kulturleiter der Menschheit zurückweist, ist sich des Gegensatzes zu Evolutionisten wie Frazer bewusst und durchschaut die Tendenz, einzelne Gebräuche aus ihrem kulturellen Kontext zu reißen: Die „Völkerpsychologen“ würden „in allen fünf Weltteilen“ „Völkerfragmente“ „zusammensuchen“ und deren „Äußerungen“ „unterschiedslos vermeng[en]“ (UdA 1922, Bd. 2: 39). Ohne Namen zu nennen, meint Spengler die auf Lazarus und Steinthal zurückgehende und damals von Wundt maßgeblich vertretene Forschungsrichtung, trifft aber die gesamte evolutionäre Tradition. Allerdings ist Spenglers Kritik noch viel bedenklicher, ja menschenverachtender, als der kritisierte Evolutionismus. Spengler verbindet nämlich mit der Unterscheidung von Dasein und Wachsein eine extrem scharfe Trennung zwischen dem Zeitalter der „primitiven Kultur“ und dem der „hohen Kulturen“ (UdA 1922, Bd. 2: 38). Im Anschluss an Frobenius verortet er jene Kultur, „allerdings in einer sehr späten Form,“ im „nordwestliche[n] Afrika“ (UdA 1922, Bd. 2: 38): Nur dort würde „eine ganze Welt primitiven Lebens“ noch heute weiterleben; anderswo gebe es „nur eine Anzahl primitiver

Vorbemerkung 2: ‚Wild‘ und ‚primitiv‘. Wortfelder bei Wittgenstein

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Wittgensteins Einwand, dass unsere Verwandtschaft mit den ‚Wilden‘ bei Frazer unterbelichtet bleibt, trifft allerdings zu – und zwar nicht erst, wenn man den schottischen Ethnologen mit heutigen Maßstäben misst. Wittgenstein ist gegenüber der Trennung von ‚Religion‘ und ‚Magie‘ sehr zurückhaltend, lehnt es ab, den savages einseitig ‚Magie‘ zuzuschreiben, und will den Weltbezug Letzterer nicht auf Magie reduziert wissen;²⁷ auf Frazers Einseitigkeit reagiert er, indem er die alltägliche Beherrschung empirischer Techniken durch eben diese ‚Wilden‘ hervorhebt. Machtverhältnissen, politischen Konflikten und sozialen Hierarchien innerhalb dieser Gesellschaften schenkt er wiederum noch weniger Aufmerksamkeit als Frazer (vgl. Gebauer 2009). Bereits Anfang der dreißiger Jahre verwendet Wittgenstein ‚primitiv‘ auch im theoretischen Kontext. Die vielfachen Konnotationen, die das Adjektiv hier annimmt, wirken sich auf sein Bild der ‚Wilden‘ und ihrer ‚primitiven Gebräuche‘ bzw. ‚Anschauungen‘ aus. Hier sei vorerst nur angemerkt, dass die Konnotationen 1931 nicht dieselben sind wie später. Die Auseinandersetzung mit Frazer findet in einer Übergangsphase statt, in der das ‚Primitive‘ z.T. noch an das ‚Primäre‘ von Wittgensteins ‚Phänomenologie‘ erinnert. So betrachtet er damals (auch) die „Sprache der Vorstellung“ als „primitiv“ (MS 110: 194).²⁸ Etwas wie eine primitive Schicht hat auch die Wortsprache: „Substantiv, Eigenschaftswort und Tätigkeitswort“ sind die „primitiven Formen unserer Sprache“ (MS 110: 206). ‚Primitiv‘ ist aber vor allem die „Gebärdensprache“ (MS 110: 194), und insbesondere die „hinweisende Erklärung“ (MS 110: 185), und zwar, weil die Wortsprache auf sie aufbaut. „Was wir Bedeutung nennen muß mit der primitiven Gebärden-(Zeige‐) Sprache zusammenhängen.“ (MS 110: 185) Wenn Wittgenstein damals das Zeigen als ‚primitiv‘ betrachtet, dann nicht, weil er darin etwas wie eine natürliche Reaktion sieht. Begriffe wie ‚primitive Reaktionen‘ und ‚primitive Sprachspiele‘ verwendet er zu der Zeit seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough noch nicht. Zwar zieht er „InstinktHandlungen“ (MS 110: 297 f.) immer wieder zum Vergleich heran, nennt sie aber Stämme“ (UdA 1922, Bd. 2: 38), die „Völkerfragmente“, die Spengler verächtlich als „teils zurückgebliebene, teils minderwertige, teils entartete Stämme“ (UdA 1922, Bd. 2: 39) apostrophiert. Für ihn gibt es nur eine ‚primitive Kultur‘ im Singular. Vgl. Brusotti 2011: 345 ff.  Als Wittgenstein sich 1931 zum ersten Mal mit Frazer auseinandersetzt, steckt die moderne ethnologische Untersuchung der Magie noch in den Kinderschuhen. Malinowskis Coral Gardens erscheint 1935, und der eigentliche Meilenstein der Forschung, Evans-Pritchards Monographie über die Azande, erst 1937. Zu Evans-Pritchards früheren Aufsätzen siehe unten S. 122 f.  Wittgenstein stellt sich schon vor seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough die Frage, ob „in unserer Zeichensprache“ „die Verneinung, Disjunktion etc.“ (MS 108: 290) bzw. „der Ausdruck der Verneinung“ wirklich „p r i m i t i v “ (MS 108: 262) ist, nämlich im Vergleich zur Komplexität unseres Denkens.

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nicht ‚Reaktionen‘. Erst wesentlich später spielen ‚primitive Reaktionen‘ in seiner Philosophie eine bedeutende Rolle. Bereits vor seiner Auseinandersetzung mit dem Golden Bough hatte Wittgenstein jedoch über ein Beispiel nachgedacht, das vor allem aus seinen späten Notaten bekannt ist. Er war der Auffassung, „daß eine Hypothese nicht definitiv verifizierbar ist“; gegen eine intellektualistische Auffassung – verifiziert wird durch ‚Induktion‘, und diese Verifikation ist nie endgültig – betonte er jedoch (wie dann noch Anfang der fünfziger Jahre) die emotionale, instinktive Grundlage des „Glaubens an die Gleichförmigkeit des Geschehens“: „Die Natur des Glaubens an die Gleichförmigkeit des Geschehens ist wird v i e l l e i c h t am klarsten im Falle in dem wir Furcht vor dem erwarteten Ereignis empfinden. Nichts könnte mich dazu bewegen meine Hand in die Flamme zu stecken, obwohl ich mich doch n u r i n d e r Ve r g a n g e n h e i t verbrannt habe.“ (MS 107: 254) Nicht lange nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer und unabhängig von ihr kommt der Philosoph auf dieselbe elementare „Sicherheit“ noch einmal zurück: „Dass mich das Feuer brennen wird, wenn ich die Hand hineinstecke: das ist Sicherheit. | D. h., da sehe ich was Sicherheit bedeutet. (Nicht nur was das Wort ‚Sicherheit‘ bedeutet, sondern auch was es mit ihr an/auf/ sich hat.)“ (MS 111: 121; 19. 8.1931) Die Frage ist hier natürlich nicht, ob die Menschen wirklich glauben, dass das Feuer sie brennen wird; es kommt vielmehr auf die nicht-intellektuelle Natur dieser Sicherheit an, die keine ‚Meinung‘, ‚These‘ oder ‚Hypothese‘ ist, und auf die Bedeutung, Wichtigkeit, eben dieser Sicherheit. Es geht darum, „was es mit ihr auf sich hat“ (MS 111: 121), bzw. darum, dass jemand „alles eher täte, als die Hand inˈs Feuer stecken, das ihn früher gebrannt hat“ (MS 111: 137). Aus demselben Grund wird man alles eher tun, als einen Dampfkessel nicht genau zu berechnen, und dies, obwohl es nur eine lediglich durch Induktion verbürgte „Erfahrungstatsache“ (MS 111: 137) ist, dass ein so erzeugter Kessel in der Regel nicht explodiert. Zwar beruft sich Wittgenstein bereits Anfang der 30er Jahre auf instinktive Verhaltensweisen. Er bezeichnet sie aber erst in späteren Jahren als ‚primitive‘ (und als) ‚Reaktionen‘. Von ‚Reaktionen‘, geschweige denn von ‚primitiven‘, ist auch in seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough nicht die Rede. Mit elementaren Formen instinktiven Benehmens vergleicht er hier rituelle Handlungen überhaupt. Obwohl er nicht erst in diesem Kontext auf instinktive Verhaltensweisen eingeht, dehnt er gerade hier die Tragweite der Analogie bedeutend aus. Und es bleibt nicht beim Vergleich: Riten sind hiernach Instinkthandlungen. Im Juni-Juli 1931 hat Wittgenstein weder den Term noch das Konzept ‚Sprachspiel‘. Erst einige Zeit später beginnt er, sich „ein Spiel mit sehr primitiven Regeln“ (MS 112: 96 r) vorzustellen. Seine reife Auffassung unterscheidet zwischen

Vorbemerkung 2: ‚Wild‘ und ‚primitiv‘. Wortfelder bei Wittgenstein

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Reaktion und Sprachspiel: Sprachspiele haben in ‚primitiven Reaktionen‘ lediglich ihre Grundlage, fallen mit ihnen jedoch nicht unmittelbar zusammen. Sprachspiele sind ein weiterer Ausbau ‚primitiver‘ Reaktionen: Letztere geben höchstens Vorformen her, auf die ein symbolisches System dann aufbaut. „Was aber will hier das Wort ‚primitiv‘ sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise v o r s p r a c h l i c h ist: daß ein Sprachspiel a u f i h r beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht die Frucht ein/das/ Ergebnis des Denkens.“ (MS 134: 113; BPP I, § 916; Z, § 541)

So erläutert der späte Wittgenstein den Ausdruck „primitive Reaktion“ (MS 134: 113; BPP I, § 915). Es gibt zwar Gründe im Sprachspiel, aber keine für das Sprachspiel.²⁹ Es gibt nämlich nichts Selbstverständlicheres als ‚primitive Reaktionen‘; zu deren weiterer Verdeutlichung könnte man nichts noch ‚Natürlicheres‘ anführen. Hier biegt sich der Spaten zurück: Die Kette der Gründe hat ein Ende. Eine ‚primitive Reaktion‘ ist „v o r s p r a c h l i c h“; ein ‚primitives Sprachspiel‘ ist ein einfaches und die ‚primitive Form des Sprachspiels‘ die einfachste: Sie knüpft unmittelbar an eine instinktive Reaktion an. (Ob Letztere angeboren ist oder bereits Resultat einer Abrichtung, ist für den Philosophen nicht weiter erheblich.) Als Akteure stellt sich Wittgenstein ein Kind oder „einen primitiven Volksstamm“ vor.³⁰ ‚Primitiv‘ hat also Konnotationen wie ‚einfach‘, ‚vorsprachlich‘, ‚instinktiv‘, ‚kindlich‘, soll aber zugleich bestimmte Erwachsene bezeichnen. Das Gleichnis des Primitiven kann in einem allgemeineren theoretischen Kontext bisweilen zwar erhellend sein; aber selbst wenn bei Wittgenstein Bezeichnungen wie ‚wild‘ oder ‚primitiv‘ nicht (allzu) herabsetzend gemeint sein dürften, suggerieren Konzept und Bild des Primitiven auch ihm eine Reihe von Analogien, die er in anthropologischem Kontext nicht immer kontrolliert einsetzt. Aus dem, was er über sogenannte Primitive „gehört“ (MS 119: 84) hat, und aus Überlegungen, denen er auch, aber nicht ausschließlich, bei Frazer begegnet, werden allmählich imaginäre Sprachspiele, die er einer bewusst fiktionalen „Art primitiver Menschen“ (MS 114: 100) zuschreibt; ‚primitive Stämme‘ gehören bei Wittgenstein vor allem zur Grundausstattung dieser ‚imaginären Anthropologie‘. Aber auch in den Frazer-Bemerkungen von 1931 prägt das Gleichnis Wittgensteins

 Siehe dazu unten S. 386 ff.  „[…] Darum ist es gut, wenn wir die Erscheinungen der Sprache an primitiven Verwendungsarten der Sprache studieren. An Formen und Verwendungen der Sprache wie sie das Kind gebraucht wenn es anfängt zu sprechen.“ (MS 115: 80) „Es hilft hier immer sich darauf zu besinnen, wie das Kind an solchen Sprachspielen sprechen lernt. Es hilft auch sich einen primitiven Volksstamm vorzustellen, der eine primitive Sprache besitzt. […]“ (MS 115: 88).

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Form der Darstellung. Als Bezeichnung für Menschen (und nicht für Gebräuche oder Anschauungen) kommt ‚primitiv‘ hier jedoch nur einmal vor; und während es in dieser Stelle noch um „das Charakteristische des primitiven Menschen“ (MS 110: 297) geht, will Wittgenstein später nicht bestimmte Stämme, sondern „den Menschen“ überhaupt „als ein primitives Wesen“ betrachten, als „|ein Wesen| in einem primitiven Zustande“ (MS 176: 35r; ÜG, § 475).

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied Die tastenden Reflexionen, mit denen Wittgenstein am 19. Juni 1931 seine ersten Bemerkungen über Frazer einleitet, zeigen seine ursprüngliche Absicht. Der Philosoph, der an einem neuen Buch arbeitet und oft über Titel und Incipit nachdenkt, erwägt hier, „mit Bemerkungen über die Metaphysik als eine Art der Magie zu beginnen“ (MS 110: 177).³¹ Er will also das Anliegen seiner philosophischen Untersuchungen programmatisch einführen, indem er „Metaphysik“ unter die Gattung „Magie“ subsumiert. Zwei Gedankengänge durchziehen dementsprechend diese erste Auseinandersetzung mit dem Golden Bough: 1) Einerseits werden Magie im engeren Sinn und Metaphysik auf dieselbe „Quelle“ zurückgeführt; damit wird begründet, warum Metaphysik zur Magie gehört; 2) andererseits ergeben sich, wenn nicht gerade eine differentia specifica, die aus der Metaphysik eine besondere „Art von Magie“ macht, so doch Eigentümlichkeiten, die die „magischen und religiösen Anschauungen der Menschen“ (MS 110: 178) von der Metaphysik unterscheiden. 1) Die westliche Philosophie und die Magie der sogenannten Wilden lassen verwandte Mythen und vereinfachte Vorstellungen erkennen. Der gleiche Symbolismus der Sprache, auf dem die Magie gründet, führt noch die Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts in die Irre. Die Kausaltheoretiker etwa vertreten eine ‚magische Theorie‘, und in Wittgensteins eigener Abhandlung habe „das Ausschalten jeder der Magie“ „den Charakter der Magie selbst“ (MS 110: 177) gehabt. Magie ist also selbst in unserer entzauberten Welt nur scheinbar überholt.³²

 Wittgenstein verwirft diese Reflexionen bald, er markiert sie mit dem für ihn üblichen Zeichen „∫“ („schlecht“ bzw. „schwach“) und nimmt sie in die maschinengeschriebene Synopse (TS 211) nicht auf (zu „∫“ als „schwach“ vgl. J. G. F. Rothhaupt in KrBu: 106). Zum Buchtitel siehe unten den Anhang, S. 401, und zum Incipit vgl. etwa MS 110: 10.  Frazer zufolge wird Magie erst von Religion und dann von Wissenschaft abgelöst. Wittgensteins Betrachtung scheint diesem Evolutionsschema zu widersprechen, und er meint sie vielleicht auch tatsächlich so. Aber der schottische Ethnologe, der seit dem ersten Jahrzehnt des 20.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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2) Bei magischen und religiösen Anschauungen darf man jedoch von Irrtum gar nicht reden: Nicht weil sie wahr sind, sondern weil es sich bei ihnen überhaupt nicht um Meinungen oder Theorien handelt; und nur Letztere können wahr oder falsch sein, nur bei ihnen lässt sich sinnvoll von einem Irrtum reden. Magie und Wissenschaft – wendet Wittgenstein gegen Frazer ein – liegen nicht auf derselben pragmatischen Ebene, und auf eigene Weise unterscheiden sich magische „Anschauungen“ nicht nur von wissenschaftlichen Theorien, sondern auch von metaphysischen. Wittgensteins kritische Analogie zwischen Metaphysik und Magie bezieht sich vor allem auf ihre gemeinsame „Quelle“: Sie gehen auf dieselben „Bilder“, Gleichnisse und Analogien zurück. Die Frage ist aber, ob und inwieweit derlei „Bilder“ in beiden Fällen ähnlich verwendet werden; das heißt genauer: Darf man auch bei magischen „Anschauungen“ von falschen, irreführenden „Bildern“ und Analogien reden? Werden Letztere (sowie im Allgemeinen die „Sprachlogik“) hier ähnlich missverstanden wie in der Metaphysik? Kann man sagen, dass der erste Gedankengang das gemeinsame Gattungsmerkmal von Magie und Metaphysik angibt, während es im zweiten um die differentia specifica geht, die aus der Metaphysik eventuell eine besondere Art von „Magie“ macht? So einfach und glatt geht es nicht; diese unfertigen Bemerkungen schlagen verschiedene Richtungen ein, sie ergeben nicht eine kohärente Position; und die zwei Gedankengänge, selbst wenn sie sich nicht unbedingt widersprechen, also keine Antinomie bilden, stehen zueinander in einer gewissen Spannung. Aber aus dieser Spannung entsteht allmählich etwas wesentlich Neues. Wittgensteins frühe Frazer-Kritik ist nicht sein letztes Wort. Sie bereitet eine differenziertere, reflektiertere Analyse der entsprechenden Phänomene vor.³³

Jahrhunderts bevorstehende gesellschaftliche Umwälzungen als Bedrohung empfindet, betont immer stärker, dass unter der dünnen zivilisatorischen Oberfläche gefährliche irrationale Kräfte schlummern und weiterwirken. Unterschiede in der geistigen Entwicklung sieht er auch innerhalb der europäischen Gesellschaften: Die ‚Wilden‘ sind unter uns, in den Vororten, auf dem Lande, in den unteren Schichten. In dieser Situation wird Frazer in mancher Hinsicht zum advocatus diaboli, d. h. des Aberglaubens: Er will dessen positive zivilisatorische Funktion in Urzeiten und dessen stabilisierende Funktion noch in der Gegenwart herausstellen. Der ursprüngliche Titel von Psycheˈs Task war The Devilˈs Advocate.  Siehe dazu S. 353 ff.

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2.1.1 Der erste Gedankengang: Metaphysik als eine „Art der Magie“ 2.1.1.1 „Die magische Auffassung der Zeichen statt der logischen“. Ogden, Richards und der Glaube an die „Macht der Worte“ Mit dem Vergleich von Metaphysik und Magie knüpft Wittgenstein an seine kritischen Betrachtungen über die Kausaltheorie der Bedeutung an. Sie stellen bereits vor der Lektüre des Golden Bough ein metaphorisches Junktim von Magie und Philosophie her; denn sie lehnen die Kausaltheorie als eine ‚magische‘ Auffassung von Zeichen und Bedeutung ab. Die Metaphorik geht auf Ogden und Richards selbst zurück: Sie setzen ihre kausale Theorie einer „magical theory“ (MoM: 360) entgegen.³⁴ Der Metaphysik und insbesondere traditionellen und zeitgenössischen Sprachtheorien schreiben sie (und mit ihnen der Ethnologe Malinowski) eine „magical attitude towards words“ zu.³⁵ Sie sehen in der Macht der Worte die Vorstellung, die der Magie im engeren Sinne ebenso zugrunde liegt wie den ‚magischen‘ Theorien der Bedeutung. Im Kapitel „The power of words“ wird die These durch eine umfassende geistes- und philosophiegeschichtliche Rekonstruktion untermauert. ‚Magische Theorie‘ ist bei Ogden und Richards also nicht bloß eine Redewendung. Wie dann auch Wittgenstein entdecken sie die magische Einstellung zur Sprache noch überall. „The persistence of the primitive linguistic outlook not only throughout the whole religious world, but in the work of the profoundest thinkers,

 Die Verbreitung des Ausdrucks „magische Theorie“ in der Philosophie der letzten Jahrzehnte (z. B. bei H. Putnam) geht also auf Wittgenstein und über ihn zuletzt auf Ogden und Richards zurück. Allerdings sind damals Reflexionen über die „Magie der Sprache“ sehr verbreitet (vgl. Benjamin 1991: 142 f.). Zu Wittgensteins kritischer Auseinandersetzung mit Ogden und Richards vgl. Hilmy 1987, § 4, „Language Games: the Logical versus the Magical Views of Signs“, insbes. S. 109 ff. Hilmy geht in seiner Analyse des Gegensatzes zwischen logischer und magischer Auffassung jedoch nicht auf die Gründe ein, aus denen Wittgenstein Ogdens und Richards’ Kausaltheorie der Bedeutung als eine magische Theorie bezeichnet. Zu Wittgenstein und The Meaning of Meaning vgl. auch Hark 1990: 25 ff.; Hacker 1996: 26 ff.; Engelmann 2013a: 65 ff.  Diese polemische Zielscheibe spielt in der Architektur von The Meaning of Meaning eine äußerst bedeutsame Rolle. Dem Thema ist das zweite Kapitel „The Power of Words“ gewidmet. In der ersten Ausgabe, die Ogden Wittgenstein hat zukommen lassen (siehe unten S. 79, Anm. 42), ist dieses Kapitel viel länger als in den späteren. (Diese ursprüngliche Fassung ist auch in Ogden/Richards 1994 (=MoM) enthalten). Es wurde in der zweiten Ausgabe von 1926 wesentlich gekürzt. Ogden, der Hauptautor dieses Kapitels, wollte das Thema in einem dann nie erschienenen Buch über Word Magic ausführlich behandeln. (Zu seinen zwei Aufsätzen für die Zeitschrift Psyche vgl. die editorische Vorbemerkung zum zweiten Kapitel in MoM: 33.) Bei Ogden sind ‚the power of words‘, ‚the magic of words‘, ‚word-magic‘ und ‚verbalism‘ nicht nur in The Meaning of Meaning austauschbare Ausdrücke (so der Herausgeber in MoM: xxi, Anm. 12). – Zu Malinowskis Aufsatz (Malinowski 1994) siehe unten S. 349 ff.

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is indeed one of the most curious features of modern thought.“ (MoM: 42) Ogden und Richards leiten ihr Panorama über die Macht der Worte mit einem Frazer-Zitat ein: Die von uns belächelten primitiven Aberglauben leben fort, heißt es in Psycheˈs Task,³⁶ und Ogdens und Richards‘ sprachphilosophische Zusammenschau bestätigt diese allgemeinere These: Die verbal magic wirkt in zeitgenössischen Theorien weiter und nimmt dabei neue Gestalten an, subtiler und gerade deshalb verfänglicher als die früheren „cruder forms“ (MoM: 87).³⁷ Vor allem aber hat sich die word magic – eine ähnlich universelle Kategorie wie Frazers ‚Magie‘ – in unserer Sprache abgelagert. „We may smile at the linguistic illusions of primitive man, but may we forget that the verbal machinery on which we so readily rely […] was set up by him […]“ (MoM: 38). Ogden und Richards verstehen unter word magic „the primitive idea that Words and Things are related by some magic bond“ (MoM: 124). „[T]he savage“ – schreibt Frazer am Anfang des Abschnitts Personal Names Tabooed – „commonly fancies that the link between a name and the person or thing denominated by it is not a mere arbitrary and ideal association, but a real and substantial bond which unites the two […]“ (FGB 1922: 244).³⁸ Frazer variiert hier Tylors kanonische Definition: Magie verwechselt eine ideelle Verbindung mit einer substantiellen, eine gedachte Verknüpfung mit einer wirklichen.³⁹

 „Superstitions survive because […] they are still in harmony with the thoughts and feelings of others, who […] remain barbarians and savages at heart.“ (Frazer 1909: 169; zit. in MoM: 36). Ogden und Richards zitieren anschließend auch einen der von Frazer beeinflußten Cambridge Ritualists, F. M. Cornford (Cornford 1912: 45; vgl. MoM: 37).  „The power of words is the most conservative force in our life.“ (MoM: 37) Die Einschätzung, dass die subtileren (‚sublimierten‘) Formen verfänglicher sind als die roheren, teilen Ogden und Richards mit Frazer (siehe dazu unten S. 108, insbes. Anm. 108) – und mit Wittgenstein.  Ogden und Richards erwähnen Frazer über word taboos (MoM: 40) und beziehen sich auch auf Malinowskis Argonauts, und zwar auf Kapitel 17 „Magic and the Kula“ (MoM: 67 ff.). Kapitel 18 „The Power of Words in Magic – Some Linguistic Data“ hat einen ähnlichen Titel wie Ogdens und Richardsˈ zweites Kapitel. (In dem The Meaning of Meaning beigegebenen Aufsatz verweist Malinowski auf beide Kapitel seiner Argonauts. Vgl. Malinowski 1994: 476.) Malinowski pflichtet Ogden und Richards bei; „the primitive, magical attitude towards words is responsible for a good deal in the general use and abuse of language, more especially in philosophical speculation“ (Malinowski 1994: 475); die in Letzterer geläufige „false attitude towards words“ ist demnach „derived from the primitive, magical uses of language“ (Malinowski 1994: 453). Malinowski, der hier Frazer nicht anführt, knüpft an dessen Auffassung von Magie als wirksamem Symbol an – M. Douglas (1988: 80) zufolge unkritisch. Dass Malinowskis Methodik und Einstellung zu denen Frazers z.T. antipodisch sind, schließt nicht aus, dass einige, und nur einige, der von ihnen vertretenen Theorien Ähnlichkeiten aufweisen. Zu den Besonderheiten von Malinowskis Beitrag in The Meaning of Meaning siehe unten S. 351, Anm. 36.  Zu Tylor vgl. Tambiah 1990: 45.

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Im Anschluss an Humes Assoziationsgesetze unterscheidet Frazer zwei Formen von Magie (die zusammengenommen die ‚sympathetische Magie‘ bilden): Sie verwechseln jeweils eines der ersten zwei humeschen Prinzipien mit dem dritten, d. h. Ähnlichkeit und Kontiguität mit Kausalität. Beide Formen von Magie missdeuten also subjektive Assoziationen als objektive kausale Verhältnisse: Die homöopathische oder imitative Magie schreibt Ähnlichkeiten, die Übertragungsmagie (contagious magic) Kontiguitäten/Berührungen eine kausale Macht zu. „Men“, so Frazer, „mistook the order of their ideas for the order of nature, and hence imagined that the control which they have, or seem to have, over their thoughts, permitted them to exercise a corresponding control over things.“ (FGB 1922: 105) Dieselbe Verwechslung von idealen (symbolischen) mit realen (kausalen) Verbindungen betonen auch Ogden und Richards: Das Wort ist mit dem Gegenstand magisch verbunden (bzw. mit ihm eigentlich eins), es hat Macht über ihn. Dieser Glaube an words of power ist die wesentliche Täuschung der verbal magic. Wie bei Frazer ist ‚Magie‘ hier im Wesentlichen falsche Kausalität: Der Sprache wird eine Macht zugeschrieben, die sie nicht hat. Wie überlebt nun diese primitive Vorstellung in den magischen Theorien der Gegenwart? Der Magie bezichtigen Ogden und Richards jede Auffassung, die eine direkte Verbindung zwischen Zeichen und Gegenstand unterstellt. Derlei Theorien sind ‚magisch‘, weil sie die wirklichen kausalen Verhältnisse übersehen und stattdessen eine vermeintliche unmittelbare (‚magische‘) Beziehung zwischen Symbol und Referent annehmen. Diesen ‚dyadischen‘ Theorien setzen Ogden und Richards eine triadische Zeichenauffassung entgegen. Symbol und Referent stehen demnach nur in indirekter kausaler Beziehung. Sie sind nur über ein Mittelglied miteinander verbunden, Peirces Interpretanten, den sie Gedanken (thought) oder reference nennen. Statt der vermeintlichen Beziehung (imputed relation) zwischen Symbol und Referent bestehen also zwei kausale Beziehungen: Das Symbol symbolisiert den Gedanken, und der Gedanke bezieht sich auf (refers to) den Referenten. In dem berühmten Dreieck werden Symbol und Referent durch den Gedanken bzw. durch die „Interpretation“ vermittelt, und diese ist eine „psychologische Reaktion“, ein kausaler Prozess, der nur dank einem (kausalen) Kontext im Sinne von Pavlovs Psychologie zustande kommt. Deshalb nennen Ogden und Richards ihre Kausaltheorie auch „contextual theory of reference“ (MoM: 156).⁴⁰ Selbst wenn sie an anderer Stelle Wittgensteins „mysticism“ (MoM: 176) kritisieren, zählen sie die Philosophie der Abhandlung nicht explizit zu den Be-

 Ogdens und Richardsˈ triadische Zeichenauffassung geht im Wesentlichen auf Peirce zurück; unverkennbar ist auch die Anlehnung an Russells Analysis of Mind.

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deutungstheorien, die den Worten eine ‚magische‘ Kraft zuschreiben. Aber sie gehört offensichtlich zu den ‚dyadischen‘ Auffassungen, und diese sind laut The Meaning of Meaning allesamt magischer Natur.⁴¹ Wittgenstein, der schon 1923 unmissverständlich seine Geringschätzung für ihr „miserables Buch“⁴² geäußert hatte, verteidigt im Februar 1930 seine „BildAuffassung“ gegen ihre Kritik. Er dreht den Spieß um: Nicht die logische, sondern die kausale Auffassung deute die ‚Bedeutung der Bedeutung‘ ‚magisch‘. Nun verstehen aber er und die Autoren von The Meaning of Meaning unter ‚magisch‘ jeweils etwas anderes: ‚Magisch‘ ist bei Ogden und Richards – wie bei Frazer – eine abergläubische Kausalität im Gegensatz zur tatsächlichen, empirisch feststellbaren. Hier ist ‚magisch‘ der Gegenbegriff zu ‚wissenschaftlich‘: Die magischen Theorien werden durch die new science of symbols überholt. Die Kausaltheorie der Bedeutung ist nämlich ein naturalistischer Ansatz, der keine strenge Trennungslinie zwischen Erfahrungswissenschaft und Philosophie zieht. Wittgenstein ist dagegen darauf bedacht, zwischen wissenschaftlichen und philosophischen Problemen streng zu unterscheiden: Gerade weil die Kausaltheorie diesen Grundunterschied nicht beachtet, verfällt sie in seinen Augen einer magischen Auffassung von Bedeutung. Die Kausaltheorie verwechselt ihm zufolge reale und ideale Verbindungen, kausale und logische, und zwar in beide Richtungen. Erstens missdeutet sie interne (logische) Relationen, so als seien sie lediglich externe (empirische). Zweitens macht sie aus externen Relationen interne, aus kausalen logische. Sie will also kausale Betrachtungen dort zur Geltung bringen, wo nur ‚logische‘

 Zu Ogdens und Richardsˈ Auseinandersetzung mit Wittgensteins Abhandlung vgl. MoM: 372 ff. In The Power of Words erklären sie, „[t]he modern logician may, in time to come, be regarded as the true mystic, […]“ (MoM: 87). Ogden und Richards spielen hier nicht unbedingt primär auf Wittgenstein an, von dessen „mysticism“ (MoM: 176) ein späteres Kapitel Abstand nimmt; The Power of Words sieht in einem anderen Philosophen den Hauptvertreter philosophischer Wort-Magie im zwanzigsten Jahrhundert: im frühen Bertrand Russell und allem voran in dem ‚neuplatonischen‘ Philosophen der Principles (MoM: 42 f.). Möglicherweise ist der zitierte Satz eine ironische Anspielung auf Russells Gegensatz von Mysticism and Logic (das Buch wird auf S. 43 angeführt). Auf jeden Fall sehen Ogden und Richards in logischen Auffassungen den aktuellen ‚magischen‘, ‚mystischen‘ Gegenpol ihrer kausalen Theorie. – Zu Ogdens Äußerungen über die Abhandlung in seinem Briefwechsel mit Russell vgl. Hilmy 1987: 111 f.  So in einem Brief an Russell vom 7. April 1923. Ogden, der englische Herausgeber des Tractatus, korrespondierte mit Wittgenstein und ließ ihm auch The Meaning of Meaning zukommen. „ I think“ – so Wittgensteins Antwortbrief vom März desselben Jahres 1923 – „I ought to confess to you frankly that I believe you have not quite c a u g h t t h e p r o b l e m s which – for instance – I was at in my book (whether or not I have given the correct solution)…“ (CCO: 69). Zu diesem und weiteren Belegen vgl. Hilmy 1987: 111 f. – Richards besuchte gelegentlich Wittgensteins Vorlesung (vgl. PPO: 341).

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weiterhelfen können. Deshalb ist sie eine ‚magische Theorie‘. Denn magisch ist nicht allein die unmittelbare Zuordnung von Zeichen und Gegenstand, wie die Kausaltheoretiker meinen, sondern auch die kausal vermittelte; Zeichen wirken nämlich nicht rein kausal – nicht wie eine Droge, eine Medizin, ein Schlafmittel oder ein Schlag. Ein Zeichen, das so wirken würde, wäre ein magisches Zeichen, einem Talisman vergleichbar. „Das magische Zeichen würde wirken wie eine Droge, und für sie wäre die Kausaltheorie richtig./völlig zureichend./“ (MS 109: 90; TS 211: 354; vgl. TS 213: 40)⁴³ „Die Zeichen des Satzes sind ja nicht Talismane oder magische Zeichen die auf den Betrachter einen bestimmten Eindruck hervorrufen sollen.“ (MS 109: 77; vgl. TS 211: 352)⁴⁴ Es kommt nicht auf den kausalen Kontext, sondern auf den formalen Zusammenhang an: auf das „System“. „Weil das allgemeine Zeichen der Regel ja nicht magisch wirkt, sondern nur insofern Sinn hat als es auf eine Stelle eines Systems zeigt.“ (MS 110: 126)⁴⁵ D. h., auf eine Stelle im Gegensatz zu anderen, auf eine Regel „im Gegensatz zu anderen Regeln“ (MS 110: 126). Man kann ein Zeichen nicht für sich allein verstehen. Das Zeichen hat nur insofern Sinn, als es ein Glied in einem System ist, ein Zug in einem Spiel. Diese ist die logische Auffassung des Zeichens. Im Vergleich zu ihr ist die kausale Theorie von Bedeutung und Verstehen eine magische. Extrem wichtig auch für die Deutung der ersten Bemerkungen über den Golden Bough ist, dass Wittgenstein damals über Begriffe wie Sprachspiel und Lebensform noch nicht verfügt. Gegen jene magischen Auffassungen kann er dem-

 „Das magische Zeichen“ (MS 109: 90): Gemeint ist das Zeichen überhaupt, wie es „die magische Auffassung der Zeichen statt der logischen“ (MS 109: 89) auffasst: Wittgensteins Beispiel für diese „irrige Auffassung“ ist, „wenn ein Philosoph glaubte einen Satz mit roter Farbe drucken lassen zu müssen da er erst so ganz das ausdrücke was der Autor sagen wolle.“ (MS 109: 89) – Wittgenstein setzt magische und pneumatische Auffassungen nie explizit gleich. Aber die pneumatische Auffassung des Denkens lässt sich mühelos zu den magischen rechnen; und „die unschuldige pneumatische Auffassung“ (MS 116: 332) gehört zu den im Grunde harmlosen ‚primitiven Bildern‘, die erst dann verfänglich werden, wenn Philosophen sie zu Theorien ‚sublimieren‘. Wittgenstein scheint das Adjektiv ‚pneumatisch‘ erst in der Zeit nach seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough verwendet zu haben (genauer, wenn ich nicht irre, ab MS 113). Die Betrachtungen über das Pneumatische setzen diejenigen über das Magische fort und lösen diese z.T. ab. Das Pneuma ist im Untergang des Abendlandes eine Grundanschauung der ‚magischen Kultur‘ (vgl. McGuinness 2008: 149); und Joachim Schulte nimmt an, Wittgensteins Konzept des Pneumatischen hänge auch mit seiner Spengler-Lektüre zusammen. Vgl. Schulte 2006, zu Spengler insbes. S. 40 ff. Zur ‚magischen Welt‘ bei Spengler vgl. Orsucci 2012, insbes. S. 275 – 314.  Wenn Wittgenstein z. B. erklärt, dass das „Zeichen der allgemeinen Regel“ „(wieder) nicht magisch wirkt oder wie ein medizinisches Mittel“ (MS 109: 222), betrachtet er magische und kausale Wirkung – magische und kausale Theorie der Bedeutung – als einerlei.  Vgl. Rhees 1979: 40.

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entsprechend nur die Rolle des Zeichens bzw. des Satzes im System betonen, während er später – erst später – gegen die Vorstellung, dass der Satz eine „Seele“, die Worte eine „magische Kraft“ haben (MS 121: 18r), deren „Funktion im Sprachspiel“ zur Geltung bringt.⁴⁶ Hier wird also die Praxis, der Handlungszusammenhang viel deutlicher akzentuiert, und das ist – auch – ein Ergebnis seiner kritischen Auseinandersetzung mit Frazer. Bereits Ogden und Richards stellen logische und kausale Auffassung einander gegenüber. Wittgenstein folgt ihnen, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Sie betrachten die logische Auffassung als die zeitgemäße Version der magischen (oder mystischen).⁴⁷ Für Wittgenstein wiederum ist die kausale Auffassung selbst die magische. Wichtig – und in der Literatur über Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazer nicht oder zu wenig beachtet – ist also, dass der Ausdruck ‚magische Auffassung‘ bzw. ‚Theorie‘ für Unterschiedliches, ja Entgegengesetztes stehen kann.⁴⁸ A) Bei Ogden und Richards enthalten ‚magische Theorien‘ eine falsche (unmittelbare) Kausalität, auch und v. a. zwischen Zeichen und Gegenstand (‚magische‘ Macht der Worte und Symbole). B) Für Wittgenstein ist die Kausaltheorie selbst eine ‚magische Auffassung‘, weil sie den Unterschied zwischen Kausalität und Logik nicht beherrscht und kausale Betrachtungen dort ins Spiel bringt, wo sie nicht hingehören. (‚Sprachmagie‘ betrachtet auch er indes als eine allgemeine Tendenz, der mit den Kausaltheoretikern auch der Autor der Abhandlung, zuweilen Frege und potentiell alle Philosophen verfallen.) Er bezieht sich z.T. auf dieselben sprachlichen Täuschungen (vermeintliche Entitäten usw.) wie Ogden und Richards, und auch bei ihm ist die direkte Verbindung von Namen und Gegenstand eine magische Auffassung: „One could almost imagine that naming was done by a peculiar sacramental act, and that this produced some magic relation between the name and the thing.“ (D 310: 146; BBB: 171) „Denk daran an welche |daß Menschen an eine so| innige Verbindung zwischen Namen und Benannten glauben Magie |daß sie| mit Namen Magie treiben, können um dem Benannten zu schaden.“ (MS 179: 15r)⁴⁹  „Ich will, daß Du Dir bewußt wirst, daß die Worte nur Worte sind. ‚Daß ihnen keine magische Kraft innewohnt‘ – möchte ich sagen. […] Ich möchte, daß Du den Übergang machst von der Seele des Satzes zu seiner Funktion im Sprachspiel.“ (MS 121: 18r)  Auch Neurath urteilt über die Logik ähnlich, wenn sie von den Wissenschaften getrennt wird; diese von der Empirie isolierte Logik ist ihm zufolge aber eher mit der Theologie verwandt als mit der Magie: Der Grund ist, dass Neurath mit Frazer Letztere als Technik auffasst und von ihr deshalb eine bessere Meinung hat als Ogden und Richards. Vgl. dazu Brusotti 2011.  Zu Phillips’ zu einfacher Vorstellung einer magischen Theorie der Bedeutung siehe unten S. 182 f., insbes. Anm. 269.  Zu dieser Aufzeichnung siehe unten S. 160, Anm. 228, und zur Magie mit Namen auch S. 87 f.

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Ogden und Richards kommt es auf den für den ‚Logiker‘ Wittgenstein entscheidenden Unterschied zwischen Irrtum und Unsinn nicht an.⁵⁰ Sie trennen nicht strikt zwischen kausalem und begrifflichem Aspekt, zwischen falscher Kausalerklärung (Unwissenheit um die Ursache) und sprachinduzierter Begriffsverwirrung: Der sprachliche Symbolismus verleitet dazu, illusorische Wesenheiten wie die ‚Seele‘ anzunehmen; und da diese als imaginäre Ursachen fungieren, führen sprachliche Verwechslungen zu Irrtümern, zu (empirisch) falschen Theorien. Für Wittgenstein wiederum sind Scheinsätze über illusorische Entitäten, selbst wenn Letztere als imaginäre Ursachen auftreten, nicht falsch, sondern sinnlos, mithin gar keine kausalen Erklärungen, nicht einmal falsche. Der ‚Irrtum‘ ist hier nicht durch empirische Erkenntnisse zu berichtigen, sondern nur durch eine philosophische Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache. (Ogden und Richards dagegen betrachten die Semiotik, zu der die Sprachkritik gehört, als wissenschaftliche Theorie.) Dies gilt für die ‚magischen Theorien‘ in der Philosophie. Ob es bei der ‚Magie‘ um dieselben Irrtümer und überhaupt um Irrtümer geht, steht in der Auseinandersetzung mit Frazer gerade zur Debatte.

2.1.1.2 Die Magie in der Logik des modernen Menschen. Wittgenstein über die Logisch-philosophische Abhandlung Als Wittgenstein sich im Februar 1930 mit Ogdens und Richards’ Kausaltheorie auseinandersetzt, meint er noch nicht, seine eigene Abhandlung vertrete eine magische Auffassung. Im Sommer 1931 denkt er in dem Punkt deutlich anders: Die ursprüngliche Einleitung zu den Bemerkungen über den Golden Bough verhehlt seine Skepsis gegenüber dem ‚Höheren‘ nicht. Nun gerät auch seine frühere Philosophie in den Verdacht der Magie – allerdings nicht aus denselben Gründen wie die Kausaltheorie. In dem kurzen, dann verworfenen Vorspann kommt eine ambivalente Einstellung zum Ausdruck. Wittgenstein zieht eine Parallele zwischen Frazers Forschungsgebiet und dem Gegenstand seiner eigenen Untersuchungen: Auch der Philosoph behandelt „eine Art der Magie“: die Metaphysik. Frazers grobe Erklärungen jedoch werden dem tieferen Sinn magischer Gebräuche nicht gerecht; und

 Dasselbe gilt auch für Paul Ernst (oder Frazer). Siehe unten S. 117 ff. – Verworrene Vorstellungen über die Kausalvorgänge und begriffliche, sprachliche Verwirrung schließen indes auch für Wittgenstein einander nicht aus. Im Gegenteil. Eine „Unklarheit“ kann „zwei Teile“ haben, einen empirischen und einen begrifflichen, wie der Philosoph am Beispiel des Ankers und der Dampfmaschinen erläutert (vgl. MS 112: 118r, 118v). Die Frage, inwieweit der späte Wittgenstein zwischen empirischer Unwissenheit und begrifflichem Missverständnis mögliche Zwischenstufen annimmt, wird uns unten, S. 353 ff., eingehend beschäftigen.

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auf diese Weise möchte Wittgenstein in seiner Betrachtung der Metaphysik nicht scheitern. Was Frazer „Magie“ nennt, gehört für Wittgenstein von Anfang an in den ethischen und religiösen Bereich. Er nimmt zur Magie (im wörtlichen und im übertragenen Sinn) dieselbe Einstellung ein wie zur Ethik. Letztere ist – hatte er im Vortrag von 1929 erklärt – „a document of a tendency in the human mind“ (und zwar der absolut hoffnungslosen „tendency“, „to run against the boundaries of language“), „which I personally cannot help respecting deeply and I would not for my life ridicule it.“ (LE: 44) 1931 heißt es nun, er wolle „weder der Magie das Wort reden, noch [s]ich über sie lustig machen“, und Wittgenstein nimmt sich sogar vor: „Von der Magie müßte die Tiefe beibehalten werden.“ (MS 110: 177) Diese Absichtserklärung, mit der er sich implizit von Frazer absetzt, gilt für jede Art der Magie – auch für die Metaphysik.⁵¹ Worin sieht Wittgenstein den „Zusammenhang der Metaphysik mit der Magie“ (MS 110: 200)? Der Metaphysik zufolge, d. h., „in/nach/ der alten Auffassung – etwa der[] der (großen) westlichen Philosophen“, hat es „zwei Arten von Problemen/zweierlei Probleme/ |im wissenschaftlichen Sinne| gegeben“: „wesentliche, große, universelle, und unwesentliche, quasi accidentelle Probleme.“ (MS 110: 200; vgl. TS 211: 246 f.) Die Metaphysik, die erste Wissenschaft, ist in ihrem Selbstverständnis für die ersteren zuständig, die empirischen Wissenschaften für die letzteren. „Und dagegen ist unsere Auffassung, daß es kein g r o ß e s , wesentliches Problem im Sinne der Wissenschaft gibt.“ (MS 110: 200; TS 211: 247) Schon die Abhandlung verneint, dass es etwas wie das „Rätsel“ (TLP 6.5) gibt. Das Buch – so das Vorwort – „behandelt die philosophischen Probleme und zeigt […], daß die Fragestellung dieser Probleme auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruht.“ Damit meint der frühe Wittgenstein, die philosophischen Probleme „im Wesentlichen endgültig gelöst“ und zugleich gezeigt zu haben, „wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind.“ (TLP, Vorwort) Da es das „Rätsel“ nicht gibt und die philosophischen Probleme gelöst sind, bleiben, sieht man von der Mathematik und von technischen Problemen der logischen Analyse ab, nur die Probleme der Erfahrungswissenschaften.

 „Don’t think I despise metaphysics or ridicule it. On the contrary, I regard the great metaphysical writings of the past as among the noblest productions of the human mind.“ (Drury 1978: 68) Die eigene frühere ‚Magie‘ beurteilt Wittgenstein rückblickend ähnlich wie die Metaphysik: theoretisch unhaltbar, aber ethisch nachvollziehbar und nicht ohne „Tiefe“. Wie über ‚Magie‘ will sich Wittgenstein auch über Religion „nicht lustig“ machen, ja „den Hut davor“ ziehen (WWK: 118; 17.12.1930). – Zur „Tiefe“ in den späten Bemerkungen über den Golden Bough siehe unten S. 306 f., 314 ff.

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Die philosophischen Probleme und ihre eigenartige Tiefe führt Wittgenstein noch 1931 auf ein Missverständnis der Sprachlogik zurück; die einzigen echten Probleme „im Sinne der Wissenschaft“ (MS 110: 200) sind weiterhin die angeblich unwesentlichen der Erfahrungswissenschaften; denn die universellen Probleme, mit denen der Philosoph ringt, sind eher Beunruhigungen, begriffliche Schwierigkeiten (puzzles), sprachliche Verwechslungen; und nach der Abhandlung hat Wittgenstein einsehen müssen, dass sie alles andere als gelöst sind. Zwar schaltet bereits die Idee, dass es kein metaphysisches „Rätsel“ gibt, die Magie aus; aber Wittgenstein erklärt jetzt selbstkritisch, in der Abhandlung habe gerade „das Ausschalten jeder/der/Magie“ „den Charakter der Magie selbst“ (MS 110: 177) gehabt.⁵² Nicht die Metaphysik allein, auch seine damalige MetaphysikKritik sei magischer Natur gewesen; sie teile auf eigene Weise noch den ‚metalogischen‘ Ansatz der Metaphysik. „Allgemeine Ausführungen über die Welt und die Sprache gibt es nicht“ (MS 110: 201 f.). Eigentlich verneint bereits die Abhandlung, dass es derlei Ausführungen gibt: Sie besteht zwar daraus; aber sie erweisen sich allesamt als sinnlose Pseudosätze: Sie versuchen, etwas zu sagen, was nur gezeigt werden kann, und der Autor will sie zuletzt wie eine Leiter hinter sich lassen. Aber gerade in der Art, wie er seinen ‚Sätzen‘ einen Sinn abspricht, besteht die ‚Magie‘ der Abhandlung; so wird die Magie magisch ausgeschaltet. Die Auffassung, dass „Welt“, „Satz“, „Bedeutung“ formale Begriffe sind, mit denen etwas gezeigt wird, was nicht gesagt werden kann, schaltet die Metalogik metalogisch, die Metaphysik metaphysisch aus.⁵³ 1931 nimmt Wittgenstein ausdrücklich Abstand von der Art, wie er damals „von der ‚We l t ’“ „(und nicht von diesem Baum oder Tisch)“ (MS 110: 178) geredet hatte; mit derlei (angeblich) formalen Begriffen habe er – nicht anders als die magische Denkweise – „etwas Höheres in [s]eine Worte bannen“ (MS 110: 178) wollen. Dass Sätze „nichts Höheres ausdrücken“ (TLP 6.42) können, wusste bereits der Autor der Abhandlung; gemeint war damit aber nur, dass es keine Sätze der Ethik gibt. 1931 wiederum scheint Wittgenstein auch die Metalogik etwas Höheres in die Sprache bannen zu wollen. Das Reden von der Welt und ihrem Wesen stellt sich ihm nun als „Magie“ heraus: „Welt“, „Satz“ oder „Bedeutung“ seien Aus-

 Auf ähnliche Weise merkt schon Ramsey kritisch an, der Tractatus enthalte ein metaphysisches Argument, nämlich, dass alle metaphysischen Argumente sinnlos seien.  Sprachgebilde wie ‚a ist ein Gegenstand‘ versuchen etwas zu sagen, was nur gezeigt werden kann. ‚Gegenstand‘ ist nämlich ein formaler Begriff, also eigentlich eine Variable, und interne Eigenschaften sind keine Prädikate. Ob ‚a‘ ein ‚Gegenstand‘ ist, zeigt die im Symbolismus verwendete Variable. Über logische Syntax kann nicht geredet werden, sie zeigt sich im Symbolismus.

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drücke wie alle anderen auch und nicht formale Begriffe bzw., wie es später heißt, „metalogische Worte“ (MS 116: 2).⁵⁴ Metalogik ist der Versuch, eine „Über-Ordnung zwischen – sozusagen – ÜberBegriffen“ (PU, § 97) zu erstellen. „Während die Worte ‚Welt‘, ‚Sprache‘, ‚Erfahrung‘ etc. |d. h.| ihre Bedeutungen so hausbacken sind wie die Wörter Tür, Tisch, Lampe – und unsere Probleme ihre (eigenartige/eigentümliche/) Tiefe nicht daher beziehen/haben/, daß sie nach dem Wesen der Sprache fragen, sondern daher, daß sie Sprachfallen sind.“ (MS 157a: 52r)⁵⁵ Die „(eigenartige) Tiefe“ philosophischer Probleme ist keine metaphysische: Sie sind weder metalogische Fragen nach dem „Wesen der Sprache“ (MS 157a: 52r) noch wesentliche Probleme „im Sinne der Wissenschaft“ (MS 110: 200). Bereits in der ersten Auseinandersetzung mit Frazer artikuliert sich das, was Wittgenstein unter ‚Tiefe‘ versteht, nicht mehr im Rahmen einer Metalogik. Dieses neue Verständnis beginnt sich 1931 erst anzubahnen, aber schon damals steht die ‚Tiefe‘ nicht mehr einfach für das Mystische, für das Höhere der Abhandlung, sie deutet nicht auf Unsagbares, Unaussprechliches. Kann man nun aber die Tiefe der Magie wirklich „beibehalten“ (MS 110: 177), wie Wittgenstein möchte? Und zwar, ohne unter ‚Tiefe‘ etwas Magisches, d. h. Metalogisches, zu verstehen und – anders als in der Abhandlung – ohne die Magie magisch auszuschalten? Das Vorhaben, die Tiefe zu bewahren, scheint merkwürdigerweise gerade dort schwer zu verwirklichen, wo „Magie“ eine Metapher für die Metaphysik ist. Die einzige Aufgabe der Philosophie – ihre „Verbindung mit Göttern“ – besteht nämlich darin, dass sie die genannten tiefen Beunruhigungen aus der Welt schafft.⁵⁶ Denn so tief Letztere gehen mögen, so bedeutungslos sind  Diese kritische Selbstinterpretation widerspricht Conants und Diamonds Lektüre der Abhandlung (zu Wittgensteins Selbstinterpretationen im Allgemeinen vgl. Hacker 2000: 378 ff.). Ihre Lesart kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn man Wittgenstein von seiner Rückkehr nach Cambridge an eine systematische Selbstmissdeutung unterstellt. Dazu besteht jedoch kein Anlass, auch wenn es in seiner Selbstkritik Gedächtnislücken und Vereinfachungen gibt.  Diese Aufzeichnung ist eine ‚Vorstufe‘ von PU, § 97 (vgl. PUKG: 136, Anm. 11), und PU, § 97 ist die endgültige Fassung auch der erläuterten Reflexionen von 1931. In den Untersuchungen kommt der Ausdruck „Metalogik“ zwar nicht mehr vor, aber das „Meta“/„Über“ ist hier in der „Über-Ordnung zwischen – sozusagen – Über-Begriffen“ (PU, § 97) enthalten. Zum „Über-System“ vgl. MS 121: 38v; BGM: 134. Zur „Metalogik“ vgl. etwa MS 110: 189, 201 ff. Zum „Zauber“ bzw. „Nimbus“ metalogischer Worte vgl. WLP: 123 und insbes. den § „Die metaphysische Aura einiger Wörter“: 128 ff.  „Die einzig würdevolle Aufgabe der Philosophie ist: den alten Götzen (der) Philosophie zu zerstören. (D. h., ihre einzige Verbindung mit Göttern.)“ (MS 112: 113v) „Alles, was die Philosophie tun kann ist, Götzen zerstören. Und das heisst, keine neuen – etwa in der ‚Abwesenheit eines Götzen‘ – zu schaffen.“ (TS 213: 413; vgl. TS 212: 1133; MS 112: 10v) Zwar erklärt Wittgenstein selbstkritisch, in der Abhandlung habe gerade „das Ausschalten jeder/der/Magie“ „den Cha-

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die Fragen unter rein theoretischem Gesichtspunkt.⁵⁷ Es ergibt sich also das Problem: Wenn die Sprachfallen“ (MS 157a: 52r) beseitigt sind, ist dann die Tiefe der Metaphysik nicht ebenfalls dahin? Und zwar nicht nur ihre ‚metalogische‘ Tiefe, sondern auch die tiefe Beunruhigung, die von diesen Sprachfallen ausgeht? Genau dieselbe „philosophische Tiefe“ kennzeichne auch „einen grammatischen Witz“ (MS 110: 176 f.);⁵⁸ etwa in „den grammatischen Spielen Lewis Carrolls“ offenbare sich nämlich die „Wichtigkeit der Grammatik“ und damit die „Wichtigkeit der Sprache“ (MS 110: 176).⁵⁹ Die „Formen unserer Sprache“ – erläutert die endgültige Fassung – „wurzeln“ „tief in uns“; deshalb führen Missverständnisse, die diese Wurzeln berühren, zu „tiefe[n] Beunruhigungen“, den philosophischen Problemen, und Letztere haben „den Charakter der Tiefe“ (PU, § 111).⁶⁰ „Das tiefe Problem lag sozusagen gerade darin, daß wir uns in der alten Ausdrucksweise ungemütlich fühlten (und das Gefühl der Ungemütlichkeit, wenn es sich auf die Sprache bezieht, ist ein tiefes).“ (VW: 72) Wie tief ein philosophisches Problem ist, aber auch eine Dichtung oder ein Musikstück, kann erst eine dichte Beschreibung zeigen, in der das entsprechende System, das Sprachspiel, die Technik und die Lebensform mit beschrieben werden; jene ‚Tiefe‘ ist von alledem nicht zu trennen, sie zeigt sich erst in einem Netz von intrakulturellen Bezügen.⁶¹ In dieser ‚holistischen‘ Auffassung sind magische rakter der Magie selbst“ (MS 110: 177) gehabt; aber diejenigen, die in der „Abwesenheit von Götzen“ (MS 112: 10v) sich einen neuen Götzen schaffen, sind andere, etwa Russell, der Wiener Kreis usw.  „Die Aufgabe der Philosophie ist, den Geist über bedeutungslose Fragen zu beruhigen. Wer nicht zu solchen Fragen neigt der braucht die Philosophie nicht.“ (MS 183: 65; 8. 2.1931)  „Ich könnte fragen: Warum empfinde ich einen grammatischen Witz in gewissem Sinne als tief? (Und das ist natürlich die philosophische Tiefe)“ (MS 110: 176 f.; vgl. PU, § 111). „We called him tortoise because he taught us“ – das von Wittgenstein oft angeführte pun der Mock Turtle im 9. Kapitel von Alice in Wonderland – ist ein Beispiel für das, was er als tiefen grammatischen Witz betrachtet. (Carroll führt den Witz übrigens auch am Ende von What the Tortoise said to Achilles an.) Vgl. dazu und zur „Tiefe der Komik“ bei einem Witz Lichtenbergs MS 142: 104; TS 220: 78; TS 239: 78. Zu einem weiteren Witz aus Alice in Wonderland siehe unten Anm. 63.  „Die Wichtigkeit der Grammatik ist die Wichtigkeit der Sprache.“ (MS 110: 176)  „Die Menschen sind tief in den philosophischen i. e. grammatischen Konfusionen eingebettet.“ (MS 113: 23v)  „A philosophical problem is deep in the way that a problem or a face or a piece of music is deep. However there is depth which relates to ethical matters. [H]e [Wittgenstein; MB] meant that a poem could not be called deep unless much connected with the poem was already known, until a technique was known. A deep face on Earth may not be called deep on Mars; we cannot separate deep faces from the technique of calling them deep. And the same for philosophical problems. We cannot separate the depth from all the other things connected with it. I suggested the mistery aspect and problem aspect of what we considered, and that to remove the problem did not necessarily remove the mistery. He agreed and said that as far as he was concerned such

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und religiöse Anschauungen tief, sofern sie in Lebensformen wurzeln; dasselbe gilt auch für die philosophischen Probleme, selbst wenn diese erst dann entstehen, wenn die Sprache ‚feiert‘. In diesem Kontext taucht die religiös gefärbte Idee auf, der Philosoph wolle das Problem auflösen, nicht jedoch das ‚Geheimnis‘ (vgl. PPO: 401). Die Formulierung stammt nicht von Wittgenstein; sie meint vielleicht nur, dass, auch nachdem das philosophische Problem aufgelöst ist, die ‚Tiefe‘ der Sprache bleibt. Und dies ist gerade das Anliegen im Vorspann zu den Bemerkungen in MS 110. Gehört Wittgensteins Insistieren auf der ‚Tiefe‘, selbst wenn es dabei nicht mehr um das Metalogische geht, zum ‚religiösen Standpunkt‘, den er überall einnehmen will? Vielleicht. Zugleich aber bahnt sich bei ihm zur Zeit der ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough ein ‚anthropologisches‘ Verständnis von ‚Tiefe‘ (erst) an: Die eigenartige Tiefe philosophischer Probleme, könnte man sagen, ist keine ‚metalogische‘, sondern eine ‚anthropologische‘. Und selbst gesetzt, dass die Sprachfallen irgendwann einmal beseitigt sind und die philosophischen Probleme die Menschen nicht mehr beunruhigen, bleiben die in der Sprache verwurzelten tiefen Bedürfnisse, die ‚Wichtigkeit‘ der Sprache, das Gefühl ihrer Bedeutung in unserer Lebensform. Man wird insofern den tiefen Beunruhigungen der Philosophen nicht anders gerecht als den magischen und religiösen Anschauungen; denn letztendlich kommt in Sprachfallen, Wortspielen und Ritualen dieselbe Tiefe zum Vorschein: die Tiefe, Bedeutung, Wichtigkeit von Sprache überhaupt. Die „magische Rolle“ von Namen und das „Mißdenken der Formen unserer Sprache“ weisen beide auf den tiefen Aspekt am „Gebrauch der Zeichen“ (MS 183: 158; 30.1.1937) hin.⁶² Die ungeheure „Bedeutung“, die der Sprache (dem Satz) zu Recht zukommt, und das „Mißverstehen der Sprachlogik“ (PU, § 93) wirken manchmal zusammen; die „Bedeutung“, Wichtigkeit, der Sprache trägt dann zur Verwirrung bei, bringt den Schein des Merkwürdigen, Außerordentlichen, Einzigartigen, also gleichsam des Magischen, mit hervor; und in diesem Schein sieht Wittgenstein „Aberglauben, nicht Irrtum“ (PU, § 110), d. h. eine grammatische, keine empirische Täuschung. Wie die „Sprachfallen“ geht auch die Magie auf die in den Sprachformen bzw. im

might be the end (goal) of philosophy.“ (PPO: 401; Saturday Discussion, wahrscheinlich am 23.11. 1946.)  Die Philosophischen Untersuchungen erwähnen nur noch den zweiten dieser beiden Faktoren, das „Mißdeuten unserer Sprachformen“ (PU, § 111). Zur magischen Rolle von Namen, z. B. zur „Stellvertretung durch den Namen“ (MS 110: 182), vgl. etwa MS 110: 184. Vgl. auch MS 179: 15r, und siehe dazu unten S. 160, Anm. 228.

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Symbolismus niedergelegte Mythologie zurück; und die „Bedeutung“ („Tiefe“) unserer Sprache begünstigt beide, Metaphysik und Magie.⁶³ Wie bei Ogden und Richards sollen auch bei Wittgenstein die Betrachtungen über die „Magie“ eine (radikale) Kritik sprachlich induzierter Verwechslungen und Täuschungen einleiten. Ein Fall, der auch in The Meaning of Meaning behandelt wird, zeigt aber den Unterschied in der jeweiligen Einstellung. Als Beispiel der von Frazer erläuterten tabooed words führen Ogden und Richards unter anderen das Märchen von Rumpelstilzchen an: Sie erkennen darin das abergläubische Weltbild der verbal magic, also letzten Endes einen Glauben an eine falsche Kausalität.⁶⁴ Auch Wittgenstein sieht den Zusammenhang mit den philosophischen Problemen; er ist jedoch nicht ausschließlich auf Kritik aus. Das Märchen erfüllt ihn mit großem Respekt: Es führt ihm die Wichtigkeit der Namen und der Sprache im menschlichen Leben vor Augen. Insofern sieht er in Rumpelstilzchen eine tiefe Einsicht ausgedrückt.⁶⁵ Wittgenstein legt also weniger den Akzent auf theoretische Irrtümer als der Intellektualist Frazer oder Ogden und Richards, und dies sogar dort, wo er selbst von einem „Mißdenken der Formen unserer Sprache“ ausgeht: Die Auflösung metaphysischer Irrtümer führt nicht zu richtigen Theorien, sondern zu einer ‚ethnologischen‘ Einsicht in die tiefen Wurzeln der Sprache und in ihre „Wichtigkeit“ im menschlichen Leben. Aber inwieweit darf man auch bei der Magie, z. B. eben bei der magischen Rolle von Namen, von einem „Mißdenken der Formen unserer Sprache“ (MS 183: 158; 30.1.1937) bzw. von einem „Mißdeuten unserer Sprachformen“ (PU, § 111) reden? Wittgensteins Position ist nicht eindeutig. Vorerst sei lediglich angemerkt, dass es mit jener „Tiefe“ eine zweifache Bewandtnis hat. Es gibt tiefe Irrtümer wie in der Philosophie. Tief sind aber auch Anschauungen, die nicht als wahr oder falsch bezeichnet werden dürfen.

 „Die Magie in Alice in Wonderland beim Trocknen durch Vorlesen des Trockensten was es gibt.“ (MS 110: 183; TS 211: 319.) Bei Frazer heißt es: „If you would make wet weather, you must be wet; if you would make dry weather, you must be dry.“ (FGB 1922: 69) Frazer nennt die Magie, bei der wie hier das Ähnliche Ähnliches bewirkt, homöopathisch (vgl. FGB 1922: 12ff., und siehe oben S. 78). Carrolls Witz, in dem zwei unterschiedliche Verwendungen eines Wortes (’trocken’) nicht auseinandergehalten werden, zeigt einen Vorgang, dem in der Philosophie falsche Theorien und Probleme entspringen.  Im Kapitel über The Power of Words berufen sich Ogden und Richards auf die Beispiele von word taboos im Golden Bough (MoM: 40) und zitieren mehrere Märchen oder Erzählungen, in denen es auf die Entdeckung eines Namens ankommt (MoM: 38).  Zu Wittgensteins Vorliebe für den Vers „Ach, wie gut, dass niemand weiß, | daß ich Rumpelstilzchen heiß!“ vgl. Pascal 1996: 30. „Profound, profound“, soll er kommentiert haben, nachdem er den Text „mit ehrfurchtsvoller Stimme“ vorgelesen hatte. – Der eigene Name, der „das wichtigste Instrument“ und zugleich „Schmuckstück“ ist, kann Menschen „heilig“ sein (MS 110: 184; TS 211: 317).

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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2.1.1.3 Die Quelle des Irrtums: Die Mythologie in den Formen unserer Sprache Die Idee, das geplante „Buch mit Bemerkungen über die Metaphysik als eine Art der Magie zu beginnen“, war nur eine von mehreren möglichen Lösungen für das Problem des Incipit. Wittgenstein distanziert sich davon spätestens, wenn er seine handschriftlichen Bemerkungen über den Golden Bough in die Synopse TS 211 aufnimmt: Die meisten bilden einen geschlossenen Abschnitt etwa in der Mitte der Maschinenschrift; dieser ist unbetitelt und wird durch einige Betrachtungen über die „Quelle des Irrtums“ eingeleitet. Letztere werden mit der Frazer-Kritik erst nachträglich verbunden; denn in der ersten Fassung, die Wittgenstein schon vor den Aufzeichnungen zum Golden Bough notiert hatte, ging es ausschließlich um die Methode der Philosophie. Der Grundgedanke knüpft an Aristoteles an. Dessen Nikomachische Ethik wird nahezu wörtlich wiederaufgenommen: Damit dem Wahren mehr geglaubt wird, muss man auch zeigen, warum das Unwahre wahr scheint. „Man muss nicht nur die Wahrheit sagen, sondern auch die Ursache des Irrtums“ (EN VII, 15, 1154a).⁶⁶ Aristotelesˈ „τὸ αἴτιον τοῦ ψεύδους“ wird als „die Quelle des Irrtums“ wiedergegeben, weil es in Wittgensteins Begrifflichkeit keine Ursache ist, sondern ein Grund: Man muss beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen. D. h. man muß die Quelle des Irrtums aufdecken, sonst nützt uns das Hören der Wahrheit nichts. Sie kann nicht eindringen, solange//wenn// etwas anderes ihren Platz einnimmt. Einen von der Wahrheit zu überzeugen, genügt es nicht, die Wahrheit zu konstatieren, sondern man muß den We g vom Irrtum zur Wahrheit finden. Ich muß immer wieder im Wasser des Zweifels untertauchen. (TS 211: 313; vgl. MS 110: 58; vgl. auch MS 110: 229 f.)

Aristoteles meint nur, dass die wahre Theorie überzeugender wird, wenn die Entstehung der falschen geschildert wird; Wittgensteins „Wahrheit“ dagegen ist keine wahre Theorie, sondern nur die Auflösung der falschen. Philosophische Irrtümer enthalten gerade deshalb „so viel Wahrheit“,⁶⁷ weil sie uns zu ihrer „Quelle“ in der Grammatik führen. Man muss beim Irrtum – oder beim Unsinn – ansetzen, um die falsche Analogie aufzudecken, die uns in ihn verstrickt hat. Ist  Zur Quelle bei Aristoteles vgl. KrBu: 122. Zwar liest Wittgenstein zu dieser Zeit direkt in Platos Dialogen; aber im Fall von Aristoteles ist eine indirekte, eventuell auch mündliche Quelle nicht unwahrscheinlich. Wittgenstein soll noch im Herbst 1948 erklärt haben, er habe „never read a word of Aristotle“ (MDC: 158).  „|Man kann in gewissem Sinn mit philosophischen Irrtümern nicht vorsichtig genug umgehn, sie enthalten so viel Wahrheit.| | |Es geht nie einfach an zu sagen: Nein, das ist falsch, das muß aufgegeben werden.|“ (MS 112: 99v)

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diese „Quelle“ erkannt und das Missverständnis der Sprachlogik beseitigt, löst sich der Irrtum (bzw. das Problem) auf. Die mögliche Einsicht in die Sprachlogik und ins Wirken der Sprache ist die im Irrtum enthaltene Wahrheit. Dementsprechend „genügt es nicht, die Wahrheit zu konstatieren“ (TS 211: 313), wie etwa die Philosophie des common sense gerne möchte, oder den Irrtum einfach aufzugeben. „Es ist oft nicht erlaubt in der Philosophie gleich Sinn zu reden, sondern man muß oft zuerst den Unsinn sagen weil man gerade i h n überwinden soll“ (MS 107: 266). D. h., weil man die Grammatik klären, die übertretenen Regeln übersehen und diese übersichtliche Darstellung als Lösung der Schwierigkeit anerkennen muss. In diesem Sinn muß man den Irrtum „in die Wahrheit überführen“ bzw. „den We g vom Irrtum zur Wahrheit finden“ und den Gesprächspartner von der Wahrheit „überzeugen“ (TS 211: 313). Zwar werden hier die Metaphysik und die in ihren Irrtümern enthaltene Wahrheit gewürdigt, aber diese Würdigung hält sich in Grenzen. Irrtümer mögen den Charakter der „Tiefe“ haben, uns zu ihrer Quelle führen und insofern viel „Wahrheit“ enthalten; sie bleiben jedoch Irrtümer. Will Wittgenstein nun auf die Magie dieselbe Betrachtungsweise anwenden wie auf die Philosophie, d. h. nach ihrer ‚Quelle‘ suchen? Wenn ja, dann intendiert die neue Einleitung, obwohl nur implizit, denselben Zusammenhang von Magie und Metaphysik wie die ursprüngliche. Merkwürdig ist aber, dass gleich die erste (unverändert gebliebene) Bemerkung über Frazer die neue Betrachtung über die „Quelle des Irrtums“ zu widerrufen scheint: Magische und religiöse Anschauungen sind keine Irrtümer. Magische Anschauungen haben aber – und darauf kommt es Wittgenstein an – dieselbe „Quelle“ wie die Metaphysik. Auf diese gemeinsame Quelle weist in den späteren synoptischen Typoskripten TS 212 und TS 213 bereits die Kapitelüberschrift hin: „Die Mythologie in den Formen unserer Sprache (P a u l E r n s t )“ (TS 212: 1203; TS 213: 433). Wer nach der „Quelle des Irrtums“ sucht, stößt immer wieder auf diese Mythologie, auf die einfachen Bilder, Gleichnisse, Analogien, die in den „primitiven Formen unserer Sprache“ (MS 110: 206) „niedergelegt“⁶⁸ sind. „Und immer beruht

 „In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt.“ (MS 110: 206; TS 211: 251; TS 213: 434) „Unsere Sprache ist eine Verkörperung alter Mythen.“ (MS 110: 256; siehe dazu unten S. 98 f.) Diese Idee Wittgensteins ist eine methodische Warnung, keine genetische Sprachtheorie oder Prioritätsthese. Sie mag an Schellings Ansicht anklingen, die Sprache sei eine „verblichene Mythologie“, aber die im 19. Jahrhundert noch virulente Frage, ob der Sprache oder dem Mythos genetische Priorität gebühre, interessiert Wittgenstein nicht mehr. Auch Ernst Cassirer, der auf beide gegensätzliche Positionen eingeht, verwirft die überholte genetische Fragestellung: Sprachformen, Bilder sind Mythen. Auch bei ihm sind wie bei Usener „Sprachliches und Mythisches untrennbar vereint und korrelativ aufeinander bezogen“ (Cassirer 2009b, Bd. 2: 28).

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die Magie auf der Idee des Symbolismus und der Sprache.“ (MS 110: 182; TS 211: 316) „Die primitiven Formen unserer Sprache: Substantiv, Eigenschaftswort und Tätigkeitswort zeigen das einfache Bild auf dessen Form sie alles zu bringen sucht.“ (MS 110: 206; TS 211: 251; TS 213: 434) Diese ist „die alles gleich machende Gewalt der Sprache, die sich am krassesten im Wörterbuch zeigt“ (MS 113: 143r). Philosophen müssen sich gegen diese gleichmachende Gewalt, d. h., „gegen die Mythen bildenden Tendenzen in unserm Verstand“ (MS 158: 28v) auflehnen und dabei nicht zuletzt den eigenen „Trieb“, das Arbeiten unserer Sprache „mißzuverstehen“ (PU, § 109), im Zaum halten. Denn Wittgenstein redet zwar von „einer (falschen) /irreführenden/ Mythologie“ (MS 109: 211); aber die „Mythologie in den Formen unserer Sprache“ (TS 212: 1203; TS 213: 433) ist an sich noch kein „Mißdenken der Formen unserer Sprache“ (MS 183: 158; 30.1.1937) bzw. kein „Mißdeuten unserer Sprachformen“ (PU, § 111); die grammatischen Verwirrungen hängen zwar „mit den ältesten Bildern“ zusammen, „die in unsere Sprache selbst geprägt sind“ (MS 109: 224), fallen mit ihnen jedoch nicht in eins. Die Quelle des Irrtums, die zu ihm verleitet, ist selbst kein Irrtum. In der Philosophie sind wir in Gefahr, „einen Mythus des Symbolismus zu erzeugen“ (Z, § 211), dieser hält uns nämlich in Bann, und den gleichsam magischen Charakter dieses Einflusses unterstreichen Gleichnisse wie „die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (PU, § 109) oder, mit einem anderen ‚magischen‘ Ausdruck, „the fascination which forms of expression exert upon us“ (D 309: 44; BBB: 27).⁶⁹ Die bildhafte Natur gehört zur Sprache und zur ‚Sprachlogik‘; die „Urbilder“, die den „primitiven Formen unserer Sprache“ korrespondieren, sind also an sich nicht falsch, und die alltagssprachliche Anwendung dieser Sprachformen beinhaltet noch kein Missverständnis. Die Grammatik ist autonom: Sie sagt nichts über die Wirklichkeit aus und verfälscht sie insofern nicht. Die Grammatik besteht aus (willkürlichen) Regeln, nicht aus (falschen) Aussagen. Man muss sie also nicht ändern, sondern nur überschauen. Schon die Abhandlung sieht „die Fragestellung“ der „philosophischen Probleme auf dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache beruh[en]“ (TLP, Vorwort; vgl. TLP 4.003). „Wenn mein Buch je veröffentlicht wird“ – bekennt Wittgenstein zur Zeit seiner ersten Betrachtungen über den Golden Bough – „so muß in seiner Vorrede der Vorrede Paul Ernstˈs zu den Grimmschen Märchen gedacht werden, die ich schon in der Log. Phil. Abhandlung als Quelle des Ausdrucks

Cassirer bezieht sich hier zustimmend auf H. Useners Götternamen. Ähnlich äußert er sich in Cassirer 2009c: 119.  Zum „Bann, in dem uns eine Analogie hält“, vgl. TS 220: 80.

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‚Mißverstehen der Sprachlogik‘ hätte erwähnen müssen.“ (MS 110: 184)⁷⁰ Die Vorrede, in der Wittgenstein auf Ernst eingehen will, ist dieselbe, die Metaphysik und Magie miteinander vergleichen sollte; und in diesem Vergleich spielt das „Mißverstehen der Sprachlogik“ eine entscheidende Rolle. Wittgenstein hatte Ernsts Auffassungen über das Missverstehen der Sprachlogik in der Entstehung und Herausbildung der Märchentradition lange vor seiner Auseinandersetzung mit dem Golden Bough rezipiert; aber sie erhalten für ihn jetzt erneut eine prominente Bedeutung. „[W]as mißverstehen unserer Sprachlogik bedeutet“, erläutert Wittgenstein folgendermaßen: „Wir sind durch falsche Analogien in die Irre geführt und können uns nicht aus dieser Verstrickung erretten. Das ist der morbus philosophicus.“ (MS 110: 86 f.; TS 211: 186) Irreführend sind – so ein späteres Manuskript – Analogien der sprachlichen Form, die über den „g r u n d l e g e n d e n Unterschied“ in der Verwendung hinwegtäuschen.⁷¹ Gerade, weil immer dieselben primitiven Formen – Substantiv, Adjektiv, Verb – die unterschiedlichsten Verwendungen haben, besitzt die Sprache eine alles gleich machende Gewalt: Es drängen sich immer dieselben Bilder auf, deren jeweils unterschiedliche Verwendung aus dem Blick gerät. Denn erst wenn die Sprache feiert, d. h., erst wenn der Philosoph die Sprachformen von ihrer alltagssprachlichen Verwendung isoliert, werden jene Bilder zu Rätseln und führen in die Irre. Beim Substantiv sucht man dann nach dem entsprechenden Gegenstand und beim Zeitwort nach der entsprechenden Tätigkeit. In der Psychologie suggerieren Substantive geistige Wesen und Verben geistige Tätigkeiten bzw. Vorgänge.⁷² In der Philosophie

 R. Rhees (vgl. GB 1971: 18) berichtet über verwandte Äußerungen Wittgensteins. – Eines ist der Ausdruck („Mißverstehen der Sprachlogik“), ein anderes ist die Auffassung, die diesem zugrunde liegt. Die „Quelle“ des Ersteren ist nicht unbedingt schon die Quelle der Letzteren. Aber Anfang der dreißiger Jahre lehnt sich gerade Wittgensteins Auffassung viel deutlicher an Ernst an als im Frühwerk. – Wittgenstein nennt Paul Ernsts „Nachwort“ (Ernst 1910) zu den Kinder- und Hausmärchen (Grimm/Grimm 1910) irrtümlich „Vorwort“ oder „Vorrede“. Zu Wittgenstein und Ernst vgl. Hübscher 1985; Baker/Hacker 1980b: 535 f.; Nyíri 1979; Nyíri 1986, insbes. S. 169 ff.; Rothhaupt 1995; Künne 1996; Majetschak 2006.  „[W]ir haben hier zwar einen richtigen deutschen Satz nach Analogie oft gebrauchter Sätze gebildet, aber Du bist Dir nicht klar über den g r u n d l e g e n d e n Unterschied in den Verwendungen dieser Sätze. Diese zu überblicken, ist nicht leicht. Der Satz liegt Dir vor Augen, aber nicht eine übersichtliche Darstellung der Verwendung.“ (TS 221: 237)  Anhand der primitiven Formen, Substantiv, Adjektiv und Verb, wird die Wirklichkeit in Substanzen, Eigenschaften und Tätigkeiten/Vorgänge eingeteilt. (Wobei nicht nur das Verb „Denken“ eine Tätigkeit suggeriert, sondern auch das Substantiv „Gedanke“.) Substantive verleiten leicht zu Substantialisierungen, Hypostasierungen, zu einer dinghaften Auffassung ganz anders gearteter Sachverhalte. Die Beziehung zwischen Substantiv und Adjektiv („Eigenschaftswort“) ist ein weiterer in den Sprachformen niedergelegter ‚mythologischer‘ Ansatz; er

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wimmelt es von derartigen „Erzeugnisse[n] einer unverstandenen Sprachlogik“, von ätherischen Gebilden, schattenhaften Wesen und Vorgängen, die als „Erklärung gewisser sprachlicher Formen“ fungieren sollen,⁷³ d. h. als Antwort auf die falschen bzw. sinnlosen Fragen, zu denen jene missverstandenen „Bilder“ verführen. Zuletzt aber bleiben diese Pseudoerklärungen selbst rätselhaft. Sie versperren erst recht den Weg zu einer echten Auflösung des ursprünglichen Missverständnisses, zu einer Übersicht über die Sprachformen und ihre Verwendungen.

2.1.1.4 Universalistische Tendenzen. Das Fremde und das Eigene „Warum die grammatischen Probleme so hart und scheinbar unausrottbar sind – weil sie mit den ältesten Denkgewohnheiten d. h. mit den ältesten Bildern, die in unsere Sprache selbst geprägt sind, zusammenhängen.“ (MS 109: 224; TS 211: 398; TS 213: 422) Es geht hier ähnlich wie bei Ernst und Frazer um Archaisches, um die „ältesten“ (MS 109: 224) Bilder und die „primitiven“ (MS 110: 206) Sprachformen. Die Bilder sind „in unsere Sprache selbst geprägt“ (MS 109: 224), die Mythologie ist in ihr „niedergelegt“ (MS 110: 206; TS 211: 251; TS 213: 434). Gemäß ihren „primitiven Formen“ – „Substantiv, Eigenschaftswort und Tätigkeitswort“ – bringt unsere Sprache nämlich alles auf die „Form“ Substanz, Eigenschaft und Tätigkeit: Die „primitiven Formen unserer Sprache“ zeigen dieses „einfache Bild“ (MS 110: 206). ‚Bild‘ und ‚Form‘ fließen hier begrifflich ineinander. Wittgenstein belässt es bei der Angabe, dass es um Substantiv, Adjektiv und Verb geht; obwohl er sonst so oft auf einzelne Bilder, Analogien und Gleichnisse eingeht, spezifiziert er die Natur der „primitiven Formen unserer Sprache“ nicht weiter. Sie sind die Quelle philosophischer Irrtümer und ändern sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung

kann zum Mythos von Substanz und Beimischung und sogar von Gegenstand und Komplex sublimiert werden (siehe dazu ausführlich unten S. 101 ff.). Die Unterschiede in der Verwendung geraten leicht aus dem Blick, so scheinen alle Verben ähnlich „zu funktionieren“, z. B. ‚sein‘ „wie ‚essen‘ und ‚trinken‘“ (MS 111: 133; vgl. TS 211: 82), und Adjektive wie „‚identisch‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘, ‚möglich’“ (MS 111: 134) nicht anders als etwa ‚blau‘ oder ‚roh‘.  „Es spukt in der Philosophie überall/allerorten/ von solchen schattenhaften, ätherischen, Gebilden. Sie zeigen allemal ein Mißverständnis unserer Sprachlogik an Ihre Vorstellung/Die Vorstellung von ihnen/ drängt sich uns auf als (eine) Erklärung einer |von uns| mißverstandenen/unverstandenen/ grammatischen Form//unverstandener grammatischer Formen// auf. (Sie ist ein Zeichen das Erzeugnis/Sie sind die Ausgeburten einer…//Sie sind die Erzeugnisse einer// / unverstandenen Sprachlogik.)“ (MS 115: 259; EPB: 216; vgl. PU, § 36.) Als „Ausgeburt einer unverstandenen Sprachlogik“ betrachtet Wittgenstein z. B. die Auffassung, der Sinn des Befehls eile diesem beim Regelfolgen wie ein Schatten voraus, so dass die Übergänge gleichsam schon gemacht seien (vgl. MS 115: 259; EPB: 215 f.).

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nicht. Der Grund, weshalb „die gleichen philosophischen Probleme die schon die Griechen beschäftigten uns noch beschäftigen“, ist, „daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum ‚sein‘ geben wird das zu funktionieren scheint wie ‚essen‘ und ‚trinken‘, […] usw., usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können.“ (TS 211: 82; vgl. MS 111: 133 f.)⁷⁴ Jene gleich bleibenden Sprachstrukturen stellen immer wieder dieselben Fallen; deshalb bleiben die philosophischen Probleme dieselben, bis sie endlich aufgelöst werden. Sind die „primitiven Formen unserer Sprache“, in denen besagte „Bilder“ niedergelegt sind, lediglich Formen unserer Sprache? Ist also die Mythologie, die uns irreführt, nur in unserer Sprache niedergelegt? (Im weitesten Sinn: etwa in so grundlegenden Formen der indoeuropäischen Sprachfamilie, dass sie in Platons Griechisch und Wittgensteins Deutsch nicht wesentlich anders sind.) Oder in der Sprache, d. h. in allen Sprachen? Man darf vielleicht annehmen, dass potentiell irreführende Bilder jede Sprache kennzeichnen. Bilden sie aber jeweils eine spezifische Mythologie?⁷⁵ Wittgenstein betont immer wieder „unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden“ (MS 110: 205; TS 211: 250; TS 212: 1206; TS 213: 433); deutet diese auf eine gemeinsame Mythologie? D. h. auf eine, die mit Sprache überhaupt und nicht wie bei Max Müller mit den Eigentümlichkeiten indoeuropäischer Sprachen zusammenhängt? Oder beruht die von Wittgenstein behauptete Verwandtschaft von Magie, die als universelle Erscheinung gedacht wird, und (v. a. westlicher) Metaphysik auf unterschiedlichen, wenn auch irgendwie verwandten Mythologien? Er legt sich nicht fest, auch in dieser Hinsicht vertritt er keine Theorie. Aber anders als die unter dem Titel Über Gewißheit bekannten letzten Reflexionen zeigen mehrere Bemerkungen von 1931 eine deutliche Tendenz zu weitgehenden Generalisierungen, d. h. zur Annahme einer allgemeinmenschlichen Mythologie. Wittgenstein, der sich 1914 selbst zum Vorwurf gemacht hatte, er könne „oft nicht den M e n s c h e n im Menschen erkennen“,⁷⁶ sieht 1931 dieselbe Gefahr bei Frazer. Die innere Verwandtschaft zwischen anscheinend so fremden Lebensformen – nimmt Wittgenstein nun an – gründet in einem Prinzip, das alle Menschen

 Zum mangelnden Fortschritt in der Philosophie vgl. noch MS 174: 10r-10v; VB: 573 (1950).  Siehe dazu Brusotti 2012.  „Wenn wir einen Chinesen hören so sind wir geneigt sein Sprechen für ein unartikuliertes Gurgeln zu halten. Einer der chinesisch versteht wird darin die S p r a c h e erkennen. So kann ich oft nicht den M e n s c h e n im Menschen erkennen etc..“ (MS 101: 7r; 21. 8.1914; Text in Geheimschrift.)

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gemeinsam haben; „das Prinzip nach welchem diese Gebräuche geordnet sind ist ein viel allgemeineres als Frazer es erklärt und in unserer eigenen Seele vorhanden so daß wir uns alle Möglichkeiten selbst ausdenken können“ (MS 110: 195; TS 211: 317). Es gibt demnach hinter dem „Chor“ wirklich ein „Gesetz“ (MS 110: 256), ein allgemeines „Prinzip“, nach dem jene heterogenen Gebräuche „geordnet sind“ (MS 110: 195). Ein allgemeines Prinzip in unserer Seele befähigt uns, alle möglichen Gebräuche zu verstehen, und potentiell jeder Mensch kann sie sich selbst ausdenken. Diese These ist höchst problematisch. Ethnologen wie Philosophen stellen sie gerade damals, also schon Anfang der dreißiger Jahre, immer wieder in Frage.⁷⁷ Wittgenstein folgt hier Paul Ernst. Aber dieser orientiert sich seinerseits an der evolutionären Ethnologie. Als Frazer-Kritik taugt das Argument also nur bedingt: Es könnte ohne weiteres von Tylor oder sogar von Frazer selbst stammen. Bei aller ethnozentrischen Voreingenommenheit und bei aller Hierarchisierung verschiedener Kulturstadien geht es nämlich auch Frazer um allgemeine Prinzipien: um die Assoziationsgesetze, die Invarianten des menschlichen Geistes bilden.⁷⁸ (Wittgenstein sagt auch nur, dass das Prinzip „ein viel allgemeineres als Frazer es erklärt“; und das heißt nicht unbedingt, dass Frazer das Prinzip nicht für allgemein hält, sondern vielleicht nur, dass seine Erklärung nicht zu dieser Allgemeinheit passt.) Was versteht nun Wittgenstein unter jenem Prinzip? Die erwähnten möglichen Riten und Gebräuche sind z.T. gleichsam „Schutzmaßnahmen“ gegen bestimmte Gefahren und Bedrohungen des menschlichen Lebens. Nach welchem „Prinzip“ könnten wir uns diese „Schutzmaßnahmen ausdenken“, „erdichten“ (MS 110: 196; TS 211: 318)? „Offenbar danach, daß alle Gefahren der Form nach auf einige sehr einfache reduziert werden die dem Menschen ohne weiteres sichtbar sind.“ (MS 110: 197; TS 211: 318) Auf welche Gefahren? Wittgenstein erwähnt hier nur die allgemein bekannte Tatsache, „daß Menschen (also Geister) dem Menschen gefährlich werden können“ (MS 110: 197; TS 211: 318). Dass andere Gefahren auf ‚Geister‘ zurückgeführt werden, liegt am „Prinzip“ „der Personification“.⁷⁹ Auf  Siehe dazu unten S. 244.  Frazer geht in dieser Hinsicht einen Schritt hinter Tylor zurück, der die Aufmerksamkeit mehr auf die ähnlichen mentalen Prozesse bei ‚Primitiven‘ und Europäern gelenkt hatte, während Frazers Darstellung eher die unterschiedlichen Ergebnisse derartiger Prozesse betont (vgl. dazu Stocking 1995: 145 f.) und so gegenüber den Ersteren einen weit aggressiveren, spöttischen Ton anschlägt.  „Die Idee daß man einen leblosen Gegenstand zu sich herwinken kann wie man einen Menschen zu sich herwinkt. Hier ist das Prinzip das der Personification.“ (MS 110: 182; TS 211: 316.) Siehe dazu auch unten S. 184. Zur Personifikation in der Todessymbolik vgl. MS 110: 184 f. und siehe unten S. 101 f.

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diesem basieren etwa magische Heilungen; der Zauberer versucht, der Krankheit etwas zu „sagen“, ihr etwas zu „bedeute[n]“ (MS 110: 183),⁸⁰ mit ihr also wie mit einem Menschen symbolisch zu kommunizieren. Auch insofern beruht die Magie „auf der Idee des Symbolismus und der Sprache“ (MS 110: 182; TS 211: 316). Die merkwürdige Tatsache, dass sogar „die Zeit personifiziert werden konnte“, heißt es in anderem Kontext, geht auf die „alles gleich machende Gewalt der Sprache“ zurück, „die sich am krassesten im Wörterbuch zeigt“ (MS 113: 143r): Als Substantiv kann auch ‚Zeit‘ das mythische Bild eines geheimnisvollen ‚Etwas‘ heraufbeschwören – oder sogar das einer Person. Prägt die Tendenz zur Personifikation gleichermaßen jede Sprache und jede Kultur?⁸¹ Welches Erklärungspotential hat der Personifikationsbegriff wirklich? Vor allem diese zweite Frage wird zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert kontrovers diskutiert.⁸² Wittgenstein setzt daher viel voraus, wenn er die Tragweite  Eine Stelle über die „Magie mit Wörtern“ bei einem Philosophen (C. D. Broad) deutet den „Versuch eine chemische Änderung |magisch| zu bewirken“, dahingehend, dass „man den Substanzen, quasi, zu verstehen gibt, was sie tun sollen“ (MS 111: 138; vgl. TS 211: 89). Siehe dazu unten S. 184, Anm. 272.  Unter den von Wittgenstein gelesenen Autoren hatte Renan die allgemeine primitive Tendenz zur Personifikation festgehalten, zugleich aber – auf eine freilich alles andere als ideologiefreie Weise – darauf verwiesen, dass einige Sprachfamilien (v. a. die semitische) diese mythopoietische Tendenz viel weniger aufweisen als andere (v. a. die indoeuropäische). Auf die Personifikation geht Renan gerade in den von Wittgenstein aufmerksam gelesenen Seiten ein: „L’erreur fondamentale du sauvage […] est le spiritisme“ (etwa gleichbedeutend mit Tylors ‚Animismus’). Der von Wittgenstein erwähnte „bon sens précoce der semitischen Rassen“ (MS 109: 202; vgl. Renan 1953: 55) besteht eben darin – was Wittgenstein wiederum nicht anführt –, dass die frühen Semiten diese Tendenz zur Personifizierung in viel geringerem Maß aufwiesen als die primitiven Arier; „l’Aryen primitif“ (Renan 1953: 55) „personnifia bien plus les unités naturelles. Il donna des âmes à tout […]“ (Renan 1953: 55). Die semitischen Sprachen sind für die Mythologie (deren Prinzip ist „la vie prêtée aux mots“; Renan 1953: 57) wenig geeignet, weil sie wenig zu „personnifications“ (Renan 1953: 58) neigen. Für den primitiven Arier dagegen schließt jedes Wort „un mythe en puissance“ (Renan 1953: 58) in sich: „Le sujet de phrases telles que celles-ci: ‚La mort l’a frappé’, une maladie l’a enlevé, le tonnerre gronde, il pleut, etc.’, était à ses yeux un être faisant en réalité l’action exprimée par le verbe.“ (Renan 1953: 58) Fast alle „racines des langues aryennes“ (d. h. der indoeuropäischen Sprachen) schließen „un dieu caché“ ein, wohingegen „les racines sémitiques sont sèches, inorganiques, absolument impropres à donner naissance à une mythologie.“ (Renan 1953: 58) Renan spielt bekanntlich eine wichtige Rolle in der verhängnisvollen Geschichte des zuerst sprachwissenschaftlich gemeinten Unterschieds zwischen Ariern und Semiten.  In der Hauptfigur des Golden Bough, dem Dianapriester, sieht Frazer „a personification of the oak-spirit“ (FGB 1922: 703). Deshalb spielen auf dem Weg zur Deutung des Waldkönigs etwa die „personifications of the corn“ (FGB 1922: 395) eine große Rolle. Frazer kritisiert dennoch Max Müller, der in der Personifikation der Naturphänomene das allgemeine Prinzip der Götterbildung sieht. Der Personifikationsbegriff steht nämlich in Opposition zu der evolutionistischen

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dieses Begriffs herausstreicht. Er sieht in der Personifikation jedoch nicht das allgemeine Prinzip schlechthin: Sie spielt nur „eine große Rolle“ (MS 110: 197; TS 211: 318). Auch hier formuliert Wittgenstein keine geschlossene Theorie: Er versucht nicht einmal im Ansatz, die einfachen Gefahren aufzulisten, auf die in der Magie alle übrigen zurückgeführt werden. Sie sind ihm zufolge allgemein bekannt. Es handelt sich um „das was wir wirklich wissen“ (MS 110: 197). Jenes Prinzip hat nicht allein eine intellektuelle, sondern auch eine triebhafte, gefühlsmäßige Komponente: Es ist wohl deshalb, „dass auch in uns etwas […] für jene Handlungsweisen der Wilden spricht“ (MS 110: 204);⁸³ sie appellieren an einen „Instinkt“ bzw. eine Neigung in uns. Nicht nur die Sprachen, auch „Ansichten“ und „Handlungsweisen“ sind verwandter, als es zunächst den Anschein hat. Die Ähnlichkeit zwischen den Sprachen erstreckt sich über die Strukturen hinaus auf Worte und Bilder. So zeigt sich „unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden“ etwa darin, dass Frazer „ein ihm und uns so geläufiges Wort wie ‚ghost‘ |oder| ‚shade‘ bei der Hand hat um die Ansichten dieser Leute zu beschreiben“ (MS 110: 205); und eigentlich nicht nur ein „abergläubische[s] Wort“ (MS 110: 204) wie ‚ghost‘, sondern auch Wörter, die wir „zu unserem eigenen gebildeten Vocabular zählen“, wie „‚Seele‘, ‚Geist‘ (Spirit)“ (MS 110: 205; TS 211: 251; TS 213: 434).⁸⁴ Zwischen ‚ihrem‘ (angeblich ‚wilden‘) und ‚unserem‘ (‚zivilisierten‘), aber auch zwischen ‚abergläubischem‘ und ‚gebildetem‘ Wortschatz besteht nur ein oberflächlicher Gegensatz. Ihre ‚magischen‘ und unsere philosophischen Ansichten sind eigentlich verwandt: Sie liegen nicht so weit auseinander, dass wir die ersteren mit unseren Worten nicht wiedergeben könnten, mit ‚abergläubischen‘ oder auch mit ‚gebildeten‘.⁸⁵ Grundauffassung, primitives Denken sei undifferenziert. Personifikation setzt, so argumentiert noch Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, den Unterschied zwischen Unbeseeltem und Beseeltem voraus und a fortiori den Unterschied zwischen Sachen und Personen. Das mythische Bewusstsein brauche jedoch die Sachen, die es von den Personen (noch) nicht streng trenne, nicht erst zu ‚personifizieren‘ (vgl. Cassirer 2009b, Bd. 2: 236 ff.). Cassirer schließt hier an Lévy-Bruhl an; aber ähnlich argumentieren die Evolutionisten gegen Müller und die ‚Präanimisten‘ gegen Tylors Animismus-These. Wittgenstein scheint wiederum davon auszugehen, dass alle Menschen das Unbeseelte erst ‚personifizieren‘ müssen.  So sucht Wittgenstein manchmal nach Vergleichen, aus denen die Ähnlichkeit zwischen damals als ‚primitiv‘ und ‚totemistisch‘ betrachteten Ritualen und unserem ethischen Verhalten hervorgeht: „Wenn ein Tier ursprünglich verehrt, dann /später/ für unrein geachtet wird, ist das nicht der Vorgang, wenn wir eine Gewohnheit als Fehler ablegen und dann ängstlich hassen?“ (MS 110: 261; Text in Geheimschrift.)  Auch Bergson (1959: 1099 ff.) stellt eine ähnliche Überlegung an: über das Wort ‚Zufall‘ (hasard) und gegen Lévy-Bruhl.  Wittgenstein widerspricht hier Frazer nicht direkt, aber er reagiert auf ihn. Der magische Aberglaube ist auch für Frazer im Grunde überall derselbe und die sublimierte Version ver-

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So Wittgenstein 1931. Die Möglichkeit, dass Sprachen extreme grammatische Unterschiede aufweisen, zieht er nicht in Betracht. Das von ihm postulierte Prinzip ist viel allgemeiner (und einfacher) als die primitiven Sprachformen der indoeuropäischen Sprachfamilie. Er ist sich zwar bewusst, dass diese alles andere als universell sind, aber die Unterschiede zwischen den Sprachen – in den Formen wie in der Verwendung, in der Oberflächen- wie in der Tiefengrammatik – werden hier eher unterbetont, und das Gleiche gilt für die kulturellen Unterschiede. Allein damit ist Wittgenstein aber noch kein Universalist. Und von einem Relativismus ist er hier ebenfalls meilenweit entfernt. In seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer geht es weder um den Gegensatz zwischen Universalismus und Relativismus noch um das Begründungsproblem; die unterschiedlichen Standards einer primitiven und einer wissenschaftlichen Kultur gehören hier nicht zum Thema – anders als etwa in den letzten Reflexionen (‚Über Gewißheit‘). Der Vorwurf des Relativismus ist in Hinsicht auf Wittgensteins frühe Frazer-Kritik gegenstandslos.⁸⁶

2.1.1.5 Wandlungen der Bedeutung in Sprache und Ritus Mythos und Sprache sind also verschränkt: In den Sprachformen sind Bilder und Gleichnisse niedergelegt, eine Mythologie, in der Magie und Metaphysik ihre gemeinsame Wurzel haben. Den im Symbolismus geprägten Mythen korrespondieren Riten, die – so Wittgenstein – selbst sprachlicher Natur sind. „In den alten Riten haben wir den Gebrauch einer äußerst ausgebildeten Gebärdensprache. […] Unsere Sprache ist eine Verkörperung alter Mythen. Und der Ritus der alten Mythen war eine Sprache.“ (MS 110: 256; vgl. z.T. TS 211: 281) Wittgenstein orientiert sich hier an der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Sprache, worunter er jeweils Gebärden- und Wortsprache versteht. Eigentlich ist er damals gerade dabei, dieses sprachphilosophische Zweistufenmodell zu verabschieden: Bald kritisiert er die Auffassung. die hinweisenden Gesten seien „die primären Zeichen, die allen andern zu Grunde liegen“ (MS 112: 110v), also auch und vor

fänglicher als die primitive (siehe dazu unten S. 108, Anm. 108). Er (wie übrigens Renan) hebt jedoch den Unterschied zwischen gebildeten wissenschaftlichen Eliten und ungebildetem, abergläubischem Volk hervor. Wittgenstein will hier den Abstand relativieren.  Siehe dazu auch S. 10 f., 135 ff., 181, Anm. 264. Die von Winch ausgelöste ‚Rationalitätsdebatte‘ über „Our Standards and Theirs“ ging insofern an Wittgensteins Anliegen in diesen Bemerkungen vorbei. Siehe dazu S. 398. Die relativistischen Tendenzen, in denen Wittgenstein mit Spengler übereinstimmt und die auf diesen zurückzuführen sind (siehe dazu oben S. 27 ff.), kommen in der Auseinandersetzung mit Frazer kaum zur Geltung (und in den unten, S. 107 ff., analysierten Betrachtungen über das ‚falsche Bild‘ im Sündenbockritual erst recht nicht).

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allem den wortsprachlichen. In die Maschinenschrift TS 211 gelangen die letzten zwei Sätze dementsprechend nicht.⁸⁷ Die Ansicht, dass die alten Riten eine Sprache sind, und zwar eine Art Gebärdensprache, nimmt Wittgenstein nicht wieder auf. Schon die Frazer-Notate von 1931 fokussieren eigentlich nicht nur auf Gebärden, sondern auf Handlungen überhaupt. Und im späteren Sprachspielmodell werden nicht nur zwei Sprachen bzw. Zeichensysteme, Worte und Gesten, aufeinander bezogen, sondern Zeichen (Worten und Gesten) einerseits und Handeln andrerseits. In diesem Modell wird das in MS 110 beschriebene Verhältnis zwischen ‚Anschauung‘ und ‚ritueller Handlung‘ bzw. zwischen Mythos und Ritus verallgemeinert – zum Verhältnis von Denken und Handeln überhaupt. Die ‚Anschauung‘, der ‚Mythos‘, gehört zum Ritus (ist nur in diesem Kontext verständlich), sie erklärt ihn nicht. Auf ähnliche Art verhalten sich im Sprachspiel die Sprachformen (die in ihnen niedergelegten Bilder) zu ihrer Verwendung.⁸⁸ Es wäre müßig, aus den angeführten unausgegorenen und dann verworfenen Andeutungen eine pauschale Aussage über das historisch-genetische Verhältnis von Ritus und Mythos, d. h. über die historische Priorität eines der beiden herauslesen zu wollen. Wittgenstein kommt es auf Anderes an: Die Magie, die auf der in der Sprache verkörperten Mythologie beruht, zeigt 1) sprachliche und sprachähnliche Vorgänge, und zwar 2) solche, die wir schon anderweitig kennen. Jene äußerst ausgebildete Gebärdensprache, für die Wittgenstein einstweilen die alten Riten hält, weist dieselben symbolischen Verschiebungen auf, die uns von der Wortsprache her vertraut sind: Als Wort und als Brauch – als sprachlicher und als ritueller Vorgang zugleich – bietet der „Kornwolf“ ein gutes Beispiel dieser „Wandlungen der Bedeutung“. Und wenn ich in Frazer lese so möchte ich auf Schritt und Tritt sagen: Alle diese Prozesse diese Wandlungen |der Bedeutung|, haben wir noch in unserer Wortsprache vor uns. Wenn das was sich in der letzten Garbe verbirgt der Kornwolf genannt wird, aber auch |diese Garbe selbst, und auch| der Mann der sie bindet, so erkennen wir hierin einen uns wohlbekannten sprachlichen Vorgang. (MS 110: 256; TS 211: 281)⁸⁹

 R. Rhees (1979: 35 f.) weist auf das sprachphilosophische Modell der ersten Fassung hin.  Siehe dazu S. 384 ff.  Wittgenstein hat die Zwischenstufe (die Worte „diese Garbe selbst, und auch“) gleichsam als morphologisches Zwischenglied nachträglich eingefügt. Dazu und zur Rekonstruktion der Textentwicklung vgl. Rothhaupt 1996: 197 f.

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Frazer diagnostiziert in diesem Fall u. a. „a confusion of ideas between the cornspirit conceived in human and in animal form“(FGB 1922: 450).⁹⁰ Für Wittgenstein wiederum gehören die „Wandlungen der Bedeutung“ zur Sprachlogik; für sich genommen sind sie harmlos, werden jedoch besonders leicht missverstanden – und mit ihnen die Sprachlogik. In ihnen liegt daher eine „Quelle des Irrtums“ bzw. der philosophischen Probleme, mit denen Wittgenstein sich im selben Manuskript hartnäckig auseinandersetzt, oft ohne sie bereits lösen zu können. Zwischen dem „Kornwolf“ und philosophisch relevanten Fällen besteht eine strukturelle Ähnlichkeit. „Wir können dann ‚Satz‘ das nennen, was einmal so, einmal anders aufgefaßt wird; aber auch diese oder jene Auffassung (selbst). Hier ist eine Quelle von Verwechslungen.“ (MS 140: 6; PG: 46; vgl. MS 114: 9)⁹¹ Es liegt auch an derlei Wandlungen der Bedeutung, dass die propositionalen Einstellungen ⁹² oder der „Gebrauch der psychologischen Begriffswörter“ rätselhaft sind. „Der verworrene Gebrauch der psychologischen Begriffswörter (‚denken‘ z. B.). Als wenn das Wort ‚Violine‘ nicht bloss das Instrument, sondern manchmal auch den Geiger, die Geigenstimme, den Geigenklang, das Geigenspiel bezeichnete.“ (TS 232: 772; BPP II, § 730) Die philosophischen Probleme entstehen, weil es uns an Übersicht über die Wandlungen der Bedeutung fehlt; die mannigfachen Verwendungsweisen der

 Das Beispiel entstammt einer Wittgenstein wohl fremden Lebensweise, aber nicht einer fernen Sprache: Der „Kornwolf“ war im Mecklenburgischen besonders verbreitet. „In various parts of Mecklenburg, where the belief in the Corn-Wolf is particularly prevalent, every one fears to cut the last corn, because they say that the Wolf is sitting in it; […] In Mecklenburg the last bunch of standing corn is itself commonly called the Wolf, and the man who reaps it ‚has the Wolf,‘ […] The reaper of the last corn is himself called Wolf or the Rye-wolf, if the crop is rye, […] The last sheaf of corn is also called the Wolf or the Rye-wolf or the Oatswolf according to the crop, and of the woman who binds it they say, ‚The Wolf is biting her,‘ […] Moreover, she herself is called Wolf […] Hence the last waggon-load itself receives the name of the wolf.“ (FGB 1922: 449 f.) Diese Ausführungen basieren auf Untersuchungen des deutschen Tylorianers Wilhelm Mannhardt (Roggenwolf und Roggenhund sowie Die Korndämonen). Auf dessen Einfluß geht Frazer im Vorwort zur ersten Ausgabe ein (vgl. FGB III 1: xii ff.; FGB 1890: ix f.).  „Das Wort ‚klein‘ und ‚gross‘, wenn es sich einmal auf eine Länge, einmal auf ein Volumen, auf eine Dauer, auf die Intensität eines Schmerzes bezieht.“ (TS 219: 14) „Wie der, welcher Geld heiratet, es nicht in demselben Sinne heiratet, wie er die Frau heiratet, die es besitzt. | Geld, und was man dafür kauft. In gewissen Fällen einen Gegenstand; aber auch die Erlaubnis auf einem Platz im Theater zu sitzen, oder einen Titel, oder schnelle Fortbewegung, oder das Leben, etc.“ (MS 140: 19; PG: 63; vgl. MS 114: 43; Z, § 11; vgl. dann auch PU, § 120.)  Zum Themenkreis „Komplex und Tatsache“ gehören Reflexionen über die Wandlungen der Bedeutung bei Verben wie „erwarten“ und Eintreten. „Wir sagen ‚ich erwarte ihn‘ und ‚ich erwarte sein Kommen‘ und ‚ich erwarte daß er kommt’“ (MS 110: 248). „Noch einmal der Vergleich: der Mensch tritt ein – die Tatsache/das Ereignis/ tritt ein“ (MS 110: 249).

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Wörter überfördern den Philosophen. Damit erhält ein schon vor der Auseinandersetzung mit Frazer zentrales Anliegen ein neues Profil. Dass die Grammatik unübersichtlich ist, steht für Wittgenstein eigentlich schon lange fest. Nachdem er bereits im November 1929 das Ziel aufgegeben hatte, eine „phänomenologische“ oder „primäre“ (MS 107: 205) Sprache zu konstruieren, hatte er sich im Februar 1930 vorgenommen, die „grammatischen Regeln“ (MS 108: 89; TS 209: 1; PB I 1: 52) unserer Sprache übersichtlich darzustellen. Er ging dabei allerdings noch von der Vorstellung aus, Grammatik sei ein Kalkül nach strengen Regeln. Nicht zuletzt die „Wandlungen der Bedeutung“, auf die er dann bei seiner ersten Lektüre des Golden Bough aufmerksam wird, legen ein anderes Bild der Sprache nahe. Als er sich diese Bemerkungen zum ersten Mal notiert, fehlt ihm noch das theoretische Rüstzeug, um die Wandlungen der Bedeutung und die damit einhergehenden Mehrdeutigkeiten begrifflich zu fassen: Er verfügt weder über eine adäquate Analyse sogenannter vager, unscharfer Begriffe noch über wesentliche methodische Instrumente wie ‚Familienähnlichkeit‘ und ‚Sprachspiel‘. Aber gerade die Auseinandersetzung mit den Wandlungen der Bedeutung trägt zur Herausbildung des Begriffs der Familienähnlichkeit bei.⁹³ Sie deuten auf die Einsicht voraus, dass mit den Worten sehr unterschiedliche Sprachspiele gespielt werden und dass philosophische Probleme immer wieder auf missverstandene ‚Familienbegriffe‘ zurückgehen. Die Bedeutung eines Wortes wandelt sich gerade dann immer wieder, wenn unterschiedliche Bilder, Gleichnisse, Analogien einander überlagern. Mit dem Tod z. B. wird eine Vielfalt einander zum Teil widersprechender Bilder verbunden: Zu den von Wittgenstein aufgezählten gehören „der Tod als Mensch oder der Tod eines bestimmten Menschen als ein mit diesem Menschen in irgend einer Beziehung stehendes Ding.“ (MS 110: 184 f.) Austreiben des Todes oder Umbringen des Todes; aber anderseits wird er als Gerippe dargestellt, also selbst in gewissem Sinne tot. „As dead as death“. Nichts ist so tot wie der Tod; nichts so schön wie die Schönheit selbst. Das Bild worunter man sich hier die Realität denkt ist, daß die Schönheit, der Tod, etc. die reine (conzentrierte) Substanz ist/die reinen (conzentrierten) Substanzen sind/ während sie in einem schönen Gegenstand |nur| als Beimischung vorhanden ist |sind|. Und erkenne ich hier nicht meine eigenen Betrachtungen über Gegenstand und Complex? (MS 110: 206; TS 211: 251)⁹⁴

 Dasselbe gilt für die durch den Golden Bough angeregten Reflexionen über ‚Chor‘ und Gesetz. Siehe dazu unten S. 234 ff.  Vgl. auch D 309: 27 (=BBB: 17); D 310: 104 (=BBB: 144); MS 115: 262 (=EPB: 217).

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Das Beispiel weist also in zwei Richtungen: Einerseits zeigt die Todessymbolik ähnliche Wandlungen der Bedeutung wie der „Kornwolf“: Der Tod erscheint entweder als Mensch, einmal als lebender, der umgebracht werden kann und muss, einmal als Toter (als Gerippe), oder als Ding bzw. als Substanz. Andrerseits herrscht letzteres Gleichnis eindeutig vor, das Schema ‚reine Substanz und Beimischung‘ ist das „Bild worunter man sich hier die Realität denkt“ (MS 110: 206; TS 211: 251). Dieses in der Alltagssprache vorgegebene ganz allgemeine Bild bahnt den Weg, den die philosophische Tradition eingeschlagen hat. Von Platon bis zur Abhandlung wird aus einem in den Sprachformen (Substantiv und Adjektiv) niedergelegten ‚mythologischen‘ Ansatz, aus einem Bild, unter dem man sich vortheoretisch „die Realität denkt“, eine theoretische Mythologie: aus einer im Symbolismus niedergelegten Mythologie eine Mythologie des Symbolismus. In der naiven Auffassung steht ein Satz wie etwa, dass ein Kunstwerk schön sei bzw. ein Mensch krank oder tot, für die „Zusammenstellung zweier Dinge“ (MS 111: 19; TS 211: 13), des Kunstwerks und seiner Schönheit, des Menschen und seiner Krankheit (oder seines Todes).⁹⁵ Wie alle primitiven Auffassungen scheint diese Idee zu grob, und Philosophen nehmen sie nicht ernst. In sublimierter Form aber durchzieht sie die Metaphysik, und Wittgenstein erkennt sie nicht nur bei Plato wieder, sondern auch bei sich selbst, in seinen „eigenen Betrachtungen über Gegenstand und Complex“ (MS 110: 206; TS 211: 251). Rückblickend sieht er also eine tiefe Verwandtschaft zwischen der in seiner Abhandlung formulierten Idee, die Tatsache sei „ein Komplex von Gegenständen“, und der platonischen „Beimischung“ der „reine[n] (konzentrierte[n]) Substanz“ Schönheit „in einem schönen Gegenstand“ (MS 110: 206; TS 211: 251).⁹⁶ Beide Auffassungen haben nämlich die gleiche „Wurzel“, sie entspringen derselben falschen Analogie, der naiven Vorstellung, eine Tatsache sei die „Zusammenstellung zweier Dinge“ (TS 211: 13). Wittgenstein erkennt an seiner eigenen früheren Philosophie auch in dieser Hinsicht magische Züge bzw. „primitive, too simple, ideas of the structure of language“ (D 309: 27; BBB: 17). Gerade die Theorien, die aus dem Schema ‚Substanz und Beimischung‘ hervorgehen, setzen sich über die „Wandlungen der Bedeutung“ hinweg: Die hete-

 Zu Wittgensteins später Kritik dieser Auffassung siehe unten S. 277 ff..  Eigentlich ist ein Substantiv der Alltagssprache – wie „Tod“ oder „Schönheit“ – kein Name im Sinn der Abhandlung; es bezeichnet nämlich keinen Gegenstand. Nur die vom Logiker postulierten einfachen Namen stehen für ebenso einfache Gegenstände, und Tatsachen sind letzten Endes Zusammenstellungen einfacher Gegenstände. (Das ‚Urbild‘ der Frühschrift ist Russells Analyse der Kennzeichnungen.) 1931 sieht Wittgenstein in diesen Auffassungen jedoch nur noch irreführende ‚Sublimierungen‘ allgemein verbreiteter naiver Vorstellungen.

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rogenen Verwendungen des jeweiligen Wortes werden ausgeblendet. Ein Bild verdrängt die anderen, und auch seine tatsächliche Verwendung gerät aus dem Blick. Dies geschieht vor allem dann, wenn das primitive Bild als zu grob verworfen wird, aber nur, um bis zur Unkenntlichkeit ‚sublimiert‘ zu werden. Gerade in sublimierter Form herrscht die primitive Mythologie in der Philosophie weiterhin vor: Das sublimierte Bild ist weniger leicht durchschaubar und gerade dadurch ungleich gefährlicher als das primitive. So im Fall der Tatsache als Komplex von Gegenständen. Ein weiteres Beispiel soll zeigen, dass der Unterschied zwischen der primitiven Form und der sublimierten oft über-, ja völlig falsch eingeschätzt wird. Gegen die Tatsache, „daß wir das Wort ‚Seele‘, ‚Geist‘ (‚Spirit‘) zu unserem eigenen gebildeten Vocabular zählen“, „ist es eine Kleinigkeit, daß wir nicht glauben daß unsere Seele ißt und trinkt.“ (MS 110: 205; TS 211: 251; TS 212: 1207) Solange man sich unter der Seele ein D i n g , einen K ö r p e r vorstellt, der in unserem Kopfe ist, solange ist diese Hypothese n i c h t gefährlich. Nicht in der Unvollkommenheit und Rohheit unserer Modelle liegt die Gefahr, sondern in ihrer Unklarheit (Undeutlichkeit). Die Gefahr beginnt, wenn wir merken, dass das alte Modell nicht genügt, es nun aber nicht ändern, sondern nur gleichsam sublimieren. Solange ich sage, der Gedanke ist in meinem Kopf, ist alles in Ordnung; gefährlich wird es, wenn wir sagen, der Gedanke ist nicht in meinem Kopfe, aber in meinem Geist. (TS 212: 1208 f.)⁹⁷

Eine ganze Mythologie hängt mit der Vorstellung zusammen, „der Gedanke sei eine seelische Tätigkeit oder eine Tätigkeit des Geistes“ (MS 110: 26; vgl. PG: 100) – und „Geist“ bzw. „Seele“ „the name of an aetherial object“ (D 309: 77; BBB: 47). Magie, Religion und Metaphysik teilen die Vorstellung einer Seele und die mit ihr verbundenen „Bilder: Die Seele die den Körper verläßt, die in einem Behältnis aufbewahrt ist, […]“ (MS 110: 184; vgl. MS 110: 203 f.). „[E]in trübes gasförmiges Wesen“ (MS 110: 26; vgl. PG: 100), das im Körper wie in einem Behältnis enthalten ist und ihn beim Tod verlässt, ist das primitivste Bild. Es wird sehr früh als zu plump verworfen, aber nur, um es zu sublimieren: So hält man die Täuschung fest, dem Substantiv (‚Seele‘ oder ‚Geist‘) müsse eine Substanz entsprechen. Der Geist/ die Seele, sagt man, sei doch nicht ätherisch, sondern „unkörperlich, unräumlich“.

 So schließt das Kapitel „Die Mythologie in den Formen unserer Sprache (P a u l E r n s t )“ in TS 212: 1208 f., und in TS 213: 434 f. Wittgenstein hat die erste Fassung dieser Bemerkung am 15. Januar 1930 niedergeschrieben, also lange vor seiner Auseinandersetzung mit Frazer (vgl. MS 107: 238 f.; TS 209: 133). Diese bietet ihm reichlich Gelegenheit, über das Thema weiter nachzudenken.

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Ein Bildbruch verrät hier aber, dass hinter dem sublimierten Bild das primitive weiterhin vorherrscht, ein verbleibender räumlicher Aspekt, der mit der sublimen Idee eines nicht räumlichen Wesens nicht zusammenstimmt: Man sagt die Seele v e r l ä s s t den Körper, um ihr dann aber jede Ähnlichkeit mit dem Körper zu nehmen und damit man beileibe nicht denkt es sei irgend ein gasförmiges Ding gemeint sagt man die Seele ist unkörperlich, unräumlich; aber mit dem Worte ‚verlässt‘ hat man schon alles gesagt. Zeige mir w i e du das Wort „seelisch“ gebrauchst, und ich werde sehen ob die Seele „unkörperlich“ ist, und was Du unter „Geist“ verstehst. (MS 110: 203 f.; TS 211: 250)

Wittgenstein macht sich eigenwillig einen Gedanken Freuds zu eigen: Die primitive Form bleibt unbemerkt wirksam, weil es der sublimierten gelingt, der Zensur zu entgehen.⁹⁸ Nur wer sich eingesteht, dass hinter der sublimierten Form die primitive weiter herrscht, macht sich frei. In der psychoanalytischen Therapie versucht man, einen unbewussten Wunsch „ins Bewußtsein zu heben“ (VW: 414). Wittgenstein will philosophische Probleme ähnlich ‚behandeln‘. Das primitive Bild liegt uneingestanden der Betrachtungsweise zugrunde, obwohl es bei weitem zu plump und naiv ist, um als Theorie vertreten zu werden. Nun soll „das im Unbewusstsein wirkende Gleichnis“ ausgesprochen und dadurch unschädlich gemacht werden.⁹⁹ Erst dann versteht der Philosoph, was er eigentlich gesagt hat. Das sublimierte Bild ist also in das primitive zurückzuübersetzen; in diesem Sinn will Wittgenstein „lehren“, „den Übergang von einem nichtoffenkundigen Unsinn zu einem offenkundigen machen“ (MS 129: 202; vgl. PU, § 524).¹⁰⁰ Mit einem gewissen Geschmack fürs Paradoxe gibt eine späte Reflexion (aus MS 143) dem Gedanken, dass die ‚primitive‘, ‚magische‘ Auffassung weniger ge-

 „Dass von der Vorstellung gleichsam unsichtbare Fäden ausgehen zu dem gemeinten Gegenstand hin, ist doch wohl eine zu \naive\ /primitive/ Auffassung, als daß sie einer im Ernst vertreten würde. Uneingestanden aber spielt sie eine umso grössere Rolle. Zu sagen, die Seele sei ein Männchen im Kopfe des Menschen, das aus den Augen heraussehe, ist weniger schädlich, als dieses selbe Bild in versteckter und sublimierter Form (damit es der Zensur im Sinne Freuds entgehe) zu verwenden. So ist es auch besser, wenn man sich eingesteht, daß man die intentionale Beziehung immer als einen unsichtbaren Fühler ansieht, den der Gedanke gegen sein Objekt ausstreckt.“ (VW: 446 ff.) Zu der Rolle uneingestandener Auffassungen vgl. Baker 2004c, insbes. S. 209 f.  „Unsere Methode ähnelt in gewissem Sinn der Psychoanalyse. In ihrer Ausdrucksweise könnte man sagen, das im Unbewusstsein wirkende Gleichnis wird unschädlich, wenn es ausgesprochen wird. Und dieser Vergleich mit der Analyse läßt sich noch weithin fortsetzen. (Und diese Analogie ist gewiss kein Zufall.)“ (VW: 70)  Auch die Autoren des Untergangs und der Abhandlung hätten sich eingestehen müssen, welches ‚Urbild‘ ihrer Betrachtung jeweils zugrunde lag bzw. aus welchem Beispiel sie hergenommen war. Siehe dazu S. 268 ff.

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fährlich ist als die sublimierte, eine besondere Wendung: „Wievielmehr Wahrheit darin daß der Seele dieselbe Multiplizität gegeben wird wie dem Leib als in einer modernen verwässerten Theorie. | Fr. merkt nicht daß wir da Platos und Schopenhauers Lehre vor uns haben.“ (MS 143: 6) Frazer merkt es doch! Er selbst unterstreicht die Kontinuität.¹⁰¹ Aber Frazer hält die malaiische Auffassung der menschlichen Seele „as a little man, mostly invisible and of the bigness of a thumb, who corresponds exactly in shape, proportion, and even in complexion to the man in whose body he resides“ (FGB 1922: 179¹⁰²), wirklich für besonders primitiv. Die ‚primitive‘ Form, in der die Seele noch ein „K ö r p e r […] in unserem Kopfe“ (MS 107: 238) ist, wird leichter durchschaut, und so wird man auch die sublimierte los; aber es kommt Wittgenstein letzten Endes nicht darauf an, welche Form nun ‚mehr Wahrheit‘ enthält. Dem Substantiv „Seele“ wird hier wie dort ein wie auch immer gearteter imaginärer „Träger“ zugeordnet. In der ‚primitiven‘ Auffassung hat wenigstens er die nötige „Multiplizität“; aber auf die Multiplizität des Bildes kommt es nicht wirklich an, nur auf die seiner Verwendungsweisen. Eine Erklärung über den (vermeintlichen) ‚Träger‘ und seine Eigenschaften ist kein Ersatz für eine Übersicht über den mannigfaltigen Gebrauch des entsprechenden Ausdrucks. Statt über das Bild nachzudenken (es zuerst als zu grob zu verwerfen und daraufhin zu sublimieren), muss man zeigen, wie es bzw. das Wort (hier das Adjektiv ‚seelisch‘) eigentlich verwendet wird. Ob das Bild richtig ist oder sogar „das beste“, ist nicht unabhängig davon zu klären.¹⁰³ Primitiv sind nicht die „Wandlungen der Bedeutung“, sondern die Philosophien, die sie ignorieren. Den Theorien, die aus dem Schema ‚Substanz und Beimischung‘ hervorgehen, fehlt es an der Einsicht, dass z. B. „Schönheit“ ein Familienbegriff ist. Sie enthalten die Auffassung, dass den schönen Dingen etwas

 Bereits in seiner ‚fellowship thesis‘ von 1879 über ‚The Growth of Plato’s Ideal Theory‘ hatte Frazer bei Plato denselben Fehler wie bei den ‚savages‘ gerügt (vgl. Stocking 1995: 128 f.). Brian R. Clack (1999: 132) sieht Wittgensteins unzutreffende Unterstellung. Ich würde noch einen Schritt weitergehen. Frazer – wie im Anschluss an ihn Ogden und Richards – will gerade zeigen, dass jene Irrtümer noch heute fortleben: in Metaphysik und Religion (aber auch im Spiritismus usw.). Auch Frazer, nicht nur Wittgenstein, hat ein metaphysikkritisches Anliegen.  Vgl. den Hinweis in PO: 141, Anm. 13.  „Nehmen wir an, das |unser| Bild des Denkens wäre ein Mensch, der den Kopf in die Hand stützt und zu sich selber redet. Unsere Frage ist nicht ‚Ist das ein richtiges Bild?‘ sondern: ‚Wie wird dies Bild als Bild des D e n k e n s verwendet?“ (TS 245. S. 233; BPP I, § 549) Der späte Wittgenstein vertritt emphatisch die Idee, „[d]er menschliche Körper“ sei „das beste Bild der menschlichen Seele“ (MS 144: 11; PU II iv: 476; vgl. BPP I, § 281; VB: 519); er meint jedoch nicht, dass der Körper eine treffende Abbildung bzw. Beschreibung der Seele ist, sondern dass er sie etwa durch Mienen- und Gebärdenspiel zum Ausdruck bringt.

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gemeinsam ist, woran sie alle teilhaben; und diese „Auffassung“, „daß es das Gemeinsame der Vorgänge, oder Gegenstände, etc. ist, welches ihre Charakterisierung durch ein gemeinsames Begriffswort rechtfertigen muß“, „ist, in gewissem Sinne, z u p r i m i t i v.“ (MS 140: 31; PG: 75; vgl. auch D 309: 27; BBB: 17) Der Begriff der Bedeutung selbst „stammt aus einer primitiven Philosophie der Sprache her“ (MS 114: 35; vgl. TS 213: 25; PG: 56; vgl. PU, § 2) bzw. ist „ein Ueberbleibsel einer primitiven Anschauung“ (MS 110: 224; TS 211: 261).Wie Augustinus sich das Lernen der Sprache vorstellt, zeigt, von „welcher primitiven Anschauung/welchem primitiven Bild, Weltbild/“ (MS 111: 18; vgl. auch TS 211: 12; PG: 57; PU, § 3) der Bedeutungsbegriff sich überhaupt herschreibt. Wittgenstein führt Augustinus weniger als Klassiker der Sprachphilosophie an denn als „natürlich-klar denkenden“ Exponenten eines anderen Kulturkreises: „Und was Augustinus sagt ist für uns wichtig weil es die Auffassung eines natürlich-klar denkenden Mannes ist, der von uns zeitlich weit entfernt, gewiß nicht zu unserem besonderen Gedankenkreis gehört.“ (MS 111: 15 f.; TS 211: 10)¹⁰⁴ Augustinus’ Lernszenario kann man entnehmen, wie verbreitet primitive Weltbilder und Anschauungen sind. Sie sind schon in den Formen der indoeuropäischen Sprachen niedergelegt und prägen die Philosophie nicht weniger als die Magie. Wittgenstein trifft sie bei Platon und Augustinus ebenso an wie in der heutigen Philosophie, sogar in seiner eigenen. Bereits die Auseinandersetzung mit dem Golden Bough setzt mit Augustinus und seinen Confessiones ein; und wenig später bietet das Zitat aus den Bekenntnissen Wittgenstein endlich das gesuchte Incipit: Der Anfang der Philosophischen Untersuchungen hat eine ähnliche Aufgabe wie die einleitende Frazer-Bemerkung, Metaphysik sei eine Art der Magie, und die Betrachtung über die „Quelle des Irrtums“. Die Untersuchungen setzen bei einem der primitiven Bilder an, von denen sich unsere philosophischen Begriffe überhaupt herschreiben. Wittgenstein hebt also das primitive Bild ins Bewusstsein, um wie Freud den Zauber des sublimierten Begriffs zu bannen: hier den des Bedeutungsbegriffs. Auch in diesem Fall geht es um die „Quelle“ eines Irrtums, der noch die zeitgenössische Philosophie plagt.¹⁰⁵

 Mit dem Zitat aus den Bekenntnissen wird Wittgenstein dem historischen Augustinus und insbesondere der in De Magistro entwickelten Sprachphilosophie nicht gerecht. (Vgl. Burnyeat 1987; Savigny 1994 ff., Bd. 1: 37.) Zum ‚augustinischen Bild‘ der Sprache in den Philosophischen Untersuchungen vgl. v. a. Baker/Hacker: „The Augustinian picture (§§1.27(a))“, in: Baker/Hacker 1980a: 17– 73.  Zur Erwähnung von Augustinus am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough siehe unten S. 133 ff.

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2.1.1.6 Missverständnisse der Sprachlogik. Paul Ernst, Frazer und Wittgenstein 2.1.1.6.1 Der Sündenbock – ein falsches Bild? Wie in der Philosophie verleiten Einen/uns/ auch im Leben scheinbare Analogien (zu dem was der Andere tut oder tun darf). Und auch hier gibt es nur ein Mittel gegen diese Verführung: auf die leisen Stimmen horchen die uns sagen, daß es sich hier doch nicht so verhält wie dort. (MS 183: 88)

Wittgenstein schreibt folgende Aufzeichnung im Herbst 1930 nieder, also einige Zeit vor – und unabhängig von – seinen ersten Bemerkungen über den Golden Bough, die vom 19. Juni 1931 datieren. Dieser frühere Text vergleicht „ein falsches Bild“ wie den Sündenbock mit den irreführenden Analogien, denen die begrifflichen Schwierigkeiten der Philosophie entspringen. Diese Homologie zwischen einem religiösen Brauch und philosophischen Irrtümern steht in einer gewissen Spannung zum Duktus der Frazer-Notate von 1931. Der Sündenbock auf den man seine Sünde legt und der damit in die Wüste hinausläuft ist ein falsches Bild wie alle, die philosophische Irrtümer verursachen./wie die falschen Bilder der Philosophie./ Man könnte sagen die Philosophie reinige das Denken von einer (falschen)/ irreführenden/ Mythologie (Paul Ernst Vorwort zu den Grimmschen Märchen) (MS 109: 210 f.).¹⁰⁶

Wittgenstein bezeichnet den „Sündenbock“ in aller Eindeutigkeit als „ein falsches Bild“. Er beruft sich dabei explizit auf Ernst, scheint jedoch den Brauch ähnlich zu interpretieren wie Frazer. The Scapegoat, der dritte Teil des zwölfbändigen Golden Bough, führt die dem „savage mind“ vertraute „notion that we can transfer our guilt and sufferings to some other being who will bear them for us“ auf eine „very obvious confusion between the physical and the mental, between the material and

 Wittgenstein nimmt diese Aufzeichnung aus dem Herbst 1930 noch in die Große Maschinenschrift auf. Dies heißt bei seiner Arbeitsweise jedoch nicht unbedingt, dass er mit seiner Deutung des Sündenbocks zufrieden ist, und schließt erst recht nicht aus, dass sich in der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough sein Schwerpunkt verlagert. (Genaueres zu Wittgensteins Arbeitsweise im Anhang, insbes. S. 401 ff.) Das Kapitel der Großen Maschinenschrift, in das Wittgenstein auch einige wenige Bemerkungen über Frazer einarbeitet, trägt den Titel „Die Mythologie in den Formen unserer Sprache. ((Paul Ernst.))“ (TS 213: 433; TS 212: 1203; vgl. TS 211: 394) Hier erwähnt die Aufzeichnung – anders als die erste Fassung – Ernst nicht mehr. Er wird ja in der Kapitelüberschrift genannt, und das Beispiel des Sündenbocks (wie auch das unten angeführte der Kinder Israel) kommt in seinem „Nachwort“ nicht vor. Die Annahme, dass das Bild von dort stammt, ist am Text nicht zu erhärten. Zur Kritik einer Hypothese von Rhees vgl. Baker/Hacker 1980b: 535, Anm. 57.

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the immaterial“ (FGB III 9: 1; FGB 1922: 539) zurück, d. h. auf die „simple confusion […] between the real possibility of transferring a physical load to other shoulders and the supposed possibility of transferring our bodily and mental ailments to another who will bear them for us“ (FGB III 9, Preface: V).¹⁰⁷ Diese grobe, primitive Verwirrung – führt Frazer aus – wird allerdings erst in der späteren Theologie ausgebaut, in der sie noch heute die Menschen irreführt; „the principle of vicarious suffering“ (FGB III 9: 1; FGB 1922: 539) verliert also nichts von seiner konfusen Natur. Im Gegenteil.¹⁰⁸ Schwer zu sagen, ob Wittgenstein an Frazers Analyse des Sündenbockrituals anknüpft.¹⁰⁹ Seine Bemerkung sieht auf jeden Fall dieselbe Tendenz am Werk; und auch seine Einschätzung, die primitiven Sprachbilder würden erst in verfeinerten, gleichsam sublimierten Formen wirklich verfänglich, steht hier nicht im Widerspruch zu Frazer. Ein Unterschied liegt vielleicht darin, dass Wittgenstein eine allgemeinere Tendenz der Sprache – die zur Verkörperung bei Substantiven – diagnostiziert. Denn in Frazers Theorien – merkwürdig für einen vormaligen klassischen Philologen – spielt Sprache keine bedeutende Rolle: Auch im Fall des

 W. Künne und B. R. Clack verweisen beide auf The Scapegoat, und Clack macht auf den Anfang des Bandes aufmerksam (vgl. FGB III 9: v; vgl. Clack 1999: 129 f.). Die meisten Interpreten (darunter auch Künne und Clack) übersehen offenbar, dass Wittgenstein diese Aufzeichnung einige Zeit vor seinen ersten Bemerkungen über den Golden Bough niedergeschrieben hat. Dies ist nicht ohne Bedeutung, weil zwischen diesem Notat und dem Duktus der späteren Auseinandersetzung mit dem Golden Bough wie gesagt eine gewisse Spannung besteht. Die frühere Entstehung macht außerdem die Herkunft aus Frazer weniger selbstverständlich, schließt sie allerdings nicht aus.  Was Frazer möchte, ist „illustrate the theory and the practice as they are found among savages in all their naked simplicity, undisguised by the refinements of metaphysics and the subtleties of theology“ (FGB III 9: 1 f.; FGB 1922: 539). Frazer legt besonderen Wert darauf, dass dieselbe „pathetic fallacy“, deren „crude inception in savagery“ er nachweisen will, ihr „full development“ erst „in the speculative theology of civilised nations“ erreicht; „the process which has refined the base and foolish custom of the scapegoat into the sublime conception of a God who dies to take away the sins of the world“, zeigt einfach die Fähigkeit „of transmuting the leaden dross of superstition into a glittering semblance of gold“ (FGB III 9: v), also in etwas, was zwar weniger grausam, aber doch kaum wertvoller ist, eher noch verfänglicherer und verwirrenderer.  Clack, der auf das Vorwort von The Scapegoat (FGB III 9: v) hinweist, bemerkt zu Recht, dass „perhaps surprisingly“ Wittgensteins „thoughts are little different from those of Frazer himself“ (Clack 1999: 129). Clack (1999: 124) zieht auch eine interessante Parallele: zwischen dem Sündenbock, der die Sünden trägt, und dem Todaustragen. (Beide Male wird ‚tragen‘ metaphorisch verwendet.) Frazer sieht hier allerdings nicht nur eine Parallele, sondern Identität: Er erklärt, „that the Death was not merely the dying god of vegetation, but also a public scapegoat, upon whom were laid all evils that had afflicted the people during the past year.“ (FGB III 9: 228; FGB 1922: 577).

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Sündenbocks legt der Golden Bough den Akzent nicht auf die Wirkung der Sprache.¹¹⁰ Diese geringe Aufmerksamkeit dürfte Wittgenstein nicht entgangen sein, auch wenn er in Frazers Buch immer wieder sprachphilosophischem Reflexionsmaterial begegnet, wenn nicht beim „Sündenbock“, dann sicher beim „Kornwolf“.¹¹¹ An Paul Ernsts Sinn für sprachliche Phänomene kann dagegen schon der frühe Wittgenstein theoretisch anschließen, und auf ihn beruft er sich auch hier. Wittgenstein zufolge sind ‚primitive‘ Bilder an sich nicht falsch, vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch nicht, sondern nur, wenn die Sprache feiert, v. a. in der Philosophie, aber potentiell in jeder theoretischen Disziplin. ‚Verkörperungen‘, ‚Substantialisierungen‘, Hypostasierungen‘ sind hier bekannte Irrwege. Aber im rituellen Kontext? Liegt dem Ritual wirklich „ein falsches Bild“ zugrunde? Selbst wenn es um dieselben Sprachprozesse und um dieselbe Art Bilder geht, 1) sind sie auch hier falsch? 2) Und „verursachen“ (MS 109: 210) sie Rituale? Beide Ideen kommen Frazers Theorie sehr nahe. Sie sind mit ähnlichen Schwierigkeiten behaftet. Und einige Monate später weisen die Bemerkungen über den Golden Bough Frazers Versuche, rituelle Handlungen aus Irrtümern zu erklären, entschieden zurück. Zu 1): Gegen Wittgensteins Kritik am Sündenbockritual lässt sich vieles einwenden, nicht zuletzt, dass sie vom historischen und kulturellen Kontext des Brauchs völlig absieht. Spiegeln sich darin kulturelle Vorurteile, die etwa mit einem christlich geprägten Blick auf das alte Judentum einhergehen?¹¹² Frazer erläutert das Ritual nicht als spezifisch hebräisch, sondern wie bei ihm üblich im synoptischen Kontext von ‚ähnlichen‘ Bräuchen aus allen Epochen und Kultu-

 Zum Thema vgl. Richards 1990.  Zum „Kornwolf“ siehe oben S. 99 f., zu den Bemerkungen über „Personal Names tabooed“ (FGB III 3: 318 ff.; FGB 1922: 244 ff.) siehe S. 88; auf die Beispiele von word taboos in Frazers Golden Bough berufen sich auch Ogden und Richards in ihrem Kapitel über The Power of Words (MoM: 40). In Hinsicht auf den Sündenbock bemerkt Frazer „the difficulty of distinguishing, or at least of marking the distinction, between the bearer and the burden“ (FGB III 9: 228; FGB 1922: 577).  Vgl. Lerner 1994, insbes. S. 606. Lerner richtet sich weniger gegen Wittgenstein als gegen R. Rhees und v. a. D. Z. Phillips. Rhees stimmt Wittgensteins Kritik nur bedingt zu (vgl. die Einschränkungen in Rhees 1979: 47, 56). Bei Phillips’ langer Variation über Wittgensteins knappe Äußerung (Phillips 1986: 30 ff.) ist Lerners Kritik berechtigt: Das einzige Ergebnis ist letztendlich, dass Phillips’ christlicher Sündenbegriff sich mit so einem Bild nicht verträgt, über den alttestamentarischen Brauch besagt dies jedoch nichts. Zuletzt richtet Lerner gegen Phillips eine ähnliche Kritik wie Wittgenstein gegen Frazers Voraussetzung, es gehe bei diesen Gebräuchen um Irrtümer.

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ren.¹¹³ Aber Wittgenstein? Geht es bei ihm um das alttestamentarische Ritual (Pentateuch 16, 20 – 22)? Die Anspielung ist eindeutig genug. Und Wittgensteins Kritik bewegt sich über den zeitlichen und kulturellen Abgrund hinweg, der uns von jenem alten Ritual trennt. Wittgenstein selbst wird schließlich empfehlen, die Aufmerksamkeit weniger auf das Bild als auf dessen Verwendung zu richten, und diese ist immer Verwendung in einem bestimmten Sprachspiel, also in einem historischen und kulturellen Zusammenhang. Es ist voreilig, ein Bild als falsch zu bezeichnen, ohne diesen Kontext zu beachten. Von Fall zu Fall werden folgende Fragen mithin andere Antworten erhalten: Wie werden jene Bilder verwendet? Anders als im Alltag? Wenn ja, inwiefern? Und werden sie wörtlich genommen? Von der vertieften Auseinandersetzung mit Frazer im Jahr 1931 datiert bei Wittgenstein eine neue Aufmerksamkeit für den Kontext der jeweiligen Äußerung, wenn auch zuerst nicht unbedingt für den allgemeinen historisch-kulturellen. Zu 2): Strenggenommen heißt es hier zwar nicht, das Bild sei die Ursache des Rituals, sondern nur, dass der Sündenbock ein falsches Bild ist und dass ähnliche falsche Bilder die philosophischen Irrtümer „verursachen“. Wittgensteins Ausdrucksweise legt trotzdem nahe, es gehe hier um Ätiologie, um die intellektuellen Ursachen – von philosophischen Irrtümern, aber auch von Ritualen. Auf die Ursachen philosophischer Irrtümer kommt es Wittgenstein jedoch nicht an. Die falschen Assoziationen, nach denen Frazer fahndet, sind Ursachen, der Philosoph aber sucht nach falschen Analogien, und diese sind Gründe. Die Kriterien sind jeweils ganz andere. Um Gründe geht es nämlich nicht in empirischen Theorien, sondern in philosophischen und/oder ‚ästhetischen‘ Betrachtungen; und Wittgenstein zufolge steht es in der Philosophie ausschließlich dem Sprecher zu, das von ihm verwendete Bild eventuell als ein falsches und die

 Der Golden Bough berührt den althebräischen Brauch nur beiläufig – in „The Periodic Expulsion of Evils in a Material Vehicle“, § 3 des 4. Kapitels „Public Scapegoats“ (vgl. FGB III 9: 210; FGB 1922: 569). Er geht dagegen extensiv etwa auf Sündenbockrituale bei Römern und Griechen ein und stellt fest, dass „similar attempts […] have been common also among the civilised nations of Europe, both in ancient and modern times.“ (FGB III 9: 47; FGB 1922: 543) Die Opfer in Nemi waren human scapegoats, und der Gekreuzigte verkörpert bei Frazer die gleiche Denkfigur (die Deutung der Kreuzigung bildet den Höhepunkt der zweiten Ausgabe). Von seiner evolutionären Perspektive aus schätzt Frazer die jüdische Religion höher als die christliche: Während das Christentum, das eigentliche Ziel seiner Kritik, die römisch-klassische Zivilisation zugrunde gerichtet haben soll, stellten die Propheten im alten Israel einen echten Fortschritt dar. Zu Frazer und dem Judentum vgl. Ackerman 1987: 180 ff. „Frazer was distinctly philo-semitic“ (Ackerman 1987: 183).

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Analogie als diejenige anzuerkennen, die ihn irregeführt hat.¹¹⁴ Bereits diese Natur von Wittgensteins Methode spricht gegen eine Parallelisierung mit Frazers Absichten.¹¹⁵ Rituale auf sprachliche (‚logische‘) Verwechslungen zurückführen würde eher einem schon lange untergegangenen Verständnis von Ethnologie entsprechen. Im neunzehnten Jahrhundert führte Max Müllers ‚vergleichende Mythologie‘ – wie im gegnerischen evolutionistischen Lager Herbert Spencers ‚Spitznamen-Theorie‘ – Gebräuche und Kultformen auf sprachliche Verwechslungen zurück, ohne und statt sie in den jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext zu stellen. Die These, dass Rituale aus einem grammatischen Missverständnis hervorgehen, wäre, wenn Wittgenstein sie verträte, extrem intellektualistisch, nicht weniger als Frazers Theorie und genauso unhaltbar wie diese.¹¹⁶ Das grammatische Missverständnis würde hier die kausale, erklärende Rolle übernehmen, die Frazer empirischen Irrtümern zuweist. Beide Ideen, a) dass es in diesem Kontext überhaupt um Irrtümer geht und b) dass Letztere die Rituale „verursachen“, sind in Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Golden Bough Gegenstand der Kritik. Will die Bemerkung von 1930 also wirklich auf eine verwandte (fehlgeleitete) empirische Theorie über die Ursachen von Ritualen hinaus wie Frazer am Anfang des Scapegoat? Wendet Wittgenstein beim Sündenbockritual einen Deutungsansatz an, den er wenig später preisgibt? Pflichtet er Frazer bei? Die Übereinstimmungen mit The Scapegoat geben zu denken. Man muss jedoch Frazers direkten Einfluss nicht zwingend annehmen.

 Über empirische Wahrheit könnte ein externer Beobachter mitreden; aber in der Philosophie geht es nicht um wahr und falsch, sondern um Sinn und Unsinn, also um die Grammatik, und diese ist autonom, willkürlich und als solche an keinem externen Maßstab zu messen. Dass ein Missverständnis der Sprachlogik wirklich vorliegt, kann der Philosoph also nicht allein entscheiden, auch nicht, ob etwas Sinn oder Unsinn ist: Er bedarf hierzu des Einverständnisses des Gesprächspartners. Wittgenstein betont die Analogie mit der Psychoanalyse; siehe dazu oben S. 104.  Deshalb kann es bei diesem philosophischen Ansatz nicht darum gehen, die ‚Magie‘ weit entfernter Zeiten und Völker zu erschließen. Muss der andere auch hier die falsche Analogie als Quelle seines Irrtums eingestehen? Muss er selbst merken, dass er konfus denkt? Muss er darüber hinaus auch der Diagnose zustimmen, dass seine Schwierigkeit eine begriffliche ist, und so auch die analytische Unterscheidung zwischen empirischer und begrifflicher Schwierigkeit anerkennen? Dies wäre in diesem Kontext kaum zu erwarten: Die Unterscheidung, die Wittgenstein konsequent trifft, die aber selbst Intellektuelle wie Frazer, Ernst sowie Ogden und Richards nicht machen, darf man auch den Handelnden nicht ohne weiteres zuschreiben.  Schon im 19. Jahrhundert steht Max Müllers linguistischem Ansatz Robertson Smiths soziologischer gegenüber. Vgl. etwa Ackerman 1987: 230. Zu Spencers ‚misinterpretation of nicknames‘ siehe unten S. 355 f.

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Die Spannung zwischen dem Ansatz der Bemerkung und dem der FrazerNotate vom Juni-Juli 1931 lässt sich auch anders erklären. Einerseits geht es in der früheren Überlegung primär um die Philosophie, und nicht um die Interpretation eines Rituals; das philosophische Anliegen, die ‚Sprachfallen‘ zu untersuchen, herrscht hier eindeutig vor. Andrerseits sind auch die methodischen Richtlinien zu berücksichtigen, die Wittgenstein Paul Ernst verdankt. Denn, ob er das Beispiel des Sündenbocks nun Frazer entnimmt oder nicht, er zieht es heran, um Ernsts Auffassungen zu erläutern. Im Folgenden ist also zu zeigen, ob Ernst hier von Frazer wirklich so fern ist, wie die Wittgenstein-Forschung im Anschluss an den Philosophen in der Regel voraussetzt.

2.1.1.6.2 Rationalisierungen Paul Ernst schildert eigentlich mehrere Wege, auf denen Motive und Sujets der Märchen entstanden sind und sich weiterentwickelt haben. Wittgenstein rezipiert selektiv den dritten: Nur an diesem orientiert sich seine Erläuterung der „Quelle“ philosophischer Probleme und Irrtümer. Jene Motive und Sujets sind nach Ernst entstanden durch „Wandlungen der Sprache, indem eine spätere Zeit die Sprachlogik der Vergangenheit nicht mehr verstand und durch Erfindungen deutete“ (Ernst 1910: 273). Diese „Erfindungen“ waren Geschichten, die „unverstandene Reste des früheren Glaubens rationalistisch“ deuteten und dadurch plausibel machen sollten. „Der Prozeß ist im wesentlichen immer der: ein durch die Wirklichkeitserfahrung unlösbares Problem wird durch eine erfundene rationalisierende Geschichte gelöst.“ (Ernst 1910: 308) Dabei bringt die „rationalistische Deutung“ „ein neues poetisches Element“ (Ernst 1910: 284) in den Stoff; durch sie entwickelt sich gewöhnlich aus dem Märchen eine Novelle. Diese rationalisierende Lösung wird aber bald ebenfalls als im Widerspruch mit der Erfahrung empfunden. Sie genügt fortgeschritteneren Rationalitätsstandards nicht mehr. Es folgen weitere Rationalisierungen, bis das Ganze endlich fallen gelassen wird. Denn irgendwann sind die Möglichkeiten des Stoffes erschöpft, und die Rezeptionsgeschichte eines Motivs kommt zu einem Ende. Das Ganze löst sich zuletzt wie von selbst auf.¹¹⁷ Philosophische Probleme jedoch nicht. Der Philosoph muss die Sprache erst umgruppieren bzw. umpflügen, d. h. den jeweiligen Sprachgebrauch übersichtlich darstellen. Im Übrigen aber sieht Wittgenstein eine tiefe Analogie: Märchen und  „Im Fortgang der Zeiten stellen sich in dieser Geschichte wieder unlösbare Probleme heraus, und eine neue Erdichtung kommt wieder wirklichkeitsnäher; in der folgenden Zeit wird die Wirklichkeitskritik wieder schärfer, und eine neue Rationalisierung kommt, bis man zuletzt das Ganze als belanglos oder töricht überhaupt fallen läßt.“ (Ernst 1910: 308.)

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Metaphysik gehen mit der Sprachlogik ähnlich um.¹¹⁸ Auch metaphysische Theorien sind nämlich Rationalisierungsversuche: Die in den Sprachformen niedergelegten Bilder scheinen nach einer Erklärung zu verlangen. Die philosophischen Pseudoerklärungen – etwa durch ätherische Gebilde, schattenhafte Wesen und Vorgänge – versperren jedoch erst recht den Weg zu einer echten Auflösung des ursprünglichen Missverständnisses, zu einer Übersicht über die Verwendung der Sprachformen. Wittgenstein überträgt Ernsts Ansichten über die Entstehung von Volksmärchen auf die philosophischen Probleme. Aber er beschränkt sich nicht darauf: Er deutet im selben Stil auch ethnologische Phänomene; denn er stößt wiederholt auf ethnologische Parallelen zu den philosophischen Missverständnissen.¹¹⁹ Wittgenstein, der mit Frazer scharf ins Gericht geht, nimmt Ernst dagegen mit Auszeichnung auf. Wer nur Wittgenstein liest, bekommt also den Eindruck, dass jene zwei Autoren konträre Positionen vertreten. Dieser Eindruck ist jedoch irreführend. Zwischen dem Eklektiker Ernst und Frazer gibt es zwar Unterschiede, aber keinen Gegensatz. Der Schein eines Gegensatzes entsteht deshalb, weil Wittgenstein Überlegungen Ernsts herausstreicht und ausarbeitet, die einem Frazer fremden, ja dem des Golden Bough konträren Ansatz entstammen. Man hat ungenügend beachtet, dass Paul Ernst lediglich Wittgensteins unmittelbare Quelle ist. Die für Wittgenstein entscheidenden Vorstellungen Ernsts über jenen dritten Weg – das Missverständnis der Sprachlogik – orientieren sich offenbar an Max Müller. Der Begriff ‚Missverständnis der Sprachlogik‘, den Wittgenstein dann aufgreift und herausarbeitet, steht in der Tradition der vergleichenden Mythologie, d. h. des theoretischen Hauptgegners der Evolutionisten von Tylor bis Frazer. Mythen, die heute absurd scheinen, verdanken – so Müller – ihre Entstehung einer sprachlichen Verwechslung. Die alten Arier mussten ab-

 Die „Wandlungen der Sprache“ (Ernst 1910: 273), die Ernsts Theorie in den Mittelpunkt stellt, gehen auf Missverständnisse zurück: Sie ergeben sich in der philosophischen Reflexion über unverstandene Sprachformen, also erst nachträglich. Die Wandlungen der Bedeutung, die Wittgenstein beim ‚Kornwolf‘ bemerkt (vgl. MS 110: 256, und siehe oben S. 99 f.), kennzeichnen dagegen den normalen Sprachgebrauch. Sie entsprechen der Sprachlogik, nicht deren Missverständnis. Beim ‚Kornwolf‘ geht es um koexistierende, synchronisch vorkommende heterogene Bedeutungen; Ernst meint dagegen Bedeutungsverschiebungen, die eine Bedeutung löst die andere ab. Gerade Wandlungen wie beim Kornwolf können indes, selbst wenn sie weder unbedingt Missverständnisse sind noch durch solche hervorgebracht werden, zu Missverständnissen Anlass geben. Eine Übersicht über derlei Wandlungen ist nämlich schwer, und gerade dort, wo die Bedeutung immer wieder schwankt, wird die Sprachlogik besonders leicht missdeutet.  Bemerkenswert ist neben dem Sündenbockritual ein in späteren Texten eingeführtes Beispiel: die ‚Kinder Israel‘. Siehe unten S. 354 ff.

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strakte Gedanken metaphorisch ausdrücken, und diese gleichnishafte Ausdrucksweise war den späteren indoeuropäischen Stämmen nicht mehr verständlich: Aus den nomina machten sie numina,¹²⁰ aus den Bezeichnungen von Naturerscheinungen wurden Götter. Die vergleichende Mythologie erzählt also eine Verfallsgeschichte: Die altindischen Originalmythen (und so mittelbar auch die griechischen Mythen) gehen auf missverstandene Aussagen der alten Arier über die Sonne zurück, auf missverstandene Gleichnisse also. Dies zeigt die vergleichende Sprachforschung, der einzige Zugang zum Mythos. Müller bezeichnet das, was Ernst später Missverständnis der Sprachlogik nennt, sogar als „disease of language“. Bei Ernst stellt Sprache wiederum keine Krankheit dar; und mit einer Erkrankung ist bei Wittgenstein nicht die Sprachlogik selbst zu vergleichen, sondern erst das nachträgliche Missverständnis. Die Evolutionisten greifen die vergleichende Mythologie und ihre philologische Methode scharf an.¹²¹ Ernst muss diese Kritik gekannt haben und macht sich Müllers Grundthesen nicht zu eigen. Dass das Missverständnis der Sprachlogik bei ihm nur einen von drei Wegen darstellt, ist bereits eine Relativierung. Aber auch er sieht wie Müller Irrtümer und Missverständnisse im Umgang der Menschen mit der Sprache und mit den in ihr niedergelegten Gleichnissen bzw. Analogien entstehen. Ernst ist jedoch im Grunde ein Eklektiker, der verschiedene Theorien aufnimmt und einarbeitet. Er vertritt durchaus auch evolutionäre Auffassungen – offenbar in Anlehnung an Tylor und vielleicht auch an Frazer. Grimms Märchen – so Ernst – zeigen in ihrer Übereinstimmung mit denen fremder Völker das Allgemeinmenschliche in Ethik wie in Phantasie. Motive und Sujets der Märchen, die überall, „durch alle Völker und Zeiten“ wiederkehren, stammen nicht aus der Wirklichkeit. Sie müssen sich „aus etwas ganz allgemein Menschlichem herleiten“ lassen; sie treten „mit zwingender Notwendigkeit überall“ (Ernst 1910: 293) in einem bestimmten Stadium auf. Ernst glaubt also an die independent invention der Evolutionisten.

 „‚Nomina numina‘, repetait sans cesse Eugène Burnouf.“ (Renan 1953: 59, Anm. 1). Max Müller war ein Schüler Burnoufs. Zu Müllers Comparative Mythology vgl. insbes. Camporesi 1989; vgl. auch Stocking 1987: 60 und passim.  Tylor sah in Müllers „disease of language“ nur a „secondary formation“ (vgl. Stocking 1987: 163, 306; vgl. auch Schrempp 1983). Die polemischste Abrechnung eines Evolutionisten mit der vergleichenden Mythologie hatte Andrew Lang verfasst, zugleich Frazers schärfster Kritiker. Auch Frazer lehnte den Begriff ‘disease of language‘ ab (vgl. Ackerman 1987: 87; zu Müller und Frazer vgl. auch Connor 1990, insbes. S. 61 ff.) und wies mit ihr auch Spencers Theorie der Spitznamen zurück; Letzterer gehörte wie er zu den Evolutionisten, aber gerade mit dieser Theorie schien er Frazer gefährlich in die Nähe der vergleichenden Mythologie geraten zu sein (vgl. Stocking 1995: 135).

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Gleich am Anfang seines Nachworts stellt er die klassische Alternative der viktorianischen Ethnologie auf. Wie kann man die „auffällige Verwandtschaft“ zwischen den „Märchen, Sagen und Novellen aller Völker“ (Ernst 1910: 308) erklären? Entweder durch Verbreitung von einer bestimmten Quelle aus, also diffusionistisch,¹²² oder durch Evolution. (Ernst benutzt diese technischen Begriffe nicht, und Wittgenstein dürfte nicht bemerkt haben, dass er es hier noch einmal mit Frazers Ansichten zu tun hatte.) Ähnlich wie die Evolutionisten schließt Ernst die diffusionistische Hypothese nicht schlichtweg aus, schränkt jedoch ihre Tragweite bedeutend ein.¹²³ Die Diffusion ist der geschichtliche Prozess, in dessen Lauf kulturelle Erscheinungen von einer Gesellschaft auf andere übergehen. Gegen die Versuche, Entlehnungsprozesse historisch zu rekonstruieren, behaupteten die Evolutionisten, Entlehnungen kämen zwar lokal immer wieder vor, seien aber von untergeordneter Bedeutung. Der wesentliche Prozess in der Geschichte der Kultur sei die „unabhängige Erfindung“ („independent invention“) kultureller Phänomene in den verschiedensten Erdteilen. Diese unabhängige Erfindung weise auf die homogene Reihenfolge gleichartiger Entwicklungsstadien des menschlichen Geistes. Es komme also weniger auf die historische Rekonstruktion kultureller Entlehnungen an als darauf, durch die vergleichende Methode die notwendige Reihenfolge der überall vorkommenden Entwicklungsstadien nachzuweisen. Auch Ernst will im Sinn der Evolutionisten allgemeinere Gesetze des menschlichen Geistes sichtbar machen. Die „independent invention“ ist die implizite Voraussetzung seiner Methode: Indem er die möglichen alternativen Entwicklungen eines Motivs logisch deduziert, will er aufzeigen, wie der Verstand überall die gleiche Arbeit verrichtet.¹²⁴ Ernst zufolge ist „für die letzten Gründe des Entstehens der Erzählungen gleichgültig, ob sie fast nur an einem Ort entstanden sind oder überall in der ganzen Welt“, und zwar weil sie „überall möglich“ sind;

 Ernst führt hier nicht zufällig Theodor Benfey an, der in seiner Einleitung zum Panchatantra (1859) eine diffusionistische Hypothese vertritt: Demnach stammen die in die Sammlung der Brüder Grimm aufgenommenen Märchen ursprünglich aus Indien und sind über Handelswege nach Europa gelangt.  Ernsts „Nachwort“ (Ernst 1910: 273) zufolge ist nicht relevant, ob der Animismus (Tylors Begriff) „aus der Deutung einer mißverstandenen Tendenz der Sprache entsteht“ (Max Müller). Auch in seinem Aufsatz „Ein Novellenstoff“ formuliert Ernst die Alternative zwischen Diffusion und unabhängiger Erfindung. Hier kommt er allerdings zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Animismus sei ein klarer Fall von „independent invention“. Ein weiterer seien die Moralvorschriften. (Der Wittgenstein unbekannte Aufsatz aus Der Weg zur Form, der hier das „Nachwort“ zusammenfaßt, ist zitiert bei Künne 1996, Anm. 17.)  Zu dieser auch für Wittgenstein bedeutenden Methode siehe unten S. 244 ff.

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„ob aus ihnen überall etwas entstanden ist, das ist eine Frage zweiter Bedeutung“ (Ernst 1910: 273).¹²⁵ Diese Vorgänge spielen sich schon immer – und noch heute – ab. Ernst schließt sich der letzten Endes unhistorischen Theorie der Evolutionisten an, die Beschaffenheit des menschlichen Geistes determiniere die Leiter der Kulturentwicklung. Vor diesem Hintergrund erklärt Ernst, dass seine Untersuchung keine historische ist: Seine Ausführungen haben „nicht einen historischen Zweck, sondern einen ästhetischen“ (Ernst 1910: 295); und seine Aufmerksamkeit gilt Phänomenen, die „unerklärlich“, aber „verständlich“ (Ernst 1910: 272 f.) sind.¹²⁶ Mit seinem ästhetischen und ‚hermeneutischen‘ Anliegen steht Ernst im Gegensatz zur erklärenden Methode der evolutionären Ethnologie, nicht aber mit seiner Ablehnung des Historischen. Gerade in diesem Punkt stimmt er mit den Evolutionisten überein. Wittgenstein, der die Betonung des Ästhetischen und des Verständlichen als kongenial empfunden haben mag, hat wahrscheinlich die Nähe zwischen Frazer und Ernst übersehen. Auf jeden Fall rezipiert er den Letzteren nicht als Evolutionisten.¹²⁷ Bei Frazer spielt der Kausalitätsbegriff auf zwei Ebenen eine entscheidende Rolle: 1) Das von ihm untersuchte Phänomen, den Aberglauben, bestimmt er einfach als Glauben an eine falsche Kausalität. 2) Er beansprucht, diesen Glauben wissenschaftlich zu erklären. Er forscht nach den psychologischen Ursachen des Aberglaubens und führt die magischen Anschauungen auf falsche Assoziationen zurück.¹²⁸ Auch Ernst sieht Volksmärchen aus einem Erklärungsbedürfnis entstehen. Er betrachtet sie als Rationalisierungen und, ähnlich wie Frazer die Magie, als die frühen Analoga zu den wissenschaftlichen Theorien von heute. In den Märchenmotiven drückt sich das wachsende Bedürfnis aus, die Widersprüche, die bei der jeweiligen intellektuellen Entwicklung offensichtlich werden, mit der Erfahrung abzugleichen. An der Wurzel dieser Widersprüche liegt Ernst zufolge ein Missverständnis der Sprachlogik eher als die Annahme einer falschen Kausalität. Der Grund ist jedoch, dass im primitiven Zustand die Empirie durch die ‚Logik‘  Ähnlich sieht es auch Wittgenstein: Man könnte „primitive Gebräuche sehr wohl selbst erdichten,“ „und es müßte ein Zufall sein, wenn sie nicht irgendwo wirklich gefunden würden“ (MS 110: 195; TS 211: 317; meine Hervorhebung). Siehe dazu ausführlich unten § 2.2.3.2, S. 242 ff.  G. Baker und P. M. S. Hacker (1980b: 536) sehen vor allem in diesen beiden Momenten die Verwandtschaft zwischen Wittgenstein und Ernst.  Wittgenstein scheint auch den Unterschied zwischen Frazers Geschichtsauffassung und derjenigen der Diffusionisten nicht zu bemerken. Der Grund ist, dass seine damalige Kalkülauffassung der Sprache „Geschichte“ als kausaltheoretischen Begriff kritisiert. Siehe dazu unten S. 296, 314.  Zu den ‚falschen Assoziationen‘ bei Frazer siehe oben S. 78.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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übertrumpft wird, die „Beobachtung“ durch „die logische Ableitung aus Wort und Begriff“, eine fehlerhafte Ableitung allerdings, die „ein Missverständnis der Sprachlogik“ beinhaltet; erst im Laufe der Entwicklung verschiebt sich das Gleichgewicht: Der Widerspruch mit der Erfahrung wird immer wieder bemerkt, und die Empirie übernimmt allmählich die Führung: Die Metaphysik wird durch die Wissenschaft überholt. Die Auflösung des Missverständnisses ist also kein rein logischer Prozess. Zu ihr gehört nämlich auch eine „Wirklichkeitskritik“ (Ernst 1910: 308).¹²⁹ Wenn sich die Anschauungen wandeln, löst sich der Komplex von ursprünglichem Missverständnis und sukzessiven Rationalisierungen wie von selbst auf, und dieser Wandel der Anschauungen geht offenbar mit der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Rationalitätsstandards einher. So entstehen für Ernst Irrtümer und Missverständnisse zwar im Umgang der Menschen mit der Sprache und mit den in ihr niedergelegten Gleichnissen bzw. Analogien; aber er sieht keinen kategorialen Unterschied zwischen empirischem Irrtum und sprachbedingtem begrifflichem Missverständnis. Kausale Erklärung und Klarlegung der Sprachlogik wirken zusammen. Frazer darf man wiederum nicht pauschal unterstellen, er würde begriffliche Verwirrungen gar nicht in den Blick bekommen: Gerade beim Sündenbock diagnostiziert er eine „very obvious confusion between the physical and the mental, between the material and the immaterial“ (FGB III 9: 1; FGB 1922: 539). Auch Ernst geht offenbar davon aus, dass eine falsche Analogie die Quelle einer empirisch falschen Theorie sein kann. Zwar setzt er den Akzent auf begriffliche Missverständnisse,während Frazer vor allem an empirische Irrtümer denkt.Trotzdem sind die zwei Positionen nicht dramatisch weit voneinander entfernt.¹³⁰ Die in der Wittgenstein-Forschung gängige Gegenüberstellung ‚empirische Irrtümer bei Frazer‘ versus ‚begriffliche Verwirrungen bei Ernst‘ zeigt im besten Fall nur eine Grundtendenz an, stimmt aber im Grunde nicht.

 „Nicht die Beobachtung entscheidet für den primitiven Menschen, […] sondern die logische Ableitung aus Wort und Begriff […]“ (Ernst 1910: 274). Erst in einem zweiten Stadium wird „der Widerspruch mit der Erfahrung“ empfunden, „und es entsteht das Bedürfnis, diesen Widerspruch auszugleichen“ (Ernst 1910: 275). Ernst nimmt seinen Ausgang von der evolutionären Theorie der survivals. Das survival steht isoliert, unerklärlich und zuletzt unglaubwürdig da. Die „Wirklichkeitserfahrung“ bietet keine Anknüpfung mehr für eine Deutung. Und so müssen „unverstandene Reste des früheren Glaubens“ (Ernst 1910: 308) rationalistisch gedeutet werden.  Stimmt es also wirklich, dass Ernst – wie dann Wittgenstein – eine Verwandtschaft zwischen uns und den „Wilden“ sieht, die Frazer dagegen nicht bemerkt (Künne 1996?) Wittgenstein mag Ernst und Frazer so gelesen haben. In dieser Hinsicht aber besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Autoren. Sie sehen die Verwandtschaft durchaus, aber beide nur in einer evolutionistischen Perspektive.

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Indem Wittgenstein empirische Irrtümer und begriffliche Verwirrungen strikt auseinanderhält, unterscheidet er sich, obwohl in geringerem Maß, auch von Ernst, nicht nur von Frazer.¹³¹ Die angeführte Aufzeichnung sieht im Sündenbock mit Ernst – und mit Frazer! – „ein falsches Bild“. Lässt sich nun diese Auffassung wirklich so formulieren: Rituale, wenn auch nicht alle, seien confused practices? ¹³² Besteht der Unterschied zwischen philosophischen Irrtümern und rituellen Bräuchen lediglich darin, dass Erstere confused theories sind und Letztere confused practices? Phillips ist dieser Meinung. „In a remark to Drury Wittgenstein said that myths and rites were closer to metaphysical than to scientific errors.“ (Phillips 1993c: 87 f.) „Rhees told me“ – erklärt Phillips – „that around the time he wrote the ‚Remarks on Frazer‘ Wittgenstein thought that probably most rituals were confused.“ (Phillips 2005a: 199)¹³³ Wie Frazer nach dem Vorbild (falscher) empirischer Hypothesen, so verstehe Wittgenstein ‚Magie‘ nach dem Vorbild (konfuser) philosophischer Theorien. Die meisten Riten und Mythen, aber nicht alle, sind für Phillips konfus und ähneln insofern metaphysischen Irrtümern; man darf sie daher kritisieren, allerdings – darauf legt Phillips Wert – nicht empirisch, sondern philosophisch (begrifflich und hermeneutisch). Der Unterschied zwischen Wittgenstein und Frazer liegt demnach darin, dass dieser in allen Riten empirische Irrtümer, Wittgenstein in manchen begriffliche gefunden haben will.

 In der Philosophie hat man es nur mit begrifflichen Unklarheiten zu tun. Wittgenstein behauptet allerdings nicht, dass in einem nicht philosophischen Kontext entweder nur empirische oder nur begriffliche Unklarheiten vorliegen müssen. Am Beispiel der zwei Dampfmaschinen zeigt er vielmehr, dass mit empirischer Unkenntnis ein begriffliches Missverständnis einhergehen kann; die konfuse Vorstellung lässt sich möglicherweise durch bloßes Nachdenken beheben, oder sie löst sich auf, wenn man den wahren Sachverhalt erfährt. Vgl. MS 112: 117v-118v.  Ich lasse den in der angelsächsischen Debatte geläufigen Ausdruck confused practices unübersetzt. Der Begriff geht m. W. auf die Auseinandersetzung zwischen Winch und Mounce zurück. Mounce, der in einem Aufsatz von 1973 die von Evans-Pritchard beschriebenen ‚magischen‘ Praktiken der Azande als distorted bezeichnet, warnt davor, practice und language game synonym zu verwenden: Nur so könne man practices als distorted kritisieren, ohne zugleich zuzugeben, es gebe etwas wie distorted language-games. Mounce schreibt die von ihm vertretene Auffassung, es gebe distorted practices, Wittgenstein nicht zu. Cook unterscheidet Irrtümer und confusions: Ihm zufolge nimmt Wittgenstein alle Riten gegen den Vorwurf, sie seien irrtümlich, prinzipiell in Schutz, und Cook meint, Wittgenstein habe die Möglichkeit nicht gesehen, Primitive seien begrifflich verwirrt (Cook 1983: 35). Phillips zufolge gehört dies dagegen wesentlich zu Wittgensteins Auffassung: Der Philosoph betrachte die meisten Riten als confused practices. Wie auch im Text ersichtlich, sind die konträren Anliegen der Interpreten, die sich in der Debatte um die confused practices gegenüberstehen, Wittgenstein ziemlich fremd.  Es handelt sich um die Diskussion von Phillips 2005b in Phillips2005a.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Stimmt das? So oder ähnlich liesse sich der Unterschied zwischen Wittgenstein und den Autoren von The Meaning of Meaning formulieren: Ogdens und Richardsˈ kausaltheoretische und Wittgensteins logische Auffassung bezichtigen magische Theorien, wie sie in der Philosophie vertreten werden, jeweils kausaler und ‚logischer‘ Irrtümer (grammatischer Konfusionen). (Wobei auch Ogden und Richards kausale und logische Irrtümer nicht so strikt voneinander trennen wie Wittgenstein.) Aber inwieweit unterstellt Wittgenstein nicht nur philosophischen Problemen und Theorien, sondern auch Riten und Zeremonien ein Missverständnis der Sprachlogik, d. h. falsche Analogien, Bildverwechslungen?¹³⁴ Der einzige autografische Beleg dafür ist die erläuterte Aufzeichnung über das Sündenbockritual, die etwa ein halbes Jahr vor den ersten Frazer-Notaten entstanden ist. Im Herbst 1930 allerdings wird der Brauch, den Sündenbock in die Wüste zu schicken, nur als „Bild“ thematisiert und nicht als (rituelle) Handlung. Es geht hier nicht um die Frage, ob der Sündenbock in diesem spezifischen Handlungskontext „ein falsches Bild“ ist (und es ist nicht ganz klar, ob das Bild auch den Ritus „verursacht“). Unabhängig davon, wie diese Aufzeichnung zu deuten ist: Bei den später entstandenen Bemerkungen über den Golden Bough herrscht eine andere Tendenz vor. Es ist nämlich alles andere als ausgemacht, dass Wittgenstein zur selben Zeit meint, rituelle Bräuche 1) gingen auf sprachlich induzierte begriffliche Verwirrungen zurück (Herbst 1930) und 2) nicht auf empirische Irrtümer (Juni-Juli 1931). Wenn die Frazer-Notate vehement bestreiten, den Ritualen lägen Irrtümer zugrunde, meinen sie zwar ‚empirische Irrtümer‘; aber dass sie Rituale auf andere Irrtümer, auf falsche Bilder bzw. begriffliche Verwirrungen, zurückführen wollen, liegt bei Wittgensteins Ausdrucksweise nicht nahe. Die Aufgabe, „das Denken von einer (f a l s c h e n ) /irreführenden/ Mythologie“ zu reinigen, stellt sich angesichts der philosophischen Irrtümer. Diese sind sprachinduziert; und gerade, um die verfänglichen sublimierten Bilder der Philosophie zu behandeln, macht sich der Philosoph mit den in Ritualen sichtbar werdenden ‚primitiven‘ Bildern vertraut. Die einleitenden Bemerkungen in MS 110 und in TS 211 tun auf jeweils andere Weise die gleiche Absicht kund: Der Philosoph will die Metaphysik durch den Vergleich mit der Magie fassen und sich in „die Quelle des Irrtums“ vertiefen, um diesen aufzulösen; und noch im genannten Kapitel des Big Typescript hat die Auseinandersetzung mit den Ritualen propädeutische Funktion. Dieses propädeutische Anliegen impliziert nur, dass Rituale Gleichnisse und Analogien aufweisen, und nicht, dass diese Bilder hier ebenso missverstanden werden wie in der Philosophie.

 So scheint es Phillips (1993d: 107 ff.) zu verstehen.

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Zwar findet Wittgenstein im Anschluss an Paul Ernst auch bei einem Brauch wie dem Sündenbockritual eine falsche Analogie und ein Missverständnis der Sprachlogik; aber diese Ernst abgeschaute Idee und der Vergleich mit den ‚Sprachfallen‘ der Philosophie stehen in keinem einfachen Verhältnis zur Hauptrichtung seiner Frazer-Kritik. Es handelt sich zwar eher um eine Spannung als um einen Widerspruch; aber die Bemerkungen über den Golden Bough richten sich, selbst wenn sie mit der Homologie von Magie und Metaphysik beginnen, in ihrer Haupttendenz gegen diese Homologie. Unmittelbar nach dem Vorspann wendet sich die Aufmerksamkeit den „magischen und religiösen Anschauungen“ im engeren Sinne zu, und die Betrachtung schlägt sofort eine andere Richtung ein. Magische und religiöse Anschauungen sind keine Irrtümer.

2.1.2 Der zweite Gedankengang: wider die intellektualistische Deutung der Magie 2.1.2.1 Wissen-Wie und Wissen-Dass: Meinungen und Handlungen 2.1.2.1.1 Individualistische und intellektualistische Ansätze. Ihre Kritik seit der Jahrhundertwende William James bemerkt 1900 sichtlich irritiert, dass Frazer, „after Tylor, […] the greatest authority now in England on the religious ideas and superstitions of primitive peoples“, „knows nothing of psychical research and thinks that trances, etc., of savage soothsayers, oracles and the like are all f e i g n e d !“ Der Autor der Principles of Psychology äußert sich allerdings zuversichtlich: Nach den gemeinsamen Gesprächen wird Frazer „proceed to put in big loads of work in the morbid psychology direction“.¹³⁵ Diese Erwartungen wird Frazer nicht erfüllen.¹³⁶ Die naive Idee, dass Zauberer immer simulieren, sagt ihm offensichtlich zu, er wird sie im Gespräch unumwunden geäußert haben, der Golden Bough ist jedoch vorsichtiger.¹³⁷ Auf jeden Fall konnte der Rationalist Frazer mit Trancezuständen und anderen Erscheinungen, die James faszinierten, nichts anfangen.

 Brief von William James an Frances Rollins Morse, 25.12.1900. In James 1992– 2004, Bd. 9: 393; vgl. auch Frazer 2005: 176.  Downie bemerkt zu James’ Brief und der darin berichteten zufälligen Begegnung im Dezember 1900 in Rom: Mrs. Frazer „found James credulous and gullible. […] Frazer was not persuaded by his acquaintance with William James […] to take any interest in academic psychology“ (Downie 1970: 27).  „Not that the sorcerer is always a knave and impostor; he is often sincerely convinced that he really possesses those wonderful powers […]“, aber „the ablest members of the profession

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Interessant an dem Brief ist allerdings auch, was er nicht berührt. James vermisst bei Frazer insbesondere allgemeinere psychologische Einsichten und nur unter diesem Aspekt Verständnis für ferne Zeiten und fremde Kulturen. Das Problem des interkulturellen Verstehens, des Verstehens des kulturell Fremden, spricht er gar nicht an. Es ist bei Frazer selbst alles andere als zentral. Der Philosoph, dessen Varieties of Religious Experience kurz darauf die „morbid psychology direction“ einschlagen, nimmt seinerzeit nicht als einziger Anstoß an Frazers psychologischer Naivität. Den Zeitgenossen fällt – neben der Beliebigkeit etlicher Konjekturen – gerade diese Schwachstelle als erste auf. Wegen ihrer veralteten Psychologie steht die intellektualistische Ethnologie schon unter Beschuss, lange bevor die Standardmethoden der Feldforschung sich durchsetzen. Die Assoziationspsychologie ist Anfang der siebziger Jahre, zur Zeit von Tylors Primitive Culture, brandaktuell; und noch James’ Principles, die 1890, im selben Jahr wie die erste Ausgabe des Golden Bough, erscheinen, wollen die Assoziationspsychologie nur von einigen mythologischen Vorstellungen befreien.¹³⁸ Spätestens um die Jahrhundertwende jedoch durchschauen nicht nur Fachpsychologen wie James, Rivers oder Wundt Frazers psychologische Rückständigkeit.¹³⁹ Während Frazer Tylors assoziationistischem Ansatz bis zuletzt treu bleiben wird, haben andere evolutionäre Anthropologen (z. B. Marett) einen wesentlich moderneren psychologischen Hintergrund. Huberts und Maussˈ Esquisse d’une théorie générale de la magie, die nicht lange nach James’ Zufallsbegegnung mit Frazer in Durkheims Année Sociologique erscheint, stellt der „psychologie intellectualiste de l’individu“ „une psychologie non intellectualiste de l’homme en collectivité“ (Hubert/Mauss 1902– 1903: 108) gegenüber.¹⁴⁰ Diese Formel steht für die zwei Hauptrichtungen der damaligen Reaktion auf die intellektualistische Psychologie: Fokussiert werden nun a) die Emotionen und b) das Kollektiv. Allerdings tendieren die Soziologen der Durkheim-Schule, auch Hubert und Mauss, zuletzt weniger zu einer derartigen Psychologie als zu einer Ablehnung psychologischer Argumente überhaupt.

must tend to be more or less conscious deceivers“ (FGB III 1: 215; FGB 1922: 46) Ähnlich argumentiert schon Tylor.  Vgl. Principles 1: 604. James Ward hatte 1886 in der Encyclopaedia Britannica seine Kritik der Assoziationspsychologie veröffentlicht. Frazer kannte ihn persönlich gut, ließ sich in dieser Hinsicht allerdings kaum beeinflussen (vgl. Stocking 1995: 130).  Vgl. Ackerman 1975, insbes. S. 134.  Zur Kritik der französischen Soziologen an dem intellektualistischen und individualistischen Ansatz der englischen Anthropologen vgl. auch Durkheim 1912; Lévy-Bruhl 1910, insbes. S. 5 ff.

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Für unsere Zwecke lässt sich diese theoretische Landschaft anhand eines damals gängigen, jetzt freilich lange überholten Schemas kartographieren. Diltheys Weltanschauungslehre führt die verschiedenen Philosophien auf drei nicht weiter reduzierbare Weltanschauungen zurück – und diese Typen wiederum auf das jeweilige Vorherrschen von Erkenntnisvermögen, Gefühl und Willen.¹⁴¹ James H. Leuba verwirft die entsprechenden Definitionen von Religion – ‚intellectualistic‘, ‚affectivistic‘ und ‚voluntaristic‘ – als einseitig (Leuba 1912: 339; vgl. 23 ff., 339 ff.).Wilhelm Schmidt wiederum unterscheidet intellektualistische, emotionale und voluntaristisch-soziologische „Zaubertheorien“ (Schmidt 1930: 114– 158).Von ihm – nicht lange nach Wittgensteins erster dokumentierter Auseinandersetzung mit Frazer – übernimmt auch Evans-Pritchard die Typologie. Bei Letzterem verflüchtigt sich die ursprüngliche Anlehnung der dreifachen Unterscheidung an die Vermögenspsychologie (Intellekt, Gefühl, Wille). Intellektualistische, emotionalistische und soziologische Deutung – und eventuell als vierte noch die historische – schließen einander nicht aus, sondern überlappen sich vielfach (vgl. EvansPritchard 1933: 123, Anm. 1).¹⁴² Jahrzehnte später wird Evans-Pritchard dann Intellektualismus und Emotionalismus als zwei Varianten eines einzigen, (indivi-

 Der Typus, in dem der Wille vorherrscht, die religiöse Weltanschauung, lässt sich je nach relativem Gewicht der drei Vermögen noch einmal in drei Untertypen teilen. Zu den Typen der Weltanschauung vgl. Dilthey 1960: 75 ff.  „The Intellectualist (English) Interpretation of Magic“ (Evans-Pritchard 1933) ist der erste von drei eng zusammenhängenden Artikeln; die übrigen zwei sind jeweils Lévy-Bruhl (EvansPritchard 1934) und Pareto (Evans-Pritchard 1936) gewidmet. Den intellektualistischen Ansatz vertreten, wie zu erwarten, Tylor und Frazer. Aber wer für welchen der übrigen Ansätze steht, ist bei Evans-Pritchard nicht ganz klar. Sein zweiter Beitrag gilt Lévy-Bruhl, mit dem Schmidt den voluntaristisch-soziologischen Ansatz verbindet. Von den Emotionalisten nennt Evans-Pritchard Marett (Evans-Pritchard 1934: 39), den er aber nicht weiter behandelt. Ob der im dritten Beitrag kritisierte und bei Schmidt nicht angeführte Soziologe Pareto für diesen Ansatz steht, bleibt unklar. V. Merten (1996: 32) geht offenbar davon aus. Evans-Pritchard erwähnt zudem noch einen historischen Ansatz, worunter er wahrscheinlich Schmidts historische Ethnologie versteht (und in den Vereinigten Staaten Franz Boasˈ historische Schule). Bei Evans-Pritchard erschöpft also die Unterscheidung nicht sämtliche gängige Theorien: Er bietet nur das Fragment einer „Histoire des Doctrines of Primitive Mentality“ (Evans-Pritchard 1936: 1). Vgl. dazu Merten 1996: 29 ff. Auch Lara 2005 bezieht sich immer wieder auf Evans-Pritchards Beiträge. – 1937 zeigt Evans-Pritchards Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, dass die 1933-ˈ36 explizit kritisierten Ansätze (und auch derjenige Malinowskis) inadäquat sind. An Evans-Pritchards Monographie knüpft dann die Rationalitätsdebatte an, in deren Kontext Wittgensteins Bemerkungen über den Golden Bough zum ersten Mal publiziert werden (siehe dazu unten S. 398). Philippe de Lara (2005) betrachtet Evans-Pritchards Buch als unüberholten idealen Schlusspunkt dieser Debatte. Ich würde mich dem nicht anschließen. Zu Geertzˈ Kritik an Evans-Pritchard siehe oben S. 60.

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dual)psychologischen Ansatzes betrachten, dem er den soziologischen entgegensetzt.¹⁴³ Die Gegenüberstellung beinhaltet, dass der Emotionalismus im Endergebnis ähnlichen Schwierigkeiten begegnet wie der Intellektualismus. Intellektualisten wie Tylor und Frazer phantasieren sich in fremde Denkvorgänge hinein und postulieren hypothetische psychologische Prozesse, die sie den Handelnden willkürlich zuschreiben. Die Beliebigkeit, die bereits Lévy-Bruhl beim Intellektualismus bemerkt,¹⁴⁴ kennzeichnet auch den Emotionalismus; denn Emotionalisten wie Marett unterscheiden sich von den Intellektualisten einzig in dem, was sie postulieren: Gefühle statt Gedanken. Psychologische Deutungen – so EvansPritchard mit Durkheim – können hier nur irreführen; denn „psychological concepts are used where they are quite irrelevant“ (Evans-Pritchard 1933: 139).¹⁴⁵ Riten und Gebräuche sind soziale Tatsachen: Sie mögen zwar intellektuelle und emotionale Bedürfnisse befriedigen, entspringen jedoch nicht individuellem Nachdenken und Fühlen; der Glaube bzw. die Emotion, heißt es, sind „nicht die Ursache, sondern die Wirkung der Riten“. Gemeint ist jedoch eigentlich, dass eine kausale Analyse irreführen würde.¹⁴⁶ Es macht keinen Sinn zu fragen, was Wirkung und was Ursache sei, ob der Ritus den Glauben (bzw. das Gefühl) hervorbringe oder der Glaube (bzw. das Gefühl) den Ritus. Ritus, Anschauung und Gefühl entwickeln sich zusammen als Teile eines kohärenten Ganzen, in dem die Handlungsdimension die primäre ist. Auch Wittgenstein teilt die Idee, dass sie einfach koexistieren und dass der Vorrang eher der Handlungsabfolge gebührt.

 Evans-Pritchard bezieht sich auch hier auf Schmidt, auf den er die Bezeichnungen ‚intellectualist‘ und ‚emotionalist‘ zurückführt (vgl. Evans-Pritchard 1965: 4). Die Terminologie ist aber älter – und Schmidt klassifiziert so Zaubertheorien, nicht Theorien primitiver Religion.  Vgl. Lévy-Bruhl 1910: 13; vgl. Lévy-Bruhl 1922: 15.  Unzulässig findet Evans-Pritchard „those perilous leaps backwards and forwards in the dark from observable social behaviour to individual psychological processes“ (Evans-Pritchard 1933: 139). Im selben Sinn geht Evans-Pritchards spätere Äußerung: „Durkheim tells us that a psychological interpretation of a social fact is invariably a wrong interpretation“. (Evans-Pritchard 1965: 46). D. Z. Phillips ‚adaptiert‘ stillschweigend diesen Satz: Er ersetzt ‚interpretation‘ mit ‚explanation‘ (1993d: 111).  „I would rather hold the view that the belief […] is not the cause but the effect of the rites. Actually the cause-effect analysis is misleading.“ (Radcliffe-Brown 1977: 105). Den auf Robertson-Smith zurückgehenden Einwand gegen den Intellektualismus führt Evans-Pritchard gegen den Emotionalismus an. Was für den ‚belief‘ gilt, trifft auch für die ‚emotion‘ zu: „it is not the emotion which brings about the rites, but the rites which bring about the emotion.“ „It [der Ritus; MB] is a creation of society, not of individual reasoning or emotion, though it may satisfy both.“ (Evans-Pritchard 1965: 45, 46; vgl. Phillips 1993d: 112.) Wittgenstein sieht in MS 143 ein, dass ein Ritus nicht einfach die Erfindung eines Einzelnen darstellen kann. Siehe dazu unten S. 130, Anm. 161, S. 326, 396.

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Während die psychologieskeptische soziologische Richtung sich rasch durchsetzt (die Durkheimianer in Frankreich, dann Radcliffe-Browns StrukturalFunktionalismus und auf eigene Weise noch Evans-Pritchard in Großbritannien), erscheinen die verschiedenen Varianten von Emotionalismus bald als überholt – und zwar nicht nur die individualpsychologischen Ansätze und die naiv kollektivpsychologischen, die sich an der damaligen Massenpsychologie orientieren (beide z. B. bei Marett¹⁴⁷), sondern auch die psychologischen Betrachtungen des primär soziologisch orientierten Feldforschers Malinowski.¹⁴⁸ Bei aller theoretischen Unzulänglichkeit bilden diese Positionen den historischen Hintergrund von sämtlichen philosophischen Diskussionen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (unter vielen anderen bei Dewey, Cassirer, Bergson und Husserl) und auch von Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazer. Die entsprechende Terminologie hat sich auch in der Debatte um seine Bemerkungen eingebürgert. Bei der scharfen Kritik an Frazers Intellektualismus lag es nämlich nahe, Wittgensteins Betrachtungsweise mit emotionalistischen (bzw. expressivistischen) Ansätzen zu vergleichen, und sie wurde immer wieder zu ihnen gerechnet.¹⁴⁹ Es stellte sich außerdem von Anfang an die Frage nach Wittgensteins Beziehung zur soziologischen Richtung und zu Evans-Pritchard – wie später etwa zu Geertzˈ hermeneutischer Ethnologie.

 In Oxford bewegt sich Marett immer mehr in Richtung einer sozial orientierten Psychologie und stützt sich dabei insbesondere auf William McDougalls An Introduction to Social Psychology (vgl. Marett 1914c: 169, 172). Auch und gerade in Cambridge hängen ethnologische und psychologische Reflexionen spätestens seit der Expedition zur Torres-Straße eng miteinander zusammen. – Philosophisch ist Maretts Emotionalismus auch von William James’ Pragmatismus geprägt: Marett bezieht sich ausdrücklich auf James’ ‚will to believe‘.  Die klassische kritische Stellungnahme der späteren Generation zu Malinowskis noch individualistisch geprägtem Emotionalismus ist Nadel 1957 (insbes. S. 191, 197). Vgl. dann etwa Douglas 1988: 80. – Schon Evans-Pritchard bemerkt v. a. gegen Marett und Malinowski, dass bei den Azande magische Praktiken in der Regel (es gibt auch eine Ausnahme) keinen gesteigerten Gefühlsausdruck zeigen und dass es in dieser Gesellschaft keinen für Magie charakteristischen Gefühlszustand gibt (vgl. dazu Merten 1996: 182 ff.).  Weder Wittgenstein noch Frazer verwenden die genannten Ausdrücke, auch ‚Intellektualismus‘ nicht. Frazer nennt den von ihm vertretenen Ansatz ‚mental anthropology‘. Ähnlich wie Hubert und Mauss 1902– 1903 bezeichnet Marett 1904 „Frazer’s account of magic“ in der zweiten Ausgabe des Golden Bough als „too intellectualistic“ (1914b: 29). Der Ausdruck ist also in Anthropologie, Soziologie und Psychologie schon lange im Umlauf, als Radcliffe-Brown, ein gutes Jahrzehnt vor Evans-Pritchard, Tylors und Frazers ‚intellectualist hypothesis‘ zurückweist (vgl. Radcliffe-Brown 1922: 233).

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2.1.2.1.2 „Eher als eine Theorie, ist es ein Seufzer, oder ein Schrei.“¹⁵⁰ Drurys expressivistische Lesart Als Philosoph möchte sich Wittgenstein auf ‚grammatische‘ Betrachtungen beschränken. Einspruch erhebt er eher gegen Frazers Form der Darstellung als gegen spezifische empirische Irrtümer.¹⁵¹ Die strenge methodische Maxime, sich empirischer Theorien prinzipiell zu enthalten, kann er allerdings nicht ganz erfüllen. Insofern ist für ihn die Auseinandersetzung mit Frazer auch eine Einübung in die Grenzen der Philosophie. Später wird er freimütig die Versuchung eingestehen, dem Lehnstuhlethnologen ebenfalls aprioristische, empirisch unverbürgte Betrachtungen entgegenzusetzen.¹⁵² Eigentlich jedoch kommt es Wittgenstein von Anfang an auf eine alternative Form der Darstellung an. Er selbst fragt sich in diesem Kontext, ob die eigene „Darstellungsform“, die „übersichtliche Darstellung“, nicht doch etwas wie eine spenglersche „Weltanschauung“ bildet.¹⁵³ Eine ‚Weltanschauung‘ ist auf jeden Fall keine Theorie, und seine Bemerkungen sind nicht als eine zu den frazerschen Hypothesen alternative, Allgemeingültigkeit beanspruchende geschlossene Theorie gemeint. Zwar hat man sie immer wieder so gedeutet; aber es handelt sich vielmehr um heterogene grammatische Erläuterungen zum Golden Bough: Erinnerungen an den Sprachgebrauch, einfache Fragen, Denkübungen, alternative Möglichkeiten, ‚Gedankenexperimente‘, Beispiele, die die Imagination anregen sollen.¹⁵⁴ Die zahlreichen Reflexionen, die gegen Frazer den expressiven Aspekt von Ritualen betonen, teilen diesen polyphonen Charakter. Gegen den Golden Bough führt Wittgenstein immer wieder Beispiele an, die in der damaligen Debatte geläufig sind. Er hat die Diskussion teilweise rezipiert, was natürlich nicht heißt, dass er den Forschungsstand überblickt und alle damals gegebenen theoretischen Optionen kennt. Die Frage ist, ob und inwieweit er bei aller Eigenwilligkeit seines Anliegens mit zeitgenössischen Ansätzen implizite theoretische Voraussetzungen teilt – oder auch scheinbar selbstverständliche, in Wirklichkeit aber kulturell bedingte, ja, ethnozentrische Vorstellungen. In der Literatur zu den Frazer-Bemerkungen geht es immer wieder darum, ob Wittgenstein bestimmte ‚Ismen‘ bzw. ‚Anti-Ismen‘ zuzuschreiben seien. Dass damit die richtigen Fragen gestellt sind, ist indes nicht ausgemacht: Wittgenstein selbst hat sich zu irgendwie gearteten ‚Ismen‘ nie bekennen wollen. (Fragen wie

 MS 118: 119 r; vgl. VB: 491; 1937.  Siehe die Textnachweise unten, S. 201.  Siehe dazu unten S. 189, 313, Anm. 16.  Siehe dazu unten, § 2.2.1.1, S. 191 ff.  Zur Heterogenität vgl. Lara 2005: 11. Beim Wort ‚Gedankenexperiment‘ lauert ein Missverständnis: Zu Wittgensteins Kritik von Machs Auffassung siehe unten S. 195 ff.

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die, ob seine Philosophie etwa ‚Solipsismus‘, ,Behaviourismus‘ oder ‚Pragmatismus‘ sei, stellt er nur, um sie zu verneinen.) Es läuft seinem Denkstil zuwider. Dennoch ist die entsprechende Terminologie, die z.T. in den Sozialwissenschaften beheimatet ist, in der Diskussion etabliert, und diese schlichte Tatsache macht die Referenz darauf bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich. Soweit diese Terminologie zur Klärung dient, ist sie auch nicht zu beanstanden: Die Gefahr, Wittgenstein auf ihm fremde commitments festzulegen, sollte allerdings nicht unterschätzt werden. Allgemeiner Konsens besteht darüber, dass er ‚anti-intellektualistisch‘ eingestellt sei. Immer wieder wurde ihm, teils ablehnend, teils befürwortend, ein ‚emotivistischer‘ oder ‚expressivistischer‘ Ansatz zugeschrieben. Kontrovers ist wiederum, ob dieser ‚Emotivismus‘ bzw. ‚Expressivismus‘ als eine strikt ‚antikognitivistische‘ und ‚anti-instrumentalistische‘ Position zu verstehen sei. Letztere erkennt der ‚Magie‘ lediglich emotionale und expressive Absichten zu, spricht ihr jedoch jedes kognitive und instrumentelle Anliegen ab, d. h. bestreitet, dass hier Erkenntnis und Beherrschung der Natur irgendwie angestrebt werden.¹⁵⁵ Bei den Begriffen ‚Emotivismus‘ bzw. ‚Expressivismus‘ lauert eine Äquivokation: (1) Einerseits versteht man unter ‚Emotivismus‘/‚Expressivismus‘ die im letzten Kapitel behandelten psychologischen und soziologischen Auffassungen, die zum Untergang von Tylors und Frazers individualistischem Intellektualismus beigetragen haben. (2) ‚Emotivistisch‘ oder ‚expressivistisch‘ nennt man andrerseits semantische Positionen, die auf die Abhandlung zurückgehen: Bestimmte

 Auch und vor allem zahlreiche Gegner von Emotivismus und Expressivismus sehen in Wittgenstein, den sie oft an Winch und Phillips angleichen, die Galionsfigur dieser Ansätze. J. W. Cook (1983: 3), der für eine „objectivist view“ plädiert, schreibt Wittgenstein (und Winch; vgl. Cook 1983: 9) eine konträre „emotivist view“ zu. Darunter versteht Cook eine antiobjektivistische d. h. strikt antikognitivistische und antiinstrumentalistische Theorie. Ähnlich beurteilen Wittgenstein andere Kritiker des Expressivismus wie Rudich und Stassen (1971), Mounce (1973), Ayer (1985) und Banner (1990: 67 ff.). Wittgenstein-affinere Lektüren äußern dagegen zumeist Bedenken gegen einen uneingeschränkten Expressivismus: Dies gilt auch für Autoren, die als Befürworter des Expressivismus gelten, wie Redding (1987). Zu den Kritikern strikt emotivistischer bzw. expressivistischer Wittgenstein-Lektüren zählt P. M. S. Hacker (1992). Auch Clack schreibt dem Philosophen keinen uneingeschränkten Anti-Instrumentalismus und Anti-Kognitivismus zu: Wittgenstein weise nur Frazers Intellektualismus strikt zurück und setze ihm seine Auffassung der spontanen, instinktiven Natur des Rituals entgegen. (Zu diesem Thema vgl. Clack 1999, insbes. 85 ff., 155. Ähnlich argumentiert auch Lara 2005: 99 ff.) Unter den Wittgenstein gegenüber reservierteren Autoren sieht Cioffi (1998: 159) in dem Philosophen keinen reinen Expressivisten. Er betrachtet ihn aber auch nicht als Vertreter eines widerspruchslosen nicht exklusiven Expressivismus (magische Handlungen seien zwar expressiv, aber immer wieder (auch) instrumentell). Zu Cioffis Ambivalenzthese siehe unten S. 185 f., Anm. 276.

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Äußerungen (in der Ethik etwa) haben keinen deskriptiven Inhalt und damit keinen Sinn, oder, wie Carnap diese Position reformuliert: Sie haben keinen theoretischen Gehalt und drücken lediglich Einstellungen aus, selbst wenn der Sprecher sich darüber im Unklaren ist, d. h., auch unabhängig von dessen Intention. Als empirische Ansätze sind die Positionen unter (1) von Wittgensteins philosophischem Anliegen zu unterscheiden, selbst wenn er deren anti-intellektualistische Ausrichtung teilt. Auch die Position(en) unter (2) kann man den Frazer-Notaten nicht zuschreiben, weil Wittgenstein 1931 die Philosophie der Abhandlung bereits hinter sich hat. Zwar hebt sich die Sprache der ‚Magie‘ nahezu sprichwörtlich durch ‚sinnlose‘ Ausdrücke vom normalen Sprachgebrauch ab. (Von ‚Abrakadabra‘ bis ‚Hokus Pokus‘, auf die sich Wittgenstein übrigens in anderem Kontext bezieht, prägen diese Ausdrucksweisen auch das populäre westliche Bild der Magie.) Aber laut den Bemerkungen vom Juni-Juli 1931 geht es in der ‚Magie‘ um artikulierte propositionale Einstellungen, um Wünsche und um deren Darstellung, nicht um prinzipiell sinnlose Äußerungen. In seinem Tagebuch (MS 183) formuliert Wittgenstein damals eine neue semantische Auffassung: Ethische Äußerungen sind sprachlich artikuliert, gehören zu einem ‚System‘ und haben insofern einen Sinn; ihre Funktion ist aber expressiv, und ‚Begründungen‘ sind in diesem Bereich ebenfalls sui generis. Diese anti-kognitivistische Ethik, in der die Ausdrucksfunktion hervorgehoben wird, impliziert, dass bestimmte Äußerungen keinen deskriptiven bzw. kognitiven Sinn haben; sie sind jedoch nicht unbedingt sinnlos, sondern pragmatisch eigentümlich. Inwiefern diese weniger bekannte Position Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit dem Golden Bough prägt, wird uns unten eingehend beschäftigen. Kann man diese Auffassung ethischer Äußerungen ‚expressivistisch‘ nennen? Den Namen verdient sie nicht mehr und nicht weniger als die Ethik der Abhandlung. ¹⁵⁶  Clack (1999: 21 ff.; vgl. auch 1996) bestreitet, dass Wittgenstein in seinen Bemerkungen über den Golden Bough eine expressivistische Position vertritt. Allerdings versteht Clack unter Expressivismus im Wesentlichen Ansichten, die mit Wittgensteins Abhandlung oder mit dem logischen Positivismus zusammenhängen: also scharf dichotomische Ansichten, die zwischen Tatsache und Wert bzw. belief und attitude strikt unterscheiden. Wittgenstein habe 1931 die Philosophie der Abhandlung bereits hinter sich, und ebenfalls, so Clack, „the verificationist concerns“ (Clack 1999: 46; Clack 1996: 55) seiner Gespräche mit Mitgliedern des Wiener Kreises (WWK). Clack schließt daraus voreilig, dass Wittgenstein damals bereits einen ähnlichen Standpunkt vertritt wie dann in den Untersuchungen. Aber der Philosoph, der sich im Juni-Juli 1931 mit dem Golden Bough auseinandersetzt, ist davon weit entfernt: Er geht zwar bereits davon aus, dass die Grammatik willkürlich, autonom ist, verfügt jedoch noch nicht über Begriffe wie

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Eine strikt ‚anti-kognitivistische‘ und ‚anti-instrumentalistische‘ Position geht weit über eine anti-intellektualistische Tendenz hinaus, ist weit radikaler als die oben unter (1) genannten Ansätze und lässt sich empirisch kaum untermauern. Auch Expressivisten wie Beattie hüten sich vor ihr. Niemand vertritt sie außer einigen ‚Wittgensteinianern‘. Drury ist ihr Kronzeuge. Er will zwar nicht auf eine Theorie hinaus, aber sein Bericht – halb indirekte Quelle, halb Deutung – ist der Prototyp einer expressivistischen Lesart.¹⁵⁷ Da er den Golden Bough zusammen mit Wittgenstein gelesen hat, verdient sein Zeugnis besondere Aufmerksamkeit.¹⁵⁸ Bericht und Deutung laufen bei ihm jedoch ineinander, nicht nur im Vorwort zu The Danger of Words oder in der Dublin Lecture. Ihm zufolge soll Wittgenstein bei der gemeinsamen Lektüre des Golden Bough betont haben, dass das Ausdrucksbedürfnis, und nicht irrtümliche beliefs, die dort beschriebenen Riten hervorgebracht hat („produced“).

‚Sprachspiel‘, ‚Familienähnlichkeit‘ und ‚Lebensform‘. Clack, der sich nicht auf den handschriftlichen Nachlass bezieht und auch das Tagebuch aus dem Koder-Nachlass (MS 183) nicht berücksichtigt, hat also ein zu einfaches Bild von Wittgensteins Gedankenentwicklung. Wittgenstein vertritt zwar kein ‚Verifikationsprinzip‘, aber seine einschlägigen Reflexionen über eigentümliche Arten der Verifikation, etwa beim Satz ‚er ist ein Apostel‘ (siehe oben S. 34 f.), zeigen, dass das Thema für ihn gerade im religionsphilosophischen Bereich noch relevant ist, und mit der Frage nach dem Zusammenhang von Bedeutung und Verifikation beginnt noch die Vorlesung vom May Term 1933, in der Wittgenstein auf den Golden Bough wiederholt zu sprechen kommt (siehe unten S. 276 ff.). Die Fragen, für die ‚Expressivismus‘ nur ein Stichwort ist, können nur dann beantwortet werden, wenn man diese Übergangsposition – den neuen Zugang zur Ethik in Wittgensteins Tagebuch MS 183 – in ihrer Eigentümlichkeit beachtet.  „They were not mistaken beliefs that produced the rites but the need to e x p r e s s something; the ceremonies were a form of language, a form of life. Thus today if we are introduced to someone we shake hands; if we enter a church we take off our hats and speak in a low voice; at Christmas perhaps we decorate a tree. These are expressions of friendliness, reverence, and of celebration. We do not believe that shaking hands has any mysterious efficacy, or that to keep one’s hat on in church is dangerous!“ (Drury 1973: x). „I imagine that if Frazer was being introduced to a stranger he politely shook hands. If he entered the college chapel he removed his hat and lowered his voice. Being a kindly man he probably decorated a tree for the children at christmas [sic]. If asked why he did these things he would rightly say that in our culture they were expressions of friendliness, reverence, and celebration. It would be ridiculous to say they were based on some hypothesis concerning the nature of things. Yet when he finds similar expressive acts in a different culture he has to look down on them as a false and rudimentary science.“ (Drury 2003: 9)  „Rhees regarded Drury as Wittgensteinˈs special intimate in matters religious from the 1930 s onwards.“ (Hayes 2003: xii; Hayes beruft sich auf einen unveröffentlichten Brief Rheesˈ an Drury vom 10. Juli 1971). In theoretischen Fragen wiederum war Drury für Wittgenstein kein echter Gesprächspartner; „[…] when we were alone, he did not want to discuss philosophy with me“ (MDC: 97).

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Der Hinweis auf das Ausdrucksbedürfnis sei jedoch, so Drury, nicht als alternative kausale Erklärung gemeint; im Gegenteil, Wittgenstein habe damit gerade irreführende kausale Erklärungen rituellen Handelns abblocken wollen. A) In Drurys Bericht ist Wittgenstein Anti-Kognitivist: Rituelle Handlungen haben keinen kognitiven Inhalt. Sie bringen lediglich Gefühle, Einstellungen zum Ausdruck. Bei Riten geht es weder um empirische Irrtümer (Frazers These wird explizit zurückgewiesen) noch um Begriffsverwirrungen (davon ist in Drurys Bericht einfach keine Rede). B) Drurys Wittgenstein argumentiert auch und vor allem gegen kausale Erklärungen, und zwar gegen Kausalerklärungen überhaupt, nicht nur gegen intellektualistische à la Frazer. Riten sind wie eine Sprache: Sie können, da die Grammatik autonom, die Verbindung zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem willkürlich ist, lediglich beschrieben werden. Die Formulierung „produced“ ist ungeschickt; aber selbst wenn Drury sich missverständlich ausdrückt, ist die Richtung seiner Deutung klar: Wittgenstein habe an ein allgemeines menschliches Bedürfnis erinnert, das nicht weiter erklärungsbedürftig sei: Fragen würden hier irreführen.¹⁵⁹ Durch reminders, und zwar durch Erinnerungen an den Sprachgebrauch, lösen die Untersuchungen philosophische Schwierigkeiten auf. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Wittgensteins Hauptwerk schließt die Möglichkeit weiterer kausaler Erklärungen nicht aus. Es warnt aber den Philosophen davor, philosophische Fragen nach einem Grund falsch zu beantworten; denn man kann dort, wo es keine Gründe mehr gibt, keine angeben; der Philosoph ist dementsprechend versucht, stattdessen eine fiktive Ursache zu erfinden. In welchem Sinn ist Drurys Wittgenstein Emotivist bzw. Expressivist? Als Philosoph, der gegen kausale Erklärungen überhaupt argumentiert, ist er kein Emotivist in dem Sinn von (1). Ist er aber einer im Sinn von (2)? Drury mit seinem eindeutig religiösen Hintergrund bleibt zeitlebens der Auffassung der Abhandlung treu, man solle über das ‚Mystische‘ schweigen. Der von ihm beschriebene Wittgenstein ist einerseits der Philosophie des Unsagbaren verhaftet (deshalb lehnt er kausale Erklärungen ab), andrerseits bereits im Besitz seines reifen theoretischen Instrumentariums. Statt Wittgensteins Standpunkt von Anfang der dreißiger Jahre wiederzugeben, vermengt Drury die Abhandlung mit den Untersuchungen. Er bezieht nämlich Begriffe ein, über die Wittgenstein erst Jahre nach der gemeinsamen

 Phillips kritisiert Drurys Formulierung. (Siehe unten S. 169, Anm. 241.) Abschnitt 2.2 der vorliegenden Arbeit behandelt Absichten und Grenzen von Wittgensteins Kritik ethnologischer Erklärungsansätze; dort wird klar werden, inwieweit Drurys einflussreiches, allzu einfaches Wittgenstein-Bild auch in dieser Hinsicht differenziert werden muss. Zu Drurys Auffassung der ‚übersichtlichen Darstellung‘ als einer punktuellen siehe unten S. 204 f.

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Frazer-Lektüre verfügen wird: So bezeichnet Drury Zeremonien als ‚Lebensformen‘. Das ist keine rein terminologische Entscheidung: Drurys Vergleichsobjekte – Hutabnehmen, Händedrücken, den Tannenbaum Schmücken – sind allesamt soziale Gepflogenheiten, die eindeutig zu ‚unserer Kultur‘ gehören. Nur in diesem Zusammenhang drücken sie „friendliness“ oder „reverence“ aus bzw. stellen eine Form von „celebration“ dar. Drury führt also lauter Lebensformen im Sinn des späten Wittgenstein an. In Drurys Bericht sind Riten bereits Lebensformen und Sprachspiele, bei Wittgenstein 1931 noch nicht. Er verwendet damals andere Analogien: Er zieht zum Vergleich eher individuelle instinktive Reaktionen heran als konventionelle soziale Gepflogenheiten.¹⁶⁰ Den sozialen Aspekt bekommt er erst später – allmählich und nur in einer bestimmten Perspektive – in den Blick.¹⁶¹ Selbst wenn er schon in seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer das Verhältnis einer Menschengruppe zu ihrer biologischen Lebensgrundlage hervorhebt, zeigen seine frühen Bemerkungen zum Golden Bough, dass er vor allem auf den individualpsychologischen Aspekt aufmerksam ist. Spätere emotivistische bzw. expressivistische Ansätze (z. B. bei Beattie) lehnen einen individualpsychologischen Ausgangspunkt ab: Im Allgemeinen macht es wenig Sinn, psychologische Zustände unter Absehung vom sozialen und kulturellen Kontext, in dem sie allein ihren Sinn haben, zu untersuchen.¹⁶² Frazer postuliert derlei Zustände; aber nicht nur seine intellektualistische und kausale Betrachtung, sondern auch eine den emotionalen Aspekt stärker beachtende philosophische liefe damit Gefahr, ins Blaue zu spekulieren. Gerade der späte Wittgenstein ist sich darüber völlig im Klaren. In diesem Zusammenhang muss man jedoch fragen, ob und inwieweit seine Kritik im Jahr 1931 – es geht hier erst einmal nur um diese frühe Schicht – ihrem nicht empirischen Anliegen zum Trotz doch ähnlich wie der Golden Bough einen individualpsychologischen Ausgangspunkt hat. In der Lesart, die Drury Jahrzehnte später vorlegt, ist dies nicht der Fall. Aber 1931 steht Wittgensteins ‚institutionelle Wende‘ noch bevor, und der Ansatz, mit dem sich die nun folgenden Seiten befassen, weist noch deutliche Grenzen auf.

 Auch der Kuss auf das Porträt der Geliebten ist kulturell kodiert. aber derlei Handlungen werden bei Wittgenstein 1931 nicht als konventionelle thematisiert. Siehe dazu unten S. 177 f., 190.  So heißt es im späten MS 143 z. B., dass Riten keine rein idiosynkratischen Schöpfungen sein können; denn diese würden sich nicht etablieren und verbreiten: Ein Fest etwa, das ein Einzelner „sozusagen aufs Geratewohl“ erfände, würde „baldigst aussterben oder aber solcher Weise modifiziert werden dass es einem allgemeinen Hang der Leute entspricht.“ (MS 143: 16) Siehe auch S. 326.  Zu Evans-Pritchard und Radcliffe-Brown siehe oben S. 122 ff., insbes. Anm. 146. Phillips (1993d: 107) macht sich Evans-Pritchards Einwand gegen Marett zu eigen.

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2.1.2.1.3 „All genuine expressions of religion are wonderful“ „All religions are wonderful, even those of the most primitive tribes. The ways in which people express their religious feelings differ enormously.“ (Drury 1984b: 102) „The ways in which people have had to express their religious beliefs differ enormously. All genuine expressions of religion are wonderful, even those of the most savage peoples.“ (MDN: 93) So klingt beim „James-Mensch“¹⁶³ Wittgenstein das Grundmotiv der Varieties of Religious Experience nach.¹⁶⁴ Drury zufolge war Wittgenstein auch bei der gemeinsamen kritischen Lektüre des Golden Bough an dem expressiven Aspekt rituellen Handelns besonders gelegen. Den Philosophen, der sich so überschwänglich zu William James bekennt, konnte die Art, wie der Golden Bough die Religionen der „most savage peoples“ behandelt, nur tief enttäuschen: Dass es sich um höchst unterschiedliche, aber allesamt wunderbare Ausdrucksweisen handelt – diese seine Einstellung musste er bei Frazer vermissen. Sind aber nur die Ausdrucksweisen höchst unterschiedlich? Oder ist es das Ausgedrückte selbst? Über Wittgenstein lässt sich aus Drurys knappem Bericht kein zuverlässiger Schluss ziehen. James neigt eher zu der Annahme, dass die Ausdrucksweisen variabel, die ausgedrückten Gefühle und Erfahrungen aber konstant sind. Er sieht „the real backbone of the world’s religious life“ (James 1992– 2004, Bd. 9: 185) in der religiösen Erfahrung und nicht in der Philosophie; „although all the special manifestations of religion may have been absurd (I mean its creeds and theories), yet the life of it as a whole is mankind’s most important function.“ (James 1992– 2004, Bd. 9: 185 f.)¹⁶⁵ Diese funktionelle Sichtweise bestreitet keineswegs, dass es in der Religion so etwas wie Theorien gibt, und James räumt ein, dass sie allesamt irrtümlich – er schreibt sogar: absurd – sein können. Worauf es zuletzt ankommt, ist jedoch die Funktion im Ganzen, also weder die besondere Erscheinung noch der jeweilige Glaube. Gedanken und Theorien sind sekundär; deren Vielfalt und Variabilität entspricht eine weitgehende Identität der Gefühle und Verhaltensweisen; „for Stoic, Christian, and Buddhist saints are

 So nennt ihn die Schwester Hermine. Vgl. ihre Briefe vom 16.4.1916 und vom 20. 3.1917 (in CF 1996: 27, 34).  Werden eher „beliefs“ (MDN: 93) ausgedrückt oder „feelings“ (MDC: 102)? Die letztere Möglichkeit entspricht sicher besser James’ Ansichten. Bei Wittgenstein werden Gefühle und Verwandtes ausgedrückt, aber auch „Anschauungen“ – eine Religion „bringt“ nämlich „Anschauungen zum Ausdruck“ (MS 110: 178; TS 211: 313); es läuft also auf zwei unterschiedliche Bedeutungen von ‚ausdrücken‘ hinaus. Siehe dazu unten S. 167 ff.  So James’ oft zitierter, aber Wittgenstein vielleicht unbekannter Brief vom 12. April 1900 an Frances Rollins Morse. Zu den Religionen als „amongst the most important biological functions of mankind“ vgl. James 1985: 399.

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practically indistinguishable in their lives.“ (James 1985: 397)¹⁶⁶ Um den allen Religionen gemeinsamen minimalen erlebnishaften, gefühlsmäßigen „nucleus“ (James 1985: 397) bilden sich jeweils unterschiedliche „additional beliefs“ (James 1985: 397). Zwar sind die oft individuellen „over-beliefs“ gewöhnlich „the most interesting and valuable things about a man“ (James 1985: 405), aber Ideen und Symbole sind „perfections and improvements“ (James 1985: 397) und keine „organs with an indispensable function“ (James 1985: 397). Auch für Wittgenstein sind Theorien in diesem Bereich zweitrangig. Eher als absurd wie in Jamesˈ Varieties, d. h. unvernünftig, waren sie in der Abhandlung schlicht sinnlos. Diese Position hat Wittgenstein 1931 indes hinter sich: Ob das Gesagte wahr, falsch oder „unsinnig“ (WWK: 117) ist, scheint ihm doch nicht von Belang. Es kommt auf den Handlungszusammenhang an, in den die Äußerung eingebettet ist, auf die jeweils spezifische Verwendung – auch von Ausdrücken, die keinen referentiellen, deskriptiven Sinn haben.¹⁶⁷ Die Idee „that such propositions were meaningless“, führt der späte Wittgenstein selbstkritisch aus, war selbst „nonsense“; „what we wanted to know was how they were used, how the theologians talked among themselves“ (PPO: 338; 24.4.1947).¹⁶⁸ Statt die allgemeine Sinnlosigkeit religiöser Äußerungen festzuhalten, geht es darum, ihre spezifische Grammatik klarzulegen. Die „controversies about meaning of ‚God’“ (10/7/8: 77) sind dahingehend zu interpretieren, dass „different religions treat something as making s e n s e , which others treat as n o n s e n s e : they don’t merely one deny a prop. wh. other affirms“ (10/7/8: 78; vgl. MWL: 103).¹⁶⁹ Religionen sind gleichsam grammatische Systeme:

 „When we survey the whole field of religion, we find a great variety in the thoughts that have prevailed there; but the feelings on the one hand and the conduct on the other are almost always the same, for Stoic, Christian, and Buddhist saints are practically indistinguishable in their lives. The theories which Religion generates, being thus variable, are secondary; and if you wish to grasp her essence, you must look to the feelings and the conduct as being the more constant elements. […]“ (James 1985: 397) Auch bei dem von Wittgenstein aufmerksam gelesenen Schopenhauer läuft es in diesem Punkt auf eine allgemeine Übereinstimmung hinaus.  Siehe dazu oben S. 37 f. und zu ‚sinnlosen‘ Ausdrücken wie ‚Abrakadabra‘ auch S. 127.  In der Diskussion zwischen Wittgenstein und A. C. Ewing, über die G. H. Edwards hier berichtet, geht es eigentlich nur um theologische Sätze. (Meinte Wittgenstein wirklich die Theologen? Oder einfach die Gläubigen?) Aber die Betrachtung gilt nicht nur und nicht primär für sie.  In den Philosophischen Untersuchungen heißt es: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)“ (PU, § 373) Laut der Vorlesung vom May Term 1933 geht es in religiösem Bereich immer um grammatische Kontroversen, und diese sind unentscheidbar, weil die Grammatik willkürlich, autonom ist. Die Unentscheidbarkeitsthese scheint mir plausibler als die Auffassung, alle religiösen Kontroversen seien grammatischer Natur. Siehe dazu unten S. 283, insbes. Anm. 18.

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autonom, willkürlich, nicht wahr oder falsch. Deshalb widersprechen sie einander nicht. Dieses Argument gilt nicht nur für religiöse Ausdrucks- und Darstellungsformen, sondern ganz allgemein: Autonome Systeme sind vielleicht inkommensurabel, aber gleichermaßen legitim. Sofern die Grammatik willkürlich, autonom ist, sind Kontroversen über ihre Legitimität gegenstandslos.

2.1.2.1.4 „Aber k e i n e r von ihnen war im Irrtum, außer wo er eine Theorie aufstellte“ Gleich am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough betont Wittgenstein, dass unterschiedliche Religionen jeweils „ganz andere Anschauungen“ zum Ausdruck bringen. Aber auf das Spezifische, auf die besondere ‚Grammatik‘, der einzelnen Religionen, kommt es in den Frazer-Notaten noch nicht an. Zwar hat Spengler spätestens 1930 Wittgensteins Aufmerksamkeit auf die Pluralität und Heterogenität kultureller ‚Systeme‘ gelenkt, aber dies schlägt sich in diesen Bemerkungen kaum nieder. Auch die Idee, dass Sätze bzw. Satzarten sich durch ihre je eigentümliche ‚Verifikation‘ unterscheiden (wie beim Satz ‚er ist ein Apostel’), führt hier nicht dazu, die ‚grammatischen‘ Eigentümlichkeiten der verschiedenen Religionen herauszuarbeiten. Religionen können jeweils „ganz andere Anschauungen“ zum Ausdruck bringen; und für dieselben Gefühle sind entgegengesetzte Ausdrucksweisen möglich.¹⁷⁰ In diesen konträren Ausdrucksmöglichkeiten zeigt sich die Willkürlichkeit der Ausdrucksbeziehung. Ansonsten aber reizt Wittgenstein in seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer nicht einmal alle Ressourcen aus, über die er eigentlich bereits verfügt. Und Begriffe wie ‚Sprachspiel‘ oder ‚Lebensform‘ hat er noch nicht. Im Juni 1931 liegen die Philosophischen Untersuchungen noch in weiter Ferne: Erst später wird der Philosoph allmählich auf Hintergrund und Handlungszusammenhang, auf das Sprachspiel im Ganzen, auf die Lebensform schauen, und zuletzt noch auf Weltbild und Weltbildwechsel. Im Mittelpunkt der Frazer-Notate steht zuerst der Unterschied zwischen ‚Theorie‘ und ‚Anschauung‘, und dies in einem Sinn, der an James’ Betrachtung erinnert. Frazers Darstellung der magischen und religiösen Anschauungen der Menschen ist unbefriedigend: sie läßt diese Anschauungen als I r r t ü m e r erscheinen. So war also Augustinus im Irrtum, wenn er Gott auf jeder Seite der Confessionen anruft? Aber – kann man sagen – wenn er nicht im Irrtum war, so war es doch der Buddhistische Heilige – oder welcher immer – dessen Religion ganz andere Anschauungen zum Ausdruck

 Dazu und zum Beispiel ‚Schubert‘ siehe unten S. 245 ff.

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bringt. Aber k e i n e r von ihnen war im Irrtum außer wo er eine Theorie aufstellte. (MS 110: 178; TS 211: 313)

Die Philosophischen Untersuchungen beginnen mit den Bekenntnissen und mit dem ‚primitiven‘ Sprachbild, das (nicht nur) Augustinusˈ irrtümlichen Theorien zugrunde liegt.¹⁷¹ Auch in der Auseinandersetzung mit Frazer wird Augustinus gleich zu Anfang erwähnt, aber mit einer anderen Absicht: Unmittelbar nach dem Incipit mit der magischen Natur der Metaphysik (in MS 110) bzw. mit der „Quelle des Irrtums“ (in TS 211) wechselt Wittgenstein abrupt das Thema, und eben darum geht er hier auf den Heiligen ein: Augustinus ist zwar im Irrtum, wo er als Philosoph Theorien aufstellt, aber nur dort, nicht also, „wenn er Gott auf jeder Seite der Confessionen anruft“. Diese Sprechhandlungen äußern nämlich „Anschauungen“; und die Anschauungen, die eine Religion zum Ausdruck bringt, sind weder Theorien noch Meinungen.¹⁷² Theorien und Meinungen können irrtümlich sein und einander widersprechen, Anschauungen dagegen nicht.¹⁷³ Das Beispiel des christlichen und des buddhistische Heiligen stammt nicht aus dem Golden Bough. Wittgenstein knüpft wahrscheinlich an eine persönliche Erfahrung an; denn ähnlich wie hier Augustinus beschreibt er später sich selbst: „Es ist niemand hier: und doch spreche ich und danke und bitte. Aber ist darum dies Sprechen und Danken und Bitten ein I r r t u m ?! | Eher könnte ich sagen: ‚D a s

 Zu Augustinus und dem Anfang von Wittgensteins Buch siehe oben S. 106.  Der Ausdruck „Theorie“ ist hier nämlich nicht zu streng zu nehmen. Für die „Meinung“ gilt dasselbe: „Einem religiösen Symbol liegt keine M e i n u n g zu Grunde. | Und nur der Meinung entspricht der Irrtum“ (MS 110: 181; TS 211: 315).  Frazer zufolge sind magische Anschauungen zu allen Zeiten und in der ganzen Welt dieselben (vgl. FGB III 1: 235 f.; FGB 1922: 55 f.); nur religiöse Anschauungen widerstreiten einander. Wittgenstein bezieht sich zuerst unterschiedslos auf die „magischen und religiösen Anschauungen“; dann aber heißt es nur von den Religionen, dass sie jeweils „ganz andere“ Anschauungen zum Ausdruck bringen. Dass er wie Frazer an die Invariabilität des Magischen glaubt, lässt sich dem allerdings noch nicht entnehmen. Der Philosoph, der von Anfang an auch Frazers Darstellung der magischen Anschauungen widerspricht, geht zuerst nur auf die religiösen ein; er hegt Vorbehalte gegen die Art, wie Frazer zwischen Religion und Magie (Glauben und Aberglauben) unterscheidet, und ist zugleich von Frazers Behandlung der Religion irritiert. – Wittgensteins Unterscheidung zwischen „magischen und religiösen Anschauungen“ einerseits und wissenschaftlichen Theorien andrerseits fällt mit Neuraths Gegenüberstellung von (religiösmetaphysischer) ‚Weltanschauung‘ und (wissenschaftlicher) ‚Weltauffassung‘ nicht zusammen. Wittgenstein verwirft das in Letzterer enthaltene Selbstverständnis, man vertrete als wissenschaftlicher Philosoph keine Anschauungen, sondern Auffassungen, und er fragt sich, ob seine eigene Philosophie nicht doch ebenfalls eine „Weltanschauung“ sei. Für ihn ist auch die vom Wiener Kreis proklamierte ‚wissenschaftliche Weltauffassung‘ eigentlich eine Weltanschauung. Siehe dazu unten S. 194 f.

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ist das Merkwürdige!‘“ (MS 183: 220 f.)¹⁷⁴ Sind Wittgenstein, der nicht glaubt, dass es hier ‚jemanden‘ gibt, und Augustinus wirklich in derselben Situation? Projiziert Wittgenstein nicht vielmehr auf den christlichen Heiligen sein modernes Anliegen und Bewusstsein sowie seine eigene ziemlich idiosynkratische, sophistizierte Einstellung, die mit jenem ‚Anrufen‘ offenbar keinerlei epistemische und ontologische Ansprüche verbindet? Warum ist Augustinus nicht im Irrtum? Weil sein Anrufen eine ganz andere Sprechhandlung ist als etwas behaupten oder eine Theorie aufstellen? Und sofern es gleichgültig ist, ob Worte, die keine Theorie sind, „wahr oder falsch oder unsinnig sind“ (WWK:117)? Oder auch, weil dieses Anrufen „auf jeder Seite“ gleichsam zur Form der Darstellung gehört, also zur Grammatik, die immer willkürlich ist, aber nie falsch? Die Bemerkung führt es nicht näher aus, und damit bleibt auch unklar, was unter (religiösen) „Anschauungen“ zu verstehen ist. Frazers intellektualistische Ethnologie erklärt Gebräuche durch beliefs und fasst diese als Proto-Theorien auf. Wittgenstein gibt das Substantiv ‚belief‘ in der Regel mit ‚Meinung‘ wieder (nur seltener mit ‚Glauben‘). Er hätte Frazers Begriff belief als viel zu undifferenziert in Frage stellen können. Stattdessen führt er eine Alternative ein: Während Frazer durchgängig ‚Theorie‘ (bzw. ‚Hypothese’) verwendet, stellt Wittgenstein den „Theorien“ „Anschauungen“ gegenüber. Er behauptet zwar nicht, dass Menschen an ihre ‚Anschauungen‘ nicht wirklich glauben. Aber die Alternative zwischen „Theorie“ und „Anschauung“ ist bei ihm 1931 nicht eine zwischen zwei Bedeutungen von ‚Glauben‘. Er unterscheidet nicht zwischen Formen von ‚Glauben‘, auch nicht zwischen nur zweien; und die Idee, ‚Glauben‘ sei ein Familienbegriff, liegt damals erst recht noch in weiter Ferne. Während eine Religion in der Hauptsache „Anschauungen zum Ausdruck bringt“, stellt der Einzelne, selbst der Heilige, gelegentlich Theorien auf. Wittgenstein leugnet also nicht, dass es „kindliche (infantile) Theorien“ gibt, und zwar nicht nur „in der heutigen Philosophie“.¹⁷⁵ Allerdings tendiert er offensichtlich

 Vgl. u. a. auch MS 183: 183, 190 f., 222.  „Alle kindlichen (infantilen) Theorien finden wir in der heutigen Philosophie wieder; nur nicht mit dem Gewinnenden des Kindlichen.“ (MS 143: 7) Wittgenstein knüpft hier an seine Einschätzung an, dass wir in der ‚homuncularen‘ Anschauung, die Frazer in Malaysia antrifft, „Platos und Schopenhauers Lehre vor uns haben“ (MS 143: 6; dazu und zu dieser von Frazer angeblich nicht bemerkten Tatsache siehe oben S. 104 f.). Verglichen mit jener malayischen Ansicht fehle es „einer modernen verwässerten Theorie“ an „Wahrheit“ (MS 143: 6) – und eben auch am „Gewinnenden des Kindlichen“ (MS 143: 7). Unter kindlichen (infantilen) Theorien versteht Wittgenstein zweifellos diejenigen, von denen der Golden Bough berichtet; allerdings scheint gerade die homunculare Ansicht „in der heutigen Philosophie“ (MS 143: 7) nicht mehr vertreten zu sein. Auch Freud will Verhaltensweisen durch etwas erklären, was er ‚Theorien‘ nennt; und anders als Frazer hat er einen komplexen account über das unbewusste Weiter-

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dazu, Theorien nicht nur als konfus, sondern als unwesentlich aufzufassen, unter anderem, aber nicht nur, weil sie das entsprechende Handeln nicht erklären (das tun auch ‚Anschauungen‘ nicht).Wittgenstein ist dabei kein Relativist: Meinungen und Theorien, auch magische oder religiöse, können, wenn sie nicht sinnlos sind, tatsächlich falsch sein und einander widersprechen. Wiederum will Wittgenstein nicht allein religiöse Äußerungen, sondern alle Äußerungen als gleichermaßen berechtigt anerkennen, solange es sich nicht um Theorien handelt.¹⁷⁶ „Denn das ‚naive Sprechen‘, d. h. unsere naive, normale, Ausdrucksweise, enthält ja keine Theorie […] – zeigt dir keine T h e o r i e , sondern nur einen B e g r i f f […].“ (Z, § 223)¹⁷⁷ Die Sprache des Alltags beinhaltet keine folks theory, auch wenn die Sprecher sich leicht zu einer solchen verleiten lassen; nur in diesem Fall führt der sprachliche Symbolismus zu Irrtümern.¹⁷⁸ Prätheoretische Äußerungen „anerkennen“ heißt nicht, dass man sie als ‚wahr‘ betrachtet: Man spricht ihnen einfach einen Sinn nicht ab und behandelt die Frage nach ‚wahr‘ und ‚falsch‘ nicht als eine philosophische, sondern, wenn überhaupt, dann so, wie sie sich im Alltag stellt. (Die Grammatik ist willkürlich, autonom; man kann sie also nicht durch eine ‚bessere‘ ersetzen, es sei denn für bestimmte, spezielle Zwecke.) Mit den religiösen „Anschauungen“ verhält es sich ähnlich wie mit wirken dieser Theorien. „Wie es ‚infantile Sexualtheorien‘ gibt so überhaupt infantile Theorien. Das heißt aber nicht daß alles was ein Kind tut a u s einer infantilen Theorie als seinem Grund hervorgegangen ist.“ (MS 143: 22 f.) Frazer und Freud setzen jeweils beim ‚Primitiven‘ und beim Kind an, aber beide finden ‚primitive‘ bzw. ‚infantile‘ Theorien auch noch beim westlichen Erwachsenen. (Die Analogie zwischen Kindern und ‚Primitiven‘ gehört selbst bei Wittgenstein zu den halb bewussten bzw. nicht hinterfragten Vorstellungen.) Der Philosoph pflichtet Freud bei, dass es „infantile Sexualtheorien“ gibt, und geht (mit Frazer) sogar noch weiter: Es gibt „überhaupt infantile Theorien“ (MS 143: 22). (Dazu zählt er „eine einfache kindliche Theorie der Krankheit“, und zwar, „daß sie ein Schmutz ist der abgewaschen werden kann“; MS 143: 22.) Zugleich aber präzisiert Wittgenstein, dass das Verhalten des Kindes nicht nur (aber wohl auch) aus Theorien hervorgeht – und nicht lediglich aus infantilen.  „Die Gefahr ist natürlich hier wieder, in einen P o s i t i v i s m zu verfallen, nämlich einen, der einen eigenen Namen verdient und daher natürlich ein Irrtum sein muß. Denn wir dürfen überhaupt keine Tendenz haben keine besondere Auffassung der Dinge sondern (wir) müssen alles anerkennen, was jeder Mensch darüber je gesagt hat außer soweit er selbst eine besondere Auffassung oder Theorie hatte.“ (MS 111: 48; TS 211: 30; vgl. PG: 283.) Es ist z. B. „kein Irrtum“, wenn man im Alltag „die Möglichkeit“ (oder „den Satz“) „einen Schatten der Wirklichkeit“ nennt; als spekulative Ansicht – als ‚Theorie‘ – ist das freilich „einer der tiefstwurzelnden Fehler der Philosophie“ (MS 111: 46).  In dieser späten Aufzeichnung geht es nur um eine „Theorie des Sehens“ und einen „Begriff des Sehens“, die Tragweite der Bemerkung ist aber eine allgemeinere.  Dasselbe gilt für zentrale Begriffe des letzten Wittgenstein: Einstellungen sind keine Meinungen, und der ‚Hintergrund‘ bzw. das ‚Weltbild‘ ist keine Theorie, auch keine „folks theory“ (vgl. Stroll 1994: 160 ff., insbes. 167; vgl. auch Schulte 1987: 154 ff.).

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prätheoretischen Äußerungen in der naiven, normalen Ausdrucksweise: Ihrem Kontext entrissen, scheinen magische und religiöse Theorien ähnlich sinnlos wie andere Volkstheorien. Ist der Satz, dass ‚Anschauungen‘ keine ‚Theorien‘ sind, eine grammatische Bemerkung? Der Grundunterschied, den sie markiert, ist eine regelrechte Dichotomie,wenn auch nicht mehr wie im Vortrag über Ethik zwischen relativem und absolutem Gebrauch (oder, wie in den Bemerkungen zu Spengler, zwischen praktischer und symbolischer Bedeutung¹⁷⁹). Wird hier dieser grammatische Unterschied zwischen ‚Anschauungen‘ und ‚Theorien‘ als universell vorausgesetzt? Eine grammatische Betrachtung sollte lediglich die gemeinsame Sprachkompetenz voraussetzen. Wie kann also die Bemerkung auf fremde Kulturen ausgedehnt werden, deren Sprachgebrauch unbekannt ist? Auch Wittgenstein, nicht nur Frazer, sieht hier über kulturelle Differenzen großzügig hinweg. In diesem Punkt wird er erst allmählich vorsichtiger werden.

2.1.2.1.5 Anschauung und ‚Gebrauch‘ „sind eben beide da“ Frazer führt Gebräuche wie „die Tötung des Priesterkönigs“ entstehungsgeschichtlich auf eine irrtümliche Hypothese zurück. Er begeht dabei einen zweifachen Fehler: 1) Die „Anschauung“, die ohne Zweifel da ist, ist keine „Meinung“, keine protowissenschaftliche „Theorie“, also kein Irrtum im eigentlichen Sinn des Wortes; 2) die „Anschauung“ erklärt den Brauch nicht; „wo jener Gebrauch und diese Anschauung zusammengehen dort entspringt nicht der Gebrauch der Anschauung sondern sie sind eben beide da.“ (MS 110: 179; TS 211: 314) Wittgenstein spricht jenen „Anschauungen“ also jeweils ein kognitives Anliegen und eine kausale Rolle ab. Im nächsten Abschnitt (§ 2.1.2.1.6) erläutere ich die Frage, inwieweit ihm wirklich eine antikognitivistische Tendenz zugeschrieben werden darf. Die antiintellektualistische Position, um die es im Folgenden geht, hat er konsequent vertreten und ständig weiterentwickelt. Frazer deutet das Knowing How nach dem Modell des Knowing That; und gerade in einem Forschungsfeld wie dem ethnologischen kommen die Probleme intellektualistischer Ansätze überdimensional zum Vorschein. Wie Vieles im Golden Bough bleibt auch der Status der Theorien, auf die Frazer rituelles Handeln zurückführt, unklar; sie werden „stillschweigend angenommen“ („tacitly assume[d]“) bzw. „implizit geglaubt“ („implicitly believed“); „logic is

 Siehe dazu oben § 1.1.2, insbes. S. 31 ff.

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implicit, not explicit“ (FGB 1922: 11; FGB III 1: 53).¹⁸⁰ Wie schließt Frazer auf diese impliziten Theorien? Wie will er deren Inhalt ausmachen? Wie kommt er dazu, sie den Akteuren zuzuschreiben? Im März 1885 – die erste Ausgabe des Golden Bough erscheint erst fünf Jahre später – heißt es in einem Vortrag am Anthropological Institute: „[…] the explanations which I give […] are not the explanations offered by the people who practise these customs. Sometimes people give no explanation of their customs, sometimes (much oftener than not) a wrong one.“¹⁸¹ Im Allgemeinen also sind Frazers Erklärungen nicht die der Handelnden; die Erklärungen der Akteure, sofern diese überhaupt welche geben, sind dem schottischen Ethnologen suspekt. In Wittgensteins Begrifflichkeit ausgedrückt, versteht Frazer die impliziten Theorien, die er den Handelnden zuschreibt, als hypothetische Ursachen, die das Tun (nicht nur) der ‚Primitiven‘ bestimmen, und nicht als Gründe. Was die Akteure als Gründe ihrer Handlungen anerkennen, spielt im Golden Bough nämlich keine Rolle; Frazer macht diese Anerkennung nicht zum Kriterium dafür, dass er ihnen Theorien zuschreibt. Im Gegenteil: Selbst die Unterscheidung, die seinen eigenen Rekonstruktionen zugrunde liegt, betrachtet Frazer als eine den Handelnden fremde: Zwischen „Theoretical magic“ und „Practical magic“ (FGB 1922: 11; FGB III 1: 53) – ähnlich wie zwischen (falscher) Wissenschaft und (falscher) Technik – unterscheidet erst der philosophisch gesinnte Ethnologe: „The primitive magician knows magic only on its practical side“ (FGB 1922: 11; FGB III 1: 53); „to him magic is always an art, never a science; the very idea of science is lacking in his undeveloped mind. It is for the philosophic student […] to discern the spurious science behind the bastard art“ (FGB 1922: 11 f.; FGB III 1: 53). Die theoretische Magie besteht nicht aus Hypothesen, die ‚Primitive‘ explizit vertreten, sondern aus impliziten Theorien, deren sie sich nicht bewusst sind: Frazer will diese Theorien ihrem Handeln abschauen; seine Methode geht also von den (unwirksamen) Techniken aus und schließt daraus auf die zugrunde liegenden (falschen) Theorien. Der externe Beobachter hat im Golden Bough eine beinahe schrankenlose epistemische Autorität. Sie wird schnell zu einem Freibrief für beliebige Deutungen.¹⁸² Frazer sammelt in der Praxis  „[I]t is difficult“ – wendet Evans-Pritchard ein – „to see any sense in theoretical magic which is not explicit“ (Evans-Pritchard 1933: 136).  Frazer 1931b: 3, Anm. 2. Vgl. Ackerman 1987: 66; Stocking 1995: 131.  Manchmal beruft sich Frazer doch auf die Selbstdeutung der Handelnden: „This latter view is strongly supported by the testimony of the people who celebrate the fire festivals, […]“ (FGB 1922: 658). Der Golden Bough formuliert sogar die allgemeine methodische Vorschrift: „[…] the popular explanation of a popular custom is never to be rejected except for a grave cause“ (FGB 1922: 648). Welcher Grund ein schwerwiegender ist, liegt jedoch im Ermessen des Ethnologen: Frazer verfährt hier ad hoc; er akzeptiert die Selbstdeutungen der Handelnden nur, wenn sie ihm passen.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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die in der Literatur beschriebenen Gebräuche und spekuliert über ihre möglichen Gründe bzw. Ursachen. Bereits Marett formuliert den klassischen Einwand, dass intellektualistische Ethnologen à la Frazer den Standpunkt des Handelnden mit demjenigen des Beobachters verwechseln. Sie fragen sich gleichsam ‚Was würde ich denken, wenn ich ein Zauberer wäre? Welche Theorie müsste ich haben, um so zu handeln wie einer?‘¹⁸³ Diese Theorie schreiben sie den Praktikern zu. Problematisch ist nicht nur die Annahme, Theorien seien kausal wirksame Antriebe des Handelns. Es gibt auch ein ‚projektives‘ Problem: Theoretiker formulieren im besten Fall nur, was wissenschaftlich Gebildete sich in einer ähnlichen Lage denken würden, und schreiben den Praktikern eine Denkweise zu, die diesen fremd ist. Die Ansicht, dass Handlungsweisen nicht ‚Anschauungen‘ entspringen, formuliert Wittgenstein A) einmal als Interpretation einer bestimmten Art allgemein menschlicher Handlungen (der magischen und religiösen bzw. der rituellen) und B) einmal als Interpretation bestimmter Lebensformen: des (angeblich) primitiven Lebens. A) Magische und religiöse Handlungen lassen sich nicht aus Meinungen erklären: Einem religiösen „Symbol“ wie dem Leben des Priesterkönigs in Nemi „liegt keine M e i n u n g zu Grunde“ (MS 110:181;TS 211: 315). B) Aber das Argument ist nicht auf jene Handlungen beschränkt: Wittgenstein will offenbar die Rolle (irrtümlicher) Meinungen im allgemeinen Leben der sogenannten Primitiven eingeschränkt sehen. „Frazer wäre im Stande zu glauben, daß ein Wilder aus Irrtum stirbt.“ (MS 110: 204; TS 211: 321)¹⁸⁴ „Ich glaube, das Charakteristische des

 Vgl. Marett 1914a: XXXI (vgl. Phillips 2001: 185; zum „psychologist’s fallacy“ vgl. auch Stocking 1995: 166 f.). Zum Witz ‚Was würde ich tun, wenn ich ein Pferd wär‘ vgl. etwa EvansPritchard 1965: 24. – Das Argument richtet noch P. Bourdieu (1980: 37 ff.) u. a. gegen Lévi-Strauss. Siehe dazu oben S. 20.  Die Aufzeichnung fährt fort: „In den Volksschullesebüchern steht, daß Attila seine großen Kriegszüge unternommen hat, weil er glaubte, das Schwert des Donnergottes zu besitzen.“ (MS 110: 204; TS 211: 321) Attila mag wohl geglaubt haben, sein Schwert sei das des Donnergottes, und dieser Glaube mag ihn in seinen Absichten durchaus bestärkt haben. Die Volksschullesebücher sparen jedoch die Frage aus, wie er es glaubte; jener ‚Glaube‘ darf nicht intellektualistisch aus seiner Gedankenwelt und aus dem ganzen Vorgang herausgelöst werden, als sei er wie selbstverständlich die alleinige oder ausschlaggebende Ursache jener Ereignisse: Der Glaube ist eher ein Teil als eine Ursache des Geschehens. In folgender Stelle, auf die Wittgenstein sich allerdings nicht bezieht, kommt dasselbe zu einfache Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen Glauben und Handlung besonders krass zum Ausdruck: „Thus the ceaseless wars of the Mexicans and their cruel system of human sacrifices, the most monstrous on record, sprang in great measure from a mistaken theory of the solar system. No more striking illustration could be given of the disastrous consequences that may flow in practice from a purely speculative error.“ (FGB III 1: 315; FGB 1922: 79)

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primitiven Menschen ist es, daß er nicht aus M e i n u n g e n handelt (dagegen Frazer).“ (MS 110: 297)¹⁸⁵ Im Laufe der Zeit tendiert Wittgenstein immer deutlicher dazu, die Rolle von Meinungen herunterzustufen, und dies bei menschlichem Handeln überhaupt, nicht nur beim rituellen und nicht nur beim primitiven. Während es ihm 1931 teilweise noch um „das Charakteristische des primitiven Menschen“ (MS 110: 297) geht, will er später nicht nur bestimmte Stämme, sondern „den Menschen“ überhaupt „als ein primitives Wesen“ betrachten, als |ein Wesen| in einem primitiven Zustande“ (MS 176: 35r; ÜG, § 475).¹⁸⁶ In den Bemerkungen von 1931 geht es wiederum weniger um Handeln überhaupt als um bestimmte Klassen von Handlungen. Wittgenstein formuliert eine tentative binäre Unterscheidung. Man könnte „ein Buch über Anthropologie“ anfangen mit dem Unterschied zwischen „den Handlungen die man tierische nennen könnte der Nahrungsaufnahme etc etc etc.“, einerseits und andrerseits denjenigen, „die einen ganz anderen/eigentümlichen/ Charakter tragen und die man rituelle Handlungen nennen könnte“ (MS 110: 198; TS 211: 319 f.). Nun ist „das Charakteristische d i e s e r Handlungen“ nicht, wie Frazer meint, dass sie „aus fehlerhaften Anschauungen über die Physik der Dinge“ entspringen. „Vielmehr ist das Charakteristische der rituellen Handlung gar keine Ansicht, Meinung, ob sie nun richtig oder falsch ist, obgleich eine Meinung – ein Glaube – selbst auch rituell sein kann, zum Ritus gehören kann.“ (MS 110: 198 f.; TS 211: 320; vgl. WWK: 117) In diesem letzteren Fall ist die „Meinung“ – eine Meinung, die auch „falsch“ sein kann – eher ein Teil als eine kausale Erklärung der rituellen Handlung.

2.1.2.1.6 „Aber das heißt doch, daß sie nicht eigentlich meinen“… Auf eine Unstimmigkeit sei schon hier hingewiesen. Gemäß dem angeführten Notat kann zum Ritus „eine Meinung – ein Glaube –“ gehören, und diese „Meinung“ kann durchaus „richtig oder falsch“ sein; nur ist Letzteres in diesem Kontext nicht weiter von Belang; denn in der „Ansicht, Meinung“ liegt weder der Ursprung noch „das Charakteristische der rituellen Handlung“ (MS 110: 199). An anderer Stelle besteht Wittgenstein hingegen darauf, dass die „Anschauung“ (MS 110: 179; TS 211: 214), die mit dem Brauch koexistiert, keine „Theorie“ (MS 110: 178; TS 211: 213) und „keine M e i n u n g “ (MS 110: 181; TS 211: 315) ist – und damit auch kein Irrtum („Und nur der Meinung entspricht der Irrtum“; MS 110: 181; TS 211: 315). An wieder anderer Stelle heißt es dagegen abschwächend, dass gewisse Völker

 Siehe auch oben, Anm. 175, zur beschränkten Rolle infantiler Theorien beim Kind.  Siehe dazu S. 73 f., 385 ff.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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dies und das „nicht eigentlich meinen“ (MS 110: 297). So ist die „Meinung“ einmal einfach da (erklärt aber nichts), einmal „nicht eigentlich“ da, und ein anderes Mal gar nicht da. Im Unterschied zur dritten ist die erste Position keineswegs strikt antikognitivistisch: Dass die Meinung, der Glaube da ist, lässt sich demnach nämlich nicht ausschließen. Wittgenstein scheint zwar immer wieder jede Form von Glauben an Magisches abstreiten zu wollen. Aber selbst seine Bemerkungen von 1931 sind nicht immer so extrem, vor allem, wenn es um das Magisch-Religiöse und um das Mythische geht. Daß das Gefühl welches wir für unser Leben haben mit dem eines solchen Wesens, das sich seinen Standpunkt in der Welt wählen konnte, vergleichbar ist, liegt, glaube ich, dem Mythus – oder dem Glauben – zu Grunde, wir hätten uns unsern Körper vor der Geburt gewählt. (MS 110: 255)¹⁸⁷

Die vorgeburtliche Wahl war hiernach ein echter „Mythus“, nicht nur eine Fabel oder ein Märchen. Man glaubte irgendwie wirklich daran. Nur lag dem Glauben ein Gefühl zugrunde: Ein Lebensgefühl, als ob man seinen Standpunkt in der Welt wählen könnte, fand in jenem Mythus seinen Ausdruck. Die Analogie zwischen einem selbst und einem Wesen, das den eigenen Standpunkt in der Welt wählen könnte, scheint hier eher Sache des Gefühls als des spekulativen Denkens: Der Mythos, der Glaube, gründete in einem Gefühl oder besser: war selbst eher Gefühl als Theorie. Als Schlüssel, um diesen alten „Mythus“ zu deuten, dient Wittgenstein die Tatsache, dass er selbst mit einem derartigen Gedanken spielen kann. Er stellt sich hier vor, sein „Geist“ habe ihn „als seinen Sitz und Aussichtspunkt gewählt“; der „Geist“ habe sich „dieses unansehnliche (nicht-anziehende) Geschöpf“ – Wittgenstein selbst – jedoch nicht aus falscher Bescheidenheit ausgesucht, sondern im Gegenteil, der Geist sei „seiner selbst sehr sicher“; nur aus diesem Grund sei „ihm die Ausnahme eines schönen Sitzes zuwider“ (MS 110: 253).¹⁸⁸ Wittgenstein

 Die Aufzeichnung begann mit folgendem Gedankenspiel: „Wenn es einem Menschen freigestellt wäre in einem|n| Baum eines Waldes geboren zu werden/sich in einen Baum eines Waldes gebären zu lassen/: so gäbe es Solche, die sich den schönsten oder höchsten Baum aussuchen würden, solche die sich den kleinsten wählten und solche die sich einen Durchschnitts- oder minderen Durchschnittsbaum wählen würden, und zwar meine ich nicht aus Philistrosität, sondern aus eben dem Grund, oder der Art von Grund, warum sich der Andre den höchsten gewählt hat.“ (MS 110: 255) Diese Aufzeichnung gehört zu denjenigen, die nicht in TS 211 übernommen wurden (wie alle Aufzeichnungen vom 1. und vom 6. Juli 1931).  „Ich könnte mir denken, daß ich die Wahl gehabt hätte, ein Wesen der Erde als die Wohnung für meine Seele zu wählen und daß mein Geist dieses unansehnliche (nicht-anzie-

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zieht offenbar in Erwägung, ein derartiges Gefühl, ein ‚Gefühl, als ob…‘, das sich heute nur in einem Gedankenspiel äußere, habe einst vielleicht zu einem Glauben geführt, zu einem ausgewachsenen Mythos. Die Gefühle lassen sich durch die gleiche Analogie ausdrücken. Sind sie aber tatsächlich irgendwie miteinander vergleichbar, egal, ob das Gleichnis wörtlich genommen wird, d. h., ob mit dem Gefühl ein Glaube einhergeht, oder nicht? Der späte Wittgenstein würde zu Recht betonen, dass die jeweiligen praktischen Folgen sich stark unterscheiden. 1931 wiederum meint er, und dies ist alles andere als selbstverständlich, er könne sich selbst mit Menschen vergleichen, für die jene Vorstellungswelt viel mehr war als ein bloßes Gedankenspiel, er könne sich in sie hineinversetzen oder wenigstens ähnlich denken und empfinden. Der „Glaube“, dass Menschen in Bäumen wiedergeboren werden, gehört bei Frazer zum Baumkult. Wittgenstein merkt dazu an: Wie jener Glaube im Gefühl gründet, so geht auch der Baumkult überhaupt nicht auf bestimmte Meinungen zurück, hat in diesem Sinn keinen intellektuellen Grund. Die Anschauung, dass Menschen in Bäumen wiedergeboren werden, ist kein „Grund“ für die Eichenverehrung. Auch hier sind – wie im Fall des frazerschen Priesterkönigs – Anschauung und Kult einfach beide da. Kein geringer Grund d. h. überhaupt kein G r u n d kann es gewesen sein was gewisse Menschenrassen den Eichbaum verehren ließen [sic], sondern nur das, daß sie und die Eiche in einer Lebensgemeinschaft/Symbiose/ vereinigt waren also nicht aus Wahl sondern wie der Floh mit dem /und der/ Hund |in ihrer Entstehung vereinigt|. (Entwickelten die Flöhe einen Ritus, er würde sich auf den Hund beziehen) [mit einander entstanden.] Man könnte sagen nicht ihre Vereinigung (von Eiche und Mensch) hat zu diesen Riten die Veranlassung gegeben, sondern vielleicht ihre Trennung [sondern, in gewissem Sinne, ihre Trennung] Denn das Erwachen des Intellekts geht mit einer Trennung von dem ursprünglichen B o d e n der ursprünglichen Grundlage des Lebens vor sich. (Die Entstehung der W a h l .) (Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung.) (MS 110: 298 f.)¹⁸⁹

hende) Geschöpf als seinen Sitz und Aussichtspunkt gewählt hätte. Etwa, weil ihm die Ausnahme eines schönen Sitzes zuwider wäre. Dazu müsste freilich der Geist seiner selbst sehr sicher sein.“ (MS 110: 253; 1.7.1931) Wittgenstein bezieht sich auf folgende Ausführungen: „The spirits take up their abode, by preference, in tall and stately trees with great spreading branches.“ (FGB III 2: 30; FGB 1922: 115) Der Baum wird entweder „as the body of the tree spirit“ betrachtet oder „simply as its abode which it can quit at pleasure“ (FGB III 2: 45; FGB 1922: 117). Letztere Auffassung ist für Frazer wahrscheinlich die spätere (vgl. FGB III 2: 33; FGB 1922: 116), ja, sie stellt bereits einen bedeutenden Fortschritt dar (vgl. FGB III 2: 45; FGB 1922: 117).  Offenbar kannte Wittgenstein, als er dies niederschrieb, nicht nur den ersten Band der dritten Ausgabe; denn seine Bemerkung bezieht sich entweder auf einen Abschnitt des zweiten Bandes („The Worship of the Oak“ in FGB III 2: 349 ff.; vgl. auch den Abschnitt „The Worship of Trees“, FGB III 2: 7 ff.) oder aber, was m. E. wahrscheinlicher ist, auf den gleichnamigen Ab-

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Man kann jene Verehrung nicht in dem Sinn erklären, dass man für sie einen Grund angibt (den Frazer übrigens mit einer intellektuellen Ursache verwechselt): Einen (bestimmten) Grund, aus dem der Ritus gewählt wurde, gibt es nämlich nicht: Der Ritus wurde überhaupt nicht gewählt.¹⁹⁰ Was kein geringer Grund zu sein scheint, ist in Wirklichkeit etwas anderes als ein Grund, also keine Meinung (auch keine Anschauung): Die „Lebensgemeinschaft“, „Symbiose“ (MS 110: 298), von Eichenbaum und Mensch gehört vielmehr zur „ursprünglichen Grundlage des Lebens“, gleichsam zu dessen „B o d e n“ (MS 110: 298). Wer auf diese ursprüngliche symbiotische Gemeinschaft hinweist, gibt keinen Grund an, und in diesem Sinn keine Erklärung. Diese Ausführungen sind weniger individualpsychologisch geprägt als die meisten von 1931, aber von etwas wie einer community view kann keine Rede sein. Denn diese „Lebensgemeinschaft“ besteht weniger zwischen Menschen als zwischen Mensch und Baum. Das Wort ‚Lebensgemeinschaft‘ bezeichnet hier nicht das soziokulturell geprägte Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft (wie später oft das Wort ‚Lebensform‘), sondern die für bestimmte „Menschenrassen“ charakteristische naturgeschichtliche, ökologische „Symbiose“ von Mensch und Baum. Wurzelt die Verehrung also unmittelbar in einer gleichsam naturwüchsigen Lebensgemeinschaft? Der zweite Absatz scheint dem ersten zu widersprechen. Was hat nämlich jene Riten ‚veranlasst’? War es wirklich die symbiotische „Vereinigung“ von Eiche und Mensch „in einer Lebensgemeinschaft“? Oder nicht vielmehr ihre „Trennung“? Gab es etwas wie ein Erwachen des Geistes, eine Entstehung der Wahl? Der Geist trennte sich „von dem ursprünglichen B o d e n der ursprünglichen Grundlage des Lebens“ (MS 110: 298), und bekam sie erst dadurch in den Blick. Diese Grundlage war ihm sonst zu nahe gewesen: Er konnte sie nicht sehen. Gibt nun erst diese spätere Trennung von der ursprünglichen Lebensgrundlage Anlass zur Verehrung? Nur in diesem letzteren Fall hätte die Verehrung einen Grund: Man würde hier wählen – eine Entscheidung aus irgendwelchem Grund treffen. Die Verehrung, wenn sie unmittelbar in der ursprünglichen Lebensgrundlage wurzelt, wird dagegen nicht gewählt, hat also keinen Grund. Sie ist dann gleichsam ein Urphänomen. Im anderen Fall wiederum wird die Wahl zwar ‚erklärt‘, aber nicht kausal; denn Gründe sind keine Ursachen.

schnitt der Abridged Edition (FGB 1922, § XV: 159 ff.; vgl. auch § IX: 109 ff.). Siehe dazu unten S. 400 f., insbes. Anm. 13.  Wahl und Grund gehören intern zusammen: Die Wahl erfolgt aus einem Grund. „Ein Grund ist ein Schritt, der dem Schritt der Wahl vorhergeht.“ (MS 115: 136; EPB: 129) Zum ‚Erwachen‘ siehe oben S. 47 f. und vgl. Kross 2013.

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Der Floh kennt weder Grund noch Wahl. Beim Menschen ist es aber doch anders: Auch bei einer symbiotischen Lebensgemeinschaft, etwa mit der Eiche, muss dieser Baum den Menschen nicht unbedingt beeindrucken, denn jede natürliche Erscheinung kann, aber keine muss ihn beeindrucken. Jede Menschengruppe wird ein Weltbild (nicht eine Theorie) haben, das sich auf die Grundlagen ihres Lebens bezieht, aber dies heißt nicht, dass ein bestimmtes Weltbild sich ihr aufzwingen muss, sondern nur, dass sie überhaupt eines haben wird.¹⁹¹ Der gleiche bzw. ein ähnlicher Grund kann nämlich zu jeweils anderen, ja entgegengesetzten Entscheidungen führen. Es bestehen Alternativen, unterschiedliche Aussichten können den Menschen bedeutsam erscheinen. Aus den zwei konträren Hypothesen, die den Kult jeweils auf eine Symbiose oder auf eine Trennung zurückführen, macht Wittgenstein zwei Jahre später, wenn auch nur einmalig, ein problematisches Zweiphasenmodell: Es gibt Riten vor und nach jener Trennung, gleichsam vor und nach dem vollen Erwachen des Geistes. Die ersten Opferhandlungen geschahen wahrscheinlich „halb unbewusst“ (TS 219: 23), nicht infolge eines Glaubens, auch nicht eines unbewussten; erst die späteren waren bewusst, von einem Glauben begleitet, wenngleich sie nicht dessen Folge waren.¹⁹² Manchmal lässt sich Wittgenstein wie hier zu spekulativen entwicklungspsychologischen Überlegungen verleiten, die man auf seiner Linie eigentlich als formale Betrachtungen zu heutigen Handlungen reformulieren müsste. Der wesentliche Punkt wäre dann, dass sich von einigen, aber nicht von allen Opferhandlungen sagen lässt, sie seien von einem Glauben begleitet. So wie sie ist, scheint diese Aufzeichnung unter Wittgensteins späteren Versuchen, die am Anfang dieses Kapitels hervorgehobenen Unstimmigkeiten aufzulösen, nicht der überzeugendste.

2.1.2.1.7 Ein „Buch über Anthropologie“: Ein zeremonielles Tier und seine rituellen Handlungen Aus dem animal rationale wird bei Wittgenstein „ein zeremonielles Tier“. Sobald er diese Bestimmung vorsichtig ausgesprochen hat, nimmt er sie allerdings gleich zurück: Man könnte fast sagen der Mensch sei ein zeremonielles Tier. Das ist wohl teils falsch, teils unsinnig, aber es ist auch etwas Richtiges daran.

 Tambiah 2002: 215, zufolge steht der Floh für die Unausweichlichkeit der Kosmologie; und laut Tambiah 1990: 56, ist die Analogie der Symbiose von Floh und Hund „an incomplete suggestion, lacking a developed theory of ‘value‘ differentiation and ‘marking‘.“  Zu dieser Aufzeichnung siehe auch unten S. 177, 360 f.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Das heißt man könnte ein Buch über Anthropologie so anfangen: Wenn man das Leben und Benehmen der Menschen auf der Erde betrachtet so sieht man daß sie außer den Handlungen die man tierische nennen könnte der Nahrungsaufnahme etc etc etc. auch solche ausführen die einen ganz anderen/eigentümlichen Charakter/ tragen und die man rituelle Handlungen nennen könnte. (MS 110: 198; TS 211: 319 f.)

Was ist also richtig an der Auffassung, der Mensch sei ein zeremonielles Tier? Und was wiederum „teils falsch, teils unsinnig“? Richtig soll der allgemeine Hinweis auf die zeremonielle Dimension menschlichen Lebens sein. Dass rituelle Handlungen „einen eigentümlichen Charakter“ haben, ist offenbar als phänomenologische Bemerkung gemeint: Sie macht auf einen Unterschied aufmerksam, den jeder „sieht“, wenn er „das Leben und Benehmen der Menschen auf der Erde betrachtet“. Welchen epistemologischen Status hat diese sehr allgemeine Prämisse für ein „Buch über Anthropologie“? Gehört sie bereits zu dieser Wissenschaft? Beansprucht also die Unterscheidung zwischen rituellen und ‚tierischen‘ Handlungen empirischen Status? Oder handelt es sich um eine philosophische Prämisse, die einen grammatischen Grundunterschied markiert und so im voraus die Form der Darstellung bestimmen soll? Geht es um einen Erfahrungssatz oder im Gegenteil um eine Regel? Wird hier eine anthropologische (empirische) Frage beantwortet oder eine philosophische (begriffliche)? Dass die Bemerkung, der Mensch sei „ein zeremonielles Tier“, teils (richtig bzw.) falsch, teils unsinnig ist, d. h. teils empirisch problematisch, teils begrifflich unklar, scheint ihren hybriden Status zu verraten. Mit einer grammatischen Bemerkung sollten alle Sprecher einverstanden sein, denn sie macht einfach auf eine Selbstverständlichkeit des Sprachgebrauchs oder (für den späten Wittgenstein) der menschlichen Naturgeschichte aufmerksam; und in einem bestimmten Sinn könnten alle mit der dann trivialen Bemerkung, der Mensch sei ein zeremonielles Tier, einverstanden sein: Rituale, Zeremonien, Gepflogenheiten (in unseren Gesellschaften nicht unbedingt religiöse) gehören zu unserem Leben. Begnügt sich Wittgenstein wirklich damit? Wenn „man das Leben und Benehmen der Menschen auf der Erde betrachtet“, „sieht“ man, dass nicht alle ihre Handlungen „tierische“ sind. Die unglückliche Wortwahl weckt den Anschein, es gebe eine Art von Handlungen, in denen sich der Mensch vom Tier nicht unterscheide, und nur eine bestimmte andere Art, in der er es tue.¹⁹³ Fragwürdig wird

 Die Wortwahl hat vielleicht Frazer suggeriert: Magie, so der Golden Bough, diente dem Menschen zur „satisfaction of such wants as transcended his immediate animal cravings“ (FGB

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die Bemerkung also, wenn sie eine metaphysische Bestimmung des Menschen, eine Theorie über die differentia specifica zwischen ihm und den übrigen Tieren oder eine Dichotomie zweier Arten von Handlungen darstellen soll. Diese problematische Handlungstypologie legt die metaphysische Vorstellung nahe, dass rituelle Handlungen und nur sie die differentia specifica zwischen Mensch und Tier markieren. Das unterscheidende Merkmal scheint Wittgenstein also darin zu sehen, dass der Mensch außer ‚tierischen‘ auch noch rituelle Handlungen vollzieht, nicht etwa darin, dass alle seine Handlungen, auch diejenigen der Nahrungsaufnahme, irgendwie anders sind. (Wohlgemerkt: Auch letztere Betrachtung wäre keine grammatische.) Ein zeremonielles Tier ist der Mensch demnach nicht in dem Sinn, dass er ausschließlich, sondern in dem, dass er auch zeremonielle Handlungen vollbringt. Der Ausdruck ‚tierische Handlung‘ ist auf jeden Fall irreführend. Handlungen lassen sich nicht sauber zu jeweils nur einer der beiden Kategorien rechnen: Auch (oder besser: gerade) Handlungen wie diejenigen „der Nahrungsaufnahme“ werden ritualisiert und symbolisch aufgefasst.¹⁹⁴ Gewiss,wahrscheinlich sind hier unter „tierischen“ Handlungen einfach „Zweckhandlungen“ zu verstehen. Wittgenstein widerspricht Frazers utilitaristischer Position, indem er auf eine Klasse von Handlungen hinweist, die rituellen, denen man instrumentalistisch nicht beikommen kann. Aber nicht nur die Dichotomie tierischer und ritueller Handlungen, auch die strikte Unterscheidung zwischen Zweckhandlungen und rituellen Handlungen ist nicht ohne Probleme: Letzten Endes fällt es Wittgenstein selbst schwer, etwa ‚primitive‘ Heilungen nur einem der beiden Typen eindeutig zuzuordnen. Dies dürfte indes nicht der Grund sein, aus dem Wittgenstein zufolge von einem zeremoniellen Tier kaum sinnvoll die Rede sein kann. Der hier markierte Grundunterschied ist nämlich noch eine Dichotomie im selben Stil wie im Vortrag über Ethik (zwischen relativem und absolutem Gebrauch) oder in den Bemerkungen zu Spengler (zwischen praktischer und symbolischer Bedeutung). Anders

III 1: 233; FGB 1922: 54). Dennoch sei nur Religion menschenspezifisch, Magie – und Ideenassoziation – seien ansatzweise schon bei den Tieren anzutreffen.  Zu einer Kritik vgl. Needham 1985: 153 ff., insbes. S. 155. Needham zufolge liegt „the unargued premise“ darin, „that ritual has a peculiar character that can be observed“ (Needham 1985: 155); „‚ritual‘ is an odd-job word; that is, it serves a variety of more or less disparate uses“ (Needham 1985: 156). Needham verwendet hier gegen Wittgenstein eine (von Needham ziemlich oberflächlich verstandene) Wittgensteinsche Auffassung – die Begriffe der ‚Familienähnlichkeit‘ und der odd job words –, über die Wittgenstein 1931 allerdings noch nicht verfügt.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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als einige seiner späten Interpreten¹⁹⁵ geht Wittgenstein 1931 nicht von einer diffusen, übergreifenden symbolisch-zeremoniellen Dimension aus, sondern formuliert eine Dichotomie tierischer (oder nüchterner: instrumenteller) und ritueller Handlungen. Auf diese Gegenüberstellung kommt es Wittgenstein damals an. Der Begriff des Rituellen, der weder auf das ‚Magische‘ noch auf das ‚Religiöse‘ beschränkt ist, nötigt nicht dazu, zwischen Letzteren eine Grenzlinie zu ziehen, und Wittgenstein bevorzugt ihn auch aus diesem Grund. Er nimmt indes die Gelegenheit nicht wahr, über das ‚Magisch-Religiöse‘ hinauszugehen. Im Gegenteil: 1931 neigt er dazu, den Begriff des Rituellen, Zeremoniellen auf diese Sphäre einzugrenzen. Zeremonielle, rituelle Handlungen müssen nicht unbedingt ‚magisch‘ oder ‚religiös‘ sein; aber Wittgenstein geht es nicht etwa um säkulare Zeremonien. Selbst wenn er rituelle Handlungen mit rein expressiven Handlungen und Reaktionen vergleicht und diese profaner Natur sind, konzentriert er sich wie Frazer auf die magischen und religiösen Handlungen. Es geht ihm um die „echt religiöse Handlung“, nicht um Ritualität im Allgemeinen, z. B. in nicht wertendem oder gar im pejorativen Sinn. Es kommt auf Riten an, die „echt“ sind;¹⁹⁶ und selbst wenn ‚echt‘ in diesem Fall nicht unbedingt ‚religiös‘ heißt (wie an Wittgensteins Beispiel, dem Kuss, ersichtlich): Nicht alles, was wir Ritus nennen, ist rituell oder zeremoniell in diesem Sinn. Wittgenstein möchte den „ganz anderen/eigentümlichen/ Charakter“ (MS 110: 198) ritueller Handlungen hervorheben. Worin liegt nun „das Charakteristische der rituellen Handlung“ (MS 110: 199)? Sie ist ein „Zeichen der Pietät“ (MS 110: 196): „Das Zeremonielle (heiße oder kalte) im Gegensatz zum Zufälligen (lauen) (haphazard) charakterisiert die Pietät.“ (MS 110: 196; TS 211: 318)¹⁹⁷ Zeremoniell in diesem Sinn sind nicht inhaltsleere Formen (diese wären ‚lau‘), sondern Handlungen, die nicht dem Zufall überlassen sind und in denen sich starke Gefühle ausdrücken (wenn auch manchmal gerade durch den unterkühlten Ton des Rituals). Zu ihnen gehört auch der Brauch im Mittelpunkt des Golden Bough, die

 Vgl. Clack 1999: 133 f., 155; Lara 2005, insbes. 23, 99 ff. Selbst wenn menschliches Benehmen nicht als solches rituell ist (Lara 2003: 117), bilden P. de Lara zufolge „rituelle Handlungen“ bei Wittgenstein keine separate Klasse von Handlungen (Lara 2003: 116). Diese Deutung der Bemerkungen von 1931 läst sich aber nicht aufrechterhalten.  „Ein Kuss ist freilich auch ein Ritus und er fault nicht; aber eben nur soviel Ritus ist erlaubt als so echt ist wie ein Kuss.“ (MS 109: 209; VB: 461)  Wittgenstein zufolge ist das Zeremonielle, wenn es Ausdruck der Pietät ist, nicht ‚lau‘, muss aber nicht ‚heiß‘ sein: Religiöse Riten kann auch ein unterkühlter Ton prägen. Insofern unterscheiden sie sich von den instinktiven Ausdruckshandlungen, mit denen Wittgenstein sie oft vergleicht; denn jene instinktiven Handlungen bzw. Reaktionen sind in der Regel ‚heiß‘. Zu den Grenzen emotionalistischer Ansätze und zu Evans-Pritchards Marett- und Malinowski-Kritik siehe oben S. 122, Anm. 142.

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grausame Sukzessionsregel des Dianatempels.¹⁹⁸ Zeremoniell und Pietät – das eine als Ausdruck der anderen, als deren Symbol, die „Handlung“ „als Zeichen der Pietät“ (MS 110: 196; TS 211: 318) – gehören demnach zusammen. Sie ‚charakterisieren‘ sich gegenseitig. Zwischen Religion und Pietät besteht eine interne Relation: Pietät ist religiöses Gefühl. Magie und Pietät dagegen schließen tendenziell einander aus, und dies nicht erst bei Frazer, sondern in der westlichen Begriffsgeschichte im Allgemeinen.¹⁹⁹ Wittgenstein scheint hier insofern alle rituellen Handlungen als religiöse zu deuten, auch diejenigen, die Frazer als magische ansieht. Wenn Wittgenstein unter Pietät ein individuelles Gefühl, ein Gefühl des Einzelnen, versteht, bewegt er sich im selben Ideenkreis wie die individualpsychologischen Theorien. Aber er vertritt nicht (oder nur gelegentlich, gleichsam als Ausrutscher) die empirische, ‚emotionalistische‘ Theorie, dass Pietät den Ritus hervorbringt. Ihm geht es nicht um eine kausale, sondern um eine semantische Beziehung: Er bemerkt, dass Pietät sich im Ritus ausdrückt, d. h., dass der Ritus ein Zeichen des entsprechenden Gefühls ist, bzw. einer Dimension menschlichen Lebens, die im Gegensatz zum „Lauen“ steht. Der Begriff der rituellen Handlung ist hier noch ebenso unbestimmt und unzulänglich wie jene Kennzeichnung der „Pietät“. Er erfordert dementsprechend eine eingehendere Analyse. Zuerst jedoch ist Wittgensteins Kritik der Analogie mit der Wissenschaft genauer unter die Lupe zu nehmen. Erst nach dieser erneuten Auseinandersetzung mit seinem antikognitivistischen Argument ist zu zeigen, 1) wie er 1931 die rituellen von den technischen Handlungen absetzt und 2) sie mit den expressiven vergleicht.

2.1.2.2 Die Handlungen eines zeremoniellen Tiers. Riten und Techniken 2.1.2.2.1 Überholte Techniken und aufgegebene Rituale Wissenschaft und Technik sind in Frazers Form der Darstellung das Vergleichsobjekt: Mit ihnen werden ‚magische‘ Praktiken systematisch verglichen. Gegen diesen Vergleich – hierin stimmen Drury und Moore überein – sprach sich Wittgenstein auch mündlich immer wieder aus.²⁰⁰ Er kritisierte – berichtet Moore – Frazers Auffassung der Magie als „false scientific belief“ (MWL: 106; vgl. 10/7/9: 5). „He was“, erinnert sich Drury, „particularly emphatic that it was wrong to think, as

 Zu dieser „Erklärung“ der Sukzessionsregel siehe allerdings unten S. 206 f.  Zu ‚Magie‘ und ‚Pietät‘ siehe unten S. 165, Anm. 236.  Zu Wittgensteins Vergleichsmethode siehe unten S. 264 ff.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Frazer seemed to do, that the primitive rituals were in the nature of scientific errors.“ (Drury 1984b: 119) In dieselbe Richtung weisen auch die Autographen: „Anschauungen“ sind keine „Meinungen“ oder „Theorien“; und der (falsche) Eindruck, sie seien Irrtümer, kommt erst durch eine bestimmte Deutung zustande, erst wenn „Magie“ wie bei Frazer „wissenschaftlich ausgelegt wird“ (MS 110: 183; TS 211: 317), d. h. „wesentlich“ als „falsche Physik bezw. falsche Medizin/Heilkunst/, Technik, etc“ (MS 110: 198 f.; TS 211: 320). Frazer zufolge werden magische Gebräuche aufgegeben, weil sie sich als technisch inadäquat herausstellen; sie werden durch ‚religiöse‘ abgelöst, und diese zuletzt, wenn auch erst viel später, durch echte, wirksame Techniken. In einem späteren Notat heißt es dazu bei Wittgenstein: So einfach es klingt: der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft kann daher dahin ausgedrückt werden, daß es in der Wissenschaft einen Fortschritt gibt, aber nicht in der Magie. Die Magie hat keine Richtung der Entwickelung |die| in |ihr| selbst liegt. (MS 143: 4 f.)

Frazer trägt die Maßstäbe, an denen wissenschaftliche und technische Fortschritte gemessen werden, von außen her an die sogenannte Magie heran. Sie sind ihr fremd, gehören zu einem anderen Sprachspiel.²⁰¹ Insofern widerspricht diese späte Bemerkung dem schottischen Ethnologen. Eigentlich jedoch meint auch Frazer, dass Magie keinen Fortschritt macht. Er schreibt ihr keine innere Dynamik zu, die sie über sich selbst emporhebt. Trotzdem scheint ihm die kulturelle Evolution über die Magie hinauszuführen, d. h., gleichsam von primitiven, abergläubischen hin zu adäquateren, rationelleren Theorien und Techniken. Die Magie halte sich zwar erstaunlich lange, zuletzt aber werde deren Ohnmacht durchschaut, und diese Einsicht führe nach dem religiösen Intermezzo schließlich zur Wissenschaft. Frazer denkt also, dass Riten ähnlich aufgegeben werden wie un-

 Die eben angeführte Aufzeichnung entstand nicht im Frühsommer 1931, sondern Jahre später, als Wittgenstein über den Sprachspielbegriff bereits verfügte. – Winch vertritt die These, dass Begriffe wie ‚wahr‘ und ‚falsch‘, die in der Wissenschaft zentral sind, auf andersartige Sprachspiele, zu denen auch religiöse gehören, nicht anwendbar sind. Letztere sind insofern mit der Wissenschaft ‚inkommensurabel‘. In der Handlungsweise der Azande (die Evans-Pritchard nicht als religiös beschreibt) sieht Winch ein in sich geschlossenes Sprachspiel, das man nicht etwa als primitivere Form unserer Wissenschaft betrachten darf. (Vgl. Winch 1964: 319, und dazu Cook 1983: 2 f.) Im Juni-Juli 1931 setzt sich Wittgenstein noch ohne den Sprachspielbegriff mit dem Golden Bough auseinander; und die fideistische Idee ‚religiöser Sprachspiele‘, die von den wissenschaftlichen abgetrennt sind, lässt sich ihm auch später nicht ohne weiteres zuschreiben; dies gilt auch für die im Text zitierte Bemerkung über den Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft.

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wirksame bzw. veraltete Techniken, d. h., dass hier wie dort irrtümliche bzw. unzulängliche Theorien durch ‚fortgeschrittenere‘ ersetzt werden.²⁰² In Wittgensteins Augen enthält diese Auffassung ein falsches Bild der historischen Entwicklung. Es kann schon sein, und kommt heute oft vor, daß ein Mensch einen Gebrauch aufgibt nachdem er einen Irrtum erkannt hat auf den sich dieser Gebrauch stützte. Aber dieser Fall besteht eben nur dort wo es genügt den Menschen auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen um ihn von seiner Handlungsweise abzubringen. Aber das ist doch bei den Religiösen Gebräuchen eines Volkes nicht der Fall und d a r u m handelt es sich eben um k e i n e n Irrtum. (MS 110: 179; TS 211: 314)

Es gibt demnach durchaus Handlungsweisen, die mit einem Irrtum stehen und fallen; sie ‚stützen‘ sich auf ihn und werden sofort mit aufgegeben, wenn die Menschen auf ihn aufmerksam gemacht werden. Aber es gibt wiederum Gebräuche, die, wenn überhaupt, nur aus anderen Gründen aussterben. Fragwürdiger als dieser idealtypische Unterschied ist dessen Anwendung. Zu den Ritualen, die nicht wegen ihrer ‚Irrtümlichkeit‘ aufgegeben werden, könnte man nämlich etwa heterogene profane Riten rechnen wie Festspiele, Volksfeste, Turniere, Wettkämpfe, Einweihungen und diplomatische Zeremonielle. An zivile Zeremonien denkt Wittgenstein jedoch ebenso wenig wie Frazer. In der entsprechenden Stelle des Golden Bough geht es um die Gründe, aus denen die Menschheit dazu kam, „to abandon magic as a principle of faith and practice“ (FGB III 1: 237; FGB 1922: 57). An Frazers Erklärung, warum Magie als Theorie und als Technik aufgegeben wurde, knüpft Wittgenstein allerdings eine Bemerkung über religiöse Gebräuche an – vielleicht weil Frazers Unterscheidung zwischen Magie und Religion ihm nicht geheuer ist.²⁰³

 Bereits Tylor, dem Frazers Dreistadienlehre fremd ist, nimmt an, Magie sei eine für einfache Gesellschaften eigentümliche Technik, sie werde allmählich marginalisiert, und auch Religion verliere im Laufe der Kulturentwicklung an Bedeutung. (Mit einiger Vorsicht pflichtet noch Evans-Pritchard (1933: 135) dieser These bei.) Auch Malinowski formuliert die scheinbar selbstverständliche Annahme, dass der Bereich, in dem statt Rituale Techniken zur Anwendung kommen, mit dem Fortschreiten der Wissenschaft wächst. (Weber hat für die globale Entwicklung das Schlagwort einer ‚Entzauberung der Welt‘ geprägt.) Im Einzelnen muss man den Prozess oft differenzierter betrachten. Magische und religiöse Rituale werden oft eher durch profane, säkularisierte Rituale als durch Techniken abgelöst. Bei medizinischen Fortschritten verschwinden Rituale, sie gelten als überholt, werden aber nicht unbedingt als falsch oder unrichtig wahrgenommen. Vgl. Tambiah 2002: 225 f.  Zu Wittgensteins Vorbehalten gegenüber der Unterscheidung zwischen Religion und Magie (Glauben und Aberglauben) siehe oben, S. 83, 134, Anm. 173, S. 147 f.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Oft lassen Menschen eine Anschauung fallen, sind jedoch nicht bereit, den entsprechenden Brauch mit aufzugeben; dann ‚stützt sich‘ dieser nicht auf die Anschauung, er bleibt ja auch ohne sie bestehen.²⁰⁴ Wittgenstein argumentiert so, will aber über diese anti-intellektualistische Pointe noch hinaus: Ihm zufolge darf man jene Anschauung nicht Irrtum nennen.²⁰⁵ Von Irrtum darf demnach erst dann die Rede sein, wenn Frazers Analogie wirklich stimmt, also nur, wenn Anschauungen auf ähnliche Weise festgehalten, revidiert oder aufgegeben werden wie (wissenschaftliche) Hypothesen (und Gebräuche wie Techniken), d. h., nur in jenen Fällen, in denen „es genügt den Menschen auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen um ihn von seiner Handlungsweise abzubringen.“ (MS 110: 179; TS 211: 314) Möchte Wittgenstein hier ein Kriterium für Irrtümer überhaupt angeben? Oder nur für wissenschaftliche Irrtümer? Selbst in diesem Fall wäre das Kriterium bei weitem zu anspruchsvoll: Diverse historisch belegte wissenschaftliche Kontroversen würden es nicht erfüllen. Anschauung und Brauch verhalten sich nicht so zueinander wie eine wissenschaftliche Theorie und deren technische Anwendung. Der Sinn von ‚Irrtum‘ hängt davon ab, ob (und wie) ‚Wahrheit‘ entscheidend ist; und gerade „d a r u m“ ist „Irrtum“ – so könnte eine vorsichtigere Version des Arguments lauten – bei religiösen Gebräuchen nicht dasselbe wie in der Wissenschaft. Wittgensteins ablehnende Reaktion auf Frazers unqualifiziertes Analogisieren mag daher berechtigt sein. Wittgenstein vertritt allerdings die apodiktische These, dass es bei religiösen Gebräuchen gar nicht um „Irrtum“ geht, weil es hier zuletzt nicht darauf ankommt, ob Anschauungen wahr oder falsch sind. Als Beleg führt Wittgenstein etwa folgenden Fall an – und bezichtigt den Ethnologen selbst eines verrückten Glaubens: „Wenn die Adoption eines Kindes so vor sich geht daß die Mutter es durch ihre Kleider zieht so ist es doch verrückt zu glauben daß hier ein I r r t u m vorliegt und sie glaubt das Kind geboren zu haben.“

 So argumentiert etwa der von Evans-Pritchard kritisierte italienische Soziologe Pareto. Oft wird wiederum die These vertreten, dass nur kognitivistische Ansätze den Untergang von Ritualen zufriedenstellend erklären können, und zwar, weil Letztere wegen einem ‚Glaubensverlust‘ aufgegeben werden (vgl. Cook 1983: 17 f., 32; Banner 1990: 69, 89 ff.). Gegen diese Erklärungen argumentiert D. Z. Phillips, das Aufgeben eines Rituals sei „an aspect of loss of belief in the gods, not a consequence of it“ (1993d: 118). Bei Phillips gehört also der Untergang des Rituals zum Verlust des Glaubens. Bei Wittgenstein würde umgekehrt der Verlust des Glaubens zum Untergang des Rituals gehören; denn der Glaube, die Meinung, ist ihm zufolge Teil des Rituals. Er hält auch nach 1931, und dann erst recht, den Primat der Handlungsweise fest: „Aber lebt man anders, so spricht man anders. Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele. […]“ (MS 183: 161, 4. 2.1937) Sprachspiele ändern sich mit dem Lebenszusammenhang, zu dem sie gehören.  Vgl. A. Koritenskys Kritik (2002: 152).

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(MS 110: 183; TS 211: 317) Glaubt es Frazer ernsthaft? Eigentlich laviert er: Auch hier wirke dasselbe „principle of make-believe, so dear to children“ (FGB III 1: 74; FGB 1922: 14); aber ob gerade in diesem Fall ein Irrtum vorliegt, bleibt im Golden Bough unklar.²⁰⁶ Frazer zeigt sich unschlüssig und möchte eher das Kindische betonen als den Irrtum. Wittgenstein rennt also offene Türen ein. Dem Wortlaut seiner Bemerkung ist wiederum nicht zwingend zu entnehmen, dass Frazer hier den Handelnden einen Glauben unterstellt. Wenn Wittgenstein darauf hinaus will, dann mangelt es ihm an Nachsicht. Allerdings belegt er seinen Einwand durch weitere Beispiele. Frazers ‚Primitive‘ scheinen wirklich in einem systematischen Wahn befangen. „[…] Es ist sehr merkwürdig daß alle diese Gebräuche endlich sozusagen als Dummheiten dargestellt werden. | Nie wird es aber plausibel daß die Menschen aus purer Dummheit alle diese Dinge/all das/ tun.“ (MS 110: 178; TS 211: 313) Die „Urdummheit“ ist tatsächlich ein populärer ethnologischer Begriff gewesen! Er stammt indes nicht von Frazer.²⁰⁷ Im Gegenteil: Der Golden Bough weist die Erklärung aus Dummheit explizit zurück. Trotzdem verstoßen Frazers Beschreibungen in eklatanter Weise gegen das Nachsichtigkeitsprinzip: Sie unterstellen, meint Wittgenstein, den Menschen Absurditäten, die einzig durch Dummheit zu erklären wären.²⁰⁸ Eher als bestimmte Behauptungen greift der Philosoph hier Frazers Form der Darstellung an; und Wittgensteins Bemerkung, dass jene Sachverhalte im Golden Bough „endlich“ so „dargestellt werden“, ist nicht falsch. Frazer mag die Erklärung aus Dummheit ablehnen, aber seine savages beschreibt er wirklich als kindisch. Wittgenstein ist Frazers ‚herablassendes Missverständnis‘ offenbar nicht entgangen. Der schottische Ethnologe, der sich immer wieder zum Erzähler einer

 Frazer sieht dort, wo „a simulation of birth as a form of adoption“ verwendet wird, „[t]he same principle of make-believe“ am Werk (FGB III 1: 74; FGB 1922: 14) wie in magischen Zeremonien. Er beschreibt zuerst einen magischen Ritus bei den Dyak und geht offensichtlich davon aus, dass sie an dessen Wirksamkeit glauben; die Art der Adoption „in Bulgaria and among the Bosnian Turks“ (FGB III 1: 74; FGB 1922: 15) soll dasselbe Prinzip zeigen, aber ohne dass Frazer hier einen Glauben ausdrücklich unterstellt. Ohne den Brauch eingehender zu beschreiben, merkt er lediglich an: „A woman will take a boy whom she intends to adopt and push or pull him through her clothes; ever afterwards he is regarded as her very son, and inherits the whole property of his adoptive parents.“ (FGB III 1: 74; FGB 1922: 15)  Der deutsche Ausdruck „Urdummheit“ wird in der damaligen englischsprachigen Literatur oft zitiert. In Deutschland wird er u. a. von Cassirer erwähnt, der sich auf den Urheber, Konrad Theodor Preuss, ausdrücklich bezieht.  M. C. Banner (1990: 69 ff.) zufolge kann Wittgensteins ‚Expressivismus‘ (so deutet Banner dessen Position) auf die schwächere zweier Versionen von Davidsons Nachsichtigkeitsprinzip zurückgeführt werden.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Geschichte grausamen menschlichen Wahns stilisiert, meint trotzdem, seine savages seien zu ‚entschuldigen‘ (vgl. FGB III 1: 242; FGB 1922: 59); nicht um Dummheiten handle es sich, sondern um „legitimate hypotheses“ (FGB III 1: 246; FGB 1922: 62);²⁰⁹ denn bei ihrem Kenntnisstand könne es den Primitiven nur äußerst schwer gelingen, „den Irrtum in der Magie zu entdecken“ (MS 110: 179; TS 211: 314). Frazer erbt von Tylor die Frage, weshalb jene Ansichten, wenn sie so falsch sind und ihre Anwendung so nutzlos, nur sehr langsam in Zweifel gezogen werden – oder gar nicht. Was macht Menschen unfähig, die Irrtümlichkeit der eigenen Behauptungen einzusehen? Tylor sieht in dieser Abschottung gegen Kritik ein erklärungsbedürftiges Phänomen: Eine Reihe von Faktoren soll plausibel machen, warum jene Irrtümer nicht durchschaut bzw. falsifiziert werden. Auch Frazer hält die Tatsache, dass jene Bräuche so lange bestehen, für erklärungsbedürftig. Er betreibt jedoch einen viel geringeren theoretischen Aufwand als vor ihm Tylor und nach ihm Evans-Pritchard, der 22 glaubenserhaltende und

 In „Our Debt to the Savage“, dem letzten Kapitel von Taboo and the Perils of the Soul (FGB III 3: 419 – 422) und dem XXIII. der Abridged Edition, erklärt Frazer: „our resemblances to the savage are still far more numerous than our differences from him“; „their errors were not wilful extravagances or the ravings of insanity, but simply hypotheses, justifiable as such at the time when they were propounded, but which a fuller experience has proved to be inadequate.“ (FGB III 3: 422; FGB 1922: 264; vgl. auch FGB III 8: 202 f.; FGB 1922: 517 f.; vgl. dazu PO: 120 f., Anm. 1.; VE: 30, Anm. 1.) Frazer versteht daher seine These, die Fehler der ‚Wilden‘ seien einfach unzulängliche Hypothesen, auch als würdigende Rechtfertigung; durch die Analogie zwischen Aberglauben und (unzulänglicher) wissenschaftlicher Hypothese soll die Ähnlichkeit zwischen dem Wilden und dem Europäer hervorgehoben werden. Insofern leugnet auch er unsere „Verwandtschaft zu jenen Wilden“ nicht, lässt sie aber nur innerhalb seines hierarchischen evolutionistischen Schemas gelten. Es handelt sich also um eine äußerst beschränkte, paternalistische Form von Anerkennung. Mary Douglas sieht darin „ein bloßes Lippenbekenntnis“, zu dem einige Zuschriften Frazer veranlasst hätten (vgl. Douglas 1988: 39). Drury zitiert aus demselben Kapitel des Golden Bough: „[W]e shall do well to look with leniency upon their errors as inevitable slips made in the search for truth“ (FGB 1922: 264; FGB III 3: 422). Drury berichtet von Wittgensteins Kritik dieses ‚condescending misunderstanding‘ (Drury 1973: x f.; vgl. auch Drury 2003: 8 f.). Bezieht sich aber auch Wittgenstein auf „Our Debt to the Savage“? Die Apparate in VE und PO nehmen es an (vgl. VE: 30, Anm. 1; PO: 120 f., Anm. 1), obwohl sie auch auf Frazers Ausführungen im ersten Band der dritten Ausgabe hinweisen (vgl. VE: 30, Anm. 2; PO: 120 f., Anm. 2). Es liegt jedoch nahe, dass Wittgenstein in beiden Aufzeichnungen auf dieselben Seiten Bezug nimmt – und nur auf den ersten Band. Die Annahme, dass er neben dem ersten auch den dritten Band der ungekürzten Ausgabe (FGB III 1: 242 f.; FGB 1922: 59 f.) eingesehen hat, drängt sich nicht auf; aber wenn er schon damals die Abridged Edition benutzt hat, kann er sehr wohl beide Stellen zur Kenntnis genommen haben. Dasselbe Adjektiv (‚condescending‘) verwendet Drury auch in einem weiteren ähnlichen Kontext. Siehe dazu unten S. 213 f., Anm. 333.

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-festigende Faktoren auflistet.²¹⁰ Zugleich macht sich Frazer die Aufgabe auch noch besonders schwer: Er schreibt seinen savages einen protowissenschaftlichen Glauben an die unentrinnbare, ausnahmslose, gesetzmäßige Wirksamkeit der Magie zu.²¹¹ Es ist aber nicht einzusehen, wie sie einen solchen starren Determinismus lange aufrechterhalten könnten. Eine Stelle, auf die sich Wittgenstein bezieht, konzentriert sich im Wesentlichen auf Versuche, das Wetter (Wind, Regen) oder die Gezeiten zu beeinflussen: Frazer erklärt, „the fallacy was far from easy to detect, the failure by no means obvious“, denn so eine Zeremonie „will always be followed, sooner or later, by the occurrence it is meant to bring to pass“, sie „will invariably appear to be crowned by success“.²¹² Wittgenstein kommentiert: Frazer sagt, es sei sehr schwer den Irrtum in der Magie zu entdecken – und darum halte sie sich so lange – weil z. B. eine Beschwörung die Regen herbeiführen soll früher oder später gewiß als wirksam erscheint. Aber dann ist es eben merkwürdig daß die Menschen

 Zur genannten Liste vgl. Evans-Pritchard 1937: 475 – 478. In dem genannten Aufsatz arbeitet Evans-Pritchard bei Tylor sechs Gründe heraus (vgl. Evans-Pritchard 1933: 125). Zur Beziehung zwischen Tylors Erläuterung und den in Evans-Pritchards Azande-Monographie aufgezählten Gründen vgl. Skorupski 1976: 4 ff., der bei Tylor (nur) vier Gründe unterscheidet, sowie Merten 1996: 147 ff. Zu Evans-Pritchard vgl. auch Lara 2005: 86 ff.  „Wherever sympathetic magic occurs in its pure unadulterated form, it assumes that in nature one event follows another necessarily and invariably without the intervention of any spiritual or personal agency. Thus its fundamental conception is identical with that of modern science; underlying the whole system is a faith, implicit but real and firm, in the order and uniformity of nature. The magician does not doubt that the same causes will always produce the same effects, that the performance of the proper ceremony, accompanied by the appropriate spell, will inevitably be attended by the desired results, unless, indeed, his incantations should chance to be thwarted and foiled by the more potent charms of another sorcerer.“ (FGB III 1: 220; FGB 1922: 48 f.)  „The reader may well be tempted to ask, How was it that intelligent men did not sooner detect the fallacy of magic? How could they continue to cherish expectations that were invariably doomed to disappointment? With what heart persist in playing venerable antics that led to nothing, and mumbling solemn balderdash that remained without effect? Why cling to beliefs which were so flatly contradicted by experience? How dare to repeat experiments that had failed so often? The answer seems to be that the fallacy was far from easy to detect, the failure by no means obvious, since in many, perhaps in most cases, the desired event did actually follow, at a longer or shorter interval, the performance of the rite which was designed to bring it about; […]. A ceremony intended to make the wind blow or the rain fall […] will always be followed, sooner or later, by the occurrence it is meant to bring to pass; and primitive man may be excused for regarding the occurrence as a direct result of the ceremony, and the best possible proof of its efficacy.“ (FGB III 1: 242 f.; FGB 1922: 59; vgl. PO: 121, Anm. 2, wo aber die Sätze, auf die sich der Anfang von Wittgensteins Bemerkung bezieht, nicht angeführt werden.)

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nicht früher darauf kommen daß es ohnehin früher oder später regnet. (MS 110: 179; TS 211: 341)²¹³

Es ist eigentlich nicht bloß „merkwürdig“. An Frazers Erklärung ist etwas nicht in Ordnung: Die von ihm behauptete Schwierigkeit, eine lose Aufeinanderfolge nicht als kausale Beziehung zu missdeuten bzw. die entsprechende Verwechslung zu durchschauen, hängt – meint Wittgenstein 1931 – mit dem Weiterbestehen der Gebräuche auf keine Weise zusammen. Sie werden nicht aus theoretischen Gründen eingeführt bzw. aufgegeben, sondern, wenn überhaupt aus Gründen, dann aus solchen anderer Ordnung.²¹⁴ Es gibt – so könnte man seine Position wiedergeben – im rituellen Bereich kein ‚Rätsel der Falsifikation‘, das durch die Angabe von ‚Blockaden der Falsifizierbarkeit‘ zu lösen wäre.²¹⁵ Über die Frage der Glaubenserhaltung denken jedoch nicht nur klassische individualistische Intellektualisten wie Tylor und Frazer nach. Und ist der Ansatz, Weltbilder auch durch die Angabe jener ‚Blockaden‘ plausibel zu machen, wirklich prinzipiell zurückzuweisen?²¹⁶ Der späte Wittgenstein wird hier vorsichtiger sein. 1931 scheint er für seine ablehnende Haltung einen guten Grund zu haben. Das lange Weiterbestehen magischer Bräuche ist Frazer zufolge nur deshalb erklärungsbedürftig,weil sie ihr Ziel verfehlen; und sie werden aus diesem Grund am Ende doch aufgegeben. Haben sie aber wirklich eine instrumentelle Funktion, die sie nicht erfüllen können? Wittgenstein stellt eben diese Annahme in Frage.

 Gibt Frazer nur die im Text angeführte Erklärung? Wittgenstein deutet ihn nicht als einziger so. In ähnlichem Sinn äußert sich auch Evans-Pritchard 1933: 128. Im Golden Bough werden jedoch auch andere Erklärungen vorgeschlagen, z. B., eine, die ebenfalls schon bei Tylor anzutreffen ist: Der magische Vorgang, meint man, sei unwirksam geblieben, weil ein anderer, konträrer, ihn vereitelt habe. Der Zauberer nimmt demnach an, sein Ziel erreichen zu können, „unless, indeed, his incantations should chance to be thwarted and foiled by the more potent charms of another sorcerer“ (FGB III 1: 220; FGB 1922: 49; vgl. auch Evans-Pritchard 1933: 129).  Zu einer allgemeinen Kritik von Wittgensteins Standpunkt in dieser Frage vgl. Ayer 1985: 88 ff.  „Falsification riddle“ nennt Tambiah (1990: 46) in Anlehnung an Popper das klassische Problem der Glaubenserhaltung. Bei P. de Lara (2005) heißt es „Frazers Problem“. Zu den „blocks to falsifiability“ vgl. Skorupski 1976: xiii.  Auch Evans-Pritchard ist diese Herangehensweise nicht fremd. In Auseinandersetzung mit den Intellektualisten und Lévy-Bruhl will er zeigen, warum eine falsche Ansicht weder mit individueller Erfahrung noch mit dem common sense in Konflikt geraten muss, und für die Fälle, in denen dies doch geschieht, möchte er angeben, was die Aufmerksamkeit von den Widersprüchen weglenkt. Vgl. dazu Merten 1996: 148. Zu Evans-Pritchards Kritik an Tylors Ansatz, der auch derjenige Frazers ist, vgl. auch Tambiah 1990: 51. Zum späten Wittgenstein siehe unten S. 362 ff.

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2.1.2.2.2 „Take Professor Frazer out of his college rooms and strand him in the Nullabor desert“²¹⁷ „Frazer completely fails to mention that these so called savages, these ruder ages, had alongside their myths and rites already made immense scientific discoveries. They knew something of agriculture, of metal working, of architecture, the use of the wheel, and how to make fire. If they thought it important to carry out an elaborate fertility rite before the Spring ploughing, it is also true that they could make a plough and knew the importance of ploughing.“ (Drury 2003: 8 f.)²¹⁸

Selbst wenn man von fragwürdigen Beispielen wie „the use of the wheel“ absieht, die bei Wittgenstein so nicht vorkommen, irrt Drury: Spätestens Maretts Kritik hat Frazer auf jene ‚Entdeckungen‘ aufmerksam gemacht; und in der Zeit, als Wittgenstein sich in den Golden Bough vertieft, ist dessen Autor mit dem Argument bereits vertraut. Als Lévy-Bruhls La mentalité primitive in englischer Übersetzung erscheint, erinnert Frazers Rezension an die „elaborate traps constructed by savages for the catching of fish or game“ (Frazer 1931e: 415). Lévy-Bruhls ‚mystische Kausalität‘ werde derlei Tatsachen nicht gerecht: Lévy-Bruhl selbst gebe zu, dass ohne Einsicht in die Kausalverhältnisse die Handhabung von Werkzeug nicht denkbar sei.²¹⁹ Merkwürdigerweise hatte Frazers eigene Stadienlehre den savages jede Einsicht in die Kausalverhältnisse abgesprochen. Insofern hat Wittgenstein, auch Drurys Wittgenstein, recht. In Wirklichkeit sind alle – Marett, Frazer und auch Lévy-Bruhl – über jene technischen Fertigkeiten irgendwie im Bilde, und alle meinen, die konkurrierenden Theorien würden daran scheitern. Wenn Drury nicht nur von „quite advanced techniques“, sondern von „a considerable scientific achievement“ und sogar von „immense scientific discoveries“ redet, verwendet er den Ausdruck ‚Wissenschaft‘ nicht weniger naiv, lose und unspezifisch als Frazer. Sie sind hierin nicht allein: Auch Malinowski zufolge kennen alle Völker, selbst die s. E. ‚primitivsten‘, etwas wie Wissenschaft.²²⁰ Er

 Drury 2003: 8 f. Der vorliegende Abschnitt ist eine neue Fassung von Brusotti 2007b: 90 ff.  „Now Wittgenstein made it clear to me that on the contrary the people who practised these rites already possessed a considerable scientific achievement: agriculture, metalworking, building, etc., etc.; and the ceremonies existed alongside these sober techniques.“ (Drury 1973: x) „He pointed out that beside these (ritual) customs primitive peoples had quite advanced techniques: agriculture, metal working, pottery etc.“ (MDC: 119)  Eigentlich geht Lévy-Bruhl gleich in den ersten Seiten auf die technischen Fertigkeiten der Primitiven ein: Er gibt zu, dass sie eine Art Empirie kennen, lässt diese aber nicht als selbständiges Prinzip zu, sondern subsumiert sie unter mystische Kausalität.  S. F. Nadel kritisiert Malinowskis Gebrauch des „all-too-ambitious term ‘science’“; man hat in dem von Malinowski beschriebenen Fall „not really science, that is, a logically coherent body

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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reduziert dabei Wissenschaft unqualifiziert auf Empirie und vertritt die unhistorische Auffassung, dass diese überall identisch ist. Man kann merkwürdigerweise zugleich sagen, dass Malinowski in diesem Punkt 1) Frazer widerspricht und 2) unkritisch an ihn anschließt; denn in Frazers Palimpsest findet sich nicht nur die ‚offizielle‘ Theorie, wonach Wissenschaft ein erst dem Westen vorbehaltenes spätes Entwicklungsstadium darstellt, sondern auch die damit unvereinbare These, dass Magie und Wissenschaft in allen Gesellschaften koexistieren.²²¹ Diese These wird gewöhnlich mit Malinowski verbunden, der sie dann eindeutig und dezidiert vertritt. Aber Malinowski knüpft in diesem Punkt an Frazer an, wenn auch nicht an dessen ‚offizielle‘ Theorie. Drurys Wittgenstein ist ebenfalls der Ansicht, Wissenschaft sei eine allgemeinmenschliche Erscheinung. Der echte Wittgenstein vermeidet Drurys Hyperbeln und wendet den Begriff ‚Wissenschaft‘ auf die ‚Primitiven‘ nicht an. Aber die von Drury betonte kategorielle Unterscheidung – „(ritual) customs“ bzw. „ceremonies“ gegen „techniques“ – ist für Wittgenstein wirklich bedeutsam. Er bezieht eine deutliche Gegenposition zu Frazer. Dieser führt Magie auf die Unfähigkeit der ‚Primitiven‘ zurück, wirkliche und imaginäre Ursachen auseinanderzuhalten. Für den „savage“, der „hardly conceives the distinction commonly drawn by more advanced peoples between the natural and the supernatural“, „the world is to a great extent worked by supernatural agents“ (FGB III 1: 51; FGB 1922: 10); Frazers ‚Wilder‘ sieht überall nur magische Kausalität und kennt eine mechanische nicht. Magie ist seine bastard science und sterile Technik. Gegen diese Gleichsetzung trennt Wittgenstein erst einmal strikt rituelle Bräuche und technische Fertigkeiten. „Der selbe Wilde der anscheinend um seinen Feind zu töten, sein |dessen| Bild durchsticht, baut seine Hütte aus Holz wirklich und schnitzt seinen Pfeil kunstgerecht und nicht in effigie.“ (MS 110: 182; TS 211: 316) Diesen scheinbaren Widerspruch löst Wittgenstein auf, indem er eine klare Grenze markiert: Es gibt einerseits utilitaristisch motivierte, der Wirklichkeit angepasste Handlungen, in denen allerlei technische Fähigkeiten zum Einsatz of empirical knowledge, but merely technology and the disconnected items of practical knowledge sufficient to sustain it.“ (Nadel 1957: 198.)  Kultur – so Frazers Gleichnis (FGB 1922: 713 f.) – ist wie ein aus drei Fäden gewirktes Gewebe, ein patchwork aus einem schwarzen (Magie), einem roten (Religion) und einem weißen (Wissenschaft) Faden. Heute besteht das Gewebe aus allen drei Fäden. In Urzeiten wies es ein schwarz-weißes Muster auf: Es war ein Flickwerk aus wahren (wissenschaftlichen) und falschen (magischen) Vorstellungen, nur von Religion fehlte damals noch jede Spur. Dass Magie und Wissenschaft schon in Urzeiten gemischt auftreten, gilt hier also als ausgemacht. Offen bleibt, wie das Gewebe in Zukunft aussehen wird: Wird es weiß sein oder rot? Wird sich Wissenschaft durchsetzen oder Religion? Mit dieser Frage klingt bereits in der zweiten Ausgabe von 1900 der Golden Bough aus.

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kommen, andererseits rituelle, magische Handlungen: Sie sind nur dem Anschein nach der Wirklichkeit nicht angepasst, eigentlich aber sind sie einfach keine Zweckhandlungen.²²² Jene Fertigkeiten – dies das (implizite, leider zu einfache) Argument – zeigen einen ausgeprägten Realitätssinn, ein klares Bewusstsein der Umstände, in denen Techniken wirken; der „Wilde“ wird also auch wissen, welche Verfahren unwirksam sind. Da er, wenn er einen Feind töten will, sehr wohl über effektive Techniken verfügt, ist das Durchstechen eines Abbildes nur „anscheinend“ (MS 110: 182; TS 211: 316) eine technische Maßnahme. So reimt sich Wittgenstein die Sache zusammen. Ritus und technische Handlung haben demnach jeweils einen anderen Kontext: Riten haben etwa dort ihren Platz,wo technische Handlungen überflüssig sind, etwa weil das Gewünschte sowieso eintritt.²²³ „Gegen morgen, wenn die Sonne aufgehen will werden von den Menschen Riten des Tagwerdens celebriert aber nicht in der Nacht, sondern da brennen sie einfach Lampen.“ (MS 110: 297) So auch bei „einem Regen-König in Afrika“, „zu dem die Leute um Regen bitten w e n n d i e R e g e n p e r i o d e k o m m t . Aber das heißt doch daß sie nicht eigentlich meinen er könne Regen machen, sonst würden sie es in der trockenen Periode des Jahres in der das Land ‚a parched and arid desert‘ ist, machen. […]“ (MS 110: 297)²²⁴ Wittgenstein geht hier einen viel zu einfachen Weg. Zu Recht nimmt er die fremde Lebensweise holistisch in den Blick und vergleicht die darin gebräuchlichen Handlungsweisen untereinander:Während Frazer magische Handlungen bei ‚ihnen‘ mit technischen bei ‚uns‘ vergleicht, stellt Wittgenstein (auch) bei ‚ihnen‘

 In der Vorlesung vom May Term 1933 will Wittgenstein Letzteres freilich nicht für alle Fälle ausschließen. Zur gemäßigteren Position der Vorlesung siehe unten, S. 287 f., insbes. Anm. 26.  Oder im Gegenteil, weil es gar nicht zu erreichen ist. Wittgenstein erwägt allerdings nur die Variante im Text. – Ohne „agriculture and hunting“ gibt es, bemerkt Evans-Pritchard gegen Frazer, auch keine „agricultural and hunting magic“; „[…] no people could possibly have lived in a state of culture sufficient to engage in ritual unless they first had sufficient technological knowledge to master their environment“ (Evans-Pritchard 1933: 135).  Vgl. FGB 1922: 107; vgl. den Hinweis in VE: 40; PO: 136, Anm. 7. Zum Regenmachen vgl. auch MS 110: 179; TS 211: 314. – „Don’t be a fool, whoever makes a rain-making ceremony in the dry season?“ So die von Meyer Fortes weitererzählte Antwort eines Praktikers (vgl. Tambiah 1990: 54; vgl. ein ähnliches Beispiel bei Douglas 1988: 79). Trotzdem sind Wittgensteins Einwände nicht konklusiv: Eine unterstützende, begünstigende Wirkung ist auch eine Wirkung, und die Unsicherheitsfaktoren sind nicht zu unterschätzen (vielleicht regnet es nicht, wenn es ‚regnen sollte‘, der Anbruch der Regenzeit kann auf sich warten lassen, die vorausgehende Dürre an Intensität variieren usw.). Die „Verbindung von Ritus und magischer Wirkung“ ist oft „lose“, merkt M. Douglas gegen Frazer an (Douglas 1988: 81); in manchem Weltbild wird die Wirkung nicht ausgeschlossen, also als möglich erachtet, aber nicht mehr.

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rituelle und technische Handlungen einander gegenüber. Fraglich ist aber, dass alle Kulturen hier ähnlich unterscheiden – und zwar so wie ‚wir‘. Wittgenstein scheint davon auszugehen. Er wagt sich noch weiter als die Theorien der doppelten Kausalität, wie Marett, Malinowski und auf eigene Weise auch Evans-Pritchard sie vertreten. Der Erstere, auch ein evolutionistischer ‚Lehnstuhlethnologe‘, bestreitet schon früh, dass Primitive „between the natural and the supernatural“ kaum differenzieren. Er schließt aus dem Gebrauch von Werkzeug auf ihre Fähigkeit, mechanische Kausalität zu erkennen und von der ‚übernatürlichen‘ zu trennen. Obwohl sie letztere nicht als imaginär durchschauen, sehen sie in ihr eine Kausalität sui generis. Ihre Magie ist eine „occult science“ (Marett 1914b: 50), die mit Geheimnisvollem zu tun hat und für sich diese besondere Art kausaler Wirksamkeit in Anspruch nimmt. Malinowski sieht Frazers Theorie, die den ‚Primitiven‘ die Distinktion zwischen ‚natürlich‘ und ‚übernatürlich‘ einfach abspricht, von der eigenen Feldforschung widerlegt: Die Trobriander scheiden Natürliches und Übernatürliches als zwei einander ausschließende Sphären. Malinowskis Theorie verallgemeinert den Einzelfall: Nicht die Trobriander allein, sondern alle Kulturen halten Natürliches und Übernatürliches strikt auseinander. Ein merkwürdiges Resultat, denn das „Natürliche“ ist, wie schon Durkheim bemerkt, ein später Begriff. Evans-Pritchards Feldforschung bestätigt Malinowskis Theorie nur zum Teil: Zwischen Natürlichem und Übernatürlichem unterscheiden die Azande zwar dem Grundsatz nach, aber nicht stets und überall.²²⁵ Genauer: Sie machen einen Unterschied, der mit unserem zwar vergleichbar, aber nicht identisch ist, und hier ist Übersetzungsarbeit zu leisten. Frazer liegt also falsch, wenn er Menschen die Fähigkeit, zwischen ‚natürlich‘ und ‚übernatürlich‘ zu unterscheiden, schlichtweg abspricht. Aber Evans-Pritchards Azande unterscheiden nicht so wie ‚wir‘. In Malinowskis allgemeinen Theorien, zeigt Evans-Pritchard indirekt, bleiben die Abweichungen unterbelichtet: Zum Beispiel fällt, anders als Malinowski will, die Unterscheidung zwischen Magie und Technik mit derjenigen zwischen Heiligem und Profanem nicht (unbedingt) zusammen.²²⁶

 Nicht nur hier bietet die Heilkunst Gelegenheit zu Gegenbeispielen. Vgl. Merten 1996: 174 f. Zur Heilkunst siehe unten § 2.1.2.3.3, S. 179 ff.  Evans-Pritchards Analyse – etwa die Azande machen mit unseren zwar vergleichbare, aber nicht identische Unterscheidungen – markiert P. de Lara zufolge (2005: 76) etwas wie einen symbolischen Schlusspunkt der Debatte. Auch Evans-Pritchards Begriff des „Mystischen“ ist jedoch keine Übersetzung aus der Lokalsprache, sondern eine Art universelle Kategorie: Dieser Begriff, der einen westlichen Standpunkt verrät, ist insofern aus verwandten Gründen überholt wie Malinowskis Ansicht. Zu einer Kritik vgl. etwa Geertz 1993d.

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Auch Wittgensteins Betrachtung fällt zu allgemein aus. Man müsste jedes Mal fragen, ob ein Unterschied wie der zwischen ‚technisch‘ und ‚rituell‘ in der jeweiligen Sprache überhaupt gemacht wird und inwieweit er in der gegebenen Gesellschaft wirklich greift. 1931 stellt Wittgenstein diese Fragen nicht. Ihm fehlt damals noch die Einsicht, dass hier die Begrifflichkeit der jeweiligen Sprachgemeinschaft zu verwenden wäre (er geht eher davon aus, dass ‚sie‘ im Grunde ähnliche Worte benutzen wie ‚wir‘, z. B. solche, die sich durch ‚ghost‘ übersetzen lassen). Zudem – und dies ist ein wichtiger Punkt – taucht in seiner Auseinandersetzung mit dem Golden Bough nirgendwo die Idee auf, dass man einschlägige Fragen den Akteuren stellen sollte. Die Eventualität, mit ‚ihnen‘ in einen Dialog zu treten, sie zu fragen, spielt hier keine Rolle – anders als in der späteren ‚imaginären Ethnologie‘ oder auch in der Vorlesung vom May Term 1933.²²⁷ Dennoch braucht Wittgenstein auch 1931 keine allgemeine Theorie über ‚natürliche‘ und ‚übernatürliche‘ Kausalität. Rituelle Handlungen haben bei ihm nicht mit einer Kausalität sui generis zu tun, sondern mit gar keiner. Er scheint aber vorauszusetzen, dass seine ‚Wilden‘ Kausalität genauso auffassen wie ‚wir‘; selbst von unserem Standpunkt aus betrachtet, sind ‚sie‘ ähnlich rational wie ‚wir‘, da auch bei ihnen ‚übernatürliche‘ Kausalität keine Rolle spielt und sie etwa „nicht eigentlich meinen“, der „Regen-König“ „könne Regen machen“ (MS 110: 297). Unterschätzt Wittgenstein die Variabilität der Denksysteme? 1931 ja. Aber diese Bemerkungen sind nicht sein letztes Wort. In den letzten Manuskripten besteht er nicht mehr darauf, dass die Leute es „nicht eigentlich meinen“ (MS 110: 297): „Menschen haben geurteilt, ein König könne Regen machen“ (MS 174: 28r; ÜG, § 132), heißt es nun ohne weitere Erklärung oder Einschränkung, und der König selbst soll diese Überzeugung geteilt haben: „Menschen haben geglaubt, sie könnten Regen machen“ (MS 174: 20v; ÜG, § 92).²²⁸ Frazer neigt zu der Ansicht, dass die meisten Zauberer ihre magischen Kräfte nur vortäuschen und sehr wohl um ihre Grenzen wissen. Geht Wittgenstein mithin sogar weiter als Frazer? Oder schwenkt er auf dessen Position ein? Nein, zwischen ihnen bleibt ein tiefer Graben. Dass Menschen irgendwie daran glauben, ihr König  Zu den Fragen, die man einem ‚Götzenanbeter‘ stellen könnte, siehe unten S. 282 f.  Siehe dazu unten S. 389 ff. Diese sehr späten Bemerkungen sind nicht wirklich isoliert. Folgende bereits angeführte Aufzeichnung schließt die instrumentalistische Deutung der Magie keineswegs aus. „Denk daran an welche |daß Menschen an eine so| innige Verbindung zwischen Namen und Benannten glauben Magie |daß sie| mit Namen Magie treiben, können um dem Benannten zu schaden.“ (MS 179: 15r) Wittgenstein geht hier wie selbstverständlich davon aus, dass Menschen an diese Verbindung „g l a u b e n“ und „mit Namen Magie treiben, u m dem Benannten zu schaden.“ (Meine Hervorhebungen.) Diese Interpretation klingt (wie bei Ogden und Richards) echt frazerianisch: Die magische Handlung wurzelt im Glauben an eine bestimmte kausale Wirkung und hat eindeutig eine instrumentelle Funktion.

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sei mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, streiten die letzten Manuskripte auf jeden Fall nicht mehr ab.Worauf es Wittgenstein nun ankommt, ist, dass auch etwas, was in unserem Weltbild absurd ist, in einem anderen geglaubt werden bzw. sogar zu dessen festem Hintergrund gehören kann. Er schließt bereits in seiner zweiten Auseinandersetzung mit Frazer jene Möglichkeit nicht aus, sondern merkt lediglich an: „[D]ie Notion von seiner Kraft ist natürlich schon so eingerichtet, daß sie mit der Erfahrung – des Volkes und seiner – übereinstimmen kann.“ (MS 143: 1)²²⁹ Zwar gibt es selbstverständlich „Operationen“, „die auf einer falschen, zu einfachen, Vorstellung der Dinge und Vorgänge beruhen“ (MS 110: 183); aber „eine vollkommen falsche (ja wahnsinnige) Vorstellung vom Laufe der Natur“ (MS 143: 3) d. h. eine, die mit der Erfahrung nicht „übereinstimmen kann“ (MS 143: 1), darf man den Menschen nicht unterstellen. Man darf den Glauben an die übermenschlichen Kräfte des Regenkönigs also nicht so beschreiben, dass diese Sicht der Dinge als eine vollkommen falsche, ja wahnsinnige erscheint. Falsche Vorstellungen kommen natürlich überall vor – und reichlich. Die „Naturerkenntnis“ dieser Völker kann anders sein als ‚unsere‘, wahrer oder falscher. Aber sie wird sich von ihr „nicht f u n d a m e n t a l unterscheiden“. Der Unsinn ist hier, daß Frazer es so darstellt als hätten diese Völker eine vollkommen falsche (ja wahnsinnige) Vorstellung vom Laufe der Natur, während sie nur eine merkwürdige Interpretation der Phänomene besitzen. D.h. ihre Naturerkenntnis, wenn sie sie niederschrieben würde von der unsern sich nicht f u n d a m e n t a l unterscheiden. Nur ihre M a g i e ist anders. (MS 143: 3)

Nur jene Kenntnisse über den Naturverlauf, auf denen Techniken wie Hüttenbau, Pfeileschnitzen und Töpferei beruhen, darf man mit unseren vergleichen; und der Unterschied ist nicht so fundamental, dass diese „Vorstellung vom Laufe der Natur“ uns als Wahnsinn erscheinen müsste. Die magische „Interpretation der Phänomene“, die sich weit deutlicher von unserer Sicht der Dinge unterscheidet und uns als „anders“ bzw. als „eine merkwürdige Interpretation“ vorkommt, darf

 In den Bemerkungen von 1931 ist „die Erfahrung […], daß im März der Regen beginnt“, ein Einwand gegen die Annahme, „daß die Leute einmal aus Dummheit dieses Amt des Regenkönigs eingesetzt haben“; denn „sie hätten dann den Regenkönig für den übrigen Teil des Jahres funktionieren lassen“ (MS 110: 297), was sie aber nicht getan haben. 1931 folgert Wittgenstein einfach, dass man ihnen diesen Irrtum nicht zuschreiben kann. In späteren Jahren zieht er jedoch einen anderen Schluss: Sie haben das Amt des Regenkönigs so eingesetzt, dass es mit ihrer Erfahrung übereinstimmen kann; dies heißt aber nicht, dass mit jenem Amt keine irrtümlichen Vorstellungen eingehen können.

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wiederum mit unserer durch Wissenschaft geprägten Naturerkenntnis gar nicht verglichen werden. Aber von welcher Art Naturerkenntnis dürfte man berechtigterweise sagen, dass sie sich von der ‚unsrigen‘ „ f u n d a m e n t a l “ unterscheidet? Diese späte Bemerkung gibt kein eindeutiges Kriterium an. 1931 wiederum hatte sich Wittgenstein ein irreales Gedankenexperiment ausgedacht, einen fiktiven Fall, der unsere „Verwandtschaft mit jenen Wilden“ (MS 110: 205) in Frage stellen würde: „Denn das ist ja/doch/ etwas anderes als wenn er [Frazer; MB] etwa beschriebe die Wilden bilden sich ein daß ihnen ihr Kopf herunter fällt wenn sie einen Feind erschlagen haben. Hier hätte u n s e r e B e s c h r e i b u n g nichts abergläubisches oder magisches an sich.“ (MS 110: 205; TS 211: 251) Diese Einbildung würde sich – im Vokabular der späteren Aufzeichnung – von unserer Naturerkenntnis fundamental unterscheiden; sie könnte mit menschlicher Erfahrung, auch mit der der ‚Wilden‘, nicht übereinstimmen. Beinhalten die von Frazer angeführten Beispiele wirklich derartige mit unserer Naturerkenntnis inkommensurable Einbildungen? 1931 scheint Wittgenstein mit sich nicht ganz einig; denn die eben zitierte Bemerkung, die sich gut mit der späteren aus MS 143 verträgt, steht in einer gewissen Spannung zum Duktus seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Im Allgemeinen tendiert er damals nämlich zu einer Art ‚Nachsichtigkeitsprinzip‘: Wenn Regentänze und ähnliche rituelle Handlungen wirklich, wie Frazer annimmt, Zweckhandlungen tout court wären, dann würden sie eine wahnsinnige Vorstellung der Naturvorgänge implizieren. Die ungeheuren Irrtümer, die der Golden Bough damit den ‚Wilden‘ unterschiebt, lassen sich mit menschlicher Erfahrung nicht vereinbaren. Frazers Auffassung ist deshalb zurückzuweisen. 1931 erklärt nur die gerade erläuterte Bemerkung, dass Frazer das Benehmen seiner ‚savages‘ doch nicht so beschreibt: Nichts verrate derart enorme Irrtümer, dass sie unsere Verwandtschaft mit jenen Menschen in Frage stellten. Im Golden Bough werde eine mit unserer Naturerkenntnis inkommensurable Einbildung überhaupt nicht genannt. Darauf will Wittgensteins Bemerkung offenbar hinaus. Diese Einschätzung scheint sich bei ihm allerdings erst nach 1931 wirklich durchzusetzen. Die Distanz zwischen ihm und Frazer nimmt damit dramatisch ab. Weniger schwerwiegende Irrtümer, wie der Golden Bough sie beschreibt, schließt Wittgenstein nun nicht von vornherein aus. Die frühe Idee, dass es überhaupt nicht um Irrtümer geht, stand in diametralem Gegensatz zu Frazer, nicht jedoch die späte, die lediglich vollkommen falsche Vorstellungen ausschließt. Die späte Bemerkung meint, „die Notion“, der König verfüge über magische Kräfte, sei „natürlich schon so eingerichtet, daß sie mit der Erfahrung – des Volkes und seiner – übereinstimmen [könne]“ (MS 143: 1). Diese Idee erinnert an das ethnologische Projekt, durch blocks to falsifiability zu

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erklären, wie falsche Ansichten mit common sense und individueller Erfahrung zur Übereinstimmung gebracht werden (können). 1931 hatte Wittgenstein dieses Vorhaben strikt zurückgewiesen. Die Tragweite seiner Umstellung kann daher nicht genug unterstrichen werden. Inwiefern trifft die neue Kritik den Golden Bough? Die zitierte Bemerkung verneint, dass wir es in den bei Frazer beschriebenen Fällen mit etwas wie ‚Wahnsinn‘ zu tun haben. Der Schluss auf Wahnsinn wäre demnach nur bei einem weit größeren, eigentlich kaum vorstellbaren, Abstand zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ gerechtfertigt. So Wittgenstein. Frazer schließt bei seinen savages allerdings nicht auf Wahnsinn. Im Gegenteil: Er will diesen Schluss abwehren.²³⁰ Er lehnt auch Lévy-Bruhls Idee einer prälogischen Mentalität ab, allerdings ohne sie richtig zu verstehen.²³¹ Frazer meint doch, dass die irrtümlichen Hypothesen, die er den Primitiven zuschreibt, mit deren beschränkter Erfahrung übereinstimmen. Er will gerade nachweisen, dass sie, ohne unlogisch, unvernünftig oder verrückt zu sein, an die Wirksamkeit von Regenkönigen, Riten des Tagwerdens und derlei mehr glauben, d. h., dass sie zwar eine falsche Vorstellung der Naturvorgänge haben, aber keine wahnsinnige. Liest Wittgenstein den Golden Bough falsch? Vielleicht. Er meint jedoch nicht, dass Frazer unsere fundamentale „Verwandtschaft mit jenen Wilden“ (MS 110: 205; TS 211: 250) bestreitet, d. h., die entgegengesetzte These explizit vertritt, sondern, dass seine Form der Darstellung diese Verwandtschaft ausblendet. Die Art,wie Frazer jene Völker und ihre Magie „darstellt“, ist „Unsinn“ (MS 143: 3), also

 Der Golden Bough ist „a long chronicle of folly and crime“ (FGB 1922: 325), und Frazer ist weniger tolerant als Tylor, der die bei allen Menschen ähnlichen mentalen Prozesse stärker betont (siehe oben, S. 95, Anm. 78). Dennoch bleibt Frazer zeitlebens Tylors Vorstellung treu, primitive Glaubenssätze seien zwar irrtümlich, aber nicht unlogisch; „the civilised man“ – so die angeführte Lévy-Bruhl-Rezension – „oftener starts from true premises“, aber er „does not reason more logically than the savage“ (Frazer 1931e: 418). Dem Kapitel „Our Debt to the Savage“ zufolge darf der primitiven Philosophie „the merit of logical consistence“ nicht abgesprochen warden. „The flaw […] of the system lies not in its reasoning, but in its premises“ (FGB 1922: 263; FGB III 3: 420 f.). Der Primitive geht von falschen, abergläubischen, wenn auch scheinbar einleuchtenden Prämissen aus; er ist nicht unlogischer als der moderne Mensch. Die Prämissen unterscheiden sich, aber die Logik ist dieselbe. So Frazers wiederholt vorgetragene Auffassung. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sein Palimpsest diese Position kohärent durchhält, und ausschlaggebend ist, wie im Text gezeigt, die ‚Form der Darstellung‘, nicht die einzelne Aussage.  Lévy-Bruhl meint mit dem unglücklichen Ausdruck ‚prälogisch‘ eigentlich vielerlei, u. a. auch, dass die Primitiven keine mechanische, sondern nur ‚mystische‘ Kausalität kennen. In diesem letzteren Punkt stimmt er mit Frazer im Wesentlichen überein. (Die Unterschiede bleiben allerdings gravierend.) Lévy-Bruhl wird seine frühe Auffassung des Prälogischen zuletzt wesentlich revidieren (vgl. Tambiah 1990: 84 ff.). Im Kontext einer Analyse von Wittgensteins Frazer-Kritik geht auch P. de Lara (2005) immer wieder auf Lévy-Bruhl ein.

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nicht (einfach) empirisch falsch, und seine „B e s c h r e i b u n g “ hat etwas „abergläubisches oder magisches an sich“ (MS 110: 205; TS 211: 251): Uns eigentlich vertraute Anschauungen scheinen im Golden Bough extrem fremdartig, ja wahnsinnig. Dass Frazer gelegentlich beteuert, sie seien keineswegs absurd, ist demgegenüber Nebensache. Unlogisches Denken bzw. etwas wie logisch fremdes Denken kann man Menschen prinzipiell nicht zuschreiben.²³² Der späte Wittgenstein zieht diesen Schluss von großer philosophischer Tragweite. Die Frazer-Notate nehmen ihn vorweg. Gerade im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough zeigen sich jedoch die Grenzen des Arguments, das heißt, was es nicht leisten kann. Denn anhand der begrifflichen Unterscheidung zwischen falsch (zu einfach, unzutreffend usw.) und vollkommen falsch (wahnsinnig) lässt sich eines noch nicht konkret entscheiden: Welche Vorstellungen und Verhaltensweisen kann man Menschen prinzipiell zuschreiben und welche nicht? 1931 geht Wittgenstein offenbar davon aus, dass über die Wirkung von Heilungsverfahren oft unzutreffende Vorstellungen bestehen,²³³ nicht jedoch über Riten des Tagwerdens oder Regentänze: Über die Unwirksamkeit Letzterer – meint er offenbar 1931 – können sich Menschen nicht täuschen. Kommt dies aber wirklich nicht in Frage? Wittgenstein wird zuletzt einsehen, dass es nicht auszuschließen ist. Welche Rituale Menschen tatsächlich wirksam scheinen und inwiefern, lässt sich nicht vom Schreibtisch aus entscheiden. In konkreten Fällen kann man ohne ethnologische Untersuchungen keine Diagnose stellen. Rein begriffliche Argumente reichen hier nicht. Wittgenstein selbst urteilt in diesem Punkt, wie unten zu sehen, alles andere als kohärent. Eher als zwischen kulturellen „Weltbildern“ unterscheiden die Bemerkungen über den Golden Bough, auch die späteren, zwischen Magie und Naturerkenntnis, zwischen magischen Anschauungen und wissenschaftlichen Hypothesen: Es geht hier also nur um die Frage, ob, inwiefern und wie an die einen und an die anderen geglaubt wird. Wittgensteins letzte Reflexionen werden das Problem der Kommensurabilität unterschiedlicher „Weltbilder“ in viel eindringlicherer Weise aufwerfen.

 Zu diesem ‚logisch fremden Denken‘, zum Beispiel der (angeblichen) Holzhändler sowie zur ‚neuen Art von Verrücktheit‘ laut Freges Grundgesetzen der Arithmetik siehe unten S. 370 ff. Vgl. auch das Argument bei Quine 1976: 109.  Siehe dazu ausführlich unten § 2.1.2.3.3, S. 179 ff.

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2.1.2.3 „Es ist höchste Zeit, daß wir diese Erscheinungen mit etwas anderem vergleichen“. Zweckhandlungen und/oder Ausdruckshandlungen? 2.1.2.3.1 Einen Wunsch zur Darstellung bringen In der Ansicht, dass Magie durch und durch sprachlich verfasst ist, stimmt Malinowski mit Ogden und Richards überein: Ihm zufolge ist der Zauberspruch das magische Kernphänomen. Bereits 1929 versucht Evans-Pritchard, diese These zu relativieren: Der Zauberspruch spiele bei den von ihm beobachteten Azande eine weit weniger herausgehobene Rolle als bei Malinowskis Trobriandern.²³⁴ Gemäß dem eigenen methodischen Interesse setzt Wittgenstein einen ähnlichen Akzent wie Malinowski: „Und immer beruht die Magie auf der Idee des Symbolismus und der Sprache.“ (MS 110: 182; TS 211: 313)²³⁵ Dass dies „immer“ der Fall sein muss, versteht sich keineswegs von selbst. Wittgensteins Äußerung befremdet mit ihrem apodiktischen Allgemeinheitsanspruch. Worauf soll Magie dann „immer“ beruhen? Nicht einfach auf Zeichen und Sprache. Auch nicht auf einer Idee derselben, d. h. auf einer bestimmten Sprachund Zeichenauffassung (wie etwa Ogdens und Richards’ Glauben an die ‚Macht der Worte‘), sondern – und „immer“ – auf der „Idee des Symbolismus und der Sprache“. Was ist nun darunter zu verstehen? Vielleicht folgende „Idee“: Die Darstellung eines Wunsches ist eo ipso die Darstellung seiner Erfüllung. Die Magie aber bringt einen Wunsch zur Darstellung, sie äußert einen Wunsch. (MS 110: 183; TS 211: 316)²³⁶

Eine magische Handlung (etwa „[i]n effigie verbrennen“) äußert einen Wunsch, indem sie dessen Erfüllung darstellt.²³⁷ Was wie eine Definition von ‚Magie‘ klingt,

 Vgl. Evans-Pritchard 1929.  Zur Zentralität des sprachlichen Symbolismus siehe oben S. 90 ff.  Schon Rhees (1979: 48 ff.), der diese Aufzeichnung ausführlich bespricht, weist auf den Zusammenhang mit der Kritik der Kausaltheorie hin. Zu diesem Zusammenhang siehe oben S. 76 ff. – Wittgenstein scheint zuerst alle rituellen Handlungen, auch Frazers ‚magische‘, als religiöse zu deuten – und religiöse Zeremonien als „Zeichen der Pietät“ (MS 110: 196). Gibt es nun für ihn rituelle Handlungen, die zwar Zeichen sind, aber nicht der Pietät? Die im Text angeführte Bemerkung betont den Zeichencharakter der „Magie“, ohne die „Pietät“ zu erwähnen. Magie und Pietät schließen ja nicht nur bei Frazer tendenziell einander aus. Die Annahme, dass sich auf diese Weise auch bei Wittgenstein eine begriffliche Unterscheidung zwischen religiösen und magischen Handlungen andeutet, würde aber weit über den Wortlaut dieser Texte hinausgehen.  So auch Malinowski: „[I]n a formula the desired result is always expressed in anticipation“ (Malinowski 1984: 265; vgl. auch Malinowski 1990: 199). Auch ein in die spätere Rationalitätsdebatte involvierter Ethnologe, John Beattie, betont gegen Frazer, dass Magie einen Wunsch

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soll eigentlich eine grammatische Anmerkung sein: Sie stellt – wie beim ‚Kornwolf‘ – einen allgemeinen sprachlichen Vorgang fest. Dieselbe interne Relation kennzeichnet nämlich Sprache überhaupt: ‚p‘ erfüllt den Wunsch nach ‚p‘ bzw. die Erwartung, dass ‚p‘, oder führt den Befehl zu ‚p‘ aus. Das Kriterium der Erfüllung bzw. Ausführung ist hier grammatischer, logischer, nicht kausaler Natur.Wünsche (Erwartungen usw.) kann man sprachlich nicht anders äußern, d. h. hier, zur Darstellung bringen: Der Wunsch ist artikuliert und hat die Multiplizität des Satzes, der ihn ausdrückt. So ist die allgemeine Grammatik propositionaler Einstellungen – und symbolischer Handlungen überhaupt. Diese ist wohl die „Idee des Symbolismus und der Sprache“, auf der Magie Wittgenstein zufolge „immer“ (MS 110: 182) beruht. Das heißt: Magie teilt hier einen allgemeinen Zug der Sprache: Magie stellt die Erfüllung dar,weil der Wunsch sich nur so darstellen lässt, nicht unbedingt, um ihn zu erfüllen. Ersteres ist eine interne Relation: Die Darstellung der Erfüllung ist die Darstellung des Wunsches. Wunsch und Erfüllung haben denselben Ausdruck. Letzteres – die Darstellung als Mittel zur Erfüllung – wäre eine als solche kontingente externe Relation, eine Mittel-Zweck-Relation, die hier bestehen kann und dort nicht. Die zitierte Aufzeichnung erinnert an die Grammatik propositionaler Einstellungen, weil die Kausaltheorie der Bedeutung sie missachtet. In Wittgensteins Augen verwechselt auch Frazer eine interne Relation mit einer externen, kausalen. Er deutet die magische Handlung als Zweckhandlung: Der savage glaube, die Erfüllung darzustellen sei das Mittel, den Wunsch zu erfüllen. Frazer begeht hier selbst den Irrtum, den er dem savage zuschreibt: Er missversteht die für Sprache überhaupt charakteristische interne Relation zwischen Wunsch und Erfüllung als Mittel-Zweck-Relation. Wenn Magie einen Wunsch „äußert“, bringt sie eine propositional attitude „zur Darstellung“ (MS 110: 183); ähnlich verhält es sich, wenn eine Religion „Anschauungen zum Ausdruck bringt“ (MS 110: 178) oder wenn Wittgenstein selbst durch einen Satz „einer Empfindung Ausdruck“ gibt, „die nichts mit jenem Glauben zu tun hat […., die nicht notwendig mit diesem jenem Glauben verbunden ist.]“ (MS 110: 204 f.; TS 211: 320 f.).²³⁸ In allen diesen Fällen handelt es sich um sprachlich bzw. symbolisch artikulierten Ausdruck im Zusammenhang eines Zeichensystems. Wittgenstein geht Anfang der 30er Jahre noch schlicht davon aus, dass das Wort ‚Wunsch‘ normalsprachlich einfach eine propositionale Einstellung bezeichnet. (Erst später

symbolisch ausdrückt: „Magic is the acting out of a situation, the expression of a desire in symbolic terms“ (Beattie 1966: 206; vgl. Cook 1983: 5).  Siehe unten S. 171 ff.

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gibt er zu, dass dies nicht immer der Fall ist.²³⁹) Als propositionale Einstellungen sind Wünsche artikuliert. Russells Auffassung von ‚desire‘ übersieht diesen Punkt. Seine Theorie passt eigentlich nur zu ‚Amorphem‘: Sie wird etwa dem Hunger gerecht, aber nicht dem Wunsch. Der Hunger nämlich hängt – so Wittgenstein – mit dem, was ihn stillt, nur kausal zusammen; er wird durch alles gestillt, was physiologisch so wirkt. Was den Hunger stillt, ist insofern eine rein kausale Frage. Was den Wunsch befriedigt, jedoch nicht. Der Wunsch wird nur durch das befriedigt, wovon er der Wunsch ist, der Wunsch nach p also nur durch p, und die Frage, was den Wunsch nach p befriedigt, ist eine ‚grammatische‘ nach dem Sinn von ‚p‘. Die Kausaltheoretiker missverstehen auf die gleiche Weise auch die Bedeutung von ‚Bedeutung‘. Sie geben dem Wort eine sprachwidrige kausale Bedeutung und missachten die logische (‚grammatische‘), die einzige philosophisch relevante. Sie behandeln ein symbolisches System, als ob es ein kausaler Zusammenhang wäre. Die Diktate an Waismann, und eigentlich erst sie,²⁴⁰ interpretieren die Verwechslung auch als eine zwischen zwei Bedeutungen von ‚Ausdruck‘, „zwischen einem ‚artikulierten’ und einem ‚unartikulierten Ausdruck’“: Die Kausaltheorie blende den ersteren aus. Die Diktate formulieren den Unterschied auch anders: Die Kausaltheorie behandelt „Zeichen“, als ob sie lediglich „Anzeichen“ wären. Anders als Zeichen sind Anzeichen kausaltheoretisch erfassbar: Dies gilt in den Diktaten dementsprechend auch für die Erscheinungen, die Wittgenstein hier als ‚unartikulierten Ausdruck‘ bezeichnet. In den späten Reflexionen zur Philosophie der Psychologie dagegen scheint ihm die kausaltheoretische Interpretation von Ausdruck überhaupt inadäquat. Bleiben wir aber bei den Diktaten: Der artikulierte Ausdruck, das Zeichen, gehört nicht ausschließlich zur Wortsprache; auch in einer „Gebärdensprache“, z. B., wenn „das Tier (oder das Kind) […] auf den Gegenstand “, hat „der Ausdruck des Wunsches“ „die Multiplizität des Gewünschten“ (VW: 420). Ein unartikulierter Ausdruck – Wittgenstein nennt als Beispiele „ein Stöhnen“ (als  Es gibt auch bei ‚Wunsch‘ eine Familie von Verwendungen. Schon die Diktate an Waismann unterscheiden mehrere Bedeutungen von ‚Wunsch‘. Wittgenstein räumt hier ein, dass ‚Wunsch‘ nicht immer ausschließlich für eine propositionale Einstellung steht und dass es u. a. auch uneindeutige Fälle gibt, für die eine kausale Betrachtung nicht so abwegig ist (vgl. etwa VW: 412 ff.).  Anders als die Diktate formulieren die frühen Bemerkungen über den Golden Bough den Unterschied nicht als einen zwischen zwei Formen von ‚Ausdruck‘, und sie verwenden das Wort ‚Ausdruck‘ nicht ausschließlich für den ‚artikulierten‘. Dies hängt zum Teil mit der unterminologischen, unfertigen Natur dieser Notate zusammen, zum Teil damit, dass der Term ‚Ausdruck‘ hier selten gebraucht wird.

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„Ausdruck des Schmerzes“) und „ein heiteres Gesicht“ (als „Ausdruck der Zufriedenheit“) – ist wiederum ein „Anzeichen“: ein „Symptom“, das seine Ursache – etwas ‚Amorphes‘ – ‚verrät‘, ‚preisgibt‘: Wer aus Anzeichen auf den Wunsch schließt oder ihnen zu entnehmen sucht, ob er echt ist, stellt eine empirische „Hypothese“ über einen Kausalzusammenhang auf. Wittgenstein sieht jedoch ein, dass vielerlei Äußerungen, auch sprachliche, je nachdem als Zeichen und/oder als Anzeichen fungieren können. „So fassen wir auch oft die Worte, die ein Mensch spricht, als ein Anzeichen einer Gemütsbewegung auf.“ (VW: 88) Der „Tonfall“, z. B. der „Ausdruck, mit dem jemand einen Wunsch äußert, die Innigkeit, die er in den Ton legt“, der „Augenausdruck“, das „Mienenspiel“, können als „Anzeichen für die Intensität des Wunsches dienen“ (VW: 422). Aber der Tonfall kann Letztere auch „repräsentieren“: Gesetzt nämlich, dass es „für jede Skala der Intensität den entsprechenden Tonfall“ (VW: 422) gibt, dann ist dieser nicht bloßes „Anzeichen“, sondern „Zeichen“ der Intensität. Wie verhält es sich nun bei den Erscheinungen, mit denen Wittgenstein 1931 rituelle Handlungen vergleicht? Den Kuss auf das Porträt der Geliebten kann man als Zeichen (als symbolisch artikulierte Darstellung), aber auch als Anzeichen (als Symptom eines Gefühls) in den Blick nehmen. Handlungen, die einen Wunsch zur Darstellung bringen, sind oft zugleich „Instinkt-Handlungen“ (MS 110: 297 f.). Sie ‚äußern‘ etwas (eine propositionale Einstellung), und in ihnen ‚äußert sich‘ etwas (Gefühle, Empfindungen, Emotionen). Zu den „Instinkt-Handlungen“ (MS 110: 297 f.) zählt Wittgenstein etwa den Stockschlag auf die Erde oder an einen Baum, mit dem er selbst, wenn er über etwas wütend ist, seinen Zorn auslässt. Der Schlag ähnelt der ‚echten‘ Bestrafung eines Tieres oder eines Menschen, und diese „Ähnlichkeit des Aktes mit einem Akt der Züchtigung“ (MS 110: 298) macht den Schlag zu einer symbolischen Handlung: Man schlägt auf den Baum, als ob man ihn bestrafen wollte. Die Stellvertretung muss hier im Einzelnen nicht so eindeutig sein, wie die Beispiele des Porträts und des Eigennamens nahelegen. Beim Kuss steht das Porträt in der Regel für die porträtierte, geliebte Person. Der geschlagene Baum kann ebenfalls für ein bestimmtes Wesen stehen, muss es aber nicht; die Handlung bringt auch in diesem letzteren Fall einen Wunsch zur Darstellung. Der Schlag ist also offenbar nicht nur etwas wie ein Symptom, das seine psychologische Ursache (hier den Zorn) ‚verrät‘. Vergleicht Wittgenstein – könnte man daher fragen – rituelle Handlungen auch mit Handlungen, die Gefühle ‚auslassen‘, aber eine propositional attitude nicht zur Darstellung bringen? Also – in der Terminologie der späteren Diktate – auch mit unartikuliertem Ausdruck, mit Handlungen, die zwar Anzeichen, aber keine Zeichen sind? Auch eine „Instinkt-Handlung“ wie den Schlag muss man nicht unbedingt als reines Anzeichen interpretieren. Es trifft aber zu, dass Wittgenstein eigentlich zwei

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Analogien formuliert. Nun legt er als Kritiker der Kausaltheorie höchsten Wert darauf, zwischen Grammatischem/Logischem und Kausalem/Empirischem zu unterscheiden. Gelingt ihm dies auch in seiner Auseinandersetzung mit Frazer? Er markiert hier den Unterschied zwischen den zwei Bedeutungen von ‚Ausdruck‘ nicht, und zwar auch aus folgendem Grund: Die zwei Analogien haben eine gemeinsame Zielsetzung: Beide sollen zur philosophischen Grammatik ritueller Handlungen beitragen und im Grunde dasselbe zeigen: Wer einen Wunsch äußert oder einer Empfindung Ausdruck gibt, tut etwas anderes, als eine (abergläubische) Meinung zu vertreten. Die ‚grammatische‘ Analogie mit Artikuliertem (d. h. Sätzen) soll zeigen, wie rituelle Handlungen symbolisieren: Dass sie die Erfüllung symbolisch nachahmen, heißt erst einmal nur, dass sie den Wunsch zur Darstellung bringen, nicht, dass die Handelnden glauben müssen, ihn auf diesem Weg (‚magisch‘) erfüllen zu können. Die Analogie zu „Instinkt-Handlungen“ will eine nicht-intellektualistische Alternative zur instrumentellen Ätiologie bieten: Wittgenstein will damit zeigen, dass rituelle Handlungen nicht unbedingt aus intellektualistischen Gründen (aus Meinungen über ihre Wirksamkeit und Nützlichkeit) zustande kommen müssen; und auch dieser Vergleich ist eigentlich als Beitrag zur philosophischen Grammatik rituellen Handelns gedacht. Wittgenstein hält sich jedoch nicht immer daran, und die Analogie mit instinktivem Ausdruck ist vielfach irreführend. Problematisch wird sie vor allem, wenn sie als empirische Hypothese verstanden wird: als allgemeine kausale Erklärung rituellen Handelns durch das ‚Ausdrucksbedürfnis‘.²⁴¹ Die Frazer-Notate scheinen hin und wieder einer (anti-intellektualistischen) Psychologie das Wort zu reden. Trotzdem lässt sich Wittgensteins Position – wie im Folgenden zu sehen – von den damaligen Ansätzen abgrenzen.

 Drury zufolge soll Wittgenstein betont haben, dass jene Riten nicht durch irrtümliche beliefs hervorgebracht („produced“) wurden, sondern durch das Ausdrucksbedürfnis. Wittgenstein habe diesen Hinweis – erläutert Drury – nicht als kausale Erklärung gemeint, im Gegenteil, er habe damit kausale Erklärungen rituellen Handelns abblocken wollen. Phillips meint jedoch, zu Drurys Absicht, hier einen Schlusspunkt zu setzen, passe jene Formulierung nicht: Sie klinge allzu sehr nach kausaler Erklärung, zwar nicht nach einer intellektualistischen, aber immer noch nach einer psychologischen, die das entsprechende Benehmen auf ein Bedürfnis zurückführe – auf das Ausdrucksbedürfnis. Drury – so Phillips – suggeriere gegen seine eigene (und Wittgensteins) erklärte Intention eine Zweck-Mittel-Beziehung, als ob Riten „psychologically instrumental“ (Phillips 1993c: 94) wären, d. h. Mittel, ein Bedürfnis zu befriedigen, etwas zum Ausdruck zu bringen.

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2.1.2.3.2 Instinkt- und Ausdruckshandlungen Mit Tylor versteht Frazer Magie als Verwechslung von Symbolik und Wirksamkeit. Muss derjenige, der die Erfüllung symbolisch nachahmt, auch daran glauben, dass er sie dadurch tatsächlich herbeiführt? Frazer geht einfach davon aus: „On the principle that like produces like, many things are done by him and his friends in deliberate imitation of the result which he seeks to attain“ (FGB III 1: 85; FGB 1922: 17). An Frazer knüpfen (u. a.) Ogden und Richards an: Magie glaubt an die Macht der Symbole, sie kennt noch keinen Unterschied zwischen Ausdruck und Wirkung, zwischen symbolischem und kausalem Zusammenhang. In diesem Punkt pflichtet auch Freud Frazer bei, so weit entfernt die Psychoanalyse von dessen altmodischem, naivem Assoziationismus auch ist: Freud sieht im Grunde der Magie den primitiven und infantilen Glauben an die Allmacht der Gedanken, hier an die Allmacht des geäußerten Wunsches. Magie ist eine primitive Technik der Wunscherfüllung. Wiederum betont damals eine Reihe von Ritualtheorien die Ausdrucksfunktion, ohne den Akteuren die Verwechslung von symbolischem und kausalem Zusammenhang pauschal zuzuschreiben. Malinowski sieht die psychologische Grundlage der Magie in „affirmation and enactment of desired ends and results“ (Malinowski 1990: 199).²⁴² Bergson versteht Magie als Wunschäußerung: Man beginnt hier eine Handlung, die man nicht zu Ende führen kann.²⁴³ Aber anders als Freud unterstellt weder Malinowski noch Bergson dem primitiven Menschen einen Glauben an die Allmacht der Gedanken. Eigentlich sind expressives und instrumentelles Handeln im Alltag ständig verflochten, oft als jeweils mehr oder weniger ausgeprägte Aspekte derselben Handlung. Meint Wittgenstein 1931, dass die Akteure Symbolik und Wirksamkeit sauber auseinanderhalten?²⁴⁴ Diese Annahme mag im Einzelfall zutreffen, ist aber als allgemeine Regel eher unplausibel; sie geht, wie gesagt, aus der genannten symbolischen Grundlage der Magie nicht zwingend hervor.²⁴⁵ Trotzdem vergleicht

 Zu Malinowskis individualistischem Emotionalismus vgl. kritisch Douglas 1988: 80. Wie schon Lehmann betonen etwa auch Hubert und Mauss den Zusammenhang zwischen Magie und Wunsch (vgl. Hubert/Mauss 1902– 1903: 123).  Vgl. Bergson 1959: 1117. So auch Langer 1996: 158 f.  So lassen sich viele Äußerungen deuten, z. B. zu Regentänzen und Riten des Tagwerdens oder zu dem ‚Wilden‘, der, „anscheinend um seinen Feind zu töten, dessen Bild durchsticht“, zugleich aber „seinen Pfeil kunstgerecht und nicht in effigie“ „schnitzt“ (MS 110: 182; TS 211: 316).  Evans-Pritchard zufolge ist der Glaube an die Wirksamkeit symbolischer Rituale eine ethnologische Tatsache. Er stellt jedoch in Frage, dass wer an die Macht der Riten glaubt, von der kausalen Wirkung einer Assoziation ausgeht, d. h., Symbolik und Wirksamkeit vermengt: „[…] But here again the savage makes no such mistake. He believes that certain rites can produce

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Wittgenstein immer wieder ‚magische‘ Handlungen mit ‚reinen‘ Ausdruckshandlungen, mit solchen, die offensichtlich keine Zweckhandlungen sind. In effigie verbrennen. Das Bild der Geliebten küssen. Das basiert n a t ü r l i c h n i c h t auf einem Glauben an eine bestimmte Wirkung auf den Gegenstand den das Bild darstellt. Es bezweckt eine Befriedigung und erreicht sie auch. Oder vielmehr, es b e z w e c k t gar nichts; wir handeln eben so und fühlen uns danach befriedigt. Man könnte auch den Namen der Geliebten küssen, und hier wäre die Stellvertretung durch den Namen klar. (MS 110: 182; TS 211: 316)²⁴⁶

Porträt und Eigenname sind auf je eigene Weise symbolische Stellvertreter. Bezweckt aber die symbolische Handlung eine Wirkung auf den Vertretenen? Wittgenstein will zuerst nur zeigen, dass die Handelnden an diese ‚magische‘ Verbindung von Symbol und Gegenstand nicht glauben müssen. Er zieht zum Vergleich eine Reihe expressiver Handlungen heran, die „n a t ü r l i c h n i c h t auf einem Glauben“ (MS 110: 182; TS 211: 316) basieren bzw. „nicht notwendig mit diesem jenem Glauben verbunden“ (MS 110: 204 f.) sind. Reine Ausdruckshandlungen setzen keinen „Glauben an eine bestimmte Wirkung“ (MS 110: 182) voraus,

certain results and the mimetic or homoeopathic elements in the rite are the manner in which the purpose of the rite is expressed.“ (Evans-Pritchard 1933: 141) – J. Skorupski (1976: 141 ff.) unterscheidet causalist und identificationist account. Der kausale Ansatz fokussiere die Macht des Wortes über das Vertretene, die Identitätsthese die Macht über das (mit dem Vertretenen irgendwie identische) Symbol (Skorupski 1976: 143). Die „relation between words and things“ („conventional reference“) sei anders als die „relation between symbols and things“ („conventional identification: symbols are taken t o b e their objects“) (vgl. Skorupski 1976: 143). Symbolische Magie sei durch einen causalist account wie bei Ogden und Richards nicht zufriedenstellend zu erklären, dem zufolge Magie dem Wort eine aktive Wirkungsmacht zuschreibe: „symbolic magic is not reducible to a belief in the magical power of words“ (Skorupski 1976: 147). Symbolische Magie wirke vielmehr auf den (passiven) Stellvertreter, der mit dem Vertretenen irgendwie identisch sei. Wittgenstein legt sich anders als Ogden und Richards auf keine der beiden Auffassungen fest; in seinen Beispielen geht es manchmal um Kausalität, manchmal um Identität.  Schon Marett zieht verwandte Schlüsse aus ähnlichen Beispielen. Bei Wittgenstein küsst der Liebende das Foto der Geliebten. Bei Marett küsst er deren Handschuh oder wirft im Gegenteil, als verlassener Liebhaber, ihr Porträt ins Feuer. (Vgl. Marett 1914b: 40; vgl. dazu Stocking 1995: 167; Stocking 1996: xxii f. Zu Wittgenstein und Marett vgl. Cioffi 1998: 157, 173; vgl. auch Phillips 1993d, 2001: 183 ff.) Allerdings stellt Marett nicht einfach eine formale Analogie auf. Anders als Wittgenstein versteht er seine Auffassung als psychologische E r k l ä r u n g der Magie. Seine Theorie sei durch ethnologische Daten noch nicht zureichend belegt, entspreche jedoch – im Gegensatz zu Frazers veraltetem Intellektualismus und Assoziationismus – dem aktuellen psychologischen Forschungsstand. Dieses wissenschaftliche Selbstverständnis unterscheidet Marett deutlich von Wittgenstein. Zu Maretts Theorie siehe unten Anm. 249, zu Marett und der zeitgenössischen Psychologie Anm. 251 sowie oben S. 124, Anm. 147.

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weil sie per definitionem keine Zweckhandlungen sind. Das Porträt, das man einstmals küsste, möchte man später vielleicht „verbrennen“; und keine der beiden Handlungen setzt einen „Glauben an eine bestimmte Wirkung“ auf die abgebildete Person voraus. Von einem Glauben, auf den Symbolisierten tatsächlich einzuwirken, darf hier keine Rede sein. Aus dem nachträglichen Gefühl der Befriedigung darf man nicht auf eine Zweckhandlung schließen. Dies ist zwar – lässt sich nun gegen Wittgenstein einwenden – „n a t ü r l i c h“ der Fall, aber nur in diesem Kontext: Die Frage ist gerade, ob eine (scheinbar) ähnliche Handlungsweise in einem anderen Zusammenhang wirklich eine rein expressive bleibt; denn etwas wie „In effigie verbrennen“ kommt in den verschiedenartigsten Zusammenhängen vor. Frazer lässt den Kontext des jeweiligen Ritus systematisch unbeachtet; aber auch Wittgenstein, der im Juni-Juli 1931 über den Sprachspielbegriff noch nicht verfügt, sieht hier davon ab, dass der Kontext aus zwei oberflächlich ähnlichen Handlungsweisen völlig unterschiedliche machen kann. Inwieweit glaubt der Handelnde an eine ‚magische‘, substanzielle oder kausale Verbindung zwischen Symbol und Gegenstand? Wie kann man diese Frage beantworten, wenn man vom Kontext abstrahiert? Zugunsten Wittgensteins kann man wiederum geltend machen: Er will zuerst nur zeigen, dass Sätze „einer Empfindung Ausdruck geben“ können, „die nicht notwendig mit einem Glauben verbunden ist“. Bedeutung haben sie auch ohne einen, selbst wenn sie ihrer ‚Oberflächengrammatik‘ nach Behauptungen sind: […] Wenn ich, der ich nicht glaube daß es irgendwo menschlich-übermenschliche Wesen gibt die man Götter nennen kann – wenn ich sage: „ich fürchte die Rache der Götter“ so zeigt das daß ich damit etwas meinen (kann) oder einer Empfindung Ausdruck geben kann, die nichts mit jenem Glauben zu tun hat […., die nicht notwendig mit diesem jenem Glauben verbunden ist.] (MS 110: 204 f.; TS 211: 320 f.)²⁴⁷

Denselben Schluss legen auch fast unwillkürliche, gleichsam automatische Reaktionen nahe. „Wenn ein Mensch in unserer (oder |doch| meiner) Gesellschaft zu viel lacht, so presse ich |halb| unwillkürlich die Lippen zusammen, als glaubte ich  In den anderen in diesem Abschnitt besprochenen Stellen geht es (nur) um den ‚magischen‘ Glauben an die Wirksamkeit bestimmter Worte und Rituale, hier wiederum um den ‚religiösen‘ Glauben an „Götter“. Wittgenstein behauptet nicht, dass an diese nicht geglaubt wird; er will nur darauf hinweisen, dass man von ihnen sprechen k a n n , ohne an sie zu glauben: Aus dem Gebrauch des Ausdrucks ist nicht voreilig auf einen Glauben zu schließen. (Zu TS 219: 6, wo Wittgenstein diese Tendenz bei Gottfried Keller bemerkt, vgl. Brusotti 2007a: 206 f.) – Zu den Ausdruckshandlungen, die keinen Glauben beinhalten, gehört auch die oben, S. 151 f., angeführte Zeremonie, in der die Adoptivmutter das Kind „durch ihre Kleider zieht“ (MS 110: 183; TS 211: 317); vgl. auch das Beispiel der Enthaarung in MS 143: 27 f.; vgl. ebenfalls Drurys Beispiele in Drury 1973: x, und siehe oben S. 128 ff.

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ihn die seinen dadurch zusammen halten zu können.“ (MS 143: 2)²⁴⁸ Das Zusammenpressen ist hier nur ein erster, halb unwillkürlicher Ansatz zu einem instrumentellen Akt, ein Ansatz, der bei Wittgenstein jedoch keinen bewussten Glauben an dessen Wirksamkeit enthält. Zum Vergleich zieht er hier eine seiner eigenen Reaktionen heran, erneut eine halb unwillkürliche, aber zugleich individuelle, persönliche; und er will auf diesem Weg bestreiten, dass Frazers savages an jene Wirksamkeit glauben (müssen). Wittgenstein scheint insofern einfach davon auszugehen, dass sie in ähnlicher Lage sind wie er. Eine Reihe von Autoren hatten aus ähnlichen Beispielen ganz andere Schlüsse gezogen. Für sie stellt ein moderner westlicher Erwachsener wie Wittgenstein einen Sonderfall dar. Jene Ausdruckshandlungen scheinen ihnen nur Vorformen, aus denen (erst) durch nachträgliche Rationalisierung (magische) Zweckhandlungen werden können. Spontane, oft reflexartige Handlungen, die in dieser Originalform einfach psychische Spannung entladen, Handlungsweisen, die unabhängig von jeder magischen Absicht entstehen, werden im Nachhinein als (‚magisch‘) wirksam aufgefasst. Sie bilden laut Marett eine rudimentary magic, aus der allmählich eine developed magic hervorgeht.²⁴⁹ Im Anschluss an ihn und an Preuss unterscheidet etwa Alfred Vierkandt drei Handlungstypen: „Analogiehandlungen“ bilden demnach eine Zwischenstufe zwischen „Ausdrucksbewegungen“ und reflektiertem Handeln.²⁵⁰ „Schein- und Analogie-Handlungen“ zieht auch Rudolf Otto zum Vergleich heran: Der „Kegelschieber“ begleitet die geworfene Kugel mit allerlei Gesten und Bewegungen, als ob er deren Lauf noch beeinflussen könnte. Gewiss, der „Regenmacher“ ist anders als der „Kegelschieber“ (Otto 1963: 137), und der Zauber unterscheidet sich von  Wittgenstein bezieht sich auf Frazers Beschreibung des Mikado (FGB 1922: 168 f.; vgl. FGB III 3: 2 ff.). Vgl. die Anmerkungen in PO: 140 f., sowie Clack 1999: 133.  Gegen Frazers intellektualistische Auffassung, Magie sei „merely an affair of misapplied ideas“, will Marett von deren „emotional side“ ausgehen: In leidenschaftlichen Zuständen entstehe ein Drang zum Handeln, der sich auf einen Stellvertreter entlade: Diese „blind acquiescence in a substituted object amounts, psychologically, to a rudimentary magic“ (Marett 1914b: 29). Aus der rudimentary magic entsteht allmählich eine developed magic, aus dem Drang zum Handeln und aus dem „need for emotional relief“ ein „will to believe“ im Sinne von William James: „the operator is more or less aware that he is dealing with a symbol, yet, in his need for emotional relief, makes himself believe that the desired effect […] is projectively transmitted to the real object“ (Marett 1914b: 29): „it does him good to believe he is doing it“ (Marett 1914b: 44). Magie ist ein „act of imperative willing“ (Marett 1914b: 49). Marett schließt bereits bei der „rudimentären Magie“ etwas wie einen „Glauben“ (belief), wenn auch keinen gewöhnlichen, und einen Zweck nicht aus. Im Gegenteil. Er redet von etwas wie einem „act of primitive credulity“ (Marett 1914b: 41). Zu den Grenzen von Maretts Ansatz, der sich zwischen Individualpsychologie und ‚mob psychology‘ bewegt, siehe oben S. 123 f.  Zu Vierkandt vgl. unten S. 187 ff. Zu dieser Unterscheidung vgl. Beth 1914: 55.

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„naive[n] Analogiehandlung[en]“, aber nicht durch einen „Glauben“, sondern durch „das eigentümliche Gefühlsmoment des ‚Unheimlichen’“ (Otto 1963: 138). Otto, der hier über einen individualpsychologischen Ansatz nicht hinausgeht, vertritt eine anti-intellektualistische, ‚emotionalistische‘ Theorie. Beispiele wie die genannten wurden seit Jahrzehnten gegen Tylors und Frazers intellektualistische Auffassung angeführt. Dabei kann Wittgenstein an psychologische Untersuchungen ebenso gut angeknüpft haben wie an ethnologische; denn beide Forschungsrichtungen standen in regem wechselseitigem Austausch. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er etwa William McDougalls Theorien zur Kenntnis genommen hat.²⁵¹ Als Beispiel diene hier allerdings ein noch heute bekannter und bedeutender Psychologe, den Wittgenstein damals höchstwahrscheinlich nicht kannte. In den zwanziger Jahren sucht Jean Piaget Antworten auf Fragen, die, wie er meint, Frazer und Freud offen gelassen haben. Freud hatte kritisch bemerkt, „daß die Assoziationstheorie der Magie bloß die Wege aufklärt, welche die Magie geht, aber nicht deren eigentliches Wesen, nämlich nicht das Mißverständnis, welches sie psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher setzen heißt“ (Freud 1982c: 372). Der Schweizer Psychologe pflichtet diesem Einwand bei: Frazers Auffassung, Magie sei die kausale Deutung mentaler Ähnlichkeits- und Berührungsassoziationen, erkläre zwar die Gestalt, die Magie annehme, nicht aber, wie es zu einem Glauben an ihre Wirksamkeit komme. Um diese Erklärungslücke zu füllen, habe Freud die Magie auf den infantilen Narzissmus (auf den Glauben an die ‚Allmacht der Gedanken‘) zurückgeführt, diesen Zusammenhang jedoch nicht befriedigend erklärt.²⁵² Piagets Auffassung der ‚kindlichen Magie‘, von der jene ‚spontanen magischen Einstellungen‘ Überreste beim (modernen westlichen) Erwachsenen zeigen, soll hier einspringen und erklären, warum der Glaube an die Wirksamkeit der Magie in prämodernen Gesellschaften so universell verbreitet ist. Piaget will

 McDougall ist damals eine allgemeine Referenz. In einem Brief an Frazer vom 13. Mai 1911 beruft sich Marett u. a. auf ihn: Er erklärt sich mit McDougall (und Lévy-Bruhl) einig, sofern sie alle „the mobbish character of primitive religion and primitive life“ (Frazer 2005: 310) betonen. Wittgenstein dürfte über diese kollektivpsychologische Richtung einigermaßen im Bilde gewesen sein und könnte auch McDougalls reifere Ausführungen etwa über The Group Mind (1920) zur Kenntnis genommen haben. McDougall hatte als Assistent von Rivers an der von Haddon geleiteten Cambridger Expedition zur Torres-Straße (1898 – 1899) teilgenommen (vgl. McDougall 1912). Zu den involvierten Psychologen gehörte auch Charles Samuel Myers, der dann u. a. A Study of Rhythm in Primitive Music (1905) verfasste. In Myers’ psychologischem Labor wird Wittgenstein während seiner Studienzeit in Cambridge Experimente zum „Phänomen der subjektiven Akzentuierung“ durchführen. Vgl. McGuinness 1992: 207– 212; Alber 2000: 174 f. Zu Myers’ möglichem Einfluss auf Wittgenstein vgl. Rothhaupt 2011: 149 ff.  Zu den Schwierigkeiten von Frazers und von Freuds Auffassung vgl. Piaget 1926: 138 f.

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zuerst plausibel machen, warum Kinder von jener Wirksamkeit ausgehen: Es liegt an ihrem ‚Realismus‘, der zwischen Subjekt und Außenwelt keine Grenze kennt. Die geschilderten ‚Verwirrungen aus Nachahmung‘ (vgl. Piaget 1926: 151) sind Übergangserscheinungen. Auch in derlei Fällen ‚nachahmender Sympathie‘ verschwimmt jene Grenze: Wie das Kind möchte noch der Erwachsene auf die Außenwelt wirken, indem er auf den eigenen Körper wirkt (vgl. Piaget 1926: 149 – 154). Bei (modernen westlichen) Erwachsenen wird der instinktive Glaube an die Wirksamkeit dieser Handlungen sofort gehemmt (vgl. Piaget 1926: 151); sie durchschauen die Täuschung leicht und schalten sie gleich aus. Nicht so Kinder und – Piaget zufolge – Angehörige prämoderner Gesellschaften. Piaget meint zwar nicht, dass die Denkvorgänge bei erwachsenen ‚Primitiven‘ denen von Kindern analog sind, ist aber tatsächlich davon überzeugt, auf dieser unzulänglichen individualpsychologischen Grundlage plausibel machen zu können, warum prämoderne Erwachsene an derlei Wirkungen glauben. Wittgenstein wiederum zieht aus dem Vergleich mit den eigenen halb unwillkürlichen Reaktionen den entgegengesetzten Schluss, man dürfe den Handelnden, auch den ‚primitiven‘, nicht voreilig einen Glauben unterstellen. Dass man auf den eigenen Körper einwirkt, um einen fremden zu beeinflussen, entspricht zwar der instrumentellen Auffassung eines magischen Verfahrens. Aber die halb unwillkürliche Reaktion kommt nicht über den Ansatz einer Handlung hinaus. Und Wittgenstein möchte anders als Piaget die Selbstbeobachtung verallgemeinern. Er belässt es daher bei der Feststellung, dass halb unwillkürliche Reaktionen keinen bewussten Glauben an ihre Wirkung enthalten. Auch im folgenden Fall, der an die bekannte Feuerhaken-Anekdote erinnert, sieht es nur so aus, als ob der Handelnde, hier noch einmal Wittgenstein selbst, an die Wirkung glauben würde, und so oder ähnlich verhält es sich dem Philosophen zufolge bei allen Riten. Wenn ich über etwas wütend bin so schlage ich manchmal mit meinem Stock auf die Erde oder an einen Baum etc. aber ich g l a u b e doch nicht daß die Erde schuld ist oder das Schlagen etwas helfen kann. „Ich lasse meinen Zorn aus“. Und dieser Art sind alle Riten. Solche Handlungen kann man Instinkt-Handlungen nennen. – Und eine historische Erklärung etwa daß ich früher oder meine Vorfahren früher geglaubt haben das Schlagen der Erde helfe etwas sind Spiegelfechtereien denn sie sind überflüssige Annahmen, die n i c h t s erklären. Wichtig ist die Ähnlichkeit des Aktes mit einem Akt der Züchtigung aber mehr als diese Ähnlichkeit ist nicht zu konstatieren. (MS 110: 297 f.)

Wittgenstein kritisiert hier einen noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verbreiteten Erklärungsstil: Eine „historische Erklärung“ à la Frazer würde zugeben, dass im beobachteten Fall die Akteure an die Wirksamkeit ihrer Ausdruckshandlungen nicht glauben; sie würde aber daran festhalten, dass

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„früher“ jemand an sie geglaubt haben muss: wenn nicht die Handelnden selbst (etwa in ihrer Kindheit), dann zumindest, und wahrscheinlicher, ihre „Vorfahren“. Dieser evolutionistische und intellektualistische Ansatz besteht also darauf, dass derlei Handlungen durch einen „Glauben“ zu erklären sind, wenn auch nicht unbedingt durch den Glauben der Handelnden selbst. Wittgenstein weist hier diese Spekulationen über persönliche oder historische Vergangenheit zurück: als „überflüssige Annahmen die n i c h t s erklären“, als intellektualistische „Spiegelfechtereien“ (MS 110: 298). Die Möglichkeit, instinktive Reaktionen zu erklären, ist damit zwar nicht ausgeschlossen; aber, selbst wenn der Ethnopsychologe (oder wer auch immer) sich auf spekulative Erklärungen aus einem früheren Glauben nicht einlässt, „bewegt sich“ „eine Betrachtung/weitere Forschung/ über die Geschichte meines Instinkts […] auf andern Bahnen.“ (MS 110: 298) Sie sagt nichts über die aktuelle Bedeutung der Handlungsweise aus. Was setzt Wittgenstein jenen „Spiegelfechtereien“ entgegen? Die Grundthese ist hier, dass „alle Riten“ „Instinkt-Handlungen“ (MS 110: 297 f.) sind: Sie gehören zu einer „Art“ Handlungen, bei denen die Akteure sich abreagieren, eine Spannung entladen, etwa indem sie ihren Zorn auf einen Stellvertreter ‚auslassen‘. Stimmt es aber wirklich, dass „alle Riten“ mit derlei instinktiven Gefühlsausbrüchen verwandt, ja wesensgleich sind? Fragwürdig sind dabei (1) der theorieähnliche Ansatz, (2) der Zuschnitt der Theorie und schließlich (3) ihr Inhalt. Erst kurz nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer fokussiert Wittgenstein auf ‚Familienbegriffe‘ und lernt, Vergleichsobjekte richtig aufzufassen und einzusetzen.²⁵³ Im Juni-Juli 1931 dagegen wagt er noch (1) eine Verallgemeinerung auf „alle Riten“ und vertritt (2) die These, dass sie Handlungen einer bestimmten Art sind, und nicht nur, dass sie mit Handlungen einer bestimmten Art verglichen werden können.²⁵⁴ Zu (1): Damals besitzt Wittgenstein den Begriff der ‚Familienähnlichkeit‘ noch nicht. Aber ‚Ritus‘ ist eben ein ‚odd job word‘: Riten bilden eine Familie, es ist alles

 Siehe dazu unten S. 264 ff.  F. Cioffi (1998: 156) kritisiert Wittgensteins Ansicht, „alle Riten“ seien wie Instinkt-Handlungen, als nicht wittgensteinianisch. Auf ähnliche Weise sieht P. M. S. Hacker in einem schon besprochenen Satz eine dogmatische Behauptung: „Und immer beruht die Magie auf der Idee des Symbolismus und der Sprache.“ (MS 110: 182; TS 211: 313; vgl. dazu Hacker 1992: 284.) Im ‚nicht wittgensteinianischen‘ Dogmatismus beider Äußerungen zeigt sich, dass der Philosoph zu dieser Zeit den Gedanken der Familienähnlichkeit noch nicht hat. – Die Vorlesung vom May Term 1933, in der dieser Gedanke wiederum eine prominente Rolle spielt, vertritt eine gemäßigtere Position. Siehe dazu unten S. 284 ff.

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andere als ausgemacht, dass etwas für „alle Riten“ gilt, d. h., dass es notwendige und hinreichende Bedingungen des Rituellen gibt. Zu (2): Ausdruckshandlungen und Instinkthandlungen können zum Vergleich herangezogen werden, die Analogie mag immer wieder erhellend sein. Aber rituelle Handlungen dürfen mit ihnen nur verglichen, nicht gleichgesetzt werden. Objekt und ‚Vergleichsobjekt‘ dürfen miteinander nicht vermengt werden. Während die Verwendung eines Vergleichsobjekts bzw. eines Zwischenglieds, d. h. eine teilweise Analogie, berechtigt sein kann, wäre die Gleichsetzung ritueller mit Instinkthandlungen eine empirische Theorie. Sie wäre – so Einwand (3) – aus mehreren Gründen inadäquat. Auf die höchst spekulative kausale Untersuchung, ob die „Ähnlichkeit“ etwa des Schlags gegen einem Baum mit einem „Akt der Züchtigung“ auf eine Entwicklungsgeschichte deutet, will sich Wittgenstein nicht einlassen: Die Konstatierung der „Ähnlichkeit“ bestimmter „Instinkt-Handlungen“ (MS 110: 297 f.) mit anderen darf nicht – er insistiert darauf – als Mittel zu einer genealogischen Rekonstruktion missbraucht werden. In einer Aufzeichnung von 1933 heißt es allerdings, dass die ersten Opferhandlungen wahrscheinlich „halb unbewusst“ geschahen und quasi „Reflexbewegungen, wie eine Geste“ (TS 219: 23) waren. ²⁵⁵ Sie bildeten demnach gleichsam eine instinktive Gebärdensprache. 1931 wiederum sieht der Philosoph in den „alten Riten“ „den Gebrauch einer äußerst ausgebildeten Gebärdensprache“ (MS 110: 256; meine Hervorhebung; vgl. TS 211: 281). Wittgenstein schwankt – auch 1931 – und denkt Riten bald nach der Analogie instinktiver Äußerungen, bald nach der ausgebildeter Ausdrucksformen. Dabei liebäugelt er selbst hin und wieder mit entwicklungsgeschichtlichen Erklärungen, wie er sie in der Regel strikt zurückweist. In mehr als einem Punkt scheint er also mit sich selbst nicht ganz einig. Obwohl es ihm zufolge auf Ursachen partout nicht ankommen sollte, nicht nur auf die ‚historischen‘, sondern auch auf die aktuellen, psychologischen nicht, ist er in der hier zu erläuternden Aufzeichnung versucht, sehr allgemeine psychologische Schlüsse über rituelle Handlungen als „Instinkt-Handlungen“ zu ziehen. Den rituellen Handlungen wird er damit nicht gerecht. Expressive Reaktionen – primitiv oder nicht – sind noch keine Zeremonien. Sie müssen erst ritualisiert, institutionalisiert, kodiert werden. Riten werden nicht immer in emotional geladenem Zustand vollzogen. Die expressive Handlung wird auch „à tête

 Wittgenstein scheint hier Geste und Reflexbewegung gleichzusetzen, obwohl er sie in seiner Kritik der Kausaltheorie der Bedeutung streng unterschieden hatte. Zu dieser späteren Bemerkung siehe unten S. 360.

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reposée“ (Bergson 1959: 1119) wiederholt. Sie wird oft zur Routine. Zwar hat jeder Ritus seine eigene Färbung und Atmosphäre (Wittgenstein bemerkt den unterkühlten Charakter vieler Zeremonien); aber die Gefühle unterscheiden sich bei jedem einzelnen Teilnehmer und variieren je nachdem auch bei derselben Person. Die Analogie mit expressiven Reaktionen lässt den liturgischen Aspekt unterbelichtet: den formalen, konventionellen, fest geregelten und unveränderlichen Charakter vieler Riten.²⁵⁶ Wittgenstein wird dies in seiner Sprachspielauffassung beherzigen. Sprachspiele sind ein weiterer Ausbau ‚primitiver‘, d. h. instinktiver Reaktionen: Letztere geben höchstens Vorformen her, auf die ein symbolisches System dann aufbaut. Die Sprachspiele haben daher in ‚primitiven Reaktionen‘ lediglich ihre Grundlage, fallen mit ihnen jedoch nicht unmittelbar zusammen.²⁵⁷ Laut der Aufzeichnung von 1931 dagegen sind die Riten selbst Instinkthandlungen. Ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, vollbringt Phillips eine Synthese zwischen dieser späteren Auffassung, der zufolge Sprachspielen ‚primitive Reaktionen‘ zugrunde liegen, und Wittgensteins frühen Betrachtungen über das zeremonielle Tier, dessen Riten Instinkthandlungen sind. Phillips’ gravierende nicht nur terminologische, sondern auch begriffliche Hauptentscheidung ist, dass er als ‚religiös‘ nicht erst bestimmte Sprachspiele qualifiziert, sondern bereits die zugrunde liegenden Reaktionen. Auch weil Wittgensteins Ausdrucksweise heute unerwünschte Assoziationen an ein obsoletes Bild des ‚Primitiven‘ aufruft, redet Phillips lieber von ‚natürlichen Reaktionen‘. ‚Religiöse Sprachspiele‘ bauen ihm zufolge auf ‚religiösen Reaktionen‘ (religious responses) auf, und diese zählen zu den ‚natürlichen Reaktionen‘ (natural reactions).²⁵⁸ ‚Religiöse Reaktionen‘ – so Phillips’ Argument – sind allgemein zugänglich: Wenn man sie als erklärungsbedürftig ansieht, gerät ihre Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit, aus dem Blick.²⁵⁹ Es sind Zweifel angebracht, ob Phillips’ ‚natürliche Reaktionen‘, die im

 Rituelle Prozeduren sind „routine, standardised, and obligatory“ (Evans-Pritchard 1965: 44). Vgl. auch A. R. Radcliffe-Brown bei Tambiah 2002: 220.  Schon vor und dann nicht lange nach seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough denkt Wittgenstein über die elementare „Sicherheit“ nach, „[d]ass mich das Feuer brennen wird, wenn ich die Hand hineinstecke“ (MS 111: 121; vgl. MS 107: 254). Den Ausdruck ‚Reaktion‘ verwendet Wittgenstein in seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer jedoch nicht, auch nicht für das, was wir so nennen würden. Dazu und zur Grundlage der Sprachspiele in ‚primitiven Reaktionen‘ siehe unten S. 385 ff.  Von ‚primitiven Reaktionen‘ spricht Wittgenstein erst lange nach seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer und von ‚natürlichen Reaktionen‘ nie. ‚Natural reactions‘ kommen nur in der Sekundärliteratur vor, insbesondere bei Phillips.  Vgl. Phillips 1993c: 93, vgl. auch Phillips 2001: 166 f. Evans-Pritchard, auf den Phillips sich beruft, wendet das Argument selektiv an: Nur Religion gilt ihm als nicht ‚erklärungsbedürftig‘.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Grunde ‚Antworten‘ (responses) sind, wirklich Wittgensteins ‚primitiven Reaktionen‘ entsprechen. Das Modell für Phillips’ ‚religiöse Reaktionen‘ geben eher die rituellen „Instinkt-Handlungen“ von 1931. Hat sein Argument nun die Tragweite, die er ihm zuschreibt? Wittgenstein mag 1931 tatsächlich etwas Ähnliches gedacht haben: Die Instinkthandlungen, als die er rituelle Handlungen betrachtet, sind ‚natürlich‘, d. h. spontan und selbstverständlich.²⁶⁰ Auch wenn bereits seine Auseinandersetzung mit Spengler zu anderen Ergebnissen gelangt ist, scheint er damals davon auszugehen, dass diese Handlungen über Kulturgrenzen hinaus ‚natürlich‘ sind. Mehr als um eine These handelt es sich um etwas wie eine implizite Voraussetzung: Das Problem, inwieweit eine rituelle Handlung nur im Rahmen einer bestimmten Kultur ‚natürlich‘ ist, steht in seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer nicht auf der Agenda. Es stellt sich erst in der späteren Sprachspielauffassung. Auch Phillips’ ‚natürliche‘, ‚religiöse Reaktionen‘ sind, obwohl von Wittgensteins Ausführungen von 1931 inspiriert, kulturell variabel. Sie bedürfen dann aber – ähnlich wie die Handlungen eines Sprachspiels – nur im Rahmen der jeweiligen Kultur keiner Erläuterung (wenn diese Kultur einheitlich genug ist). Dementsprechend sind Zweifel angebracht, was Phillips’ Argument tatsächlich leistet. Der externe Beobachter, der ein Sprachspiel beschreibt, darf nicht davon absehen, dass bestimmte, ja die meisten Handlungen für die Teilnehmenden ‚selbstverständlich‘ sind. Wenn er dem nicht Rechnung trägt, missversteht er das Sprachspiel. Aber damit ist nichts dagegen gesagt, dass Außenstehende eine Erläuterung benötigen.²⁶¹ Nur Insider brauchen sie in der Regel nicht.

2.1.2.3.3 Volksmedizinische Heilungen: Ausdruckshandlungen und Zweckhandlungen zugleich? Nicht nur in der Frage, wie rituelle Handlungen sich zu Instinkthandlungen verhalten, ist ein gewisses Schwanken zu bemerken; und diese Unstimmigkeiten

Aber als Gegenstand ethnologischer Studien – bemerkt kritisch J. W. Cook (1983: 36) – unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der Magie.  Auch P. de Lara (2005: 116) vergleicht Wittgensteins Einstellung mit Positionen, denen zufolge die religiöse Natur des Menschen einer Religionspsychologie oder -physiologie unzugänglich bleibt (Mircea Eliade, Rudolf Otto; die Religionsphänomenologie könnte man ebenfalls heranziehen).  Die Frage nach Sinn und Zweck einer kausalen Erklärung ist davon unabhängig, ob und für wen die Handlungen ‚erläuterungsbedürftig‘ sind, nach einer ‚Zeichenerklärung‘ verlangen. Zu Wittgensteins Kritik von Frazers Vorhaben einer Kausalerklärung siehe unten S. 223 ff., 230 ff., zum Unterschied zwischen Kausal- und Zeichenerklärung S. 7 f., 41 f.

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lassen sich nicht einfach durch Wittgensteins eher unterminologischen Sprachgebrauch (z. B. bei „Meinung“) wegerklären.²⁶² Zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt etwa seine Analyse volksmedizinischer Heilungsverfahren. Bei Naturerscheinungen wie Sonnenaufgang und Regenperiode nimmt er (im letzteren Fall nicht ganz korrekt) an, dass das Gewünschte sich sowieso einstellt und dass die Handelnden es doch wissen müssen. Beim Umgang mit Missbefinden steht es jedoch offensichtlich anders: Hier herrscht auch in modernen Gesellschaften immer wieder extreme Unsicherheit. Schon Hubert und Mauss zeichnen deshalb gerade dieses Gebiet als eines aus, in dem Symbolisches und Technisches unausweichlich ineinanderrinnen.²⁶³ Wiederum sucht Wittgenstein – und zwar ohne Berücksichtigung der ethnologischen Tatsachen – überall nach einer von Magie (und Religion) gelösten Heilkunst; er möchte also nach westlichem Vorbild Therapien und Rituale, technisch-medizinische und ‚magisch-religiöse‘ Verfahren auseinanderhalten. Diese Grundtendenz lässt sich allerdings nicht problemlos durchführen. Bei Frazer kennzeichnet – ja: definiert – der Ursprung aus falschen Vorstellungen magische Operationen. Wittgenstein kritisiert dessen Ansicht, Magie sei „im wesentlichen“ etwa „falsche Medizin/Heilkunst/“ (MS 110: 199; TS 211: 320). Wörtlich genommen könnte dies einfach heißen, dass Magie zwar nicht „im wesentlichen“, aber doch kontingent und nur unter bestimmten Aspekten einer (falschen?) Heilkunst ähnelt. Läuft es bei Wittgenstein aber – und dies ähnlich aprioristisch wie bei Frazer – nicht vielmehr auf eine strikte Trennung zwischen „Magie“ und „Naturerkenntnis“ (MS 143: 3) und damit auch zwischen magischen und (fehlgeleiteten) technischen, hier heilkünstlerischen, Operationen hinaus? Zeigen die Betrachtungen von 1931 überhaupt eine klare Linie? In MS 110 redet Wittgenstein zunächst unumwunden von „der magischen Heilung einer Krankheit“,von „einer magischen Kur“, anschließend aber nimmt er davon Abstand: Heilungen zählen doch nicht selbstverständlich zu den „magischen Operationen“. Bei der magischen Heilung einer Krankheit bedeutet man ihr sie möge den Patienten verlassen. Man möchte nach der Beschreibung so einer magischen Kur immer sagen: Wenn d a s die Krankheit nicht versteht, so weiß ich nicht, w i e man es ihr sagen soll.

 Zur „Meinung“ siehe oben S. 140 f.  Vgl. Hubert/Mauss 1902– 1903: 14 f. Zeitlich näher zu Wittgenstein zeigt Ludwik Fleck (1999) am Beispiel der Wassermann-Reaktion, dass in der westlichen Medizingeschichte ethisch-religiöse und empirische Vorstellungen unauflösbar zusammenwirken, damit eine wissenschaftliche ‚Tatsache‘ zustandekommt. – Zum Forschungsstand vgl. etwa Greifeld 32003.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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Von den magischen Operationen sind die zu unterscheiden die auf einer falschen, zu einfachen, Vorstellung der Dinge und Vorgänge beruhen. Wenn man etwa sagt die Krankheit ziehe von einem Teil des Körpers in den andern oder Vorkehrungen trifft die Krankheit abzuleiten als wäre sie eine Flüssigkeit oder ein Wärmezustand. Man macht sich dann also ein falsches das heißt hier unzutreffendes Bild. (MS 110: 183 f.; TS 211: 317)²⁶⁴

Sind also die „Operationen“, die auf einer falschen Vorstellung der Vorgänge beruhen, z. B. auf einem unzutreffenden Bild vom Kranksein, von den „magischen“ zu unterscheiden? Frazer setzt sie gleich: Magische Operationen entspringen falschen Vorstellungen. Dabei entgeht ihm nicht zuletzt der Unterschied zwischen Magie und falscher Empirie: Dass nicht alle falschen Techniken ipso facto schon magische sind, ist eine Schwierigkeit, der noch Malinowski nicht gewachsen sein wird.²⁶⁵ Eine Unterscheidung zwischen falschen und „magischen Operationen“ ist insofern nicht überflüssig. Wittgenstein meint aber nicht etwa, dass Heilungsverfahren, die falsche Vorstellungen enthalten, doch zu den „magischen Operationen“ zählen, wenn bestimmte Sondermerkmale hinzukommen, z. B., wenn sie rituelle Ausdruckshandlungen sind. Er geht viel weiter: Die „magischen Operationen“ zeichnen sich ihm zufolge dadurch aus, dass sie keineswegs „auf einer falschen (…) Vorstellung der Dinge und Vorgänge beruhen“, weil überhaupt auf keiner Vorstellung, Meinung oder Theorie. Falsche Techniken und magische Operationen sind demnach zwei einander ausschließende Kategorien. Es stellt sich dabei die Frage, ob diese Dichotomie nicht die klassische Unterscheidung zwischen Magie und Religion variiert, wobei Wittgensteins fehlgeleitete Techniken den Platz der Magie einnehmen und seine „magischen Operationen“ den der religiösen Rituale.²⁶⁶

 Dass bestimmte Vorstellungen und Bilder hier ohne weiteres als ‚falsch‘, ‚unzutreffend‘ und ‚zu einfach‘ bezeichnet werden, zeigt noch einmal, wie fern diese Betrachtungen von einer relativistischen Position sind.  In seiner klassischen Malinowski-Kritik erklärt S. F. Nadel, dass „any study of primitive magic“ ein Problem lösen muss, und zwar „the problem of distinguishing between magical procedures proper and others which represent merely empirical knowledge misapplied“: „Whatever other facts we should consider, the crucial evidence must clearly be the people’s own conceptions, and hence the words they use.“ (Nadel 1957: 196) Malinowski verwende zwar dieses Kriterium, wenn auch, ohne es explizit auszuarbeiten, er übersehe aber das genannte Problem, d. h. den Unterschied zwischen Magie und falscher Empirie.  1931 neigt Wittgenstein zur ‚unwittgesteinianischen‘ Auffassung, der Symbolismus sei bei allen Riten beteiligt. Meint er aber auch, dass im rituellen Kontext die Sprachlogik missverstanden wird? D. Z. Phillips zufolge unterscheidet er zwei Arten von Riten, „rituals which say something in themselves and rituals which are a product of a powerful mythology“ (Phillips 2001: 169). Zu den ersteren rechnet Phillips offenbar Wittgensteins reine Ausdruckshandlungen, und zu den letzteren hatte Wittgenstein im Herbst 1930 vielleicht das Sündenbockritual gezählt.

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In diesen Bemerkungen scheinen Techniken – richtige und falsche Zweckhandlungen – anders als Rituale einer intellektualistischen Erklärung zugänglich. 1931 versteht Wittgenstein Technik offenbar ähnlich wie Frazer, für den wirksame und unwirksame Techniken jeweils aus wahren und falschen Theorien hervorgehen.²⁶⁷ (Wenn Frazer Rituale als Techniken deutet, dann eben, weil Letztere ihm selbstverständlich Theorien zu entspringen scheinen.) Man darf jedoch nicht einfach voraussetzen, dass Techniken immer auf einer „Vorstellung“ „beruhen“, selbst wenn sie sich im Idealfall eher auf eine Theorie zurückführen lassen als Rituale. Driften also bei Wittgenstein ein allzu intellektualistisches Bild von Technik und ein antikognitivistisches Bild von Magie auseinander? In Hinsicht auf volksmedizinische Heilungsversuche scheint er auf jeden Fall folgende Deutung vorzuschlagen: Sie sind mit falschen Bildern durchsetzte Techniken, aber eben mit zu einfachen, unzutreffenden Vorstellungen, nicht mit Analogien, die zu Unsinn führen.²⁶⁸ Sie sind demnach also keine confused practices im Sinn der heutigen Debatte.²⁶⁹ Wittgenstein verrät nicht, was die „magischen Operationen“ sind, von

Aber der Gegensatz ist ein Anliegen Phillips’ – er scheint sich nach einer Unterscheidung von Magie und Religion zurückzusehnen –, nicht Wittgensteins. Diesem zufolge ist die Mythologie an den Riten, die ‚say something in themselves‘, ebenso beteiligt wie an den anderen. Rituale, die etwas besagen, besagen es eben, weil sie mit der Mythologie zusammenhängen: Die Sprache – und ihre Grammatik – zeigt etwa in der ‚magischen‘ Auffassung von Eigennamen ihre Tiefe. Deshalb fällt es für Wittgenstein nicht so ins Gewicht, dass es sich letztlich um Täuschungen handelt (dazu und zu seiner Deutung von Rumpelstilzchen siehe oben S. 88). Zu einer späten Unterscheidung zwischen Aberglauben und Religion bei Wittgenstein siehe S. 367 f., Anm. 71. Zu Phillipsˈ Versuch, Magie von ‚echter Religion‘ abzuspalten, vgl. kritisch Clack 1999: 122.  Dass falschen Theorien unwirksame Techniken entsprechen, ist allerdings keineswegs ausgemacht: Volkswissenschaftliche Theorien über die Physiologie der Pflanzen sind in der Regel inadäquat, die entsprechenden landwirtschaftlichen Techniken müssen jedoch nicht unwirksam sein. Das Beispiel lässt sich verallgemeinern: „[…] no age has full knowledge of its own techniques, just as we did not know until recently how aspirin works.“ (O’Keefe 1982: 26)  Zu den zwei Arten falscher Bilder sowie zum Beispiel des Ankers und der Dampfmaschinen vgl. MS 112: 118r-118v, und siehe oben S. 82, insbes. Anm. 50.  Phillips zieht aus Rhees’ oben, S. 118, angeführter Bemerkung einen intellektualistischen Schluss: „[A] magical view of signs can lead, not only to metaphysics (a confused gloss on a practice), but also to superstitions (confused practices).“ (Phillips 2005a: 199) Im ersteren Fall werde der Sprachgebrauch fehlgedeutet, im zweiten sei er selbst falsch. So Phillips. Was heißt aber ‚falscher Sprachgebrauch‘, wenn die Grammatik autonom ist? Wittgenstein vertritt nicht die extrem intellektualistische Theorie, dass die (‚magische‘) Auffassung zum (konfusen) ‚Gebrauch‘ führt. Phillips dagegen scheint Frazers Theorie durch eine genauso intellektualistische verdrängen zu wollen. Und dies, obwohl Phillips an Maretts (moderat) emotivistische anti-intellektualistische Betrachtungen kritisch anschließt, die Magie auf emotional pressures zurückführen (Phillips 1993d: 107).

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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denen er hier die Techniken unterscheidet: Kommen diese „magischen Operationen“ überhaupt ohne irreführende Bilder aus? Spielen hier zwar keine empirisch unzutreffenden Bilder, aber doch verwirrende Analogien eine Rolle? Darüber lässt Wittgenstein nichts verlauten.²⁷⁰ Die eben zitierte ursprüngliche Fassung in MS 110 bezeichnet zuerst volksmedizinische Heilungsversuche eindeutig als magische Prozeduren, stellt aber anschließend in Frage, dass sie (immer) so zu klassifizieren sind. Im späteren TS 211 dagegen wird zuerst die strikte Unterscheidung zwischen magischen und technischen Operationen markiert, dann aber ist trotzdem weiterhin von „einer magischen Kur“ bzw. „magischen Heilung“ die Rede. Es scheint daher, als würde Wittgenstein jene strikte Unterscheidung nicht durchhalten: Heilverfahren werden zuerst als Techniken von den „magischen Operationen“ abgehoben, dann aber immer noch magisch genannt. Wittgenstein scheint also unschlüssig, wie er so eine Kur klassifizieren soll, als magisch oder als technisch. Der Anschein ergibt sich allerdings nur, weil die Bemerkungen aus MS 110 beim Diktieren ins TS 211 lediglich umgestellt wurden und kaum inhaltlich geändert. Die Umstellung trägt nicht zur Klärung bei: In dieser letzten Fassung werden volksmedizinische Heilungen weder eindeutig zu den technischen noch eindeutig zu den magischen Operationen gezählt; ebenso wenig werden beide Möglichkeiten ausdrücklich zugelassen, und auch diejenige, dass volksmedizinische Heilungen manchmal technische und magische Operationen in einem sind, wird nicht ausdrücklich eingeräumt. Wittgenstein redigierte den Text nicht mehr, legte sich insofern für keine der Alternativen fest. Soll man daher die erste Version in MS 110 als die stimmigere betrachten, da sie sich zuletzt für eine Option zu entscheiden scheint: für die rein ‚technische‘ Deutung volksmedizinischer Heilungsversuche? Das Problem ist, dass weder diese Deutung noch die alternative ‚magische‘ sich mit Wittgensteins Beschreibungen dieser Erscheinungen ohne weiteres vereinbaren lassen. Die Kur hat zweifellos einen Zweck, die Heilung, fällt also nicht unter die erläuterte Bestimmung ritueller Handlungen als reiner Ausdruckshandlungen. Oder vielmehr scheinen die entsprechenden Operationen beides sein zu können und auch beides zugleich: utilitaristische, von einer falschen Vorstellung geleitete und deshalb

 Darf man „Operationen“, denen man das Erstreben (bzw. etwa in einem Märchen das Erreichen) einer wie auch immer gearteten Wirkung abspricht, noch ‚magisch‘ nennen? Man darf sie eventuell ‚rituell‘ oder ‚religiös‘ nennen: aber ‚magisch‘? Zwischen den Begriffen ‚Magie‘ und ‚Wirkung‘ besteht im normalen Sprachgebrauch eine interne Relation. Sie bleibt auch in Wittgensteins übertragener Verwendung erhalten, etwa, wenn er die Kausaltheorie als eine magische Theorie der Bedeutung verwirft (da sie an die magische Wirkung der Zeichen glaubt).

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unzulängliche technische Handlungen einerseits und magische (symbolische, rituelle) Handlungen andererseits. In der Tat hält Wittgenstein an diesen Krankheitsvorstellungen und Heilungsversuchen beide Aspekte ausdrücklich fest. Er betont, dass es dabei tatsächlich um falsche Bilder geht, um eine unzutreffende, zu einfache Vorstellung der Dinge und Vorgänge. Er sieht eine (übrigens nicht selbstverständliche) Analogie zwischen den im Golden Bough beschriebenen Verboten beim Essen und Trinken und den Fällen, in denen „die ungebildeten Leute unter uns sagen die Krankheit ziehe sich vom Kopf in die Brust etc. etc.“ (MS 110: 197; TS 211: 318) Seine Antwort auf die Frage, wie es zu diesen „einfachen Bildern“ kommt, zeigt aber zugleich, dass es bei den entsprechenden Operationen um ausgeprägte Formen symbolischen Handelns geht. Das „Prinzip“ lautet, „daß alle Gefahren der Form nach auf einige sehr einfache reduziert werden die dem Menschen ohne weiteres sichtbar sind. […] In diesen einfachen Bildern wird natürlich die Personification eine große Rolle spielen, […]“ (MS 110: 197; TS 211: 318).²⁷¹ Die Personifikation ist nicht nur in den genannten Verboten das Prinzip. In der magischen Heilung wird die personifizierte Krankheit gleichsam zum Gesprächspartner der symbolischen Handlung. Die Zuversicht in die Macht der eigenen Worte (in ihre rhetorische Kraft, die Krankheit zu überzeugen) wird hier zur Schau gestellt.²⁷² Die Kur, die der Krankheit unmissverständlich „bedeutet“, „sie möge den Patienten verlassen“ (MS 110: 183; TS 211: 319),²⁷³ zeigt den typischen Charakter der Magie als Äußerung und Darstellung eines Wunsches (auch in Form eines Befehls).²⁷⁴ Derlei magische Kuren gehören also zu den symbolischen Handlungen. Sie sind wiederum ein Beispiel dafür, dass die Äußerung manchmal, anders z. B. als der Kuss auf das Bild der Geliebten, den Wunsch durchaus erfüllen will. Die Unterscheidung zwischen Zweck- und Ausdruckshandlungen ist damit noch nicht aufge-

 Zum Prinzip der Personifikation vgl. MS 110: 182; TS 211: 316.  Auch die „Magie mit Wörtern“, die Wittgenstein bei einem Cambridger Kollegen kritisiert, zeigt eine ähnliche Einstellung. C. D. Broads These, „die Aussage, ‚etwas w e r d e eintreten‘, sei kein Satz“, kommentiert der Philosoph so: „Ein |solcher| Satz, wie der Broads, kommt mir so vor, wie ein Versuch eine chemische Änderung |magisch| zu bewirken; indem man den Substanzen, quasi, zu verstehen gibt, was sie tun sollen (wenn man etwa Eisen in Gold überführen wollte indem man ein Stück Eisen mit der rechten und zugleich ein Stück Gold mit der linken Hand faßte.)“ (MS 111: 138; vgl. TS 211: 89) Der Alchemist versucht, etwas „|magisch| zu bewirken“, indem er den Substanzen (wie der Heiler der Krankheit) etwas zu verstehen gibt: Bemerkenswert ist, dass Wittgenstein hier diese Prozedur eindeutig als magisch bezeichnet. – Vielleicht enthält die Bemerkung einen Seitenhieb auf Broads Interesse für Parapsychologie, das Wittgenstein kritisiert haben soll (vgl. MDC: 117).  Cioffi 1998: 157, weist in dieser Hinsicht auf Marett hin.  Vgl. MS 110: 183; TS 211: 316.

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hoben, verliert allerdings ihre Schärfe: Es gibt doch Ausdruckshandlungen, die zugleich eine instrumentelle Funktion haben – und einige sind von unzutreffenden Vorstellungen geleitet. Auch die empirisch falschen Bilder der Volksmedizin sind Gleichnisse, Analogien. (Die Krankheit wird im Humoralsystem mit einer „Flüssigkeit“, im ‚heiß-kalt-System‘ mit einem „Wärmezustand“ (MS 110: 184; TS 211: 317) verglichen.) Diese Analogien verführen jedoch nicht zu Unsinn, sondern zu empirischen Irrtümern – und eventuell (nicht unbedingt) zu falschen oder inadäquaten Anwendungen (etwa im Umgang mit Missbefinden oder im Ackerbau). Lässt Wittgenstein volksmedizinische Heilungsversuche als magische Prozeduren gerade noch durchgehen? Sie sind nicht die einzigen Grenzfälle. Auch die von Frazer behandelten Verbote beim „Essen und Trinken“ hängen in seinen Augen mit empirisch unzutreffenden Vorstellungen zusammen. Er bemerkt nämlich, es sei „nichts natürlicher“, als dass Menschen sich vor Gefahren schützen wollen und die entsprechenden (zumeist unwirksamen) „Schutzmaßnahmen“ ergreifen, ja „erdichten“ (MS 110: 196; TS 211: 318). Die Verbote, die Frazer unter der heute überholten Rubrik ‚Tabu‘ zusammenstellt,²⁷⁵ deutet Wittgenstein mithin doch instrumentell: als natürliche „Schutzmaßnahmen“ gegen die Gefahren, mit denen das „Essen und Trinken“ verbunden ist. Handelt es sich also doch um (unwirksame) Techniken, die auf unzutreffende Bilder bzw. empirisch falsche Vorstellungen zurückgehen? In der Frage, ob es sich bei volksmedizinischen Heilungsverfahren um technische oder magische Operationen handelt, gelangt Wittgensteins Analyse zu keinem eindeutigen Ergebnis. Er klassifiziert sie nicht durchgängig als magisch oder technisch. Auch jene „Schutzmaßnahmen“, selbst wenn sie (unzutreffende) Bilder enthalten, sind nicht einfach falsche Techniken, sondern rituelle Vorkehrungen. Der Philosoph deutet sie viel weniger intellektualistisch als der schottische Ethnologe; denn wie die meisten seiner Zeitgenossen setzt Wittgenstein den Akzent nicht auf Denkfehler, sondern auf die natürlichen Bedürfnisse, die sich in den Ritualen ausdrücken. Die Dichotomie, die bei volksmedizinischen Heilungsversuchen scheitert, lässt sich auf rituelle Verbote genauso wenig anwenden. Wittgensteins Analyse ist zwar nicht antinomisch, paradox, bleibt jedoch inkonsequent.²⁷⁶ Diese Inkonsequenz lässt seine dichotomische Haupttendenz in

 Der polynesische Ausdruck ‚Tapu‘ dient (nicht nur) Frazer als Synonym für ‚unbegründetes Verbot‘: Unter dieser Rubrik sammelt er Heterogenstes aus allen Weltecken. Zur Geschichte des 1771 durch James Cook ins Englische eingeführten Ausdrucks vgl. Franz Steiners klassische Monographie (Steiner 1956).  Cioffi weist eintönig anti-kognitivistische emotivistische bzw. expressivistische Lesarten zu Recht zurück (Cioffi 1998: 156). Er meint jedoch nicht nur, dass Wittgenstein die instrumentelle

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ihrem Allgemeinheitsanspruch problematisch erscheinen, er reflektiert diese jedoch nicht, geschweige, dass er sie aufkündigt. 1931 kommt es zu keinem artikulierten alternativen Vorschlag. Wittgenstein gelangt erst später zu neuen Einsichten.

Natur der ‚Magie‘ manchmal verneint und manchmal bejaht. Wittgenstein sei nicht einfach ‚inkohärent‘ bzw. ‚inkonsistent‘, sondern wirklich ‚ambivalent‘, Wittgenstein „himself providing the most persuasive arguments against his own anti-instrumental objections“ (Cioffi 1998: 156). In Cioffis Lesart wird aus Wittgensteins Schwanken eine regelrechte Antinomie. Wittgenstein, so Cioffis These, „has two apparently inconsistent views of instrumentalist conceptions of magic – that primitives are too sofisticated to hold views so absurd and that it is the most natural thing in the world that they should do so“ (Cioffi 1998: 159). Wittgenstein bemerkt tatsächlich, es sei „nichts natürlicher“, als dass Menschen sich vor Gefahren schützen wollen und die entsprechenden (oft unwirksamen) „Schutzmaßnahmen“, die von Frazer beschriebenen ‚Tabus‘, „erdichten“ (MS 110: 196 f.; TS 211: 318). Wittgensteins Ausgangsthese ist wiederum, dass Primitive – wie Cioffi sich ausdrückt – „too sofisticated“ sind, um zwischen Techniken und „magischen Operationen“ keinen Unterschied zu machen. Er betrachtet es als abwegig, ihnen etwa den Glauben an die Wirksamkeit von Regenzauber und Sonnenaufgangsriten zu unterstellen. Aber mit dem Argument der Absurdität lässt sich eine allgemeine antikognitivistische These nicht begründen: Wittgensteins Beispiele (auch das Durchstechen in effigie) müssten differenzierter betrachtet werden, und ihm selbst scheinen nicht nur Frazers Verbote beim Essen und Trinken, sondern auch volksmedizinische Auffassungen nicht so absurd, dass sie Menschen prinzipiell nicht zugeschrieben werden dürften. Wie Marett, Malinowski und Evans-Pritchard ist Wittgenstein trotzdem ein Kritiker von Frazers Auffassung, dass die ‚primitive Weltsicht‘ keinen Unterschied zwischen magischen und technischen „Operationen“ kennt (zu den entsprechenden Problemen siehe oben S. 156 ff.). Cioffi deutet die These, dass Tabus natürliche Schutzmaßnahmen sind, in intellektualistischem Sinn. Aber wenn es nichts Natürlicheres gibt als jene erdichteten „Schutzmaßnahmen“ (MS 110: 196 f.; TS 211: 318), dann nur, weil sie in menschlichen Befürchtungen und Bestrebungen tief verwurzelt sind. Die These lässt sich also eher dahingehend deuten, dass die instrumentelle Funktion ein natürlicher Überbau bestimmter Reaktionen und Bedürfnisse ist. Auf Ähnliches läuft Vierkandts und Langers (im Text erläuterte) Position hinaus: Das Ausdrucksbedürfnis ist „the most natural thing in the world“; und das expressive Moment einer magischen Handlung kann einen Glauben an deren instrumentelle Funktion hervorbringen. Cioffi konstruiert eine Antinomie von Antikognitivismus und Kognitivismus, während es eigentlich um zwei Formen von Antiintellektualismus geht: eine strikt antikognitivistische und eine, die Einschränkungen, Ausnahmen und Zwischenfälle einräumt. Sie sind miteinander schwer vereinbar, und Wittgenstein schwankt zwischen ihnen, er ist tatsächlich inkonsequent, aber nicht paradox.

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2.1.2.3.4 Ausdruckshandlungen als Vergleichsobjekt für magische Handlungen. Wittgenstein und Susanne Langer²⁷⁷ Etwa zehn Jahre nach Wittgensteins erster Frazer-Kritik vertritt Suzanne Langer eine vorsichtigere, aber verwandte Position: Sie beachtet den Unterschied zwischen expressiven und praktischen Funktionen von Ritualen und zieht aus ähnlichen anti-intellektualistischen Argumenten ähnliche philosophische Schlüsse wie Wittgenstein. Ihre Auffassung sei hier zum Vergleich herangezogen.²⁷⁸ Auch Langer betrachtet die Gleichsetzung von rituellen Handlungen und praktischen Irrtümern als Kategorienfehler. „The apparently misguided efforts of savages to induce rain by dancing and drumming are not practical mistakes at all; they are rites in which the rain has a part. […] A ‚magic‘ effect is one which c o m p l e t e s a r i t e . No savage tries to induce a snowstorm in midsummer, nor prays for the ripening of fruits entirely out of season, as he certainly would if he considered his dance and prayer the physical causes of such events.“ (Langer 1996: 158) Langer weist auf einen Aufsatz von Alfred Vierkandt hin, in dem „[t]he expressive function of ritual is properly distinguished from the practical“ (Langer 1996: 159, Anm. 8). „Vierkandt treats the causal conception as a superimposed one.“ Er schließt nicht aus, dass die Handelnden selbst den Regentanz kausal auffassen, d. h. als Zweckhandlung verstehen, aber diese Auffassung ist für ihn – ähnlich wie schon für Marett – lediglich ein Überbau der Ausdrucksfunktion. Entscheidend ist aber, dass er zwischen zwei entgegengesetzten idealtypischen Grenzfällen eine erstaunliche Bandbreite von Möglichkeiten sieht: „Im einen Grenzfall ist der Zweck ein bloßer Überbau, eine Ideologie, indem die eigentlich treibende Kraft lediglich im Ausdrucksverlangen liegt […]. Den anderen Grenzfall bildet die echte Zwecktätigkeit, bei der das Ganze nach den Kategorien von Mittel und Zweck gegliedert wird.“ (Vierkandt 1937: 481 f.)²⁷⁹ Primitive Magie liegt immer

 Der vorliegende Abschnitt ist eine leicht geänderte Fassung von Brusotti 2007b: 98 ff.  Langer ist von Wittgensteins damals unveröffentlichten Bemerkungen wohl nicht beeinflusst und hat offenbar andere ethnologische Quellen, die allerdings derselben Forschungstradition gehören.  Langer (1996: 159, Anm. 8) zitiert diese Stelle in englischer Übersetzung. Sieben Jahre nach der Erstausgabe der Philosophy in a New Key mokiert sich ein Rezensent darüber, dass Langer ihre Überlegungen auf „old Edwardians“ wie Gilbert Murray und Jane Harrison stützt und nicht auf die neuen „American Anthropologists“ (so Richard Chase, zit. bei Ackerman 1991: 201, Anm. 1). Vierkandt (1867– 1953) ist nur scheinbar eine Ausnahme: Der zitierte Aufsatz war zwar erst fünf Jahre zuvor erschienen (und damit einige Jahre nach Wittgensteins erster Auseinandersetzung mit Frazer), aber der Simmel-Schüler hatte schon 1907 einen ähnlichen Beitrag in der einschlägigen Zeitschrift Globus veröffentlicht, den er am Anfang seines späteren Textes erwähnt. Er stand damals noch in der evolutionären Tradition: Sie hatte etwa mit den von ihm angeführten Ethnologen Marett und Preuss begonnen, sich den Fragen nach der Ausdrucks-

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irgendwo zwischen zwei idealtypischen Extremen: Ausdruckshandlung und Zweckhandlung. Es kommen „alle Grade der Abstufung“ vor. Laut Langer und Vierkandt glaubt der Primitive doch an die Wirkung der magischen Handlung, aber nur weil er die Kausalität empfindet. Daher die hybride Natur der Magie, ihre Tendenz, Symbolik und Wirksamkeit, Bedeutung und Macht zu vermengen. Langer zufolge teilen religiöse Sakramente diese Tendenz mit den imitativen Ritualen und mit Frazers „sympathetic magic“. According to the law of all primitive symbolization, this significance is felt not as such, but as genuine efficacy; the feast not only dramatizes, but actually negotiates the desired acquisition. Its performance is magical as well as expressive. And so we have the characteristic blend of power and meaning, mediation and presentation, that belongs to sacraments. (Langer 1996: 161)

Langer und ihrem Gewährsmann Vierkandt zufolge bewegt sich Magie zwischen zwei Idealtypen, zwischen Ausdruckshandeln und Zweckhandeln.Vierkandt, den Neurath als einen der ‚metaphysischen Soziologen‘ kritisiert,²⁸⁰ blendet in seiner individualpsychologischen Analyse die soziale, institutionelle Dimension weitgehend aus. Dies muss nicht bei jeder idealtypischen Betrachtung der Fall sein. Statt auf Vierkandt hätte sich Langer auf Evans-Pritchards damals wesentlich aktuellere Position beziehen können, die ebenfalls Zwischen- und Mischfälle vorsieht.²⁸¹ Vierkandts Überbau- und Selbstmissverständnisthese geht von einer etwas anderen Bandbreite aus als Wittgensteins Frazer-Kritik.²⁸² Vertritt Wittgenstein dennoch bei allen Unstimmigkeiten im Einzelnen eine vergleichbare Position wie

funktion der Magie zu stellen. Die enge Verwandtschaft zu Maretts Auffassungen (siehe Anm. 109) wird dem Leser aufgefallen sein.  Neurath (1979c: 152 f.; Erstausgabe 1931) greift Vierkandts Überwindung des Positivismus in der deutschen Soziologie der Gegenwart (1926) an.  P. de Lara (2005: 77 f.) sieht in dieser Position, wie Evans-Pritchard sie vertritt, die Lösung ante quem des späteren Symbolismusstreits, in dem Beattie Jarvie und Agassi gegenüberstanden. Evans-Pritchards Beschreibung der Azande ist O’Keefe zufolge ein empirischer, ‚natürlicher Idealtypus‘ (O’Keefe 1982: 428 f.): „And what is there is unimaginably complex. You could never have guessed at it by an abstract ideal type“ (O’Keefe 1982: 429).  Einerseits lässt Vierkandt die reine Zweckhandlung als Grenzfall zu. Ein reines Ausdruckshandeln ohne Glauben sieht er wiederum nicht vor; aber im Idealtypus magischen Ausdruckshandelns ist der Glaube nur reiner Überbau, belangloser Zusatz. Das Bedürfnis nach Ausdruck und emotioneller Entladung bringt wie bei Marett (und James) den Glauben hervor. Im Gegensatz dazu bestreitet Wittgenstein, dass die reine Zweckhandlung auch nur einen Grenzfall magischer Handlung abgeben kann. Der Unterschied zu Vierkandts Position ist aber vor allem ein verbaler.

2.1 Magie und Metaphysik: Gemeinsame „Quelle“ und pragmatischer Unterschied

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er und Langer? Gibt die reine Ausdruckshandlung auch bei ihm lediglich einen Grenzfall magischen Handelns ab? Hat sie auch bei ihm lediglich einen idealtypischen Wert? 1931 gewiss nicht. Wittgenstein ersetzt Frazers Analogie durch eine andere, entgegengesetzte. Frazer versteht Magie als Theorie, magische Handlungen als Zweckhandlungen,Verwunderung als Bedürfnis nach kausaler Erklärung. Er sieht darin keineswegs eine unverbindliche Analogie; Magie ist für ihn mit falscher Wissenschaft und falscher Technik nicht nur vergleichbar, er setzt sie gleich. Wittgenstein macht aus Frazers Gleichsetzungen zuerst Antithesen, strikte Dichotomien, etwa, wenn er „alle Riten“ als reine Ausdruckshandlungen bezeichnet und den Zweckhandlungen gegenüberstellt. Auch er vergleicht magische Handlungen mit Handlungen, die in unserer Gesellschaft verbreitet sind, aber nicht mit technischen Prozeduren, sondern mit Handlungen, die Gefühle symbolisch ausdrücken. Aber Wittgenstein selbst geht hier weit über einen unverbindlichen Vergleich hinaus.Wenn er nun Magie mit Ausdruckshandeln tendenziell gleichsetzt, vertritt auch er gleichsam wider Willen etwas wie eine anthropologische Theorie, die sich empirisch nicht bestätigen lässt. Er versteht sich selbst jedoch nicht als Ethnologen und will eigentlich die Versuchung abwehren, sich gegen Frazer auf eine bestimmte Auswertung des empirischen Materials festzulegen. „Das würde darauf deuten,“ – heißt es im späten MS 143 – „dass hier eine Wahrheit zu Grunde liegt und kein Aberglaube. (Freilich ist es dem dummen Wissenschaftler gegenüber leicht in den Geist des Widerspruchs zu verfallen.) […]“ (MS 143: 27) Genau dieser Versuchung kann sich Wittgenstein 1931 jedoch nicht immer entziehen. Ein derartiger Rückfall in eine falsche Empirie läuft jedoch seiner Auffassung der Philosophie als grammatischer Untersuchung zuwider. Der Philosoph kann und muss sich demnach auf einen modalen Schluss beschränken: Die Analogie mit expressiven Handlungen legt nahe, dass die ausgedrückte Empfindung „nicht notwendig“ mit einem Glauben verbunden ist. Frazers Auffassung, Magie sei einfach unaufgeklärtes instrumentelles Handeln, verliert durch den Vergleich zwischen rituellen Handlungen und Ausdruckshandlungen ihre scheinbare Selbstverständlichkeit. Die Analogie zwischen Magie und Wissenschaft drängt sich nicht mehr auf. Zugleich zeigt sich jedoch, dass reine Ausdruckshandlungen oder Instinkthandlungen nur Idealfälle sind; zwischen Ausdruckshandlung und Zweckhandlung sind eigentlich alle möglichen fließenden Übergänge denkbar. Magie lässt sich mit ‚reinem‘ Ausdruckshandeln zwar vergleichen, aber nicht identifizieren. Man darf Objekt und Vergleichsobjekt nicht vermengen.Wittgenstein stellt ‚Magie‘ in eine neue Konstellation. Wenn sie mit diesen Vergleichsobjekten verwandt erscheint, findet das Suchen nach einer intellektualistischen Erklärung ein Ende.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Auf ähnliche Weise beseitigt eine Erinnerung an den Sprachgebrauch eine philosophische Schwierigkeit und setzt dem Fragen einen Schlusspunkt.²⁸³ Aber wie weit erstreckt sich die Analogie mit der Philosophie? Der Vergleich mit Ausdruckshandlungen macht nicht jedem Fragen ein Ende: Rituelle Handlungen mögen reinen Ausdruckshandlungen oberflächlich ähneln, aber der Kontext ist jeweils ein völlig anderer. Die Ähnlichkeit zeigt dementsprechend nur, dass rituelle Handlungen keine Zweckhandlungen sein müssen, nicht, dass sie es nicht sind. Sie macht vielleicht verständlich, dass Menschen eine bestimmte Art Handlungen, die rituellen, überhaupt vollziehen. Aber diese Einsicht ist nicht mehr als ein erster Brückenkopf der Verständigung. Die Analogie zu einer Ausdruckshandlung sagt über die jeweilige rituelle Handlung nichts weiter aus. Wittgenstein überschätzt diese Analogie, und diese Überschätzung verrät, dass er selbst vom jeweiligen spezifischen Handlungskontext noch weitgehend absieht. Der Sprachspielgedanke liegt im Juni-Juli 1931 noch fern, und dies zeigt sich auch darin, dass er wie Frazer individualpsychologische Vergleichsobjekte eindeutig privilegiert. Gerade der Kuss auf das Bild der Geliebten ist, so spontan er uns vorkommt und auch sein mag, eine kulturell kodierte Handlung: Alles hat hier ‚dichte‘ kulturelle Voraussetzungen: die Einstellung zu Bildern, die zu Geliebten und nicht zuletzt das Küssen selbst. (Die Hervorbringung von Bildern, die Fähigkeit, sie zu deuten, die Akzeptanz von Abbildungen des Menschen ist kulturell höchst variabel.) Die Analogie mit einer vertrauten Ausdruckshandlung kann Empathie fördern; man betrachtet dann den jeweiligen Brauch mit neuen, vielleicht offeneren Augen, aber die Analogie kann uns auch irreführen, sie erschließt uns die spezifische kulturelle Bedeutung des Brauchs nicht. Zum Verstehen braucht man eine dichte Beschreibung des Sprachspiels, wie es in der jeweiligen Gesellschaft tatsächlich gespielt wird. Denn: Ob eine „Anschauung“, die zu einem Ritus oder Brauch gehört, eine „Meinung“, eine „Theorie“ oder etwas völlig anderes ist, ob das Gesagte „eigentlich“ gemeint ist bzw. ob und inwieweit daran ‚geglaubt‘ wird, dies alles gehört zur Grammatik; und die Rolle der ‚Anschauung‘ im Ritus ist nur durch Beobachtung des ‚Gebrauchs‘, des ‚Sprachspiels‘, zu klären. Man wäre versucht zu sagen, dass nicht die ‚Anschauung‘ den Ritus, sondern der Ritus die ‚Anschauung‘ erklärt. Aber ‚erklären‘ heißt hier jeweils etwas anderes: Frazer behauptet, dass der belief den Ritus kausal erklärt. Bei Wittgenstein wird der Sinn der ‚Anschauung‘ am Ritus verständlich: Die ‚Erklärung‘ ist hier eine ‚grammatische‘ Erläuterung, eine Zeichenerklärung, und keine Kausalerklärung.

 Zur Denkfigur des Schlusspunktsetzens vgl. Drury 1973: xii. Vgl. dazu Phillips 1993c; Phillips 1993d: 117.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

191

In Wittgensteins frühem Schwanken liegt der Keim einer reflektierteren Position. Er sucht später nicht mehr nach etwas, was allen Riten gemeinsam ist und nur ihnen. Die Abhandlung hatte zwischen der beschreibenden Kernfunktion der Sprache und dem Mystischen unterschieden: Ähnlichkeiten im letzteren Bereich lagen ebenso nahe wie ein Gegensatz zwischen dem Mystischen und dem ‚Profanen‘. Diese Position wirkt nach, wenn Wittgenstein 1931 die Wesensverwandtschaft aller religiösen Handlungen betont. Später jedoch weicht der frühe Gegensatz zwischen dem Mystischen und dem ‚Profanen‘ der irreduziblen Vielfalt von Sprachspielen, Handlungsweisen, Lebensformen. Und wirklich stehen sich das Heilige und das Profane nicht in jeder Kultur gegenüber, und selbst in denen, wo ein ähnlicher Gegensatz vorliegt, sind die zwei Bereiche jeweils anders beschaffen. Wittgenstein selbst gelangt schließlich zu Unterscheidungen, die jene überkulturelle Wesensverwandtschaft religiöser Handlungen durchkreuzen: Die „Magie“ – als überall die gleiche und überall im Gegensatz zum Profanen – evaporiert gewissermaßen. Letzten Endes ist dem späteren Wittgenstein also gerade daran gelegen, die Sprachspiele in ihrer Heterogenität zu analysieren, etwa diejenigen, in denen ‚glauben‘ benutzt bzw. auf die dieser Familienbegriff angewandt wird. Um diesen neuen Lösungsvorschlag auszubuchstabieren, braucht der Philosoph jedoch Begriffe wie ‚Familienähnlichkeit‘ und ‚Sprachspiel‘, über die er zur Zeit seiner ersten Frazer-Lektüre noch nicht verfügt; und auch eine neue Auffassung des Vergleichens (des ‚Vergleichsobjekts‘ und seines Status) muss er erst noch ausarbeiten.²⁸⁴

2.2 „Nichts ist so schwierig wie […] Gerechtigkeit gegen die Tatsachen.“²⁸⁵ Rituelles Handeln übersichtlich darstellen? 2.2.1 Erklärung und Beschreibung 2.2.1.1 Form der Darstellung als Weltanschauung? Auch Wittgensteins methodologische Ansichten wandeln sich allmählich. In seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough stellt er Frazers ‚erklärendem‘ Ansatz einen rein ‚beschreibenden‘ gegenüber.Wie ‚Ursache‘ und ‚Grund‘ markiert das Begriffspaar ‚Erklärung‘ und ‚Beschreibung‘ eine wichtige Unterscheidung.Wittgenstein wird sie in späteren Jahren zwar nicht aufheben, aber neu fassen und zu einem flexibleren methodischen Instrument gestalten.

 Zu ‚Sprachspiel‘ siehe S. 337, Anm. 6, zu ‚Familie‘ und ‚Vergleich‘ S. 264 ff.  MS 110: 184.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

1931 steht das Begriffspaar allerdings noch für eine starre Dichotomie. Sie weist z.T. auf den Denkstil der Abhandlung zurück: Im Frühwerk ist Beschreibung die eigentliche Leistung aller Symbolsysteme; kausale Erklärung gilt dagegen als ein ‚abergläubisches‘ Vorhaben. „[D]ie Täuschung“, „daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien“, liege der „ganzen modernen Weltanschauung“ (TLP 6.371) zugrunde; in Wirklichkeit jedoch seien die Gesetze der Mechanik nur eine allgemeine Beschreibung der Naturerscheinungen. Was man durch ein „Kausalitätsgesetz“ ausschließen wolle, lasse sich sowieso „nicht beschreiben“ (TLP 6.362), es handle sich nämlich nicht um Sachverhalte, sondern einfach um Unsinn (und nur insofern um etwas, was ‚nicht geschehen könne‘). Sätze beschreiben die Wirklichkeit; und die allgemeine Satzform enthält das Wesen aller Beschreibung. So die Abhandlung. Lässt sich aber etwas wie die allgemeine Satzform wirklich aufstellen? Kann man alle möglichen Satzformen a priori voraussehen? Bereits in Some Remarks on Logical Form gibt Wittgenstein diesen Standpunkt auf: Zu einem „symbolism which gives a clear picture of the logical structure“ gelangt man nur „by inspecting the phenomena which we want to describe, […] i. e., in a certain sense a posteriori, and not by conjecturing about a priori possibilities.“ (SRLF, in PO: 30) Der Begriff der Beschreibung hat sich damit grundlegend geändert; nun geht es darum, ‚die Phänomene‘ (z. B. die Farben, den Gesichtsraum) in ihrer jeweils eigentümlichen logischen Struktur zu analysieren und im Symbolismus abzubilden. Unmittelbar nach seiner Rückkehr zur Philosophie geht Wittgenstein dem Projekt einer phänomenologischen Beschreibung nach, das er allerdings bald verabschiedet. Statt den Gesichtsraum in einer phänomenologischen Sprache zu beschreiben, will er dann dessen „sprachliche Darstellung“ in der Alltagssprache „übersehen lernen“.²⁸⁶ Er stellt fest, dass es der Grammatik an Übersichtlichkeit fehlt, und nimmt sich bereits im Februar 1930 die ebenfalls rein deskriptive Aufgabe einer „übersichtliche[n] Darstellung der grammatischen Regeln“ vor. Allerdings macht er ein einziges konkretes Beispiel einer solchen übersichtlichen Darstellung: das Farben-Oktaeder.²⁸⁷ Selbst wenn Wittgenstein an eine universelle logische Syntax nicht mehr glaubt: Übersichtlich darzustellen sind hier noch die strikten Regeln von Kalkülen. Seine Bemerkungen vom Juni-Juli 1931 brechen nicht explizit mit dieser Auffassung. Sie wechseln eher das Thema: Es gilt nun, Riten und Gebräuche über-

 „Niemand kann uns unseren/den/ Gesichtsraum näher kennen lehren. Aber wir können seine sprachliche Darstellung übersehen lernen.“ (MS 110: 98; TS 211: 194.)  „Die Oktaeder-Darstellung ist eine ü b e r s i c h t l i c h e Darstellung der grammatischen Regeln. | Unserer Grammatik fehlt es vor allem an Ü b e r s i c h t l i c h k e i t .“ (TS 209: 1; vgl. MS 108: 89, 23. Februar 1930). Der zweite dieser Sätze kommt noch in PU, § 122 vor.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

193

sichtlich darzustellen, also Handlungen, und zwar ohne Frazers intellektualistische Voreingenommenheit. Der vergleichenden Methode der evolutionären Ethnologie steht hier eine Art morphologische Betrachtung religiöser Gebräuche gegenüber. In diesem Zusammenhang notiert Wittgenstein eine methodologische Überlegung, die schließlich den Weg in die Philosophischen Untersuchungen finden wird. Der ersten Fassung in MS 110 geht die programmatische Erklärung voran, dass die „Idee“, das „geheime Gesetz“ der von Frazer beschriebenen religiösen Zeremonien, „durch die Gruppierung des Tatsachen-Materials allein, in einer ü b e r s i c h t l i c h e n Darstellung“, ausgedrückt werden kann. Anschließend heißt es: Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art wie wir die Dinge sehen. (Eine Art der „Weltanschauung“ wie sie scheinbar für unsere Zeit typisch ist. Spengler.) (MS 110: 257)²⁸⁸

Die übersichtliche Darstellung wird hier nicht als eine Methode bezeichnet, sondern als eine „Darstellungsform“ und als „die Art wie wir die Dinge sehen“. Die erste Skizze geht offenbar noch davon aus, dass wir diese Art, die Dinge zu sehen und darzustellen, eine „Art der ‚Weltanschauung’“ nennen dürfen, und dass der „Begriff“ der übersichtlichen Darstellung für eine ‚Weltanschauung‘ steht, wenn auch nur für eine in Anführungszeichen.²⁸⁹ Einiges spricht dafür, dass das Typische hier nicht bloßer Schein ist: Wittgenstein sieht offenbar eine echte Verwandtschaft zwischen sich und Spengler, aber auch anderen ‚charakteristischen‘ Gestalten der Epoche.²⁹⁰ Nicht nur Frazers Form der Darstellung, auch der eigene, entgegensetzte, Vorschlag scheint dem Philosophen nämlich historisch und kulturell situiert. Mit dieser Historisierungstendenz folgt er Spengler, der die eigene Kulturbetrachtung ebenfalls als kulturell und epochal bedingte „Weltanschauung“ versteht.

 Zu dieser ‚Vorstufe‘ von PU, § 122 und zur ‚übersichtlichen Darstellung‘ im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough vgl. Clack 1999: 54; Eldridge 1987; Hacker 1992; Rothhaupt 1996: 190 ff.; Brusotti 2000: 48 ff.; Puhl 2006: 33 ff.; Majetschak 2012: 228 ff. Zur übersichtlichen Darstellung vgl. außerdem Baker/Hacker 1980b: 533 – 545; Baker 1991; Kroß 1993; Puhl 2006; Iacono 2011. Zum unscharfen Familienbegriff „Übersicht“/„übersichtlich“ in Wittgensteins Reflexionen über Mathematik vgl. Floyd 2000, insbes. S. 236 ff.; Mühlhölzer 2010, insbes. S. 103 ff., 573 ff.  Wittgenstein, bei dem ‚Weltanschauung‘ zum ersten Mal im Mai 1916 belegt ist, scheint dem Begriff spätestens 1915 große Bedeutung beigemessen zu haben. Vgl. Hermine Wittgensteins Brief an ihn vom 3.11.1915, in CF 1996: 26; vgl. auch HW 2006: 62, Anm. 5.  Siehe dazu oben S. 31 u. vgl. MS 183: 29 (9.5.1930).

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Die Philosophischen Untersuchungen weisen nicht mehr auf Spengler hin und fragen nur noch: „Ist dies eine ‚Weltanschauung’?“ (PU, § 122)²⁹¹ Die Frage ist berechtigt; denn Inhalt und Tragweite der Bemerkung sind nicht mehr dieselben wie Anfang der dreißiger Jahre; zwar bleibt der Wortlaut ähnlich, aber der Kontext hat sich gravierend geändert, nicht nur der intratextuelle, die Stellung im Manuskript, sondern auch der kulturelle. Die übersichtliche Darstellung als eine Weltanschauung einzuführen, hieß 1931, sie von der wissenschaftlichen Weltauffassung des Wiener Kreises abzuheben. Wittgenstein lehnte den Wiener Begriff einer den metaphysisch-religiösen ‚Weltanschauungen‘ entgegengesetzten ‚Weltauffassung‘ ab; dementsprechend betrachtete er den Gegensatz zwischen sich und dem Kreis als einen zwischen divergierenden Weltanschauungen.²⁹² Explizit hatte Wittgenstein im Herbst 1930 das eigene „Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit jeder möglichen Struktur/welcher Struktur immer/“ dem Hauptstrom „der europäischen und amerikanischen Kultur Zivilisation“ (MS 109: 211) gegenübergestellt. Ein Vorwort-Fragment bemerkte zum Geist des geplanten Buches, „[d]aß diese Zivilisation vielleicht die notwendige Umgebung dieses Geistes ist aber daß sie verschiedene Ziele haben.“ (MS 109: 209) Das Manifest des Wiener Kreises hatte versucht, mit seiner szientistischen Grundtendenz einige an Wittgensteins Abhandlung angelehnte Gedankengänge zu verbinden.²⁹³ Wittgensteins Vorwort wollte den Anschein der Nähe zerstreuen: Deshalb lässt der Phi-

 Zu einigen Überlegungen darüber, ob diese Frage nur eine rhetorische ist, vgl. Baker 2004a: 51. Zum ‚typischen‘ Charakter von Wittgensteins ‚Weltanschauung‘ vgl. auch seine und Hackers frühere Analyse in: Baker/Hacker 1980a: 547.  Auf den Gegensatz „von wissenschaftlicher We l t ‚ a u f f a s s u n g ‘ und philosophischer ‚ We l t ‘ a n s c h a u u n g ‘ “ insistiert insbesondere Neurath (1930: 107). Vgl. dazu Brusotti 2011 u. siehe auch oben S. 134, Anm. 172.  Die wissenschaftliche Weltauffassung – so das Manifest des Wiener Kreises in (zweifelhafter) Anlehnung an Wittgensteins Abhandlung – „ist nicht so sehr durch eigene Thesen charakterisiert als vielmehr durch die grundsätzliche Einstellung, die Gesichtspunkte, die Forschungsrichtung“ (Neurath 1979b: 86); sie „kennt k e i n e u n l ö s b a r e n R ä t s e l “ (Neurath 1979b: 87), sie sieht „die Aufgabe der philosophischen Arbeit“ nicht „in der Aufstellung eigener ‚philosophischen‘ Aussagen“, sondern in der „Klärung von Problemen und Aussagen“ (Neurath 1979b: 87). Andrerseits, und das bildet für Wittgenstein einen Stein des Anstoßes, „geht“ die wissenschaftliche Weltauffassung Neuraths erstem Artikel für die Erkenntnis (1930) zufolge „stets vom Einzelnen aus, sie fasst es mit Gleichartigem zusammen zu größeren, übersichtlichen Komplexen“ (Neurath 1930: 107), d. h., sie will „E i n z e l f o r s c h u n g e n“ „einer E i n h e i t s w i s s e n s c h a f t eingliedern“ (Neurath 1930: 107). Während unter „Weltanschauung“ die „Erfassung eines gewaltigen Weltbildes in seiner Totalität“ zu verstehen sei, „kennt“ die Weltauffassung „keine ‚Welt‘ als Ganzes“; hier ist „mit ‚Welt‘ nicht ein abgeschlossenes Ganzes gemeint, sondern das täglich wachsende Gebiet der Wissenschaft.“ (Neurath 1930: 107) – Vgl. Hilmy 1987, Anm. 490: 307, und v. a. Anm. 494: 307 ff.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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losoph die Gedanken der Abhandlung vielfach anklingen und arbeitet den Gegensatz zum Wiener Konzept der ‚Weltauffassung‘ heraus.²⁹⁴ Jenem „großen Strom[]“ mit seiner wissenschaftlichen Weltauffassung sei Klarheit nur ein Mittel, immer komplexere Gebilde aufzubauen; ihm selbst, Wittgenstein, sei „die Klarheit die Durchsichtigkeit“ dagegen „Selbstzweck“: „Es interessiert mich nicht ein Gebäude aufzuführen sondern die Grundlagen der möglichen Gebäude durchsichtig vor mir zu haben.“ (MS 109: 207)²⁹⁵ Der Geist seines Buches äußere sich „in einem Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit jeder möglichen Struktur/welcher Struktur immer/.“ (MS 109: 211) Deshalb könne er „von dem typischen westlichen Wissenschaftler“ (MS 109: 206) nicht verstanden werden. Die Zivilisation wolle „die Welt durch ihre Peripherie – in ihrer Mannigfaltigkeit – erfassen“, sein Buch dagegen „in ihrem Zentrum – ihrem Wesen“ (MS 109: 211). Sein Geist bleibe dementsprechend dort, wo er sei, und wolle „immer dasselbe erfassen“ (MS 109: 212). Ist Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazer noch durch diesen Gegensatz geprägt? Drury sieht es so. Frazer betrachte „clarity as something to serve as further elaboration“ (Drury 1973: x f.), für Wittgenstein sei Klarheit dagegen ein Ziel („a goal“). Die Absicht, die Welt nicht „in ihrer Mannigfaltigkeit“, sondern in ihrem offenbar immer gleichen „Zentrum“, „ihrem Wesen“, zu erfassen, scheint jedoch zu einer ethnologischen Betrachtungsweise nicht recht zu passen. Hat die neue morphologische Variante der übersichtlichen Darstellung, die Wittgenstein im Juni-Juli 1931 formuliert, wirklich noch dasselbe Anliegen wie die früheren Skizzen einer Vorrede? Inwiefern er in der Zwischenzeit weitergekommen ist, soll die nun folgende Rekonstruktion zeigen. Auf jeden Fall gelangt er zweifellos erst viel später, und zwar nach wiederholtem Austausch mit Sraffa, zu seiner ethnologischen Betrachtungsweise.

2.2.1.2 Die „Oktaeder-Darstellung“ Das Paradigma einer „ü b e r s i c h t l i c h e [ n ] Darstellung der grammatischen Regeln“ (TS 209: 1; vgl. MS 108: 89) ist 1930 das Farben-Oktaeder.²⁹⁶ Wittgenstein wehrt gleich ein Missverständnis ab: „Die Oktaeder-Darstellung“ ist keine empirische Beschreibung. Wenn ich mich frage, ob das Oktaeder meine Farbwahr-

 Von einem ‚Geist‘ – vom „G e i s t w i s s e n s c h a f t l i c h e r We l t a u f f a s s u n g “ (Neurath 1979b: 81; vgl. S. 101) – redet übrigens auch das Manifest des Wiener Kreises.  Der „Mathematiker der Zukunft“ wird „mehr auf die absolute Klarheit als auf ein/das/ Erfinden neuer Spiele bedacht sein“ (MS 113: 22 r). Er wird insofern eher mit Wittgenstein verwandt sein als mit dem „bürgerliche[n] Denker“ (MS 112: 70v) Ramsey.  Zum Oktaeder vgl. Lampert 2000, insbes. S. 119 ff.; Baker 1991: 36 f.

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nehmung wiedergibt, führe ich kein introspektives psychologisches Experiment durch, mit dem ich im Selbstversuch eine (im Oktaeder formalisierte) wissenschaftliche Theorie prüfe. Das Oktaeder stellt keine wahrnehmungspsychologischen Sachverhalte dar, sondern grammatische Regeln. Die Untersuchung ist eine begriffliche und keine empirische. Das Oktaeder steht nicht für ein ‚Gedankenexperiment‘. Oder: Was Mach so nennt, ist in Wirklichkeit kein Experiment, sondern eine grammatische Betrachtung. Das Oktaeder ist für Wittgenstein wie eine ‚Rechnung‘.²⁹⁷ Bei einer empirischen Frage würde ein ‚Gedankenexperiment‘ nicht reichen: Das Experiment müsste wirklich durchgeführt werden und nicht bloß in Gedanken – auch in der Psychologie. Die „Oktaeder-Darstellung“ (TS 209: 1; vgl. MS 108: 89) macht lediglich einen begrenzten Sprachbereich übersichtlich, die Verwendung der Farbwörter. Für die Regeln weiterer Sprachbereiche sind andersartige Darstellungen denkbar. Aber die ‚Grammatik‘ einer natürlichen Sprache vollständig zu überschauen, ist schon 1930 nicht Wittgensteins Anliegen. Trotzdem sieht die Aufgabe einer übersichtlichen Darstellung der grammatischen Regeln damals noch anders aus als später.²⁹⁸ Die Vagheit, Vieldeutigkeit, die Frege und Russell an der Alltagssprache bemängeln, kennzeichnet in der Abhandlung nur die Oberflächengrammatik, nicht die Tiefenstruktur. 1930 ist diese frühe ‚Kalkülauffassung‘ der Sprache schon in die Krise geraten: Eine Vielheit von Kalkülen hat den einen Kalkül aller möglichen Sprachen abgelöst. Aber Wittgenstein geht noch von Kalkülen nach strengen Regeln aus. In seiner Absicht stellt das Oktaeder alle strikten grammatischen Regeln übersichtlich dar, die einen scharf abgegrenzten Sprachbereich bestimmen. In seiner späteren Philosophie ist an eine solche erschöpfende Darstellung

 „In der Vorstellung“ könne man „rechnen, aber nicht experimentieren“ (MS 117: 88; BGM: 73). – Wittgenstein erklärt manchmal, es gebe keine ‚Gedankenexperimente‘, manchmal wiederum, Gedankenexperimente seien eben keine Experimente. Hier wie dort will er auf dasselbe hinaus: Machs Ausdruck ‚Gedankenexperiment‘ führe dazu, psychologische Experimente und grammatische Betrachtungen zu vermengen. Es bestehe nämlich die Versuchung, beide ‚Gedankenexperiment‘ zu nennen.  „Die Untersuchung der Regeln des Gebrauchs unserer Sprache, die Erkenntnis dieser Regeln und übersichtliche Darstellung läuft auf das hinaus, d. h., leistet dasselbe, was man oft durch die Konstruktion einer phänomenologischen Sprache leisten/erzielen/ will. | Jedesmal wenn wir erkennen, daß die und die Darstellungsweise auch durch eine andre ersetzt werden kann, machen wir einen Schritt zu diesem Ziel.“ (MS 114: 14r, 14v) Es geht also darum, eine Darstellungsweise bzw. eine Notation durch eine andere, übersichtlichere zu ersetzen: Jede Zeichenerklärung setzt Zeichen an die Stelle anderer Zeichen (siehe dazu oben S. 7 f., 41 ff.). – Diese Aufzeichnung vom 1. Juni 1932 reformuliert eine Reflexion vom 25. November 1930 (MS 107: 205 f.; vgl. PB: 51). Vgl. auch den Titel von § 94 des Big Typescript „P h ä n o m e n o l o g i e i s t G r a m m a t i k “ (TS 213: 437).

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auch nur eines beschränkten Sprachbereichs nicht mehr zu denken. Schon bald reinterpretiert er die Oktaeder-Darstellung als vereinfachende Schematisierung: Das Farbenoktaeder ist „eine übersichtliche Darstellung gewisser grammatischer Regeln für die Farbbezeichnungen, hebt aber die Regeln nicht auf. Er [sic] vereinfacht nur die Regeln und g e s t a l t e t s i e ü b e r s i c h t l i c h e r.“ (VW: 134; vgl. S. 142.)²⁹⁹ Ein bei Frazer beschriebener Fall, der „Kornwolf“, macht Wittgenstein bei seiner ersten Lektüre des Golden Bough auf die „Wandlungen der Bedeutung“ aufmerksam. Nicht zuletzt diese Wandlungen legen ein anderes Bild der Sprache nahe als das eines Kalküls nach strikten Regeln. Kurz darauf wird der Philosoph darauf aufmerksam, dass die Begriffe der Alltagsprache ‚vage‘, ‚unscharf‘ sind. (Er kritisiert dabei allerdings „eine falsche Verwendung des Wortes ‚unscharf’“, „in einem Fall nämlich wo kein ‚scharf‘ denkbar ist.“ MS 111: 88.Vgl. TS 211: 51 f.)³⁰⁰ Es fällt ins Auge, dass Wittgenstein seine Beispiele – „Pflanze“,³⁰¹ „Blatt“, „Stiel“ – der Botanik entnimmt: eine weitere Spur seiner Rezeption von Goethes Morphologie (eher als eine Anspielung auf Frazers goldenen Zweig oder etwa auf den Kornwolf). Die Regeln der Verwendung ‚unscharfer‘ Begriffe sind nicht fest abgegrenzt. Selbst die des Regelbegriffs sind es nicht: „‚Regel‘ ist in dem selben Sinne ein Begriff mit verschwommenen Rändern, wie ‚Blatt‘ oder ‚Stiel‘ oder ‚Tisch‘, etc..“ (MS 113: 29r; vgl. MS 113: 30v) Es kommt hier darauf an, keine „Dogmen aufzustellen“, d. h. keine „naturnotwendige[n] Sätze über alle möglichen Regeln“ (MS 111: 87; TS 211: 51; TS 213: 250). Letzten Endes will Wittgenstein den Regelbegriff nur ad hoc benutzen, d. h. nur, um gegebenenfalls den Unterschied zwischen einer Regel und einem Gebilde, das keine Regel ist, zu markieren, z. B. einem Erfahrungssatz. Vermeintlich ‚metalogische‘ Begriffe wie ‚Regel‘ gehören ebenfalls zur Alltagssprache; sie sind unübersichtlich, weil sie verschwommene Ränder haben, und vor allem, weil sie Familienbegriffe sind. Reflexionen wie diejenige über den ‚Kornwolf‘ bahnen die neue Betrachtungsweise lediglich an. Die genannten Einsichten in die Natur alltagssprachlicher Begriffe erlangt Wittgenstein erst später, d. h., erst nach seiner ersten Aus-

 Ist die Bedeutung eine mentale Entität, aus der die Regeln folgen? Wittgenstein hatte es zuerst postuliert, später jedoch – z. B. in dem im Text zitierten Diktat – weist er diese Auffassung entschieden zurück; diese mentale Entität, die Wittgenstein nun ‚Bedeutungskörper‘ nennt, sei eine grammatische Täuschüng. Die Regeln machen die Bedeutung aus und folgen nicht aus ihr, d. h., sie entstammen keinem phantomatischen mentalistischen ‚Bedeutungskörper‘.  Dasselbe gilt natürlich für ‚vage‘. Zu den „Wandlungen der Bedeutung“ und zum „Kornwolf“ siehe oben S. 99 ff.  Vgl. die lange Erläuterung in MS 111: 87 ff.

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einandersetzung mit dem Golden Bough im Manuskript MS 110. Aber bereits in diesem kulturphilosophischen Kontext wandelt sich die Form der Darstellung in eine an Goethe angelehnte morphologische; sie soll in MS 110 die „Idee“ oder das „geheime Gesetz“ der im Golden Bough zusammengestellten Zeremonien sichtbar machen. Die Oktaeder-Darstellung war als eine ‚grammatische‘ gemeint, d. h., nicht als eine psychophysiologische Hypothese, sondern als ein Modell, das die Verwendung der Farbwörter übersichtlich darstellt. Eigentlich versteht Wittgenstein auch die Betrachtung von 1931 als eine ‚grammatische‘: als eine über die passende „Form der Darstellung“ für Gebräuche und Gepflogenheiten.³⁰² Bald bezieht er auch diese ‚morphologische‘ Betrachtung auf die Sprache. Beim Diktieren aus dem Manuskript MS 110 in die Maschinenschrift TS 211 verschiebt er zwei der drei Bemerkungen über die übersichtliche Darstellung.³⁰³ In TS 211 sind auch sprachliche und sprachähnliche Vorgänge übersichtlich darzustellen: die „Wandlungen der Bedeutung“, die wir in Erscheinungen wie dem „Kornwolf“, aber auch „noch in unserer Wortsprache vor uns“ haben (TS 211: 281). In die spätere Maschinenschrift TS 212 werden die meisten Bemerkungen zum Golden Bough nicht aufgenommen; die zwei genannten zur übersichtlichen Darstellung werden dagegen erneut verschoben. Sie stehen – wie dann ebenfalls im Big Typescript – in keinem Zusammenhang mehr mit dem Golden Bough. Auch diese neue, ‚morphologische‘ Variante übersichtlicher Darstellung hat nun explizit das Anliegen, die „philosophischen Probleme“ (TS 212: 1141; vgl. TS 212: 1143 f.; vgl. TS 213: 417) aufzulösen.³⁰⁴

 „Nothing other than descriptions of grammar are even candidates for being called ‘perspicuous representations’. Consequently, there is no possibility of identifying […] any observation about a religious ritual […] as a ‘perspicuous representation’.“ (Baker 2004a: 27 f.) Dies gilt nur bedingt für die Aufzeichnungen in MS 110. Zwar sind auch hier mit ‚übersichtlicher Darstellung‘ keine empirischen Bemerkungen und überhaupt keine Einzelbemerkungen gemeint, aber doch die ‚morphologische‘ Synopse jener Rituale.  Wittgenstein stellte die meisten Bemerkungen über den Golden Bough im Zentralteil von TS 211 zusammen. Zwei Notate zur übersichtlichen Darstellung gerieten jedoch an eine andere Stelle.  Im TS 220, und erst hier, wurden die zwei genannten Aufzeichnungen mit der ebenfalls bereits angeführten früheren über die Unübersichtlichkeit der Grammatik zusammengestellt (vgl. TS 220: 80 f.). Dabei bleibt es noch in den Philosophischen Untersuchungen (vgl. PU, § 122). Weitere Fassungen dieses Notats finden sich dann im Manuskript MS 142: 107, sowie in den Typoskripten TS 227a: 88, TS 227b: 88, TS 238: 8, TS 239: 82.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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2.2.1.3 „Vielleicht treffen unsere Einwände überhaupt nicht den Inhalt des entworfenen Bildes, sondern nur die Form der Darstellung dieses Inhalts“ „Es kann einem Buch ein Mißverständnis seiner Funktion und Bedeutung zugrunde liegen, auch wenn es sonst keine Mißverständnisse enthält.“ (MS 136: 138b) Der Golden Bough ist hier nicht gemeint, und mit Frazers Buch steht es eigentlich noch schlimmer, da es auch sonst ‚Missverständnisse enthält‘. Auf jeden Fall zählt Wittgenstein auch den Golden Bough zu den Werken, die von einem gründlichen Missverständnis ihrer „Funktion und Bedeutung“ ihren Ausgang nehmen. Ein Satz aus Heinrich Hertz’ Prinzipien der Mechanik, dem Wittgenstein höchste Bedeutung beimisst, könnte das Motto auch seiner Auseinandersetzung mit Frazer abgeben: „‚Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche sie erwartet‘ (p. 9, Einleitung, D i e P r i n z i p i e n d e r M e c h a n i k ).“ (D 310: 143; BBB: 169)³⁰⁵ Falsch ist für Hertz die Art von Antwort, die den Theoretikern vorschwebt; gerade bei der ‚Kraft‘ (oder bei der ‚Elektrizität‘) gehen sie der Frage nach dem ‚Wesen‘ nach, einer unbeantwortbaren Frage, die sie sonst nie stellen. Der Fehler liegt also bereits darin, dass sie nach einem rätselhaften ‚Wesen‘ suchen. Denn nur wer nicht mehr nach dem ‚Wesen‘ der Kraft fragt, wird die Prinzipien der Mechanik widerspruchslos aufstellen können. „Kraft“ (oder auch ‚Elektrizität‘) ist nämlich ein „Zeichen“, auf das „man mehr Beziehungen aufgehäuft , als sich völlig mit einander vertragen“ (Hertz 1894: 9); das dunkle Gefühl der Unverträglichkeit, der „unklare[] Wunsch“ nach Auflösung der Widersprüche äußert sich „in der unklaren Frage nach dem Wesen von Kraft und Elektricität“ (Hertz 1894: 9). Die Unklarheit ist hier allerdings „[n]icht durch die Erkenntnis von neuen und mehreren Beziehungen und Verknüpfungen“ zu lösen, „sondern durch die Entfernung der Widersprüche unter den vorhandenen, vielleicht also durch Verminderung der vorhandenen Beziehungen. Sind diese schmerzenden Widersprüche entfernt, so ist zwar nicht die Frage nach dem Wesen beantwortet, aber der nicht mehr gequälte Geist hört auf, die für ihn unberechtigte Frage zu stellen.“ (Hertz 1894: 9) Hertz’ Lösung ist eine Mechanik, in der ‚Kraft‘ (und auch ‚Energie‘) „als selbständige Grundvorstellung beseitigt“ (Hertz 1894: 29) wird. Der „Begriff der Kraft“ zählt dann nicht mehr zu den Grundbegriffen. Er wird erst im weiteren Verlauf des Buches eingeführt: „als eine mathematische Hilfskonstruktion, deren Eigenschaften wir völlig in unserer Gewalt haben, und welche also auch für uns nichts Räthselhaftes an sich haben kann.“ (Hertz 1894: 33) Diese Mechanik erfüllt den unklaren Wunsch nach Klarheit, aber nicht, indem sie neue oder richtigere em-

 Zu Wittgenstein und Hertz vgl. u. a. Hacker 1986: 2 ff.; vgl. auch Hyder 2002; Kjaergaard 2002.

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pirische Daten beisteuert, sondern indem sie die Widersprüche unter den vorhandenen beseitigt. „Vielleicht treffen unsere Einwände überhaupt nicht den Inhalt des entworfenen Bildes, sondern nur die Form der Darstellung dieses Inhalts.“ (Hertz 1894: 10) Hertz zufolge hat die zeitgenössische Mechanik keine empirischen Lücken mehr; „die vorhandenen Lücken nur Lücken der Form“, keine des Inhalts; „und durch geeignete Anordnung der Definitionen, Bezeichnungen und weiter durch vorsichtige Ausdrucksweise jede Unklarheit und Unsicherheit vermieden werden“ (Hertz 1894: 10). Hertz sucht also nach einer neuen „Form der Darstellung“, die keine Lücken mehr aufweist: Wenn die Mechanik das Bekannte nur richtig zusammenstellt, braucht sie sich nicht mehr auf etwas zu beziehen, wovon sie kaum etwas weiß und wissen kann. Aus diesem Grund stellt die heutige Physik „ihre Betrachtungen in der Ausdrucksweise der Energielehre“ an, d. h. eben, „weil sie es auf diese Weise am besten vermeidet, von Dingen zu reden, von welchen sie sehr wenig weiss und welche auf die wesentlich beabsichtigten Aussagen auch keinen Einfluss haben.“ (Hertz 1894: 21) Hertz ist kein Vertreter der „Energielehre“, er sucht nach einer anderen Ausdrucksweise, hat aber dasselbe Anliegen. Unberechtigte Frage und irreführende Form der Darstellung gehören zusammen. Die unberechtigte Frage nach dem ‚Wesen‘ stellt sich nicht mehr, wenn eine neue Form der Darstellung gefunden wird, in der etwas wie das ‚Wesen‘ (der Kraft) nicht mehr vorkommt; dann löst sich die falsche Frage in der widerspruchslosen Aufstellung der Prinzipien der Mechanik auf. Von Hertz lernt Wittgenstein, dass die Art des Suchens oft nicht zu dem passt, was man wirklich finden kann. Auch Philosophen müssen sich als erstes dem „misleading influence of the question“ (D 310: 143) entziehen: Diese Lehre zieht Wittgenstein aus Hertz’ Einleitung. Die falsch gestellte Frage verleitet nicht einfach zu einem Irrtum, sie täuscht über „die Methode ihrer Beantwortung“: „Der Sinn einer Frage ist die Methode ihrer Beantwortung: […] Sage mir w i e du suchst und ich werde dir sagen w a s du suchst.“ (TS 209: 10; MS 107: 244.) Es gilt hier mutatis mutandis dasselbe wie bei einem Satz: Die genaue Methode, durch die eine Frage zu beantworten ist, muss man ebenso wenig kennen wie das genaue Verfahren, wodurch sich entscheiden ließe, ob ein Satz wahr oder falsch ist. Aber wer wirklich keine Ahnung hat, verfehlt den Sinn des Satzes bzw. der Frage; wer nicht einmal ahnt, durch welche Art von Methode eine Frage zu beantworten wäre, ob durch eine empirische oder durch eine begriffliche, versteht die Frage sicher nicht. Wittgenstein denkt hier nicht primär an erfahrungswissenschaftliche Probleme, sondern an typisch philosophische wie „meinen zwei Menschen wirklich dasselbe mit dem Wort ‚weiß’?“ (TS 209: 10; MS 107: 244).

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Gerade philosophische Probleme begleitet ein systematischer Irrtum über die Methode ihrer Auflösung. Diese falsche Erwartung definiert die Metaphysik und macht aus ihr eine ‚Art der Magie‘: Auf begriffliche Missverständnisse, die nur durch begriffliche Erläuterungen aufzulösen wären, erwartet die Metaphysik ‚sachliche‘, ‚gehaltvolle‘ Antworten, ‚Theorien‘ über (etwa psychologische) Vorgänge und Entitäten.³⁰⁶ Eine verwandte falsche Erwartung kennzeichnet Wittgenstein zufolge naturalistische Ansätze: Die Kausaltheorie der Bedeutung etwa bietet eine hypothetische Kausalerklärung dort, wo eine Zeichenerklärung nötig wäre, eine ‚grammatische‘ Erläuterung, ein Grund. Wiederum suggeriert Mach, seine ‚Gedankenexperimente‘ seien eine besondere Gattung ‚echter‘ Experimente. Derlei Missverständnisse aufzuspüren ist ein Hauptanliegen Wittgensteins – und seiner Auseinandersetzung mit Frazer.

2.2.1.4 „Es kann einem Buch ein Mißverständnis seiner Funktion und Bedeutung zugrunde liegen“ Hertz’ Prinzipien schlagen im Wesentlichen eine neue „Form der Darstellung“ für die Mechanik vor. Um die „Form der Darstellung“ dreht sich auch Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Golden Bough: Seine Einwände – dürfte man mit Hertz sagen – treffen im Wesentlichen „nicht den Inhalt des entworfenen Bildes, sondern nur die Form der Darstellung dieses Inhalts.“ (Hertz 1894: 10) Bei Wittgenstein „bezeichnet“ „der Begriff der übersichtlichen Darstellung“ „unsere Darstellungsform“ (MS 110: 257); und er erhebt eher gegen Frazers Form der Darstellung Einspruch als gegen spezifische empirische Irrtümer: Die Art, wie im Golden Bough jene Gebräuche „dargestellt werden“, scheint Wittgenstein „merkwürdig“ (MS 110: 178; TS 211: 313) und sogar „Unsinn“ (MS 110: 198; TS 211: 320); „Frazers Darstellung“, und wie sie jene Anschauungen „erscheinen “, findet er „unbefriedigend“ (MS 110:178;TS 211: 313); dessen Beschreibungen haben etwas „abergläubisches oder magisches an sich“ (MS 110: 205; TS 211: 251), d. h., es geht nicht (einfach) darum, ob sie empirisch falsch sind.³⁰⁷ Wittgenstein will also die ‚Grammatik‘ von Frazers Betrachtung unter die Lupe nehmen und nicht ihren empirischen Gehalt. Frazers Beschreibungen sind irreführend, auch insofern sie die Form von Kausalerklärungen haben und nicht von Zeichenerklärungen. Der schottische Ethnologe verwechselt nämlich eine andersartige ‚Schwierigkeit‘ mit einer empirischen. Hauptsächlich um diese Diagnose geht es in der kontroversen Rezep-

 Vgl. TS 213: 414 f. Zur Metaphysik als einer Art der Magie siehe oben S. 74 ff.  In PU, § 110 unterscheidet Wittgenstein zwischen Irrtum und Aberglauben.

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tion von Wittgensteins ‚Bemerkungen über Frazers Golden Bough‘. Gegen den Philosophen wurde nämlich eingewandt, die Fragestellung sei doch wirklich eine empirische, historisch-ethnologische, weshalb eine rein formale Betrachtung inadäquat sei.³⁰⁸ Redet Wittgenstein also einer Ethnologie in Gedanken das Wort? Jagt er einem ähnlichen Gespenst nach wie der von ihm kritisierte Mach, dessen unglücklicher Ausdruck ‚Gedankenexperiment‘ etwas wie eine Physik in Gedanken suggeriert? Wer verwechselt hier etwas? Und was genau? Frazer wählt – so Wittgensteins Diagnose – eine unangemessene Form der Darstellung, weil er die eigene Grundfrage missversteht. Auch im Golden Bough, nicht nur in der Mechanik, „irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche sie erwartet“ (Hertz 1984: 9). Renan deutet – Wittgenstein bemängelt es bereits im Herbst 1930 – die Verwunderung der Primitiven angesichts der Naturgewalten falsch: als Furcht vor Erscheinungen, deren Ursache unbekannt ist.³⁰⁹ Frazer geht hierin noch weiter. Er verfehlt nicht nur seinen Forschungsgegenstand, d. h. seine ‚savages‘, sondern auf ähnliche Weise auch und vor allem sich selbst und die eigene Verwunderung über die merkwürdige Regel in Nemi.³¹⁰ Er verwechselt die eigene Einstellung mit einer rein theoretischen: Was er als historisches Problem darstellt, das eine kausale, entstehungsgeschichtliche Antwort ‚erwartet‘, ist eigentlich eine  Diese Kritik formulieren schon Rudich und Stassen (1971). Auch für Cioffi, der eine differenziertere Analyse vorlegt, redet Wittgenstein einer unwissenschaftlichen Methode das Wort, der zufolge ethnologische Phänomene auch ohne empirische Erklärung verständlich seien. Cioffi, der darin einen „method obscurantism“ (Cioffi 1998: 183) sieht, lastet dem Philosophen zwei weitere Formen von ‚Obskurantismus‘ an: Die fraglichen Phänomene seien Wittgenstein zufolge ‚beyond explanation‘; er unterschätze damit die Tragweite wissenschaftlicher Forschung (limits obscurantism). Der Geist seiner Betrachtung sei im Ganzen wissenschaftsfeindlich (sensibility obscurantism). Der letztere Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen, und bei den Bemerkungen vom Juni-Juli 1931 (MS 110) weniger abwegig als bei den wesentlich späteren (MS 143). Zu einer ausführlichen Stellungnahme gegen Cioffis Kritikpunkte vgl. Hacker 1992.  Siehe dazu oben S. 45 f.  In diesem Sinn wendet Redding gegen Cioffi ein: „Frazer does […] not so much ask the w r o n g question as misinterpret the nature of his own question“ (Redding 1987: 264, Anm. 12). So auf jeden Fall lese Wittgenstein den Golden Bough. Auch für Cioffi meint der Philosoph „that Frazer inadvertently reveals that what he really sought was clarification via the attainment of a perspicuous view“ (Cioffi 1998: 9), und – so Cioffi – nichts spreche für diese psychologische Diagnose. Es trifft auch zu, dass Wittgenstein 1931 seine eigenen Sorgen und Anliegen auf den Autor des Golden Bough projiziert. Insofern ist Cioffi nicht im Unrecht. Aber der Philosoph gibt nicht nur (und nicht hauptsächlich) eine – fragwürdige – psychologische Diagnose. Dass Frazer seine Frage missversteht, erkennt man Wittgenstein zufolge daran, dass die Antworten des Ethnologen nur scheinbar Kausalerklärungen sind: Sie sehen zwar so aus, Frazer formuliert sie so, aber sie sind in Wirklichkeit Zeichenerklärungen, Erläuterungen, Übersetzungen, die einem bestimmten Leserkreis das Geschehen näher bringen, plausibel machen wollen. Dieser Einwand ist ein logischer und kein psychologischer.

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‚Schwierigkeit‘ ganz anderer Art: keine empirische Frage, aber auch nicht primär eine begriffliche, ‚theoretische‘ Schwierigkeit wie diejenigen der Philosophie. Wittgenstein diagnostiziert eher eine ‚ethische‘ Beunruhigung. Frazer überkommt beim Priesterkönig ein Gefühl des Unheimlichen, und er nimmt diese tiefe Unruhe für ein Verlangen nach wissenschaftlicher (kausaler) Erklärung. Wittgenstein hätte den Unterschied, den er hier markieren möchte, auch anders formulieren können, etwa als einen zwischen zwei Bedeutungen des Wortes ‚geheimnisvoll‘: Jener seltsame Brauch ist ‚rätselhaft‘, aber nicht in dem Sinn, dass seine Ursachen unbekannt sind; der Ritus ist vielmehr ‚verstörend‘, ‚unheimlich‘, er beeindruckt, befremdet und beunruhigt den Autor und seine Leser. Es kommt zu einem „Gedränge der Gedanken“, das nach einer ordnenden Zusammenstellung verlangt.³¹¹ Es geht insofern ähnlich zu wie in der Philosophie.³¹² Diese Deutung des Golden Bough unterscheidet Wittgenstein von den anderen Frazer-Kritikern. Zwar hatten Ethnologen wie Marett oder Mauss schon früh Frazers Erklärungsstil kritisiert: dessen historische Erklärungen ethnologischer Phänomene durch ‚Überlebsel‘ (survivals), durch Meinungen, durch Assoziationen.Wittgenstein will jedoch auf eine grundsätzlichere Kritik hinaus. In ethischen Dingen würde er jede Theorie „ablehnen, und zwar nicht darum, weil die Erklärung falsch ist, sondern weil sie eine E r k l ä r u n g ist.“ (WWK: 116; 17.12.1930) Frazers Erklärungen lehnt er aus demselben Grund ab, also nicht nur,weil sie allzu grob, ja falsch sind. Wittgenstein bestreitet 1931 nicht nur die intellektualistische These, dass Riten aus Theorien hervorgehen. Denn er verneint nicht nur eine bestimmte Art von Ursache, nämlich Meinungen oder Theorien. Auf alternative Ätiologien kommt es nicht an. Ihm zufolge sind Riten überhaupt nicht kausal zu erklären. Man kann und soll sie lediglich beschreiben. Nun lassen sich aber kausalen Erklärungen unterschiedliche Arten von Beschreibung entgegenstellen. Der Gegensatz nimmt dann jeweils eine andere Valenz an. Clifford Geertz‘ (Ryle abgeschaute) ‚dichte Beschreibungen‘ etwa wollen zwar keine kausalen Zusammenhänge zu Tage fördern. Aber für sie gelten doch empirische Kriterien, wenn auch in sehr weitem Sinn, und ihr Anliegen ist die Überwindung kultureller Distanz.³¹³ Wittgenstein nimmt sich Anfang der dreißiger Jahre etwas anderes vor, er setzt ja das eigene Reden „in der ersten Person“ (WWK: 116) von einer „Beschreibung der Soziologie“

 „Das Gedränge der Gedanken, die nicht herauskönnen, weil (sie) sich alle vordrängen wollen und so am Ausgang verkeilen.“ (MS 110: 181; TS 211: 315)  „Wenn ich dies frage, melden sich hundert Gründe, die einander kaum zu Wort kommen lassen wollen.“ (PU, § 478)  Zur Überwindung kultureller Distanz siehe unten S. 310 f.

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(WWK: 118; 17.12.1930) ab, und für seine Beschreibungen sollen keine empirischen Kriterien gelten; in eins mit kausalen Erklärungen lehnt er auch Letztere ab. Drury deutet den Dissens zwischen Wittgenstein und Frazer als Gegensatz zwischen zwei Auffassungen von Klarheit. Die bekannten Riten zu beschreiben und zu verstehen genüge Frazer nicht, es komme ihm vielmehr auf deren Ursachen an, auf deren Ursprung, und durch diese kausalen Hypothesen wolle er Klarheit gewinnen über ‚primitives‘ Denken überhaupt. Die von Wittgenstein angestrebte philosophische Klarheit sei dagegen Selbstzweck: Sie werde erreicht, wenn man nur das sage, was man wirklich wisse, und sich eitler Hypothesen enthalte. Drury zufolge brauchen Ausdruckshandlungen keine kausale Erklärung: Sie seien durch das natürliche Ausdrucksbedürfnis des Menschen hinreichend geklärt. Auch Riten seien Ausdrucksformen; daher sei eine Erklärung, die über den Hinweis auf das Ausdrucksbedürfnis hinausgehe, auch bei ihnen überflüssig. Nötig sei vielmehr, eben diese Entbehrlichkeit zu verstehen.³¹⁴ Viele Gespräche mit Wittgenstein seien so verlaufen: „[A] remark of his introduced sudden philosophical clarity by means of a full stop“ (Drury 1973: xii). Drury führt seinen Austausch mit Wittgenstein über rituelle Handlungen als Musterfall an: Wenn man Riten als Sprache und als Lebensform betrachte, setze man allem leeren Spekulieren über „primitive mentality“ (Drury 1973: xi)³¹⁵ ein Ende, „bringing what looked like being a long and controversial discussion to a full stop.“ (Drury 1973: xiii) In Drurys Lesart kommt es Wittgenstein im Wesentlichen auf Einzelbemerkungen an: Klarheit wird durch punktuelle Vergleiche (etwa mit Ausdruckshandlungen) erzielt, sie beenden die Diskussion. Mit Drurys Auffassung, Klarheit werde durch eine Einzelbemerkung erlangt, stimmen die Interpreten überein, denen zufolge der späte Wittgenstein ‚übersichtliche Darstellung‘ gerade in diesem Sinn verstanden hat. Sind die von Drury gemeinten punktuellen Vergleiche also die übersichtlichen Darstellungen, auf die es Wittgenstein in der frühen Auseinandersetzung mit Frazer ankommt? So einfach ist es nicht: Zwar wird die angestrebte Klarheit auch 1931 immer wieder durch Einzelvergleiche erreicht, aber

 Drury macht es sich allerdings zu einfach: Statt Riten mit Ausdruckshandlungen nur zu vergleichen, setzt er sie mit ihnen gleich. 1931 tendiert auch Wittgenstein zu Letzterem. (Siehe dazu ausführlich oben § 2.1.2.3, insbes. S. 188 ff.) Drury ist bis zuletzt dieser Ansicht.  Drury schreibt „primitive mentality“ (Drury 1973: xi) in Anführungszeichen. Offenbar vermengt er Frazer und Lévy-Bruhl. Zum Ineinanderlaufen von Bericht und Interpretation bei Drury siehe oben S. 128 ff.

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der Philosoph versteht unter übersichtlicher Darstellung offensichtlich etwas anderes: ein komplexeres Arrangement des zusammengestellten Materials.³¹⁶

2.2.2 „Poetische Anthropologie.“ Eine rätselhafte und grausame Regel 2.2.2.1 „The priest who slew the slayer, and shall himself be slain“. Viele Fragen und keine „The primary aim of this book is to explain the remarkable rule which regulated the succession to the priesthood of Diana at Aricia. When I first set myself to solve the problem more than thirty years ago, I thought that the solution could be propounded very briefly, but I soon found that to render it probable or even intelligible it was necessary to discuss certain more general questions […]“ (FGB 1922: v). Der ‚Hauptzweck‘ ist demnach ein Problem zu lösen, nämlich eine merkwürdige Regel zu erklären; der Golden Bough behandelt zwar auch „certain more general questions“, aber nur, um die Lösung jenes Problems „probable or even intelligible“ (FGB 1922: v) zu machen. Dieser Umweg habe den Autor einige Jahrzehnte Arbeit gekostet, obwohl er die Hauptfrage eigentlich schon früh beantwortet habe. So beginnt das Vorwort der Abridged Edition. Nur hier redet Frazer von einem ‚Problem‘ und von dessen ‚Lösung‘, am Anfang der zwölfbändigen Ausgabe nicht.³¹⁷ Die Unterschiede zwischen den Ausgaben gehen noch weiter. Es

 Siehe dazu unten S. 232 ff. G. Baker (1991) deutet die übersichtliche Darstellung als punktuelle Klärung einer Einzelfrage z. B. durch eine Analogie. In diesem Sinn würde Wittgenstein rituelle Handlungen schon einfach dadurch übersichtlich darstellen, dass er die Analogie zu Ausdruckshandlungen hervorhebt. Wenn es so ist, dann besteht die Auseinandersetzung mit Frazer in einzelnen reminders, und diese sind bereits das erwünschte Ergebnis, nämlich die beabsichtigte ‚übersichtliche Darstellung. Diese Auffassung vertreten Phillips und Drury. Clack (1999: 61 ff.) meint deshalb, dass Wittgenstein schon in seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer die übersichtliche Darstellung in Bakers Sinn versteht. Clacks Deutung ist indes mindestens teilweise zu relativieren. Wahr ist, dass Wittgenstein bereits die „OktaederDarstellung“ als ‚lokale‘ Übersicht eines begrenzten Sprachbereichs versteht, er hält schon damals etwas wie eine übersichtliche Darstellung der ganzen Grammatik einer natürlichen Sprache nicht für möglich, geschweige denn, dass er sie vorhat. Aber wiederum ist ihm die Zusammenstellung eines Chors, die morphologische ‚Disposition‘ des Materials, ein Anliegen, über die einzelnen reminders hinaus, und er nennt diese Synopse ‚übersichtliche Darstellung‘.  „When I originally conceived the idea of the work […] my intention merely was to explain the strange rule of the priesthood or sacred kingship of Nemi and with it the legend of the golden bough […]. The explanation was suggested to me by some similar rules […]“ (FGB III 1: vii). Das in diesem Band ebenfalls abgedruckte Vorwort der ersten Ausgabe bezeichnet allerdings das Werk als „a first attempt to solve a difficult problem“ (FGB III 1: xi).

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bleibe aber erst einmal dahingestellt, ob und, wenn ja, inwieweit Wittgenstein sich schon 1931 (auch) an der Abridged Edition orientiert hat. Zu der Diagnose, dass Frazer eine andersartige „Schwierigkeit“ als historisches Problem missversteht, führt den Philosophen nicht zuletzt der eigentümliche Aufbau des Golden Bough. Das Buch will eine geheimnisvolle Erscheinung aus der Antike schrittweise erklären. Der Waldkönig (rex nemorensis), der Priester des Dianatempels in Aricia, in der Nähe von Rom, war ein entflohener Sklave. Er hatte einen Zweig von einem heiligen Baum im Hain der Nemi gebrochen – den goldenen Zweig eben – und daraufhin den amtierenden Priester herausgefordert und erschlagen. Er durfte nun Priester bleiben, bis ein Stärkerer ihn wiederum tötete und seine Nachfolge antrat. Frazer stellt sich nun zwei Fragen: „[F]irst, why had Diana’s Priest at Nemi, the King of the Wood, to slay his predecessor? Second, why before doing so had he to pluck the branch of a certain tree which the public opinion of the ancients identified with Virgil’s Golden Bough?“ (FGB 1922: 9; FGB III 1: 44) Wer diese Fragen beantworte, habe die „strange rule of this priesthood“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10) erklärt. Der Golden Bough beginnt mit der Verwunderung über das Weiterbestehen dieser barbarischen Sitte inmitten der blühenden römischen Zivilisation. Die grausame Sukzessionsregel stehe „in striking isolation“ da: „The strange rule of this priesthood has no parallel in classical antiquity, and cannot be explained from it.“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10) Nun hofft Frazer, dass „gerade die Rohheit und Barbarei jener Sitte“ sie zu erklären erlaube.³¹⁸ Denn die Art, in der der Geist des Menschen „seine erste rohe Lebensphilosophie ausgearbeitet“ habe, weise überall „unter vielen oberflächlichen Unterschieden“ eine „wesentliche Ähnlichkeit“ auf.³¹⁹ Dass anderswo ähnliche Sitten aus verwandten – und allgemein wirksamen – Motiven entstanden seien, rechtfertige den Schluss, „that at a remoter age the same motives gave birth to the priesthood of Nemi“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10). Dies sei zwar kein „Beweis“, und Frazer gesteht ein, es fehle an „direct evidence“, komme aber einer „fairly probable explanation of the priesthood of Nemi“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10) gleich. Das Gerüst des Golden Bough – das Rätsel und die Schritte zu seiner Lösung – steht bereits in der ersten Ausgabe fest. Schon vor 1890 hatte Frazer eine Reihe kurzer Beiträge nach einem ähnlichen Schema verfasst: Die Aufgabe, jeweils einen seltsamen Brauch aus der klassischen Antike zu erklären, wurde durch eine

 „It is the very rudeness and barbarity of the custom which allow us a hope of explaining it.“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10)  „For recent researches into the early history of man have revealed the essential similarity with which, under many superficial differences, the human mind has elaborated its first crude philosophy of life.“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10)

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vergleichende Aufstellung ethnologischer Tatsachen gelöst.³²⁰ Der Golden Bough folgte diesem bewährten Muster. Ursprünglich hatte sich Frazer lediglich vorgesetzt, „within the compass of a small volume“ (FGB III 1: vii) die Nachfolgeregel in Nemi und die Legende des goldenen Zweigs zu erklären (und zwar durch Regeln, die an weit entferntem Ort, in Südindien, ähnlich vorkamen). Bei einem Band, geschweige denn bei einem kleinen, blieb es jedoch bereits in der ersten Ausgabe nicht; und schon hier lässt sich das eigentliche Anliegen kaum auf die Auflösung eines einzelnen Rätsels reduzieren. Von Anfang an traute der Autor den Hypothesen (bzw. ‚Theorien‘), durch die er die Verhältnisse in Nemi explizieren wollte, eine größere Tragweite zu. Das Buch sollte – schrieb er schon im November 1889 an seinen Verleger – zugleich eine Erklärung des Totemismus bieten und ein Licht auf die christliche Religion werfen, selbst wenn in diesem Punkt jeder Leser seinen eigenen Schluss ziehen sollte.³²¹ Durch die vergleichende Methode lasse sich also nicht allein die Gestalt des Priesterkönigs enträtseln; denn wer dies leiste, heißt es gleich im ersten Paragraphen, decke damit zugleich eine universelle Erscheinung auf: die unter vielen Oberflächendifferenzen im Wesentlichen immer gleiche „erste rohe Lebensphilosophie“ (FGB 1922: 2; FGB III 1: 10; FGB I, Bd. 1: 3), die dem ersten Entwicklungsstadium des menschlichen Geistes entspreche. Einige von Frazers bekanntesten ‚Thesen‘ – v. a. die Priorität der Magie vor der Religion – kommen erst in der zweiten Ausgabe hinzu; und hier weist der neue Untertitel „A Study in Magic and Religion“ unmissverständlich auf einen allgemeineren Anspruch hin.³²² Frazers Theorien sollen nicht lediglich die Leitfrage beantworten und verwandte Menschenopfer erklären, sondern letzten Endes die ‚Lebensphilosophie‘ früher Menschen sowie ‚Magie‘ und ‚Religion‘ überhaupt. Die

 Vgl. Stocking 1995: 132; Smith 1973: 346.  Jene „dark crimes“ (FGB III 1: 1; FGB 1922: 1) wurden nicht nur in Nemi begangen; „the custom of killing men whom their worshippers regard as divine“ (FGB III 9: 305; FGB 1922: 592) war Frazer zufolge weit verbreitet (ja, in Urzeiten vorherrschend). Der prominenteste Fall sei die Kreuzigung Jesu gewesen. Beide Geheimnisse – in Nemi und auf Golgatha – ließen sich auf die gleiche Weise aufdecken. (Vor allem die Wittgenstein höchstwahrscheinlich unbekannte zweite Ausgabe (1900) kulminierte in dieser Spekulation, die der Autor in der dritten Ausgabe wieder kassierte; statt die entsprechenden Seiten einfach zu streichen, machte er daraus jedoch eine Anmerkung am Schluss von The Scapegoat. Vgl. Ackerman 1987: 248.) Bereits in dem im Text erwähnten Brief an George A. Macmillan vom 8. November 1889 bemerkt Frazer: „The resemblance of many of the savage customs and ideas to the fundamental doctrines of Christianity is striking. But I make no reference to this parallelism, leaving my readers to draw their own conclusions, one way or the other.“ (Frazer 2005: 63) Wenn Frazer es in diesem besonderen Fall seinen Lesern überlässt, „to draw their own conclusions“, verfährt er so, wie Wittgenstein bei allen ethischen Fragen für geboten hält, aber aus ganz anderen Gründen.  Vgl. auch FGB II: xvi f. FGB III 1: xx f.

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zweite Ausgabe will das Wesen beider und deren Verhältnis zur Wissenschaft ergründen. Trotzdem wird noch hier das Ziel des Buches nachdrücklich auf die Beantwortung jener Einzelfrage eingeschränkt: Der Golden Bough sei „not a general treatise on primitive superstition, but merely the investigation of one particular and narrowly limited problem, to wit, the rule of the Arician priesthood […]“ (FGB II: xvii; FGB III 1: xxi). Der Versuch, durch die vergleichende Methode Licht auf jene „strange and recurring tragedy“ (FGB III 1: 1) zu werfen, gibt indes Anlass zu einer weit allgemeineren Untersuchung, die sich in der dritten Ausgabe über ein Dutzend Bände erstreckt. Das Werk war wie ein Hefeteig aufgegangen, aber das Rätsel um den goldenen Zweig liefert noch in diesem „overgrown Book“ (FGB III 1: vii) den Leitfaden. Nun wechselt das Rätsel jedoch seinen offiziellen Status: Seine Auflösung wird offen zur Nebensache erklärt, ja zur publikumswirksamen Einkleidung einer Materialsammlung und am Ende sogar zu einem Vorwand. Jetzt lässt Frazer – wie es ein aufmerksamer Zeitgenosse ausdrückte – die lange erwartete Katze endlich aus dem Sack.³²³ Marett scheint damit zu meinen, dass das Rätsel einen Status verliere, den es eigentlich nie gehabt habe. Denn gilt im Grunde nicht bereits für die erste Ausgabe Ähnliches, selbst wenn Frazer sich noch nicht dazu bekennt?³²⁴ Von Anfang an sollte das Rätsel um den goldenen Zweig das Werk einem breiteren literarisch interessierten Publikum zugänglich machen. Der Autor war durchaus auf seine schriftstellerische Wirkung bedacht; und die spannende ‚Handlung‘ – die allmähliche Auflösung des beunruhigenden Rätsels – war der Schlüssel zum großen Publikumserfolg. Man hat nicht zu Unrecht gesagt, Frazer habe eine mistery story (Stocking 1995: 139) bzw. „an ethnological detective story“ (Kuper 1988: 90) verfasst. Wie ein Autor dieses Genres sträubte er sich dagegen, das Finale preiszugeben: Ein Abstract seiner Thesen zu verfassen hieße, bemerkte er, „disclosing what I may call the plot“; dem Werk das im späten neunzehnten Jahrhundert übliche ausführliche Inhaltsverzeichnis beizugeben wäre wie „the mistake of a novelist who should prefix a summary of the plot to his novel“.³²⁵ Das Rätsel um den goldenen Zweig bietet weiterhin den Leitfaden, aber die Paratexte deklarieren dessen Auflösung explizit zur Nebensache.Was Frazer Ende der achtziger Jahre, als das Buch erst entsteht, lediglich seinem Verleger anver-

 „The long suspected cat is now out of the bag.“ (Marett 1920: 178; vgl. Smith 1973: 370 Anm. 96.)  Zum unterschiedlichen Anliegen der ersten und der dritten Ausgabe vgl. Smith 1973: 342 ff.; vgl. auch Ackerman 1987: 236 ff.  Frazer an G. A. Macmillan, 15. 3.1890, zit. bei Ackerman 1987: 97; Fraser 1990a: 54; Stocking 1996: xvii.

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traut, bekundet die dritte Ausgabe in aller Offenheit. Frazer „thought“ – wie er selbst nun bekennt – „to cast [his] materials into a more artistic mould and so perhaps to attract readers, who might have been repelled by a more strictly logical and systematic arrangement of the facts.“ (FGB III 1: viii) Er habe dabei nur auf „the austere form“, nicht jedoch auf „the solid substance“ (FGB III 1: viii) einer wissenschaftlichen Abhandlung verzichtet. Es sei zuletzt nur eine Frage der Einkleidung, wenn er zugunsten der ‚Story‘ um die geheimnisvolle Gestalt des Priesterkönigs von einer systematischen Anordnung des Stoffs abgesehen habe. Er habe „the mysterious priest of Nemi […] in the forefront of the picture“ aufgestellt, „grouping the other sombre figures of the same sort behind him in the background“ (FGB III 1: viii). Aber der Priesterkönig stehe nicht wegen seiner objektiven Wichtigkeit im Mittelpunkt. Diese Disposition habe rein ästhetische Gründe: Mit seinem „glamour“ (FGB III 1: viii) eigne er sich zur Hauptgestalt des Tableaus, selbst wenn er möglicherweise – wie Frazer freimütig zugibt – in dieses überhaupt nicht gehöre! Denn Frazer selbst warnt nun davor, seiner Spekulation über den „mysterious priest of Nemi“ (FGB III 1: viii) „a greater degree of probability than it deserves“ (FGB III 1: ix) einzuräumen; er „fully acknowledge[s] the slenderness of the foundations on which it rests“ (FGB III 1: ix). Seine „whole theory of this particular priesthood“ könnte also sehr wohl „collapse“ (FGB III 1: ix); aber selbst „its fall would hardly shake [Frazer’s; MB] general conclusions as to the evolution of primitive religion and society, which are founded on large collections of entirely independent and well-authenticated facts.“ (FGB III 1: ix)³²⁶ Einige Jahre später, im Vorwort zu Balder the Beautiful, dem zweibändigen Schlussstück dieser dritten Ausgabe, geht Frazer noch weiter; „the priest of Nemi himself“, „the nominal hero of the long tragedy of human folly and suffering“, die sein Buch erzähle, sei eigentlich, gesteht nun der Autor, „merely a puppet, and it is time to unmask him before laying him up in the box.“ (FGB III 10: vi). Auch die Titelfigur dieses siebten und letzten Teils, der nordische Gott Balder – bzw. die Analogie zwischen ihm und dem Priesterkönig in Nemi – sei zuletzt nur ein Vorwand (pretext, FGB III 10: v), um allgemeinere Fragen zu besprechen; Balder sei „little more than a stalking-horse to carry two heavy pack-loads of facts.“ (FGB

 Die Vorworte der ersten zwei Ausgaben sind am Anfang der dritten abgedruckt, also in dem Band, den Drury aus der Bibliothek entliehen hat. Wittgenstein hat diese aufeinanderfolgenden Selbstdarstellungen leicht zur Kenntnis nehmen können (anders als das gerade angeführte Vorwort zu Balder the Beautiful). In die Abridged Edition von 1922 wiederum nahm Frazer die drei Vorworte nicht auf. Von seinen Selbstrelativierungen bleibt in der einbändigen Ausgabe, auch im Vorwort, keine Spur. Vgl. Smith 1973: 345. Zu den Selbstrelativierungen im Golden Bough vgl. Smith 1973: 344 f.

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III 10: vi) Den Anspruch wiederum, das „particular and narrowly limited problem“ (FGB III 1: xxi; Vorwort von FGB II) der Sukzessionsregel in Nemi gelöst zu haben, erhebt der Autor nicht mehr. Das sei – so seine auch chronologisch letzte Selbstdarstellung in diesem Werk – nicht das Anliegen gewesen. Im Laufe der Zeit sieht Frazer die Lösung des Einzelproblems immer skeptischer und wird in Hinsicht auf die Tragweite des Werkes immer zuversichtlicher. Diese Tragweite – und die eigene wissenschaftliche Leistung – erblickt er jedoch nicht in den von ihm aufgestellten Theorien: am wenigsten, wie gesagt, in den spezifischen Annahmen über die Sukzessionsregel in Nemi, aber auch nicht in den Hypothesen über den Totemismus und in den „general conclusions as to the evolution of primitive religion and society“ (FGB III 1: ix). Den wissenschaftlichen Wert des Buches sieht der Autor eher in dessen enzyklopädischem Charakter, in den „large collections of […] facts“ (FGB III 1: ix), in dem darin gesammelten umfangreichen Material. Zuletzt betrachtet Frazer nicht nur die nominelle Hauptfrage als zweitrangig, sondern im Allgemeinen die Hypothesen und Theorien, ja den ganzen theoretischen Apparat.³²⁷ Die strukturierenden Momente, sei es erzählerischer, sei es theoretischer Natur, werden gegenüber dem Anhäufen von Material immer mehr zur Nebensache.³²⁸ Die ‚Rahmenhandlung‘ mit der allmählichen Auflösung des Rätsels um den Priesterkönig und den goldenen Zweig, die literarische Form und Disposition, die stilistische Ausschmückung der Beispiele, aber auch die allgemeinen Schlussfolgerungen (die wissenschaftlichen Theorien): Sie alle sind für Frazer letzten Endes nur Einkleidungen seiner Materialsammlung.

2.2.2.2 Gleichartigkeit religiösen Handelns Die Leitfrage des Golden Bough wird schrittweise beantwortet durch einen Komplex von Theorien und Hypothesen, die wiederum durch umfassende Datenzusammenstellungen belegt werden. Diese ‚offizielle‘ Struktur dekonstruieren die genannten Paratexte der dritten Ausgabe: Die Leitfrage ist doch nicht wirklich wichtig; die Theorien beantworten sie nicht; vielleicht treffen sie gerade im fraglichen Fall nicht zu, vielleicht überhaupt nicht, und sie sind sowieso Ne-

 Spätestens das Vorwort der zweiten Ausgabe betont den Unterschied zwischen Tatsachen und Hypothesen: Letztere seien nur „necessary but often temporary bridges built to connect isolated facts“ (FGB III 1: xix). Siehe dazu unten S. 254 ff.  Frazers letzte Schriften tragen nur noch Material nach: Aftermath (1936) ergänzt Beispiele zu den einzelnen Teilen des Golden Bough und Totemica (1937) zu Totemism and Exogamy. Vgl. auch Frazer 1938 f.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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bensache. Eigentlich kommt es doch nur auf die Materialsammlungen an; sie rechtfertigen das ganze Unternehmen. Diese Selbsteinschätzung ist sehr optimistisch; und einfach so kann man Frazers Anspruch nicht gelten lassen: Unter anderem sind seine ‚collections of facts‘ weit fragwürdiger, als er – aber auch Wittgenstein – meint. Was führt nun Wittgenstein zu seiner Einschätzung, Frazer missverstehe eine „Schwierigkeit“ anderer Art als historisches Problem? Offenbar doch der eigenartige Aufbau des Golden Bough, die Tatsache, dass sich der ‚offiziellen‘ Leitfrage zum Trotz ein Hauptanliegen schwerlich ausmachen lässt, die Ambivalenz in Hinsicht auf die Wichtigkeit des Theoriekomplexes sowie die Wandlungen in Frazers Selbstverständnis und/oder -darstellung. Kritiker, die gegen Wittgenstein darauf insistieren, Frazers Untersuchung im Golden Bough sei „unambiguously empirical“ (Cioffi 1998: 12), befinden sich auf einem Holzweg. Das Rätsel um die Sukzessionsregel ist kein rein wissenschaftliches Problem; und Wittgenstein sieht, dass im Golden Bough etwas nicht in Ordnung ist. Ja, gerade weil ihm das Buch nicht geheuer vorkommt, nimmt er es sich so gründlich vor. Allerdings enthält seine Lektüre auch Missverständnisse. Die offizielle Leitfrage des Buches, erklärt Wittgenstein, sei nur scheinbar eine historische; er hätte sich aber auch fragen müssen, ob sie wirklich die Hauptfrage ist. Die Bedeutung der Hypothesen und Theorien, durch die Frazer die offizielle Leitfrage beantworten will, wird von Wittgenstein ebenfalls überschätzt: Sie sind für den Golden Bough nicht so zentral. Wittgenstein meint, sich von Frazers Ethnologie abzusetzen, wenn er die Priorität des Tatsachenmaterials über Theorien und Hypothesen betont. In Wirklichkeit aber räumt bereits Frazer dem Material einen deutlichen Vorrang vor dem theoretischen Apparat ein: Er weist seinen Hypothesen zuletzt nur die Funktion zu, Tatsachenmengen zu ordnen. Wittgenstein spitzt diese Grundtendenz Frazers einfach extrem zu. Dabei nimmt er einige Begriffe des schottischen Ethnologen – ‚Material‘, ‚Sammlung‘ (collection) – stillschweigend auf und knüpft in mehreren Hinsichten an ihn an, wenn auch nicht immer wissentlich. Wittgensteins Lektüre des Golden Bough nimmt ihren Ausgang gerade von Frazers Verwunderung über jene barbarische Sitte. Die unmenschliche Sukzessionsregel scheint dem Autor des Golden Bough gerade deshalb so rätselhaft, weil sie „keine Parallele in der klassischen Antike“ habe; in der hochzivilisierten Römerzeit stehe der Waldkönig „auffallend isoliert“ da. Das prima facie Erstaunliche am Ritus sei jedoch beseitigt, wenn die Ursachen, aus denen er entstanden sei und sich entwickelt habe, hypothetisch rekonstruiert seien.³²⁹ Der

 Dasselbe gilt für die Feuerfeste, die Frazer ähnlich erklärt wie das Duell in Nemi: Die

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damals einzigartige Brauch erweise sich zuletzt als Überbleibsel älterer Zeiten. In einer früheren Entwicklungsstufe fanden Menschenopfer immer wieder statt: unabhängig voneinander in verschiedenen Erdteilen, aber in ähnlicher Form und zu ähnlichen Zwecken. Frazer postuliert diese urzeitlichen Riten und führt jene Regel genetisch auf sie zurück. Wittgenstein, der Frazer gegenüber auch sonst sehr zurückhaltend ist, betrachtet dessen entstehungsgeschichtliches Unternehmen als überflüssig. Frazer missverstehe die eigene Verwunderung über die Tötung des Dianapriesters, und ein Missverständnis sei auch die angebliche striking isolation dieser Sukzessionsregel. Der Brauch sei in einem entscheidenden Sinn gar nicht isoliert gewesen, und zwar nicht nur im damaligen römischen Reich nicht, sondern überhaupt: „Die religiösen Handlungen, oder das religiöse Leben des Priesterkönigs ist von keiner andern Art als jede echt religiöse Handlung heute“ (MS 110: 181 f.; TS 211: 316). Wenn Frazer es nicht einsehe, liege es an seiner ethnozentrisch verengten Sichtweise. „Schon die Idee, den Gebrauch – etwa die Tötung des Priesterkönigs – erklären zu wollen“, scheint Wittgenstein in diesem Sinn „verfehlt“ (MS 110: 178), umso mehr als Frazer eigentlich keine kausale Erklärung liefere. Er mache den Brauch nur jenen Zeitgenossen „plausibel“ (MS 110: 178),³³⁰ die „vom Verständnis einer geistigen Angelegenheit“ genauso entfernt seien wie er, und dies durch Erläuterungen, die eigentlich „viel roher“ seien „als der Sinn dieser Gebräuche selbst“ (MS 110: 205; TS 211: 321).³³¹ Frazer stelle sich nur deshalb die Aufgabe, jenen Brauch zu erklären, weil der Waldkönig von dem im damaligen Großbritannien selbstverständlichen Paradigma eines Geistlichen offenkundig abweiche.³³² Erklärung der fire festivals of Europe ist einer der letzten Schritte in der Lösung des Hauptproblems. Siehe dazu unten S. 289 f.  „Alles was Frazer tut ist, sie [die Tötung des Priesterkönigs; MB] Menschen, die so ähnlich denken wie er, plausibel zu machen.“ (MS 110: 178) Mary Douglas fragt wiederum, ob Wittgensteins „complaints against Frazer arise out of the constraints of a different cultural horizon“ (Douglas 1978: 157), und bejaht diese Frage.  „Frazer ist viel mehr savage als die meisten seiner savages denn diese werden nicht so weit vom Verständnis einer geistigen Angelegenheit entfernt sein, wie ein Engländer des 20ten Jahrhunderts. S e i n e Erklärungen der primitiven Gebräuche sind viel roher als der Sinn dieser Gebräuche selbst.“ (MS 110: 205; TS 211: 321)  „Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer! Daher: welche Unmöglichkeit ein anderes Leben zu begreifen als das englische seiner Zeit! | Frazer kann sich keinen Priester vorstellen der nicht im Grunde ein englischer Parson unserer Zeit ist mit seiner ganzen Dummheit und Flauheit.“ (MS 110: 184; TS 211: 317) Auf eine Bemerkung Drurys über die „Desert fathers“, die „ascetics of the Egyptian Thebaid“, antwortet Wittgenstein abweisend: „’That’s just the sort of stupid remark an english parson would make; how can you know what their problems were in those days and what they had to do about them?’“ (Drury 1973: xiii) Drurys Wittgenstein trägt

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Wittgenstein leugnet den Abstand nicht, hat dafür aber eine eigene Erklärung: Während „das religiöse Leben des Priesterkönigs“ ein „echt religiöse[s]“ (MS 110: 182) sei, verkörpere der parson „mit seiner ganzen Dummheit und Flauheit“ (MS 110: 184) keine echte Religiosität, und „ein Engländer des 20sten Jahrhunderts“ sei „vom Verständnis einer geistigen Angelegenheit“ (MS 110: 205) denkbar weit entfernt. Frazers Unfähigkeit, „ein anderes Leben zu begreifen als das englische seiner Zeit“, gehe auf eine „Enge des seelischen Lebens“ (MS 110: 184) zurück: Er, dem religiöse Erfahrungen fremd seien, sehe die weitgehende Gleichartigkeit echter Religiosität nicht. Für Frazer, der analytisch strikt zwischen Magie und Religion unterscheidet, weist die Sukzessionsregel am Dianatempel in Aricia gerade mit ihrer Grausamkeit auf urtümliche rein magische Menschenopfer zurück und damit auf Urzeiten, in denen es noch keine Religion gab; als Überlebsel magischen Aberglaubens ist auch die überlieferte späte abgemilderte Form, das Duell, nicht rein religiös. Wittgenstein weist diese fragwürdige Konstruktion zurück, und implizit stellt seine Bemerkung auch Frazers Unterscheidung zwischen Magie und Religion in Frage. Aus dem Wortlaut kann man (nur) herauslesen, dass die Grausamkeit des Duells für Wittgenstein den ‚echt religiösen‘ Charakter des Vorgangs (und des Priestertums) nicht anficht; sie macht die entsprechenden ‚Anschauungen‘ nicht zu einem magischen Aberglauben à la Frazer. Ähnliches dürfte in Wittgensteins Augen für die im Golden Bough teils beschriebenen, teils postulierten Menschenopfer im Allgemeinen gelten. Aus indirekten Quellen sind Argumente überliefert, die in Wittgensteins Autographen jedoch keine Rolle spielen. Eines davon lautet: Wir haben auch deshalb keinen Grund zu einer herablassenden Haltung, weil wir dabei die unmenschlichen Aspekte unserer eigenen Gesellschaft ausblenden.³³³ Es

hier den unterschiedlichen Lebensbedingungen Rechnung und zeigt sich des historischen Abstandes bewusst. Zu späten eigenhändigen Aufzeichnungen in diesem Sinn siehe unten S. 310 f.  Die kritische Bemerkung ist nicht gegen Frazers Golden Bough gerichtet, sondern gegen William H. Prescotts History of the Conquest of Mexico (1843). Drury erinnert sich an die gemeinsame Lektüre im Jahr 1934: Wittgenstein „would from time to time stop me and exclaim at Prescottˈs condescending attitude towards those whom he referred to as ‚the aborigines of the American continent’. Wittgenstein found this superior attitude very offensive, pointing out that at the time Prescott was writing, slavery in the Southern States was still legally enforced.“ (MDC: 127) Die Lektüre fand kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten statt, und Wittgenstein dürfte auch bei den Europäern seiner Zeit keinen Anlass zu einem Überlegenheitsgefühl gesehen haben. Empörte er sich über Prescott zu Recht? Oder war er zu streng? Prescotts Ausführungen über die technischen Errungenschaften der Tolteken (Prescott 1904, Bd. 1: 14 f.) klingen kaum anders als Wittgensteins eigene Bemerkungen über die Fertigkeiten der ‚Wilden‘. Und der Vergleich zwischen der Institution der Sklaverei im alten Mexiko und den damaligen Vereinigten Staaten fällt nicht unbedingt zugunsten der Letzteren aus. Im Gegenteil:

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gehört zu Wittgensteins antimoderner Haltung, dass er den zeitgenössichen englischen parson vom „priest who slew the slayer, and shall himself be slain“, so ungünstig abhebt. Aber in den Bemerkungen nimmt die Idee, jene Tötung sei eine ‚echt religiöse‘ Handlung, nirgendwo apologetischen Charakter an. Nach Plädoyers für Nicht-Einmischung, wie sie Wittgenstein aufgrund mündlicher Äußerungen gelegentlich zugeschrieben werden, sucht man ebenfalls vergebens.³³⁴

„No one could be born to slavery in Mexico“ (Prescott 1904, Bd. 1: 50). Als „condescending“ wird der Philosoph die religionshistorischen Betrachtungen im dritten Kapitel empfunden haben. Wie später auch Renan und Frazer sieht schon der amerikanische Historiker eine Beziehung zwischen der Religion der Ureinwohner Mexikos und der Unfähigkeit Primitiver, Naturphänomene zu erklären: Mythologie sei „the effort of untutored man to explain the misteries of existence, and the secret agencies by which the operations of nature are conducted“ (Prescott 1904, Bd. 1: 66). Kritisch betrachtet Prescott die Selbstmarterungen aztekischer Priester (vgl. Prescott 1904, Bd. 1: 82), und sein Wohlwollen nimmt merklich ab, wenn er auf die „most striking institution“ (Prescott 1904, Bd. 1: 88) der Azteken zu sprechen kommt, nämlich auf die Menschenopfer, auf die bereits die spanischen Eroberer mit Entsetzen reagiert hatten. (Todorov 1985: 174, unterscheidet zwischen Opfergesellschaften wie der aztekischen und Massakergesellschaften wie den damaligen europäischen.) Prescott sieht ein Nebeneinander von „refinement and the extreme of barbarism“: „Human sacrifices“, bemerkt er, „have been practised by many nations, not excepting the most polished nations of antiquity“ (Prescott 1904, Bd. 1: 93; vgl. auch 97 zum altrömischen Circus), wenn auch nirgendwo in solchem Ausmass wie in Anahuac; allerdings setzt Prescott diese Riten von der Praxis der Inquisition in „some of the most polished countries in Europe“ günstig ab. („Human sacrifice, however cruel, has nothing in it degrading to its victim.“ Prescott 1904, Bd. 1: 98) Schlimmer noch als der christliche Aberglaube der Inquisitoren sei jedoch „[o]ne detestable feature of the Aztec superstition“ (Prescott 1904, Bd. 1: 99), nämlich der Kannibalismus, wobei Prescott den rituellen Kannibalismus „in obedience to their religion“ von einem Verzehr „merely to gratify a brutish appetite“ (Prescott 1904, Bd. 1: 99) absetzt. Prescott ist um Ausgeglichenheit bemüht. (Er verdankt sie auch der „most important authority“ in diesem Gebiet, nämlich dem Zeugen Bernardino de Sahagún; vgl. Prescott 1904, Bd. 1: 101– 104.) Verrät sich darin, wie Wittgenstein will, eine „condescending“ und „superior attitude“? Vielleicht nicht auf jeder Seite, es sei denn, dass man von den Standards des neunzehnten Jahrhunderts völlig absieht. In Hinsicht auf den Schluss des dritten Kapitels ist Wittgensteins Einspruch dennoch mehr als gerechtfertigt: Im Endergebnis sei die Eroberung „beneficently ordered by Providence“ gewesen und habe Mexiko „from the brutish superstitions“ der aztekischen Religion erlöst; die „benign radiance“ (Prescott 1904, Bd. 1: 101) des von den Eroberern eingeführten Christentums wiederum werde dessen einstweiligen Fanatismus wohl überleben. – Das Adjektiv ‚condescending‘ kommt bei Drury auch mit Bezug auf Frazer vor (siehe oben S. 153, Anm. 209). Diesem soll Wittgenstein nicht nur eine herablassende Haltung, sondern auch Eitelkeit vorgeworfen haben. „In looking down on them he [Frazer; MB] is indulging his own vanity.“ (Drury 2003: 9)  „Wittgenstein would certainly not intervene in a practice which involved human sacrifice.“ (Phillips 2005b: 183; vgl. auch Phillips 2005a: 200 f.). Rhees und Drury gegenüber, auf die Phillips sich beruft, soll Wittgenstein die ‚Hoffnung‘ geäußert haben, Iwan der Schreckliche habe eine ihm zugeschriebene grausame Tat wirklich begangen. Rhees kommentiert diese

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Darin aber, dass Grausamkeit und Religion einander ausschließen, sieht Wittgenstein wirklich eine ethnozentrisch verengte Sichtweise. Die Auffassung, der Waldkönig unterscheide sich fundamental von anderen ‚echt religiösen‘ Erscheinungen, sei lediglich ein ethnozentrisches Vorurteil. „Die religiösen Handlungen, oder das religiöse Leben des Priesterkönigs ist von keiner andern Art als jede echt religiöse Handlung heute, etwa ein Geständnis der Sünden. Auch dieses läßt sich ‚e r k l ä r e n‘ und läßt sich nicht erklären.“ (MS 110: 181 f.; TS 211: 316)³³⁵ Gemeint ist, dass „echt religiöse“ Handlungen sich zwar nicht kausal erklären lassen, aber doch ‚erläutern‘ – wie Zeichen. Inwieweit ist jede „echt religiöse Handlung“ – und wohl auch jedes echt „religiöse Leben“ – heute und gestern gleicher Art? Geht es um eine ähnliche Gemeinsamkeit, wie Wittgenstein sie bei Heiligen der unterschiedlichsten Religionen annimmt, wenn es heißt, keiner von ihnen sei im Irrtum, außer wo er eine Theorie aufstelle? Sind auch religiöse Handlungen nur unter dem ‚pragmatischen‘ Aspekt gleichartig, dass Theorien bei ihnen eine sehr untergeordnete Rolle spielen und jedenfalls keine kausale? Also nur insofern keine dieser Handlungen sich kausal erklären lässt, insbesondere nicht durch bestimmte Meinungen? (Oder sind Rituale – könnte man ebenso gut fragen – (autonome) Sprachen und nur insofern gleicher Art, als ihre Grammatik willkürlich ist, wie sie auch immer sein mag?) Schon dies wäre keine geringe Behauptung. Oder meint Wittgenstein darüber hinaus, dass jeder historische Unterschied nur die Oberfläche betrifft und die Wesensgleichheit des Religiösen nicht berührt? Dass über Zeit- und Kulturgrenzen hinaus alle echt religiösen Handlungen in ihrem Kern gleichartig sind, so sehr sie sich äußerlich voneinander unterscheiden mögen? Dass man also ohne weiteres alle verstehen kann, wenn man eine „geistige[] Angelegenheit“ versteht?³³⁶ Ist

Äußerung so: „[…] I think that his [Wittgensteinˈs; MB] ‚What a w o n d e r f u l way of showing his admiration!‘ is akin to what he might have said of certain forms of human sacrifice as a gesture of deepest reverence. If we had said ‚But itˈs horrible!‘ he’d have said this showed we didn’t know what was taking place.“ (So Rheesˈ Anm. in MDC: 224, Anm. 46.) Rhees geht hier von der Äußerung, die er wiedergibt, zu einer s. E. möglichen Stellungnahme des Philosophen über – und von der ästhetischen admiration zur eindeutig religiösen reverence. Im Anschluss an Rhees schreibt Phillips Wittgenstein keine kulturrelativistischen Gründe zu, sondern eine Einstellung, die dem Religiösen gegenüber dem Humanen einen Vorrang einräumt. Aber wie will Phillips wissen, dass Wittgenstein nicht einschreiten würde? Will er es dem entnehmen, was der Philosoph über längst Vergangenes sagt? Praktische Entscheidungen stellen sich beim Lesen des Golden Bough nicht. Der Kontext hier ist alles andere als ein Handlungszusammenhang.  Ein „Geständnis der Sünden“ legte bekanntlich Wittgenstein selbst ab. Es ist allerdings nicht überliefert, dass er es als ‚echt religiöse Handlung‘ auffasste.  Die Idee geht vielleicht auf Tolstoi zurück (vgl. TS 211: 511; TS 213: 406 f.; VB: 474). Ihm zufolge bleibt die europäische Kunst gerade deshalb wirkungslos, weil sie nicht allgemein ver-

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Authentizität der ausschlaggebende Unterschied über Kulturgrenzen und -differenzen hinweg?³³⁷ Geht es einfach darum, die ‚echten‘ Riten zu würdigen und die übrigen zu durchschauen? Dieser Ansatz, so sehr er im Sinn der Abhandlung und des Vortrags über Ethik sein mag,³³⁸ wäre ganz unhistorisch; und ein so stark wertender und mit Wertungen überfrachteter Begriff wie die ‚Echtheit‘ (oder die ‚Tiefe‘) wäre kaum geeignet für einen interkulturellen Vergleich. Wittgensteins Kritik zielt zuerst darauf, dass Frazer keinen Blick für wesentliche Aspekte tieferer kultureller Invarianz hat. Wittgensteins kritisches Anliegen ist an sich durchaus legitim, insofern Frazer die Unterschiede tatsächlich übertreibt. Es bedeutet aber auch, dass der Philosoph hier historische und kulturelle Distanz nicht thematisiert. Er verneint sie nicht schlichtweg, aber auch, weil er sie nicht der Erwähnung wert findet. Damit unterscheidet er sich von Spengler: Dieser richtet seine morphologische Methode gerade darauf aus, mit (in seinen Augen) extremer kultureller und historischer Fremdheit umzugehen. Er übersteigert und mythisiert diese Fremdheit. Seriösere Autoren als Spengler aber wollen erst recht kulturelle Distanz überbrücken; dies ist etwa das Anliegen von Clifford Geertzˈ ‚dichten Beschreibungen‘. 1930 hatte sich Wittgenstein Spenglers weltgeschichtlicher Betrachtung angeschlossen. 1931, in der Auseinandersetzung mit Frazer, versteht er Beschreibung und Zeichenerklärung jedoch nicht als Methode zur Überbrückung historischer und kultureller Distanz. Warum? Postuliert er eine unmittelbare Einfühlung, für deren Wunderkräfte geschichtlicher und kultureller Abstand kein Hindernis sind? Setzt er historischen Erklärungen eine solche Empathie entgegen? Manchmal sieht es wirklich so aus.³³⁹ Man darf andrerseits nicht ohne weiteres

ständlich ist (vgl. CPE 2006: 106). ‚Allgemein verständlich‘ heißt in Tolstois „Was ist Kunst?“ jedoch etwas wie ‚auch den Armen im Geiste zugänglich‘. Wittgenstein zufolge ist manches indes aus anderen Gründen nicht allgemein verständlich: „Nicht eine Schwierigkeit des Verstandes, sondern des Willens ist zu überwinden.“ (TS 213: 407) So seien in der Philosophie (wie in der Psychoanalyse) „W i d e r s t ä n d e d e s Willens […] z u ü b e r w i n d e n“; es gehe nämlich nicht wie in den Wissenschaften um eine „i n t e l < l > e k t u e l l e S c h w i e r i g k e i t “, sondern um „d i e S c h w i e r i g k e i t e i n e r U m s t e l l u n g “ (TS 213: 406; TS 212: 1100).  In den erwähnten Skizzen zu einem Vorwort nahm sich Wittgenstein vor, „[a]lles rituelle (quasi Hohepriesterliche) […] streng zu vermeiden“ und der Versuchung zu widerstehen, „den Geist explicit machen zu wollen“ (MS 109: 209).  In einem bereits erläuterten Text von 1925 unterscheidet sich der westliche „Mensch in der roten Glasglocke“ auf ähnliche Weise von Menschen in anders gefärbten Glasglocken: Alle empfangen dasselbe reine, weiße (geistige, religiöse) Licht, aber jeweils durch anders gefärbte Gläser (vgl. LUS: 44). Laut Tagebuch MS 183 haftet je nach Epoche die tiefe symbolische Bedeutung an jeweils anderen Handlungen.  Mit diesem Anschein werden wir uns später, S. 312 ff., befassen.

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davon ausgehen, dass Empathie für Wittgenstein als Quelle objektiver Erkenntnisse überhaupt in Frage kommt. Er stellt nämlich nicht einfach Antworten einander gegenüber, sondern vor allem Fragen: Kausal- und Zeichenerklärung (Beschreibung) lösen unterschiedliche Probleme, und zwar jeweils genetische Fragen und – in diesem Kontext – ‚ethische‘ Schwierigkeiten. Zu den Letzteren gehört das Gefühl des Unheimlichen bzw. der tiefe Eindruck, den die Erzählung des Priesterkönigs auf Autor und Leser macht. Wittgenstein geht so weit, diese Gefühle mit Liebesunruhe zu vergleichen: „Wer aber, etwa, von der Liebe beunruhigt ist, dem wird eine hypothetische Erklärung wenig helfen. – Sie wird ihn nicht beruhigen.“ (MS 110: 181; TS 211: 315)³⁴⁰ Die scheinbar nüchterne (und scheinbar) wissenschaftliche Untersuchung hat einen emotionalen Hintergrund und ist vor diesem zu betrachten. Die Faszination des Exotischen und Unheimlichen darf nicht aus dem Blick geraten; die Tatsache, dass uns ein Ritual, oder auch nur ein Detail an ihm, „besonders schrecklich anmutet hat wieder eine wesentliche Bedeutung für die Untersuchung solcher Gebräuche [eines solchen Gebrauchs]“ (MS 143: 15 f.)³⁴¹ – und erst recht für den Erfolg von Frazers Werk beim gebildeten Publikum von damals. Wittgenstein mag die Wichtigkeit des Rätsels um die Sukzessionsregel überschätzen; aber seine Vermutung, es habe mit einem wissenschaftlichen Problem nichts zu tun, ist nicht abwegig. Allerdings stellt er hier auch eine Fehldiagnose. Er missversteht das Rätsel, insofern er es nach Analogie der eigenen religiösen Schwierigkeiten deutet. Er projiziert auf die in Nemi begangenen ‚finsteren Verbrechen‘ („dark crimes“) seine eigene Auffassung von tiefer Beunruhigung. Dem Autor des Golden Bough, der sich sehr bewusst seiner Stilmittel bedient, darf man derlei Beunruhigungen kaum zuschreiben – und umso weniger etwas wie religiöse Schwierigkeiten. Aber als begabter Schriftsteller weckte Frazer in dem Leser,vor allem, wenn auch nicht nur, in einem Leser wie Wittgenstein, der an den Varietäten religiöser Erfahrung interessiert und nun von einigen verstört war, wirklich Spannung und Unruhe. Die literarische Form sprach ein breites Publikum an, darunter auch Leser, die weit weniger rationalistisch orientiert waren als Frazer selbst. Letzteres war in der Faszinationsgeschichte des Golden Bough eher

 Auf ähnliche Weise kann im Vortrag über Ethik eine ethische Erfahrung wie die Verwunderung über die Existenz der Welt missverstanden werden (siehe dazu oben S. 46 ff.). Die gleiche Verwechslung stellt Wittgenstein in seiner Vorlesung vom May Term 1933 bloß. Siehe dazu unten S. 302 ff.  So Wittgenstein Jahre nach der ersten Lektüre des Golden Bough. Aber die Stoßrichtung seiner Kritik ist von Anfang an die gleiche.

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die Regel.³⁴² Wittgenstein durchschaut also, dass es hier nicht wirklich um ein wissenschaftliches Problem geht. Aber es handelt sich doch nicht um ein Mysterium, sondern um etwas wie eine ästhetisch und literarisch komponierte mistery story (Stocking 1995: 139), unter deren vielfältigen Resonanzen die religiösen – und antireligiösen – nicht in Abrede zu stellen sind. Frazer, der den Golden Bough als Standardwerk und zugleich als Bestseller angelegt hatte, war davon überzeugt, Wissenschaft und Literatur in Einklang bringen zu können: Ihm zufolge machte die literarische Form – etwa seiner Landschaftsbeschreibungen – den Golden Bough den Lesern zugänglicher, war dem Buch jedoch äußerlich; dessen harter wissenschaftlicher Kern blieb s. E. davon unangetastet. In diesem wesentlichen Punkt widerspricht Wittgenstein dem Selbstverständnis des Autors: Dem Philosophen zufolge gibt es im Golden Bough keinen harten wissenschaftlichen Kern, und die literarische Form ist kein Außenwerk, sondern die Sache selbst. Er sieht in Frazer den Schriftsteller: Die literarische Darstellungsform ist in Wittgensteins Augen adäquat, da es nicht um ein wissenschaftliches Problem geht, der Autor arbeite sich eher an einer ‚ethischen‘ Schwierigkeit ab. Weit davon entfernt, in Frazer einfach einen Wissenschaftler zu sehen, unterstreicht Wittgenstein also die wesentliche Funktion erzählerischer und stilistischer Ausdrucksmittel im Golden Bough. Die Einkleidung des Materials, die Form der Darstellung, ist demnach entscheidend, weil sie jene gespannte Unruhe zuerst hervorruft und dann auflöst, um die es Wittgenstein zufolge im Golden Bough eigentlich geht. Man hat behauptet, dass Frazers „readers intuitively felt his work to be literature“ (Vickery 1973: 8); wie dem auch sei, Wittgenstein zumindest liest Frazers Werk auf weite Strecken wie ein Stück Literatur. Spätestens seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts rückte immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit, dass noch Feldforscher wie Malinowski nicht darum herum kamen, in ihren klassischen ethnologischen Monographien den empirischen Inhalt, wenn nicht in einer narrativen Struktur, so doch in einem literarischen Gewand zu vermitteln.³⁴³ Wittgenstein scheint in dieselbe Richtung zu weisen, aber – und dies  „[P]erhaps no book has had so decisive an effect upon modern literature as Frazer’s“ (Trilling 1965 S. 14; vgl. Downie 1970: 63 f.; Vickery 1973: 4). Man kann in Trillings Urteil, Frazer sei möglicherweise noch einflussreicher gewesen als Freud, nur eine Hyperbel sehen; aber der Golden Bough genoss tatsächlich eine enorme Popularität unter (v. a. englischsprachigen) Künstlern und Schriftstellern. Auf diese heute nicht immer leicht nachvollziehbare Wirkungsgeschichte kann ich nicht einmal kursorisch eingehen. Hier seien nur Yeats, Conrad (Heart of Darkness), Eliot (The Waste Land), Lawrence, Woolf, Joyce und Faulkner erwähnt. Vgl. dazu v. a. Hyman 1962; Vickery 1973; Fraser 1990b.  Vgl. v. a. Clifford/Marcus 1986; Clifford 1988; Berg/Fuchs 1995. Zum Kontext der Auseinandersetzung mit Cliffords postmodernistischer Ethnologiekritik gehört auch Geertz 1988.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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ist ein wesentlicher Punkt – anders als die spätere, literaturwissenschaftlich geprägte Ethnologiegeschichte, ohne dabei (primär) an das fiktionale Moment zu denken. Er nimmt dieses vielmehr kaum zur Kenntnis, und zwar selbst dort, wo er Frazers Beschreibungen als inadäquat zurückweist.

2.2.2.3 „It is a somber picture, set to melancholy music“. „Wenn Frazer anfängt und uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt […]“ Von den ersten Frazer-Notaten im Juni 1931 beziehen sich mehrere auf den Anfang des Golden Bough, in dem Frazer „uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt“ und zwar „in einem Ton der zeigt daß er fühlt und uns fühlen lassen will daß hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht.“ (MS 110: 180; TS 211: 314)³⁴⁴ Es ist viel die Rede von Wittgensteins ‚spekulativer‘ bzw. ‚imaginärer‘ Ethnologie. Aber Frazers Ethnologie ist in einem anderen Sinn ebenfalls eine imaginäre, nämlich eine absichtlich suggestive: ‚Wir‘ – der Autor und seine Leser – stellen uns die ‚Szene‘ in Nemi vor, machen uns davon ein ‚Bild‘, ein finsteres, begleitet von einem schwermütigen Soundtrack: „Rather we picture to ourselves the scene […] It is a somber picture, set to melancholy music […]“ (FGB III 1: 9). Dieses musikalisch unterlegte ‚Bild‘ ‚versetzt‘ den Autor und seine Leser in barbarische Urzeiten,³⁴⁵ jene Sitte ‚schmeckt‘ nach ihnen.³⁴⁶ Der Einbildungskraft wird hier eine ästhetische Leistung abverlangt: Der Autor fordert den Leser dazu auf, die Szene in ihrer ganzen Unmenschlichkeit zu imaginieren. Unmittelbar darauf wechselt Frazer jedoch vom literarisch Suggestiven zu einem anderen Register: Der Waldkönig steht in seiner Zeit „auffallend isoliert“ (vgl. FGB III 1: 10) da, und für diese scheinbare Einzigartigkeit schlägt Frazer eine hypothetische entwicklungsgeschichtliche Lösung vor. Derlei rasche Registerwechsel entgehen Wittgenstein nicht. Er sieht einen Bruch zwischen dem Anfang des Buches, in dem die Gestalt des „ghastly priest“ vor unseren Augen aufsteigt, und Frazers anschließendem Versuch, den Weg zu einer hypothetischen kausalen Erklärung des Beschriebenen zu zeigen. „Die Erklärung ist im Vergleich mit dem Eindruck, den uns das Beschriebene macht, zu unsicher. | Jede Erklärung ist ja eine Hypothese.“ (MS 110: 180) Mit diesem „Eindruck“ scheint es sich ähnlich zu verhalten wie mit der Liebesunruhe: In

 Die von Rhees edierte Bemerkung weicht vom Original gravierend ab (und die Ausgabe in VE (GB 1995: 31), nicht diejenige in PO (GB 1999: 120), folgt hier Rhees). Siehe dazu unten S. 226.  Der Ritualmord ist „a custom […] which seems to transport us at once from civilization to savagery.“ (FGB III 1: 8)  „No one will probably deny that such a custom savours of a barbarous age“ (FGB III 1: 9; FGB I, Bd. 1: 2 f.).

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beiden Fällen, behauptet Wittgenstein, „wird eine hypothetische Erklärung wenig helfen.“ (MS 110: 181) Durch kausale Erklärungen kommen wir nicht zur Ruhe, sei ihr Gegenstand das Lieben oder ein verstörender Ritus. Wittgenstein geht davon aus, dass der Eindruck sich unmittelbar aus der Beschreibung ergibt; man würde vergeblich versuchen, diesen Eindruck durch eine hypothetische Erklärung zu steuern; das Beschriebene gehört zu den Phänomenen, die „durch eine ‚Erklärung‘“ nicht „weniger eindrucksvoll“ (MS 110: 198) werden. Was auf uns Eindruck macht, ist demnach „das Beschriebene“ selbst, nicht die Beschreibung allein. Schließt Wittgenstein aus, dass diese fiktiv sein kann? Geht er einfach davon aus, dass sie das „Phänomen“ (MS 110: 298) treu widerspiegelt? Er legt sich in diesem Punkt nicht explizit fest. Aber das Modell (das ‚Urbild‘), von dem er damals noch ausgeht, ist die unmittelbare Beschreibung des ‚Primären‘, ‚Phänomenologischen‘, „die nicht-hypothetische […] Beschreibung des Gesehenen, Gehörten“ (MS 110: 8). Den definitiv verifizierbaren Sätzen über das Primäre eignet eine unmittelbare Sicherheit, die von der empirischen grundsätzlich zu unterscheiden ist. Erklärungen sind unsicher, weil „[d]er ‚[k]ausale Zusammenhang‘“, auf den sie sich beziehen, „kein primärer Zusammenhang“ ist (MS 110: 175). Diese Idee hat Wittgenstein damals noch nicht aufgegeben; sie beginnt jedoch bereits, sich aufzulösen: Dort, wo man nicht zweifeln kann, gibt es auch keine Sicherheit.³⁴⁷ Kann man also wirklich sagen, der Beschreibung bzw. dem Eindruck eigne eine Sicherheit anderer Art als die empirische? Wittgenstein behauptet dies nicht explizit; es heißt nur, dass Erklärungen „zu unsicher“ sind; aber wenn es so ist, was steht dann ihrer im besten Fall nur relativen Sicherheit gegenüber? Zwischen der nie definitiven Sicherheit (bzw. der Unsicherheit) mehr oder weniger wohl belegter empirischer Hypothesen und dem Eindruck, den das Beschriebene auf uns macht, besteht für Wittgenstein ein kategorialer Unterschied und keiner des Grades. Auch hier klingt Spenglers Auffassung des Symbolischen an. „Ein Symbol ist ein Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache Menschen mit unmittelbarer innerer Gewißheit etwas bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann.“

 „Die Worte ‚sicher sein daß‘ kann man nur von einer Hypothese gebrauchen. Es heißt nichts zu sagen ‚ich bin sicher daß ich Zahnschmerzen habe‘ außer in einem Sinn in dem es doch möglich ist zu zweifeln ob ich Zahnschmerzen habe/ob es Zahnschmerzen sind/“ (MS 110: 31) Später wird Wittgenstein an ‚primitive‘ Sprachspiele denken, in denen es etwas wie Zweifel noch nicht gibt; aber er meint dann die ‚Sicherheit‘ primitiver Reaktionen, nicht die ‚phänomenologische‘ Sicherheit etwa von Russells ‚immediate awareness‘.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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(UdA 1923, Bd. 1: 214)³⁴⁸ Ein spenglersches Symbol soll unmittelbar wirken und für etwas stehen, was sprachlich nicht mitteilbar ist. Damit stimmt Wittgensteins Idee überein, dass einem religiösen Symbol keine Meinung zugrunde liegt. Kennzeichnet also die introspektive unmittelbare Gewissheit, die sich kaum versprachlichen lässt, auch in seiner damaligen Auffassung das Symbolische? Drury zufolge geht es noch 1931, in der Auseinandersetzung mit Frazer, weiterhin um das Unaussprechliche der Abhandlung, das keine Erläuterung zulässt. Eine gewisse Kontinuität mit dem Frühwerk, wenn auch ohne dessen strenges Korsett, lässt sich nicht abstreiten. Anders als in der Abhandlung geht es jedoch nicht mehr darum, ob das, was man sagt, sinnlos ist, also kein Satz. Aber man kann nur erzählen und beschreiben, damit zeigt man etwas, und dann schweigt man, bzw., es bleibt nichts mehr zu sagen, weitere Gründe lassen sich nicht anführen, und eine Letztbegründung gibt es nicht. Frazers ‚Problem‘ erfordert eine Beschreibung, die keine neuen Tatsachen beisteuert und nicht hypothetischen Charakters ist. So Wittgensteins höchst kontrovers beurteilte Einschätzung: „Ich glaube daß das Unternehmen einer Erklärung schon darum verfehlt ist weil man nur richtig zusammenstellen muß, was man w e i ß und nichts dazusetzen und die Befriedigung die durch die Erklärung angestrebt wird ergibt sich von selbst.“ (MS 110: 179 f.)³⁴⁹ Der rituelle Vorgang kann nur beschrieben – nicht „erklärt“ – werden; über die Beschreibung hinaus gibt es über ihn so gut wie nichts zu sagen. „Nur b e s c h r e i b e n kann man hier und sagen: so ist das menschliche Leben.“ (MS 110: 180; TS 211: 315) „Man möchte sagen: Dieser und dieser Vorgang hat stattgefunden; lachˈ, wenn Du kannst.“ (MS 110: 181; TS 211: 315) Wer zu der Beschreibung im Golden Bough etwa mit „so ist das menschliche Leben“ Stellung nimmt, hält sich anders als Frazer an die Devise, „nichts“ – und insbesondere keine Kausalerklärung – „dazusetzen“. Im gleichen Sinn will der späte Wittgenstein „die Tatsachen als ‚Urphänomene‘“ sehen und die gegebenen Sprachspiele und Lebensformen hinnehmen, d. h. sich mit einer Feststellung wie „dieses Sprachspiel wird gespielt“ (PU, § 654) begnügen.³⁵⁰ „[S]o ist das menschliche Leben“ (MS 110: 180), „lachˈ, wenn Du kannst“ (MS 110: 181): Diese Reaktionen – Wittgenstein geht über eine Andeutung nicht hinaus – widersprechen einander nicht: Man nimmt das Phänomen als gegeben hin, und Wittgensteins Vorsatz, sich über ‚Magie‘ und Religion nicht lustig zu

 In den früheren Ausgaben heißt es: „Ein Symbol ist ein Stück Wirklichkeit, das für das leibliche oder geistige Auge etwas bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann.“ (UdA 1920, Bd. 1: 223)  Cioffi entnimmt dieser Aufzeichnung, dass derartige Phänomene beyond explanation sind und dass sie auch ohne Kausalerklärung verstanden werden können (Cioffi 1998: 1 f.).  Siehe unten S. 386 f.

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machen (vgl. MS 110: 177; WWK: 118), scheint hier nicht schwer zu erfüllen: Man lacht nicht über ein solches Grauen. Von ‚primitiven Reaktionen‘ spricht der Philosoph damals noch nicht. Aber das Ereignis scheint durch eine solche mit unseren Gefühlen verbunden. Das Spektrum möglicher Reaktionen ist offenbar nicht beliebig breit gefächert. Abweichungen halten sich in Grenzen. Auch eine lakonische Äußerung wie „lachˈ, wenn Du kannst“, verrät, dass Wittgenstein zu dieser Zeit allgemeinmenschliche Gemeinsamkeiten viel stärker betont als kulturelle oder sonstige Besonderheiten. Wenn man „nur richtig zusammenstellen“ muss, „was man w e i ß < ,> und nichts dazusetzen“ (MS 110: 179 f.), dann verhält es sich hier ähnlich wie bei Hertz: Die Mechanik weiß eigentlich alles, was sie braucht; aber, solange sie ihre ‚Ausdrucksweise‘, ihre ‚Form der Darstellung‘, nicht wechselt, wird sie nicht vermeiden, „von Dingen zu reden, von welchen sie sehr wenig weiss“ (Hertz 1894: 21). Mit Wittgenstein reformuliert: Da die Mechanik das, was sie weiß, falsch zusammenstellt, muss sie etwas dazusetzen, was sie nicht wirklich weiß, z. B. Vermutungen über das ‚Wesen‘ der Kraft. Wittgenstein wendet Hertz’ Diagnose auf den Golden Bough an: Wenn wir wie Frazer Gebräuche beschreiben, dürfen wir weder das, was wir wissen, falsch zusammenstellen noch etwas „dazusetzen“ (MS 110: 180), was wir nicht „wirklich wissen“ (MS 110: 197). Noch die Philosophischen Untersuchungen fordern scheinbar dasselbe: „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“: Kausalen Erklärungen steht hier eine grammatische Beschreibung gegenüber, die philosophische Probleme, „nicht durch Beibringen neuer Erfahrung“ lösen soll, „sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten.“ (PU, § 109)³⁵¹ Läuft nun beides – das längst Bekannte (PU, § 109) und das, „was man w e i ß “ (MS 110: 180) – nicht aufs Gleiche hinaus?³⁵² Es besteht eine echte Analogie: Die Kriterien, dass man etwas weiß und es richtig zusammenstellt, sind hier wie dort keine empirischen, und richtig ist für Wittgenstein beide Male die Zusammenstellung, die dem Leser die Quelle seiner ‚Beunruhigung‘ erschließt und der Befremdung ein Ende setzt. Geht die Analogie aber wirklich weiter? Längst bekannt, wenn auch unübersichtlich, ist in den Philosophischen Untersuchungen die Grammatik: die Regeln und der Hintergrund der uns vertrauten Sprachspiele. Was „w e i ß “ man

 Zum Anklang an Hertz siehe oben S. 199 f.  Drury geht offenbar davon aus: Er beruft sich auf eine von Wittgensteins „printed lectures“, d. h. eigentlich auf das Blue Book, dem zufolge „the great difficulty in philosophy is to say no more than we really know“ (Drury 2003: 7; vgl. BBB: 45), und gibt Wittgensteins Haupteinwand gegen Frazer ähnlich wieder: „In pretending to understand the reason for these rites Frazer is saying more than he really knew.“ (Drury 2003: 8 f.)

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aber über den Priesterkönig und den goldenen Zweig? Ist das Bekannte hier nicht etwas völlig anderes als die Grammatik unserer gemeinsamen Sprache? Mit seinem Einwand, Frazer setze manches dazu, was er nicht wirklich wisse, rennt Wittgenstein bei dessen spekulativem Stil offene Türen ein. Es fragt sich jedoch, ob wir in diesem Kontext überhaupt etwas „wirklich wissen“ (MS 110: 197). Wann weiß man etwas? Und wann stellt man das Gewusste richtig zusammen? Die Kriterien bleiben in diesem Bereich erst einmal unklar, unklarer als in Hertz’ Mechanik – oder in der Philosophie. Was heißt hier wissen oder richtig? Und was wird zusammengestellt? Was heißt überhaupt „zusammenstellen“? Wittgensteins letzte Antwort auf Frazers vergleichende Methode ist, dass in einer übersichtlichen Darstellung alle gegebenen Daten samt den formalen (’hypothetischen’) Zwischengliedern zusammengestellt werden. Seine erste Antwort, als er auf den Anfang des Golden Bough einging, war allerdings viel einfacher: Es werden zwei „Symbole“ zusammengestellt.

2.2.2.4 Symbole zusammenstellen „Wer von der Majestät des Todes ergriffen ist, kann dies durch so ein Leben zum Ausdruck bringen. – Dies ist natürlich auch keine Erklärung sondern setzt nur ein Symbol für ein anderes. Oder: eine Zeremonie für eine andere.“ (MS 110: 181; TS 211: 315) Symbolisch ist demnach nicht erst Frazers Erzählung, sondern bereits das Erzählte selbst, das Leben des Priesterkönigs: Dieser sei „von der Majestät des Todes“ ergriffen, sein Leben bringe diese Ergriffenheit zum Ausdruck und die „Majestät des Todes“ zur Darstellung.³⁵³ Will Wittgenstein damit eine eigene Hypothese vorschlagen? Nicht seinem Selbstverständnis nach: Die Erläuterung, wer so lebe wie der Waldkönig, sei von der Majestät des Todes ergriffen, setzt einfach ein Symbol für ein anderes, und zwar „das Wort ‚die Majestät des Todes’“ für Frazers „Erzählung vom Priesterkönig von Nemi“ bzw. für das „Leben des Priesterkönigs“. Es handelt sich also nicht um eine kausale Erklärung, sondern um eine Zeichenerklärung, die aus den Zeichen nicht herauskommt. „Wenn man mit jener Erzählung vom Priesterkönig von Nemi das Wort ‚die Majestät des Todes‘ zusammenstellt, so sieht man, daß die beiden Eins sind. | Das Leben des Priesterkönigs stellt das dar was mit jenem Wort gemeint ist.“ (MS 110: 181; TS 211: 315)

 Frazer gibt eine ganz andere, erwartungsgemäß eher utilitarische Deutung: Der entflohene Sklave, der den Priesterkönig zum Duell herausfordert, sucht darin sein Heil: Wenn er das Duell siegreich übersteht, wird er nicht mehr verfolgt und darf amtieren, solange ein Stärkerer ihn nicht erschlägt. Von einem Willen, die eigene Ergriffenheit zum Ausdruck zu bringen, ist weder bei Frazer selbst noch in seinen spärlichen Quellen irgendwo die Rede. Diese Lesart entspricht eher Wittgensteins allgemeiner Auffassung von religiöser Handlung bzw. religiösem Leben.

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(Priester‐)König und Majestät, der ermordete Mörder und der Tod: Hier werden Symbole (Bilder, Gleichnisse) ausgetauscht, das eine übersetzt das andere, der vertraute Ausdruck macht uns das fremde Leben zugänglich; für das abstoßende Duell in Nemi setzen wir eine bekannte (symbolische) Handlung (bzw. eine Anschauung) und reimen uns dann etwas zusammen. Das nennt Wittgenstein später ästhetische Gründe. Man „sieht“ (MS 110: 181; meine Hervorhebung), dass die zwei Symbole dasselbe bedeuten, der Ton von Frazers Erzählung „zeigt“, „daß er fühlt und uns fühlen lassen will daß hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht“ (MS 110: 180; meine Hervorhebung; vgl.TS 211: 314), und dieses Furchtbare ist eben das, was auch mit dem Wort ‚die Majestät des Todes‘ gemeint ist. Dem Golden Bough ist eine Abbildung beigegeben, das gleichnamige Gemälde von Turner.³⁵⁴ „The King of the Wood“, das erste Kapitel des Buches, geht gleich am Anfang darauf ein.³⁵⁵ In Drurys Bericht über die gemeinsame Lektüre wird diese „allererste[] Seite“ und mit ihr Turners Bild ausdrücklich erwähnt. Drurys Wittgenstein sieht eine tiefe Analogie zwischen Frazers Erzählung und dem Gemälde: Bei der Lektüre „spüren wir noch etwas von dem Grauen“, das hinter den beschriebenen Praktiken steckte, und auch das Bild erweckt in uns ein „Gefühl des Grauens“, allerdings nur, „wenn wir an den dort verübten Ritualmord denken“.³⁵⁶

 Es wurde 1834 in der Royal Academy ausgestellt und gehört heute zur Sammlung der Tate Gallery in London. Zu Turners Gemälde vgl. Butlin/Joll 1977, Bd. 1, Nr. 355: 186 f. Die Abbildung ist in Bd. 2, Nr. 334 (Cat. 355). Zur Bedeutung dieses Bildes für Frazers Buch vgl. Fraser 1990c: 1 f.  „Who does not know Turner’s picture of the Golden Bough? The scene, suffused with the golden glow of imagination in which the divine mind of Turner steeped and transfigured even the fairest natural landscape, is a dream-like vision of the little woodland lake of Nemi – ‚Diana’s Mirror,‘ as it was called by the ancients. No one who has seen that calm water, lapped in a green hollow of the Alban hills, can ever forget it. The two characteristic Italian villages […] hardly break the stillness and even the solitariness of the scene. Diana herself might still linger by this lonely shore, still haunt these woodlands wild. | In antiquity this sylvan landscape was the scene of a strange and recurrent tragedy. […] a natural link subsisted between the natural beauty of the spot and the dark crimes which under the mask of religion were often perpetrated there, crimes which after the lapse of so many ages still lend a touch of melancholy to these quiet woods and waters, […]“ (FGB III 1: 1; vgl. FGB 1922: 1).  „[…] He was particularly emphatic that it was wrong to think, as Frazer seemed to do, that the primitive rituals were in the nature of scientific errors. […] The ceremonies that Frazer described were expressions of deeply felt emotions, of religious awe. Frazer himself showed that he partly understood this, for on the very first page he refers to Turner’s picture of the Wood of Nemi and the feeling of dread that this picture arouses in us when we remember the ritual murder performed there. In reading of these practices we are not amused by a scientific mistake but ourselves feel some trace of the dread which lay behind them.“ (MDC: 119).

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Mitten in der idyllischen Landschaft tanzen die Parzen, unweit des gleißenden Sees liegt der Eingang der Unterwelt, und im Vordergrund lauert eine Schlange. Naturschönheit und Tod: Diese Spannung durchzieht das Gemälde. Aber Frazer geht auf Turners Todessymbolik mit keinem Wort ein. Im Buch ist also eigentlich nicht davon die Rede, dass Turners Bild in uns ein „Gefühl des Grauens“ erweckt. Im Gegenteil: Das Gemälde verklärt eine bezaubernd stille Landschaft, und die Betrachtung – so Frazer – wird getrübt, wenn wir von der Geschichte des Waldkönigs erfahren, von jener „strange and recurring tragedy“. Es bestand „a natural link“ zwischen der Schönheit der Landschaft und den finsteren Verbrechen, die an jenem Ort begangen wurden; und diese verleihen noch heute „a touch of melancholy to these quiet woods and waters“ […]“ (FGB III I: 1). In Turners Bild pflückt Deiphobe, die Sibylle von Cumae, den goldenen Zweig, mit dem Aeneas dann in die Unterwelt hinabsteigt. Der See, der im Gemälde zu sehen ist, ist wie in der Aeneis der Lago d‘Averno, aber Frazer suggeriert, dass Turner die Handlung in Nemi situiert – und Drury nimmt es ihm ab. Meint Frazer, dass der Maler, inspiriert von Servius‘ Kommentar (Ad Aeneidem VI, 136), Vergils Szene mit dem Ritualmord verbindet?³⁵⁷ Den goldenen Zweig mit dem Priesterkönig? Nichts im Bild weist auf diese Verbindung. Auf die Idee bringt den Leser erst Frazers Erzählung – und das Gedicht, das er dem ersten Kapitel The King of The Wood voranstellt, eine Strophe aus Macaulays The Battle of Lake Regillus. Macaulays Verse spielen mit dem Gegensatz zwischen dem idyllischen See („the still glassy lake that sleeps beneath Aricia’s trees“) und dem dort im düsteren Wald herrschenden „ghastly priest“: „The priest who slew the slayer, | and shall himself be slain“.³⁵⁸ Den visuellen und den poetischen Paratext, das Gemälde und das Motto, durchzieht also eine ähnliche Spannung. Frazer preist an dem Gemälde nur die Naturschönheit. Er behauptet dementsprechend nicht, dass die Vorahnungen des Todes in Turners bezaubernder Landschaft sich auf den Ritualmord in Nemi beziehen. Stattdessen baut Frazer eine Spannung zwischen

 Zu Frazers ‚romantischer‘ Phantasie auf diesen Seiten vgl. Smith 1973: 346. Frazers einzige Quelle, so Smith, ist hier Strabons Geographie, V.3.12 (und dann Serviusˈ zitierter Aeneis-Kommentar).  „ [t]he still glassy lake that sleeps | Beneath Ariciaˈs trees – | Those trees in whose dim shadow | The ghastly priest doth reign, | The priest who slew the slayer, | And shall himself be slain.“ (Nach FGB III 1: 1.) Thomas Babington Macaulay (1800 – 1859) variiert in diesen Versen aus „The Battle of Lake Regillus“, einem der Lays of Ancient Rome (London 1842: 102 f.), eine Ovidstelle (Fasti,III.271 f.). In Frazers Übersetzung der Fasti – einige Jahrzehnte nach der ersten Ausgabe des Golden Bough – klingt sie so: „The strong of hand and fleet of foot do there reign kings, and each is slain thereafter even as himself had slain.“ (Ovid 1929, Bd. 1: 133; vgl. dazu Smith 1973: 352, Anm. 35.) Von Macaulay kannte Wittgenstein laut Drury die Critical and Historical Essays (vgl. MDC: 161).

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den Paratexten auf: Er kontrastiert Abbildung und Motto, Turners Gemälde und Macaulays Verse, die vom Maler geschilderte heitere Oberfläche und ihren schaurigen Hintergrund. Darüber hinaus stellt Frazer die frommen Pilger von heute und die einstmals begangenen „dark crimes“ (FGB III 1: 1; FGB 1922: 1) gegenüber. Denken wir an diese ‚finsteren Verbrechen‘, dann blicken wir anders auf die stille Landschaft. Die Erzählung, so Drury, erweckt in uns ein „feeling of dread“ (Drury 1984b: 119); sie beschwört die „Majestät des Todes“ (MS 110: 181) herauf, von der bei Wittgenstein die Rede ist. Ist dies für ihn reine Suggestion? Betrachtet er Frazers Erzählung als literarische Fiktion? Drurys Wittgenstein tut es nicht: Wir spüren „noch etwas von dem Grauen“, das hinter Bräuchen wie dem Ritualmord „steckte“. Das Grauen, das wir spüren, und das Grauen, das hinter jenen Praktiken steckte, sind also verwandt, unsere Art zu empfinden und die jener Menschen einander nicht fremd. So gibt Drury Wittgensteins Auffassung wieder. Geht die erwähnte Bemerkung von der gleichen Voraussetzung aus? In Rhees’ Ausgabe, ja: Der Ton, in dem Frazer die Geschichte des Waldkönigs erzählt, „zeigt, daß hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht“. Im Manuskript steht aber etwas anderes: Der Ton zeigt lediglich Frazers subjektive Empfindung an – und dass er sie auf seine Leser übertragen möchte. Der Ethnologe erzählt die Geschichte nämlich „in einem Ton der zeigt daß er fühlt und uns fühlen lassen will daß hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht. Die Frage aber ‚warum geschieht dies?[]‘ wird eigentlich dadurch beantwortet: weil es furchtbar ist. Das heißt dasselbe was uns bei diesem Vorgang furchtbar, großartig schaurig |tragisch| etc. vorkommt nichts weniger als trivial und bedeutungslos vorkommt, d a s hat diesen Vorgang ins Leben gerufen.“ (MS 110: 180; vgl. TS 211: 314) Rhees’ Wiedergabe lässt im Unklaren, was Frazers Erzählton „zeigt“, und die Fortsetzung legt scheinbar eine ‚objektive‘ Deutung nahe: Der Ton „zeigt“ (nicht: „sagt“), wie der Brauch war und welche Gefühle mit ihm verbunden waren. Die abschließende Bemerkung sieht dann auf den ersten Blick wie eine Kausalerklärung aus, wie eine genetische Betrachtung über das, was „diesen Vorgang ins Leben gerufen“ hat: mit dem fragwürdigen Ergebnis, dass dasselbe, was uns furchtbar vorkommt, jenen fernen rituellen Vorgang wirklich hervorgebracht hat. Doch im Grunde vernimmt Wittgenstein im Ton des Golden Bough nur, was der Autor „fühlt und uns fühlen lassen will“ (MS 110: 180): Der Ethnologe will auf ‚uns‘ sein Gefühl übertragen, dass etwas Furchtbares geschieht; die scheinbar kausale Frage ‚warum geschieht dies?‘ beantwortet er doch nicht durch die Angabe einer Ursache, sondern indem er in ‚uns‘ dieses Gefühl des Furchtbaren, Unheimlichen weckt. So zumindest diese Bemerkung. Wie ist aber die Fortsetzung zu lesen, die Betrachtung über das, was den „Vorgang ins Leben gerufen“ hat?

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2.2.2.5 Sätze in der ersten Person und ihre ‚phänomenologische‘ Deutung In seiner phänomenologischen Phase stellt Wittgenstein den erklärenden Methoden der Erfahrungswissenschaften eine ‚phänomenologische‘ Beschreibung gegenüber, die sich auf die nicht falsifizierbare unmittelbare Erfahrung in der ersten Person bezieht. Im Juni 1931 hat er das Ideal einer phänomenologischen Sprache bereits aufgekündigt; aber er hängt einigen ‚phänomenologischen‘ Ansichten weiterhin nach. Damals versteht er Sätze in der ersten Person wie „ich mich […] w e i l jemand zur Türe hereinkommt“ (MS 110: 21), oder „[i]ch zittere, weil ich ihn sehe“ (MS 111: 190), noch als ‚introspektive‘ ‚phänomenologische‘ Beschreibungen eigener unmittelbarer Erfahrung. In diesen Sätzen ist ‚weil‘ nicht kausal gemeint. Es leitet die Angabe eines Grundes ein; und das ausschlaggebende Kriterium ist bei einem Grund – anders als bei einer Ursache – eben die Aussage des Sprechers, der sich zu ihm als zu seinem Grund bekennt. An dieser Eigenart von Gründen hält Wittgenstein auch später prinzipiell fest. Aber in MS 110 betrachtet er jene Sätze noch als phänomenologische Beschreibungen: Bei ihnen gibt es deshalb keinen Platz für einen Zweifel, weil sie einfach unsere unmittelbare gegenwärtige Erfahrung beschreiben.³⁵⁹ Schon bald nach der ersten Niederschrift der Bemerkungen über Frazer deutet er ‚Äußerungen‘ in der ersten Person nicht mehr so. In MS 110 wiederum gilt auch für diese Sätze offenbar der Gedanke, „daß die Hypothese (unrichtig aufgefaßt) schon eine Fälschung der Wahrheit ist“.³⁶⁰

 „Wenn ich mich aber nun ärgere w e i l jemand zur Türe hereinkommt, kann ich mich hier im Nexus irren oder erlebe ich ihn wie den Ärger“ (MS 110: 21)? Ich kann mich nur dann „im Nexus irren“, wenn ich diesen als einen Kausalnexus verstehe; „über die Ursache meines Aergers läßt sich streiten“ (MS 110: 22; TS 211: 131). Aber um sie geht es nicht: Eher „erlebe ich ihn [den Nexus; MB] wie den Aerger“ (MS 110: 21), der Gedanke ist „unlustbetont“ (MS 110: 22). Das Gleiche gilt für „Zeichenausdruck“ (MS 110: 22) überhaupt. Wie weiß ich, dass „ein furchtbarer Anblick“ furchtbar ist (MS 111: 190; TS 211: 126)? Wenn ich etwa sage „Ich zittere, weil ich ihn sehe“ (MS 111: 190), behaupte ich eigentlich nicht, dass zwischen „Furcht“ und „Anblick“ (oder der „furchtbaren Vorstellung“) ein kausaler Zusammenhang besteht. Wenn jenes „weil“ kausal zu verstehen wäre, müsste man nämlich darauf antworten: „D a s kannst Du nicht wissen. Vielleicht hättest Du auch sonst gezittert.“ (MS 111: 190 f.; TS 211: 126; zum „Weil“ und zur Regel vgl. auch TS 211: 215.) Aber in jenem Satz gibt es keinen Platz für einen „Zweifel darüber, was das Furchtbare ist“ (MS 111: 191). So, meint Wittgenstein Anfang der dreißiger Jahre, ist es bei allem, was „zur unmittelbaren Erfahrung“ „gehört“: Auch ein Satz wie „Diese Gegend macht mich melancholisch“ ist „die Beschreibung der gegenwärtigen“ Erfahrung und keine kausale Hypothese, die künftige Erfahrungen bestätigen oder widerlegen könnten (MS 111: 190; TS 211: 126; vgl. dann TS 213: 403).  „‚Was der Gescheite weiß, ist schwer zu wissen.‘ Hat die Verachtung Goethes für das Experiment im Laboratorium und die Aufforderung in die freie Natur zu gehen und dort zu lernen, hat dies mit dem Gedanken zu tun daß die Hypothese (unrichtig aufgefaßt) schon eine

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Richtig ist für Wittgenstein damals eine phänomenologische Auffassung, der zufolge die Hypothese „nicht über die Erfahrung hinausgeht“ bzw. nur „meine […] unmittelbare Erfahrung“ beschreibt: z. B. wie der Satz „es scheint vor mir auf dem Tisch eine Lampe zu stehen“ (MS 110: 258). Wann fasst man so eine ‚phänomenologische‘ Hypothese unrichtig, ja falsch, auf? Wenn man die Beschreibung der eigenen unmittelbaren Erfahrung mit einer empirischen Hypothese verwechselt; denn anders als diese ist die ‚phänomenologische‘ Hypothese „nicht der Ausdruck der Erwartung künftiger Erfahrung“ und kann von Letzterer weder bestätigt noch widerlegt werden.³⁶¹ Die ‚Oberflächengrammatik‘ ist dabei nicht entscheidend: Als ‚phänomenologische Hypothesen‘ deutet Wittgenstein nicht nur psychologische Sätze in der

Fälschung der Wahrheit ist? […]“ (MS 110: 257 f.; der angeführte Vers stammt aus den Zahmen Xenien; vgl. Rothhaupt 1996: 162.) Will Wittgenstein Goethes „Aufforderung in die freie Natur zu gehen“ (MS 110: 258), folge leisten, indem er sein neues Buch mit einer „Naturbeschreibung“ (vgl. MS 110: 258) anfängt? Vielleicht. Offenbar sieht er in dieser „Naturbeschreibung“ eine richtig, d. h. ‚phänomenologisch‘ aufgefasste „Hypothese“. Einige Seiten zuvor heißt es nämlich: „Ich sollte mein Buch vielleicht mit der Analyse eines alltäglichen Satzes, etwa ‚auf meinem Tisch steht eine Lampe‘, anfangen. Von da aus müßte man überall hin gelangen können. | Das entspricht auch dem Gefühl, was ich schon vor längerer Zeit hatte, daß ich nämlich mein Buch mit einer Naturbeschreibung d. h. überhaupt mit der Beschreibung einer Situation beginnen sollte. Um aus/in/ihr das Material für alles weitere zu erhalten.“ (MS 110: 243) Die Idee, „mit der Analyse eines alltäglichen Satzes“ (MS 110: 243) bzw. mit „den geschriebenen und gesprochenen Sätzen“ (MS 110: 10) anzufangen, hängt hier mit der Absicht zusammen, das neue Buch mit der Frage nach der sprachlichen Beschreibung des „Unmittelbare[n]“ einzuleiten, das „in ständigem Fluß begriffen“ ist (MS 107: 159; zum ständigen Fluss vgl. Stern 1995: 160 ff.). „Wenn ich nicht recht weiß wie ein Buch anfangen so kommt das daher daß noch etwas unklar ist. Denn ich möchte mit dem der Philosophie gegebenen, den geschriebenen und gesprochenen Sätzen, |quasi| den Büchern anfangen. | Und hier begegnet man der Schwierigkeit des ‚Alles fließt‘. Und mit ihr ist vielleicht überhaupt anzufangen.“ (MS 110: 10) Allerdings, sieht Wittgenstein bereits kurz darauf ein, ist das „Gleichnis vom Fluß/Fließen/ der Zeit“ „natürlich irreführend“ (MS 110: 39), und unserem Gefühl, „daß wir gehindert sind das Eigentliche, die eigentliche Realität festzuhalten“, liegt „ein falsches Bild“ (MS 110: 38) zugrunde. So lässt Wittgenstein bald die Erwägung fallen, mit einer „Naturbeschreibung“ zu beginnen, und ebenso seine damalige Auffassung der „Hypothese“. Das Incipit mit der Metaphysik als einer Art der Magie ist eine neue Überlegung.  „Die Hypothese kann so aufgefaßt werden daß sie nicht über die Erfahrung hinausgeht d. h. nicht der Ausdruck der Erwartung künftiger Erfahrung ist.“ (MS 110: 258; TS 211: 282.) Eine solche Hypothese würde nur „meine Erfahrung |(oder, wie man sagt, unmittelbare Erfahrung)| […] beschreiben“. Sie wäre eine „Beschreibung“ etwa von meinem „Gesichtsbild“ (MS 110: 258). (Wittgenstein benutzt damals vorwiegend eine andere Terminologie: ‚Hypothesen‘ nennt er dann die Sätze der Alltagsprache, die primären Sätze heißen dagegen einfach ‚Sätze‘.) Diese Auffassung der Hypothese gibt Wittgenstein allerdings bald auf. Schon WWK: 99, 159 ff., 210 ff., und WLP: 612 ff., vertreten ein späteres, dann ebenfalls fallengelassenes Konzept.

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ersten Person. Dasselbe gilt etwa auch für „[d]iese Gegend macht mich melancholisch“ (MS 111: 190), einen Satz übrigens, der sich auf die „quiet woods and waters“ am Anfang des Golden Bough beziehen ließe.³⁶² Auch die Frage ‚Warum geschieht dies?‘ (der Ritualmord in Nemi) und die Antwort „weil es furchtbar ist“ sind in der dritten Person formuliert. Und auch hier sind „warum“ und „weil“ nicht kausal zu verstehen. ‚Warum geschieht dies?‘ ist nur scheinbar eine empirische Frage, und „weil es furchtbar ist“ (MS 110: 180) nur scheinbar eine hypothetische Erklärung.³⁶³ Nur der Form nach geht es um Entwicklungsgeschichte: Der ‚Tiefengrammatik‘ nach handelt es sich auch hier um Äußerungen, in denen Frazer und seine Leser kundtun, was sie empfinden. Wenn Wittgenstein sich Jahre später den Golden Bough erneut vornimmt, hat er die phänomenologische Auffassung (und die introspektive, spenglersche, des Symbolischen) schon lange hinter sich. Die späten Bemerkungen über die europäischen Feuerfeste kreisen jedoch um eine ähnliche Frage: Ist die Äußerung ‚dieser Gebrauch ist offenbar uralt‘ eine entstehungsgeschichtliche Hypothese? Wittgenstein verneint es: Zwar könnte der Satz auch so verwendet werden, aber im vorliegenden Fall passen die Kriterien – die nicht hypothetische, ‚psychologische‘ evidence – nicht zu einer wissenschaftlichen Hypothese.³⁶⁴ Mit dem Satz ‚es geschieht, weil es furchtbar ist‘, der in diesen späten Bemerkungen nicht vorkommt, scheint Wittgenstein 1931 eine ähnliche Einsicht zu verbinden, selbst wenn er sich

 Frazer erinnert an die „dark crimes“, die „after the lapse of so many ages still lend a touch of melancholy to these quiet woods and waters“ (FGB III 1: 1 f.). Die melancholische Stimmung ist aber ein Leitmotiv: Auch zum Priesterkönig heißt es: „[…] we picture to ourselves the scene […] It is a somber picture, set to melancholy music […]“ (FGB III 1: 9). Siehe dazu S. 219.  In ähnlichem Sinn können laut dem späten Wittgenstein Fragen, in denen die Verwunderung über die Existenz der Welt zum Ausdruck kommt, als Fragen nach kausaler Erklärung missverstanden werden. „Wenn der an Gott Glaubende um sich schaut |sieht| und fragt ‚Woher ist alles, was ich sehe?‘ ‚Woher das alles?‘, so wünscht verlangt er k e i n e (kausale) Erklärung; und der Witz seiner Frage ist gerade, daß es die Frage |sie| der Ausdruck dafür ist, daß man eine Erklärung fordert, verlangt. |dieses Verlangens ist.| Er drückt also eine Stellungnahme/Einstellung/ zu allen Erklärungen aus. – Aber wie zeigt sich das die in seinem Leben? | Es ist die Einstellung, die eine bestimmte Sache ernst nimmt, sie aber dann in ganz bestimmter Weise |an einem bestimmten Punkte| doch nicht ernst nimmt, und erklärt, etwas anderes sei noch ernster.“ (MS 173: 92r; BÜF III, § 317; VB: 570) Zur Frage ‚woher diese Gestalt?‘ bei einem Traum siehe unten S. 329 f.  ‚Psychologisch‘ ist jene Evidenz nicht im Sinn der empirischen Psychologie; das Adjektiv ‚psychologisch‘ ist eher ähnlich gemeint wie das „weil“ in den angeführten Sätzen in der ersten Person. Zur Kontinuität zwischen der zitierten Bemerkung über den Anfang des Golden Bough und den späten Äußerungen über die fire festivals, zur „Introspektion“ und zur „Grundform“ einiger Sprachspiele, in der ein Zweifel nicht vorgesehen ist, siehe unten S. 319 ff.

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damals von seiner unzulänglichen ‚phänomenologischen‘ Begrifflichkeit noch nicht ganz gelöst hat. ‚Warum geschieht dies?‘: Was diese beunruhigende ‚Schwierigkeit‘ eigentlich löst, ist zuletzt der Ton der Erzählung, der dem Unheimlichen seine Präsenz, seine ‚Wahrscheinlichkeit‘ verleiht. Dass der Leser mit dem Priesterkönig ‚die Majestät des Todes‘ verbindet (oder jene Erzählung und diesen Ausdruck ‚zusammenstellt‘), heißt eigentlich dasselbe. Derlei Rituale geschehen, ‚weil‘ sie furchtbar sind, oder ‚weil‘ wir Menschen (nicht nur die Duellanten) von der Majestät des Todes ergriffen sind: Beide Erläuterungen laufen auf das Gleiche hinaus. Als Kausalerklärungen sind sie unzulänglich, ja falsch. Trotzdem scheinen sie auf eigentümliche Art dem Zweifel entzogen. Man sieht, dass die zwei Symbole eins sind. In welchem Sinn stehen sie – Erzählung und Wort – für dasselbe? Sie übersetzen einander, und dies ist keine empirische, historische Tatsache, sondern eine Übereinstimmung in der Sprache. Diese wechselseitige Übersetzbarkeit der zusammengestellten Symbole ist mit einer Hypothese über historische Sachverhalte nicht zu verwechseln. Die Formulierung mag ähnlich sein, die Verwendung ist jedoch eine andere: Es handelt sich um eine Zeichenerklärung, nicht um eine Kausalerklärung. Es geht um den Symbolismus, nicht um die Wirklichkeit. Denn „die Erklärung ist es hier gar nicht die befriedigt“ (MS 110: 180), sondern die Beschreibung, der Ton, in dem die Erzählung gehalten ist und der in uns das Gefühl weckt, dem die Antwort „weil es furchtbar ist“ Ausdruck verleiht. Eigentlich ist „weil es furchtbar ist“ eine abgekürzte Form für eine viel allgemeinere Antwort, die man zunächst mit ‚weil es von Bedeutung ist‘ wiedergeben könnte; die beigegebene erläuternde Aufzählung „furchtbar, großartig schaurig |tragisch| etc.“ steht nämlich für das, was uns „nichts weniger als trivial und bedeutungslos vorkommt“ (MS 110: 180). Aber inwieweit muss gerade das, was uns Lesern so vorkommt, für die Akteure selbst von Bedeutung gewesen sein? Warum können das, was uns an ihrem Brauch beeindruckt, und das, was sie bewegte, nicht weit auseinanderliegen? Setzt sich Wittgenstein hier nicht einfach über jeden historischen und kulturellen Abstand hinweg? Die von Rhees edierte Bemerkung lässt diesen Einwand aufkommen. Aber eigentlich entnimmt Wittgenstein dem Ton des Golden Bough nur, was Frazer „fühlt und uns fühlen lassen will“. Der Philosoph geht hier nur auf Frazers kommunikative Absicht ein: auf das Gefühl, das dieser in ‚uns‘ wecken möchte. Der nicht triviale Charakter des Geschehens ist in Wittgensteins Augen einfach das Merkmal jeder rituellen Handlung als solcher: „[d]as Zeremonielle (heiße oder kalte) im Gegensatz zum Zufälligen (lauen) (haphazard)“ (MS 110: 196)³⁶⁵. Die

 Siehe dazu oben S. 147 f.

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Frage, was jenen rituellen Vorgang ins Leben gerufen hat, ist in Wirklichkeit nicht kausal gemeint, und die Antwort ist nach Wittgensteins Absicht nur eine sehr allgemeine Erläuterung; sie weist auf das hin, was jede rituelle Handlung als „Zeichen der Pietät“ kennzeichnet: auf den symbolischen Ausdruck starker Gefühle. Die Sukzessionsregel in Nemi wurzelt demnach in der universellen zeremoniellen Veranlagung des Menschen, aber nicht unbedingt in denselben Empfindungen, die sie in uns erweckt. Wittgenstein setzt eine genaue Entsprechung zwischen unseren Gefühlen und denen jener Handelnden nicht voraus. Wie der Ausdruck ‚die Majestät des Todes‘ viel vager ist als das spezifische Ritual, so ist die Antwort „weil es furchtbar ist“ weniger verbindlich, als es zuerst den Anschein hat. Sie ist keine genetische Hypothese, sondern steht gerade mit ihrer Vagheit für Wittgensteins Ablehnung, eine derartige Hypothese zu formulieren. Diese bewegt sich auf einer anderen Ebene. Die Antwort „weil es furchtbar ist“ schlägt gleichsam eine Brücke: zwischen dem beschriebenen „Phänomen“ und der Gedanken- und Gefühlswelt des Autors und seiner Leser. Ist ein solches Phänomen einmal mit einem Instinkt den ich selber besitze in Verbindung gebracht so ist eben dies die gewünschte/ersehnte/ Erklärung; d. h. die welche das besondere puzzlement/diese besondere Schwierigkeit/ löst. Und eine Betrachtung/weitere Forschung/ über die Geschichte meines Instinkts bewegt sich nun auf andern Bahnen. (MS 110: 298)³⁶⁶

Der „Instinkt den ich selber besitze“, tritt hier einmal als Explanans auf, einmal wiederum als Explanandum, aber jeweils in einer anderen Art von ‚Erklärung‘. Einmal besteht die ‚Erklärung‘ darin, dass ein „Phänomen“ mit diesem Instinkt „in Verbindung gebracht“ wird; einmal ist dieser Instinkt selbst Gegenstand einer Untersuchung, die ihn kausal, entwicklungsgeschichtlich erklären will. Nun ist diese genetische Erklärung weder eine Voraussetzung noch eine Weiterführung jener „Verbindung“; denn Letztere ist keine Kausalerklärung, sondern ein „an eine Neigung in uns selbst“ gerichteter Appell. Frazers ‚Erklärungen‘ sprechen uns an, und dies ist es, was sie in Wittgensteins Augen eigentlich leisten: „Ja Frazers Erklärungen wären überhaupt keine Erklärungen wenn sie nicht letzten Endes an eine Neigung in uns selbst appellierten.“ (MS 110: 196; TS 211: 318) Was Frazer leistet und verlangt, sind auf jeden Fall ‚Erklärungen‘ in einem anderen Sinn als dem kausalen; es sind letztlich nur Zeichenerklärungen, sie übersetzen das „Phänomen“ in eine Sprache, die in uns Resonanzen weckt. Zu diesen ‚Überset-

 Zu dem Teil der Betrachtung, der laut den späten Reflexionen das Familienbild der Riten „mit unsern eigenen Gefühlen und Gedanken in Verbindung bringt“, siehe unten S. 307.

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zungen‘ gehören Beschreibungen und Erzählungen, Vergleiche und Analogien, eine Zusammenstellung von Symbolen oder eine übersichtliche Darstellung. Eine Beunruhigung, die sich in Form einer Warum-Frage äußert, fragt nach einem Grund, nicht nach einer Ursache. Die Beunruhigung findet ihr Ende, wenn der Beunruhigte die Lösung als Lösung anerkennt. Diese Anerkennung ist bei Gründen das Kriterium. Eine philosophische Schwierigkeit löst sich auf, wenn die falsche Analogie, der sie entspringt, als deren Quelle anerkannt wird. Eine ‚ethische‘ Schwierigkeit kann (muss aber nicht) dadurch überwunden werden, dass die Fallbeschreibung mit unseren Gedanken und Gefühlen verbunden wird: Das Beschriebene leuchtet uns dann ein. Die Schwierigkeit, die Frazer durch eine Kausalerklärung ausräumen will, löst sich wie von selbst, wenn der Leser das beschriebene „Phänomen“ nachempfindet – bzw. nachzuempfinden meint; denn eigentlich reicht der subjektive Eindruck, es nachzuempfinden, um dieser eigentümlichen Verwunderung ein Ende zu setzen. Dass die Beschreibung auf uns so wirkt, heißt nämlich nicht, dass sie empirisch korrekt ist; möglicherweise entspricht der Beschreibung nichts. 1931 betont Wittgenstein jedoch keineswegs, dass sie uns unabhängig davon beeindruckt, ob sie etwas wirklich Dagewesenes treu wiedergibt: Mit unseren Gefühlen müssen wir das „Phänomen“ (MS 110: 298) verbinden, und Eindruck macht auf uns – so formuliert er – „das Beschriebene“ (MS 110: 180). In diesem Sinn heißt es auch: Die Beschreibung muss das, was man weiß, richtig zusammenstellen. Zu dem, was man weiß, zählen bereits 1931 auch allgemeine Selbstverständlichkeiten des menschlichen Lebens; vor allem aber geht es damals um die z.T. noch in einer ‚phänomenologischen‘ Begrifflichkeit aufgefasste unmittelbare Erfahrung, um den unmittelbaren Eindruck, den das Beschriebene auf uns macht. Die Kriterien dafür, dass man etwas weiß und es richtig zusammenstellt, sind hier daher eigentlich keine empirischen: Die richtige Zusammenstellung scheint einfach diejenige zu sein, die dem Leser die Quelle seiner ‚Beunruhigung‘ erschließt und der Befremdung ein Ende setzt. (Das gelingt Frazer offenbar.) Wenn wir den Ritus in Nemi mit unseren Gedanken und Gefühlen verbinden, lösen wir also zwar eine „besondere Schwierigkeit“ (MS 110: 298), aber eben keine empirische: Für ästhetische Gründe gibt es keine empirischen Kriterien.

2.2.3 Die Urpflanze und die Mistel: eine Morphologie des Rituellen 2.2.3.1 Formale Zusammenhänge übersichtlich darstellen Wittgenstein denkt zuerst über die Zusammenstellung zweier Symbole nach: Er setzt sich nämlich mit den ersten Seiten des Golden Bough auseinander, in denen Frazer die Sukzessionsregel beschreibt. Dann verschiebt sich Wittgensteins Auf-

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merksamkeit, und nach der Geschichte des Waldkönigs gelangen die für Frazers vergleichende Methode charakteristischen Auflistungen (angeblich) verwandter Riten und Gebräuche in den Vordergrund. Nun geht es nicht mehr lediglich darum, zwei Symbole zusammenzustellen. Morphologisch zu ordnen und übersichtlich darzustellen ist vielmehr ein ganzer „Chor“ verwandter Riten. Wittgenstein, der anfangs die Fremdartigkeit des Waldkönigs abstreitet, stimmt am Ende Frazer zu, dass ein Ritus, isoliert betrachtet, durchaus befremden mag. Er folgt Frazer in der Auffassung, dass Ethnologie vergleichend verfahren und verwandte Phänomene ‚zusammenstellen‘ muss. Frazers vergleichende Methode ist allerdings eine kausal erklärende: Er stellt verwandte Riten zusammen, um Sitten fremder Völker entwicklungsgeschichtlich zu erklären. Was bei dem schottischen Ethnologen zusammengehört, will Wittgenstein scharf trennen: Die übersichtliche Darstellung soll nur noch vergleichen, nicht kausal erklären. Wittgenstein mag die übersichtliche Darstellung von Frazers Methode abheben, aber sein Gegenentwurf orientiert sich bei aller Kritik am vergleichenden Ansatz des Ethnologen, insbesondere an der dadurch bedingten Anlage des Golden Bough, worin im evolutionären Stil des neunzehnten Jahrhunderts scheinbar verwandte Sitten aus den verschiedensten Kulturkreisen zusammengestellt werden. Gerade weil Frazer immer wieder parallele Beispiele auflistet, kommt Wittgenstein auf die Idee, dessen vergleichende Methode durch eine morphologische zu ersetzen. Auch die Morphologie stellt die Erscheinungen vergleichend zusammen, aber eben ohne den Anspruch, sie kausal zu erklären. Allerdings lässt sich nicht jede entstehungsgeschichtliche Rekonstruktion als eine morphologische reformulieren. Dass eine „Entwicklungshypothese“ „weiter nichts“ ist „als die/eine/ Einkleidung eines formalen Zusammenhangs“ (MS 110: 257; TS 211: 322), versteht sich nicht von selbst. Bei Frazers spekulativer Methode leuchtet es jedoch ein. Frazer geht wie Tylor davon aus, dass der Mensch überall dieselben mentalen Entwicklungsstufen durchläuft, und wenn der evolutionäre Ethnologe bei einer entstehungsgeschichtlichen Rekonstruktion in einer Kultur eine bestimmte Erscheinung vermisst, z. B. ein Anfangsstadium oder eine Zwischenstufe, sucht er das fehlende Bindeglied in einer anderen Weltecke; daraus schließt er dann, dass etwas Ähnliches wahrscheinlich auch in jener Kultur bestanden hat. Die ‚vergleichende Methode‘ wird bei Frazer zu einer Maschine, die alle erwünschten missing links herbeischafft und so eigentlich jede beliebige Entwicklungsgeschichte stützen könnte. Die zusammengestellten Tatsachen hängen indes nicht wirklich historisch zusammen. Wittgenstein hat insofern recht, kritisch zu bemerken, dass die ‚vergleichende Methode‘ nur formale Ähnlichkeiten zeigt.Was als kritisches Argument stichhaltig ist, stellt in anderer Hinsicht allerdings eine Schwierigkeit dar, und zwar dann, wenn der Philosoph versucht, die vergleichende Methode zu reformulieren; denn

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die Aussagekraft einer Methode, die nur formale Ähnlichkeiten zeigt, scheint gerade in einem ethnologischen oder kulturphilosophischen Zusammenhang begrenzt, ja fraglich. Inwieweit ist sich Wittgenstein hier der Grenzen und Probleme bewusst? Im Folgenden soll erst einmal klar werden, wie sein ‚morphologischer‘ Vorschlag sich aus einer kritischen Abwandlung von Frazers Methode ergibt. Der Autor des Golden Bough will die grausame Sitte „of killing men and animals regarded as divine“³⁶⁷ u. a. dadurch erklären, dass er deren Varianten zusammenstellt. Frazer benutzt für seine vergleichende Sammlung von Riten ein visuelles Gleichnis: die Zusammenstellung von Einzelporträts zu einem Gruppenbild, konkret: „the mysterious priest of Nemi […] in the forefront of the picture“, „the other sombre figures of the same sort behind him in the background“. Allerdings gehöre der Priesterkönig, den er nur wegen seines „glamour“ zur Hauptgestalt gemacht habe, möglicherweise überhaupt nicht in das Tableau. Die eigene allgemeine Theorie über die „evolution of primitive religion and society“ sei jedoch „founded on large collections of entirely independent and well-authenticated facts“ (FGB III 1: viii f.),³⁶⁸ und letzten Endes kommt es Frazer weniger auf jene Theorie an als auf diese Tatsachensammlungen um ihrer selbst willen. Zu diesen collections of facts merkt Wittgenstein an: „‚Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz‘ möchte man zu der Frazerschen Samm Tatsachensammlung sagen.“ (MS 110: 256; TS 211: 321)³⁶⁹ In Goethes Gedicht an Christiane Vulpius über die Metamorphose der Pflanzen heißt es: „Alle Formen sind ähnlich und keine gleichet der andern, Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, | Auf ein heiliges Rätsel.“³⁷⁰ Wie Goethes Pflanzen sind auch Frazers Riten einander ähnlich, aber nie wirklich gleich. Und das geheime Gesetz? Wittgenstein nimmt damals offenbar an, dass „das Prinzip nach welchem diese Gebräuche geordnet sind“, „ein viel allgemeineres als Frazer es erklärt und in unserer eigenen Seele vorhanden“ ist (MS 110: 195;TS 211: 317). Koinzidiert nun dieses „Prinzip“ (MS 110: 195) mit dem „Gesetz“ (MS 110: 256), auf das Frazers „Tatsachensammlung“

 So Frazer in dem bereits angeführten Brief an den Verleger George A. Macmillan vom 8. November 1889 (Frazer 2005: 63). Vgl. Hacker 1992: 293.  Siehe dazu oben S. 208 ff.  Vgl. dazu sowie im Allgemeinen zu Wittgensteins Goethe-Rezeption Schulte 1990b. Vgl. auch Rowe 1991; Andronico 1998: 137 ff.; Hübscher 1985, insbes. 6 ff., 156 ff.; Rothhaupt 1996: 158 ff.; Griesecke 2001b; Schulte 2003 und die weiteren Beiträge in Breithaupt/Raatzsch/Kremberg 2003. Zu Wittgensteins „Übersicht“ und Goethes Morphologie vgl. auch Baker/Hacker 1980b: 537 f.  Bis auf die letzten Worte notiert sich Wittgenstein diesen Satz aus Goethes Gedicht in MS 137: 97a (LSPP I, § 196).

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deutet? Welchen Status hat dann dieses ‚Gesetz‘ bzw. ‚Prinzip‘? In welchem Sinn ist es ‚geheim‘ bzw. ein ‚Rätsel‘? Ist es eine Hypothese? Eine spätere Aufzeichnung meint mit Goethe, dass der Chor auf das Gesetz nur deutet: „Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz“ Daß es d e u t e t ist eben das Sprechende// das, was auf uns wirkt// Es ist nicht ein Gesetz welches wir wahrnehmen, sondern etwas, was man die Ahnung eines Gesetzes nennen könnte. Das undeutliche Bild eines Menschen z u s e h e n hat eine bestimmte Wirkung ob es nun von einem wirklichen Menschen ausgeht oder nicht. (MS 156a: 48v)³⁷¹

Galtons composite portraiture ist ein undeutliches Bild, das von einem ganzen „Chor“ ausgeht: Es bildet keinen wirklichen, bestimmten Einzelnen ab, zeigt aber die Ähnlichkeit zwischen den vielen Porträtierten, und lässt in diesem Sinn gleichsam ein Gesetz durchscheinen.³⁷² Wittgensteins Erläuterung, dass wir das Gesetz nicht „wahrnehmen“, sondern höchstens ahnen, trägt auf ihre Weise Schillers Einwand Rechnung, Goethes Urpflanze sei eine Idee. Die „Ahnung des Gesetzes“ und das undeutliche Bild eines Menschen sind darin verwandt, dass man nicht weiß, was ihnen eigentlich entspricht. “[T]he photographic process” – so beschreibt Galton seine Technik – “[…] enables us to obtain with mechanical precision a generalised picture; one that represents no man in particular, but portrays an imaginary figure, possessing the average features of any given group of men. These ideal faces have a surprising air of reality. Nobody who glanced at one of them for the first time, would doubt its being the likeness of a living person. Yet […] it is no such thing; it is the portrait of a type, and not of an individual.”³⁷³

Sichtbar wird also „a common similarity to a central ideal type“: Deshalb nennt Galton später seine Kompositbilder auch ‚generic Images‘, ‚generic portraits‘ or ‚blended portraits‘. „All that is common to the group remains, all that is individual disappears.“ (Galton 1879b: 161) Die Ähnlichkeit zwischen den Einzelporträts, aus denen sich das Kompositbild zusammensetzt, ist, wie Galton sie versteht, keine ‚Familienähnlichkeit‘ in Wittgensteins Sinn; denn Wittgensteins Begriff stellt gerade in Frage, dass die charakteristischen Gesichtszüge allen Familienmitgliedern

 Zu dieser 1933 – 1934 verfassten „Initialbemerkung“ vgl. Rothhaupt 1996: 187, 173.  So Rothhaupt 1996: 185 ff., 203 f. Zu Galton vgl. auch Hilmy 1987: 200. Auch in den späten Reflexionen steht das Gleichnis der „Mannigfaltigkeit von Gesichtern mit gemeinsamen Zügen die da und dort immer wieder auftauchen“ (MS 143: 8), für die von Frazer beschriebenen Riten mit ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden. Siehe dazu unten S. 306 ff.  Galton 1878: 97. Vgl. auch Galton 1879a: 132 f.; diese letztere Stelle teilweise zit. bei Needham 1972: 111.

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gemeinsam sein müssen. Und Wittgenstein verwendet das Gleichnis des Kompositbilds schon lange, bevor er zu seinem Begriff der ‚Familienähnlichkeit‘ gelangt.³⁷⁴ 1929, im Vortrag über Ethik, soll das galtonsche composite portraiture die allen Porträtierten gemeinsamen Züge hervorheben – und dasselbe dürfte auch für das von Moritz Nähr angefertigte Familienbild der Geschwister Wittgenstein gelten.³⁷⁵ 1931 betont der Philosoph noch nicht, dass die ‚Chormitglieder‘ heterogen sind. Erst später steht das composite portraiture – wie auch Goethes Morphologie – für die ‚Familienähnlichkeit‘, einen Begriff, über den Wittgenstein zur Zeit seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough noch nicht verfügt.³⁷⁶ Vor einem undeutlichen Bild kann sich die Frage stellen, ob es „von einem wirklichen Menschen ausgeht“ oder von einem ‚Typus‘ (wie Galtons composite portraiture) bzw. von einem ‚Chor‘ (so Wittgenstein mit Goethe). Diese Frage betrifft aber nur die ‚Geschichte‘ des Bildes und berührt dessen aktuelle ‚Wirkung‘, den Eindruck, den es auf den Betrachter macht, nicht. Insofern ist für diese spätere

 Etwa 1928 fertigte der Fotograf Moritz Nähr ein „Composite Portraiture“ von Wittgenstein und seinen drei Schwestern Hermine, Helene und Margarethe an. Aus diesem Grund meint M. Nedo, der dieses Komposit-Photo zum ersten Mal als solches erkannte, Wittgenstein habe den zentralen Begriff der Familienähnlichkeit spätestens in dieser Zeit (von 1926 bis 1928) entwickelt, auf jeden Fall noch vor seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1929. Als Beleg führt Nedo lediglich die Reihe fotografischer Experimente an, die zum Kompositbild der Geschwister Wittgenstein führten. (Vgl. Nedo 2007, insbes. S. 169; vgl. auch Nedo 2012: 268 f.) Es trifft zu, dass das Familien-Kompositbild das Gleichnis bereitstellt und dass bereits Galton von „family likeness“ redet. (Zu diesem letzteren Punkt vgl. Rothhaupt 1996: 203 f., Anm. 1.) Aber Wittgenstein entwickelt den Familienähnlichkeitsbegriff erst Jahre nach der Herstellung des Kompositbildes durch Nähr.  Im Vortrag über Ethik verwendet Wittgenstein, der sich an Galtons Auffassung des composite portraiture anlehnt, das Gleichnis der allen Mitgliedern einer Volksgruppe gemeinsamen Gesichtszüge. Wie Galton selbst ist auch Wittgenstein hier (vgl. LE: 38) noch weit entfernt von der Einsicht, dass die charakteristischen, prägenden Gesichtszüge nicht allen Mitgliedern einer Familie gemeinsam sein müssen. Selbst im Blue Book, in dem der Familienähnlichkeitsbegriff bereits zentral ist („games for|m| a f a m i l y the members of which have family likenesses“ D 309: 27; BBB: 17), steht das „Galtonian composite photograph“ noch nicht für „Familienähnlichkeit“ in Wittgensteins Sinn, sondern geradezu für deren Gegenbegriff: Es ist ein Sinnbild der von Wittgenstein kritisierten Auffassung, die „general idea of a leaf“ (Goethe) sei „something like a visual image, but one which only contains what is common to all leaves. (Galtonian composite photograph.)“ (D 309: 28; BBB: 18).  In Rush Rhees’ Notizen aus Wittgensteins Vorlesung von 1936 z. B. hat das Gleichnis des Komposit-Bildes die neue Bedeutung: „There are certainly gestures of conviction. It is clear there is not o n e gesture of conviction; but there are many which are more or less similar. We could make a Galtonian composite photograph of 100 expressions of conviction. We might get cases of very s t r o n g expression of conviction, and cases around it which were more or less mild. | It is analogous in a f e e l i n g of conviction. There is no o n e feeling of conviction. […]“ (LSDPE: 305).

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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Aufzeichnung gleichgültig, ob es jenes geheime, weil nur geahnte Gesetz wirklich gibt, worauf der Chor zu deuten scheint: Der Chor wirkt auf uns so, als ob es eines gäbe. Auf diese Wirkung kommt es an, sei sie auch nur rein subjektiv.³⁷⁷ Galton will einen ‚Typus‘ abbilden, ein ‚ideales‘ Gesicht. Frazer stellt einen ‚Chor‘ zusammen und weist so auf ein Gesetz, dessen Status er jedoch missversteht. Denn auf welches Gesetz, wenn überhaupt, deutet seine „Tatsachensammlung“ hin? Bereits 1931 nimmt Wittgenstein Goethes „geheimes Gesetz“ nicht ganz ohne Vorbehalte auf. Er schickt dem Vers aus der Metamorphose der Pflanzen Schillers kantianischen Einwand gegen die „Urpflanze“ voraus: „‚Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.‘ (Schiller)“ (MS 110: 256).³⁷⁸ Wittgenstein scheint dem Einwand beizupflichten: Er selbst nennt das geheime Gesetz, worauf die „Tatsachensammlung“ deutet, eine „Idee“ (MS 110: 256). Zur Zeit jenes Gedichtes stellt die Urpflanze für Goethe nicht mehr die Lösung des Rätsels dar; trotzdem spielt sie in Wittgensteins Betrachtungen eine Rolle. Zuletzt habe Goethe selbst – diktiert der Philosoph Jahre später – in der Urpflanze „nur eine Idee gesehen, und nichts Wirkliches“ (VW: 310).³⁷⁹ Schillers Satz drückt

 Eine späte Aufzeichnung, in der Wittgenstein Goethes Verse noch einmal anführt, legt nahe, dass nicht nur das Gesetz, sondern auch das es umgebende Geheimnis nur Schein ist: Wie bei einem Traum sieht das Ganze zwar wie ein Rätsel aus, ist aber nicht unbedingt eines. Vgl. MS 137: 97a, und siehe dazu unten S. 327 f. Schon laut der Vorlesung vom May Term 1933, in der Wittgenstein wie 1931 Goethes Vers auf den Golden Bough anwendet, darf der Leser nicht nach dem Gesetz hinter Riten wie den von Frazer beschriebenen Feuerfesten suchen. Siehe dazu unten S. 298 f.  In die Abschrift der Bemerkungen über den Golden Bough (TS 211) nahm Wittgenstein dieses Zitat nicht auf. Unter dem Titel „Glückliches Ereignis“ berichtet Goethe über den von Schiller mündlich vorgebrachten Einwand gegen die Metamorphose der Pflanzen. Vgl. Goethe: WAG II, Bd. 11: 13 ff. Zum Quellennachweis vgl. Hallett 1977: 765, vgl. auch 751. Vgl. auch Baker/ Hacker 1980b: 538; Rowe 1990: 8 f.; Schulte 1990b: 20; Monk 1990: 511 f.; Rothhaupt 1996: 175 f.; Schulte 2003: 59; Nordmann 2003: 100 f.  Zu diesem Diktat an F. Waismann („Überblick beruhigt“, [F90]) siehe unten S. 249 ff. In einem wahrscheinlich auf Mitte August 1816 zu datierenden Briefentwurf Goethes an Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck heißt es: „In den Tagebüchern meiner Italiänischen Reise […] werden Sie, nicht ohne Lächeln, bemerken, auf welchen seltsamen Wegen ich der vegetativen Umwandlung nachgegangen bin; ich suchte damals die Urpflanze, bewußtlos, daß ich die Idee, den Begriff suchte wonach wir sie uns ausbilden könnten.“ (Wohl Mitte August 1816, in Goethe: WAG IV, Bd. 27: Briefe 1816: 144.) In den gleichen Jahren wie Wittgenstein vertritt auch Cassirer die These, dass „Goethe, seit er von Schiller durch den Unterschied von Idee und Erfahrung belehrt worden war“, [d]er Täuschung, die Urpflanze mit Augen zu sehen“, „ein für allemal entsagt“ hatte und sie daraufhin „als ein ‚Modell‘, das nicht selbst in der Natur existiert […]“, auffasste (Cassirer 2009a: 281). Wittgensteins Gedanke, „daß die Hypothese (unrichtig aufgefaßt) schon eine Fälschung der Wahrheit ist“ (MS 110: 258), weist in dieselbe Richtung. Er ließe sich eigentlich auf Goethe selbst anwenden (was Wittgenstein hier nicht tut): Goethe, wie

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

in dieser Lesart auch die Auffassung des reifen Goethe aus. Wittgenstein scheint also eine komplexe Entwicklung anzunehmen, in der Goethe schließlich die ‚Urpflanze‘ nicht einfach preisgibt, sondern sie in Schillers Sinn umdeutet: nicht mehr als historisch gegeben, sondern als Idee, als Form der Darstellung. „Idee“ heißt bei Schiller ein nicht anschauliches Ordnungsprinzip. Bei Wittgenstein steht das Wort hier für eine Auffassung, für eine Art der Betrachtung. Er macht aus Goethes „Urpflanze“ einfach ein übersichtliches Schema, eine Form der Darstellung. Wittgenstein sieht drei alternative Methoden, „[d]ieses Gesetz, diese Idee“ darzustellen: Man kann sie 1) wie Frazer „durch eine Entwicklungshypothese ausdrücken/darstellen/“, oder 2), ähnlich wie in Goethes Morphologie, „analog dem Schema einer Pflanze durch das Schema einer religiösen Zeremonie“. Man kann aber auch, und dies schwebt Wittgenstein eher vor, jene Idee 3) „durch die Gruppierung des Tatsachen-Materials allein, in einer ‚ü b e r s i c h t l i c h e n‘ Darstellung“ (MS 110: 256 f.) ausdrücken. Letztere sieht „die Daten in ihrer Beziehung zueinander“ und fasst sie „in ein allgemeines Bild“ (MS 110: 225; TS 211: 321) zusammen. Geht es hier um drei alternative Formen übersichtlicher Darstellung?³⁸⁰ Schreibt Wittgenstein dem „Schema“ (einer religiösen Zeremonie) eine ähnliche Rolle zu wie dem Farbenoktaeder, das die grammatischen Regeln der Farbwörter übersichtlich darstellt? Die Form der Darstellung, die er hier mit Goethes Morphologie verbindet, macht auf jeden Fall andere, aber nicht weniger anspruchsvolle Voraussetzungen als Frazers genetische Darstellung. Wittgenstein scheint daher Goethes Morphologie, die sich als einzige eines Schemas bedient, und seine

ihn Wittgenstein liest, musste nämlich zuletzt einsehen, die Urpflanze „unrichtig aufgefaßt“ zu haben: Sie sei keine empirische Hypothese, sondern, wie Schiller meine, eine „Idee“ (für Wittgenstein: eine Form der Darstellung). Wittgenstein fragt sich, ob „die Verachtung Goethes für das Experiment im Laboratorium und die Aufforderung in die freie Natur zu gehen“, nicht mit seiner eigenen Einstellung verwandt sei: „Goethe, warum er das Experiment |in der Farbenlehre| zurückwies. Vergleiche unser Gefühl über das Psychologische Experiment. Es teilt uns nicht d a s mit was uns interessiert.“ (MS 156a: 56v-57r) Wittgenstein bezieht sich hier auf die Farbenlehre; einschlägig ist aber auch Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, den Goethe am 10. Januar 1798 Schiller zuschickte: Einige Jahre vor der Begegnung hatte Goethe in diesem Aufsatz Gedanken formuliert, die dann im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Schiller standen. Zum Experiment bei Goethe vgl. Andronico 1998: 148; Rothhaupt 1996: 161 ff.; Griesecke 2001b; Kroß 2003.  Baker ist dieser Ansicht: Unter ‚übersichtlicher Darstellung‘ verstehe Wittgenstein hier „not merely the ordering or rearrangement of descriptions of phenomena, but also comparisons with a centre of variation and fictional accounts of evolutionary development“ (G. P. Baker 2004a: 50).

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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eigene „Darstellungsform“ – die übersichtliche Darstellung – als zwei unterschiedliche, ja alternative Methoden zu betrachten. Auch der Philosoph will die in ihrer Beziehung zueinander gesehenen „Daten“ in ein „allgemeines Bild“ zusammenfassen: eine übersichtliche Darstellung eben. Aber er will offenbar ohne „das Schema einer religiösen Zeremonie“ auskommen: also ohne ein Analogon der Urpflanze (und des Oktaeders).³⁸¹ Bald jedoch deutet Wittgenstein Goethe anders und setzt sich nicht mehr von ihm ab: Das Diktat „Überblick beruhigt“ unterscheidet nicht mehr zwischen den zwei Methoden. Goethes Gedanke der Urpflanze, heißt es nun klipp und klar, löst das „P r o b l e m d e r ü b e r s i c h t l i c h e n D a r s t e l l u n g “.³⁸² Und zwar gerade, weil Goethe zuletzt in der Urpflanze nichts mehr als eine „Idee“ sieht, d. h. hier, ein reines und insofern harmloses Vergleichsobjekt. Die deutsche Umarbeitung des Brown Book unterscheidet nur noch zwischen Hypothese und Gleichnis, d. h., zwischen empirischer Kausalerklärung und bildhafter Form der Darstellung: „’Was Du sagst, kann eine Hypothese sein zur Erklärung der Tatsachen, die ich beschrieben habe, oder auch ein G l e i c h n i s , unter welchem du diese Tatsachen darstellst; aber es ist nicht etwas, was aus den Tatsachen f o l g t .’“ (MS 115: 250; EPB: 210) Die Form der Darstellung ist also autonom; sie ist ein Gleichnis, ein mögliches, kein notwendiges; man kann es verwenden, man muss aber nicht. Zu diesem späteren Zeitpunkt verfügt Wittgenstein bereits über den Begriff der „Familienähnlichkeit“. Im Juni-Juli 1931 noch nicht: Erst kurz nach der ersten Niederschrift seiner Bemerkungen über den Golden Bough entdeckt er, dass die Begriffe der Alltagsprache ‚vage‘ und ‚unscharf‘ sind.³⁸³ Erst dann weist das morphologische „Schema“, das bei Goethe (ähnlich wie bei Galton das Kompositbild) für ein Gemeinsames steht, Wittgenstein schließlich den Weg, die Idee einer Merkmaldefinition, einer Liste aller allen Gliedern gemeinsamen Eigenschaften, zu überwinden. Das erwähnte spätere Diktat „Überblick beruhigt“ hat diese Idee bereits hinter sich. Ein family look, eine Familienähnlichkeit, erfordert nicht unbedingt allen Familienmitgliedern gemeinsame Züge.  Wie P. M. S. Hacker bemerkt, „he gives no hint as to what such a schema [einer religiösen Zeremonie; MB] might be“ (Hacker 1992: 294).  [F 90], „Überblick beruhigt“, VW: 308 ff. F. Waismann stützt sich offenbar auf dieses Diktat (WLP: 127 f.; vgl. auch Schulte 1990b: 34, Anm. 43; Baker/Hacker 1980b: 539). Dass Waismann hier direkt aus Wittgensteins Gedankengut schöpft, merkt man auch an einem Detail: Er weicht vom Wortlaut des Diktats ab und redet von „Anschauungen Goethes, wie er sie in der Metamorphose der Pflanzen ausgesprochen hat“. Nun ist aber in Goethes „Metamorphose der Pflanzen“ von einer Urpflanze nicht (mehr) die Rede.  Die scare quotes sollen hier vor einem metaphysischen Gebrauch von ‚Vagheit‘ oder ‚Unschärfe‘ warnen. Siehe dazu oben S. 197.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Wittgensteins Reflexionen über Goethes ‚Chor‘ wiederum zielen noch nicht auf das Konzept der Familienähnlichkeit. Die übersichtliche Darstellung ist einfach eine „Gruppierung des Tatsachen-Materials“ (MS 110: 256; TS 211: 321): Statt kausale Zusammenhänge zu enthüllen, macht diese „Synopsis“ (MS 110: 225; TS 211: 321) rein formale sichtbar. „Aber auch die Entwicklungshypothese kann ich als weiter nichts sehen als die/eine/ Einkleidung eines formalen Zusammenhangs.“ (MS 110: 257; TS 211: 322) Selbst die historische Erklärung ist „nur e i n e Art der Zusammenfassung der Daten – ihrer Synopsis“. Auch sie gestattet lediglich, „die Daten in ihrer Beziehung zueinander zu sehen und in ein allgemeines Bild zusammenzufassen“; nur faßt sie die Daten „in Form einer Hypothese über die zeitliche Entwicklung“ (MS 110: 225; TS 211: 321) zusammen. Die entwicklungsgeschichtliche Erklärung gelangt also über die Daten ebenso wenig hinaus wie die übersichtliche Darstellung. Angebliche kausale Zusammenhänge stellen sich als bloße „Einkleidung“ von formalen heraus, von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Zu den „Daten“ kommt in der historischen Erklärung nur eine „Einkleidung“ hinzu, und dieser hypothetische Zusatz kann ersatzlos wegfallen. „Ich glaube daß das Unternehmen einer Erklärung schon darum verfehlt ist weil man nur richtig zusammenstellen muß, was man w e i ß und nichts dazusetzen und die Befriedigung die durch die Erklärung angestrebt wird ergibt sich von selbst.“ (MS 110: 179 f.) Was sich dabei ergibt, lässt sich am ehesten mit einem Aspektwechsel vergleichen: Man sieht nun jene Riten mit anderen Augen, man nimmt bis dahin unbemerkte (formale) „Zusammenhänge“ wahr. „Diese übersichtliche Darstellung vermittelt das Verstehen, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘. Daher die Wichtigkeit der Z w i s c h e n g l i e d e r. //des Findens von Z w i s c h e n g l i e d e r n . // “ (MS 110: 257; TS 211: 282; TS 213: 417) Und auch des „Erfindens“ (PU, § 122) Letzterer, wie die endgültige Fassung ausdrücklich betont. Auf die tatsächliche Existenz dieser Zwischenglieder kommt es nämlich nicht an: Sie sind nur Hilfsmittel, sie müssen rein formale Zusammenhänge sichtbar machen. (Ähnliches gilt für die parallel cases: Auch sie sind „Vergleichsobjekte“.) Man darf sie zu diesem Zweck auch erfinden: „Ein Hypothetisches Zwischenglied aber soll in diesem Falle nichts tun, als die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeit, den Zusammenhang, der T a t s a c h e n lenken.“ (MS 110: 257; TS 211: 322) Die morphologischen Zwischenglieder sind nicht in demselben Sinn ‚hypothetisch‘ wie die missing links der Evolutionstheorie. Letztere sind genetische, kausale Hypothesen. Auch die morphologischen Zwischenglieder mögen auf den ersten Blick so aussehen; aber sie sind in Wirklichkeit nur formale Möglichkeiten. Es

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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kommt nicht darauf an, ob sie wirklich existieren.³⁸⁴ Dieselbe Erscheinung kann freilich als Bindeglied in der genetischen Folge der Ursachen oder aber als Zwischenglied in einer rein formalen (nicht kausalen) Reihe von Gestalten betrachtet werden. Es geht jeweils um eine andere Betrachtungsweise; evolutionstheoretische Binde- und morphologische Zwischenglieder schließen jeweils verschiedenartige ‚Erklärungslücken‘.³⁸⁵ Wie wenn man eine interne Beziehung der Kreisform zur Ellipse dadurch illustrieren wollte/ illustrierte/ daß man eine Ellipse allmählich in einen Kreis überführt; a b e r n i c h t u m z u behaupten, daß eine gewisse Ellipse tatsächlich, historisch, aus einem K r e i s e n t s t a n d e n w ä r e (Entwicklungshypothese) sondern nur um unser Auge für einen formalen Zusammenhang zu schärfen. (MS 110: 257; TS 211: 322)³⁸⁶

Wenn wir uns über unseren „Begriff der Sprache“ klar werden wollen, können wir ähnlich verfahren wie in diesem Beispiel. „Wir können nur beschreiben, da uns causale Zusammenhänge, d. i. die tatsächliche Folge der Vorgänge, nicht interessiert (da wir hierin bereit sind, alles zu glauben). Und die Zusammenhänge, die dann bleiben, sind formelle, die sich nicht beschreiben lassen, sondern sich in der Grammatik ausdrücken.“ (MS 110: 284; vgl. TS 211: 301) Wittgenstein unterscheidet hier weiterhin Sagen und Zeigen: Formale Zusammenhänge, interne Relationen, lassen sich nicht direkt zur Sprache bringen, über sie kann man nicht reden, und in diesem Sinn kann man sie nicht beschreiben (vgl. MS 110: 185). Aber sie zeigen sich in einer Beschreibung – in einer übersichtlichen Darstellung – gleichsam von selbst; wir können für sie also nur „unser Auge […] schärfen“ (MS 110: 257). Diese formalen Zusammenhänge sind die eigentlich interessanten, ja entscheidenden, nicht die kausalen, entwicklungsgeschichtlichen: So argumentiert Wittgenstein

 „Das Richtige und Interessante ist nicht zu sagen das ist aus dem hervorgegangen, sondern: es könnte so hervorgegangen sein.“ (MS 143: 23)  „Welch eine Kluft zwischen dem os intermaxillare der Schildkröte und des Elefanten, und doch lässt sich eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide verbindet.“ (Goethe: HA 13: 195) Zum Unterschied zwischen Wittgensteins formalen „connecting links“ und den genetischen „missing links“ der Evolutionstheorie vgl. Hacker 1992: 294. Zum Zwischenkieferknochen vgl. Griesecke 2001b: 130. Zu den Zwischengliedern vgl. auch Bourdieu 1980: 21.  Mit ähnlichen (aber nicht mit denselben) Beispielen schildert Mach das „Kontinuitätsprinzip[]“ (Mach 1926: 225), das (auch) zu seinem Begriff des ‚Gedankenexperiments‘ gehört: „Namentlich eine Änderung der betrachteten Objekte, welche k o n t i n u i e r l i c h oder doch in kleinen Stufen stattfindet, macht die Verwandtschaft weit abstehender Glieder einer Reihe fühlbar und bringt zum Bewußtsein, was trotz aller Änderung g l e i c h geblieben ist. So kann ein sich schneidendes Geradenpaar als Hyperbel, eine Gerade als zwei zusammenfallende Hyperbeläste, eine begrenzte Gerade als Ellipse erscheinen u. s. w.“ (Mach 1926: 224)

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

gegen die Kausaltheorie der Bedeutung, aber auch gegen Frazers evolutionäre Ethnologie. Inwieweit sind wir jedoch auch bei den Ursachen von Riten und Gebräuchen „bereit […], alles zu glauben“ (MS 110: 284)? Und wozu Frazers Darstellung durch eine rein formale ersetzen? Sind die im Golden Bough hergestellten Verbindungen, kausal verstanden, wertlos, als formale jedoch aufschlussreich? Und welche Zusammenhänge zwischen Riten ließen sich wirklich als rein formale betrachten? Als interne Relationen wie in der Grammatik oder der Mathematik? Und selbst dann: Wären diese ‚formalen‘ Zusammenhänge zwischen Riten wirklich so interessant? Wenn man diese Betrachtung lediglich als Einwand gegen den Golden Bough liest, steht Wittgenstein mit seiner Kritik nicht allein. Schon früh hatte Marett, Tylors Nachfolger in Oxford, Frazers entwicklungsgeschichtliches Schema kritisiert. „[A] purely analytic method“, bemerkte er zur zweiten Ausgabe des Golden Bough, „has escaped its own notice in putting on a pseudo-genetic guise“; zwei „mere heads of classification“ (‚Magie‘ und ‚Religion‘) wurden zu wesensverschiedenen Erscheinungen hypostasiert und dann „identified with the phases of a historical development which is thereby robbed of all intrinsic continuity“ (Marett 1914b: 35);³⁸⁷ denn Frazer postuliert einen historischen Bruch zwischen Magie und Religion. Auch Frazers Unterscheidung zweier Arten von Magie dient Marett zufolge eher der „analysis“ als der „genesis“ (Marett 1914b: 39). Wittgensteins Argument geht in die gleiche Richtung: Frazers Darstellung ist die entstehungsgeschichtliche Verkleidung einer rein formalen Betrachtung. Sie kann wiederum in eine formale Betrachtung überführt werden, die für sich keine historische Wahrheit beansprucht. Nun scheint dieser Vorschlag aber nicht lediglich kritisch gemeint. Hat er indes wirklich etwas wie einen ‚konstruktiven‘ Sinn? Es hängt von dem ‚Gesetz‘ ab, auf das die rituellen Gebräuche zu deuten scheinen. Welchen Status hat dann dieses rätselhafte Gesetz?

2.2.3.2 Formale Zusammenhänge erfinden. Paul Ernst und Goethe Bei Frazers vergleichender Anthropologie scheint es zuletzt Nebensache, ob einige der zu jedem Topos aufgelisteten Beispiele, wirklich belegt sind. Wittgenstein scheint nun diese offensichtliche Unzulänglichkeit von Frazers Ansatz sogar zum methodischen Prinzip zu erheben.

 Vgl. zu dieser Stelle Stocking 1995: 166.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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Wie irreführend die Erklärungen Frazers sind sieht man – glaube ich – daraus, daß man primitive Gebräuche sehr wohl selbst erdichten könnte und es müßte ein Zufall sein wenn sie nicht irgendwo wirklich gefunden würden. Das heißt das Prinzip nach welchem diese Gebräuche geordnet sind ist ein viel allgemeineres als Frazer es erklärt und in unserer eigenen Seele vorhanden, so daß wir uns alle Möglichkeiten selbst ausdenken könnten. (MS 110: 195; TS 211: 317)

Demnach vermag Frazer hinter dem scheinbar Fremden das Allgemeinmenschliche nicht zu entdecken.Wer Gebräuche und Zeremonien wie die im Golden Bough angeführten selber erdichten wollte, würde nach einem „Prinzip“ verfahren, das ‚wir‘ mit den „ungebildeten Leute unter uns“ (MS 110: 197) sowie mit den „Wilden“ (MS 110: 196) teilen. Das allgemeine „Prinzip nach welchem diese Gebräuche geordnet sind“, ist das geheime Gesetz, worauf der ‚Chor‘ deutet: Es befähigt den Menschen, sich „alle Möglichkeiten“ auszudenken, also auch die fehlenden Chormitglieder. Frazer stellt den „Chor“ zusammen, missversteht aber den Status des Gesetzes. Er denkt an die kausale Wirkung universeller Assoziationsgesetze. Aber die „Assoziation der Gebräuche“ (MS 143: 9)³⁸⁸ ist anderer, formaler Natur. Noch Wittgensteins späte handschriftliche Bemerkungen über den Golden Bough schreiben den Menschen die Fähigkeit zu, sich alle relevanten Möglichkeiten auszudenken. „Alle diese v e r s c h i e d e n e n Gebräuche zeigen daß es sich hier nicht um die Abstammung des einen vom andern handelt sondern um einen gemeinsamen Geist. Und man könnte alle diese Zeremonien selber erfinden (erdichten). Und der Geist aus dem man sie erfände wäre eben ihr gemeinsamer Geist.“ (MS 143: 21 f.)³⁸⁹

Würde man sie aber auch aus demselben Geist erdichten, aus dem sie tatsächlich entstanden sind? Würde sich demjenigen, der sie selbst erdichtete, ihr echter Geist zeigen, wie er historisch dagewesen ist? Hat Wittgenstein so etwas im Sinn? Wenn ja, dann überschätzt er gewaltig die möglichen Leistungen einer imaginären Anthropologie. Das Verfahren wäre historisch und ethnologisch völlig unzureichend. Um den ‚Geist‘ jener Gebräuche soweit wie möglich zu verstehen, ist ein gediegenes Maß an Empirie unumgänglich. Man kann sich zwar mehr oder weniger schematisch einige Möglichkeiten ausdenken. Aber selbst Wittgensteins entscheidende Voraussetzung, „unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden“ (MS 110: 205; TS 211: 250; TS 212: 1206; TS 213: 433), also die Verwandtschaft aller Menschen untereinander, setzt ‚uns‘ nicht unbedingt imstande, alle erdenklichen

 Zur „Assoziation der Gebräuche“ im späteren MS 143 siehe unten § 4.1, S. 305 ff.  Zur „Verschiedenheit“ der Bräuche in MS 143 siehe unten S. 307.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Möglichkeiten zu erdichten. Gerade darauf bestehen jedoch die gerade zitierten Aufzeichnungen. Nietzsche hatte in seiner Genealogie der Moral erkannt, dass der Historiker sich nicht alle real vorkommenden Möglichkeiten ausdenken (erfinden, erdichten) kann. Auch Husserl wird nach seiner Auseinandersetzung mit Lévy-Bruhl zuletzt, d. h. spätestens im Jahr 1935, zu dieser Einsicht gelangen. Er hatte zuerst gedacht, „die Phantasievariation von Fakten genüge zur Erfassung aller Arten des von uns nicht erfahrenen Möglichen.“ (Merleau-Ponty 1973: 183)³⁹⁰ Psychopathologie und Ethnologie zeigen aber zuletzt „die Unzulänglichkeit der ‚freien Variation‘ als des methodischen Hauptstücks der Phänomenologie: Keine Imagination“, so Blumenberg, „erreicht[] den Freiheitsgrad, den die raumzeitliche Mannigfaltigkeit menschlicher Effizienz wie Defizienz entfaltet hat[].“ (Blumenberg 1986: 24, vgl. S. 42 f.)³⁹¹ Diese Einsicht in die Grenzen der freien Variation scheint Wittgenstein 1931 versagt zu bleiben.³⁹² Die Methode, formal verwandte Gebilde und imaginäre Zwischenglieder zu erfinden, gehört zu Goethes Morphologie.³⁹³ Aber Wittgenstein stimmt hier zugleich mit Paul Ernst überein: Auch dieser vertritt die Ansicht, man könne Gebräuche erfinden und sie dann auch in der Wirklichkeit antreffen.³⁹⁴

 Merleau-Ponty zufolge meint Husserl 1935, dass die Phänomenologie „eine Organisation dieser Tatsachen beseelen und verwirklichen , so wie Lévy-Bruhl es getan hat.“ (MerleauPonty 1973: 184 f.). Im Stil philosophischer Werke wie La Mythologie primitive soll also auch die Phänomenologie die entsprechenden Erscheinungen übersichtlich darstellen. Sie darf sich – so Husserl – nicht auf die freie Variation beschränken, sondern muss nach Lévy-Bruhls Vorbild auf die Anthropologie zurückgreifen. Wie der französische Philosoph orientiert sich auch Husserl an der inzwischen lange überholten Methode, scheinbar ähnliche Gebräuche aus den unterschiedlichsten Kontexten aufzulisten.  Einschlägig ist hier Husserls Brief an Lévy-Bruhl vom 11. März 1935 (Husserl 1994: 161– 164; Husserl 1988). Der Empfänger konnte mit dem Brief wenig anfangen: „Expliquez-moi,“ schrieb Lévy-Bruhl an Gurwitsch, „je n’en comprends rien.“ (Zit. in Husserl 1988: 63.)  Mehrere Autoren haben Wittgensteins (in der Philosophie legitimes) Verfahren der spekulativen Anthropologie in dieser Hinsicht kritisiert. Vgl. z. B. Tambiah 1990: 59; Needham 1985: 150 f.; Kramer/Rees 2005: 388. Needham führt allerdings auch einige Bereiche sozialen Lebens – etwa descent systems – an, wo er die Anwendung der Methode als weniger abwegig betrachtet.  Weininger zufolge gibt es in der Wirklichkeit nur Zwischenformen und unzähligen Abstufungen. Erfunden werden bei ihm dementsprechend die reinen, idealen Typen, nicht wie bei Goethe die Zwischenstufen. Zu Wittgenstein und Weininger vgl. etwa Gabriel 1991; Kienzler 1997: 44. Zum ‚Ideal‘ als Vergleichsobjekt bei Wittgenstein siehe unten S. 268 ff.  „So schreibt z. B. Ernst, daß man die ‚vielen möglichen Mythen, die man sich schematisch aufzeichnen“ könnte, ‚dann auch in der Wirklichkeit finden‘ würde; Ernst: 291.“ (Nyíri 1979: 90, Anm. 28.) Nyíri führt dies nicht weiter aus.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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Ernst will zeigen, „wieviel vom dichterischen Schaffensprozeß ein Konstruieren und ein Denken ist“, während „Naturnachahmung“ und „Gefühl“ (Ernst 1910: 295 f.) erst in zweiter und dritter Linie kommen. Dass und wie beim Erfinden der Märchenmotive konstruiert und gedacht wurde, will Ernst nachweisen, indem er die möglichen alternativen Entwicklungen eines Motivs logisch deduziert. Für eine gegebene Situation wirft der Verstand jeweils zwei alternative Erklärungsmöglichkeiten auf, die beide in der Herausbildung von Märchen- und Novellenmotiven (unterschiedlich) fruchtbar sind. Beide Gegensätze sind denkbar und verständlich; sie kommen wohl irgendwo auch wirklich vor. Wittgenstein lehnt sich an diese Methode an und entwirft genauso wie Ernst gegensätzliche Möglichkeiten, die – wie er ebenfalls betont – gleichermaßen „verständlich“ sind. […] Daß etwa der König eines Stammes für niemanden sichtbar bewahrt wird können wir uns wohl vorstellen, aber auch daß jeder Mann des Stammes ihn sehen soll. Das letztere wird dann gewiß nicht in irgendeiner mehr oder weniger zufälligen Weise geschehen dürfen sondern er wird den Leuten g e z e i g t werden. Vielleicht wird ihn niemand berühren dürfen vielleicht aber jeder berühren m ü s s e n . Denken wir daran daß nach Schuberts Tod sein Bruder Partituren Schuberts in kleine Stücke zerschnitt und seinen Lieblingsschülern solche Stücke von einigen Takten gab. Diese Handlung als Zeichen der Pietät ist uns e b e n s o verständlich wie die andere die Partituren unberührt niemandem zugänglich aufzubewahren. Und hätte Schuberts Bruder die Partituren verbrannt so wäre auch das als Zeichen der Pietät verständlich. (MS 110: 195 f.)³⁹⁵

Die Technik, entgegengesetzte Möglichkeiten zu erfinden, verdankt Wittgenstein Paul Ernst. Merkwürdig ist, dass Ernsts Methode von einem Hauptgesichtspunkt Tylors – und Frazers – ausgeht: Sie setzt die „unabhängige Erfindung“ analoger Kulturerscheinungen in den verschiedensten Erdteilen voraus. Der evolutionären Ethnologie zufolge braucht man keine ‚Urwiege‘ anzunehmen, von der aus die Kultur sich überallhin ausgebreitet hat: Der wesentliche Prozess in der Geschichte der Kultur sind nicht großangelegte Entlehnungen, sondern die independent invention. ³⁹⁶ Die primitive Menschheit hat in allen Erdteilen dieselbe Weltsicht; von denselben Assoziationsgesetzen geleitet, durchläuft der menschliche Geist überall dieselben Entwicklungsstadien. Frazers „vergleichende Methode“ gründet in

 Zu „kings not to be seen by their subjects“ vgl. FGB III 3: 120 ff. Der dritte Band (d. h. der zweite Teil der zwölfbändigen Ausgabe) heißt Taboo and the Perils of the Soul. Ähnliche Schlussfolgerungen wie aus Variationen über das Beispiel des unsichtbaren Königs zieht Wittgenstein aus dem ‚Gedankenexperiment‘, welche Art Baum man als Sitz der eigenen Seele wählen würde. Siehe dazu oben S. 141 ff.  Zu independent invention und Diffusion siehe oben S. 114 ff.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

dieser evolutionistischen Hypothese. Die „unabhängige Erfindung“ ist die theoretische Grundlage der Zusammenstellungen (scheinbar) ähnlicher ethnologischer Erscheinungen: Vergleiche machen jene universellen Entwicklungsstadien sichtbar. Genau in diesem Sinn will Ernst zeigen, dass der Verstand beim Erfinden von Märchenmotiven überall die gleiche Arbeit verrichtet. Offenbar bemerkt Wittgenstein die Gemeinsamkeiten zwischen Ernst und den Evolutionisten nicht. Was Wittgenstein gegen Frazer anführt, wendet Ernst, wohl von einem evolutionistischen Standpunkt aus, insbesondere gegen die gegnerische Schule der Diffusionisten ein: Sie nehmen die independent invention nicht zur Kenntnis. In seiner Aneignung mag sich Wittgenstein vor allem nach einem allgemeinen Zug gerichtet haben, durch den Ernst sich von den meisten Evolutionisten unterscheidet. Wie Wittgenstein weist auch er Erklärungen überhaupt zurück: Ernst geht es um Phänomene, die „unerklärlich“, aber „verständlich“ (Ernst 1910: 272 f.) sind – und so sind auch Wittgensteins „Zeichen der Pietät“. Ernsts Methode besteht darin, jeweils zwei gegensätzliche Möglichkeiten zu erfinden. Zu Goethes Morphologie gehört dagegen die Methode, formal verwandte Gebilde und imaginäre Zwischenglieder zu erdichten: Beim Erfinden neuer Pflanzen benutzt der Morphologe – so Wittgensteins Lesart – die ‚Urpflanze‘ als schillersche Idee, d. h. als ‚Schema‘, als ‚Prinzip‘. Auf ähnliche Weise gehört das Erfinden primitiver Gebräuche, die dann etwa als Zwischenglieder fungieren, zur übersichtlichen Darstellung der real vorkommenden. Man stellt eine „Umgebung“ ähnlicher Fälle zusammen, indem man verwandte Gebräuche auf- oder eben auch erfindet. Sie bilden dann einen „Chor“ bzw., wie es später heißt, eine „Familie“. Goethe und Ernst verfahren also jeweils anders. Wittgenstein vollbringt eine neue Synthese. Gegensätzliche Möglichkeiten und/oder imaginäre Zwischenglieder erfinden – beides trägt zum Nachweis bei, dass ein allgemeines „Prinzip“ jeden Menschen theoretisch imstande setzt, alle denkbaren Riten und Gebräuche zu erfinden. Wittgenstein orientiert sich hier an Ernst und an Goethe. Durch Ernsts Methode, gegensätzliche Möglichkeiten zu erfinden, will Wittgenstein außerdem zeigen, dass derselben Anschauung entgegengesetzte Handlungsweisen und derselben Handlungsweise entgegengesetzte Anschauungen entsprechen können. Auch Frazer bemerkt gelegentlich, derselben Theorie könnten entgegengesetzte Gebräuche entspringen: Derselbe ‚Aberglaube‘ kann nahelegen, zum selben Zweck konträre Mittel zu verwenden.³⁹⁷ Frazer will hier auf  „[…] [T]he same theoretical belief […] has led others to seek the same end by directly opposite means. […] If we ask why it is that similar beliefs should logically lead, among different peoples, to such opposite modes of conduct as strict chastity and more or less open debauchery, the reason […] is perhaps not very far to seek. […] Thus from the same crude philosophy, the

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die Beliebigkeit abergläubischer Theorien und Rituale hinaus. Mit diesem kritischen Anliegen hat Ernsts Methode, die möglichen alternativen Entwicklungen eines Motivs logisch zu deduzieren, wenig zu tun. Auch Wittgenstein zielt auf anderes: Für dasselbe Gefühl sind alternative, ja entgegengesetzte rituelle Ausdrucksformen denkbar. Aber die Verbindung zwischen Anschauung und Handlungsweise ist ebenfalls willkürlich: Verschiedenem kann Verschiedenes entsprechen. Wie bei jeder Sprache ist die Grammatik auch beim Ritus autonom. Zeremonielle ‚Zeichen der Pietät‘ sind 1) nicht zufällig und 2) emotional geladen. Mehr kann man nicht sagen. Diese Handlungen geschehen „nicht in irgendeiner mehr oder weniger zufälligen Weise“, sondern stehen geradezu „im Gegensatz zum Zufälligen (lauen) (haphazard)“ (MS 110: 196) (sie sind ‚heiß‘ oder ‚kalt‘, aber nicht ‚lau‘). Trotzdem sind sie als Zeichen willkürlich. Daher die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksweisen: Entgegengesetzte Zeichen sind als Ausdruck desselben verständlich.³⁹⁸ Daraus erwächst eine Schwierigkeit für jeden ‚konstruktiven‘ Vorschlag. Man kann Needham zufolge nicht „conclude that rituals with a common form will have any common meaning or purpose“ (Needham 1985: 164). Und umgekehrt können Rituale mit vergleichbarer Funktion oder Bedeutung unterschiedliche, ja manchmal entgegengesetzte Formen haben. Macht es aber überhaupt einen Sinn, ähnliche Ausdrucksformen zusammenzustellen, wenn sie unterschiedlichen oder sogar gegensätzlichen Inhalt haben können? Wittgensteins Auffassung, Handlungen seien (autonome) „Zeichen der Pietät“, scheint jedem ‚konstruktiven‘

same primitive notions of nature and life, the savage may derive by different channels a rule either of profligacy or of asceticism.“ (FGB III 2: 104, 117; FGB 1922: 138)  Man hat diese ‚opposite enactments‘ mit der strukturalistischen Methode verglichen. Wittgenstein – heißt es bei Mary Douglas – „was groping for structural analysis before it had become available in anthropology“ (Douglas 1978: 159; vgl. Tambiah 1990: 59). Der anthropologische Stil der strukturalen Analyse ist inzwischen schon lange unter Beschuss geraten (vgl. Douglas 1978: 160). Der Unterschied zu Wittgenstein ist offenkundig. Dieser will eine von vielen möglichen Ordnungen herstellen. Er will nicht die Ordnung hinter den Phänomenen finden. Gerade dies bezweckten Strukturalisten wie Lévi-Strauss: Sie postulierten eine theoretische Ordnung hinter den Vorgängen. Deshalb hielten sie es für zwecklos, die Oberflächenformen miteinander zu vergleichen. Wittgenstein betont dagegen das performative Moment, das der Strukturalismus vernachlässigt. Den intellektualistischen Charakter des Strukturalismus kritisiert Bourdieu 1980, insbes. S. 37 ff. Den Assoziationsgesetzen, die Frazers Unterarten der Magie zugrunde liegen, Similarität und Kontiguität, entspricht bei Jakobson, der Freud und Frazer nennt, der Doppelcharakter der Sprache, d. h. die Polarität von Metaphorik und Metonymik (vgl. Jakobson 1996: 173; vgl. Tambiah 1990: 53). Zur Frage der Filiation zwischen Frazers Typologie und dieser Grundunterscheidung der strukturalistischen Ethnologie – auch Lévi-Strauss stellt Metapher und Metonymie gegenüber – vgl. Douglas 1978: 160 f.

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Vorschlag, eben diese Zeichen zusammenzustellen, die Legitimation zu nehmen: Entbehrt eine derartige Zusammenstellung nicht jeglicher Aussagekraft? Empirische Geltung hat sie auf jeden Fall nicht.

2.2.3.3 Goethes Morphologie und die Sprache in ihrer Umgebung Im Grunde möchte Wittgenstein bei Riten ähnlich verfahren wie bei Sprachen: „Eine S p r a c h e erfinden“ (MS 110: 182) ist in dem Manuskript, in dem er seine Bemerkungen über Frazer niederschreibt, ein Parallelthema zum Erdichten von Gebräuchen.³⁹⁹ Ähnlich, wie Goethes Morphologe sich der Urpflanze bedient, um neue Pflanzen zu erfinden, geht auch derjenige, der „eine neue Sprache konstruiert (erfindet)“, nach einem „Prinzip“ vor: Er orientiert sich nämlich an einem Begriff der Sprache.⁴⁰⁰ Gerade weil ihm dieser Begriff als „Prinzip“ dient, ist die Erfindung einer fiktiven Sprache ein Beitrag zur Grammatik des Wortes „Sprache“.⁴⁰¹ Was für ein Beitrag genau? Die Sprachen, die wir gelernt haben, haben „in gewissem Sinne über sich hinausgeführt“; aber ob das Erfinden jeder neuen Sprache den Sprachbegriff erweitert, stellt Wittgenstein lediglich als Frage in den Raum. Eine Sprache erfinden, heißt eine Sprache konstruieren. Ihre Regeln aufstellen. Ihre Grammatik verfassen. | Erweitert jede erfundene Sprache den Begriff der Sprache? […] Wie bin ich denn zum Begriff ‚Sprache‘ gekommen? Doch nur durch die Sprachen die ich gelernt habe. | Aber haben mich in gewissem Sinne über sich hinausgeführt, denn ich wäre jetzt

 Das Thema „Eine S p r a c h e erfinden“ (MS 110: 182) wird im Manuskript zunächst lediglich erwähnt und erst nach den Betrachtungen zum Erdichten, Ausdenken von „primitive[n] Gebräuche[n]“ (MS 110: 195) wiederaufgenommen (vgl. MS 110: 199 ff.).  „Was tut der, der eine neue Sprache konstruiert (erfindet)? nach welchem Prinzip geht er vor? Denn dieses Prinzip ist der Begriff ‚Sprache‘.“ (MS 110: 199; TS 211: 246.)  „Ich brauche nicht zu sagen daß ich nur die Grammatik des Wortes ‚Sprache‘ weiter beschreibe indem ich sie mit der Grammatik des Wortes ‚Erfindung‘ in Verbindung bringe.“ (MS 110: 200) – Wittgenstein unterscheidet streng zwischen Erfinden 1) in kausalem und 2) in formalem Sinn: 1) Man erfindet „auf Grund von Naturgesetzen (oder im Einklang/in Übereinstimmung/ mit ihnen) eine Vorrichtung zu einem bestimmten Zweck“ (MS 110: 199); 2) wie in der Morphologie denkt man sich formal verwandte Gebilde aus (vgl. MS 110: 199 f.; TS 211: 239). Die formale Betrachtungsweise kann kausale Zusammenhänge auch „erdichten“ (MS 114: 169; PG: 191), „fingieren“ (MS 114: 171; PG: 192); „die tatsächliche Folge der Vorgänge“ (MS 110: 284) kommt dabei nicht in Betracht: Sie wird einfach durch eine rein formale Anordnung ersetzt. Auf dieser Linie unterscheidet Wittgenstein zwischen dem (kausalen) Erfinden einer Maschine und dem (formalen) Erfinden einer Sprache. (Mit Letzterem hält er „die Erfindung eines Spiels“ (MS 110: 199) für vergleichbar.) Schließlich aber bemerkt er, dass beide – eine Sprache wie auch eine Tastatur – sich sowohl in kausalem wie in formalem Sinn erfinden lassen (vgl. MS 115: 35; PG: 192; vgl. dann PU, § 492).

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im Stande eine neue Sprache zu konstruieren z. B. Wörter zu erfinden. Also gehört diese Methode der Konstruktion noch zum Begriff der Sprache. Aber nur wenn ich ihn so festlege. (MS 110: 200 f.)

Die Grammatik ist autonom, willkürlich. Dementsprechend kann ich auch den Sprachbegriff frei festlegen, z. B. so, dass die Konstruktionsmethode bereits zu ihm gehört; dann aber wird die Konstruktion neuer Sprachen ihn nicht erweitern, insbesondere wenn die Konstruktionsmethode eine algorithmische ist. In diesem letzteren Fall ist der Sprachbegriff, zu dem sie gehört, ein fest umgrenzter. Wittgenstein geht in MS 110 nicht mehr davon aus, dass dies bei unserer natürlichen Sprache zutrifft. Aber er erwägt eine einzige alternative Möglichkeit: Ich kann festlegen, dass die Konstruktionsmethode nicht zum Sprachbegriff gehört. In diesem letzteren Fall würde die Konstruktion neuer Sprachen ihn erweitern und eben dadurch zur Grammatik des Wortes „Sprache“ beitragen. Wittgensteins Denken ist damals noch im Werden. Später verliert die Frage, ob die ‚Konstruktionsmethode‘ zum Sprachbegriff gehört, an Bedeutung: Es gibt dann keine algorithmische ‚Konstruktionsmethode‘, und der Sprachbegriff hat keine scharfen Grenzen, er steht für eine ‚Familie‘. In MS 110 ist der Hauptpunkt wiederum, dass die Grammatik autonom ist und dass keinem Begriff ein metalogischer Status zukommt: Auch Worte wie ‚Sprache‘ oder ‚Grammatik‘ stehen „nur für triviale Abgrenzungen“ (MS 110: 201). Sie sind wie eine Überschrift, die ein Buch von anderen unterscheidet (vgl. MS 110: 201). Dass die Überschrift für eine Aufzählung steht, betont Wittgenstein allerdings noch nicht (vgl. dagegen TS 211: 47). Erst nach MS 110 heißt es, ‚Sprache‘ sei ein „Sammelname“ (MS 114: 167; vgl. PG: 190). Der Rest des vorliegenden Abschnittes antizipiert diese spätere Weiterführung. Wer eine fiktive Sprache erfindet, leistet demnach vor allem einen Beitrag zur Grammatik des Wortes ‚Sprache‘ und damit zur Beschreibung unserer tatsächlichen Sprache: Er zeigt, dass die Grenzen unseres Sprachbegriffs nur scheinbar scharf sind. Dieser kann also durch erfundene Sprachen erweitert werden. Der Grund ist aber nicht, dass ich den Sprachbegriff so festgelegt habe, sondern, dass die Sprachgemeinschaft seine Grenzen nicht festgelegt hat. Das Diktat „Überblick beruhigt“ – und daraufhin Waismanns Buch Logik, Sprache, Philosophie – nimmt die morphologischen Reflexionen wieder auf und beruft sich dabei auf Goethe.⁴⁰² Wittgenstein bemerkt eine Berührung zwischen seinen Gedanken und „den Anschauungen Goethes über die Metamorphose der

 Vgl. VW: 308 ff.; vgl. WLP: 126 ff.

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Pflanzen“: Der Gedanke der Urpflanze löse das „P r o b l e m d e r ü b e r s i c h t l i c h e n D a r s t e l l u n g “ (VW: 310; vgl. WLP: 127).⁴⁰³ In der Zwischenzeit hat Wittgenstein die eigene philosophische Methode entscheidend weiterentwickelt. Er geht nun von Begriffen aus, über die er in seiner ersten Auseinandersetzung mit Frazer noch nicht verfügte: von ‚Familienähnlichkeit‘, ‚Sprachspiel‘ und ‚Vergleichsobjekt‘.⁴⁰⁴ „Sprachspiele“ sind in „Überblick beruhigt“ „Vergleichsobjekte“, mit denen die Wirklichkeit nicht verwechselt werden darf. Sie spielen eine ähnliche Rolle wie Boltzmanns Modelle. Ähnlich wie der „Chor“ verwandter Riten in den Bemerkungen über den Golden Bough bilden im Diktat Sprachspiele die morphologische Umgebung; denn die morphologische Betrachtungsweise wird hier nicht mehr auf Riten und Gebräuche angewandt, sondern nur noch auf die Sprache. Goethe zeigt eine Alternative zum evolutionären Ansatz, der vom kausalen Ursprungsdenken beherrscht ist. In den Bemerkungen über den Golden Bough wird er deshalb, wenn auch nur implizit, Frazer gegenübergestellt. Der Ethnologe wird jedoch weder im Diktat noch bei Waismann erwähnt. Als Vertreter der entwicklungsgeschichtlichen Methode tritt nun Darwin auf. Im Mittelpunkt der Kritik steht „ein gewisser Stil des Denkens“, der „vermutlich mit der Alleinherrschaft des Kausalschemas“ (WLP: 127; vgl. VW: 310) zusammenhängt.⁴⁰⁵ „Wir sind gewohnt, überall, wo wir Ähnlichkeiten wahrnehmen, nach einem gemeinsamen Ursprung dieser Ähnlichkeiten zu forschen.“ (WLP: 127; vgl. VW: 310) Darwins Hypothese, „verschiedene Tierarten hätten sich aus einer gemeinsamen Stammform entwickelt“, „kennt gewissermassen nur e i n Schema, auf das sie alle Ähnlichkeiten bringen will, das Schema der Zeit. Das heisst, wo immer man Ähnlichkeiten gewahrt, da sagt man: Das eine hat sich aus dem andern entwickelt. (Das hängt wahrscheinlich mit der ausschliesslichen Verwendung des Schemas UrsacheWirkung zusammen; denn die Ursache geht der Wirkung voran.)“ (VW: 310) Das „Schema der Zeit“ – die chronologische Aneinanderreihung ähnlicher Erschei-

 In Goethes Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790) kommt die ‚Urpflanze‘ nicht vor: Der Begriff spielt hier keine Rolle mehr. Wittgensteins Diktate ignorieren diesen Sachverhalt. Siehe dazu auch oben S. 239, Anm. 382.  Um die Begriffe ‚Familienähnlichkeit‘ und ‚Vergleichsobjekt‘ kreist Wittgensteins Spenglerund Selbstkritik im August 1931. Siehe dazu unten § 2.3.2, S. 264 ff.  In der Vorlesung vom May Term 1933 nennt Wittgenstein beide, Frazer und Darwin (siehe dazu unten S. 299ff.). – Goethe und Darwin in einer morphologischen und zugleich kausalen Betrachtung zusammen zu denken, war Haeckels Anliegen gewesen: Seine Generelle Morphologie der Organismen versucht, wie es im Untertitel heißt, eine organische Formen-Wissenschaft durch die von Darwin reformierte Deszendenz-Theorie mechanisch zu begründen. Zu den schärfsten Kritikern der Gleichsetzung von Darwins kausaler Betrachtung mit Goethes Morphologie gehört Spengler. Er nimmt ein Argument Wittgensteins vorweg. Siehe dazu unten S. 300.

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nungen von einem angeblichen Ursprung hin bis zur gegenwärtigen Erscheinung – ist letztlich ein Kausalschema, ein Schema kausal bestimmter zeitlicher Sukzession.⁴⁰⁶ Wer nach dem Ursprung sucht, sucht nach einer gemeinsamen kausalen Erklärung aller Ähnlichkeiten. Das Diktat setzt Goethes „Konzeption der ‚Urpflanze’“ ausdrücklich von Darwins Hypothese ab. „Goethes Satz ‚Alle Organe der Pflanze sind umgewandelte Blätter‘ gibt uns ein Schema, die Organe der Pflanze nach dem Grad ihrer Ähnlichkeit gleichsam um ein Zentrum zu gruppieren.“ (VW: 310; vgl.WLP: 128)⁴⁰⁷ (Bei Goethe geht es z. B. um die „Ve r s a m m l u n g v e r s c h i e d e n e r O r g a n e u m e i n C e n t r u m nach gewissen Zahlen und Maßen“ (Metamorphose, XVIII. Wiederholung, Nr. 116, in Goethe: WAG II, Bd. 6: Zur Morphologie. 1. Theil: 91).) Die Umwandlung aus dem Blatt ist hiernach keine historische Hypothese darüber, wie die Organe der Pflanze entstanden sind. Das ‚Schema‘ bringt vielmehr eine anschauliche formale Verwandtschaft zum Vorschein. „Wir verfolgen die Abwandlung eines Typus im Sinnlichen, indem wir das Blatt durch Zwischenformen hindurch mit den übrigen Organen der Pflanze verbinden.“ (WLP: 128) Goethe habe den Gedanken der Urpflanze nicht einfach preisgegeben, sondern eher im Sinn Schillers umgedeutet: Goethe habe in der Urpflanze „nur eine Idee gesehen, nichts Wirkliches“ (VW: 310). „In diesem Sinn sehen wir nicht die Urpflanze, sondern das, was man die Evidenz für die Urpflanze oder die Evidenz für die Entwicklungshypothese nennt.“ (VW: 310)⁴⁰⁸ Wir sehen die Daten selbst in einer formalen Anordnung: „Wir sehen das Blatt gleichsam in seiner natürlichen Umgebung von Gestalten.“ (VW: 310) Die Urpflanze ist für Goethe ein Mittel, Pflanzen „ins Unendliche“ zu erfinden: Mit dem „Modell“ der „Urpflanze“ „und dem Schlüssel dazu“ – schreibt Goethe am 8. Juni 1787 an Charlotte von Stein – „kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent seyn müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existiren, doch existiren könnten und nicht etwa mahlerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Nothwendigkeit haben.“ (WAG IV, Bd. 8: Briefe 1787: 232.)⁴⁰⁹

 Wer bestimmte „Erscheinungen bis auf ihren Ursprung in die Vergangenheit zurück[]verfolgen“ will, „kennt sozusagen nur e i n Schema für die Ähnlichkeiten, ihre Aneinanderreihung in der Zeit.“ (WLP: 127)  Eigentlich gibt Goethe die Idee einer Urpflanze, nach der (auch) gesucht werden kann, zugunsten der Metamorphose der Pflanzen und ihres Prinzips ‚Alles ist Blatt‘ auf. Wittgensteins Diktat setzt die zwei Phasen gleich. Siehe dazu auch oben S. 250, Anm. 403.  Zum Anglizismus „Evidenz“ in MS 143 siehe unten S. 324 ff., zu Schillers „Idee“ oben S. 235 ff.  Zu diesem Brief vgl. auch Monk 1990: 510; Griesecke 2001b: 129.

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Ähnlich will Wittgenstein in der Philosophie verfahren: Man muss Sprachformen in der Phantasie abwandeln. Durch das Erfinden neuer Formen bezweckt der Philosoph eine Übersicht über den tatsächlichen Sprachgebrauch. Dieser wird verständlich, wenn man ihn mit erfundenen verwandten Sprachspielen umgibt. „Wir stellen eine Sprachform mit ihrer Umgebung zusammen, wir sehen die Grammatik unserer Sprache auf dem Hintergrund ähnlicher und verwandter Spiele, und das bannt die Beunruhigung.“ (VW: 310) Man merkt hier, wie weit Wittgenstein von einer Philosophie der Normalsprache entfernt ist: Betrachten wir einzig und allein unsere tatsächliche Sprache, so werden wir zu allerlei dogmatischen Behauptungen verführt. Stellen wir aber unsere Sprache gleichsam in ihre natürliche Umgebung hinein, nämlich unter ähnliche und verwandte Sprachspiele, so verliert sich das Einzigartige, jene Vorurteile fallen von uns ab und wir erblicken die Sprache in ihrer natürlichen Umgebung. (VW: 68, Anm. 101)⁴¹⁰

Auf analoge Weise verliert die Erde in der kopernikanischen Betrachtung ihren Vorrang und wird zu einem Himmelskörper unter anderen (vgl.VW: 308; WLP:127); und eine nichteuklidische Geometrie lässt uns die euklidische „in einer Umgebung ähnlicher und verwandter Kalküle erblicken und nimmt ihr dadurch das Einzigartige, Unvergleichbare, das uns beunruhigt.“ (WLP: 124)⁴¹¹ Auch vor dem Hintergrund unserer tatsächlichen Sprache neigen wir zu dogmatischen Behauptungen: etwa über Sprache überhaupt. Wie entscheidet man, ob ein bestimmtes Merkmal, eine bestimmte ‚Erscheinung‘, zum Wesen der Sprache gehört? Der Philosoph erfindet ein Sprachspiel, in der diese ‚Erscheinung‘ nicht vorkommt. Ist das erfundene Sprachspiel wirklich ein Sprachspiel? Gehört es noch zur Sprache? Wenn ja, dann verliert die Erscheinung, die in ihm nicht vorkommt, den Anschein der Allgemeingültigkeit (und in diesem Sinn der beunruhigenden Einzigartigkeit): Sie gehört doch nicht zum Wesen der Sprache.Wenn nein, also, wenn wir das Spiel doch nicht als Sprachspiel betrachten, nicht zur Sprache zählen möchten, dann überführt wiederum die Variation eine Sprache in etwas, was wir ‚Sprache‘ zu nennen noch nicht oder nicht mehr bereit sind. Durch dieses Verfahren loten wir also die Grenzen unseres Sprachbegriffs aus, und eventuell be-

 In Logik, Sprache, Philosophie stellt Waismann dieses Diktat ([F89]: „Die Sprache in ihrer Umgebung“) mit „Überblick beruhigt“ ([F90]) zusammen. Er arbeitet beide Diktate in das 4. Kapitel „Grammatische Modelle“ ein. Zu [F89] vgl. insbes. WLP: 126 f.  „Die besondere Beruhigung, welche eintritt, wenn wir einem Fall, den wir für einzigartig hielten, andere ähnliche Fälle an die Seite stellen können […]“ (MS 113: 96v; TS 213: 416). „A philos. problem is |can be| solved only in the right surrounding. […] We must give the problem a new surrounding we must compare it to cases to which we are not used to compare it with. – – –“ (MS 166: 29v-30r)

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stimmen wir sie erst; denn die – fiktiven und ‚echten‘ – Fälle, mit denen wir unseren Sprachbegriff konfrontieren, können Entscheidungen verlangen; wir können den Begriff anpassen, da er arbiträr, willkürlich ist. Dieses Vorgehen hat für Wittgenstein nur den Wert einer „Bemerkung zur Grammatik des Wortes ‚Sprache’“ (VW: 68; Diktat für Schlick = F89). Es zeigt schließlich, dass Begriffe wie ‚Sprache‘ oder ‚Mathematik‘ nur scheinbar fest begrenzt sind. Wären sie es, dann wären Sprache und Mathematik ohne „gewisse grammatische Spiele“ „nicht komplett, wie man sagen kann, die elementare Kardinalarithmetik sei ohne den Kalkül der Multiplikation nicht vollständig“ (VW: 66). Die Sprache aber wird „durch dieses oder jenes Sprachspiel nicht komplett noch durch sein Fehlen unvollständig“ (VW: 68). Durch den Rückgriff auf imaginäre Sprachspiele, auf „festumschriebene Gebilde […], welche wir nicht gut umhin können, Sprache zu nennen“ (VW: 66), obwohl sie bestimmte Merkmale entbehren, weisen wir nach, dass der Sprachbegriff „ein fliessender“ ist: „[W]enn du das und das Sprache nennst, warum nicht auch das?“ (VW: 66; WLP: 125) Die fiktiven Sprachformen bilden eine „natürliche Umgebung“, in der die aktuelle Sprachform nicht mehr einzigartig und beunruhigend scheint (vgl. [F89],VW: 66). „Überblick beruhigt“ (VW: 308). Der Begriff einer (imaginären, formalen, morphologischen) „Umgebung“ hängt hier mit dem Gedanken zusammen, dass ‚Sprache‘ ein nicht streng begrenzter Familienbegriff ist. Diese Betrachtungen über Sprache zeigen, in welche Richtung sich Wittgensteins Denken weiterentwickelt. Im Juni-Juli 1931, als er sich zum ersten Mal mit Frazer auseinandersetzte, war er jedoch noch nicht so weit. Macht er dann in puncto Riten eine parallele Entwicklung durch? Nach einer Bilanz seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough werden die darauffolgenden Abschnitte diese Frage anhand späterer Texte untersuchen.

2.2.3.4 „[S]ome sort of order and system“. Ist Wittgensteins Darstellungs-Konzept zu eng an den Golden Bough angelehnt? In der Dublin Lecture on Wittgenstein (1967) schreibt Drury dem Philosophen folgende anerkennende Worte für den Golden Bough zu: „Now Frazer did a valuable piece of work in collecting from all over the world the rites and myths of very different cultures. If he could have been content to do just this and no more it would have been a great book. But […]“ (Drury 2003: 8) Gibt Drury diese (verklausulierte) Würdigung korrekt wieder? Er geht vielleicht zu weit, aber nur im Ton, nicht in der Sache; denn bei aller scharfen Kritik an den Deutungen des schottischen Ethnologen stellt Wittgenstein den Wert der „Frazerschen Tatsa-

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chensammlung“ (MS 110: 256; vgl. TS 211: 321) nicht in Frage – oder zumindest viel weniger als zahlreiche damalige Ethnologen und die meisten späteren.⁴¹² Wittgenstein schätzt den Golden Bough vor allem als „Tatsachensammlung“, und dies entspricht dem Selbstverständnis des Autors: Frazer selbst betrachtet das, was über die Materialsammlung hinausgeht, einfach als Nebensache. Schon vor Erscheinen der ersten Ausgabe erklärt er, dass der Golden Bough, „whatever may be thought of its theories, will be found to contain a large store of very curious customs, many of which may be new even to professed anthropologists.“⁴¹³ Auch in der Vorrede der ersten Ausgabe räumt Frazer ein, seine Theorie gehe vielleicht zu weit, und nennt sein Buch einen „first attempt […] to bring a variety of scattered facts into some sort of order and system“ (FGB III I: xi). Im Vorwort der zweiten Ausgabe bezeichnet er dann seine „hypotheses“ als „necessary but often temporary bridges built to connect isolated facts“; derlei „light bridges“ mögen vielleicht bald zusammenstürzen, und deshalb sei sein Buch im Wesentlichen „a repository of facts“ (FGB III I: xx). In der dritten Ausgabe bekennt er schließlich selbstkritisch, er habe seine Theorien im Wesentlichen nur als „Aufhänger“ für seine „Tatsachensammlungen“ benutzt.⁴¹⁴

 Es fehlt aber selbst in der Zunft nicht an wohlwollenden Äußerungen. Bei aller Kritik sieht noch E. R. Leach in den „collections of facts“ das Bleibende an Frazers Golden Bough (Leach 1961: 383, 381). Für Evans-Pritchard liegt der ‚Wert‘ der vergleichenden Methode darin, dass der Ethnologe „some sort of order“ (Evans-Pritchard 1965: 10; so auch Frazer selbst in FGB III I: xi) eingeführt hat. Viel enthusiastischer äußert sich Meyer Fortes: „Yet, sooner or later, every serious anthropologist returns to the great Frazerian corpus.“ (Fortes 1959: 8; zit. bei Heusch 1997: 213).  So der schon erwähnte Brief vom November 1889, mit dem Frazer dem Verleger George A. Macmillan den noch nicht ganz fertigen Golden Bough zur Veröffentlichung empfiehlt. Vgl. Frazer 2005: 63. Zu Frazers Selbstverständnis siehe oben S. 205 ff.  „The whole fabric of ancient mythology is so foreign to our modern ways of thought, and the evidence concerning it is for the most part so fragmentary, obscure, and conflicting that in our attempts to piece together and interpret it we can hardly hope to reach conclusions that will completely satisfy either ourselves or others. In this as in other branches of study it is the fate of theories to be washed away like children’s castles of sand by the rising tide of knowledge, and I am not so presumptuous as to expect or desire for mine an exemption from the common lot. I hold them all very lightly and have used them chiefly as convenient pegs on which to hang my collections of facts. For I believe that, while theories are transitory, a record of facts has a permanent value, and that as a chronicle of ancient customs and beliefs my book may retain its utility when my theories are as obsolete as the customs and beliefs themselves deserve to be.“ (FGB III 10: xi.) Leichter zugänglich als das Vorwort zu Balder the Beautiful dürfte für Wittgenstein das Vorwort zum ersten Band der dritten Ausgabe gewesen sein: „No one can be more sensible than I am of the risk of stretching an hypothesis too far, of crowding a multitude of incongruous particulars under one narrow formula, of reducing the vast, nay inconceivable complexity of nature and history to a delusive appearance of theoretical simplicity.“ (FGB III 1: x) Zu beiden Stellen vgl. Stocking 1995: 147.

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Mit der Selbstkritik, die vor allem, aber nicht nur die dritte Ausgabe prägt,⁴¹⁵ nimmt Frazer Wittgenstein vorweg; man könnte nämlich den Haupteinwand des Philosophen gegen den Ethnologen dahingehend reformulieren, es sei nicht legitim, (pseudo)wissenschaftliche Erklärungen als ‚Aufhänger‘ für Tatsachensammlungen zu benutzen. Ist sich Wittgenstein der Konsonanz bewusst? Da in der Abridged Edition Wendungen wie ‚collections of facts‘ nicht anzutreffen sind, dürfte Wittgensteins Ausdruck „Tatsachensammlung“ (MS 110: 256) eine Reminiszenz der vollständigen Ausgabe sein, und zwar höchstwahrscheinlich des ersten Bandes (nicht des zehnten). Genau an dem Tag, in dem er die „Tatsachensammlung“ erwähnt, zieht er Frazer als Beispiel eines Wissenschaftlers heran, dem „einmal aufgefallen//zum Bewußtsein gekommen// ist“, dass er bis dahin die „eigentlichen Grundlagen seiner Forschung“ gar nicht bemerkt hat.⁴¹⁶ Bezieht sich Wittgenstein hier auf Frazers Selbstkritik in eben diesem Vorwort? Weiter belegen lässt sich diese Annahme zwar nicht; aber der Philosoph könnte die Vorworte des Golden Bough tatsächlich so gedeutet haben. Auf jeden Fall bietet Frazer in Wittgensteins Augen eine Synopse, etwa, wenn er im Anschluss an Mannhardt eine Reihe ähnlicher Feste beschreibt. Mit seiner Anerkennung für den Golden Bough als Tatsachensammlung kommt Wittgenstein Frazer sehr weit entgegen, sogar weiter, als er meint. Die Tatsachensammlungen sind für Frazer wichtiger als die Theorien – und auch als die Auflösung des Rätsels um Priesterkönig und goldenen Zweig. Wittgenstein überschätzt die Wichtigkeit des Rätsels für den Autor des Golden Bough – und damit auch diejenige der Theorien, die es lösen sollen. Überzeichnet er also den Dissens? Denn so scharf er seine Einwände gegen Frazers Ansatz im Allgemeinen und dessen ‚Erklärungen‘ bzw. ‚Deutungen‘ im Einzelnen auch formuliert, bleibt er dem Ethnologen gegenüber doch sehr großzügig – zu großzügig.

 Auch wenn – wie gezeigt – selbstkritische Stellen schon in den ersten beiden Ausgaben nicht fehlen, gebührt der dritten in dieser Hinsicht eine Sonderstellung (vgl. Smith 1973). Bereits Marett (1920: 178 f.) sieht in der Selbstkritik eine spezifische Tendenz der dritten Ausgabe (zu seinem Urteil siehe oben S. 208).  „Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn daß ihm d i e s einmal aufgefallen/zum Bewußtsein gekommen/ ist (Frazer etc. etc.) | Und das heißt, das Auffallendste (Stärkste) fällt ihm nicht auf.“ (MS 110: 259; vgl. TS 211: 283; TS 212: 1157; TS 213: 419) Die endgültige Fassung in PU, § 129 nennt Frazer nicht mehr. – Einige Tage nach der ersten Fassung (vom 2. Juli 1931) notiert Wittgenstein aus den Confessiones: „Manifestissima et usitatissima sunt, et eadem rursus nimis latent, et nova est inventio eorum. (Augustinus)“ (MS 110: 300; 6. Juli 1931). – Fraser (1990a: 206 f.) zufolge bemerkt Wittgenstein nicht, dass Frazer die Ungewissheit der induktiven Methode stark empfindet. Eine derartige Empfindung ist aber bei einem Wissenschaftler nicht selten. Viel unüblicher ist Frazers Geringschätzung des theoretischen Aspekts.

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Fragwürdig an Frazers Tatsachensammlung war nämlich nicht nur der genetische Aufbau oder der Anspruch auf entstehungsgeschichtliche Erklärung, sondern bereits die Art, wie das Material aufgelesen und gesammelt wurde. Der „Lehnstuhlethnologe“, wie Frazer ihn paradigmatisch verkörperte, kompilierte seine Beispiele im Wesentlichen aus der Literatur. Die Daten waren zumeist auf bedenkliche Art gewonnen worden. Der Unzuverlässigkeit der Quellen (z. B. Handlungsreisende und Missionare, bei Frazer auch antike Autoren wie Pausanias) waren diese Gelehrten sich zwar irgendwie bewusst. Ihre Gegenmaßnahmen (etwa die vorgefertigten Fragebögen) waren jedoch Palliative. An der „scissorsand-paste method of compilation by the armchair scholars at home“ (EvansPritchard 1965: 9) war nicht nur das ‚Ausschneiden‘, sondern auch das anschließende Ordnen der Beispiele höchst zweifelhaft.Werke wie der Golden Bough rissen Gebräuche aus den verschiedensten Epochen und Erdteilen aus dem jeweiligen kulturellen Zusammenhang, der allein ihr Verständnis ermöglichen würde, „piecing the bits together in a monstrous mosaic“ (Evans-Pritchard 1965: 10).⁴¹⁷ Die Ethnologen der jüngeren Generation durchschauten die Unzulänglichkeit der ‚vergleichenden Methode‘.⁴¹⁸ Das Bewusstsein dafür bildete sich allmählich bei den Evolutionisten selbst. Nicht zuletzt die bahnbrechende Monographie von Spencer und Gillen, deren Feldforschung durch Frazer ermutigt und tatkräftig unterstützt wurde, trug dazu bei, neue Standards durchzusetzen. Selbst Frazer, der unermüdliche Kompilator und die Galionsfigur der alten ‚vergleichenden Methode‘, achtete im Laufe der Jahre etwas mehr auf intrakulturelle Zusammenhänge, wenn auch immer nur sehr unzulänglich.⁴¹⁹ In der Regel ähneln sich die Gebräuche, die Frazer zusammenstellt, nur äußerlich: Sie sehen nur deshalb miteinander verwandt aus, weil sie aus ihrem eigentlichen Kontext gerissen wurden – ohne Blick für ihre komplexe Textur. Die endlosen Auflistungen zumeist isolierter „ähnlicher“ Beispiele aus den heterogensten Kulturen verschwanden mit dem Untergang des evolutionären Paradigmas. Wittgensteins Auffassung davon, wie man ethnologische Daten zusammenstellen darf, hatte also ein ‚Urbild‘, das 1931 bereits überholt war: die alte ver-

 Bei Frazer kam die Tendenz hinzu, die der Sekundärliteratur entnommenen Beispiele ‚literarisch‘ auszuschmücken (vgl. Leach 1961: 375 ff.).  Bereits Franz Boas (Boas 1896) hatte das von den Evolutionisten gewaltig unterschätzte Problem in den Mittelpunkt gerückt, und sogar ein Autor wie Spengler bemerkte es bei Wundt (siehe dazu oben S. 70 f., Anm. 26).  Durkheim z. B. entging diese Entwicklung Frazers nicht, die sich vor allem, aber nicht nur, in Totemism and Exogamy zeigte. Vgl. Downie 1970: 78 f. Siehe auch unten S. 306.

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gleichende Methodik der evolutionären Anthropologie. Wittgenstein kommt es allerdings auf etwas ganz anderes an als Frazer; und das ‚Urbild‘ ist nur dann inadäquat, wenn es diesem Anliegen nicht entspricht (oder Letzteres nicht mehr nachvollziehbar ist). Zwar tendiert die Zusammenstellung schon bei Frazer dazu, zum Selbstzweck zu werden. Aber wenigstens ‚offiziell‘ stellt er Riten zusammen, um die ihnen zugrunde liegende Theorie ans Licht zu bringen und mit ihr die gemeinsame Zweckursache dieser Handlungen. Die Riten hält er für vergleichbare Zweckhandlungen, für Techniken, die im Grunde denselben Zweck verfolgen und auf dieselbe (abergläubische) Theorie zurückgehen. So eine Theorie gibt es für Wittgenstein jedoch nicht.Was soll bei ihm dann die Zusammenstellung zeigen? Was würde hier als Ordnungsprinzip fungieren und die Zusammenstellung rechtfertigen? Die ‚Anschauungen‘, die in den Riten zum Ausdruck gelangen? Die Empfindungen, die sich in ihnen äußern? Oder einfach die äußere Handlungsform? Aber wenn die Form willkürlich, autonom ist, was besagen dann formale Zusammenhänge? Wittgenstein selbst hebt ja hervor, dass eine ähnliche Form etwas anderes ausdrücken bzw. darstellen kann und eine unähnliche Form dasselbe. Entbehrt eine Zusammenstellung nicht jeder Aussagekraft, wenn verwandte Ausdrucksformen unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Inhalt haben können?⁴²⁰ Was wäre damit erreicht, dass man diese vermeintlich ähnlichen ethnologischen Versatzstücke aus disparaten Kulturen in einer Reihe ordnete? Die alte vergleichende Methode der Evolutionisten würde die Form einer Morphologie annehmen. Aber das Ergebnis bliebe ‚ein monströses Mosaik‘, eine willkürliche Zusammenstellung aus ihrem intrakulturellen Kontext gerissener Gebräuche. Fragwürdig wäre nicht nur das ‚Ausschneiden‘, Entkontextualisieren, sondern auch das anschließende ‚Ordnen‘ der ‚ausgeschnittenen‘ Beispiele. Man darf also bezweifeln, dass bei einem Vorgehen, wie es Wittgenstein vorgeschwebt haben mag, die ‚Tatsachen‘ übersichtlich dargestellt werden: Das ‚Material‘, das übersichtlich dargestellt werden soll, verdient den Namen ‚Tatsachen‘ nicht. Auch in der beschriebenen morphologischen Umbildung bliebe die ‚vergleichende Methode‘ empirisch nach wie vor unzulänglich. Ist dies für Wittgenstein aber wirklich wichtig? Ihm ist sicher nicht genügend bewusst, dass Frazers Sammlungen beliebig sind. Er beurteilt Frazers Daten, das im Golden Bough vorgelegte ‚Tatsachenmaterial‘, zu wohlwollend und durchschaut die Fragwürdigkeit der Datengewinnung nicht. Ein Hauptgrund,weshalb er dafür keinen Blick hat, ist allerdings, dass die empirische Korrektheit der Be-

 Zu Needhams Kritik siehe oben S. 247 f.

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schreibungen für ihn nicht weiter von Belang ist. Sich darüber Gedanken zu machen, meint er, sei nicht Sache des Philosophen: Für dessen Zwecke könnten die Gebräuche ja auch erfunden sein. Dass Wittgenstein nicht alle Unzulänglichkeiten von Frazers vergleichender Methode wahrnimmt, hat jedoch auch begriffliche Gründe. Im Juni-Juli 1931 beachtet Wittgenstein selbst den Handlungskontext nur bedingt. Dieses Hauptproblem ist weniger empirischer als begrifflicher Natur: anders als in seiner späteren ‚Sprachspielauffassung‘ hat er noch keinen ausgereiften Kontextbegriff. Wittgenstein hat auf jeden Fall nicht den Anspruch, zum Heinrich Hertz der Ethnologie zu werden: Er hat nicht die Absicht, eine Wissenschaft, die eigentlich schon genug weiß, aber in Unklarheiten und Widersprüche verstrickt ist, in ihrem systematischen Zusammenhang neu darzustellen. Er schlägt zwar wie Hertz eine neue ‚Form der Darstellung‘ vor, aber doch nicht für eine Wissenschaft. Er versteht die übersichtliche Darstellung nicht als empirische Methode – und sich selbst nicht als Ethnologen. Das Material ordnen heißt für Frazer, es in eine kausale, entstehungsgeschichtliche Form zu bringen: Dieser erklärende Anspruch scheint Wittgenstein problematisch. Und er selbst erhebt nicht nur keinen erklärenden, sondern im Grunde überhaupt keinen empirischen Anspruch. Im Grunde möchte er bei Riten und bei Sprachen ähnlich vorgehen, und der Analogie im Verfahren entspricht eine Analogie in der Zielsetzung. Er denkt hier wie dort an dieselbe ‚Form der Darstellung‘ und an die Möglichkeit, Zwischenglieder und entgegengesetzte Möglichkeiten zu erfinden.⁴²¹ Wir würden nach so einer übersichtlichen Darstellung fühlen, unsere ‚Schwierigkeit‘ sei erkannt und behoben worden: Diese Zustimmung ist bei Gründen ausschlaggebend. Das Kri Wittgenstein will darauf hinaus, dass Frazer letztlich keine Kausalerklärungen liefert, sondern nur Zeichenerklärungen, und insofern Riten ähnlich wie Sprachen erklärt. Drury zufolge betrachtet der Philosoph selbst Riten als „a form of language“ und als „a form of life“: Damit schreibt Drury Wittgenstein allerdings eine Begrifflichkeit zu, die dieser erst wesentlich später ausgearbeitet hat. Drury zieht in diesem Zusammenhang auch den Gedanken der Autonomie bzw. Willkürlichkeit der Grammatik heran. Und wirklich meint Wittgenstein schon 1931, dass Zeichenerklärungen irgendwann ein Ende haben: Früher oder später ist keine weitere (Zeichen‐)Erklärung mehr möglich. Der Grund dafür ist eben, dass die Verbindung zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem willkürlich, die Grammatik autonom ist, bei Sprachen wie bei Riten. – Dass die Grammatik autonom ist, schließt für den späten Wittgenstein aber nicht aus, dass sie in kausalen Beziehungen steht. Sprechen ist Handeln, Sprachspiele interagieren kausal mit der Welt. Der späte Wittgenstein zeigt, dass (scheinbar) ‚universelle‘ Begriffe ihren pragmatischen Sinn jenen kausalen Beziehungen verdanken. Er denkt sich imaginäre Kontexte aus, in denen die uns vertraute Naturgeschichte abgeändert wird: Hier verlieren unsere Begriffe ihren pragmatischen Sinn. Und er schließt jetzt keineswegs aus, dass man sich an einer echten historischen Rekonstruktion von zeit- und kulturgebundenen Sprachspielen (wie etwa den ästhetischen) versuchen sollte.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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terium ist insofern ‚subjektiv‘. Die ‚übersichtliche Darstellung‘ soll beruhigen: Es geht jedoch nicht einfach um eine psychologische Wirkung; die Darstellung muss als ‚Klärung‘ gelten dürfen, als wirklich ‚übersichtlich‘. Wie weit geht die Analogie zwischen dem einen und dem anderen ‚Chor‘, dem der Sprachen und dem der Gebräuche? Beiden liegt offenbar ein ‚Gesetz‘ zugrunde, ein ‚Prinzip‘, nach dem wir vorgehen, wenn wir imaginäre Gebilde – hier Sprachen, dort Gebräuche – erfinden. In dem einen Fall ist dieses ‚Prinzip‘ ein Begriff (‚Sprache‘). Und in dem anderen? Worum handelt es sich bei dem ‚Prinzip‘, bei dem ‚Gesetz‘, das hinter dem ‚Chor‘ liegt, bzw. bei dem ‚Schema‘ einer Zeremonie? Geht es auch hier um einen Begriff, etwa um ‚Ritus‘/‘Zeremonie‘/‘Gebrauch‘? Besteht der ‚Chor‘ also nicht nur aus bestimmten Gebräuchen, aus den Riten, die im Golden Bough gesammelt sind und die Frazer und seine Leser beunruhigen? Die freie Variation kann Wittgenstein zufolge alles umfassen, was wir uns an Riten (bzw. Gebräuchen) ausdenken können; und übersichtlich zusammengestellt ergeben die durch freie Variation erschlossenen Möglichkeiten, die fiktiven wie die real vorkommenden, das, was wir unter ‚Ritus‘, ‚Zeremonie‘ oder (religiösem) ‚Gebrauch‘ verstehen. Im Juni-Juli 1931 stehen Begriffe noch nicht für eine ‚Familie‘. Deutlich ist dies auch beim Sprachbegriff: Die Methode, formal verwandte Gebilde zu erfinden, soll zwar einen Beitrag zu dessen Grammatik leisten; aber die übersichtliche Darstellung dient damals noch nicht dem Nachweis, dass der Sprachbegriff offene, fließende Grenzen hat. So bildet auch der ‚Chor‘ frazerscher Gebräuche noch keine ‚Familie‘. Wenn man ihn zusammenstellt, dann nicht, um dem Begriff (‚Gebrauch‘ oder ‚Ritus‘) offene Grenzen zuzuschreiben. Wie bei Goethe keine Pflanze der anderen gleicht, so hier kein Brauch dem anderen, aber Wittgenstein betont damals noch nicht, dass zwischen den ‚ähnlichen‘ Riten tiefe Unterschiede bestehen können. Erst später wird er die morphologische Betrachtung als übersichtliche Darstellung einer ‚Familie‘ reformulieren, und erst in MS 143 versteht er dann die formalen Beziehungen zwischen den Riten als ein Netz von Familienähnlichkeiten. Wozu führt dann die rein formale Zusammenstellung im Juni-Juli 1931? Gleichsam zu einem ‚Wesen‘ (von ‚Ritus‘ oder ‚Gebrauch‘)? Und ist dieses ‚Wesen‘ ‚grammatischer‘ Natur? Also zuletzt einfach unser Begriff ‚Ritus‘ bzw. ‚Gebrauch‘? Und das ‚Gesetz‘ – das ‚Schema‘ – etwas wie die Bedeutung, die Verwendung eines Wortes in unserer Sprache bzw. in unseren Sprachen? Ist das ‚Gesetz‘ also kulturell eingegrenzt, relativ? Nur in diesem letzteren Fall ließe sich sagen, Wittgensteins damaliger Ansatz sei frei von Essentialismus. Der Philosoph scheint aber nicht dieser Ansicht zu sein. Das ‚Prinzip‘, das uns imstande setzt, durch freie Variation imaginäre Gebilde zu erfinden, soll ein allgemeinmenschliches sein. Im Juni-Juli 1931 denkt es

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Wittgenstein noch nicht anti-essentialistisch. Die übersichtliche Darstellung deutet darauf hin, dass ein allgemeines „Prinzip“ ‚uns‘ theoretisch befähigt, alle möglichen Gebräuche zu erfinden – und zwar aus demselben gemeinsamen Geist, aus dem sie wirklich entstanden sind. (Gründe scheinen insofern verallgemeinerbar, ‚ihre‘ und unsere Gründe dieselben zu sein.) MS 110 gibt nur Frazers „Tatsachensammlung“ im Singular explizit als Gegenstand einer übersichtlichen Darstellung an. Der Golden Bough – die frazersche „Tatsachensammlung“ – „k a n n“ demnach als ein Ganzes in eine übersichtliche Darstellung überführt werden, indem man von der „Entwicklungshypothese“ absieht und einfach das ‚Tatsachen-Material‘ gruppiert. (Wie Frazers vergleichende Methode würde auch diese übersichtliche Darstellung der im Golden Bough vorliegenden Tatsachensammlung „auf ein geheimes Gesetz“ weisen, aber auf kein entwicklungsgeschichtliches.) Sind nun (auch) die „Wandlungen |der Bedeutung|“ übersichtlich darzustellen? Darüber lässt MS 110 nichts verlauten. In TS 211 jedoch sind auch sie Gegenstand der übersichtlichen Darstellung. Ja, Wittgensteins eigenes philosophisches Programm besteht offensichtlich darin, diese Wandlungen darzustellen. In einem anderen Passus erklärt TS 211 zwar weiterhin, dass (auch) Frazers ganze Tatsachensammlung übersichtlich dargestellt werden „k a n n“. Aber nichts weist hier darauf hin, dass Wittgenstein selbst das „Gesetz“ „ausdrücken“ oder „darstellen“ will oder dass er darin etwa die Aufgabe einer möglichen Ethnologie erblickt. Sein eigenes Programm – eine übersichtliche Darstellung der Wandlungen der Bedeutung – hat er im Typoskript bereits andernorts vorgelegt. Die übersichtliche Darstellung gewährt einen Überblick über Frazers „Tatsachensammlung“, und die Riten kommen uns dann nicht mehr befremdlich vor. Die übersichtliche Darstellung ist aber nicht eine Methode, um fremde Riten zu verstehen, weder eine empirische noch eine sonstige.Wir sehen vielmehr ein, dass diese Bräuche uns auch ohne eine Methode zugänglich sind. So zumindest scheint Wittgenstein es aufzufassen. Denn eine deutliche Grenze zwischen subjektiver Beruhigung und kognitiver Leistung zieht er 1931 nicht. Beides scheint damals in einem erlangt zu werden: mit der Ruhe also auch die Fähigkeit, sich in die fremden Riten hineinzuversetzen. 1931 versteht der Philosoph, obwohl er seine ‚Phänomenologie‘ eigentlich schon aufgegeben hat, Gründe noch als phänomenologische Beschreibungen in der ersten Person. Und zugleich geht er offenbar davon aus, dass das ‚Gesetz‘ ein allgemeinmenschliches ‚Prinzip‘ ist, nach dem die Gebräuche geordnet sind und das uns deren Verständnis ermöglicht.

2.2 Rituelles Handeln übersichtlich darstellen?

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Ist das Gesetz indes nicht vielmehr ein Schein, eine fata morgana? Die Vorlesung vom May Term 1933 scheint eher diesen Aspekt unterstrichen zu haben. Hier heißt es von Frazers Riten: „That they point, is all there is to it.“ (10/7/9: 33)⁴²² In einem späteren Notat erläutert Wittgenstein den Sinn seiner übersichtlichen Darstellungen durch einen Vergleich mit Goethe.⁴²³ Eine philosophische, begriffliche Untersuchung tut demnach in etwa das, was auch Goethe tun wollte: Sie sieht „Analogien“, „die man früher nicht gesehen hatte“, ersetzt das alte Vergleichsobjekt durch ein neues („Vergleiche nicht diesen Teil mit diesem; sondern vielmehr mit jenem!“), wechselt den Aspekt („Sieh es s o an!“) und stellt „eine neue Ordnung“ in den „Beschreibungen“ her. Nun könnte „die neue Anordnung auch der wissenschaftlichen Untersuchung eine neue Richtung geben.“ Aber dieser mögliche Niederschlag auf die empirische Forschung ist für Wittgenstein nicht der Zweck der begrifflichen Analyse; und er wird auch nicht unbedingt erreicht, sondern stellt sich nur eventuell ein. Wittgenstein gesteht deshalb im Grunde „eine Art Z w e c k l o s i g k e i t “ ein, die seine begrifflichen Untersuchungen „charakterisiert“. Sie ähneln unter diesem Gesichtspunkt den ästhetischen. Er möchte zwar „n i c h t sagen“, es sei „ein Fall von ‚l’art pour l’art‘“; dies würde nämlich „zu spielerisch“ klingen. „Wohl aber könnte ich sagen: ‚[…] Muß denn alles, was wir tun, mit einem klaren Zweck getan  Näheres dazu unten in § 3.3.5, S. 297 ff.  „Philosophische Untersuchungen: begriffliche Untersuchungen. Das Wesentliche der Metaphysik, daß sie ihr de|r| Unterschied zwischen sachlichen und begrifflichen Untersuchungen nicht klar stellt |ist|. […] Was aber tut eine begriffliche Untersuchung? Ist sie eine der Naturgeschichte der menschlichen Begriffe? – Nun, Naturgeschichte beschreibt, sagen wir, Pflanzen und Tiere. Aber könnte es nicht sein, daß Pflanzen in allen Einzelheiten beschrieben worden wären, und nun erst jemand daher käme der Analogien in ihrem Baue sieht, die man früher nicht gesehen hatte? Daß er also eine |neue| Ordnung in diesen Beschreibungen herstellt. Er sagt z. B.: ‚Vergleiche nicht diesen Teil mit diesem; sondern vielmehr mit jenem!‘ (Goethe wollte so etwas tun) Und dabei spricht er nicht notwendigerweise von A b s t a m m u n g , dennoch aber k ö n n t e die neue Anordnung |auch| der wissenschaftlichen Untersuchung eine neue Richtung geben. Er sagt: ‚Sieh es s o an!‘ – und das kann nun v e r s c h i e d e n e /v e r s c h i e d e n e r l e i / Vorteile und Folgen haben. // v e r s c h i e d e n e r l e i Folgen haben. // | Ist es richtig zu sagen, daß m e i n e Untersuchungen durch eine Art Z w e c k l o s i g k e i t charakterisiert sind? – Ich meine nicht, daß sie zu nichts dienen können, sondern daß sie nicht a u s g e s p r o c h e n im Hinblick auf einen Zweck angestellt werden. Ist das nun ein Fall von ‚l’art pour l’art‘? Das möchte ich n i c h t sagen. Dies klingt zu spielerisch, und als wollte man sagen ‚Ich tue dies, weil es s c h ö n ist‘ oder dergleichen. Wohl aber könnte ich sagen: ‚[…] Muß denn alles, was wir tun, mit einem klaren Zweck getan werden? Und wird es das nicht, – ist es dadurch unverbunden mit/, – ist es deswegen ohne Zusammenhang mit/ dem Übrigen des Lebens? Hat es darum keine Folgen; oder schlechte?‘“ (MS 134: 153 f.) Zu dieser Aufzeichnung und zum Unterschied zwischen Wittgensteins Betrachtung und einer naturgeschichtlichen vgl. Majetschak 2012: 226 f.; vgl. auch Rothhaupt 1996: 178.

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werden? Und wird es das nicht […]/, – ist es deswegen ohne Zusammenhang mit/ dem Übrigen des Lebens? […]‘“ (MS 134: 153 f.) Was Wittgenstein hier Jahre später festhält, gilt auch für die Untersuchung der frazerschen Gebräuche. Wie „eine begriffliche Untersuchung“ keine „der Naturgeschichte der menschlichen Begriffe“ ist (Letztere „beschreibt“ Begriffe, und die begriffliche Untersuchung stellt „eine neue Ordnung in diesen Beschreibungen“ her), bildet a fortiori auch die übersichtliche Darstellung der Rituale keinen Beitrag zur Naturgeschichte des zeremoniellen Tiers. Spätestens 1933 zählt Wittgenstein diese ‚morphologischen‘ Darstellungen eher noch zu den ästhetischen Untersuchungen. Sie sind darin nicht zuletzt mit den von Frazer studierten Kulturerscheinungen verwandt, die sich als Zweckhandlungen eben nicht fassen lassen.

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff 2.3.1 Ein neues Kontextbewusstsein Wittgensteins spätere Reflexionen über den Golden Bough heben sich von den früheren durch ein neues Kontextbewusstsein ab. Dieser Unterschied spiegelt die allgemeinere Entwicklung seines philosophischen Standpunktes wider; denn ein neues Kontextbewusstsein zeigt sich zwar erst einige Zeit nach der ersten FrazerLektüre, aber unabhängig von der erneuten eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Der soziale Aspekt des Handelns gerät bei Wittgenstein erst allmählich in den Fokus. 1931 ist er vor allem auf den individualpsychologischen Aspekt aufmerksam: Seine Vergleichsobjekte für rituelle Gebräuche – etwa der Kuss, der Schlag – sind expressive Handlungen eines Einzelnen, und er nimmt sie eher als ‚Instinkthandlungen‘ in den Blick denn als soziale Gepflogenheiten und kulturelle Erscheinungen. Und ‚Instinkthandlungen‘ sind mit der komplexen Textur von Riten kaum zu vergleichen. Aber schon 1931 stellt der Philosoph die von Frazer besprochenen Riten in den weiteren Zusammenhang einer Lebensform, die nicht ausschließlich rituelle Handlungen vollzieht, sondern etwa auch Techniken beherrscht. Während er damals den sozialen Aspekt noch nicht besonders herausarbeitet, würdigt er den biologischen bzw. ökologischen; dieser dient z.T. als Gleichnis für den kulturellen, sozialen. Wittgenstein betont das Verhältnis einer Menschengruppe zu ihrer ökologischen, ja biologischen Lebensgrundlage: „Entwickelten die Flöhe einen Ritus, er würde sich auf den Hund beziehen“ (MS 110: 298). Das Gleichnis von Hund und Floh, die „|in ihrer Entstehung vereinigt| […] [mit einander entstanden]“ waren (MS 110: 298), macht auf interne Zusammenhänge

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff

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aufmerksam: Der Ritus geht nicht auf eine ‚Anschauung‘ zurück; er gehört vielmehr zu einer „Lebensgemeinschaft“, hier zur „Symbiose“ von Mensch und Eichenbaum, und ist nur vor dem Hintergrund dieser „ursprünglichen Grundlage des Lebens“, gleichsam auf diesem „ursprünglichen B o d e n“ (MS 110: 298), verständlich und ‚natürlich‘. Gemeint sind ebenso die allgemeinen biologischen Lebensgrundlagen der Menschen als auch die spezifischen Umweltverhältnisse des jeweiligen Volkes, z. B. das von Frazer eingängig beschriebene Verhältnis nordischer Stämme zur Eiche.⁴²⁴ Teilweise besitzt Wittgenstein also schon zur Zeit seiner ersten dokumentierten Auseinandersetzung mit Frazer die begrifflichen Instrumente, die ihm später erlauben, den Hauptfehler der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode – die Dekontextualisierung einzelner Gebräuche – zu vermeiden. Teilweise aber muss er damals jene Instrumente noch entwickeln. Zwar stellt er bereits die Forderung, den jeweiligen Kalkül holistisch zu beschreiben; aber es geht eben nur um den ‚Kalkül‘ bzw. um das ‚System‘. Bei der ersten Niederschrift verfügt Wittgenstein noch nicht über den Sprachspielbegriff, und den Begriff (und sogar den Term) ‚Lebensform‘ wird er erst Jahre später einführen.⁴²⁵ Der ‚praktische Holismus’⁴²⁶ harrt noch der Ausarbeitung. Den Begriff der „Familienähnlichkeit“ hat Wittgenstein zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht, selbst wenn einiges das neue Konzept vorbereitet. Die von Frazer gesammelten ethnologischen Tatsachen bilden, wenn keine Familie, so doch einen „Chor“, und Wittgenstein sieht eine Analogie zum galtonschen composite portraiture, das die wiederkehrenden Züge hervorhebt, z. B. innerhalb der Familie Wittgenstein. Auch die „Z w i s c h e n g l i e d e r “, auf die der Morphologe den Blick lenkt, spielen im Begriff der Familienähnlichkeit eine entscheidende Rolle.⁴²⁷ Und vor allem die „Wandlungen der Bedeutung“ weisen auf den neuen Begriff voraus. Erst kurz nach der ersten Niederschrift seiner Bemerkungen über Frazer entdeckt Wittgenstein jedoch, dass die Begriffe der Alltagsprache nicht fest abgegrenzt sind: Sie sind ‚vage‘, ‚unscharf‘. (Der Philosoph warnt allerdings vor einem metaphysischen Gebrauch von ‚Vagheit‘ oder ‚Unschärfe‘.⁴²⁸) Die Analysen

 Siehe dazu oben S. 141 ff.  In MS 115: 239, ist Wittgenstein unentschlossen zwischen „Lebensform“ und „Form des Lebens“.  D. G. Stern (1995) unterscheidet zwischen logischem und praktischem Holismus. Siehe dazu oben S. 6, Anm. 10.  Vgl. MS 140: 32; PG: 75.  Vgl. MS 111: 88; TS 211: 52. Dazu sowie zur Entstehung des Begriffs der „Familienähnlichkeit“ siehe oben S. 197 ff.

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von Begriffen wie ‚Pflanze‘, ‚Blatt‘, ‚Stiel‘ sind eine weitere wesentliche Vorbereitung für den Begriff der „Familienähnlichkeit“. Kurz darauf führt Wittgenstein dieses Gleichnis ein, noch nicht in einem bedeutungstheoretischen, sondern in einem kulturgeschichtlichen Kontext: als „Vergleichsobjekt“ für die Beziehungen zwischen Kulturen und Kulturperioden. Dies geschieht in einer kritischen Stellungnahme zu Spengler. Die erneute Beschäftigung mit ihm ist für Wittgenstein auch aus einem anderen Grund von Bedeutung. Punktuelle Vergleiche zwischen dekontextualisierten Erscheinungen unterschiedlicher Kulturen schienen ihm im Juni-Juli 1931 weniger problematisch als Spengler. Aber gerade die Auseinandersetzung mit diesem Autor führt Wittgenstein bereits im August 1931 zu neuen Einsichten und insbesondere zur Idee, Kulturen miteinander holistisch zu vergleichen.

2.3.2 Spengler: Morphologie als Kunst des Vergleichens⁴²⁹ Goethe ist das gemeinsame Vorbild von Spenglers Morphologie der Weltgeschichte und von Wittgensteins übersichtlicher Darstellung. Spengler nimmt eine neuartige Kunst des Vergleichens für sich in Anspruch und sieht in ihr eine radikale Alternative zur kausalen Betrachtung der Dinge. Seine vergleichende Morphologie der Weltgeschichte steht schon deshalb in tiefem Gegensatz zu Frazers auf Tylor zurückgehender ‚vergleichender Methode‘, denn diese will kausale Erklärungen ethnologischer Phänomene liefern. Die Leiter der Kultur der evolutionären Anthropologen mit ihren „vermeintlichen Stufen“ ist für Spengler ein „Schema“, das „nach den Wertschätzungen einer einzelnen Religion entworfen“ (UdA 1922, Bd. 2: 337) ist.⁴³⁰ Vor dem Hintergrund dieses methodischen Gegensatzes wirkt es weniger überraschend, dass Wittgenstein sich in seiner Auseinandersetzung mit Frazer auf Spengler beruft und direkter noch auf dessen Gewährsmann Goethe. Er sieht seine und Spenglers Kritik der kausalen Betrachtungsweise offenbar als verwandt an. Dies hindert ihn aber nicht daran, die grundsätzlichen Unterschiede wahrzunehmen und an Spenglers Methode scharfe Kritik zu üben.

 Der vorliegende Abschnitt ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung von Brusotti 2000: 41 ff.  Zu Spenglers Kritik der ‚Völkerpsychologen‘ siehe oben S. 70 f., insbes. Anm. 26. Zur Bedeutung von Spenglers Methode der deskriptiven Morphologie für Wittgenstein vgl. Haller 1985: 176 ff.; Schulte 1990b, insbes. 32 ff.; Brusotti 2000. Zu Wittgenstein und Goethe siehe die oben S. 234, Anm. 369, genannte Literatur sowie unten S. 298 f.

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff

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Spengler erhebt den Anspruch, in Fortsetzung Goethes Analogie und Vergleich zu einer wahren Kunst ausgebildet zu haben: zu einer Technik und zu einer strengen Methode. Er betont „die tiefe Verwandtschaft“ (UdA 1923, Bd. 1: 64) zwischen den verschiedenen Erscheinungen derselben Kultur, denn sie sind „identische Ausdrücke eines und desselben seelischen Prinzips“ (UdA 1923, Bd. 1: 65). Spenglers Kulturen sind also „mächtige[] G r u p p e n m o r p h o l o g i s c h e r Ve r w a n d t s c h a f t e n , von denen jede einzelne eine besondere Art Mensch im Gesamtbilde der Weltgeschichte symbolisch darstellt“ (UdA 1923, Bd. 1: 65). Dagegen sind die „Grundzüge des Denkens, Lebens, Weltbewußtseins“ unterschiedlicher Kulturen untereinander so verschieden wie die „Gesichtszüge der einzelnen Menschen“ (UdA 1923, Bd. 1: 235).⁴³¹ Es geht aber nicht nur um intrakulturelle Beziehungen: Neben der morphologischen Verwandtschaft zwischen den Erscheinungen derselben Kultur (vgl. auch UdA 1923, Bd. 1: 8) gibt es auch „Homologie[n]“ (UdA 1923, Bd. 1: 151), „Gleichzeitigkeit[en]“ (UdA 1923, Bd. 1: 36) zwischen einander entsprechenden Entwicklungsstufen verschiedener Kulturen. Die Vergleichbarkeit der Kulturen beruht auf diesen Homologien und damit auf einer für alle Kulturen gleichermaßen geltenden inneren Notwendigkeit. Spenglers Kulturen entwickeln sich wie Organismen: Jede weltgeschichtliche Epoche muss etwas wie Kindheit, Jugend, Reife, Alter durchlaufen und schließlich untergehen (vgl. etwa UdA 1923, Bd. 1: 28 f.). „Vor allem müßte freilich genau gesagt werden“, hatte Neurath in seinem AntiSpengler eingewendet, „was man unter einem Organismus versteht, welche seiner Eigenschaften und mit welcher Begründung bei der Durchführung des Gleichnisses verwendet werden sollen. Das vermissen wir bei Frobenius, Spengler und vielen anderen […]“ (Neurath 1921: 15).⁴³² Schließlich wird auch Wittgenstein daran Anstoß nehmen, wie Spengler seinen Vergleich anstellt. Aber nicht von Anfang an: Er bemerkt 1929, dass der Vergleich zwischen Zeit- und Lebensaltern sich „sehr weit führen“ (MS 107: 37) ließe, und greift 1930 Spenglers Vergleich zwischen dem Werden der Kulturen und den Lebensstadien der Organismen fortschrittskritisch auf.⁴³³ Ein Jahr später, im August 1931, einige Wochen nach der ersten dokumentierten Auseinandersetzung mit Frazer, ist die Distanz jedoch nicht mehr zu übersehen. Wittgenstein erwähnt Spenglers Analogie nicht und formuliert folgenden Vorschlag: Spengler könnte sagen, dass er „verschiedene Kulturperioden“ mit dem „Leben von Familien“ vergleicht; „innerhalb der Familie gibt es eine

 Zum Gleichnis der Gesichtszüge siehe Anm. 438.  Zu Neuraths Anti-Spengler vgl. Brusotti 2011: 344 ff.  Vgl. MS 183: 19 f., und zur Geschichte der Musikinstrumente UdA 1923, Bd. 1: 85 f.

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Familienähnlichkeit, während es auch zwischen Mitgliedern verschiedener Familien eine Ähnlichkeit gibt; die Familienähnlichkeit unterscheidet sich von der andern Ähnlichkeit so und so etc.“ (MS 111: 119)⁴³⁴ Spengler könnte also die Ähnlichkeit von Erscheinungen innerhalb einer Kulturperiode mit einer „Familienähnlichkeit“ vergleichen, und die Ähnlichkeit von Erscheinungen verschiedener Kulturperioden mit der „Ähnlichkeit“ zwischen Angehörigen verschiedener Familien. (Wittgenstein berücksichtigt dabei die beiden von Spengler behaupteten morphologischen Beziehungen: die „morphologischen Verwandtschaften“ innerhalb einer Kultur und die „Homologien“ zwischen ‚gleichzeitigen‘ Phasen verschiedener Kulturen.) Er könnte dann analysieren, was beide Arten von Ähnlichkeit voneinander unterscheidet. Der Gedanke der „Familienähnlichkeit“ taucht gerade hier zum ersten Mal auf, und man hat wiederholt die Frage gestellt, inwieweit er auf Spengler zurückgeht.⁴³⁵ Der Ausdruck ‚Familienähnlichkeit‘ war allerdings verbreiteter, als man meinen könnte: So unterschiedliche Autoren wie Nietzsche und Marett verwenden ihn, v. a. aber Galton, dessen composite portraiture die family likeness zwischen den Abgebildeten (z. B. den Geschwistern Wittgenstein) eindrucksvoll vorführt.⁴³⁶ Zudem sieht Wittgenstein im Bild der Familienähnlichkeit eine Alternative zu Spenglers Kulturbetrachtung. Die Frage nach Spenglers Anteil (denn nur von einem Anteil darf die Rede sein) ist trotzdem nicht unberechtigt. Wittgenstein beruft sich auf Spengler, wenn er feststellt, dass selbst ein scheinbar eindeutiges Wort wie „Beweis“ in vielen mehr oder weniger verwandten Bedeutungen gebraucht wird.⁴³⁷ Auch bei Spengler

 In den Folgejahren wird Wittgenstein diese Aufzeichnung vom 19. 8.1931 öfter überarbeiten. Zu diesen Überarbeitungen vgl. Hilmy 1987: 67 ff., zur Spengler-Kritik vgl. insbes. S. 84 ff. Eine der späteren Fassungen ist aus den Vermischten Bemerkungen (VB: 469 f.) bekannt.  Hilmy weist darauf hin, dass Wittgenstein zunächst von „Wortgattungen“ und erst später von „Familien“ redet, und behauptet, m. E. etwas abenteuerlich, einen Einfluss von Spenglers Überlegungen über „Gattung“ (UdA 1923, Bd. 1: 28) auf diese Betrachtungen (vgl. Hilmy 1987: 261, Anm. 230, u. 300 f., Anm. 428). Von Wright zufolge „[e]ntspringt“ der Begriff der Familienähnlichkeit dem spenglerschen des Ursymbols (Wright 1990: 215). Diese Auffassung habe ich in einem früheren Beitrag zurückgewiesen (vgl. Brusotti 2000: 43 f.). Dort wird auch gezeigt, dass Wittgensteins „Urbild“, obwohl es an „Ursymbol“ anklingt, eine andere logische Funktion hat als das „Ursymbol“ bei Spengler. Es bestehen allerdings Analogien: „Die W a h l d e s U r s y m b o l s “ – schreibt Spengler über die Kulturen – „[…] entscheidet alles.“ (UdA 1923, Bd. 1: 236) So bei Wittgenstein die Wahl des ‚Urbilds‘ der Betrachtung, des Vergleichsobjekts.  Vgl. Marett 1920: 223. Zu Nietzsche vgl. Brusotti 2009, insbes. S. 356 ff. Zum Unterschied zwischen Galtons ‚family likeness‘ und Wittgensteins ‚Familienähnlichkeit‘ siehe ausführlich oben S. 235 ff.  Wittgenstein kritisiert die Idee, wir hätten „noch einen ganz scharfen umfassenden Begriff“ eines Beweises der Relevanz „oder überhaupt eines mathematischen Beweises. Während in

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff

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kommt der Ausdruck „Familienähnlichkeit“ vor;⁴³⁸ von seinem Gleichnis der morphologischen Verwandtschaft zu Wittgensteins Bild der Familie ist der Schritt nicht weit, und dies umso mehr, als Spengler von mächtigen Gruppen solcher Verwandtschaften redet. Im Grunde reformuliert Wittgenstein Spenglers Begriff „der m o r p h o l o g i s c h e n Ve r w a n d t s c h a f t , welche die Formensprache a l l e r Kulturgebiete innerlich verbindet“ (UdA 1923, Bd. 1: 8). Diese Verwandtschaft geht laut Spengler darauf zurück, dass jede Kultur ein eigentümliches, nur sie auszeichnendes „Ursymbol“ hat: die „faustische Seele“ der abendländischen Kultur etwa den reinen, grenzenlosen Raum (vgl. UdA 1923, Bd. 1: 237). Alle Erscheinungen einer Kultur verbindet demnach das ihnen, und nur ihnen, gemeinsame „Ursymbol“. Für Wittgenstein dagegen setzt die Verwandtschaft kein im Hintergrund liegendes Gemeinsames voraus: Was die Erscheinungen einer Kultur miteinander verbindet, ist ein Netz von „Familienähnlichkeiten“. Dementsprechend sind diese Erscheinungen nicht unbedingt abgrundtief anders als die Erscheinungen anderer Kulturen. Das „Urbild“ der „Familie“⁴³⁹ beinhaltet also eine Betrachtungsform, die sich von der essentialistischen Spenglers deutlich unterscheidet.

Wirklichkeit dieses Wort wieder in vielen, mehr oder weniger verwandten Bedeutungen angewandt wird. (Wie |etwa| die Wörter ‚Volk‘, ‚König‘, ‚Religion‘ etc. siehe Spengler.)“ (MS 113: 102v; vgl. TS 213: 542 f.) Wittgenstein muss wohl vor allem an Spenglers Versuch gedacht haben, den Begriff „Volk“ zu „zerstör“ (UdA 1922, Bd. 2: 132); Spengler betrachtet die von diesem „romantische[n] Begriff“ ausgehende Fragestellung als „dem westeuropäischen Geist in seiner heutigen Beschaffenheit eigentümlich“ (UdA 1922, Bd. 2: 132), d. i., als charakteristisch für die Kultur des Abendlandes in der Zeit der „Zivilisation“ und auf diese beschränkt (vgl. UdA 1922, Bd. 2: 132 ff.; vgl. auch 189 ff.).  Spengler führt aus, „daß die ‚Familienähnlichkeit‘ dieser Abschnitte [Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Barock und Rokoko; MB] viel größer ist, als sie den Angehörigen [der abendländischen Kultur; MB] erscheint“ (UdA 1923, Bd. 1: 263). Wir bemerken hier „naturgemäß vor allem das Wechselnde, das Auge anders gearteter Menschen [d. h. Menschen anderer Kulturen; MB] das Bleibende“ (UdA 1923, Bd. 1: 262; vgl. Kienzler 1997: 47). Spengler zufolge rücken auch sehr unterschiedliche antike Menschen im Vergleich etwa zu Goethe oder Raffael „sofort zu einer einzigen Familie“ zusammen (UdA 1923, Bd. 1: 148; vgl. Schulte 1990b: 34). Wittgenstein hat neben dem Gleichnis der Verwandtschaft weitere Gleichnisse mit Spengler gemeinsam, so das der Gesichtszüge. Aber während bei Wittgenstein, der Galtons composite portraiture im Blick hat, die gemeinsamen Gesichtszüge ein Gleichnis für die inter- und intrakulturellen Ähnlichkeiten sind, stehen die verschiedenen Gesichtszüge bei Spengler bildlich für die Verschiedenheit der Kulturen. „Die Grundzüge des Denkens, Lebens, Weltbewußtseins sind so verschieden wie die Gesichtszüge der einzelnen Menschen; auch in bezug darauf gibt es ‚Rassen‘ und ‚Völker‘ […]“ (UdA 1923, Bd. 1: 235).  Wittgenstein bezeichnet das „Leben von Familien“ nicht direkt als Urbild: aber das Urbild des Kalküls hat dieselbe Funktion wie das Vergleichsobjekt in Spenglers Betrachtung.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Die Auffassung, Kulturen seien Organismen mit vorherbestimmten Lebensphasen, bildet die allgemeine Form von Spenglers morphologischer Betrachtung. Diese Funktion weist Wittgenstein dem „Leben von Familien“ zu. Will er damit ein neues „Vergleichsobjekt“ vorschlagen? Oder meint er, dieses „Urbild“ läge bereits Spenglers Betrachtung zugrunde? Dem Wortlaut nach wird hier nur das von Spengler eigentlich Gemeinte verdeutlicht: das, was dieser nicht sagt, aber sagen sollte, um „besser verstanden“ zu werden. Meint Wittgenstein also, dass Spengler selbst Kulturen mit dem „Leben von Familien“ vergleicht und sich dies nicht eingesteht? Oder meint er eher, dass Spengler, der Kulturen mit Organismen gleichsetzt, sie stattdessen mit dem „Leben von Familien“ vergleichen sollte? Wittgensteins Selbstverständnis ist in diesem Punkt nicht ganz klar. Aber sein Vorschlag, die Verwandtschaften zwischen Kulturerscheinungen nach dem Familienmodell zu beschreiben (eher als nach dem der biologischen Morphologie), legt der Betrachtung doch ein neues „Urbild“ zugrunde. Er schlägt eigentlich ein neues „Vergleichsobjekt“ vor. Wittgensteins Kritik von Spenglers Kulturphilosophie ist zugleich eine Selbstkritik: Grundfehler, wie er sie Spengler vorwirft, macht er auch in der Logisch-philosophischen Abhandlung aus. Wittgenstein bringt zwei Einwände vor: Spengler habe das „Urbild“ seiner Kulturbetrachtung (1) nicht angegeben und (2) mit dem „Objekt“ vermengt. „[D]as Vergleichsobjekt, der Gegenstand von welchem diese Betrachtungsweise abgezogen ist, muß uns angegeben werden, damit nicht in die Discussion immer Ungerechtigkeiten einfließen.“ (MS 111: 119) Mit diesem ersten Einwand trifft Wittgenstein eigentlich eher seinen eigenen philosophischen Erstling als den Untergang: Der Autor der Abhandlung hätte sich wirklich „eingestehen“ müssen, „welches das eigentliche Urbild des Kalküls ist.“ (MS 111: 118)⁴⁴⁰ Aber Spengler? Dieser gibt durchaus an, womit er Kulturen ver-

 Unter dem „Urbild“, dem „Vergleichsobjekt“, dem „Gegenstand“, von dem die „Betrachtungsweise“ des Tractatus „abgezogen“ (MS 111: 119) ist, versteht Wittgenstein das Beispiel (bzw. die Beispiele), woraus die Form der Darstellung bzw. der Kalkül gewonnen wurde. In der Abhandlung handelte es sich leider nicht um „ein Beispiel“, „auf das /welches/ der Kalkül wirklich angewandt wird“, sondern nur um „Beispiele von denen wir sagen sie seien eigentlich nicht die idealen diese aber hätten wir noch nicht.“ (MS 111: 118; vgl. TS 211: 71.) Der Autor hätte sich nun eingestehen müssen, dass der Kalkül auf die einzig gegebenen Beispiele, die Sätze unserer Sprache, nicht anwendbar war; stattdessen, habe die Abhandlung auf noch unentdeckte, eigentliche Beispiele verwiesen, auf die der Kalkül restlos anwendbar sein sollte: auf Elementarsätze, ideale Namen und einfache Gegenstände (vgl. auch MS 115: 56 f.). Diese „geträumte Anwendung“ (MS 111: 118) des Kalküls war der eigentliche Fehler. Zu den Auffassungen der Abhandlung, die Wittgenstein hier kritisieren möchte, vgl. Hilmy 1987: 256 ff., Anm. 228; Brusotti 2000: 45 f., insbes. Anm. 73. Zu Wittgensteins neuem Verständnis des „Ideals“ auch im Rahmen seiner Spengler-Lektüre vgl. § 3 „Language Games: the Heuristic Role of the Ideal“ in Hilmy 1987:

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff

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gleicht: mit Organismen. Sein Fehler ist ein anderer, der zweite: Er hätte einfach sagen müssen: „ich v e r g l e i c h e “ (MS 111: 119). Statt sich den Vergleich als solchen einzugestehen, „vermischt“ er dagegen, so Wittgenstein, „Urbild und Object“ (MS 111: 119). Der Organismus ist für Spengler nicht einfach eine lose Analogie, ein mögliches Vergleichsobjekt. Er meint, Kulturen seien Organismen: Im Untergang des Abendlandes werden Kulturen nicht nur mit Organismen verglichen, sondern als Organismen bestimmt. Darin sieht Wittgenstein, der Urbild und Objekt streng auseinanderhalten will, den Weg in einen unverantwortlichen Dogmatismus: Jede Kultur muss Spengler zufolge „Stufen“ durchschreiten, „in einer Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt“ (UdA 1923, Bd. 1: 3). Eine solche unerbittliche, für alle Objekte der Betrachtung ausnahmslos geltende Ordnung gibt es für Wittgenstein nicht. Behauptungen wie „‘es m ü s s e i m m e r …’“ (MS 111: 119) sind streng zu vermeiden. „Man möchte |so| bei allen übertriebenen dogmatisierenden Behauptungen immer fragen: Was ist denn nun daran wirklich wahr. Oder auch: In welchem Fall stimmt denn das nun wirklich.“ (MS 111: 120)⁴⁴¹ Was verleitet Spengler dazu, Urbild und Objekt zu vermischen? Er will „den Merkmalen des Urbilds einen Halt in der Betrachtung“ geben: Diese scheint ihm nämlich der beabsichtigten „Allgemeinheit“ zu ermangeln, „wenn sie nur für den einen Fall wirklich stimmt“, d. h. nur für das Beispiel, das als Urbild dient. „Aber das Urbild“, wendet Wittgenstein dagegen ein, „soll ja eben als solches hingestellt werden; daß es die ganze Betrachtung charakterisiert, ihre Form bestimmt. Es steht also an der Spitze und ist dadurch allgemein giltig, daß es die Form der Betrachtung bestimmt, nicht dadurch, daß alles was nur von ihm gilt von allen

67 ff. Hilmy folgert aus Wittgensteins Umorientierung in der Auffassung des „Ideals“, dass der Philosoph schon Anfang der dreißiger Jahre einen entscheidenden Schritt in Richtung seiner späten Philosophie vollzogen hat (vgl. Hilmy 1987: 86). Zum Thema vgl. auch Coates 1996, § 5 „Samples, generalizations, and ideal types“: 99 ff.  Bewunderung und Misstrauen halten sich bei Wittgenstein die Waage. Drury erinnert sich: So sehr Wittgenstein Spenglers „äußerst interessante Vergleiche“ bewunderte, so sehr mißtraute er ihm wegen seiner Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit. „Wittgenstein advised me to read Spengler‘s The Decline of the West. It was a book, he said, that might teach me something about the age we were now living in. It might be an antidote for my ‘incurable romanticism’. After I had read the book I said to him, ‘Spengler wants to put history into moulds, and that you can’t do’. | WITTGENSTEIN: Yes, you are right; you can’t put history into moulds. But Spengler does point out certain very interesting comparisons. I donˈt trust Spengler about details. He is too often inaccurate. I once wrote that if Spengler had had the courage to write a very short book, it could have been a great one.“ (MDC: 113.) Drury – und mit ihm Wittgenstein – weist hier Spenglers Grundannahme zurück: Die ‚Schablone‘ ist die jeder Hochkultur gemeinsame allgemeine Form und Entwicklung. – Drury konnte diese Unterhaltung mit Wittgenstein nicht mehr genau datieren, vermutete aber das Jahr 1930.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Objecten der Betrachtung ausgesagt wird.“ (MS 111: 119 f.)⁴⁴² Das Urbild ist also als abstrakter Idealtypus aufzufassen; man darf die Wirklichkeit nicht mit ihm verwechseln, d. h., die tatsächlich immer bestehenden Abweichungen des Wirklichen von diesem Idealtypus nicht ausblenden. Wittgenstein zufolge hat Boltzmann, dessen Modelle mit nichts übereinstimmen müssen, diese richtige Stellung des „Urbilds“ in der Betrachtung besser verstanden als der Untergang und die Abhandlung. ⁴⁴³ Spenglers Metaphysik begeht nämlich denselben Fehler wie Wittgensteins Frühwerk und die Philosophien, die, anders als Wittgensteins neue ‚Relativitätstheorie der Sprache‘, die Autonomie der Grammatik nicht beachten. Daher der Dogmatismus, die Ungerechtigkeit, die Unverantwortlichkeit, die Wittgenstein an Spengler kritisiert. Eine spätere Fassung zieht Bilanz: „Was ist denn aber das Verhältnis einer Betrachtung wie der Spenglers und der meinen? Die Ungerechtigkeit bei Spengler: Das Ideal verliert nichts von seiner Würde, wenn es als Prinzip der Betrachtungsform hingestellt wird. Ein|e| guter Maßstab Maßeinheit. –“ (MS 157b: 16v)⁴⁴⁴ Man muss das „Ideal“ „als das, was es i s t , nämlich als Vergleichsobjekt – |sozusagen| als Maßstab – an die Spitze |in| unserer Betrachtung |hin|stellen |ansehen|, und nicht/statt/ als das Vorurteil, dem Alles konformieren m u ß / müsse/ “ (MS 157b: 15v, 16r).⁴⁴⁵ Dieses „Ideal“ ist ein „Prinzip der Betrachtungsform“, weil  Der „Präsident bei einer Sitzung“ kann „nicht etwa statt jedes der Mitglieder sprechen, er kann nicht auf allen Stühlen sitzen; sondern nur auf e i n e m , aber auf dem einen an der Spitze.“ (MS 111: 120)  „Was ich hier sage, ist eigentlich, was Boltzmann über die Stellung des Mechanischen Modells, etwa in der Theorie der Elektrizität, sagt.“ (MS 111: 120) In dieser Theorie wird ein Modell (z. B. ein Modell für die Maxwellschen Gleichungen) beschrieben, „und zwar ohne die Prätention, daß es mit irgend etwas übereinstimmt“ (WLP: 122). Waismann (WLP: 122, Anm. 6) verweist v. a. auf Boltzmanns Aufsatz „Über die Methoden der theoretischen Physik“ in Boltzmann 1905: 1– 10. – Zu Wittgensteins Vergleich zwischen sich und Boltzmann vgl. Rothhaupt 1996: 184. Zu Wittgenstein und Boltzmann vgl. auch Baker/Hacker 1980b: 533 ff., zu Wittgenstein, Boltzmann und Hertz Hacker 1986: 2 ff.; Soulez 1997.  Die Lesart „Eine gute Meßbarkeit“ in VB: 487, ist falsch.  Diese Aufzeichnung ist erst 1937 entstanden (vgl. dann PU, § 131). Ein „Vorurteil, dem die Wirklichkeit entsprechen müsse“, sieht Wittgenstein nicht nur in der „Betrachtungsweise Spenglers“ (MS 142: 111; TS 220: 85). Ein weiteres Beispiel ist die absonderliche Idee Schopenhauers, dass der Mensch ‚eigentlich‘ 100 Jahre lebt. Schopenhauer fragt nicht nach dem wirklichen Sachverhalt, der ihm „jetzt beinahe als etwas Oberflächliches“ erscheint; er will vielmehr „etwas tiefer Liegendes“ (MS 142: 87) verstanden haben, „das S y s t e m“ (MS 157b: 10r). „‚S o muß es sein!‘ […]// ‚Natürlich! So muß es sein.’//“ (MS 142: 87; VB: 486) „Wir sind auf eine Form der Darstellung gekommen, d i e u n s e i n l e u c h t e t . Aber es ist, als haben wir nun etwas gesehen, was u n t e r der Oberfläche liegt.“ (MS 142: 87) Auch hier wird die einleuchtende Form der Darstellung mit einer metaphysischen Tatsache verwechselt, das Vergleichsobjekt mit dem Objekt. Eine ähnliche Verwendung von „müssen“ – und die damit einhergehende Vorstellung

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff

271

alles mit ihm verglichen, quasi an ihm gemessen wird: „Es ist wahr: eine Masseinheit ist gut gewählt, wenn sie viele |der| Längen, die wir mit ihr messen wollen, in ganzen Zahlen ausdrückt. Aber der Dogmatismus behauptet, jede Länge m ü s s e ein ganzes Vielfaches unserer Maßeinheit sein.“ (TS 220: 85)⁴⁴⁶ Nicht jedes Urbild ist eine brauchbare Approximation für eine genügend große Zahl von Fällen. Der Anspruch, ein gutes Urbild gefunden zu haben, wird aber sofort dogmatisch, wenn es nicht nur als Annäherung an viele Fälle betrachtet, sondern als das Wesen aller hingestellt wird. In Wittgensteins Bild: Der Maßstab kann mehr oder weniger gut gewählt sein – und eine Maßeinheit geeigneter als eine andere; allerdings darf die leichte Anwendbarkeit nicht als Korrespondenz oder Isomorphie zwischen Maßstab und Wirklichkeit missverstanden werden. Auch der geeignete Maßstab spiegelt die Struktur der Wirklichkeit nicht wider. Die Grammatik ist in diesem Sinn autonom, willkürlich, selbst wenn der Maßstab im pragmatischen Sinn alles andere als beliebig gewählt wird. Den „Typus“ – das „geheime und unbezwingliche Vorbild, in welchem sich alles Leben bewegen muß“ – nennt Goethe „ein Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind“ (Goethe an Johannes Müller, Weimar, den 24. November 1829, in WAG IV, Bd. 46: Briefe 1829: 169). Man könnte sagen, bei Spengler und Wittgenstein gehe es im Grunde um zwei alternative Goethe-Interpretationen. Spengler sieht in Goethes Deutung der Kunst als Organismus „die ganze Morphologie der Kunstgeschichte“ (UdA 1923, Bd. 1: 266). Wittgenstein will eine Morphologie, die Urbild und Objekt nicht miteinander vermengt. Er moniert bei Spengler denselben Fehler, den Schiller bei Goethes Urpflanze bemerkt: Eine Idee wird mit einem wirklichen Wesen verwechselt. Der späte Goethe sieht dann selbst ein, dass die Urpflanze nur ein Schema, ein Vergleichsobjekt ist; er durchschaut zuletzt die Verwechslung. Dies unterscheidet seine Morphologie von Spenglers Methode. In seiner ersten Lektüre des Golden Bough hatte Wittgenstein, schon damals im Anschluss an Spengler und an Goethe, eine Art morphologischer Methode eingeführt: eine neue Variante der übersichtlichen Darstellung. Er selbst lief damals jedoch Gefahr, Objekt (magische Handlungen) und Vergleichsobjekt (Ausdruckshandlungen) gleichzusetzen, anstatt es einfach bei einem Vergleich zu belassen. In nochmaliger kritischer Auseinandersetzung mit Spengler klärt Wittgenstein erst im August 1931 Natur und Funktion des Vergleichsobjekts.

einer ausnahmslosen Notwendigkeit – wie bei Spengler und Schopenhauer kritisiert Wittgenstein bei Frazer und Renan. Siehe dazu oben S. 50 ff.  Auf Spengler bezieht sich die Fassung in MS 115: 57. Vgl. MS 142: 112.

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2 Wittgensteins erste Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Die Wahl des Letzteren ist demnach – bei Spengler wie in der Abhandlung – die Grundentscheidung, die alles bestimmt. Jahre später gibt Wittgenstein ein weiteres aufschlussreiches Beispiel: Die katholische Kirche legt „|gewisse bildhafte| Sätze“ als Dogmen fest, „so zwar, daß man damit nicht Meinungen bestimmt, aber den A u s d r u c k der/aller/ Meinungen völlig beherrscht“ (MS 118: 86v; vgl. VB: 489); als beherrschende „Form des Ausdrucks“ (MS 118: 86v) „wird das Dogma unwiderlegbar und dem Angriff entzogen“ (MS 118: 87r). Der bildhafte Satz hat zwar „die Form des Ausdrucks einer Behauptung“, man kann aber „jede praktische Meinung mit ihm in Einklang bringen“ (MS 118: 86v). Wie bei philosophischen Problemen erweist sich auch hier die scheinbare These gleichsam als eine grammatische Regel. Das „Dogma“ ist keine Aussage, es sieht nur so aus, gehört indes zur Grammatik: Als Urbild bestimmt es die ‚Weltanschauung‘, die Art, wie man die Dinge sieht, die Form der Darstellung. Die Bemerkung lässt sich übrigens auf Wittgenstein selbst anwenden. Sie beschreibt dann, wie religiöse Lektüren auf ihn wirken: Er stellt keine religiösen Thesen auf, aber der Religion entnommene Ausdrucks- und Darstellungsformen (Bilder, Gleichnisse) beherrschen sein ethisches Denken und Verhalten.⁴⁴⁷ Wittgenstein macht in der Hauptsache nur einen Vorschlag, wie der Autor des Untergangs „besser verstanden“ werden könnte. Er will dessen Methode keineswegs in toto verwerfen, sondern nur einige Grundirrtümer beseitigen, die sie in seinen Augen mit der Philosophie der Abhandlung teilt. Wittgenstein ist offenbar der Meinung, die morphologische Methode gewähre,wenn sie im dargelegten Sinn abgeändert werde, eine klare Übersicht über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kulturperioden bzw. -erscheinungen. Evolutionisten wie Frazer gehen davon aus, dass der menschliche Geist überall dieselben allgemeinen Entwicklungsstufen durchläuft, und reihen aus ihrem jeweiligen kulturellen Zusammenhang herausgerissene (scheinbar) parallele Gebräuche aus allen Erdteilen aneinander. Spengler dagegen fasst Kulturen holistisch auf: Er will diese miteinander vergleichen und nicht nur einzelne parallele Gebräuche. Ihm kommt es eher darauf an, zu zeigen, dass scheinbare Parallelen aus den verschiedenen Kulturen sich einem physiognomischen Blick als toto coelo unterschiedlich, als nicht kommensurabel erweisen; im Gegenzug entdeckt er Korrespondenzen in scheinbar beziehungslosen Einzelerscheinungen. Er will also nicht auf das Vergleichen verzichten, sondern strebt nach einer neuen Kunst des Vergleichens.

 „I am not a religious man but I cannot help seeing every problem from a religious point of view“ (MDN: 79). Zu dieser mündlichen Äußerung vgl. Malcolm 1995; Klagge 2011, insbes. S. 138.

2.3 „Familienähnlichkeit“ als kulturphilosophischer Begriff

273

Auch Wittgenstein konzentriert sich in seiner Auseinandersetzung mit ihm primär auf Kulturen im Ganzen und auf die Einbettung der einzelnen Erscheinungen in den jeweiligen kulturellen Zusammenhang, und zwar bereits vor seiner Auseinandersetzung mit Frazer im Juni-Juli 1931. Darauf läuft dann auch sein ‚Verbesserungsvorschlag‘ im August 1931 hinaus: Die morphologische Methode darf nicht nach etwas suchen, was allen gegebenen Erscheinungen gemeinsam ist; dann ermöglicht sie es, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kulturperioden bzw. -erscheinungen übersichtlich darzustellen. Das „Leben von Familien“ wäre die Form dieser Übersicht. Form (’Familie’) und Status (’Vergleichsobjekt’) entsprechen hier demselben Anliegen, ungerechte Verallgemeinerungen zu vermeiden. Das „Urbild“ selbst ist nämlich nicht allgemeingültig: Als ein Vergleichsobjekt darf es mit der Wirklichkeit nicht verwechselt werden. Das Gleichnis der Familie bietet das Schema für die Beschreibung einer Kultur in ihren internen Zusammenhängen, aber auch für den Vergleich zwischen den holistisch verstandenen Kulturen. In diesem Rahmen können dann auch Erscheinungen verschiedener Kulturen miteinander verglichen werden. Man darf nicht übersehen, wo Wittgensteins Prioritäten liegen. Seine Argumente gegen Spenglers Kulturbetrachtung sind zugleich gegen die Logisch-philosophische Abhandlung gerichtet. Die Auseinandersetzung mit Spengler hilft ihm dabei, sich über die eigenen Fehler klar zu werden. Die Selbstkritik aber ist eindeutig das Hauptanliegen: Die Stellungnahme zu Spengler, die schon in MS 111 in Klammern steht, gerät in den späteren Bearbeitungsphasen zunehmend an den Rand, bis sie schließlich ganz wegfällt.⁴⁴⁸ Trotzdem bleibt Wittgensteins erneute Auseinandersetzung mit Spengler im August 1931 für seine spätere Frazer-Lektüre nicht folgenlos.

 In der Vorkriegsfassung der ersten Hälfte der Philosophischen Untersuchungen bleibt lediglich eine Andeutung: „Ich denke an die Betrachtungsweise Spenglers.“ (TS 220: 85) In der letzten Fassung (TS 237: 92b) fehlt auch dieser Hinweis.

3 Wittgensteins „propaganda for a descriptive method, instead of an explanatory.“ Die Vorlesung im May Term 1933 3.1 Moores Mitschrift Nach 1931 wird die Familienähnlichkeit zum Leitbegriff von Wittgensteins FrazerKritik. Mit der Durchsetzung dieses neuen bedeutungstheoretischen Konzepts erhalten auch in der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough bedeutungstheoretische Fragestellungen unbestreitbare Priorität vor der Frage nach der Möglichkeit kausaler Erklärungen. Den entscheidenden Schritt vollzieht Wittgenstein spätestens in der Vorlesung vom May Term 1933, selbst wenn er hier das Gleichnis der Familienähnlichkeit nicht verwendet. Der Inhalt ist nur durch indirekte Quellen überliefert, und die bei weitem bedeutendste, Moores Mitschrift, ist noch unveröffentlicht. Sie ist wesentlich ausführlicher als der späte Bericht in Mind, den Moore auf deren Grundlage abfasste,¹ und als Ambroses Notizen.² Die Mitschrift in Moores Notizheften 10/7/8

 Moores Bericht Wittgensteinˈs Lectures erschien in Mind 1954– 1955, also mehr als zwanzig Jahre nach Wittgensteins Vorlesung vom May Term 1933. Der über 80 Jahre alte Moore griff dabei auf Mitschriften zurück, die er als Hörer der Vorlesungen in sechs Notizheften aufgezeichnet hatte. (In den Mind-Artikeln setzte er die Zitate aus diesen Mitschriften in Anführungszeichen.) Diese viel eingehenderen und Wittgenstein treueren Lecture notes sind in Moores Nachlass in der Cambridge University Library aufbewahrt (Sammlung: Add. MS 8875, Sektion 10/7/4– 9). Als Vorarbeit zu den Artikeln fertigte Moore Zusammenfassungen seiner Mitschriften (10/7/10) an. Sie sind ebenfalls in der CLU aufbewahrt und in Canns Katalog als „Summaries of Wittgensteinˈs lectures, c.1953?“ angeführt (vgl. Cann 1995; vgl. dazu Rothhaupt 1995a). Von den Artikeln ist zudem eine ebenfalls unveröffentlichte wesentlich längere Fassung mit vielen gestrichenen Stellen überliefert (10/7/11). – Die angekündigte Ausgabe sämtlicher Mitschriften Moores (Hg.: G. Citron/D. Stern/B. Rogers) ist ein dringendes Desiderat der Wittgenstein-Forschung. Moores Mitschriften u. a. der Vorlesung vom May Term 1933 habe ich im Sommer 2013 während eines Aufenthalts im Manuscripts Reading Room der Cambridge University Library eingesehen, digitalisiert und entziffert. Im Februar 2014 wurde den Autoren eines von Lars Albinus und Josef Rothhaupt herausgegebenen Sammelbandes zu Wittgenstein und Frazer (erscheint voraussichtlich 2015) und auch mir die unveröffentlichte Entzifferung der zwei Vorlesungen vom 5. und vom 9. Mai 1933 (= 10/7/9: 1– 12) freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Diese wichtige Vorarbeit zur künftigen Ausgabe erlaubte mir im letzten Augenblick, hier und dort meine Wiedergabe der entsprechenden Stellen zu verbessern. Es bleiben jedoch Abweichungen, für eventuelle Fehlentzifferungen trage ich daher die alleinige Verantwortung. In meiner Wiedergabe von Stellen aus den anderen einschlägigen Vorlesungen und aus Moores späterer Zusammenfassung (10/7/10) kann ich Fehler erst recht nicht ausschließen (eine diplomatische Transkription wurde

3.1 Moores Mitschrift

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und 10/7/9, die im Folgenden ausgewertet wird, erweitert unsere Kenntnis von Wittgensteins Vorlesung erheblich. Es erübrigt sich eigentlich zu sagen, dass diese Textbasis wie alles, was nicht eigenhändig ist, mit Vorsicht zu genießen und soweit möglich mit autographem Material zu vergleichen ist. Zeugnisse aus zweiter Hand sind immer problematisch, erst recht gerade bei einem so schwer zu deutenden Autor wie Wittgenstein. Indirekte Quellen können nicht beanspruchen, seine Argumente getreu wiederzugeben. In Mind gibt Moore selbst freimütig zu, vieles nicht verstanden zu haben. Bei allen Zweifeln und Vorbehalten aber muss man sich auf eine tentative Lektüre einlassen, und zwar aus mehreren Gründen:Wittgensteins philosophische Ansichten waren damals in sehr rascher Wandlung begriffen, und im Vergleich zum Manuskript MS 110 entspricht diese nur indirekt dokumentierte Auseinandersetzung mit dem Golden Bough einer reiferen Phase seines Denkens.³ Die weiteren wesentlichen Schritte, die er in der Zwischenzeit in Richtung seiner späten Philosophie gegangen war, fanden ihren Niederschlag auch in der Auseinandersetzung mit Frazer. Wenn man die verschiedenen Phasen nicht auseinanderhält, gibt man beide Positionen, die der Vorlesung und die frühere in Manuskript MS 110 (und in der Maschinenschrift TS 211), nicht korrekt wieder. Damit hängt ein weiterer Grund zusammen, die Vorlesung einzubeziehen: ihre wirkungsgeschichtliche Relevanz. Moores und Ambroses Zeugnisse über die hier

hier jedenfalls nicht angestrebt). – Zu Moores Mitschriften von Wittgensteins Vorlesungen vgl. Stern 2013; Stern/Citron/Rogers 2013.  Für die Publikation redigierte Ambrose ihre Notizen – Jahrzehnte nach Wittgensteins Vorlesung – sehr stark: Sie nahm dabei auch Umstellungen vor (vgl. AWL: xi-xiii). Aus diesen Gründen geben die Notizen, die Moore in Echtzeit aufzeichnete, den Ablauf der Vorlesung am zuverlässigsten wieder. Außerdem geht Ambroses ganzer Abschnitt zu Frazer auf nur zwei Vorlesungen Wittgensteins zurück, auf diejenigen vom 5. und 9. Mai 1933.  Wittgenstein hielt die Vorlesung vom May Term 1933 erst einige Zeit nach dem Diktieren von Typoskript 211, das bereits in den Sommerferien 1932 abgeschlossen wurde (vgl. Nedos Einleitung in Wi11: VII). Am 26. April 1933, also kurz nach Anfang des Term, schreibt er aus Cambridge an W. H. Watson, dessen Brief habe ihn in Wien erreicht, „where I [Wittgenstein; MB] was busy dictating about 800 pages of my bl. Philosophy“ (WC: 208, Nr. 156). Der Herausgeber, B. McGuinness, nimmt an, es handle sich um die Große Maschinenschrift (TS 213). Laut M. Nedo indes hatte Wittgenstein im März 1933 mit der Arbeit an TS 213 erst begonnen; er schloss sie im späten Herbst, vor dem 14. Dezember, ab (vgl. Wi11: VII-X und siehe unten S. 404, Anm. 28). Auf jeden Fall meint Wittgenstein in dem genannten Brief nicht TS 211. Dass die Vorlesung erst nach der Fertigstellung von TS 211 gehalten wurde, ist allerdings auch nicht so wichtig. Die neuen bedeutungstheoretischen Einsichten, die Wittgensteins Vorlesung prägen, spielen in der nahezu textidentischen Maschinenabschrift der Frazer-Notate ebenso wenig eine Rolle wie in der ersten Fassung in MS 110. Siehe dazu S. 4, Anm. 6, S. 402 f.

276

3 Die Vorlesung im May Term 1933

vorgetragene Frazer-Kritik haben die Lektüre der autographen Bemerkungen beeinflusst und in bestimmte Bahnen gelenkt. „His [Wittgensteinˈs; MB] discussion of Aesthetics […] was“ – so Moore zwanzig Jahre später in Mind – „mingled in a curious way with criticism of assumptions which he said were constantly made by Frazer in the ‚Golden Bough‘, and also with criticism of Freud.“ (MWL: 103)⁴ Der Zusammenhang leuchtet Moore offenbar nicht ganz ein. Er verbirgt seine skeptische Distanz zu dieser ‚kuriosen Mischung‘ nicht, und sein Bericht ‚entmischt‘ sie: Wittgensteins Ausführungen zu Frazer werden in einem getrennten Absatz zusammengestellt, in dem Moore drei Einwände gegen Frazer auflistet. Ambrose gibt, ebenfalls in einem einzelnen Abschnitt ihrer Notizen, nur die ersten zwei wieder. Anhand von Moores früher Mitschrift wird im Folgenden zuerst der Zusammenhang der Vorlesung knapp skizziert; daraufhin ist auf die wiederholten Einschübe zu Frazer ausführlicher einzugehen.

3.2 „A Rainbow of Meanings“. Ästhetische Untersuchungen Moore erinnert sich, die Vorlesung vom May Term 1933 sei unter den Veranstaltungen, denen er beigewohnt habe, die einzige, die auf die genannten Themen eingegangen sei.⁵ Wittgenstein widmete sich hauptsächlich bedeutungstheoretischen Fragen. Spezifisch ist eben, dass er sie hier v. a. an Worten wie ‚schön‘, ‚gut‘ und auch ‚Gott‘ behandelte.⁶ „My lectures go on as usual, badly arranged and unintelligible to most of my pupils and there are very few pupils this term. Thereˈs nobody you know amongst them except Moore.“⁷ Dieser hatte offenbar die erste Veranstaltung verpasst und

 Zu Moores kritischen Absichten vgl. Floyd 2000: 258, Anm. 54.  Vgl. MWL: 50. Eigentlich heißt es in Mind weniger präzise, Wittgenstein habe diese Themen nur in der dritten der drei Gruppen behandelt, in die Moore seine Notizhefte unterteilt hat, also in den Vorlesungen vom May Term 1932 bis zum May Term 1933 (Bde. 10/7/6 – 9). Im weiteren Verlauf aber erinnert sich Moore: „He concluded (III) by a long discussion […]“ (MWL: 103), und dieser Abschluss der dritten Gruppe entspricht eben den zwei Notizheften, in denen Moore die Vorlesung vom May Term 1933 mitgeschrieben hat: 10/7/8 (ab S. 58) und 10/7/9. Er hat sie jeweils als IIIc und IIId markiert.  Diese in den frühen dreißiger Jahren eigentümliche Entscheidung ist bei Wittgenstein nicht absolut singulär: Ähnlich verfährt auch die wesentlich spätere Vorlesung über ‚Glauben‘ (LA), die manche thematische Überschneidungen mit der Vorlesung vom May Term 1933 aufweist.  Brief an W. H. Watson, 26.4.1933, in WC: 208, Nr. 156.

3.2 „A Rainbow of Meanings“. Ästhetische Untersuchungen

277

schrieb erst am 24. April mit.⁸ Wittgenstein fragte zuerst nach dem Zusammenhang zwischen Bedeutung und Verifikation: „Meaning of prop. is |way of| verification? | Or You can d e t e r m i n e meaning by asking how verified?“ (10/7/8: 58) Weder ist die ‚Bedeutung der Bedeutung‘ die „central question of philosophy“ (10/7/8: 71), noch ist ‚Bedeutung‘ ein ‚metalogischer‘ Begriff; im Gegenteil „Ideas of ‚meaning‘ and ‚sense‘ are in a way obsolete“ (10/7/8: 67). Wittgenstein will kein ‚Verifikationsprinzip‘ einführen, und schon gar kein empiristisches,⁹ sondern eine „mere rule of thumb“: „This is necess. mere rule of thumb, bec. ‚verification‘ means different things, and bec. in s o m e cases question makes no sense – e. g. in ‚I have tooth-ache‘.“ (10/7/8: 58) „Ve r i f i c a t i o n determines meaning, only w h e r e verification gives the grammar;“ und es gibt eben Fälle, in denen „it gives very little of grammar.“ (10/7/8: 68) Wittgenstein will sich von einer „way of looking at things“ absetzen, „which treats such questions as irrelevant.“ (10/7/8: 58) Er formuliert diese Fragen aber auch ohne Verifikationsbegriff: „‚What do you do with this prop.?‘ Or ‚How do you apply this prop.?‘“ (10/7/8: 58) Die ‚Daumenregel‘, mit der Aufschluss über die Bedeutung zu haben sei, ist hier einfach die bekannte Empfehlung, nach dem ‚Gebrauch‘ zu fragen. In diesem bedeutungstheoretischen Kontext führt Wittgenstein am 1. Mai die „grammar of ethical expressions, or e. g. of ‚God‘“ (10/7/8: 74) als Unterthema ein. Letzten Endes jedoch wird die Vorlesung, wie Moore in Mind bemerkt, ‚beautiful‘ viel eingehender behandeln als ‚good‘. An diesen Ausdrücken sollen die angedeuteten bedeutungstheoretischen Untersuchungen durchgeführt werden. Adjektive wie ‚gut‘ oder ‚schön‘ stehen nicht für ein Gemeinsames: „We can’t find out meaning of ‚good‘, by looking for what a l l cases have in common: even if there i s something in common, we m a y never use ‚good‘ for that.“ (10/7/9: 3). Weder zielt

 In Moores Notizheft 10/7/8 folgt der Mitschrift der Vorlesung vom 13. März 1933 (S. 48 – 57), der letzten Vorlesung des Lent Term, unmittelbar die Mitschrift der Vorlesung vom 24. April 1933 (S. 58 ff.). Gegenüber dieser ersten Seite (S. 58) hat Moore notiert: „missed one Ap. 21 (T’s party)“ (S. 57v).  Auch für einen Satz wie ‚dieser ist ein Apostel‘ – das hatte Wittgenstein bereits kurz vor der ersten dokumentierten Auseinandersetzung mit Frazer festgehalten – gilt, dass dessen Sinn „die Art seiner Verification“ (MS 183: 74; 6. Mai 1931) ist; und als ‚Verifikation‘ ist hier keine im strikten Sinn empirische Angabe beobachtbarer Tatsachen gemeint. Es geht nämlich um den Eindruck, den die Beschreibung eines Apostellebens auf die Leser macht; und ob diese beeindruckt sind und wie, muss man ihnen überlassen. Im Gleichnis der späteren Vorlesung: Sie sind wie der Richter im Gerichtshof, den die vorgebrachten Gründe ansprechen können – oder auch nicht. – Zu einer mündlichen Stellungnahme Wittgensteins gegen die Idee eines Verifikationsprinzips vgl. Theodore Redpaths Protokoll der Diskussion im Moral Science Club am 1. Dezember 1938 (WC: 289, Nr. 238).

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

die Untersuchung auf das ‚Wesen‘ etwa des ‚Schönen‘, noch will sie Letzteres auf etwas Anderes zurückführen (wie die von Wittgenstein kritisierte Auffassung, das Schöne sei eigentlich das Angenehme) und es damit kausal (psychologisch) erklären. Die Aufgabe und Methode der Philosophie ist demnach eine rein deskriptive. Und um die Grammatik ethischer und ästhetischer Ausdrücke zu beschreiben, fokussiert Wittgenstein auf die Diskussionen und Kontroversen, in denen sie wirklich verwendet werden. Unter ‚ästhetischen (bzw. ethischen) Fragen‘ versteht er nämlich Einzelfragen, wie sie sich in Auseinandersetzungen unter Künstlern und Schriftstellern bzw. unter Rezipienten stellen. Wittgensteins Untersuchung über Ethik und Ästhetik ist schließlich nichts Anderes als eine Anwendung der ‚Daumenregel‘: Wie werden ästhetische und ethische Urteile bzw. Sätze gerechtfertigt oder in Frage gestellt? Die Evaluierung ist hier keine empiristische ‚Verifikation‘: Daraus folgt jedoch nicht, dass die Sätze sinnlos sind, sondern, dass sie einen eigentümlichen Sinn haben. „Each way in which A can convince B that x is g o o d , fixes the a meaning in which ‚good‘ is used – fixes the grammar of the discussion.“ (10/7/9: 4) „If you want to know how ‚beautiful‘ is used, ask what sort of discussion you could have as to whether a thing is so.“ (10/7/9: 12) Die philosophische Metareflexion missversteht diese Diskussionen: „[A]n actual aesthetic controversy or enquiry“ ist „not what philosophers think it is like; but how e. g. musicians use ‚beautiful‘, if they use it at all, in a discussion“ (10/7/9, S.19). Es stellt sich nämlich heraus, dass in wirklichen ästhetischen Auseinandersetzungen dieses Wort eigentlich eine untergeordnete Rolle spielt: „In aesthetic controversy ‚beautiful‘ and ‚more or less beautiful‘ are hardly ever used; whereas words like ‚correct‘, ‚right‘ are: e. g. that doesnˈt look quite right yet.“ (10/7/9: 19). Dementsprechend geht es zwar auch um den mannigfaltigen Gebrauch von ‚schön‘, aber es kommt nicht auf jede Verwendung an, nicht einmal auf jede ‚ästhetische‘; denn der von Wittgenstein gemäß seiner ‚Daumenregel‘ privilegierte Kontext sind ästhetische Kontroversen, in denen ‚schön‘ eine höchstens marginale Funktion hat, und ausschlaggebend ist die Verschiedenheit der Dispute. „In different cases e. g. beauty of a face, of a flower, xx you are playing quite different games; and this is shown by the way in which you can d i s c u s s whether the face is beautiful or not.“ (10/7/9: 12) Die „hundred different games“ (10/7/9: 13) mit ‚schön‘ mögen heterogen sein, aber zwischen ihnen bestehen vielfältige Beziehungen und graduelle Übergänge: „If we wanted to lay down rules for ‚good‘ or ‚beautiful‘ or ‚game‘, we should in different cases have to compare different games with t h a t particular use. And if we ask w h y the same word is used in all these ways, the answer would n o t be that thereˈs anything in common, but that thereˈs a gradual transition. The thing you say in the end may not be what you meant in the

3.2 „A Rainbow of Meanings“. Ästhetische Untersuchungen

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beginning, though it has a connection through gradual transitions.“ (10/7/9: 2 f.; vgl. 10/7/9: 4 und siehe dazu unten S. 284.) Wittgenstein hat eine klare Vorstellung von dem ‚Profil‘ einer ästhetischen Frage. Die sehr heterogenen ‚Spiele‘, die starke Unterschiede aufweisen können, bilden doch etwas wie eine ‚Familie‘. Dabei denkt Wittgenstein nicht nur an Ästhetik in engerem Sinn. Er betont die Verwandtschaft zwischen Ethik und Ästhetik: „Practically everything I say of ‚beautiful‘“ – soll er erklärt haben – „applies in a slight different way to „good“ (10/7/9: 18, 15. Mai 1933).¹⁰ Auch philosophische Untersuchungen zählt er zur selben ‚Familie‘; „Are same s o r t of reasons given elsewhere except in Ethics? Yes; in philosophy.“ (10/7/9: 32; vgl. MWL: 106) „Die seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung (vielleicht besonders in der Mathematik) mit einer ästhetischen. (Z. B., was an diesem Kleid schlecht ist, wie es gehörte, etc.)“ (MS 116: 56; vgl. MS 119: 88v; VB: 485; 1936) Moores Mitschrift begründet diese „seltsame Ähnlichkeit“ so: „In Math., Ethics, Aesthet., Philos., answer to a puzzle is to make a synopsis possible.“ (10/7/ 9: 39) „Aesthetic reasons are given in the form: getting nearer to an ideal or further from it. Whereas Psych. xx gives causes why people have an ideal.“ (10/7/9: 36) Ist der Gegenstand ästhetischer Diskussionen kein psychologischer? Teilen wir nicht unseren Geschmack, unsere Gefühle mit? Sagen wir nicht, wie wir etwas empfinden, was uns gefällt und missfällt, was uns beeindruckt oder aber kalt lässt, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, womit wir unglücklich sind? Erklären wir nicht, warum es so ist? Teilen wir dabei nicht mit, was eventuell geändert werden müsste, um uns doch zufrieden zu stellen? Was unterscheidet diese Fragen und Sätze von psychologischen? Lassen sie sich nicht strenger fassen und stringenter nachweisen, wenn wir sie empirisch, wissenschaftlich formulieren bzw. begründen? Wittgenstein verneint es: In einer Kontroverse, ob etwas schön sei, redet man nur scheinbar über die eigenen Gefühle¹¹ – und umso weniger über deren Ursachen. Psychologie und Ästhetik sind strikt voneinander zu trennen. Wittgenstein unterscheidet Geschmacksfragen (questions of taste) und ästhetische Fragen: Geschmacksfragen wie „Do you like it?“ sind empirische, ‚psychologische‘ Fragen nach den „likes and dislikes“ (AWL: 38) einer Person und nach deren Ursachen. „The question of Aesthetics is not: Do you like it? But, if you do, w h y do you?“ (10/ 7/9: 27; 19.5. 1933; vgl. MWL: 105.) Ein „aesthetic puzzle“ (AWL: 38) bzw. „aesthetic puzzlement“ (10/7/9: 23) wie „Why do you like it?“ stellt sich „inside the range of

 Vgl. MWL: 103. Vgl. auch AWL: 36.  „[…] theyˈre not talking about their feelings.“ (10/7/9: 12)

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likes and dislikes“ (AWL: 38), nimmt diese gleichsam hin. Ästhetische Fragen wie „Why do you like it?“ (AWL: 38), „Why is this beautiful?“ und die in der Auseinandersetzung mit Frazer zentrale „Why does this impress us?“ (MWL: 107) verlangen nicht nach „psychologischen Gründen“; denn „p s y c h o l o g i c a l reasons“ (AWL: 39) sind eigentlich Ursachen, und hier wird nicht eine „causal explanation“ (10/7/9: 23; vgl. MWL: 105) gefordert, sondern „further descriptions“ (10/7/9: 31; vgl. MWL: 106).Was Frazer eigentlich leistet, ist ebenfalls nicht eine Art von Kausalerklärung („kind of causal explanation“), sondern „simply describing lots of things more or less like Beltane“ (10/7/9: 33). Die Gründe, nach denen ästhetische Fragen – auch Frazers puzzle – verlangen, sind synoptische Beschreibungen und ‚Rechtfertigungen‘ (vgl. 10/7/9: 30). Psychologische Gründe sind Ursachen, diese ästhetischen Gründe nicht. „The reasons one gives for feeling satisfied have nothing to do with psychology. These, the aesthetic reasons are given by placing things side by side, as in a court of law.“ (AWL: 39) Wir ‚klären die Umstände‘, indem wir durch Gleichnisse, Paraphrasen, Zeichenerklärungen „things side by side“ (AWL: 39) setzen, eine Ordnung schaffen, eine Synopse möglich machen und einen Überblick gewähren. Die ‚Begründung‘, ‚Rechtfertigung‘, ist hier etwas völlig anderes als eine empirische Verifikation: „Aesthetic discussion is like discussion in a court of law.You donˈt say This is bad or good, but try to clear up circumstances; and in the end what you say will appeal to the judge.“ (10/7/9: 32) Oder auch nicht: „If when I’ve made you see what I see, it doesnˈt appeal to you, there is an end.“ (10/7/9: 32)¹² Das Gleichnis des Gerichtshofes weist auf das ausschlaggebende Kriterium: die Zustimmung des Gesprächpartners, die nicht erzwungen werden kann.¹³  In Mind ergänzt Moore: „[I]f, by giving ‚reasons‘ of this sort, you make another person ‚see what you see‘ but it still ‚doesnˈt appeal to him‘, that is ‚an end‘ of the discussion“ (MWL: 106). „Jede/Die/ ethische Rechtfertigung einer Handlung/Tat/ must appeal to the man vor dem/dem/ ich sie rechtfertige/rechtfertigen will/. [… dem ich sie begreiflich machen will.]“ (MS 110: 119; TS 211: 207) Bei Ethik (und Ästhetik) überhaupt verhält es sich wie bei der Beschreibung eines Apostellebens (siehe dazu oben S. 34 ff.), bei der Erzählung vom Priesterkönig oder bei der Zusammenschau der Feuerfeste (siehe dazu unten S. 306 f.).  Wittgensteins Vorbild ist hier die (vereinfachend gedeutete) Psychoanalyse. Freud allerdings vertraut nicht nur der Bestätigung durch den Patienten, sondern auch indirekten Beweisen, Bestätigungen anderer Art (vgl. Gargani 1992d: 247). Freud will also mehrere Kriterien miteinander verbinden. Wittgenstein relativiert bei anderer Gelegenheit seine eigene vereinfachende Lesart; er merkt in späteren Jahren an, dass in der Psychoanalyse die Anerkennung durch den Patienten nicht immer den Ausschlag gibt (vgl. LA: 42; vgl. dazu Majetschak 2008: 41). Nimmt er es im May Term noch nicht wahr? Vielleicht, aber auf jeden Fall hält er die Koexistenz verschiedener Kriterien für unangemessen, für eine Vermengung von Heterogenem. Schon Jaspers wendet gegen Freud ein, dass die Psychoanalyse kausales Erklären und Verstehen miteinander verwechselt (vgl. Jaspers 1953: 452; vgl. auch Jaspers 1990, insbes.

3.2 „A Rainbow of Meanings“. Ästhetische Untersuchungen

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Der Unterschied zwischen Gründen und Ursachen und damit zwischen normativen und kausalen Untersuchungen wird allmählich zum Hauptthema der Vorlesung, die mit einer langen Freud-Diskussion endet. Wittgenstein stellt gleichsam eine ‚Familie‘ von Ansätzen zusammen, in denen Gründe mit Ursachen und ästhetische Untersuchungen mit psychologischen verwechselt werden, und zwar durch die Forscher selbst, die sie initiieren. Zu diesen Ansätzen zählt der Philosoph Frazers Golden Bough, Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905)¹⁴ und überraschenderweise sogar Darwins The Expression of the Emotions. Nicht anders als die Vertreter der Kausaltheorie der Bedeutung lassen sich diese so unterschiedlichen Autoren von der Analogie zur naturwissenschaftlichen Methode irreführen. In Wittgensteins Augen leisten sie auf je eigene Weise eine morphologische Zusammenschau, kleiden sie jedoch in die Form einer kausalen Erklärung ein, d. h., sie verwechseln die Synopsis, die eine Beschreibung ist, mit einer Kausalerklärung. So angewandt, erinnert der Gegensatz von Grund und Ursache auf den ersten Blick an die eher simple traditionelle Entgegensetzung von Verstehen und Erklären. Es stellt sich dabei die Frage, ob Wittgenstein aus dem Dualismus von Erklärung und Beschreibung, der seine Auffassung der philosophischen Methode kennzeichnet, das unterscheidende Merkmal zwischen Natur- und Geisteswissenschaften macht. Sicher ist es nicht die Absicht der Vorlesung, eine Methode für die Geisteswissenschaften aufzustellen. Man darf aber trotzdem fragen, ob das komplexe Zusammenspiel von erklärenden und verstehenden Methoden – bzw. von Erklärung und Beschreibung – in den Geisteswissenschaften hier nicht arg vereinfacht oder gar übersehen wird (vgl. Henderson 1988). Wittgenstein, der sich von den Dichotomien der Abhandlung erst allmählich freikämpft, hat 1931 noch keinen komplexen, pluralen Kausalitätsbegriff, und im May Term 1933 wendet er seine bedeutungstheoretischen Reflexionen noch nicht auf ‚Kausalität‘ an; erst später und in anderem Kontext ist er darauf bedacht, zwischen Prototypen (und damit ‚Bedeutungen‘) von kausaler Erklärung zu differenzieren. Er versucht dann, nicht nur die heterogenen Sprachspiele mit ‚Ursache‘ und ‚Grund‘ auseinanderzuhalten, sondern auch die voneinander abweichenden Verwendungsweisen von

S. 337 f.; vgl. dazu Starobinski 1999: 179: 196 ff.). Zum Unterschied zwischen Grund (bzw. Motiv) und Ursache vgl. auch AWL: 38.  Parallelen zwischen Freud und Frazer sind damals nicht ungewöhnlich. Freud hatte sich in Totem und Tabu auch an Frazers Werke angelehnt. Dieser wiederum schätzte ihn gering. Die zahlreichen von beiden beeinflussten Autoren und Schriftsteller sahen jedoch in der Regel eine Verbindung zwischen dem Ethnologen und dem Begründer der Psychoanalyse (vgl. Stocking 1996: xxv f.).

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

‚Ursache‘; und er betrachtet es doch als legitim, dass Ökonomen und Sozialwissenschaftler „the cause of the rise of unemployment“ (LA: 15) etwa durch Statistik ermitteln. Zwar unterscheidet er gerade bei Kausalität und beim Zusammenspiel von Kausalität und anderen Aspekten bis zuletzt zweifellos zu wenig.¹⁵ Aber er sieht im Laufe der Zeit immerhin deutlicher, dass Grund und Ursache Idealfälle sind, Pole, zwischen denen es allerhand Zwischenstufen gibt.¹⁶ Seine Analysen führen also im Endergebnis zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Koexistenz verschiedenartiger Kriterien und für die entsprechenden Verwechslungsmöglichkeiten.

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933 3.3.1 „When a man worships idols“. ‚Gott‘ und seine Grammatik Den Namen ‚Frazer‘ hat Moore zum ersten Mal am Anfang von Notizheft 10/7/9 festgehalten, in der Mitschrift der Vorlesung vom 5. Mai. Trotzdem lässt sich nicht ganz ausschließen, dass Wittgenstein sich schon vorher irgendwie auf den Ethnologen bezogen hatte. Die Vorlesung vom 1. Mai beginnt mit dem schon zitierten Bekenntnis: „I have always wanted to say something about grammar of ethical expressions, or e. g. of ‚God‘.“ (10/7/8: 74) Zur Diskussion steht „[o]ne great trouble our language gets us into“: „[W]e take a s u b s t a n t i v e to stay for a t h i n g or s u b s t a n c e .“ (10/7/8: 74) Muss nun ein Wort wie ‚Gott‘ (oder ‚Seele‘) für eine ‚Substanz‘ stehen? In diesem Kontext stellt Wittgenstein u. a. die speziellere Frage: Woran glaubt jemand, der ‚Götzen anbetet‘? When a man worships idols (1) One possibility is that he believes idol is alive and will help him. This man must have forgotten that he made it: but this can happen. (2) In millions of cases, this will not happen, but e. g. (a) God dwells in this statue But what does ‚dwells‘ mean? By asking what he would say, and what he wouldn’t, you can get at how he uses the word. (10/7/8: 75; vgl. Moores spätere Zusammenfassung in 10/7/10: 37.)

 So tendiert Wittgenstein dazu, die Erklärung in der Physik zum Paradigma zu machen, an dem alle Wissensformen gemessen werden, die Anspruch auf kausale Erklärung erheben. Vgl. 10/7/9: 38; vgl. auch LA: 25.  Siehe auch unten S. 330, Anm. 46.

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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Der Unterschied zwischen dem Glauben, der Fetisch selbst sei ein Gott, und dem Glauben, der Gegenstand sei nur der Sitz, in dem ein Gott sich aufhält (‚dwells‘), ist in damaligen Diskussionen geläufig und könnte auch auf den Golden Bough zurückgehen.¹⁷ Es ist aber Nebensache, ob Wittgenstein hier Frazer mit im Blick hat: Selbst wenn nicht, kündigen bereits diese Betrachtungen an, dass er jetzt neue Akzente setzt und seine Frazer-Kritik anders formuliert als 1931. Der Philosoph leugnet nicht geradeheraus, dass wer so eine Gestalt anbetet, an etwas ‚glaubt‘. Wittgenstein hebt vielmehr hervor, dass diese Person je nachdem an Verschiedenes ‚glauben‘ kann. Es lassen sich viele Möglichkeiten denken; und die Vorlesung streitet nicht ab, dass auch Fälle vorkommen können, in denen „he believes idol is alive and will help him“. Andernfalls müsste man die betroffene Person fragen, z. B., was sie mit ‚dwells‘ meint; denn nur dem, was sie jeweils sagen oder nicht sagen würde, könnte man die eigentümliche ‚Grammatik‘ ihrer Religion ablesen. Dass Wittgenstein dies nun in Erwägung zieht, ist ein wichtiger Fortschritt: 1931 spielte die Eventualität, den Akteuren Fragen zu stellen, mit ihnen in einen Dialog zu treten, keine Rolle – wie auch im Golden Bough selbst. Der Unterschied zu den autographen Bemerkungen von 1931 ist also nicht zu übersehen; der Akzent fällt 1933 auf die Vielfalt der ‚Spiele‘ mit einem Wort wie ‚Gott‘. Wittgenstein geht weiterhin davon aus, dass sich mit (1) und (2a) nicht zwei konträre Thesen gegenüberstehen. Er schlägt nun vor, den Unterschied als einen zwischen Grammatiken aufzufassen: „|But| different religions treat something as making s e n s e , which others treat as n o n s e n s e : they donˈt merely one deny a prop. wh. other affirms.“ (10/7/8: 78)¹⁸ Bei diesem Vorschlag, Religionen als voneinander abweichende Grammatiken zu unterscheiden, geht es Wittgenstein nicht um den Gegensatz zwischen ‚uns‘ auf der einen Seite und allen möglichen Varianten von ‚Götzenanbetern‘ auf der anderen, sondern darum, dass in unserer eigenen Sprache mit Worten wie ‚Gott‘ oder ‚Seele‘ sehr unterschiedliche Spiele gespielt werden – ebenso wie mit ‚gut‘ und ‚schön‘.

 Z. B. auf die Erläuterungen über den Baumkult, an die Wittgenstein 1931 in einem Gedankenspiel anknüpft. Siehe dazu oben S. 142 ff.  Wittgensteins Betrachtung lässt sich nuancieren. Man könnte gegebenenfalls dazu neigen, zwei Religionen eine geteilte oder zumindest eine verwandte Grammatik zuzuschreiben. Um Wittgensteins eher schlichtes Beispiel zu variieren: Sie könnten die Hintergrundauffassung teilen, Gott ähnele einem menschlichen Wesen, und sich etwa darüber streiten, wie viele Arme er habe. In einer solchen Kontroverse würde den einen die Auffassung der anderen wohl eher falsch scheinen als sinnlos. Eine Religion die jene Hintergrundauffassung nicht teilte, würde die ganze Diskussion dagegen für sinnlos halten. Nur in diesem letzteren Fall läge es nahe, von unterschiedlichen Grammatiken zu sprechen. Diesem Idealtypus nähern sich Beziehungen zwischen einander fremden Religionen vielleicht eher als intrareligiöse Kontroversen. – Zur „Theologie als Grammatik“ (PU, § 373) siehe oben S. 132, Anm. 169.

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

3.3.2 „Looking for o n e cause t h e cause, when there are 50.“ Der Begriff „Überlebsel“ und die Irrtümer der Entstehungsgeschichte Auch in der Vorlesung vom 5. Mai 1933, in der die Mitschrift zum ersten Mal Frazer nennt, geht es – so der Titel bei Moore – um eine „[ c ] e r t a i n c l a s s o f t o p i c s c o n n e c t e d w i t h E t h i c s “ (10/7/9: 1). „I’ve talked“ – beginnt Wittgenstein – „about way in which one explains meaning of a word. | But I haven’t talked about one problem.“ (10/7/9: 1) Ist die Bedeutung/der Sinn wirklich etwas, woran wir denken, während wir das Wort/den Satz aussprechen? Dieses Missverständnis geht mit der Auffassung einher, dass alle Fälle, die wir unter einen Begriff subsumieren, etwas gemeinsam haben müssen: Aber – so Wittgenstein – die „Verbindung“ („connection“) zwischen zwei Verwendungen eines Adjektivs wie ‚gut‘ ergibt sich eher durch graduelle Übergänge. „So it may be very difficult to find anything in common between 2 uses of ‚good‘¹⁹, but there will be gradual transitions from one to the other, wh. take the place of something in common.“ (10/7/9: 4) Im unmittelbaren Anschluss daran heißt es: „In the Golden Bough, Frazer constantly makes some one particular kind of mistake in explanation.“ (10/7/9: 5) Moores Mitschrift verrät zuerst nicht, welchen.²⁰ Sie kommt erst eine Seite später auf Frazer zurück, nachdem der gemeinte Fehler an anderen Ansätzen aufgezeigt wurde. Im Allgemeinen kritisiert Wittgenstein „a way of explanation, e. g. of why do people hunt, wh. says ‚T h i s one thing is the reason‘“ (10/7/9: 5). „[…] I was talking of a tendency,“ rekapituliert der Anfang der darauffolgenden Vorlesung, „|which came along with| European science, to give an evolutionary explanation: This developed out of this; |and to add| This r e a l l y is this. And“ (10/7/9: 6) „There is one type of explanation“, heißt es in Ambroses Mitschrift, „which I wish to criticize, arising from the tendency to explain a phenomenon by o n e cause, and then to try to show the phenomenon to be really another.“ (AWL: 33) Eine bestimmte Erscheinung wird auf einen einzigen Faktor zurückgeführt, ja, damit gleichgesetzt, und erweist sich so nicht als das, wofür sie normalerweise gilt, sondern als etwas anderes.²¹

 Moore hat später in einem anderen Bleistift das Wort „“ über ein Wort notiert, das man so, aber auch als ‚god‘/‚God‘ lesen könnte. Es war für den Schreiber selbst nicht mehr eindeutig zu entziffern, oder er fragte sich, ob er sich doch verschrieben hatte. Die Diskussion war bis dahin nämlich über ‚good‘, nicht über ‚god‘.  Moore selbst merkt es bei einer späteren Durchsicht an. Er unterstreicht das Wort ‚mistake‘ und fügt hinzu: „Which? See next page.“ (10/7/9: 5)  Man könnte sagen, dass schon das Motto von Moores Principia Ethica – „Everything is what it is, and not another thing“ – sich gegen diese allgemeine Tendenz richtet. In den Principia

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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Thereˈs a way of explanation, e. g. of why do people hunt, wh. says „T h i s one thing is the reason“, and then, if you say „Not consciously“ answers „Then unconsciously“.²² Frazer talks of Magic performed with an effigy, and says primitive people xx believe that by stabbing effigy they have hurt the other . I say: only in some cases do they thus entertain a false scientific belief. It m a y be that it expresses your wish to hurt. Or it m a y be not even this: It may be that you have an impulse to do it, as when in anger you hit a table; which doesnˈt mean that you believe you hurt it, nor need it be a survival from prehuman ancestors. Hitting xx has many sides. Frazer also talks of festivals in wh. effigy of a human being is killed; and explains a l l as down to fact that once this was done to a man. This m a y be so; but itˈs not true that it m u s t . The experience of making an effigy and throwing in water has a peculiarity wh. may be satisfactory for its own sake: like tearing a photo. of our enemy. (10/7/9: 5)

So schließt die Vorlesung vom 5. Mai. Am 9. Mai führt die nächste das Argument nach der erwähnten Rekapitulation weiter: E. g. Frazerˈs explan. of dressing up a stick, and drowning it, as a vestige of the custom of really drowning a man. Itˈs important to see that this neednˈt be so, for one particular reason. The idea underlying this sort of explanation, that in the case of each action there is a motive wh. is t h e motive. I eat n o t o n l y to nourish myself, but also bec. I get an agreeable taste or bec. …. etc. etc. E. g. there are lots of aspects of deer-stalking: not only the getting of food. F. says: Surely an effigy wouldnˈt have been burnt, if there hadn’t been a man burnt. And goes on to explain: You kill the god of fertility, in connection with the annual death of vegetation. Essence is: People at a certain stage thought it useful to kill a person in order to get good crops, and from this developed habit of pretending to kill a puppet. The idea is: Action can only be explained, as having as its motive to get something u s e f u l .

Ethica steht das Bischof Butler entnommene Motto mit dem bekannten open question argument im Einklang. Das antireduktionistische Argument will zeigen, dass ‚gut‘ sich nicht definieren d. h. auf ein anderes Prädikat zurückführen lässt. Daraus, dass etwa die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Guten und dem Nützlichen offen bleibt, geht hervor, dass zwischen beiden keine interne Relation besteht. In (den Mitschriften) der Vorlesung vom May Term 1933 kommt der Satz nicht vor. In (den Mitschriften) einer Vorlesung vom Sommer 1938 dagegen beruft sich Wittgenstein in einem vergleichbaren Zusammenhang auf dieses „marvellous Motto“ (LA: 27): Er warnt vor einer in der Psychoanalyse üblichen „form of persuasion“: Sätze, „which say ‚This is r e a l l y this‘“ (LA: 27), möchten uns dazu überreden, bestimmte Unterschiede (certain differences) zu vernachlässigen. Zu dieser Warnung passt der von Wittgenstein zeitweilig als Motto der Philosophischen Untersuchungen in Erwägung gezogene Satz aus dem King Lear: „I’ll teach you differences“.  Zu diesem Missbrauch von ‚unbewusst‘ siehe unten § 5.4.2, S. 359 ff.

286

3 Die Vorlesung im May Term 1933

But in fact: We d o n ˈ t do everything, even in any degree, to get food etc. If a man says we do, that is a mere rule of grammar. /? (10/7/9: 6 f.)²³

1931 weist Wittgenstein Frazers Auffassung zurück, a) dass Magie (bzw. Religion) aus Irrtümern besteht und b) dass Irrtümer magische Handlungen (kausal) erklären. Die Vorlesung lässt diese Einwände nicht fallen, schwächt sie jedoch ab. Auch sie kritisiert Frazers These, „that when primitive people stab an effigy of a particular person, they believe that they have hurt the person in question“ (MWL: 106; vgl. 10/7/9: 5).²⁴ Wittgenstein räumt nun aber vorsichtig ein, dass diese

 Moore distanziert sich immer wieder vom Exzerpierten, indem er – ‚in Echtzeit‘ oder im Nachhinein (d. h. Jahrzehnte später) – am Seitenrand Fragezeichen setzt: Sie werden hier in Fettdruck wiedergegeben. In der erwähnten unveröffentlichten Zusammenfassung seiner Mitschrift synthetisiert Moore wie folgt Wittgensteins Argumente: „[…] |People may have many reasons, not one only.| Frazer in Golden Bough constantly makes a particular kind of mistake e. g. he says when primitives stab an image they believe that thereby they’ve hurt person imaged. But this isn’t necessarily so: it m a y be merely an expression of wish to hurt, n o t false scientific belief. Also he explains festivals in which image is killed, as down to fact that once man was killed. But this n e e d not be so: drowning an effigy may be satisfactory for own sake, like tearing photo of our enemy European science has brought tendency to give evolutionary explanation: to say ‚this developed out of this‘ and to add ‚This r e a l l y is this‘. E. g. Frazer. False idea underlying this is that in case of every action there is a motive which is t h e motive. Also there is idea that action can only be explained as having as its motive to get something useful. If a man says this, this is a mere rule of grammar ? This idea is embodied in our language: If asked ‚W h a t is this?‘ we say ‚A book‘, as if this were ‚essence‘. But thereˈs no logical necessity of calling a thing by name of most dominant purpose. Whereas we think a thing belongs essentially xx e. g. to class ‚tables‘ only a c c i d e n t a l l y to others. So there are theories, which each give only o n e answer to ‚Why do children play?‘ So Frazer on Beltane fires, thinks it remnant of a feast in which man was burnt. Now people who do it donˈt believe a man was once burnt. Hence p r e t e n d i n g to burn is something wh. has its own feeling and seriousness. So Darwinˈs explanation of expression of emotions. Why do we show our teeth when angry? bec. our ancestors wanted to bite etc: Why do we cry, when in grief? Bec. it was a custom to throw sand, and tears were u s e f u l to wash it away. etc. Why does D. think that without an explanation of this sort, what we do would be unintellig. Bec. he thinks feels explanations are v e r y i m p o r t a n t , and thinks they couldn’t be if not u s e f u l .“ (10/7/10: 38 f.)  Frazer erläutert an der Zerstörung eines Ebenbildes die ‚homöopathische oder imitative Magie‘. Vgl. FGB 1922: 12 f.

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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Menschen manchmal, wenn auch „only in some cases“ (10/7/9: 5), doch etwas wie einen „false scientific belief“ (10/7/9: 5) haben mögen. Das ist jedoch nicht immer, ja eher selten, so; und selbst wenn, dann braucht dieser „Glaube“ nicht ihr einziges Motiv zu sein. Die Vorlesung subsumiert damit die Kritik von Frazers Auffassung, Magie liege etwas wie ein „‚false scientific belief‘“ zugrunde, unter einen anderen Einwand: c) Handlungen (auch ‚magische‘) sind, wenn überhaupt, nicht durch einen einzigen Faktor zu erklären: nicht durch eine einzige Ursache (Ambrose), nicht durch einen einzigen Grund (Moore) bzw. nicht durch ein einziges Motiv (Ambrose und Moore). Dieser Einwand kam in den handschriftlichen Bemerkungen von Anfang der dreißiger Jahre so nicht vor.Wittgenstein bemängelte zwar, dass Renan und Frazer eine Möglichkeit mit einer Notwendigkeit verwechseln. Aber es ging ihm noch nicht um die Vielfalt alternativer Möglichkeiten. Er hielt sich weitgehend noch im ethischen Rahmen der Abhandlung und war immer wieder, wenn auch nicht durchgängig, versucht, Frazers kognitivistischer Interpretation eine ebenso exklusive strikt nicht-kognitivistische bzw. expressivistische entgegenzusetzen: Alle Riten sind Instinkt- und Ausdruckshandlungen. Diese Versuchung hat Wittgenstein 1933 hinter sich. Reine Ausdruckshandlungen kommen demnach zwar häufig vor, wohl öfter als ein „false scientific belief“; aber nicht jeder Ritus muss eine sein, auch das Durchstechen eines Ebenbildes nicht. Wittgenstein relativiert nun Frazers These, die „Zerstörung eines Ebenbilds“ gehe auf einen „‚false scientific belief‘“ zurück, indem er diese Erklärung mit zwei Alternativen flankiert. Die Mitschrift unterscheidet nämlich zwischen dem Ausdrücken eines Wunsches, das nicht unbedingt instinktiv sein muss, und einer Instinkthandlung, die nicht unbedingt eine Ausdrucksreaktion ist. Das Durchstechen könnte also eine Ausdruckshandlung sein, die einen Wunsch zum Ausdruck bringt, oder eine Instinkt- bzw. Impulshandlung.²⁵ Da Wittgenstein nun auch die Möglichkeit eines „‚false scientific belief‘“ nicht mehr kategorisch ausschließt, haben wir also drei Alternativen. Sie sind gleichsam Idealtypen, die im Einzelfall kombiniert werden können und zwischen denen allerlei mögliche Zwischenstufen denkbar sind; und die Liste möglicher Deutungen muss mit diesen drei Idealtypen nicht unbedingt zu Ende sein. Wichtig ist für Wittgenstein nur die Offenheit für Alternativen. Daher die Schlussfolgerung: „Hitting xx has

 Wittgensteins Analogie zwischen Riten und primitiven Ausdrucksreaktionen wie dem Zeigen der Zähne oder gar dem Sich-Sträuben der Haare bleibt allerdings fragwürdig. Vgl. auch Hacker 1992.

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

many sides.“ (10/7/9: 5) Oder, wie Moore zwei Jahrzehnte später in Mind formuliert: „[T]hey may have quite different reasons for stabbing the effigy.“ (MWL: 106) Die Vorlesung, soweit sie in Moores und Ambroses Mitschriften vorliegt, ist also vorsichtiger als die Bemerkungen von 1931.²⁶ Im May Term 1933 hat Wittgenstein die Versuchung überwunden, sich zu einer strikt nicht-kognitivistischen Interpretation ritueller Vorgänge zu versteigen. Zu dieser gemäßigteren, vor allem aber artikulierteren, Position führen ihn die bedeutungstheoretischen Einsichten, mit denen nicht erst die Philosophischen Untersuchungen die Metapher der ‚Familienähnlichkeit‘ verbinden. Sie prägen bereits den Denkstil der Vorlesung. Man könnte sagen, dass die Familienähnlichkeit hier zum Leitbegriff von Wittgensteins Frazer-Kritik wird. Allerdings wird diese Metapher, die Wittgenstein bereits im August 1931 in dem erläuterten kulturgeschichtlichen Kontext eingeführt hatte, in der Vorlesung nicht verwendet. Ein anderes Bild, der „Rainbow of meanings“ (10/7/9: 38), betont hier, dass auch Fälle, die nichts miteinander gemeinsam haben, durch graduelle Übergänge miteinander verbunden sind – wie die Regenbogenfarben. Auf Konzept und Metapher der Familienähnlichkeit greifen die autographen Bemerkungen in MS 143 zurück. Trotzdem vollzieht auch die Vorlesung vom May Term 1933 den entscheidenden Schritt. Gerade weil die neuen bedeutungstheoretischen Auffassungen Wittgensteins wieder aufgenommene Auseinandersetzung mit dem Golden Bough durchziehen, erhält die Frage nach der Bedeutung einen eindeutigen Vorrang über die Frage nach der Möglichkeit, rituelle Handlungen kausal zu erklären. Die Ablehnung kausaler Erklärungen ist jetzt in die Kritik einer einheitlichen Bedeutung eingebettet – von Worten, aber auch von Handlungen wie dem Durchstechen eines Ebenbildes. Wittgenstein greift nicht nur die Vorstellung an, alles ließe sich aus einem einzigen Motiv erklären, sondern auch das besondere Motiv, das Frazer allem Handeln unterstellt, das utilitaristische. 1931 hatte Wittgenstein kategorisch ausgeschlossen, dass rituelle Handlungen utilitaristisch motiviert seien. Im May  Cioffi, der diese gemäßigtere Position zu Recht plausibler findet, sieht offenbar Ambroses und Moores Wiedergabe als getreu an (Cioffi 1998: 157). Auch Hacker beruft sich des Öfteren auf die gemäßigtere Position der von ihnen referierten Vorlesung gegen die radikalere in den eigenhändigen Aufzeichnungen der frühen 30er Jahre. (Vgl. Hacker 1992: 281 f.) Könnten beide – Ambrose wie Moore – Wittgensteins Ansicht entschärft haben? Es lässt sich zwar nicht ganz ausschließen, scheint mir jedoch nach Einsicht in Moores ausführliche Mitschrift höchst unwahrscheinlich. Wie im Text gezeigt, dürften die neuen bedeutungstheoretischen Einsichten Wittgenstein tatsächlich zu einer vorsichtigeren Position geführt haben. Sie ist nicht mehr, anders als Cioffi und Hacker offenbar meinen, die Position von 1931 – und auch nicht diejenige der Synopse TS 211.

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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Term 1933 verneint er nichts a priori. Er bestreitet lediglich, dass „something is always done because it is useful. At least this is not the sole reason.“ (AWL: 33; meine Hervorhebung.) „The idea is: Action can only be explained, as having as its motive to get something u s e f u l . | But in fact: We d o n ˈ t do everything, even in any degree, to get food etc. | If a man says we do, that is a mere rule of grammar“ (10/7/9: 6 f.). Mit einem ähnlichen Argument kritisiert die Vorlesung dann die Auffassung, dass wir immer das wählen, „which gives least pain or most pleasure“: Diejenigen, die so etwas sagen, „donˈt […] mean that it is a question of experience: They mean that it m u s t be so, i. e. that it is a tautology, and yet think that it has some meaning.“ (10/7/9: 18; vgl. 10/7/9: 15.) Frazers utilitaristische Auffassung, meint Wittgenstein, ist nicht wirklich eine empirisch verifizierbare Hypothese. Es handelt sich vielmehr um die Form, auf die Frazer jede von ihm beschriebene Handlung bringen will. Diese Form der Darstellung beansprucht etwas wie die Notwendigkeit einer allgemeinen Regel (‚Es kann nicht anders sein!‘ ‚Es muss so sein!‘). Sie gehört gleichsam zur Grammatik des Golden Bough. Wittgenstein will also zeigen, dass Frazer eine Darstellungsnorm mit einer These verwechselt. Der Einwand, dass beides im Golden Bough vermengt wird, wäre dabei plausibler als die Behauptung, dass These und Regel, d. h. Empirie und ‚Grammatik‘, sich hier voneinander scharf trennen lassen.²⁷ Den im Golden Bough untersuchten europäischen Feuerfesten schreibt Frazer mit einem gemeinsamen Motiv auch einen gemeinsamen Ursprung zu. Das Hauptproblem, die geheimnisvolle Sukzessionsregel in Nemi, wird im Golden Bough schrittweise gelöst, und die Erklärung der europäischen Feuerfeste ist eine der letzten Etappen.²⁸ Die rituelle Ermordung des Priesterkönigs durch seinen Nachfolger erweist sich schließlich als ein grausames Überbleibsel urtümlicher Riten. Ursprünglich wurde der Priesterkönig nämlich verbrannt, auf dem jährlich stattfindenden midsummer fire-festival im Wald von Aricia. Später wurde diese Sitte in die des Duells ‚abgemildert‘: „But he only escaped the fire to fall by the sword.“ (FGB 1922: 704) Die Feuerfeste, wie sie noch in der Neuzeit stattfanden, weisen Frazer zufolge auf die von ihm postulierten ursprünglichen Menschenopfer  Der Satz, dass die angebliche These in Wirklichkeit eine Regel ist, bereitet Moore offenbar Schwierigkeiten. Er setzt im Notizheft 10/7/9 (und in der späteren Zusammenfassung 10/7/10) ein Fragezeichen am Rand, und in Mind nimmt er diesen für Wittgenstein wichtigen Punkt nicht auf.  Die Aufzeichnungen von 1931 erwähnen die Feuerfeste nicht. Frazer erläutert sie erst in dem zweibändigen siebten und letzten Teil der vollständigen Ausgabe. Wittgenstein hat also spätestens im May Term 1933 entweder den zehnten Band dieser Ausgabe, den ersten des siebten Teils, zur Kenntnis genommen oder, was mir wahrscheinlicher scheint, die Abridged Edition von 1922. In letzterem Fall muss er mit der Lektüre weit vorangekommen sein, ja, er wird das Buch zwar möglicherweise selektiv, aber doch zu Ende gelesen haben (siehe auch den Anhang S. 400 f.).

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zurück. Die modernen Feste waren verblasste Überbleibsel jener grausamen Riten; denn glücklicherweise wurde in historischen Zeiten kein Mensch verbrannt, sondern nur ein Popanz. Frazer betrachtet die urzeitlichen Menschenopfer als utilitaristische Handlungen. „People“ – so gibt Ambrose diese Hypothese wieder – „at one time thought it useful to kill a man, sacrifice him to the god of fertility, in order to produce good crops.“ (AWL: 33) Laut Moores spätem Artikel sah Wittgenstein in dieser Annahme einfach einen Irrtum: Er meinte „[t]hat it was a mistake to suppose that the motive is always ‚to get something useful‘. He gave as an instance of this mistake Frazer’s supposition that ‚people at a certain stage thought it useful to kill a person, in order to get a good crop‘.“ (MWL: 106) Aus Ambroses Wiedergabe geht wiederum nicht hervor, dass Wittgenstein diese Möglichkeit strikt ausschließt; und auch Moores Mitschrift, aus der dessen später Bericht zitiert (vgl. 10/7/9: 6), bezeichnet die Annahme, dass jene Menschen an die Nützlichkeit von Menschenopfern glaubten, nicht direkt als Irrtum. Sicher falsch ist hiernach nur die Vorstellung, es müsse unbedingt so gewesen sein; und Wittgenstein weist nur die Auffassung zurück, der uralte Aberglaube, man würde durch ein Opfer die Ernte fördern, sei die einzige mögliche Erklärung jener hypothetischen Riten. Frazer zufolge lassen sich auch die modernen Feste, insofern sie verblasste Überbleibsel dieser frühen Menschenopfer waren, auf denselben lange vergessenen Aberglauben historisch zurückführen. ‚Survival‘, ‚Überlebsel‘, ist ein Hauptbegriff zuerst von Tylors und dann auch von Frazers entstehungsgeschichtlichen Erklärungen.²⁹ Die utilitaristische Interpretation wird durch die anthropologische Lehre der survivals verallgemeinert: Auch was jetzt keinen Nutzen hat, kann utilitaristisch erklärt werden – als Überbleibsel, aus einer früheren Nützlichkeit. Wittgenstein schließt nicht kategorisch aus, dass die Kostümierung und anschließende Verbrennung des Popanzes während der Feuerfeste ein Überbleibsel urtümlicher Bräuche war: „Frazer also talks of festivals in wh. effigy of a human being is killed; and explains a l l as down to fact that once this was done to a man. | This m a y be so; but itˈs not true that it m u s t .“ (10/7/9: 5) „This may be so; but it neednˈt be, […]“ (AWL: 33). Und selbst wenn ja, sind weder die modernen Feste einfach auf die urzeitlichen zurückzuführen, noch sind diese einzig und allein durch den Glauben an ihre Nützlichkeit zu erklären.Wittgenstein kritisiert also die Theorie der ‚Überlebsel‘, verwirft diesen Grundpfeiler der evo-

 „Survival“ war der Fachausdruck der evolutionären Anthropologie. In seinem literarisierenden Stil verwendet Frazer auch ‚relic‘, und zwar öfter als ‚survival‘, oder etwa ‚remnant‘ und ‚vestige‘. In Moores Mitschrift kommen ‚survival‘, ‚remnant‘ und ‚vestige‘ vor; und in einem eigenhändigen Notat Wittgensteins ist z. B. von einem „Ueberbleibsel einer primitiven Anschauung“ (MS 110: 224; TS 211: 261) die Rede.

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lutionären Anthropologie jedoch nicht in toto. Das Erklärungspotential dieses Begriffs ist ihm zufolge allerdings äußerst begrenzt.

3.3.3 Darwin über menschlichen Ausdruck „Looking for o n e cause t h e cause, when there are 50.“ (MS 158: 34v) Frazer ist nur ein Beispiel für diese allgemeine Tendenz. Sie ist u. a. auch „responsible for people saying that punishment must be one of three things, revenge, a deterrent, or improvement.“ (AWL: 33)³⁰ Diese Theorien schreiben dem Strafen jeweils nur einen einzigen Zweck zu. Sie entsprechen der traditionellen Ansicht, allen Fällen von ‚gut‘ oder ‚schön‘ liege etwas Gemeinsames zu Grunde (vgl. 10/7/9: 4). Sie sind falsche Antworten auf die falsche Frage nach dem Wesen. Die Leitidee – bemerkt die Vorlesung im Anschluss an die erläuterte Frazer-Besprechung – ist sehr alt und in unserer Sprache tief verwurzelt, nämlich „embodied in ‚essence‘ and ‚accident‘“. Daher stammt unsere Tendenz, auf Fragen wie ‚Was ist das?‘ oder ‚Warum das?‘ eine einzige Antwort zu geben: „So: there are theories of play, each saying giving an answer only to question: Why do we children play? | The tendency to do this is enormously strong.“ (10/7/9: 7; vgl. MWL: 106.) Viel prominenter als die Straf- bzw. Spieltheorien ist ein anderes Beispiel. Nachdem die allgemeine Tendenz behandelt worden ist, kommt die Vorlesung noch einmal auf Frazer zurück; an diese erneute Auseinandersetzung schließt Wittgenstein eine kritische Bemerkung zu Darwin an. The Expression of the Emotions ³¹ erklärt menschlichen Ausdruck aus früheren lebensfördernden Reaktionen oder Zweckhandlungen. Der Naturforscher verwendet hier in Wittgensteins Augen dasselbe Erklärungsmuster wie Frazer: Auch Darwin suche nach etwas, was in jedem einzelnen Fall das ausschließliche Motiv sei, und führe alles Wichtige – nämlich: alles, was uns beeindrucke „(Important in sense that it impresses us.)“ (10/7/9: 9) – auf Nützlichkeit zurück. […] Darwin seemed to think that an emotion got its importance from one thing only, utility. A baby bares its teeth when angry because its ancestors did so to bite. Your hair stands on end when you are frightened because hair standing on end served some purpose for animals. The charm of this outlook is that it reduces importance to utility. (AWL: 34)

 Vgl. die weit ausführlichere Erläuterung in 10/7/9: 4. Vgl. auch LA: 50. Wittgenstein argumentiert hier ähnlich wie Nietzsche, der in Zur Genealogie der Moral (GM II, § 12– 15) die herkömmlichen Erklärungen der Strafe kritisiert, und zwar genau die von Wittgenstein angeführten (vgl. Brusotti 2009: 356 ff.).  Diese Schrift wird nur bei Moore ausdrücklich genannt (vgl. MWL: 107), bei Ambrose kommt lediglich Darwins Name vor.

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Cf. Darwinˈs explanation of expression of emotions: Why do we show our teeth when angry? bec. our ancestors wanted to bite. Why does our hair stand up when frightened? bec. our ancestors, like other animals, frightened their enemy by looking bigger. Why do lacrimal glands produce tears, when we’re in grief? You can find out what nerves act on glands, and what makes nerves act. But xx to give a r e a s o n why it was useful to cry, is something quite different: e. g. that there was a custom to throw sand, and tears were useful to wash it away. And what makes one want an explanation of this sort? Why does Darwin think that without it what we do would be unintelligible? Suppose one said, itˈs unintelligible that tables should be constructible. But it may be intelligible that they should be made of wood, and it just be an accident that wood is. Now Darwin wouldnˈt have thought an explanation of this sort required for every detail about our bodies. He thinks expressions |of emotion| need it, bec. he finds expressions are very important, and then thinks they are |can be| important o n l y if useful. The charm of the argument is that it reduces something that’s important to utility. ??³² (Important in sense that it impresses us.) (10/7/9: 8 f.)

Wittgenstein kritisiert auch an Darwins evolutionärer Erklärung das reduktive Verfahren: Die Zweckmäßigkeit eines bestimmten Verhaltens bei den Tieren dient als hinreichende Erklärung eines ‚analogen‘ Verhaltens beim Menschen. Auch Darwin erklärt aus einem früheren Zweck manches, was jetzt zu diesem „keine Beziehung“ (MS 110: 122) mehr hat.³³ Auch bei Darwin haben wir es in diesem Sinn mit Überbleibseln zu tun.³⁴ Was stimmt dann nicht bei diesem Versuch, Aus-

 Die zwei Fragezeichen sind hier Moores Stellungnahme.  Darwins Ansichten sind differenzierter, als sie in diesen Referaten einer mündlichen Darstellung, aber auch bei Wittgenstein selbst erscheinen. Das „Principle of serviceable associated habits“ ist eigentlich nur das erste von drei Prinzipien, aus denen Darwin den Ausdruck der Gemütsbewegungen zu erklären versucht. – Zum Zeigen der Zähne vgl. Darwin 1965. 241 Anm., 241 f., 251 f.; zum Sich-Sträuben der Haare vgl. Darwin 1965: 101, vgl. auch 294 ff.; zum Stirnrunzeln vgl. Darwin 1965: 222 ff.  Stocking zufolge lässt sich die in der evolutionären Anthropologie vertretene Theorie der survivals mit Darwins Auffassung von Evolution nicht in Einklang bringen: Beim Überbleibsel, das in der Gegenwart keine Funktion mehr habe, könne man eigentlich von einem „survival of the unfit“ reden (vgl. Stocking 1987). Nicht zuletzt Darwins Expression of the Emotions zeigt jedoch die von Wittgenstein bemerkten Parallelen zur Theorie der survivals: Auch manches, was seine ursprüngliche biologische Funktion nicht mehr erfüllte, wurde trotzdem weiter vererbt. Diese Auffassung wird hier von Darwin übrigens nicht nur rein ‚darwinistisch‘ vertreten: In The Expression of the Emotions treten spezifisch ‚darwinistische‘ Begriffe wie natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl vielmehr zugunsten der ‚nicht-darwinistischen‘ Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften bzw. angewöhnter expressiver Bewegungen oft in den Hintergrund. Stocking selbst erwähnt die Gründe dieser indirekteren Argumentationsstrategie: In der damaligen Debatte ging es weniger um die reine darwinistische Lehre als erst einmal darum, die Idee der Evolution des Menschen zu etablieren (Stocking 1987: 149 f., vgl. auch 177 ff.).

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druckshandeln als Überbleibsel eines früheren zweckrationalen Verhaltens zu erklären? In einem früheren Notat stellt Wittgenstein eine Analogie zwischen Darwins Ansatz und der Kausaltheorie der Bedeutung auf: Ogdens und Richards’ „Erklärung“ des Zeichen- (und Regel‐)folgens „verhielte sich zu unseren Handlungen so, wie die Darwinsche Erklärung des Stirnrunzelns – aus einem gewissen Nutzen den es unsern tierischen Vorfahren gebracht habe – zu dem Akt des Stirnrunzelns, der jetzt keine Beziehung zu diesem Zweck hat. Die Erklärung wäre eine hypothetische und würde die Ursache der Handlung betreffen, nicht das Motiv.“ (MS 110: 122; TS 211: 209) In den von den zwei Theorien jeweils anvisierten Fällen hat die gegenwärtige Handlung keine Beziehung zur hypothetischen Entstehungsursache. Letztere ist, anders als das Motiv, nicht im Akt enthalten. Dies stellt für Ogdens und Richards’ Semiotik ein Problem dar: Beim Zeichenverstehen kommt es nämlich nur auf das aktuelle „Motiv“ an, auf die aktuelle Bedeutung, nicht auf die entwicklungsgeschichtliche Ursache. Ogden und Richards – wie auch Frazer – setzen sich darüber hinweg. Darwin dagegen ist sich über den Unterschied einigermaßen im Klaren: Er mag nur eine (oft sehr ferne, hypothetische, ja spekulative) Ursache angeben, verwechselt sie aber nicht mit einem Motiv. Selbst wenn er einen kausalen Zusammenhang annimmt, setzt er ursprüngliche Funktion und aktuelle Bedeutung nicht gleich. Darwin sieht im Ausdrucksverhalten lediglich ein Überbleibsel: Die ursprüngliche Funktion mag das aktuelle Ausdrucksverhalten hervorgebracht haben und insoweit erklären, aber dieses hat sie überlebt. Ein Missverständnis lässt sich Darwin also nicht so leicht vorwerfen – und wird ihm in dieser Aufzeichnung auch nicht direkt angelastet. Die Vorlesung wiederum scheint es gerade darauf abgesehen zu haben, wenn sie dem Naturforscher die Ansicht zuschreibt, menschliches Ausdrucksverhalten sei ohne evolutionäre Erklärung „unintelligible“. Worauf will Wittgenstein aber hinaus? Dass wir ohne evolutionäre Erklärung derlei Zeichen im Alltag nicht verstehen, behauptet Darwin natürlich nicht: In diesem Sinn sind sie allgemeinverständlich, nicht „unintelligible“; nur blieben sie ohne die Evolutionstheorie kausal unerklärt. Nun weist Wittgensteins Vorlesung – anders als die angeführte Aufzeichnung – offenbar gerade diesen Anspruch zurück: Darwins Versuch scheint dem Philosophen den Namen einer Kausalerklärung menschlicher Ausdrucksreaktionen nicht zu verdienen; denn eigentlich gibt Darwin keine Ursache an, etwa keine physiologische (wie die Wirkung von Drüsen o. ä.), sondern einen

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Grund, wenn auch keinen aktuellen.³⁵ Der Einwand zielt also nicht (nur) auf die hypothetische Natur jener früheren Nützlichkeit, sondern darauf, dass die Nützlichkeit nicht wirklich eine Ursache ist, auch nicht eine universelle, sondern ein sehr allgemeiner Grund. Darwin, indem er diesen hypothetischen,vergangenen Grund zugleich als den eigentlichen hinstellt, fügt auch das, was zwar ‚wichtig‘ ist, aber nicht nützlich, in ein utilitaristisches Weltbild ein. Auch hier beinhaltet Wittgensteins Einwand einen sehr engen und anspruchsvollen Begriff von Kausalerklärung. Nicht nur aus diesem Grund unterschätzt der Philosoph den empirischen Gehalt von Darwins Betrachtung und konzentriert sich dementsprechend auf den ‚weltanschaulichen‘ Aspekt. Er dehnt seine Frazer-Kritik auf den Naturforscher aus und schreibt diesem dasselbe Missverständnis zu wie dem Autor des Golden Bough: Auch für Darwin seien ‚wichtig‘ und ‚nützlich‘ synonym; bereits er wolle das, was ihn beeindrucke, ihm wichtig scheine, kausal erklären, eben als etwas (wenn nicht heute, dann gestern) Nützliches.

3.3.4 So tun, als ob: Die „Zerstörung eines Ebenbildes“ und ihre eigentümliche Ernsthaftigkeit Vor dieser Auseinandersetzung mit Darwin war Wittgenstein auf Frazer zurückgekommen, um dessen Auffassung weiter zu prüfen, die modernen europäischen Feuerfeste seien Überbleibsel grausamer Riten. Kritisiert hatte er bis dahin Frazers „explanation […] of the burning of an effigy because of its likeness to human beings, who were once burnt. Frazer concludes that since people at one time were burnt, dressing up an effigy for burning is what remains of that practice.“ (AWL: 33) „F. says: Surely an effigy wouldnˈt have been burnt, if there hadn’t been a man burnt.“ (10/7/9: 6) Die Vorlesung vom 9. Mai nimmt diesen Satz auf und fügt eine Alternative hinzu: „Return to Frazer: | Surely, he says, one wouldnˈt think of burning an effigy, unless once behind it was a human being, or unless oneˈs ancestors had burnt a human being.“ (10/7/9: 7) Entweder verbrennt man ein Abbild, weil man es mit einem Menschen magisch gleichsetzt, bzw., weil man die Wirkung auf die Puppe als eine auf die abgebildete Person ansieht; oder das Verbrennen des Popanzes ist ein survival eines (möglicherweise lange vergessenen) grausamen Ritus unserer Vorfahren. Die modernen Feuerfeste deutet der Golden Bough – wie wir gesehen haben – in diesem letzteren Sinn.

 Moores (nicht nur) hier mehr als deutungsbedürftige Mitschrift gibt allerdings keinen sicheren Aufschluss über die Argumentation.

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Da Wittgensteins Kritik offensichtlich an Frazers Wortwahl (effigy, pretence) anknüpft, geben wir zuerst dem Golden Bough das Wort: Not uncommonly effigies are burned in these fires, or a pretence is made of burning a living person in them and there are grounds for believing that anciently human beings were actually burned on these occasions. (FGB 1922: 609) Now, in the fire-festivals which we are discussing, the pretence of burning people is sometimes carried so far that it seems reasonable to regard it as a mitigated survival of an older custom of actually burning them. (FGB 1922: 652)³⁶

Wittgenstein zufolge wird Frazers Denkfigur dem Unterschied zwischen „the pretence of burning people“ und „actually burning them“ nicht gerecht: Wer das Verbrennen eines Popanzes einfach als „mitigated survival“ (FGB 1922: 652), als ‚Abmilderung‘, ‚Humanisierung‘, eines grausamen Ritus auffasst, verkennt die eigentümliche und eigenständige Natur, die „peculiarity“ (10/7/9: 5), der Handlungen, in denen ein Abbild involviert ist bzw. in denen die Akteure so tun, als ob. Das Beltanefest, heißt es dann in MS 143: 18, ist „ja ein Schauspiel“ (aber doch keine „bloße schauspielerische Darstellung“).³⁷ Den Einwand nimmt Wittgenstein in der Vorlesung vom 9. Mai wieder auf. In diesem „Return to Frazer“ (10/7/9: 7) formuliert er zuerst noch einmal die Position des Ethnologen und trägt dann eine längere Stelle aus dem „Chap. on Fire Festivals in Europe“ (10/7/9: 7) vor – wohl anhand der Abridged Edition von 1922.³⁸ Anschließend soll Wittgenstein ungefähr so argumentiert haben: F. thinks this is a remnant of a feast in which a human being was burnt But to say this fails to explain why the story makes an impression indep. of its origin. It is queer that people should p r e t e n d to burn a man. Itˈs also queer that one particular piece of the |a| c a k e should have this significance.

 In diesem Kontext meint Frazer mit „effigy“ (Abbild, Bildnis) den Popanz, den die Feiernden verbrennen; in der „pretence“ wiederum ist auch ein wirklicher Mensch involviert, der carline, den einige Feiernde in das Feuer zu werfen vorgeben. Zum carline siehe unten S. 314 ff.  Siehe dazu unten S. 315. Beltaine – Frazer schreibt „Beltane“ (FGB 1922: 617) und einmal „Bealltaine“ (FGB 1922: 173) –, der erste Mai (May Day), gehört wie auch Samhain (Halloween) zu den „vier jeweils am Vorabend gefeierten Hauptfesten“ der Inselkelten (Figl 2003: 229). Die heute für wahrscheinlich gehaltene Etymologie des angloirischen Wortes ist ‚Bel-Feuer‘.  Wittgenstein trug aus § 4 „The Beltane Fires“ (FGB 1922: 617 ff.) vor, vielleicht auch die einleitenden Sätze, möglicherweise aber nur die von Frazer ungekürzt wiedergegebene Beschreibung des Festes durch den Augenzeugen John Ramsay (FGB 1922: 617 f.). Nach den Worten „Beltane Fires (Midsummer /May-day/ in the Highlands)“ (10/7/9: 7) hält Moore nämlich Ramsays Bericht – und zwar u. a. gleich dessen ersten und dann noch dessen drittletzten Satz – stichwortartig fest. Wittgenstein wird dieses Zeugnis also vollständig mitgeteilt haben.

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The people who do it d o n ˈ t b e l i e v e that once a man was burnt. Hence it follows that p r e t e n d i n g to burn is something wh. has its own feeling and its own seriousness. And, that in other cases a r e a l human being was burnt, only shows that all sorts of d i f f e r e n t things exist side by side. So the alternative of 3 x 3, or 3 x 9, only shows what varieties there are. (10/7/9: 8)

Der Theoretiker Frazer, bemerkt Wittgenstein, trägt die Hypothese, dass in Urzeiten ein Mensch verbrannt wurde, von außen her an die modernen Feste heran. Frazer meint nämlich, jene grausamen Menschenopfer seien schon lange vergessen und ebenso deren Motiv: der Aberglaube, man würde durch sie die Ernte fördern. Die modernen Feiernden – denkt Frazer selbst – wussten nichts von Urzeiten, in denen ein wirklicher Mensch verbrannt wurde und kein Popanz. Diese Vorstellung – Frazers historische Hypothese – gehörte nicht zu ihren ‚Anschauungen‘, sie spielte in ihrem Fest keine Rolle. Dementsprechend hebt Wittgenstein hervor, dass die Simulation einen eigenen Charakter hat. „The experience of making an effigy and throwing in water has a peculiarity wh. may be satisfactory for its own sake: like tearing a photo. of our enemy.“ (10/7/9: 5) „Hence it follows that p r e t e n d i n g to burn is something wh. has its own feeling and its own seriousness.“ (10/7/9: 8) Ambrose hält das Argument stichwortartig fest: „Destruction of an effigy may have its own complex of feelings without being connected with an ancient practice, or with usefulness.“ (AWL: 33) Auf ähnliche Weise hatte Wittgenstein bereits Anfang der dreißiger Jahre die Kalküle betrachtet: Sie haben zu ihrer (kausalen) Geschichte nur eine externe Relation. So auch diese Riten: Weder wussten die modernen Feiernden etwas von jener Geschichte, noch glaubten sie unbedingt, dass ihr Fest der Ernte förderlich sei. Frazers ‚Erklärung‘ stumpft uns für die Eigentümlichkeit, für die ‚Seltsamkeit‘ der pretence ab. Als Formen von pretence unterscheiden sich die neuzeitlichen Feste von den im Golden Bough spekulativ erschlossenen wirklichen Menschenopfern. Wittgenstein betont jedoch nicht nur diesen Unterschied; er unterstreicht auch, dass die modernen Feste selbst heterogen sind. „In the first place“ – bemerkt Frazer am Anfang seiner „Interpretation of the Fire-festivals“ – „we can hardly help being struck by the resemblance which the ceremonies bear to each other, at whatever time of the year and in whatever part of Europe they are celebrated.“ (FGB 1922: 641) „Das Auffallendste schiene mir außer den Ähnlichkeiten“ – entgegnet Wittgenstein in einer späten eigenhändigen Bemerkung – „die Verschiedenheit a l l e r dieser Riten zu sein.“ (MS 143: 8)³⁹ Denselben wichtigen Punkt markiert bereits die Vorlesung: Sie liefert ein konkretes Beispiel der gemeinten „Mannigfaltigkeit“ (MS  Siehe dazu ausführlich unten S. 307 f.

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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143: 8), eine Variation im Detail. Im Golden Bough heißt es: „In some places three times three persons, in others three times nine, were required for turning round by turns the axle-tree or wimble.“ (FGB 1922: 618) Wittgenstein kommentiert diese Stelle über die Alternanz von „3 x 3 or 3 x 9 persons“ (10/7/9: 8): „So the alternative of 3 x 3, or 3 x 9, only shows what varieties there are.“ (10/7/9: 8) Frazers Beschreibung zeigt nicht nur hier Unterschiede, denen seine Theorie nicht gerecht wird.

3.3.5 „That they point, is all there is to it“ „[…] What I was trying to talk about last time was a propaganda for a descriptive method, rather than an explanatory.“ (10/7/9: 6) Dies gibt der Anfang der Vorlesung vom 9. Mai als Anliegen der Auseinandersetzung mit Frazer an; und nachdem Wittgenstein sich auch Darwin vorgenommen hat, beantwortet er die Frage „What has this to do with methods of philosophizing?“ im selben Sinn: „I was tell recommending (6) ‚descriptive method‘ = method wh. tells you various things in right |?| order = order which impresses you, without pretending to thread them on historical thread.“ (10/7/9: 9)⁴⁰ Dass das, was uns beeindruckt, es unabhängig von seiner historischen Herkunft tut, war schon 1931 ein wichtiges Thema. Wittgenstein bemerkt nun: Frazers Auffassung, das moderne Fest sei ein Überlebsel, „fails to explain why the story makes an impression indep. of its origin.“ (10/7/9: 8) Nicht, dass Wittgenstein hier im Golden Bough eine kausale Erklärung vermisst; nur sieht er zwischen aktuellem Eindruck und vergangenen Ereignissen keine notwendige Verbindung. Die Vorlesung vom 15. Mai 1933 – bei Moore ist sie „C o n c e p t o f a n I d e a l “ (10/7/9:18) überschrieben – arbeitet die Analogie zwischen unserer Verwunderung vor dem „B e l t a n e F e s t i v a l “ (10/7/9: 24)⁴¹ und einer „aesthetic question“ (10/7/ 9: 24) heraus. In this case you can observe the same thing being puzzling, as in an aesthetic question. You ask: Why does this thing impress us so much? F. thinks he answers this by: This festival has developed from one in wh. a real man was burnt. I say, this doesnˈt do justice to what we feel. It does impress us, bec. it has a relation to burning a human being, but n o t nec-

 Mit der Nummer „(6)“ bezieht sich Moore auf die Seitenzahl der eben angeführten Stelle in seinem Notizheft.  In Moores Notizheft bilden diese Worte etwas wie eine Zwischenüberschrift.

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

ess. the relation of having developed therefrom.What impresses us is seeing this event along with other similar events. /? (10/7/9: 24)

Im unmittelbaren Anschluss daran las Wittgenstein, der offenbar einen lebhaften Eindruck von Frazers Beschreibungen vermitteln wollte, ausführlich aus „Frazer, Chap. I, King of the Wood“ (10/7/9: 24) vor. Moore fasst die Erzählung vom Waldkönig am Anfang des Golden Bough stichwortartig zusammen (vgl. 10/7/9: 25).⁴² Wittgensteins kritischen Kommentar vermag er dagegen nicht wirklich festzuhalten. Nach folgenden Sätzen bricht die Mitschrift ab; der Rest der Seite ist leer. Now you are puzzled by this story. And you are puzzled less, if you hear similar stories. ? But story can’t be made to seem n a t u r a l , by giving c a u s e s how it arose. That it seems beautiful It can only (10/7/9: 25)

Die übernächste Vorlesung vom 22. Mai 1933 geht erneut auf unser „puzzlement“ ein – diesmal mit Bezug auf das Beltanefest. Goethes Gedicht über die Metamorphose der Pflanzen, das Wittgenstein schon 1931 auf Frazers Golden Bough bezogen hatte, bleibt auch 1933 eine wichtige Referenz. What satisfies my puzzlement about Beltane, is not kind of causal explanation wh. Frazer gives – which is a hypothesis; but simply describing lots of things more or less like Beltane. Goethe in Metamorphose der Pflanzen, suggests that all plants are variations on a theme. What is the theme? G. says „They all point to a hidden law“. But you neednˈt ask: What is the law? T h a t they point, is all there is to it. ? Darwin made a hypothesis to account for this. But you might treat it quite differently. You might say what is satisfactory in Darwin is not the hypothesis, but the putting the facts in a system – helping us to overlook them. (10/7/9: 33)

Bei diesem ‚Chor‘ – anders als 1931 handelt es sich um die Feuerfeste – verhält es sich offenbar ähnlich wie beim galtonschen Kompositbild: Man dürfe nicht annehmen, dass Letzteres einen echten Einzelmenschen porträtiere; und auch Frazers ‚Kompositbild‘, seinen ‚Chor‘, dürfe man nicht in dem Sinne verstehen, dass hinter den beschriebenen Gebräuchen etwas wie ein verborgenes (kausales) ‚Gesetz‘ stecke. So die Vorlesung. Vor dem Hintergrund von Wittgensteins neuem

 Wie Moores Mitschrift zu entnehmen, trug Wittgenstein die ersten zwei Seiten der Abridged Edition vor: „Who does not know Turner’s picture of the Golden Bough? […] then we may fairly infer that at a remoter age the same motives gave birth to the priesthood of Nemi.“ (FGB 1922: 1 f.)

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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bedeutungstheoretischem Ansatz werden hier die Variationen anders aufgefasst und stärker betont: Nach dem geheimnisvollen ‚Gesetz‘, nach dem Thema, das alle Pflanzen variieren, dürfe man nicht fragen. Man dürfe nicht fragen „What is the law?“. „T h a t they point, is all there is to it.“ (10/7/9: 33)⁴³ Es gibt nur den ‚Chor‘; das ‚Gesetz‘ ist kein empirisches, sondern lediglich Frazers Form der Darstellung bzw. der ‚Aspekt‘, unter dem sich der ‚Chor‘ im Golden Bough zeigt; und bereits die Frage dürfte hier wie Goethes ‚heiliges Rätsel‘ nur Schein sein: „Es ist als wenn hier ein Rätsel wäre; aber es muß doch kein Rätsel sein.“ (MS 137: 97a)⁴⁴ So gedeutet, steht Goethes Morphologie auch in der Vorlesung für die von Wittgenstein befürwortete „‚descriptive method‘ = method wh. tells you various things in r i g h t |?| order = order which impresses you, without pretending to thread them on historical thread.“ (10/7/9: 9) Frazer erhebt zwar einen historischen Anspruch; aber der Golden Bough – so darf man diese Stelle lesen – stellt uns auch dann zufrieden, wenn er diesen Anspruch nicht erfüllt: Frazer löst unsere ‚Schwierigkeit‘ mit den Feuerfesten tatsächlich auf, wenn auch nicht durch eine historische Hypothese, sondern „simply describing lots of things more or less like Beltane“ bzw., wie es von Darwin heißt, „putting the facts in a system – helping us to overlook them.“ (10/7/9: 33). Um diese Leistung geht es auch am 26. Mai 1933. In der letzten Vorlesung, die auf Frazer eingeht, bezieht sich Wittgenstein nicht nur auf die Erzählung vom Priesterkönig, die prominenteste unter den „interesting stories“, die der Ethnologe durch seine kausale Hypothese verbindet, und nicht nur auf die Beschreibungen der Feuerfeste, sondern auf den Golden Bough im Ganzen. „So Frazer tells us lots of interesting stories, and joins them up by threading them on a hypothesis; but what satisfies is not the hypothesis“ (10/7/9: 38 f.), „not the hypothesis as a hypothesis“ (10/7/10: 44), sondern eben als Synopse, als Leitfaden, der die ‚Geschichten‘ formal, z. B. erzählerisch, miteinander verbindet.

3.3.6 Frazer, Darwin und Freud Darwins Evolutionstheorie, suggeriert Wittgenstein, mache aus der ‚Metamorphose‘ eine empirische Hypothese bzw. den Gegenstand einer kausalen Erklärung. Haeckel hatte darin den Vorzug der Evolutionstheorie erblickt. Wittgenstein schlägt dagegen vor, (nicht nur Frazers, sondern auch) Darwins Leistung ähnlich  Auch hier setzt Moore ein Fragezeichen; und in Mind wird er die Analogie zu Goethes ‚Metamorphose der Pflanzen‘ nicht erwähnen.  In dieser handschriftlichen Bemerkung, in der Goethes Verse zitiert werden, geht es nicht um Frazer, sondern um Traumdeutung. Siehe dazu unten S. 327 f.

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

zu betrachten wie diejenige Goethes. Dies liefe darauf hinaus, in der Evolution einen rein formalen Zusammenhang zu sehen und keinen empirischen. Diese fragwürdige Einschätzung Darwins bedarf einer Erläuterung. Die Abhandlung hatte die Evolutionstheorie noch als naturwissenschaftliche Hypothese anerkannt, wenn auch nur, um sie von der Philosophie abzuheben (vgl. TLP 4.1122). Auch Wittgensteins problematische ‚ästhetische‘ Lektüre der Evolutionstheorie hat einen antikausalen Duktus: Diese spätere Auffassung von Darwins Leistung als Anordnung (Synopsis) und gleichnishafter ‚Erklärung‘ klingt an Spengler an, der die Evolutionstheorie und „die Anwendung des Kausalprinzips auf Lebendiges“ (UdA 1923, Bd. 1: 477) so kritisiert: „Beweisen nennt der Darwinist, eine Auswahl von Tatsachen so ordnen und bildhaft so erklären, daß sie seinem historisch-dynamischen Grundgefühl ‚Entwicklung‘ entspricht.“ (UdA 1923, Bd. 1: 476)⁴⁵ Die Synopsis sehe bei Darwin zwar wie eine wissenschaftliche Hypothese aus. Aber eher als „den wirklichen Sachverhalt“ habe Darwin eigentlich „nur eine neue Möglichkeit“ (MS 116: 220) entdeckt. „Auf eine Möglichkeit kommen, wie etwas hat geschehen können, ist auch eine E n t d e c k u n g . Und darum meint man oft, man habe den wirklichen Sachverhalt entdeckt, wenn man nur eine neue Möglichkeit gefunden hat, wie es sich hat |hätte| verhalten können. //gefunden hat: wie es sich zugetragen haben könnte.// //: wie es sich auch verhalten konnte.// (Darwins Theorie.)“ (MS 116: 220) In dieser Hinsicht vergleicht Wittgenstein Darwin mit Kopernikus: „Das eigentliche Verdienst eines Copernicus oder Darwin war nicht die Entdeckung einer wahren Theorie, sondern eines fruchtbaren neuen Aspekts.“ (MS 112: 117v; TS 211: 518)⁴⁶ Bei Darwin und Kopernikus ist die neu entdeckte Möglichkeit, gleichgültig, ob sie selbst ihre jeweilige Hypothese (zureichend) belegt haben, prinzipiell einem empirischen Test zugänglich (wie die Relativitätstheorie durch Eddingtons Experiment bestätigt worden ist). Sieht Wittgenstein davon ab? Er würde wahrscheinlich nicht verneinen, dass die kopernikanische Auffassung in der Folgezeit zu einer empirischen Hypothese weiterentwickelt wurde. Er scheint allerdings nicht wahrzunehmen, dass Darwins Evolutionstheorie diesen Status hatte, und

 Wittgenstein stimmt mit Spengler überein, wenn er Goethe von Darwin abhebt. Siehe auch oben S. 250 f.  Denselben Punkt hebt Wittgenstein auch in den von Y. Smythies aufgezeichneten „Lectures on Freedom of the Will“ hervor: „Scientific discoveries partly spring from the direction of attention of lots of people, and partly influence the direction of attention. | Cf. Evolution.“ (Lectures on Freedom of the Will, in PO: 440) In den Philosophischen Untersuchungen heißt es allgemeiner: „Begriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse.“ (PU, § 570)

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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zwar von Anfang an, selbst wenn die biologischen Grundlagen erst nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Genetik nachgeliefert wurden.⁴⁷ Wittgenstein insistiert nämlich auf dem Gedanken, dass diese Entdeckungen, wenn man sie nur richtig versteht, mit Goethes Morphologie verwandt sind.⁴⁸ Bei Freud sei das Wesentliche „the enormous field of psychical facts which he arranges“ (10/7/9: 50; vgl. MWL: 107). Ähnliches behauptet Wittgenstein über die Evolutionstheorie: „ You might say what is satisfactory in Darwin is not the hypothesis, but the putting the facts in a system – helping us to overlook them.“ (10/7/9: 33; vgl. MWL: 107.) In Wittgensteins Augen missversteht Darwin die Leistung der Evolutionstheorie auf ähnliche Weise wie Freud die der Psychoanalyse: Auch die Evolutionstheorie wäre keine kausale Hypothese, sondern – wie in der Vorlesung die von Wittgenstein befürwortete deskriptive Methode – eine übersichtliche Darstellung, „wh. tells you various things in r i g h t |?| order = order which impresses you,without pretending to thread them on historical thread.“ (10/ 7/9: 9) ‚Richtig‘ heißt demnach nicht ‚empirisch, (natur)historisch richtig‘, sondern einfach ‚beeindruckend‘, d. h. durch die Zustimmung der Gesprächspartner besiegelt. Wittgenstein hätte sich mit dem Argument zufrieden geben können, dass Frazers Übertragung des evolutionären Ansatzes auf Kulturgeschichtliches spekulativ und letzten Endes metaphorisch ausgefallen ist. Er will seinen Vorschlag

 Wittgenstein setzt sich über den Unterschied zwischen soziologischem und wissenschaftstheoretischem Aspekt hinweg, zwischen der undarwinian revolution (v. a. der z.T. fragwürdigen publizistischen Aufnahme) und Darwin selbst. Wittgenstein sieht eine Analogie zwischen dem „Darwin upheaval“ und der Anziehungskraft der Psychoanalyse (LA: 26). Der „Darwin upheaval“ – die öffentliche Diskussion, insbesondere, aber nicht nur, die Rezeption unter NichtWissenschaftlern – ist teilweise durchaus so verlaufen, wie er sie schildert: „[P]eople were immensely attracted by the unity of the theory, by the single principle – which was taken to be the obvious solution. The certainty (‚of course‘) was created by the enormous charm of this unity. People could have said: ‚… Perhaps sometime we shall find grounds.‘ But hardly anyone said this; they were either sure that it was so, or sure that it was not so.“ (LA: 26, Anm. 6) Darwins Einheit stiftende Idee war „that of monocellular organisms becoming more and more complicated until they became mammals, men, etc.“ (LA: 26) Die Überzeugung, mit der Anhänger und Gegner von Freud und Darwin demnach ihre jeweilige Position vertreten, ist ähnlicher Natur. Frazers Hypothese über den urzeitlichen Ursprung der fire-festivals drängt sich dem Leser des Golden Bough mit einer vergleichbaren nicht empirischen Sicherheit auf. Siehe dazu ausführlich unten S. 319 ff. – Zu einer kritischen Gegenüberstellung von Wittgenstein und Monod in Hinsicht auf Darwin vgl. Putnam 1983: 187 f.  Und damit auch mit Wittgensteins Philosophie, insbesondere mit seiner Anwendung von fiktiven Sprachspielen als Vergleichsobjekten. Aber die Analogie zur Philosophie stimmt nur bedingt, wenn philosophische Fragen (Verwechslungen) aus prinzipiellen Gründen nicht empirisch zu lösen sind.

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

jedoch nicht auf den Golden Bough (und auf die Psychoanalyse) beschränken; er behauptet vielmehr auch in eigenhändigen Bemerkungen immer wieder, dass Darwin selbst einen formalen Zusammenhang mit einem empirischen verwechselt.

3.3.7 „Why does this thing impress us so much?“ Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Vorlesung – und erst nach Wittgensteins Tod – veröffentlicht Moore seinen Bericht in Mind. Er stellt implizit in Frage, dass die „assumptions which he [Wittgenstein; MB] said were constantly made by Frazer in the ‚Golden Bough‘“ (MWL: 103) wirklich Annahmen waren, von denen der Ethnologe ausging. Der dritte Einwand auf der Liste vermag Moore offenbar am wenigsten zu überzeugen. Demnach ‚beschuldigte‘ Wittgenstein Frazer folgenden Fehlers: (3) That it was a mistake to suppose that why, e. g. the account of the Beltane Festival “impresses us so much” is because it has “developed from a festival in which a real man was burnt”. He accused Frazer of thinking that this was the reason. He said that our puzzlement as to why it impresses us is not diminished by giving the c a u s e s from which the festival arose, but is diminished by finding other similar festivals: to find these may make it seem “natural”, whereas to give the causes from which it arose cannot do this. In this respect he said that the question “Why does this impress us?” is like the aesthetic questions “Why is this beautiful?” or Why will this bass not do?” (MWL: 106 f.)

Hier wird – gibt Moores skeptischer Bericht zu verstehen – eine Frage gestellt, die Frazer fremd ist: Die entstehungsgeschichtliche Methode will nämlich die Feuerfeste selbst erklären, nicht den starken Eindruck, den sie auf uns machen mögen. Wittgenstein unterstellt dem Ethnologen daher eine Frage, um die es diesem gar nicht geht.⁴⁹ So Moores impliziter Vorbehalt. Wittgensteins späte Bemerkungen (MS 143) stellen tatsächlich in Frage, dass die ferne Entstehung aus einem Menschenopfer der Grund ist, weshalb jene Feste uns so beeindrucken. Dass Frazer dies ‚annimmt‘ oder ‚denkt‘, behaupten diese eigenhändigen Notate allerdings nicht. Es wäre auch falsch, dem Golden Bough eine solche These zu unterschieben: Frazer fragt nicht, was ihn bzw. ‚uns‘ beeindruckt. Unklar ist nur, was Wittgenstein ihm wirklich vorgeworfen hat. Deshalb ist Moores Vorbehalt, der in der Sekundärliteratur oft wiederaufgenommen wurde,⁵⁰

 Zur angeblichen Hauptfrage des Buches siehe oben § 2.2.2.1, S. 205 ff.  Cioffi, der sich immer wieder auf Moore bezieht (vgl. etwa Cioffi 1998: 111), richtet den in dessen Bericht nahegelegten Einwand explizit gegen Wittgenstein. Cioffi sieht nämlich nicht ein,

3.3 Die Auseinandersetzung mit Frazer im May Term 1933

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im folgenden Abschnitt anhand von Wittgensteins späten eigenhändigen Bemerkungen über die Feuerfeste zu erläutern. Hier sei nur die Frage berührt, inwieweit Moores später Bericht und die viel detailliertere Mitschrift von 1933 sich in diesem Punkt decken. Laut Moores Notizheft 10/7/9 stellt Wittgenstein zuerst lediglich fest, dass Frazers entstehungsgeschichtliche Hypothese nicht erklärt, „why the story makes an impression indep. of its origin“ (10/7/9: 8). Dann aber heißt es tatsächlich auch: Frazer meint (thinks), dass er die Frage durch seine entwicklungsgeschichtliche Hypothese beantwortet (answers). Wittgenstein wendet dagegen ein: „I say, this doesnˈt do justice to what we feel.“ (10/7/9: 24) Wir fühlen nämlich, dass das Fest uns unabhängig von seiner Herkunft beeindruckt. „It does impress us, bec. it has a relation to burning a human being, but n o t necess. the relation of having developed therefrom. What impresses us is seeing this event along with other similar events. /?“ (10/7/9: 24) Die Beziehung zwischen den modernen Feuerfesten und einem Menschenopfer muss – anders als Frazer denkt – keine historische, entwicklungsgeschichtliche sein: Es kann sich lediglich um eine ‚formale‘ handeln.⁵¹ Laut dieser Vorlesung ist „seeing this event along with other similar events“ nicht erst das, was uns beruhigen kann, sondern bereits das,was uns beeindruckt. Ist damit gemeint, dass Frazers Beschreibung uns beeindruckt, weil sie die modernen Feste mit Menschenopfern zusammenstellt? Wittgensteins spätere eigenhändige Notate entscheiden sich gegen diese Annahme. Will die Vorlesung hier für den Eindruck, den die Feste auf uns machen, eine eigene ‚Erklärung‘ bieten? Nein: Das „Weil“ ist hier nicht kausal zu verstehen: Die ästhetische Frage, die sich vor dem „B e l t a n e F e s t i v a l “ stellt, „Why does this thing impress us so much?“ (10/7/9: 24), ist von der empirischen, psychologischen, ob es uns beeindruckt, zu unterscheiden. Wenn wir uns fragen, warum die fire-festivals uns so beeindrucken, suchen wir nicht nach einer psychologischen Erklärung.Wir wollen nicht die Ursache ermitteln. Als Antwort erwarten wir keine psychologischen Gründe (also keine Ursachen), sondern ästhetische (vgl. AWL: 39).

„why Frazer should be criticized for not answering a question he never posed“ (Cioffi 1998: 94); „there are no substantial textual grounds for holding that Frazer was subliminally preoccupied with this question“ (Cioffi 1998: 4). Letzteres trifft zu. Wiederum findet man selbst in Moores eigenen Mitschriften keine Anhaltspunkte dafür, dass Wittgenstein die ihm in Moores späterem Bericht unterstellte Behauptung tatsächlich aufgestellt habe, Frazer wolle kausal erklären, warum die Feuerfeste ‚uns‘ so beeindruckten.  So äußert sich Wittgenstein über die Feuerfeste auch in MS 143. Siehe dazu unten S. 321 f. Zu kausalem und formalem Zusammenhang in den Bemerkungen von 1931 siehe oben S. 233 ff., 240 ff.

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3 Die Vorlesung im May Term 1933

So steht es für Wittgenstein auch in der Psychoanalyse: Auch Freud findet keine psychologischen Gründe (keine Ursachen), er gibt ästhetische. Der Patient kann dem Analytiker nämlich nur bestätigen, dass er aus dem und dem Grund gelacht hat; diese Anerkennung bekräftigt jedoch keine Hypothese über die Ursache seines Lachens. Auch ‚Warum der Bericht vom Maifest uns (so) beeindruckt?‘ zählt zu den ästhetischen Fragen. Wir mögen zwar Sätze der Form ‚wir sind beeindruckt, weil …‘ oder ‚wir sind aus diesem und jenem Grund beunruhigt‘ verwenden; aber wir tun es nur, um auf etwas die Aufmerksamkeit zu lenken, um das Fest zu beschreiben; denn ästhetische Fragen werden durch Beschreibungen, Vergleiche, Unterscheidungen beantwortet, die unsere Betrachtungsweise ändern, gleichsam einen Aspektwechsel hervorbringen. So liefert der Golden Bough im Grunde durchaus Mittel, jene ‚Schwierigkeit‘ aufzulösen: durch seine ‚Tatsachensammlungen‘. „Now you are puzzled by this story. And you are puzzled less, if you hear similar stories. ? | But story can’t be made to seem n a t u r a l , by giving c a u s e s how it arose.“ (10/7/9: 25) Der Erzählung vom Priesterkönig werden im Golden Bough ähnliche Geschichten, dem beeindruckenden Ritus ähnliche Zeremonien zur Seite gestellt, und unsere Verwunderung, obwohl nicht ganz aus der Welt geschafft, nimmt wenigstens ab; denn erst in diesem synoptischen Rahmen scheint die Erzählung vom Priesterkönig ‚natürlich‘ oder weniger ‚verwunderlich‘. Auch philosophische Unklarheiten und Beunruhigungen gehen immer wieder auf einen Anschein der Einzigartigkeit zurück und lösen sich mit diesem auf, etwa wenn unsere Sprache in ihre ‚natürliche Umgebung‘ fiktiver Sprachspiele gestellt wird und das scheinbar Einzigartige daraufhin seinen Aspekt wechselt.⁵² Dieser Komplex von Fragen wird einige Jahre später zum Hauptthema in den autographen Reflexionen über die Fire-festivals of Europe. In diesen losen Blättern setzt sich Wittgenstein viel eingehender als je zuvor mit der Frage auseinander, warum derlei Riten ihn – ‚uns‘ – so tief beeindrucken und beunruhigen.

 Siehe dazu oben S. 252 f.

4 Die spätere Auseinandersetzung mit dem Golden Bough: Die losen Blätter in der Abridged Edition (MS 143) 4.1 Familienähnlichkeit und „Assoziation der Gebräuche“ 1936 bekam Wittgenstein die Abridged Edition geschenkt. In dieses Exemplar legte er, wir wissen nicht wirklich, wann,¹ einige lose Blätter ein (MS 143). In jedem ist die Seitenzahl notiert, auf die sich die jeweilige Bemerkung bezieht. Schon aus diesem Detail geht der Charakter dieser Notizen hervor: eher punktuelle Stellungnahmen als Material zu einem ‚Gesamtüberblick‘ über den Golden Bough. Nur die Bemerkungen über Kapitel LXII (The Fire-festivals of Europe) und LXIII (The Interpretation of the Fire-festivals) haben den Charakter, wenn nicht einer Abhandlung, so doch einer anhaltenderen Auseinandersetzung. Sie zeigen einen neuen Blick für den intrakulturellen Kontext des einzelnen Ritus.

 In den unterschiedlichen Editionen bildet das nicht eindeutig zu datierende MS 143 den zweiten Teil der „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“. Rhees zufolge entstanden die Bemerkungen in MS 143 wesentlich später als diejenigen in MS 110 und TS 211, d. h., frühestens nach 1936, „wahrscheinlich erst nach 1948“. Rhees begründet seine eher vage Angabe nicht weiter. Offenbar ist der Terminus a quo einfach das Jahr, an dem Wittgenstein von R. Townsend die Abridged Edition bekam. (Vgl. Rhees in MDN: 220, Anm. 16.) Dass Rhees dazu neigt, die Aufzeichnungen auf nach 1948 zu datieren, könnte mit dem Fundort zusammenhängen. (So die Annahme in Koritensky 2002: 194, Anm. 304.) „Miss Anscombe found them among some of his things after his death.“ (Rhees: „Introductory Note“, in GB 1967: 234; GB 1979: vi.) Stimmt dieser Datierungsvorschlag, dann sind die Bemerkungen in MS 143 erst nach den Philosophischen Untersuchungen entstanden; und Wittgenstein hat sich noch in seinen letzten Lebensjahren mit dem Ethnologen beschäftigt. Kann man aber wenigstens von Rheesˈ wesentlich früherem und schon deshalb vorsichtigerem Terminus a quo, dem Jahr 1936, ausgehen? Es bleibe erst einmal dahingestellt, ob alle losen Blätter, die in Wittgensteins Exemplar eingelegt waren, aus derselben Zeit stammen; und, selbst wenn er den Band, in dem seine Notizen dann gefunden wurden, wirklich erst 1936 bekommen hat, scheint er dennoch die Abridged Edition, möglicherweise ein geliehenes Exemplar, spätestens im May Term 1933 benutzt (und seinen Zuhörern daraus vorgetragen) zu haben. Entstanden die Aufzeichnungen, oder einige davon, vielleicht bereits im Zusammenhang der Vorlesung vom May Term 1933? Ich kann es weder ganz ausschließen noch wirklich belegen. Bis auf weitere Forschungsergebnisse (J. G. F. Rothhaupt untersucht gerade die Datierungsfrage) betrachtet man diese Aufzeichnungen am besten als undatiert, selbst wenn m. E. textuelle Zusammenhänge bei einigen eine Entstehung in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre nicht unwahrscheinlich machen. Siehe dazu unten S. 319 ff.

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4 Die losen Blätter in der Abridged Edition (MS 143)

Diese Aufmerksamkeit hängt auch mit dem Gelesenen zusammen: Der Golden Bough schließt in diesen Kapiteln an Mannhardt an, und Frazer schränkt ausnahmsweise die Betrachtung auf einen bestimmten Brauch in einem örtlich und historisch umgrenzten Kulturkreis ein: auf die europäischen Feuerfeste (u. a. in Schlesien), die s. E. vor allem keltischen Ursprungs sind, und insbesondere auf „the Beltane fires in the Highlands of Scotland“ (FGB 1922: 653). Den Einfluss von Frazers Textvorlage auf Wittgensteins neue Orientierung darf man allerdings auch nicht überbewerten. Bezeichnend ist, dass der Philosoph gerade in diesem Fall, in dem es bei Frazer ausnahmsweise einmal um historisch und kulturell miteinander verbundene Erscheinungen geht, die Unterschiede zwischen den kollationierten Riten kritisch betont.Vor allem entgeht Wittgenstein nun der Hauptfehler der alten vergleichenden Methode nicht: das Dekontextualisieren der Gebräuche. 1931 schien sein morphologischer Ansatz diesen Mangel zu reproduzieren. Zwar denkt er auch in den späteren losen Blättern weiterhin an eine morphologische Abwandlung von Frazers auflistendem Stil, in dem Riten aus verschiedenen Kulturen vergleichend zusammengestellt werden; aber er sieht nun, dass Frazer die „U m g e b u n g einer Handlungsweise“, wenn überhaupt, nur äußerst unzulänglich beschreibt.² Wittgensteins Blick für den aktuellen Handlungskontext gehört zu einem veränderten kulturellen Umfeld, das von späteren Ethnologen wesentlich mitgeprägt ist. Auch von diesen aber trennen ihn tiefe Unterschiede.³ Die erwünschte detaillierte Beschreibung des Beltanefestes betrachtet er nicht als seine eigene Aufgabe; er sieht darin ebenso eine formale Anordnung des ethnologischen Materials wie in der Zusammenstellung verwandter Riten. 1931 hatte er Gebräuche, die Frazer aus verschiedenen Kulturkreisen aufgelesen hatte, einen „Chor“ bilden sehen, der auf etwas wie ein geheimes „Gesetz“ zu weisen schien: Selbst wenn uns so zumute ist, als ob wir hinter dem „Chor“ ein goethesches „Gesetz“ erahnen würden, dürfen wir nach diesem jedoch nicht fragen. Wir würden nämlich im besten Fall keine Antwort bekommen: „That they point,“ – heißt es in der Vorlesung vom May Term 1933 – „is all there is to it.“ (10/7/ 9: 33) Folgende späte Bemerkung – wie in nuce schon die Vorlesung – geht nun über den frühen morphologischen Ansatz hinaus, insofern sie das Konzept der „Familienähnlichkeit“ in Anwendung bringt:

 Diese Umgebung bilden allerdings nicht nur kulturspezifische, sondern auch ganz allgemeine Tatsachen.  Siehe dazu unten S. § 5.3, insbes. S. 348 ff.

4.1 Familienähnlichkeit und „Assoziation der Gebräuche“

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Das Auffallendste schiene mir außer den Ähnlichkeiten die Verschiedenheit a l l e r dieser Riten zu sein. Es ist eine Mannigfaltigkeit von Gesichtern mit gemeinsamen Zügen die da und dort immer wieder auftauchen. Und was man tun möchte ist Linien ziehen die die gemeinsamen Bestandteile verbinden. Es fehlt dann noch ein Teil der Betrachtung und es ist der, welcher dieses Bild mit unsern eigenen Gefühlen und Gedanken in Verbindung bringt. Dieser Teil gibt der Betrachtung ihre Tiefe. (MS 143: 8)

Aus dem „Chor“ wird jetzt etwas wie ein Familienporträt, „eine Mannigfaltigkeit von Gesichtern mit gemeinsamen Zügen die da und dort immer wieder auftauchen“ (MS 143: 8). Wir glauben hiernach nicht, hinter dem „Chor“ ein goethesches „Gesetz“ zu erahnen, sondern zeichnen nun selbst die „Linien“, „die die gemeinsamen Bestandteile verbinden“ (MS 143: 8). Dies ist aber lediglich die erste von zwei Phasen (‚Teilen‘) der Betrachtung, die Wittgenstein nun explizit unterscheidet. Zunächst sind die Feste gleichsam zu einem Familienbild zusammenzustellen; daraufhin müssen wir dieses synoptische Bild mit „unsern eigenen Gefühlen und Gedanken“ verbinden. Von Wittgensteins neuem Standpunkt aus scheint Frazer zu sehr die Ähnlichkeiten (den angeblichen gemeinsamen Zweck) und zu wenig die Unterschiede zwischen den Feuerfesten hervorzuheben. Es handelt sich, betonen die losen Blätter, um „v e r s c h i e d e n e [ ] Gebräuche“ (MS 143: 21): Die „Verschiedenheit a l l e r dieser Riten“ (MS 143: 8) ist die Kehrseite ihrer Familienähnlichkeit. Die Feuerfeste haben zwar offenbar „einen gemeinsamen Geist“ (MS 143: 22), der sie gleichsam zu einer Familie macht. Sie müssen aber nicht alle dieselben Merkmale teilen; eventuell allen Festen gemeinsame Züge sind nicht unbedingt ‚charakteristisch‘; und die ‚charakteristischen‘ Züge sind wohl jeweils nur einigen oder auch vielen dieser Feste gemeinsam, aber jedenfalls nicht allen. Wer „die gemeinsamen Bestandteile“ durch „Linien“ verbindet, erstellt einen rein formalen Zusammenhang: Weder wird dadurch ein gemeinsamer Ursprung dieser Riten nachgewiesen noch eine gemeinsame Erklärung geliefert. Insofern ist die hier anvisierte formale Betrachtung, die keine allen Festen gemeinsamen Wesensmerkmale ans Licht bringt, sondern eine Reihe von Familienähnlichkeiten, mit den philosophischen Bedeutungsanalysen verwandt. Wittgenstein nennt diese Familienähnlichkeit auch eine „Assoziation der Gebräuche“. „In allen diesen Gebräuchen sieht man allerdings etwas, [sic] der Ideenassoziation ä h n l i c h e s |und mit ihr verwandtes.| Man könnte von einer Assoziation der Gebräuche reden.“ (MS 143: 9)⁴ Frazer erklärt Magie im Sinne der  „Ernst spricht von einer ‚Assoziation aus Anschauungen‘, Ernst: 272, und Wittgenstein von einer ‚Assoziation der Gebräuche‘“ (Nyíri 1979: 90, Anm. 28). Wittgensteins Anmerkung über die Assoziation der Gebräuche ist allerdings nicht unbedingt eine Spur seiner Ernst-Lektüre, denn die Ideenassoziation spielt bei Frazer selbst eine grundlegende Rolle.

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4 Die losen Blätter in der Abridged Edition (MS 143)

assoziationistischen Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts aus den fundamentalen Assoziationsgesetzen: Jeweils aus dem der Ähnlichkeit und aus dem der Kontiguität gehen sympathetic und homoeopathic magic hervor, die von Frazer unterschiedenen zwei Grundarten der Magie. Die von ihm jeweils gesammelten Gebräuche finden also ihre gemeinsame (psychologische, kausale) Erklärung in einer bestimmten Ideenassoziation. Wittgensteins Begriff „Assoziation der Gebräuche“ ist nur scheinbar ein Zugeständnis an diesen Assoziationismus. Er ist nämlich eher als Berichtigung zu verstehen: als Alternative zur Ideenassoziation. Frazer zufolge liegt diese den Gebräuchen kausal zugrunde. Wittgensteins Assoziation der Gebräuche ist dagegen eine rein formale und keine psychologische. Sie erklärt die Gebräuche nicht, sondern ist die Form ihrer morphologischen Betrachtung. Sie assoziiert, verbindet die Gebräuche direkt miteinander, ohne hypothetische Zusätze.

4.2 „Die Gelehrten die immer e i n e Theorie haben möchten!!!“ Sonnentheorie und Reinigungstheorie Wie in der Vorlesung vom May Term 1933 spielt auch in MS 143 die Kritik der impliziten Voraussetzung, es ließe sich für eine Handlungsweise ein einziges, wesentliches Motiv angeben, eine wichtige Rolle. Wittgenstein kritisiert die Idee, alle fire festivals ließen sich durch eine einzige Ideenassoziation erklären. Innerhalb der evolutionären Anthropologie war eine kontroverse Debatte über die möglichen Erklärungen jener Feste entstanden. Frazer hatte an dem Disput entscheidenden Anteil, wechselte jedoch wiederholt seine Meinung und bezog in den aufeinanderfolgenden Ausgaben seines Hauptwerkes unterschiedliche Positionen.⁵ In der einbändigen Ausgabe von 1922, auf die Wittgenstein sich bezieht, führt Frazer zwei konkurrierende Auffassungen an: Wilhelm Mannhardts Erklärung der Feuerfeste als Sonnenzauber und Edward Westermarcks Reinigungstheorie. Mannhardts „solar theory“ versteht – so Frazer – die Feuerfeste als „suncharms or magical ceremonies intended, on the principle of imitative magic, to ensure a needful supply of sunshine for men, animals, and plants by kindling fires which mimic on earth the great source of light and heat in the sky.“ (FGB 1922: 642)⁶ Laut Westermarcks „purificatory theory“ dagegen haben „the ceremonial fires […] no necessary reference to the sun but are simply purificatory in intention, being  Einige Zeit vor der Abridged Edition (1922) hatte sich Frazer im letzten Teil der zwölfbändigen dritten Ausgabe zu dem Thema geäußert. Vgl. FGB III 10: 329 ff. Zu seinen Inkonsistenzen vgl. insbes. Smith 1973.  Zu Wittgensteins Lektüre dieser Seiten der Abridged Edition vgl. Fretlöh 1987: 74.

4.2 „Die Gelehrten die immer eine Theorie haben möchten!!!“

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designed to burn up and destroy all harmful influences, whether these are conceived in a personal form as witches, demons, and monsters, or in an impersonal form as a sort of pervading taint or corruption of the air.“ (FGB 1922: 642) Die zwei Theorien gehen laut Frazer von „two very different conceptions of the fire“ aus. In Mannhardts Sonnentheorie ist das Feuer wie die Sonne „a general creative power which fosters the growth of plants and the development of all that makes for health and happiness“(FGB 1922: 642).Westermarcks Reinigungstheorie dagegen sieht im Feuer „a fierce destructive power which blasts and consumes all the noxious elements, whether spiritual or material, that menace the life of men, of animals, and of plants“(FGB 1922: 642). „According to the one theory the fire is a stimulant, according to the other it is a disinfectant; on the one view its virtue is positive, on the other it is negative.“ (FGB 1922: 642) 1922 berichtet Frazer, er habe zunächst zwischen beiden Hypothesen vermitteln wollen: „[W]hile the imitation of sunshine in these ceremonies was primary and original, the purification attributed to them was secondary and derivative.“ (FGB 1922: 642 f.) Jetzt lässt Frazer diesen Vermittlungsversuch jedoch fallen: Er wägt die zwei alternativen Erklärungen noch einmal ab und entscheidet sich zuletzt für Westermarcks Hypothese. Wittgenstein kritisiert den sich in dieser Ausgabe durchsetzenden Wunsch, „eine Theorie“ – und nur eine – haben zu wollen. „Wenn sich einem Menschen ein Gedanke aufdrängt (Feuer-Reinigung) und einem ein anderer (Feuer-Sonne) was kann wahrscheinlicher sein, als daß sich einem Menschen beide Gedanken aufdrängen werden.“ (MS 143: 24 f.) Wie einstmals Frazer vermittelt auch Wittgenstein zwischen Westermarcks und Mannhardts Hypothesen. „Aber nichts kann wahrscheinlicher sein als daß die denkenden Menschen Reinigungszeremonien auch wo sie ursprünglich nur als solche gedacht gewesen wären später mit der Sonne in Zusammenhang gebracht haben.“ (MS 143: 24) Wittgenstein koppelt Ursprung und Gegenwart radikaler voneinander ab als der frühe Frazer. Der hypothetische Ursprung entscheidet nicht über die aktuelle Erscheinung. Die zwei Gedanken – der ursprüngliche und der später hinzukommende – bilden in der Gegenwart eine Einheit. Diesmal scheint auch Wittgenstein mit einer Entwicklungshypothese zu argumentieren; und sie ist gleichsam das Spiegelbild von Frazers einstweiligem Vermittlungsversuch. Aber Wittgensteins scheinbare Entwicklungshypothese ist doch nur ein Gedankenexperiment, mit dem er zeigen will, dass die Gelehrten die genetische Reihenfolge einfach postulieren und zwar willkürlich: Die umgekehrte Reihenfolge (erst Reinigungszeremonien, dann Nachahmung der Sonne) ist nämlich nicht weniger ‚wahrscheinlich‘ – im formalen Sinn. „Auch wenn man nichts von einer solchen Verbindung des Reinigung und SonneGedankens wüßte könnte man annehmen, daß er irgendwo wird aufgetreten sein.“ (MS 143: 25) Ganz abgesehen davon, ob jene Verbindung eine historisch belegte Tatsache ist

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oder nicht, stellt sie eine formale Möglichkeit dar, wie wir sie uns selbst nach Paul Ernsts Methode ausdenken können.⁷ Wittgenstein will hier keineswegs gegen das von ihm selbst ausgesprochene Verbot hypothetischer (genetischer) Erklärungen verstoßen. Er will eigentlich keine empirische Entwicklungshypothese aufstellen, sondern wendet einfach seine Technik an, mögliche Fälle und Alternativen zu erfinden, um auf eine bestimmte Erscheinung von einem neuen Gesichtspunkt aus zu blicken. Die alternative formale Möglichkeit zeigt, dass zwischen Mannhardts und Westermarcks Theorie keine zwingende Alternative besteht. So kritisiert Wittgenstein „The Interpretation of the Fire-festivals“ in Kapitel LXIII der Abridged Edition. In seinen ausführlichen Bemerkungen zum vorangehenden Kapitel LXII, „The Fire-festivals of Europe“, geht es indes nicht primär darum, ob Frazers Theorien historisch zutreffen. Der Ton der Auseinandersetzung ist hier weit weniger polemisch und ungeduldig als Anfang der dreißiger Jahre. Wittgenstein ist sich bewusst, dass die Fragen, mit denen er ringt, nicht trivial sind. Er selbst hat sie noch nicht gelöst. Er versucht nun wie schon 1931, aber viel eindringlicher, über Erfahrung und Anliegen des Autors und seiner Leser Klarheit zu erzielen: auch – und vielleicht: vor allem – über seine eigene.

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in den Bemerkungen über die Fire-festivals of Europe 4.3.1 „Der Begriff des ‚Festes‘“ und seine historischen Wandlungen Der Begriff des „Festes“. Für uns mit Lustbarkeit verbunden; zu einer andern Zeit möglicherweise |nur| mit Furcht und Grauen.Was wir „Witz“ und was wir „Humor“ nennen, hat es gewiß in andern Zeiten nicht gegeben. Und diese beiden ändern sich stätig.//beständig.// //sind in best stätiger Veränderung begriffen.// (MS 137: 137a; VB: 560; 1949)⁸

Frazer hatte die graue Vorzeit heraufbeschworen, in der ein Fest „mit Furcht und Grauen“ einherging. Zu den Überresten dieser grausamen Menschenopfer zählte er das Duell in Nemi, aber auch neuzeitliche europäische fire festivals, wie sie, diesmal ohne Blutvergießen, noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stattfanden.

 Zu dieser Methode siehe oben S. 244 ff.  Wittgenstein nennt hier die von Frazer und Freud jeweils untersuchten Phänomene, Fest und Witz, zusammen: Um sie ging es auch in der Vorlesung vom May Term 1933.

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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Wittgensteins späte Bemerkung, höchstwahrscheinlich eine Frazer-Reminiszenz, zeigt fast eine historistische Tendenz: Sie hebt gerade auf die historischen und kulturellen Unterschiede ab. Der „Humor“ ist eine „Weltanschauung“ (MS 137: 135a);⁹ derlei Erscheinungen „ändern sich“ „beständig“; begriffliche Zusammenhänge wie zwischen ‚Fest‘ und ‚Lustbarkeit‘ (bzw. ‚Grauen‘) sind historisch bedingt, nicht universell. Das Wort ‚Fest‘ steht eben deshalb in Anführungszeichen: „Der Begriff des ‚Festes‘“ bleibt nicht in allen Epochen und Kulturen derselbe; er wandelt sich, wenn jene begrifflichen Zusammenhänge anders verknüpft werden. Wittgenstein betont nun die Distanz zwischen uns und den im Golden Bough postulierten frühen Feiernden, die Feste „möglicherweise nur mit Furcht und Grauen“ verbanden („möglicherweise“: Wir wissen es nicht).Wir könnten uns – legt er nahe – nur schwer in diese von uns zeitlich weit entfernte Menschen finden. Hier scheint es alles andere als ausgemacht, dass wir die historische und kulturelle Distanz überhaupt zu überbrücken vermögen. Eigentlich geht Wittgenstein auf historischen Wandel und Abstand immer wieder ein, und zwar bereits seit Anfang der 30er Jahre.¹⁰ In seiner Auseinandersetzung mit dem Golden Bough, auch in der späten, wird historische Distanz allerdings kaum thematisiert – und damit auch nicht ausgeschlossen. Spätestens in der Vorlesung vom May Term 1933 unterstreicht er wiederum, dass die Feuerfeste untereinander sehr verschieden sind. Darf man daraus entnehmen, dass sie, wenn überhaupt, sich nur jeweils anders und aus einer Vielheit von Faktoren erklären lassen? Die eingangs zitierte Bemerkung erlaubt diese Schlussfolgerung; aber als Philosoph sieht Wittgenstein in einer Kausalerklärung nicht seine Aufgabe. Vielmehr stellen seine Reflexionen zur Interpretation der Feuerfeste Frazers und anderer spekulative entstehungsgeschichtliche Erklärungen in Frage und decken deren pseudohistorischen, in Wirklichkeit aber nur formalen Charakter auf.

4.3.2 „Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche sie erwartet“¹¹ Über das Hauptanliegen von Wittgensteins Bemerkungen herrscht in der Sekundärliteratur weit mehr Unklarheit als über Einzelpunkte seiner Frazer-Kritik. ¹²

 Zu Humor, Melancholie und Zivilisation vgl. LUS: 44 f.  Gerade zur Zeit seiner ersten Frazer-Lektüre berühren Wittgensteins Gespräche mit Drury immer wieder dieses Thema, so z. B. das oben, S. 212 f., Anm. 332, angeführte über die ‚Desert Fathers‘. Vgl. MDC: 112 f.  Hertz 1894: 9, zit. in D 310: 143; BBB: 169. Siehe dazu oben § 2.2.1.3, S. 199 ff.

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Wissenschaftstheoretisch interessierte Lektüren gehen davon aus, dass die Leitfrage seiner späten Bemerkungen über die fire festivals eine wissenschaftstheoretische ist: So wird Wittgenstein oft eine Position zugeschrieben, wie sie Neopositivisten standardmäßig kritisierten. Demnach verlässt er sich auf Empathie: Er unterschätzt gewaltig die Schwierigkeiten, die mit der Überwindung historischer und kultureller Distanz einhergehen, und plädiert für eine letzten Endes unhistorische Methode, für die Einfühlung in jene Feiernden.¹³ Lektüren, die Wittgenstein ein primär wissenschaftstheoretisches Anliegen unterstellen, erliegen jedoch gerade dem fundamentalen Missverständnis, das auch seine Bemerkungen über die fire festivals abwehren wollten: Ein andersartiges Anliegen wird mit einem rein theoretischen verwechselt. ‚Why does the account of the Beltane Festival impress us so much?‘ So gibt Moore eine der Hauptfragen der Vorlesung vom May Term 1933 wieder. Moores Vorbehalt wurde oben erläutert: Wittgenstein beschuldige Frazer zu Unrecht, diese Frage, die der Ethnologe in Wirklichkeit nie gestellt habe, durch seine Entstehungshypothese beantworten zu wollen. Dass Moores späte Kritik in Mind wirklich berechtigt ist, wird durch seine eigene frühe Mitschrift nicht bestätigt.¹⁴ Diese Kritik trifft die späten autographen Bemerkungen jedenfalls nicht. Denn Wittgenstein knüpft darin an seine frühere Diagnose an. 1931 war er davon ausgegangen, dass Frazer – wie seine Leser – von der Sukzessionsregel in Nemi tief beunruhigt ist. Der Autor des Golden Bough durchschaut demnach seine eigene

 Zu den Bemerkungen über die Feuerfeste vgl. Cioffi 1998, insbes. 80 – 106; Bell 1978; Clack 1999: 135 ff.; Koritensky 2002: 194 ff. Das Thema des ‚Finsteren‘ im Umgang mit fremden Kulturen lässt sogleich an Conrads Heart of Darkness denken. Zu einer Analogie zwischen dieser Erzählung und Wittgensteins Bemerkungen über das Beltanefest vgl. Clack 1999: 153. Zum ‚Finsteren‘ vgl. auch Schulte 2011: 205 ff.  Zu derartigen Einwänden siehe auch S. 202, Anm. 308. R. H. Bell (1984: 310, Anm. 37) wiederum bestreitet zu Recht, dass Wittgensteins Position sich auf das traditionell aufgefasste Verstehen reduziert: Bells ‚analogy of self-understanding‘ scheint allerdings traditionellen Auffassungen von ‚Empathie‘ bzw. ‚Einfühlung‘ verhaftet zu bleiben. Auf dem Empathiebegriff basiert G. K. Chestertons Kritik der evolutionären Ethnologie: Das menschliche ‚Herz‘ sei überall dasselbe, und als exotische und primitive Sitten beschrieben die Ethnologen allgemeinmenschliche Phänomene, denen man eigentlich genauso gut zuhause begegnen könne. Mehrere Autoren sehen hier Ähnlichkeiten zu Wittgensteins Bemerkungen (vgl. Mounce 1973: 356 ff.; Cioffi 1998: 163 f.; Clack 1999, insbes. 107 ff.; Phillips 1993c: 94), und in der treuherzigen Naivität erinnert die Einstellung des Wittgenstein-Schülers Drury tatsächlich an Chesterton. – Nicht nur die Neupositivisten gaben dem von ihnen verpönten Begriff ‚Einfühlung‘ bzw. ‚Empathie‘ eine stereotype negative Bedeutung, die Ansätzen und Anliegen vieler an der Schnittstelle von Philosophie, Psychologie und Kulturwissenschaften angesiedelter Untersuchungen nicht gerecht wurde. Zum historischen Einfühlungsbegriff vgl. Mainberger 2014.  Siehe dazu oben S. 302 ff.

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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Einstellung nicht: Er missversteht auf ähnliche Weise seine ‚Wilden‘ und sich selbst, seinen Forschungsgegenstand und sein eigenes Buch.¹⁵ Frazer deutet den Eindruck falsch, den die Naturphänomene auf seine ‚savages‘, machen: Er meint, sie seien beunruhigt, weil sie die Ursachen der Naturphänomene nicht kennen; und er glaubt, damit ihre Unruhe kausal erklärt zu haben. Auch bei sich selbst verwechselt Frazer – so Wittgensteins Diagnose – die Unruhe angesichts der grausamen Riten und den Eindruck, den sie auf ihn machen, mit einem Wunsch nach kausaler Erklärung. Zu eben diesem Missverständnis gehört aber, dass Frazer die Frage erst gar nicht stellt, warum jene Bräuche ihn beeindrucken. Moores impliziter Einwand läuft daher ins Leere: Wittgenstein schreibt Frazer weder die Absicht zu, den Eindruck zu erklären, den die Riten auf uns machen, noch den Anspruch, diese Frage durch seine entwicklungsgeschichtliche Hypothese beantwortet zu haben. Frazer hat die Frage ‚Why does the account of the Beltane Festival impress us so much?‘ nicht gestellt; sie gehört für Wittgenstein nicht einmal zu den Fragen, die Frazer in kausalem Sinn missverstanden hat (etwa als Frage nach der Ursache unseres Eindrucks). Vielmehr geht der Philosoph davon aus, dass der Autor des Golden Bough, überzeugt von der wissenschaftlichen Natur seines Problems und seiner Erklärung, das Problem ‚Why does the account of the Beltane Festival impress us?‘ nicht einmal gesehen hat. Und Wittgenstein stellt sich diese Frage nun selbst. In Ms 143 geht es dementsprechend weniger um den Autor (und um seine Missverständnisse) als um den Leser, ja um Wittgenstein selbst.¹⁶

 Siehe dazu oben S. 202 ff.  Wittgenstein – so Clack – wirft in Ms 143 dem schottischen Ethnologen keinen ‚lack of spirituality‘ mehr vor (Clack 1999: 154). Clacks starke These lautet, dass der Gegensatz zwischen Wittgenstein und Frazer mehr scheinbar als wirklich sei (Clack 1999: 134). Wittgensteins Bemerkungen über das Beltanefest seien – so der Zwischentitel mit seiner überzogenen Zuspitzung – „Frazerian Reflections“ (Clack 1999: 135). Beachtenswert ist aber Clacks These, dass Wittgenstein jetzt bis zu „Frazerˈs subtext, itself stressing the fragility of civilisation“ (Clack 1999: 153), durchdringe; der Philosoph sehe nun in Frazer einen Autor, der uns ein conradsches Gefühl für das Finstere bestimmter Praktiken mitteile. So Clack. Eigentlich sahen schon die Bemerkungen vom Juni-Juli 1931 in Frazer nicht nur den rationalistisch und intellektualistisch orientierten Wissenschaftler, sondern auch einen Schriftsteller, dessen Stil im Leser Resonanzen zu erwecken vermag. Aber die späteren losen Blätter (Ms 143) fokussieren noch viel stärker den Eindruck, den die Beschreibung auf einen macht. Wittgenstein widersteht nun eher der Versuchung, „in den Geist des Widerspruchs zu verfallen“ (MS 143: 27); und selbst wenn er auch hier Frazer gelegentlich als „dummen Wissenschaftler“ (MS 143: 27) apostrophiert, ist der allgemeine Ton der Auseinandersetzung ein anderer als 1931.

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Er fragt sich noch einmal: Vorausgesetzt, dass die neuzeitlichen Feuerfeste uns überhaupt beeindrucken: Warum tun sie das? Was beeindruckt uns hier? Frazers genetische Erklärung, wonach die modernen Gebräuche entstehungsgeschichtlich auf grausame Menschenopfer zurückgehen? Oder einfach die Beschreibung der neuzeitlichen Feuerfeste selbst? So dass wir die hypothetischen urtümlichen Menschenopfer erst gar nicht zu bemühen brauchen? „Die Frage ist: haftet dieses – sagen wir – Finstere dem Gebrauch des Beltane Feuers wie er vor 100 Jahren geübt wurde (an sich) an, oder nur dann, wenn die Hypothese seiner Entstehung sich bewahrheiten sollte.“ (MS 143: 11)¹⁷ Wittgensteins Antwort ist eindeutig: „Ich glaube es ist offenbar die innere Natur des |neuzeitlichen| Gebrauchs selbst die uns finster anmutet […]“ (MS 143: 11 f.). Wittgenstein wird seine Zweifel an Frazers genetischer Theorie gehabt haben; aber er lässt einfach dahingestellt, ob es die von Frazer vermuteten urtümlichen Menschenopfer überhaupt gegeben hat. Selbst wenn Letzteres der Fall wäre, wäre der historische Zusammenhang zwischen den tatsächlich überlieferten modernen Feuerfesten und den von Frazer postulierten urzeitlichen Erscheinungen nur eine externe Relation: Sie würden sich ähnlich zueinander verhalten wie ein Kalkül bzw. Sprachspiel zu seiner kausalen „Geschichte“. (Ähnlich verhält sich für Wittgenstein auch die religiöse Dimension der Evangelien zu ihrer historischen.) Aber auch wenn die vorzeitliche Herkunft des Gebrauchs und die Abstammung von einem früheren Gebrauch historisch erwiesen sind, so ist es doch möglich daß der Gebrauch heute g a r n i c h t s mehr finsteres an sich hat, daß nichts von dem vorzeitlichen Grauen an ihm hangen geblieben ist. Vielleicht wird er heute nur mehr von Kindern geübt die im Kuchenbacken und Verzieren mit Knöpfen wetteifern. (MS 143: 13)¹⁸

Dieser letzte Satz könnte an den Golden Bough anknüpfen; denn Frazer selbst zeigt z. B., dass das „Todaustragen“ zuerst ein feierlicher Ritus war, dann aber „in the final stage of degeneration“ zu einem „idle sport of children“ (FGB 1922: 322; FGB III 4: 269) absank.¹⁹ Das Feierliche, Tiefe verflüchtigte sich: Ein Zusammenhang mit dem Opfer wurde nicht mehr gesehen. So der Golden Bough. Wittgenstein erwägt nun dasselbe bei den Feuerfesten, verneint aber diese Möglichkeit. Die „Tiefe“, die tiefe Beunruhigung, die von den fire festivals ausgeht, hängt mit dem

 In Hinsicht auf die ersten Seiten des Golden Bough stellen sich in den Bemerkungen von 1931 ähnliche Fragen. Siehe dazu oben S. 219 ff.  Gemeint ist hier der Kuchen mit Knöpfen („am bonnach beal-tine – i. e., the Beltane cake“ FGB 1922: 618), mit dessen Hilfe auf dem Beltanefest das symbolische Opfer ausgelost wurde, das „cailleach beal-tine – i. e., the Beltane carline“ (FGB 1922: 618). „Carlin“, „Carline“ oder „Cailleach“ bedeutet „the Old Woman“ (FGB 1922: 403) bzw. „the Old Wife“ (FGB 1922: 403).  Vgl. Flaherty 1992: 49 f. Zum button maker vgl. den Einwand in Needham 1985: 149 ff.

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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Festgeschehen selbst zusammen, nicht mit der entwicklungsgeschichtlichen Hypothese, dass sie in ihrer ursprünglichen Gestalt grausame Menschenopfer waren. Der erste Anschein ist anders: „Hier scheint die Hypothese erst der Sache Tiefe zu geben. […] Es ist nun klar daß was diesem Gebrauch Tiefe gibt sein Z u s a m m e n h a n g mit dem Verbrennen eines Menschen ist.“ (MS 143: 11) Unter „Z u s a m m e n h a n g “ versteht Wittgenstein jedoch nicht den von Frazer angenommenen kausalen, genetischen. Vielmehr hat das Beltanefest die Form eines Opfers: Es inszeniert das Verbrennen eines Menschen. Es ist „ja ein Schauspiel“. Das Fest hat aber „noch immer einen Temperamentszusatz den die bloße schauspielerische Darstellung nicht hat“ (MS 143: 18).²⁰ Und das „Geheimnisvolle“ an diesem Fest zeigt sich darin, dass es von den gewöhnlichen Spielen und Schauspielen „selbst in der Handlung wie in der Stimmung“ (MS 143: 19) abweicht. Das gilt nicht für jedes Detail. Manches mag erst und allein vor dem Hintergrund jener Hypothese tief, finster und bedeutungsvoll scheinen: So etwa die Verteilung des Kuchens, durch die das (symbolische) Opfer des Ritus, das ‚alte Weib‘, ausgelost wird. Derlei Einzelheiten können je nach Hypothese in anderem Licht erscheinen. Andere Bräuche kann eine neue „Deutung“ tatsächlich um ihre Tiefe bringen; und dies kann auch für Details des Beltanefestes gelten, etwa für die Auslosung des carline durch einen Kuchen mit Knöpfen (vgl. MS 143: 13). Könnte dies aber nicht nur bei einem Detail, sondern auch bei dem Fest im Ganzen passieren? Könnte der Vorgang durch „eine harmlose Deutung“ „wirklich jedes Geheimnisvolle verlieren“? Sie könnte ihm „alles ‚Tiefe‘“ nehmen, „es sei denn daß es in seiner gegenwärtigen Form an sich liegt“ (MS 143: 13).²¹ Das „Geheim-

 Zur pretence im Golden Bough und in Wittgensteins Vorlesung vom May Term 1933 siehe oben S. 294 ff. „[I]n magischen, oder religiösen Verrichtungen“ hat das ‚So tun, als ob‘, eine andere Valenz als etwa „im Märchen“ (MS 124: 239) oder „im Spiel“: „Aber es gibt doch auch Fälle in denen die Erwachsenen, und |Menschen| nicht im Spiel, etwa in magischen, oder religiösen Verrichtungen, leblose Dinge behandeln, als wären sie lebendige!“ (MS 124: 240) Zu dieser früheren Fassung von PU, § 282 vgl. Hacker 1990: 93.  Wittgenstein gibt ein Beispiel eines fiktiven Brauchs, der nach einer neuen „Deutung“ anders wahrgenommen wird: In einem heute „harmlosen Gebrauch“, der bei irgendeinem Fest stattfände und an ein „Roß-und-Reiter-Spiel“ erinnerte, würde man dann und erst dann „etwas Tieferes und weniger Harmloses“ sehen, wenn man wüßte, „daß es unter vielen Völkern Sitte gewesen wäre |etwa| Sklaven als Reittiere zu benützen und so beritten gewisse Feste zu feiern“ (MS 143: 11). Hier ist die „Tiefe“ im neuzeitlichen Brauch selbst nicht enthalten, und eine historische Hypothese kann zu einem ‚Aspektwechsel‘ führen (in beide Richtungen: von harmlos zu tief, aber auch umgekehrt). Um einen neuen Aspekt ‚aufleuchten‘ zu lassen, reicht allerdings auch eine neue formale Möglichkeit, die den Brauch in eine neue morphologische „Umgebung“ stellt.

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nisvolle“ könnte sich also nur dann verflüchtigen, „wenn es [das Fest; MB] eben nicht selbst xx in der Handlung wie in der Stimmung von solchen gewöhnlichen Räuberspielen etc. abwiche“ (MS 143: 19). Genau Letzteres ist jedoch der Fall. Das Fest ist kein ‚harmloser‘ Brauch. Es ist an sich tief, finster, bedeutungsvoll. Dieser „Temperamentszusatz“ ist jedoch nicht unbedingt eine Spur seiner besonderen Entstehungsgeschichte. Die „Tiefe“ liegt „in seiner gegenwärtigen Form an sich“ (MS 143: 13) – und „das Finstere“ „im Charakter dieser Menschen selbst“ (MS 143: 12). Wittgenstein richtet insofern – man darf nicht darüber hinwegsehen – einen negativeren Blick auf die neuzeitlichen Feste als Frazer: Der Ethnologe will nicht darauf hinaus, dass die modernen Feiernden, die ja nur einen Popanz verbrannten, ‚furchtbar‘ waren und einen ‚finsteren‘ Charakter hatten. Letzteres traf in seinen Augen, wenn überhaupt, höchstens für ihre (unsere) fernen Vorfahren zu: Furchtbar waren die von diesen vollbrachten grausigen Menschenopfer. Wittgenstein dagegen projiziert das ‚Unheimliche‘, ‚Finstere‘ auf die Modernen, auf „die innere Natur des |neuzeitlichen| Gebrauchs selbst“ (MS 143: 11 f.). Was ist aber unter dieser „inneren Natur“ zu verstehen? Wenn ich von der inneren Natur des Gebrauchs rede meine ich alle Umstände, in denen er geübt wird und die in dem Bericht von so einem Fest nicht enthalten sind da sie nicht sowohl in bestimmten Handlungen bestehen die das Fest von andern unter charakterisieren als in dem was man den Geist des Festes nennen könnte welcher beschrieben würde indem man z. B. die Art der von Leuten beschriebe die daran teilnehmen, ihre übrige Handlungsweise, d. h. ihren Charakter; die Art der Spiele die sie sonst spielen. Und man würde dann sehen daß das Finstere im Charakter dieser Menschen selbst liegt. (MS 143: 12)²²

Ein Bericht über den unmittelbaren Handlungsablauf, d. h., über den rituellen Vorgang für sich genommen, beschreibt noch nicht die ‚innere Natur‘, den „Geist“ des Festes. Die „übrige Handlungsweise“ der Akteure bildet den weiteren Kontext, in den das Fest gleichsam eingebettet ist, die „Umgebung“, aus dem es nicht herausgelöst werden darf; „die U m g e b u n g einer Handlungsweise“ gehört nämlich zu dieser Handlungsweise selbst, und zwar so sehr, dass Wittgenstein „den Geist des Festes“ mit der so verstandenen „Umgebung“ gleichsetzt. Diese „U m g e b u n g einer Handlungsweise“ bilden kulturspezifische Merkmale, die besondere, in einem überschaubaren Zeitraum situierte Lebensform, zu der die

 Die auf Rhees zurückgehenden Editionen geben nicht die gewellten Unterstreichungen wieder, durch die Wittgenstein in MS 143 wiederholt seine Unzufriedenheit mit Ausdrucksweisen wie ‚(innere) Natur‘ bzw. ‚an sich‘ äußert. Diese Wendungen sind ihm zufolge nicht ganz adäquat, ja suggerieren fälschlich, man könne im Nachhinein etwas wie die ‚innere Natur‘ des Festes erkennen, d. h., wie es ‚an sich‘ war.

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Handlungsweise gehört, aber auch sehr allgemeine Hintergrundtatsachen (physikalischer und psychologischer Art), wie sie in den Sprachspielanalysen zu beachten sind. Die „depth which relates to ethical matters“ – sowie die Tiefe eines philosophischen Problems, einer Dichtung, eines Musikstücks oder auch eines Gesichts – nehmen nur diejenigen wahr, die Vieles kennen, was damit verbunden ist: „[W]e cannot separate deep faces from the techniques of calling them deep. And the same for philosophical problems. We cannot separate the depth from all the other things connected with it.“ (PPO: 401, wahrscheinlich 23.11.1946) Mit dem Hintergrund, zu dem die ‚Techniken‘ gehören, müssen wir vertraut sein, selbst wenn wir ihn nicht unbedingt mit beschreiben müssen – oder können: „one can know the technique without being able to describe it“ (PPO: 399). „The behaviouristic approach“, soll Wittgenstein erklärt haben, „is in a way good for these problems.“ (PPO: 403)²³ Unter diesem Ansatz dürfte die ‚dichte Beschreibung‘ menschlichen Benehmens in seiner Umgebung gemeint sein, um die es auch in MS 143 geht: Die Beschreibung des Festes in seiner aktuellen „Umgebung“ soll Frazers Erklärung aus einem hypothetischen urzeitlichen Ursprung ablösen. Das Ziel ist allerdings nicht mehr dasselbe. Die epistemologische Frage, ob und inwieweit wir aus den im Golden Bough ausgewerteten Berichten über den „Gebrauch“, „wie er vor 100 Jahren geübt wurde“, auf die Haltungen, Einstellungen und Stimmungen der daran Teilnehmenden schließen können, stellt Wittgenstein nicht. Es geht nicht um eine historische Untersuchung.

 Wittgenstein zufolge hebt die Verhaltenspsychologie nicht genug hervor, dass das ‚Benehmen‘ in einen Kontext eingebettet ist. Zwar kann das Wort ‚Benehmen‘ irreführen, wenn man „in seiner Bedeutung auch die äußern Umstände – des Benehmens im engern Sinne –“ einschließt (TS 245: 194; BPP I, § 314). Trotzdem will Wittgenstein „die Umgebung“ (MS 130: 184), „die äußern Umstände“ (TS 245: 194), die „äußeren Anlässe[]“ (MS 233b: 25; Z, § 492) nicht als etwas behandeln, was zum Benehmen bloß von außen hinzukommt (vgl. BPP I, § 129); er will sie vielmehr zum Benehmen selbst rechnen. Ein bestimmtes Benehmen wird man „c h a r a k t e r i s t i s c h vielleicht nur in einem weiteren Zusammenhang wiedergeben/nachahmen/ können“ (MS 135: 86; BPP I, § 1066; zu diesen Texten vgl. P. M. S. Hacker: „Criteria“, in Hacker 1990: 243 – 266, hier 251). Was alles zu diesem weiteren Zusammenhang gehört, lässt sich nicht antizipieren; und was es heißt, ein Benehmen überhaupt zu beschreiben, steht ebenfalls nicht eindeutig fest (vgl. Ts 229: 256 ff.; BPP I, §§ 287 ff.: 63 f.). Man wäre versucht zu sagen, dass die Anthropologie hier an die Stelle des engeren psychologischen Behaviorismus tritt. Aber Anthropologie als Wissenschaft liegt Wittgenstein ebenso fern wie Verhaltenspsychologie. Auch sein Begriff der Abrichtung (zu Benehmen mit bzw. ohne Abrichtung vgl. MS 130: 184 f.; BPP I, § 131) ist nicht in verhaltenspsychologischem Sinn zu verstehen. Vielmehr dehnt Wittgenstein Reflexionen, die er zu Sprachspielen und zu der Rolle von Worten im Leben entwickelt hat, auf das beobachtbare Benehmen im Allgemeinen (Gesichtsausdrücke, Gebärden usw.) aus.

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„Wenn wir deuten, stellen wir eine Vermutung an, sprechen eine Hypothese aus, die sich nachträglich als falsch erweisen kann.“ (MS 130: 90) Vieles weist für Wittgenstein darauf hin, dass das Beltanefest seine Tiefe nicht erst und ausschließlich einer späteren „Deutung“ verdankt, d. h. hier, einer bestimmten Hypothese über seinen Ursprung. Nicht allein diese „Deutung“ wirkt nämlich beunruhigend. „[…] [W]as soll diese Darstellung, was ist ihr S i n n ?! Und sie könnte uns abgesehen von jeder Deutung dann durch ihre eigentümliche Sinnlosigkeit beunruhigen. (Was zeigt, welcher Art der Grund so einer Beunruhigung sein kann)“ (MS 143: 18). „Ich will sagen: die Lösung ist nicht beunruhigender als das Rätsel“ (MS 143: 19). Einige Interpreten würden hier logischer finden: ‚die Lösung ist nicht weniger beunruhigend als das Rätsel‘ (vgl. Needham 1985: 170 f.) Liest man den Satz isoliert, scheint diese Version plausibler, aber nicht im Kontext: Frazers verstörende „Lösung“, der schauerliche Ursprung der Feste aus urzeitlichen Menschenopfern, ist für Wittgenstein zwar ‚unheimlich‘, aber doch „nicht beunruhigender“ als die offen gelassene Frage. Und wenn die modernen Riten nicht jenen furchtbaren „Sinn“ (als Überbleibsel grauenhafter Riten) hätten, sondern gar keinen? Das Rätseln über den möglichen Sinn, das Fehlen einer Deutung oder die eventuelle „Sinnlosigkeit“ des Brauchs kommen uns nicht weniger ‚unheimlich‘ vor als dessen schauerlicher Ursprung aus urzeitlichen Menschenopfern. ‚Unheimlich‘ sind also für Wittgenstein die neuzeitlichen Feste selbst und nicht erst die hypothetischen grausamen Riten, durch die Frazer sie erklären will. Die Rolle, die das urtümliche Menschenopfer in der Betrachtung der modernen fire festivals spielt, ist mit derjenigen der Urpflanze verwandt. Diese ist für Goethe zuletzt „nur eine Idee, nichts Wirkliches“, d. h. nur eine Form der Darstellung: Wir sehen nur die Daten in einer bestimmten morphologischen Anordnung, also „nicht die Urpflanze“, die es eigentlich nicht gibt, „sondern das, was man die Evidenz für die Urpflanze oder die Evidenz für die Entwicklungshypothese nennt.“ (VW: 310) Diese evidence ist eigentlich keine empirische. Sie macht die Urpflanze ‚wahrscheinlich‘, aber in einem noch näher zu bestimmenden Sinn, nicht wie eine wohl belegte erfahrungswissenschaftliche Hypothese. Diese ‚Wahrscheinlichkeit‘ heißt also nicht, dass die Entwicklungshypothese mutmaßlich stimmt und es die Urpflanze vielleicht gibt oder gegeben hat. Auf ähnliche Weise, so meine These, ist für Wittgenstein auch Frazers urtümliches Menschenopfer nur eine Form der Darstellung, und wir sehen lediglich die um diesen idealen Mittelpunkt zusammengestellten, morphologisch angeordneten fire fes-

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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tivals, d. h. die „Evidenz“ oder, wie es bei Wittgenstein auch heißt, das „Material“.²⁴ Was einen beeindruckt, ist nicht „erst die geäußerte oder jede Hypothese (ob von ihm oder andern geäußert)“, sondern „schon das Material zu ihr“ (MS 143: 17). Frazer „brauchte uns nur das Material (das zu dieser Hypothese führt) vorlegen und nichts weiter dazu sagen.“ (MS 143: 17)²⁵ Wie bei einem Mord „impressioniert mich da einfach was ich sehe“.²⁶ Die Unterscheidung – bei Frazer das Äußern einer Hypothese, bei Wittgenstein einfach das Vorlegen des Materials, bzw., bei Frazer eine (kausale) „Deutung“, bei Wittgenstein ein „Aspekt“ – erinnert an diejenige zwischen Sagen und Zeigen. Eine bestimmte formale Anordnung des ethnologischen Materials drängt sich auf, gleichsam als die Lösung eines jigsaw puzzles. Wesentlich ist der Eindruck, den diese übersichtliche Darstellung auf uns macht, nicht eine darüber hinausgehende kausale Hypothese. Aber es ist ja nicht einfach der Gedanke an die mögliche Herkunft des B. welche den Eindruck mit sich führt sondern, was man die ungeheure Wahrscheinlichkeit dieses Gedankens nennen möchte/nennt/. Als das was vom Material hergenommen ist. (MS 143: 18)

Wittgenstein ist vom Golden Bough wirklich beeindruckt: Offenkundig kommt ihm Frazers Idee ‚wahrscheinlicher‘ vor als späteren Lesern; er geht davon aus, dass sie sich beim Lesen geradezu aufdrängt. Wittgensteins Unterscheidung – auf der einen Seite der Gedanke selbst, auf der anderen dessen „ungeheure Wahrschein Der späte Wittgenstein drückt denselben Gedanken einmal auch durch einen anderen Begriff Goethes aus: Freud hat zwar geglaubt, „an den einfachen Wunschträumen“ ein „‚Urphänomen‘“ zu erkennen, aber das (angebliche) „Urphänomen“ ist nur „eine vorgefaßte Idee, die von uns Besitz ergreift.“ (MS 173: 72r; BÜF III, § 230) Freuds Missverständnis ähnelt dem Spenglers, der das Vergleichsobjekt – das ‚Urbild‘, das Ideal – mit dem Objekt verwechselt und vermengt (siehe dazu oben S. 268 ff.). Auch Frazer, könnte man sagen, glaubt, etwas wie ein ‚Urphänomen‘ zu erkennen, und zwar an den urtümlichen Menschenopfern; aber auch diese sind – wie die Urpflanze laut Schiller und dem späten Goethe – keine Erfahrung, sondern eine ‚Idee‘, d. h. für Wittgenstein, eine Form der Darstellung, eine Art, die Dinge zu sehen, eine ‚Weltanschauung‘, ein neuer Aspekt. – Zur Urpflanze siehe ausführlich oben § 2.2.3, S. 232 ff.  Wittgenstein schließt sich auch hier an Frazer an, der selbst zwischen Material/Daten/ Tatsachen einerseits und Hypothesen bzw. Theorien andrerseits trennt. Auch hier scheint Frazers Tatsachensammlung für Wittgenstein keine Probleme zu bergen: Er stellt sie noch weniger in Frage, als Frazer selbst es tut (siehe dazu oben S. 253 ff.). Eigentlich aber klammert Wittgenstein die Frage aus, ob es sich um erfahrungswissenschaftliche Daten handelt und ob sie eine empirische Theorie untermauern.  „Aber könnte ich da nicht ebensogut fragen: Wenn einer xx ich sehe wie Einer umgebracht wird, – impressioniert mich da einfach, was ich sehe oder erst die Hypothese daß hier ein Mensch umgebracht wird?“ (MS 143: 18) Zum kategorialen Unterschied zwischen Sicherheit des Eindrucks und Sicherheit einer Hypothese siehe oben S. 219 ff.

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lichkeit“ – ist zuerst schwer verständlich. Er schreibt hier der von Frazer postulierten Urform der Feuerfeste (den primitiven Menschenopfern) einen ähnlichen Status zu wie in einem ganz anderen Kontext den Grundformen von Sprachspielen. Dieselbe methodische Betrachtung führt er nämlich als Argument gegen Russells Begriff der „immediate awareness“ ein. Letztere ist bei Russell die Quelle der unumstößlichen Sicherheit, die etwa das Erleben eigener Zahnschmerzen auszeichnet oder auch die Erfahrung mit Kausalität. Wittgenstein sieht hier ebenfalls keinen Platz für Zweifel. Aber aus einem anderen Grund: Die Grundform von Sprachspielen wie den ‚kausalen‘ oder denen mit Zahnschmerzen ist eine primitive Reaktion. In dieser Grundform des Sprachspiels gibt es den Zweifel nicht. Aber die „Sicherheit“, dass diese „Urform“ eine sein muß, in der es den Zweifel nicht gibt, „kann doch nicht eine historische sein“. Diese „einfache Form (und das ist die Urform) des Ursache-Wirkung-Spiels“ ist eigentlich nur eine wichtige formale Möglichkeit: Sie erschließt uns einen wichtigen „Aspekt“ des tatsächlichen Sprachspiels. Aber Wittgenstein will nicht die ‚historische‘ Hypothese aufstellen, dass es diese „Urform“ gibt oder gegeben hat: „Die wichtige Möglichkeit aber verwechseln wir ja sehr oft mit geschichtlicher Wahrheit.“ (MS 119: 100; 12.10.37) In der Grundform des Sprachspiels ist die „Sicherheit“ keine „immediate awareness“: Sie hat vielmehr Handlungscharakter. Und die Sicherheit über die Grundform ist nicht die Unumstößlichkeit einer historischen (oder entwicklungspsychologischen) Hypothese. Wittgenstein stellt einfach fest, dass wir uns hier ‚sicher‘ sind. Wir haben eben einen Begriff davon, was für/welcherlei/ Lebensformen primitive |sind|, und welche erst aus solchen entsprossen/entsprungen sind/entspringen mußten konnten. Wir glauben, daß der einfachste Pflug vor dem komplizierten da war. (MS 119: 74v-75r)

Die späten Bemerkungen über die fire festivals führen in ähnlichem Sinn an, dass eine „Ruine“ „einmal ein Haus gewesen sein“ „muss“; und selbst da, wo die Menschen „wirklich Ruinen bauen nehmen sie die Formen von eingestürzten Häusern her.“ (MS 143: 17)²⁷ Das Beltanefest ist „zu sinnlos um so erfunden worden zu sein“ (MS 143: 16 f.). Muss es dann ein survival sein? D. h.: Muss es einmal ein Menschenopfer gewesen sein? Oder nimmt es seine Form nur von einem her, ohne aus ihm entstanden zu sein? Die Frage ist hier wie dort: Woher

 Bei Lichtenberg heißt es wiederum: „Wenn man auch nicht aus einem Granitfelsen ein Haus hiebe, so könnte man ohne sehr viele Kosten vielleicht die R u i n e n eines Hauses daraus hauen: so daß die Nachwelt glauben müßte, es habe ein Palast da gestanden.“ (Sudelbücher: J 1170 (Zählung Leitzmann: J 1145), in Lichtenberg 1994, Bd. 1: 818)

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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stammt die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ bzw. „Sicherheit“, mit der sich uns die Möglichkeit aufdrängt? Offenbar lauert bei Frazers Annahme einer Urform der fire festivals (prähistorische Menschenopfer) die gleiche Verwechslung wie bei der Grundform jener Sprachspiele. Welcher Natur ist nämlich die Sicherheit, dass die Grundform die Grundform ist (der einfache Pflug kommt vor dem komplizierten) bzw. dass es eine Grundform überhaupt gibt (wo jetzt Ruinen sind, war ehemals ein Haus)? Der eine Pflug scheint primitiv, nicht aber der andere. Steine sehen wie eine Ruine aus, und der neuzeitliche Brauch (bzw. das ethnologische Material) wie Überreste, er ist „o f f e n b a r uralt“. Was ist von diesen Beispielen zu halten? Muss das eine dem anderen unbedingt vorangehen, der einfachste Pflug dem komplizierteren bzw. das Haus den Ruinen? Wir mögen zwar glauben, dass das Einfachste vor dem Komplizierten da war. Aber diese Vorstellung ist nur eine vorgefasste Idee: Als historische Hypothese ist sie immer wieder falsch.²⁸ Dasselbe gilt für das Gleichnis der Ruinen: Wenn die moderne Form eines Brauchs keine klare Bedeutung hat, warum – so Needham (1985: 175) – sollte die frühere unbedingt eine gehabt haben? Wittgenstein kommt es aber gerade darauf an, formale und historische Betrachtung nicht miteinander zu verwechseln: die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ nicht mit einer unzweifelhaften historischen Wahrheit. Man darf aus dem ‚Aspekt‘ keine genetische ‚Deutung‘ machen: weder beim Pflug noch bei der Ruine. Die Grundform ist hier wie dort eine formale Konstruktion, nicht unbedingt eine historische Realität. „Das Richtige und Interessante ist nicht zu sagen das ist aus dem hervorgegangen, sondern: es könnte so hervorgegangen sein.“ (MS 143: 23)²⁹ Der Leser ist nicht „wie eine rückwärts schauende Kluge Else“, die sich um die Vergangenheit statt um die Gegenwart kümmert; seine „Sorgen“ gelten nicht „eine[r] so unsichere[n] Sache“ (MS 143: 14) wie der urzeitlichen Abstammung des Beltanefestes.³⁰ Wie Wittgenstein schon 1931 hervorhebt, unterscheidet sich die unmittelbare „Sicherheit“ des Eindrucks kategoriell von der immer nur relativen  Lévy-Bruhl kritisiert Frazers (von H. Spencer stammende) Voraussetzung, dass „le plus simple est le premier dans le temps“ (1910: 11): Frazer verwechsle wohl „‚simple‘ avec ‚indifféréncié‘“ (1910: 12). Auch Franz Boas lehnt die evolutionäre Idee ab, dass die einfachsten Formen die primitiven sein müssen.  Dass der formale Zusammenhang der richtige und interessante ist, hat Wittgenstein schon in seinen frühen Reflexionen über den Golden Bough ausgeführt. Siehe dazu oben § 2.2.3.1, S. 232 ff.  Auch in seinem Handexemplar von Jeansˈ Mysterious Universe hat Wittgenstein einmal notiert: „siehe Die kluge Else!“ (Jeans 1930: 12; vgl. SWM 2010: 5). Jeans macht sich wie die Märchengestalt Sorgen um die Zukunft: Er sieht im Kältetod „the tragedy of our race“. Wittgenstein kommentiert: „Sorgen was sie haben“ (Jeans 1930, S.13; vgl. SWM 2010: 6). Zur klugen Else vgl. Grimm/Grimm 1910, Bd. 1, Nr. 34: 172– 176.

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einer Hypothese. Der gesehene oder erzählte Brauch legt die Möglichkeit jener Abstammung gleichsam physiognomisch nahe, wie durch Ton der Stimme und Gesichtsausdruck. „Es ist, wenn ich so einen Gebrauch sehe, von ihm höre, wie wenn ich einen Mann sehe wie er bei einem geringfügigen/geringfügigem/ Anlaß/ Gelegenheit/ streng mit einem Andern spricht, und aus dem Ton |der Stimme| und dem Gesicht merke |den Eindruck erhalte|, daß dieser Mann bei gegebenem Anlaß furchtbar sein kann. Der Eindruck den ich hier erhalte, kann ein sehr tiefer und außerordentlich ernster sein.“ (MS 143: 16) Der Brauch ist wie ein geringfügiger Anlass (er ist ja ein „Schauspiel“), der nichtsdestoweniger einen Einblick in die Art der Feiernden gewährt: Er verrät, dass sie unter anderen Umständen furchtbar sein können. Auch hier beeindruckt einfach, was man sieht, selbst wenn es auf etwas verweist, was man nicht unmittelbar wahrnimmt. Man kann den „Aspekt“, unter dem das Material sich darbietet, mit einer „Deutung“ verwechseln. „Deutung“ ist hier eine kausale Kategorie, „Aspekt“ eine formale. Die „Deutung“ ist eine explizit geäußerte entwicklungsgeschichtliche Hypothese, die über das ethnologische Material hinausgeht: Auf sie wird aufgrund dieser empirischen Daten ausdrücklich geschlossen. Eine übersichtliche Darstellung ist dagegen eine rein formale Anordnung des Materials: Sie bietet es einfach unter einem bestimmten „Aspekt“ dar, der nicht explizit formuliert zu sein braucht. Hier wird kein Schluss gezogen: Auf den Aspekt schließt man überhaupt nicht.³¹ Ein Satz wie „dieser Gebrauch ist o f f e n b a r uralt“ weist auf einen bestimmten Aspekt, unter dem der Brauch betrachtet werden kann. Der Aspekt sieht jedoch auf den ersten Blick wie eine Deutung aus – und jener Satz wie eine empirische Hypothese. Er mag auch durchaus als solche verwendet werden; dann aber muss eine empirische Verifikation vorgesehen sein. Ob der Satz wirklich eine (empirische) Aussage ist, entscheidet nicht die äußere Sprachform (die ‚Oberflächengrammatik‘), sondern die Verwendung, zu der die Verifikationsmethode gehört. „Vor allem: woher die Sicherheit daß ein solcher Gebrauch uralt sein muß (was sind unsere Daten, was ist die Verifikation)?“ (MS 143: 14) Die Art der Verifikation bestimmt auch hier den Sinn des Satzes. Die Verifikationsmethode gibt Aufschluss über die spezifische Form von Sicherheit, die zum jeweiligen Sprachspiel gehört, über die entsprechenden Kriterien und über die Natur der relevanten Daten. Ob es wirklich um historische Sicherheit geht, d. h. um eine gut bewiesene Hypothese über das Alter des Brauchs, zeigt die Verifikationsmethode. Die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ bzw. die „Sicherheit“, dass der Brauch aus Urzeiten stammt, ist nur in dem Maß eine Hypothese, in dem wir uns tatsächlich

 Vgl. dazu MS 143: 17.

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auf historische Zeugnisse stützen. „Woher weiß man das? Ist es nur weil man historisches Zeugnis über derartige alte Gebräuche hat? Oder hat es noch einen andern Grund, einen den man durch Introspektion gewinnt?“ (MS 143: 13)³² Wittgenstein will zeigen, dass die zweite Annahme zutrifft: Zwar können die Zeugnisse falsch sein oder falsch gedeutet werden, und wir können „des Irrtums |historisch| überführt werden“; „aber es bleibt dann noch immer etwas, dessen wir sicher sind.“ (MS 143: 14)³³ Die ‚Introspektion‘ liefert also den ausschlaggebenden Grund, der den Sinn des Satzes weitgehend bestimmt.Weder die „Sicherheit“ (der Brauch muß uralt sein) noch die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ (er ist offenbar uralt) sind im tiefsten Grunde erfahrungswissenschaftlicher Natur.³⁴ Die Frage nach den unterschiedlichen Formen von ‚Wahrscheinlichkeit‘ bzw. ‚Sicherheit‘ durchzieht Wittgensteins religionsphilosophische Betrachtungen. Nicht nur beim Lesen des Golden Bough kann eine andersartige ‚Wahrscheinlichkeit‘ bzw. ‚Sicherheit‘ mit einer historischen leicht verwechselt werden. Auch Leser der Evangelien können zu einem ähnlichen Missverständnis neigen. Im Anschluss an Kierkegaard erklärt Wittgenstein, dass „der historische Beweis (das historische Beweis-Spiel) den glaubenden |Glauben| gar nichts angeht. Diese Nachricht (die Evangelien) wird glaubend (d. h. liebend) vom Menschen ergriffen. D a s ist die Sicherheit desieses Glaubens Für-wahr-haltens, nichts A n d e r e s .“

 Die Bergen-Ausgabe liest falsch „durch Interpretation“. – Geht es bei diesem ‚Aspekt‘ um ein Gefühl wie das „feeling of ‚long, long ago‘“ (BBB: 184), das Wittgenstein im Brown Book erwähnt?  „Wir würden dann sagen:“ – fährt Wittgenstein fort – „‚Gut, in diesem e i n e n Fall mag die Herkunft anders sein, aber im allgemeinen ist sie sicher die vorzeitliche.‘“ (MS 143: 14) Zuletzt verfährt Frazer ähnlich: In einem späten Vorwort räumt er ein, dass seine allgemeine Erklärung möglicherweise gerade für den Priesterkönig in Nemi nicht gilt, also gerade für den Fall nicht, den das vielbändige Werk angeblich erklären will! „Even if it should appear that this ancient Italian priest must after all be struck out from the long roll of men who have masqueraded as gods, the single omission would not sensibly invalidate the demonstration, which I believe I have given, that human pretenders to divinity have been far commoner and their credulous worshippers far more numerous than had been hitherto suspected.“ (FGB III 1: ix) Diese Einschränkung, mit der – so Maretts Reaktion – Frazer die Katze aus dem Sack lässt, ist in der Abridged Edition von 1922 nicht enthalten. Siehe auch oben S. 208 ff., insbes. Anm. 326.  „[D]er Brauch m u ß uralt sein“. Kann man sich das Gegenteil wirklich nicht vorstellen? Wittgenstein meint hier nur, dass dieses ‚Müssen‘ auf nicht empirische Gründe deutet. Der Satz sieht zwar wie eine empirische Hypothese aus (wie eine „Deutung“ in Wittgensteins Sinn), spielt aber eigentlich eine andere Rolle. Das ‚Beweismaterial‘ (die evidence) besteht zwar in Tatsachen unserer Erfahrung, aber in ganz allgemeinen und unbezweifelbaren, nicht in hypothetischen Daten.

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(MS 120: 42v)³⁵ Der Bericht der Evangelien hat „nicht mehr als sehr gewöhnliche historische Wahrscheinlichkeit“ (MS 119: 76 v); und darin zeigt sich, dass die „historische Wahrscheinlichkeit“ beim Leben Jesu nicht „das Wesentliche, Ausschlaggebende“ (MS 119: 76v) ist. Die Sicherheit dieses „Für-wahr-haltens“ gehört nicht zu einem „historische[n] Beweis-Spiel“ (MS 120: 42v) und bezieht sich nicht auf etwas wie historische Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit. Von Anfang an hatte es der Autor des Golden Bough auf eine historische, genetische Beziehung zwischen den urzeitlichen Menschenopfern und der Kreuzigung Jesu abgesehen. Bei Wittgenstein läuft es auf etwas anderes hinaus, auf eine Parallele: Bei Frazers urzeitlichem Menschenopfer und bei der Kreuzigung auf Golgatha geht es nur scheinbar um historische Empirie.³⁶ Natürlich zeigen Frazers Leser eine völlig andere Einstellung (oder Bandbreite von Einstellungen) als die ‚liebende‘ Ergriffenheit der Christen. Was sich dem beunruhigten Leser des Golden Bough und dem ‚liebenden‘ der Evangelien jeweils aufdrängt, tut es jedoch mit einer ‚Wahrscheinlichkeit‘, die mit einer historischen nicht zu verwechseln ist. Darin sieht Wittgenstein die Analogie. Die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ des grausigen Menschenopfers ist zwar „vom Material hergenommen“, aber nicht wie eine empirische Hypothese. Sie liegt „in dem, was mir Grund gibt, das anzunehmen“, und dieser Grund ist einer, „den man durch Introspektion gewinnt“ (MS 143: 13).³⁷ Die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ hat dieselbe Quelle wie die „Tiefe“, das „Finstere“ und das Beeindruckende an diesem Brauch. „Was uns dafür E v i d e n z ist, das muß die Tiefe dieser Annahme enthalten.“ (MS 143: 14)³⁸ Das „Tiefe und Finstere“ findet sich nicht

 Schon im Mai 1931 setzt Wittgenstein den Glauben an einen Apostel mit einer bestimmten Art, sich zu ihm „tätig zu verhalten“, gleich (siehe dazu oben S. 34 ff.). Die Frage nach dem „Eindruck“, den das Symbolische auf den Menschen macht, ist für Wittgenstein schon damals zentral. So dann auch in der Vorlesung (siehe oben § 3.3.7, S. 302 ff.).  Frazer, dessen Religionskritik mit der Zeit milder wird (vgl. Ackerman 1987: 239), erklärt nach der zweiten Ausgabe explizit, er habe die Kreuzigung als historische Tatsache nicht bezweifeln wollen (vgl. Downie 1970: 53 f.). Auf ähnliche Weise hatte er angenommen, dass jene Menschenopfer wirklich stattgefunden hatten.  „Ich will sagen: Das Finstere, Tiefe liegt nicht darin, daß es sich mit der Geschichte d i e s e s Gebrauchs so verhalten hat, denn vielleicht hat es sich gar nicht so verhalten; auch nicht darin, daß es sich vielleicht oder wahrscheinlich so verhalten hat, sondern in dem was mir Grund gibt, das anzunehmen. – Ja woher überhaupt das Tiefe und Finstere im Menschenopfer? Denn sind es nur die Leiden des Opfers die uns den Eindruck machen? Krankheiten aller Art die mit ebensoviel Leiden verbunden sind, rufen diesen Eindruck d o c h nicht hervor. Nein, dies Tiefe und Finstere versteht sich nicht von selbst wenn wir nur die Geschichte der äußeren Handlung erfahren, sondern w i r tragen es wieder hinein aus einer Erfahrung in unserm Innern.“ (MS 143: 15)  ‚Evidenz‘ ist hier ein Anglizismus, gemeint ist evidence, das Beweismaterial.

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schon in der „Geschichte der äußeren Handlung“, „sondern w i r tragen es wieder hinein aus einer Erfahrung in unserm Innern.“ (MS 143:15) Die evidence,worin „die Tiefe“ des Brauchs und mit ihr die „ungeheure Wahrscheinlichkeit“ seines Ursprungs liegt, ist „eine |nicht hypothetische| psychologische“ (MS 143: 14). Die ‚psychologische‘ evidence sei, fügt Wittgenstein hinzu, eine ‚nicht hypothetische‘. Ohne diesen Zusatz würde das Adjektiv ‚psychologisch‘ vielleicht im Sinn von ‚empirisch‘ oder gar ‚erfahrungswissenschaftlich‘ missverstanden werden. Es geht jedoch nicht um eine Ursache, sondern um einen Grund, „den man durch Introspektion gewinnt“ (MS 143: 13). Aber welche Art Gründe gewinnen wir „durch Introspektion“? Wittgenstein versteht unter Introspektion nichts Okkultes, womit die äußere Beschreibung zu ergänzen wäre. Auf die Frage „Woher weißt du, dass du es glaubst?“ – heißt es in anderem Kontext – kann man manchmal antworten: „Ich erkenne es durch Introspektion“. Jene Frage hat aber nur in bestimmten Fällen einen Sinn, etwa bei einem Zweifel wie „Liebe ich sie wirklich, mache ich mir das nicht nur vor?“; und hier ist „der Vorgang der Introspektion […] das Wachrufen von Erinnerungen; von Vorstellungen möglicher Situationen und der Gefühle, die man hätte, etc.“ (TS 230: 130; vgl. MS 115: 93)³⁹ Die ‚Introspektion‘ ist keine ‚phänomenologische‘ Schau, sondern eine Anamnese, ein Wachrufen und Zusammentragen von Erinnerungen, wodurch ich etwas über mich erfahre. „Introspektion“ „kann nur zu einer psychologischen Aussage über den führen, der introspiziert“, nämlich zu einer „Aussage über s e i n e besonderen Erlebnisse“ (MS 130: 281 f.). So ist es auch im Umgang mit dem Golden Bough: Die Aussage, zu der Introspektion den Leser führt, ist nicht wirklich eine über das Beltanefest, sondern eine über ihn selbst. Ein Satz wie „dieser Gebrauch ist o f f e n b a r uralt“, der seiner Oberflächengrammatik nach eine historische Hypothese sein könnte, wird doch anders verwendet, anders verifiziert.Was für ihn spricht, der ausschlaggebende Grund, entspringt einer Erfahrung in unserem Inneren. Daher sagt der Satz eigentlich nichts über das Fest, sondern spricht etwas über mich aus, über meine besonderen Erlebnisse, darüber, welcher Aspekt sich mir aufdrängt. Die Gründe, die der Sprecher für diesen Satz angeben kann, sind zwar ‚introspektiver‘ Natur und entspringen „einer Erfahrung in unserm Innern“, beschreiben letztere aber nicht. Insofern ist der Satz mit einem avowal verwandt. Zur Zeit seiner ersten Frazer-Lektüre betrachtete Wittgenstein ‚Äußerungen‘ in der

 Vgl. PU, § 587; zu einer früheren Fassung vgl. TS 213: 391. Vgl. auch PU, § 677. – Zu Sätzen wie „diese Gegend macht mich melancholisch“ oder „ich fürchte mich, weil er so finster dreinschaut“, siehe oben S. 228 f.

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ersten Person noch als Beschreibungen, und zwar als ‚phänomenologische‘ Beschreibungen der eigenen unmittelbaren Erfahrung: ‚Hypothesen‘, die sich auf die unmittelbare Erfahrung des Subjekts beziehen, kann eine spätere Erfahrung weder bestätigen noch widerlegen.⁴⁰ Der Autor der späteren Betrachtungen über die Feuerfeste ist jedoch schon lange von seiner phänomenologischen Auffassung abgekommen. Bei ‚psychologischen‘ Sätzen in der ersten Person handelt es sich in Wirklichkeit überhaupt nicht um Beschreibungen. (Äußerungen in der ersten Person ersetzen vorsprachliches Ausdrucksbenehmen.) A fortiori ist auch ein Satz wie „dieser Gebrauch ist o f f e n b a r uralt“ seiner Oberflächengrammatik zum Trotz keine Beschreibung: 1) keine empirische, historische, obwohl er auch so verwendet werden könnte, und ebenfalls 2) keine ‚phänomenologische‘ der eigenen unmittelbaren Erfahrung. Der Satz beschreibt nichts, auch nicht den Eindruck, den der Ritus auf mich macht, sondern bringt etwas zum Ausdruck, nämlich meine Einstellung zu diesem Ritus. Gerade, weil der Satz nichts beschreibt, kann eine spätere (oder frühere) Erfahrung ihn weder bestätigen noch widerlegen. In Wittgensteins anamnestischer Methode trägt der Philosoph Erinnerungen an den Sprachgebrauch zusammen und beschreibt die „Umgebung“ eines Sprachspiels: sehr allgemeine Tatsachen der menschlichen Erfahrung, die vor aller Augen liegen, aber gerade aus diesem Grund zumeist unbeachtet bleiben. Ähnliches verstehen auch die Bemerkungen über die fire festivals unter ‚Introspektion‘: Die aufgerufenen Erinnerungen, die introspektive „Evidenz“, sind keine spezifischen historischen Daten, keine empirisch nachprüfbaren kausalen Zusammenhänge. Der Satz, dass der Brauch offenbar uralt ist, setzt u. a. die (von Frazer geteilte) „Überzeugung“ voraus, dass der Ritus eine nicht nur individuelle, sondern „unendlich viel breitere Basis“ (MS 143:16) haben muss:Wenn er keinem „allgemeinen Hang der Leute“ (MS 143: 16) entsprochen hätte, hätte er sich nicht so lange erhalten, wäre nicht von Generation zu Generation überliefert worden. Das Fest ist nichts Privates, sondern eine Institution. Diese Überzeugung scheint eine richtige Voraussetzung jener „Annahmen über den Ursprung des Beltanefestes“ (MS 143: 16). Aber wie bei den anderen Tatsachen, an die man sich introspektiv erinnert, geht es hier um eine Voraussetzung besonderer Art: Dass Riten ohne eine breite Basis uralt werden können, scheint Wittgenstein weniger falsch als einfach sinnlos. Die Frage „Woher weißt Du das?“ beantwortet der eher vage Hinweis auf die eigene „Erfahrung mit den Menschen“ (MS 143: 17). Bei dieser „Evidenz“, heißt es an anderer Stelle, handelt es sich um „den Gedanken an den Menschen und seine

 Siehe dazu oben § 2.2.2.5, S. 227 ff.

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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Vergangenheit“, um „all das Seltsame, das ich in mir und in den Andern sehe, gesehen und gehört habe“, also zuletzt um eine „Evidenz“, die mit dem rituellen Geschehen (mit der Verteilung des Kuchens bzw. der Auslosung des Todesopfers) „nicht unmittelbar verbunden zu sein scheint“ (MS 143: 20).⁴¹ Die „Erfahrung mit den Menschen“ (MS 143: 17) und die „Erfahrung in unserm Innern“ (MS 143: 15) laufen insofern auf Ähnliches hinaus; v. a. Erinnerungen an das, was ich „in mir und in den Andern“ gesehen und gehört habe, werden hier wachgerufen und zusammengetragen. Die „Erfahrung mit den Menschen“ (MS 143: 17) stützt dementsprechend keine „Deutung“ (keine wissenschaftliche Hypothese), sondern enthält die Gründe für einen bestimmten „Aspekt“, d. h. die Gründe, weshalb sich uns eine bestimmte Betrachtungsweise aufdrängt, nämlich die Gründe, weshalb der Ritus uralt aussieht. Auch „die uns bekannten Tatsachen von Menschenopfern weisen nur die Richtung in der wir den Gebrauch ansehen sollen.“ (MS 143: 12) Man kann weder aus ihnen noch aus jener Erfahrung schließen, dass das Beltanefest wirklich aus einem (vor)geschichtlichen Menschenopfer hervorgegangen ist. Aber vor diesem Hintergrund sieht das Beltanefest wie ein survival aus: Es scheint „zu sinnlos um so erfunden“ bzw. um schon „immer in der gegenwärtigen (oder jüngstvergangenen) Form gefeiert worden“ (MS 143: 16) zu sein. Mit diesem Aussehen hat es für Wittgenstein jedoch eine eigene Bewandtnis: Es spielt sich beim Lesen des Golden Bough und beim anschließenden Zusammentragen ‚introspektiver‘ Erinnerungen nämlich Ähnliches ab wie bei einem Traum und dessen Deutung.

4.3.3 Eine freudsche Urszene? Denke an die Rätselhaftigkeit des Traumes. Ein solches Rätsel m u ß keine Lösung haben. Es intriguiert uns. Es ist, a l s w e n n hier ein Rätsel wäre. Dies könnte doch eine primitive Reaktion sein. Es ist als wenn hier ein Rätsel wäre; aber es muß doch kein Rätsel sein. (Alle

 „Warum soll es aber nicht wirklich nur (oder doch zum Teil) der G e d a n k e sein der mir den Eindruck gibt? Sind denn Vorstellungen nicht furchtbar? Kann mir bei dem Gedanken daß der Kuchen mit den Knöpfen einmal dazu gedient hat das Todesopfer auszulosen nicht schaurig zumut sein/werden/? Hat nicht der G e d a n k e etwas Furchtbares? – Ja aber das was ich in jenen Erzählungen sehe gewinnen sie doch durch die Evidenz auch durch solche die damit nicht unmittelbar verbunden zu sein scheint, – durch den Gedanken an den Menschen und seine Vergangenheit durch all das Seltsame, das ich in mir und in den Andern sehe, gesehen und gehört habe.“ (MS 143: 19 f.)

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Formen sind ähnlich und keine gleichet der andern, und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz.‘) (MS 137: 97a)

Das geheime Gesetz, auf das Goethes Chor deutet, ist hier ein Beispiel für ein scheinbares Rätsel: „Es ist, a l s w e n n hier ein Rätsel wäre“, aber es ist nicht unbedingt so.⁴² Es lohnt sich, diesen Vergleich zwischen Goethes geheimnisvollem Chor und einem Traum weiter zu verfolgen; denn der Kontext, in dem Wittgenstein die ‚Schwierigkeit‘ mit den fire festivals situiert, ist tatsächlich mit dem der Traumdeutung verwandt. Frazer bzw. sein Leser, auch Wittgenstein selbst, befindet sich angesichts jener Gebräuche – der im Golden Bough zusammengestellten Beschreibungen – in einer ähnlichen Lage wie Freud bzw. sein Patient mit seinen Träumen. Sie können demselben Missverständnis erliegen. Die Traumerzählung, ein Gemenge von Erinnerungen. Oft zu einem sinnvollen und rätselhaften Ganzen. Gleichsam zu einem Fragment, das uns s t a r k beeindruckt (m a n c h m a l nämlich), so daß wir nach einer Erklärung, nach Zusammenhängen suchen. Aber warum kamen j e t z t d i e s e Erinnerungen? Wer willˈs sagen? – Es kann mit unserm gegenwärtigen Leben, also auch mit unsern Wünschen, Befürchtungen, etc., zusammenhängen. – „Aber willst Du sagen, daß diese Erscheinung im bestimmten ursächlichen Zusammenhang stehen müsse?“ – Ich will sagen, daß es nicht notwendigerweise Sinn haben muß, von einem Auffinden ihrer Ursache zu reden. (MS 168: 1; 16.1.1949)⁴³

Der starke Eindruck vor dem Rätselhaften treibt uns auf die Suche nach einer Erklärung. Wonach wir eigentlich streben, ist jedoch keine Kausalerklärung, sondern ein Kontext, in dem das Beeindruckende, Rätselhafte, seinen Aspekt wechselt. Einen solchen Aspektwechsel gilt es herbeizuführen: „When a dream is interpreted […] it is fitted into a context in which it ceases to be puzzling. In a sense the dreamer re-dreams his dream in surroundings such that its aspect changes.“ (LA: 45) „If one now remembers certain events in the previous day and connects what was dreamed with these, this already makes a difference, changes the aspect of the dream.“ (LA: 46) ‚Deuten‘ (‚interpreting‘) ist demnach gleichsam ‚wiederträumen‘ (re-dreaming), eben insofern der Traum dabei seinen Aspekt wechselt: Ein „Gemenge von Erinnerungen“ (MS 168: 1) – „events in the previous day“ (LA: 46), „materials […] collected and stored“ (LA: 49) – bildet den neuen Kontext, in dem der Traum seinen Aspekt wechselt.

 Ähnliche Erlebnisse sind für die ‚sekundäre Bedeutung‘ charakteristisch. Vgl. Brusotti 2003.  „Wenn etwas an der Freudschen Lehre von der Traumdeutung ist; so zeigt sie, in wie k o m p l i z i e r t e r Weise der menschliche Geist Bilder der Tatsachen macht/malt/. | So kompliziert, so unregelmäßig ist die Art der Abbildung, daß man sie k a u m mehr eine Abbildung nennen kann.“ (MS 127: 235 f.)

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

329

Auf der Suche „nach Zusammenhängen“ (MS 168: 1) stellen wir uns Fragen wie diese: „Woher kam diese Gestalt nur, und was ist aus ihr geworden?“ (MS 136: 137b; VB: 546 f.; 1948.)⁴⁴ Die Gestalt wirkt hier wie „ein sehr l e b e n d i g e r “ „Teil einer Geschichte //Erzählung//, wovon der Rest im Dunkeln liegt“, und das ist es, was einen am eigenen Traum nachträglich „intriguiert“. Die Frage bezieht sich also im Wesentlichen auf diese Erzählung selbst, auf ihre internen Zusammenhänge, und nicht auf ihren „k a u s a l e [ n ] Zusammenhang mit Geschehnissen meines Lebens“ (MS 136: 137b). Es mag sich zwar durchaus herausstellen, dass es sich bei der vermuteten Erzählung eigentlich um „gar keine richtige Geschichte“ handelt, „daß in Wirklichkeit eine ganz andere ihr zugrunde lag“ (MS 136: 138a); und in der Tat liegt bei Freud dem ‚manifesten‘ Traum der latente Traumgedanke zugrunde. „[A]ber die Traumgeschichte hat dennoch ihren eigenen Reiz, wie ein Gemälde, das uns anzieht und inspiriert.“ „Der Traum ist wie/berührt uns wie/ eine ausführungsschwangere Idee // entwicklungsschwangere Idee.//“ (MS 136: 138a)⁴⁵ Hinterher erkennen wir den latenten Traumgedanken als die Entwicklung an, die der Traum in nuce enthält. „Es wäre denn eben diese Anerkennung, die die Lösung zur Lösung machte.“ (MS 136: 137b) Erst diese Anerkennung „stempelt“ (MS 136: 137b) den Traumgedanken im Nachhinein zu einem solchen und damit zur ersehnten „Lösung“, etwa zur Antwort auf die Frage, woher jene Gestalt kam. Die Traumdeutung ist hier keine ‚Deutung‘ im kausalen Sinn: Die gefundene „Lö-

 Vgl. dazu McGuinness 1979: 70 f. Gargani 1992d: 241, hebt die Analogie zwischen Wittgensteins Frazer-Kritik und Freuds Verfahren hervor. Zu dieser Analogie vgl. auch Puhl 2006. Zu Wittgenstein und Freud vgl. auch Cioffi 1998; Bouveresse 1973; Baker 2004a: 143 ff.; Kroß 2007; Majetschak 2008.  1931 vergleicht Wittgenstein seine neue Sprachbetrachtung mit einer ‚Gedankenbewegung‘, in der aus dem manifesten Traum, also aus der Traumerzählung, der Traum tout court wird. Die Traumerzählung wird damit zum Kriterium des Traums. (Dieselbe Sprachbetrachtung nennt der Philosoph auch eine Relativitätstheorie der Sprache, weil sie aus den Zeichen nicht herauskommen will.) Freud geht freilich nicht so weit: Er nennt zwar die Traumerzählung (manifesten) Traum, unterscheidet von ihr jedoch den zugrunde liegenden Traumgedanken. Darin sieht Wittgenstein ein ähnliches Missverständnis wie bei Frazer. Findlay, der sein Unverständnis nicht verhehlt, erinnert sich an eine „Lecture on memory (and dreams)“ (PPO: 351), die Wittgenstein im Michaelmas Term 1939 hielt. Findlay berichtet über die „by now familiar doctrine that memory did not precede but followed the memory language-game“ (PPO: 351). Insofern sieht Findlay eine Analogie zwischen „the language of memory“ und „the language of dreams, where dream reports are the foundation of dreams and not vice-versa“ (PPO: 352). In seinem Buch Dreaming erklärt Malcolm, laut Wittgenstein sei „dream-telling […] the foundation for the concept of dreaming“ (vgl. PPO: 352 f.). Wittgenstein meint natürlich nicht, dass das Erzählen den Traum hervorbringt bzw. verursacht, sondern, dass der Begriff des Traums beim Traumerzählen verwendet wird und in diesem Sprachspiel seine Wurzel hat.

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4 Die losen Blätter in der Abridged Edition (MS 143)

sung“, der Traumgedanke, ist nicht die Ursache des Traumes, die unbekannt bleibt, sondern ein Grund, ein neuer Aspekt, unter dem der Traum nachträglich erscheint. Beim Lesen des Golden Bough scheint es ähnlich zuzugehen wie beim Deuten dieser Träume: Auch die fire festivals wechseln ihren Aspekt, wenn neue Zusammenhänge hergestellt werden. Die Fragen, die wir uns bei ihnen stellen, erinnern an diejenigen bei manchen Träumen: „Woher kam diese Gestalt nur […]?“ (MS 136: 137b) und „dieser Gebrauch ist o f f e n b a r uralt“ (MS 143: 13) sind verwandte Äußerungen von Unbehagen und Faszination. Turners Bild The Golden Bough oder Frazers Erzählung vom Waldkönig scheinen uns ähnlich zu beeindrucken wie ein solcher Traum. Der Satz „dieser Gebrauch ist o f f e n b a r uralt“ ist keine verifizierbare Aussage über das Beltanefest: Es geht nicht darum, das ‚Urfest‘ irgendwie zu datieren bzw. eine historische Hypothese aufzustellen, auf die eine empirische Verifikationsmethode prinzipiell anwendbar wäre.⁴⁶ Die Frage ist vielmehr eigentlich: Drückt ein Satz wie „dieser Gebrauch ist o f f e n b a r uralt“ meine Erfahrung aus, bringt er den Eindruck, den Frazers Beschreibung auf mich macht, adäquat zur Sprache? Das kann nur ich selbst sagen, und ich entscheide es, indem ich es mit mir ausmache, eben ‚durch Introspektion‘. Introspektion‘ steht hier für nichts Weiteres als für diesen Klärungsprozess, in dem ich mit mir einig werde. Durch seine Anerkennung „stempelt“⁴⁷ der Leser den Satz zum richtigen Ausdruck der eigenen Erfahrung und verbindet so das Beschriebene mit der eigenen Gefühlswelt: Diese Anerkennung ist das, was Wittgenstein den zweiten ‚Teil‘ der Betrachtung nennt, denjenigen, dem diese ihre „Tiefe“ (MS 143: 8) verdankt und in dem die Beunruhigung ihr Ende findet. Die Traumerzählung ist ein „Gemenge von Erinnerungen“ (MS 168: 1). Auch wenn Wittgenstein Frazers Erzählung liest, stellt sich bei ihm ein „Gedränge der Gedanken“ (MS 110: 181) ein; auch mit der Erzählung vom Priesterkönig und mit dem ‚Chor‘ verwandter Feste geht ein starker Eindruck einher. Die Traumerzählung ist ein Konstrukt, eine Einbildung, die rückblickend (und erst im Nachhinein) dem

 Aber könnte man hier tatsächlich sagen, dass eine empirische Verifikation unwichtig ist? Wittgenstein meint wohl, dass es für jenen Satz keine gibt. Wenn es aber doch eine gäbe, würde der Satz schon deshalb jene tiefe, finstere Beunruhigung nicht mehr ausdrücken können? Könnte er in diesem Fall nicht vielmehr als Aussage und als Äußerung verwendet werden? Dies ginge nur dann nicht, wenn Tatsache und Wert strikt zu trennen wären und zwischen Ursache und Grund, zwischen ‚empirisch‘ und ‚nicht empirisch‘ eine strikte Dichotomie bestünde: Der Satz könnte dann höchstens von einer Bedeutung in die andere wechseln. So dichotomisch denkt aber nur der frühe Wittgenstein. Der späte lässt diese Dichotomien hinter sich.  So MS 136: 137b, zu Freuds Traumdeutung.

4.3 Selbstverstehen und Fremdverstehen in Bemerkungen über die Fire-festivals

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Material einen Sinn, einen Grund gibt – und eine tiefe Dimension, einen neuen Aspekt. So verhält es sich auch bei Frazers ‚Erklärung‘: Das Menschenopfer ist, anders als der Ethnologe vermeint, keine hypothetische Ursache. Es ist vielmehr etwas wie eine Urszene: Das gesammelte ‚Material‘ erscheint nun als die tragische Wiederholung eines grausamen Ur-Festes. Dieses ähnelt der Urpflanze: In Frazers Darstellung fungiert es nämlich als das Sinnbild eines geheimnisvollen ‚Gesetzes‘, das durch unzählige Variationen hindurch zu erahnen ist. So scheint es wenigstens dem Leser Wittgenstein. Die frazersche Beschreibung hat ihm zufolge den Status ästhetischer Gründe: Sie verbindet die fire festivals mit unseren Gedanken und Gefühlen. Für ihre ‚Richtigkeit‘ gelten keine empirischen Kriterien. So auch bei der Deutung eines Traumes: Unsere „Anerkennung“ „stempelt“ sie zur Lösung, zum „gefundenen, also gesuchten“ Wort (MS 136: 137b), und diese Anerkennung ist kein empirisches Kriterium.⁴⁸ „Hier könnte man wirklich sagen: erst wenn man gefunden hat, wisse man, was man gesucht hat – ähnlich wie Russell über das Wünschen redet.“ (MS 136: 137b)

 Dieselbe Funktion spielt die ‚Anerkennung‘ bei einem philosophischen Problem. Auch hier ‚stempelt‘ sie die Lösung zur Lösung. Deshalb wird die Philosophie mit der Psychoanalyse verglichen: „Wir können ja auch nur dann den Andern eines Fehlers überführen, wenn er anerkennt, daß dies wirklich der Ausdruck seines Gefühls ist. [… wenn er diesen Ausdruck (wirklich) als den richtigen Ausdruck seines Gefühls anerkennt.] | Nämlich, nur wenn er ihn als solchen anerkennt, i s t er der richtige Ausdruck. (Psychoanalyse)“ (MS 110: 230). Zu den Grenzen von Wittgensteins Deutung der Psychoanalyse siehe oben S. 280 f., insbes. Anm. 13.

5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen. Wittgensteins „ethnologische Betrachtungsweise“ Die Regel ist, als Regel, losgelöst, und steht, sozusagen, selbstherrlich da; obschon, was sie wichtig macht // was ihr Wichtigkeit gibt//, die Tatsachen der täglichen Erfahrung sind. […] Was ich zu tun habe, ist etwas,wie: das Amt eines Königs zu beschreiben; – wobei ich nicht in den Fehler verfallen darf, das königliche Amt/die königliche Würde/ aus seiner |der| Nützlichkeit |des Amtes/Königs/| zu erklären; und doch weder Nützlichkeit noch Würde außer Acht lassen darf. (MS 124: 13 f.; BGM: 357; 9.6.1941).

Die Aufgabe, das Königsamt zu beschreiben, ist hier nur Metapher. Trotzdem fasst Wittgenstein nun diese Beschreibung anders auf als in den Bemerkungen von 1931 etwa zum Priesterkönig, zum Regenkönig oder zum Mikado. Zwar betrachtet er es weiterhin als einen „Fehler“, wie im Golden Bough „die königliche Würde“ aus der „Nützlichkeit“ des Königs zu erklären; aber er streitet Letztere nicht ab. Im Gegenteil: Die Beschreibung darf diese „Nützlichkeit“ nicht „außer Acht lassen“ (MS 124: 14; BGM: 357). Nicht nur eine kausale Erklärung à la Frazer, auch eine (normative) Beschreibung darf von instrumentellen Aspekten nicht absehen; sie sind die (oder zählen zu den) „Tatsachen der täglichen Erfahrung“, die der Regel ihre „Wichtigkeit“ geben. Wittgensteins spätere ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ unterscheidet sich also gravierend von seiner Frazer-Kritik im Juni-Juli 1931.¹ Die mentalistischen Versuchungen, denen er zu dieser früheren Zeit erliegt (§ 5.1), weichen einer reiferen Denkbewegung. Im Februar 1932 nimmt er offenbar in Auseinandersetzung mit Sraffa einige Ansätze seiner Frazer-Bemerkungen auf und wendet sie auf die Normativität grammatischer Regeln an; dabei richtet er gegen Sraffas anthropologische Betrachtungsweise ähnliche Argumente wie früher gegen den Golden Bough (§ 5.2).

5.1 Genrebild und Porträt. Mentalistische Versuchungen Die „Behauptung“ besteht – so die Philosophischen Untersuchungen – nicht „aus zwei Akten, dem Erwägen und dem Behaupten (Beilegen des Warheitswerts, oder dergl.)“ (PU, § 22). Frege war dagegen der „Ansicht“, „daß in einer Behauptung

 De Lara (2005: 115) schließt dagegen von dieser Bemerkung auf die Position der Frazer-Notate von 1931. Dies ist aber nicht berechtigt.

5.1 Genrebild und Porträt. Mentalistische Versuchungen

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eine Annahme steckt, die dasjenige ist, was behauptet wird“ (PU, § 22). Frege war zwar nicht im Unrecht, wenn er sich die „Annahme“ ähnlich wie ein „Satzradikal“ dachte; falsch war aber, dass er das „Satzradikal“ als mentalen Akt (das „Erwägen“) auffasste und das, was zum Satzradikal hinzukommt, als einen weiteren Akt (etwa das Behaupten), der den ersten ergänzt. Die Philosophischen Untersuchungen sehen in diesen ‚Akten‘ nur eine Mythologie: Zum Satzradikal kommt kein mentaler Akt hinzu, sondern „die Rolle“, „die das Aussprechen dieser Worte im Sprachspiel spielt“ (PU, § 21). Daraus zieht Wittgenstein einen wichtigen Schluss. Frege zufolge entspricht den Grundarten mentaler Akte, die zum ersten Akt (dem „Erwägen“, der „Annahme“) hinzukommen können, die gleiche, sehr begrenzte, Zahl von Satzarten, „[e]twa Behauptung, Frage und Befehl“ (PU, § 23). Wittgenstein hält dagegen: „Es gibt u n z ä h l i g e solcher Arten“, d. h. Satzarten; es gibt nämlich unzählige Verwendungen, und es entstehen „immer neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele“ (PU, § 23). Die Kritik mentalistischer Theorien eröffnet also den Blick für die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele und Lebensformen. Noch die Maschinenschrift TS 211 hatte sich viel enger an Frege angelehnt. Wittgensteins damalige Position in diesen Fragen hängt mit wesentlichen Themen der Frazer-Notate zusammen.² In den zugrundeliegenden Manuskripten beschäftigt er sich mit diesen Fragen v. a. kurz nach seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Seine Ausführungen zeigen, welche Unsicherheiten ihn damals noch plagen – und wie fern seine spätere ‚ethnologische Betrachtungsweise‘ noch ist. Die Maschinenschrift beginnt so: „Historisches Drama; kann man es falsch nennen? ‚Nein, es ist ja nicht als Geschichtsschreibung gemeint‘.“ (TS 211: 1; MS 111: 1) Die negative Antwort ist richtig und ähnelt einem anderen Einwand: Wittgenstein kritisiert nämlich Frazers Grundtendenz, magische und religiöse Anschauungen als Theorien und daher als falsch anzusehen, d. h. rituelles Handeln auf (irrtümliche) Meinungen zurückzuführen. Die Maschinenschrift betont im Allgemeinen, dass Sprachliches und Visuelles, das nicht unbedingt als „wahr“ oder „falsch“ anzusehen ist, trotzdem Sinn haben kann (so die Sätze eines Romans oder eines Theaterstücks bzw. Genrebilder). Denselben Text kann man als „Geschichtswerk“ auffassen oder aber „als die Erdichtung eines Geschichtswerkes“ (TS 211: 1; MS 111: 1). Aber wenn ein histori-

 Dies zeigt sich auch im Aufbau von TS 211. Wittgenstein nimmt die Fragestellung, die das Typoskript eröffnet, auch unmittelbar vor (und zum Teil nach) dem zentralen Abschnitt wieder auf, in dem er die meisten Bemerkungen zum Golden Bough gruppiert hat. Auch die Seiten, die diesem Abschnitt unmittelbar folgen (TS 211: 323 ff.), kommen in einer Erörterung der Verneinung auf das Thema („Genrebild“) zurück.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

sches Drama „nicht als Geschichtsschreibung gemeint“ ist: „Worin liegt diese M e i n u n g ?“ (TS 211: 1; MS 111: 1) Das Problem stellt sich Wittgenstein damals bei allen propositionalen Einstellungen, ja bei allen Arten von Symbolen. Was heißt es, ein Bild als Porträt aufzufassen? Was macht ein Bild zu einem Bild von jemandem (vgl. PG: 102; BPP I, § 262)? Mysteriös ist dies nur in einer ‚psychologischen‘ Interpretation; und Wittgenstein erliegt hier noch mentalistischen Versuchungen: Was den Unterschied macht, ist demnach etwas Mentales, die „Meinung“ bzw. „Auffassung“. Der Philosoph fragt sich, ob erdichtete Sätze etwa dem entsprechen, „was Frege und Meinong ‚Annahmen‘ nannten“ (TS 211: 336; MS 109: 26). Wittgenstein lehnt sich offenbar an Freges Unterscheidung zwischen Annahme und Behauptung bzw. zwischen Gedanken (Sinn) und Kraft an und unterscheidet zwischen „Sinn“ des Satzes und „Meinung“. „Also ist die Meinung (Auffassung) in diesem Sinne ein bestimmtes Erlebnis, das mit den Zeichen //dem Aussprechen// des Satzes Hand in Hand geht, aber an dem Sinn des Satzes nichts ändert, ob es nun so oder anders ist.“ (TS 211: 2; MS 111: 3) „Meinung (Auffassung)“ heißt hier, wie der Satz gemeint ist, ob „im Ernst oder im Spass“, bzw., mit Frege, ob der Satz behauptet wird oder nicht. In dem Abschnitt der Maschinenschrift, der dem mit den meisten FrazerNotaten unmittelbar vorangeht, kommt Wittgenstein auf dieses Thema zurück.³ Genrebilder wie „die ‚Malheurs de Chasse‘“ und „Erzählungen, etwa des Baron Münchhausen“, haben demnach Sinn, auch wenn für sie keine Verifikation vorgesehen ist, ja „sie gar nicht auf eine Methode der Verifikation deuten“ (TS 211: 312; MS 110: 300; vgl. schon MS 153a; vgl. auch PG: 164). Offenbar distanziert sich der Philosoph von seinem einstweiligen sinntheoretischen ‚Verifikationismus‘. Die ‚Verifikation‘, die er hier offenbar als mentalen Vorgang versteht, ist nicht das, was dem Satz seinen Sinn gibt. Sie hat eine andere Rolle: Erst durch die Verifikation wird aus einer „Annahme“ ein Satz. Die Verifikation macht den Unterschied zwischen „Annahme“ und Satz. Wie ist es mit den Sätzen, die in Dichtungen vorkommen. Hier kann doch gewiss von einer Verifikation nicht geredet werden und doch haben diese Sätze Sinn. Sie verhalten sich zu den Sätzen, für die es Verifikation gibt, wie ein Genrebild zu einem Portrait. Und dieses Gleichnis dürfte wirklich die Sache vollständig darstellen. Entsprechen diese Sätze etwa dem, was Frege und Meinong ‚Annahmen‘ nannten? Denn in jenen erdichteten Sätzen haben doch die Wörter Bedeutung, wie in den anderen; […] (TS 211: 336; MS 109: 26).

 Zu Wittgensteins reifen Ausführungen über das Genrebild vgl. PU, § 522 ff.

5.1 Genrebild und Porträt. Mentalistische Versuchungen

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„Ist der Satz/die Sprache/ ein Bild, so kann ihn/sie/ nicht erst die Meinung dazu machen. Die Meinung macht ihn nur zum Portrait.“ (TS 211: 337; MS 109: 28) Und das Bild ist „nicht f a l s c h“, „es sei denn, daß es als Portrait aufgefasst wird.“ (TS 211: 323).⁴ Zwar darf man durchaus sagen, dass Genrebilder wie die „Malheurs de Chasse“ (TS 211: 312) und „Erzählungen, etwa des Baron Münchhausen“ (TS 211: 312), nicht wahr sind. Dies kann aber irreführen, nämlich, wenn es suggeriert, dass der Genremaler „im Unrecht“ ist (TS 211: 312; MS 110: 300). Und dies ist genau der Fehler, den auch der hier nicht erwähnte Frazer begeht, wenn er magische und religiöse Anschauungen als ‚Irrtümer‘ bezeichnet. In den Bemerkungen über den Golden Bough (MS 110) kritisiert Wittgenstein die Grundtendenz der evolutionären Ethnologie, rituelles Handeln auf Meinungen zurückzuführen. In den Betrachtungen zu Genrebild und Porträt, die er kurz danach niederschrieb, versteht er unter „Meinung“ etwas anderes, Mentales; aber es geht auch hier um Sätze, die keine Behauptungen sind, die der Sprecher nicht für wahr hält und bei denen er schon deshalb nicht im Unrecht ist. Die Überlegungen zu Genrebild und Porträt zeigen, dass Wittgenstein damals noch zu einer mentalistischen, intentionalistischen Interpretation tendiert: Ausschlaggebend ist ein mentaler Akt, die ‚Meinung‘ bzw. ‚Auffassung‘, die das Bild gegebenenfalls zum Porträt macht. Eine Alternative erwähnt Wittgenstein bereits, aber ohne sie wirklich in Erwägung zu ziehen: „Ich wollte eigentlich sagen: Das was das Spiel zum Spiel macht ist seine Stellung im Leben [im menschlichen Leben]. Aber ist das wahr?“ (MS 112: 17r; vgl. 16r, 18v; vgl. MS 110: 293.) Wittgenstein hegt über Berechtigung und Tragweite dieses Vorschlags freilich noch Zweifel. Aber noch mehr: Dass Spiel und Arithmetik (oder Gesetze und Konstatierungen) sich wegen ihrer jeweils anderen ‚Stellung‘ bzw. ‚Rolle‘ im menschlichen Leben voneinander unterscheiden, scheint ihm damals ein Missverständnis. Um die „Rolle“, die Gesetze in unserem Leben spielen, und/oder um die Art, wie wir sie „betrachten“, geht es in seiner Auseinandersetzung mit Sraffa im Februar 1932.

 „Das hängt auch damit zusammen, daß ja der Tintenstrich nicht f a l s c h ist. (Wie auch das Bild nicht, es sei denn, daß es als Portrait aufgefasst wird.) […]“ (TS 211: 323; MS 109: 2). Der erste Satz erinnert an Frege. Wittgensteins Vergleich ist allerdings irreführend: Vom Tintenstrich kann man nämlich nur insofern sagen, er sei nicht falsch (und nicht wahr), als er keinen Gedanken ausdrückt; aber so betrachtet ist er nicht nur kein Porträt, sondern nicht einmal ein Bild.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

5.2 „Das kommt drauf an, was für eine Rolle sie in seinem Leben spielen.“ Im Gespräch mit Sraffa Wittgenstein vergleicht den Philosophen, der die grammatischen Tatsachen übersichtlich darstellen will, mit einem Ethnologen oder Feldlinguisten, der „Regelverzeichnisse“ für die Spiele oder die Sprache eines fremden Volkes anlegt. Gesprochen wird nämlich ohne explizit formulierte Regeln, und der Sprecher ist weit davon entfernt, einen Überblick zu haben. Die Wilden haben Spiele (oder wir nennen es doch so), für die sie keine geschriebenen Regeln, kein Regelverzeichnis besitzen. Denken wir uns nun die Tätigkeit eines Forschers die Länder dieser Völker zu bereisen und Regelverzeichnisse für ihre Spiele anzulegen. Das ist das genaue Analogon zu dem, was der Philosoph tut. (MS 112: 99r; TS 211: 496)⁵

Selbst bei Sprachen, die nach den damaligen Standards sprachwissenschaftlich erschlossen sind, bleibt die philosophische Grammatik mit ihren feineren Unterscheidungen zwischen „Wortarten“ (TS 213: 413) ungeschrieben. Dennoch ist die Analogie des Forschers, der dem Spiel- oder Sprachgebrauch „Regelverzeichnisse“ gleichsam abliest, potentiell irreführend. Noch Anfang 1931 ist Wittgenstein offenbar unklar, ob die übersichtliche Darstellung der grammatischen Regeln mit der Beschreibung der sprachlichen Tatsachen, d. h. des gegebenen Sprachgebrauchs zusammenfällt. Wie ist aber der Zusammenhang des Gebrauchs der Sprache und der Regeln der Grammatik/ grammatischen Regeln/? Soll ich sagen die Regeln der Grammatik seien die Regeln nach denen (d. h. in Übereinstimmung mit welchen) das Sprechen einer Gruppe von Menschen tatsächlich/erfahrungsgemäß/ vor sich geht. (MS 109: 280, 29.1.1931; TS 211: 141)

 In TS 212 (in TS 211 noch nicht) bemerkt Wittgenstein dann zu dieser Aufzeichnung handschriftlich: „Warum sage ich aber nicht: Die Wilden haben Sprachen (oder wir …), … keine geschriebene Grammatik haben……“ (TS 212: 1188; TS 213: 426). Vgl. auch MS 110: 109 f., und siehe dazu oben S. 69 f., Anm. 24. Wittgensteins Analogie zwischen Philosophen und Feldlinguisten geht nicht unbedingt auf den Golden Bough zurück. (Zumindest datiert diese Aufzeichnung aus der Zeit vor seiner ersten schriftlich überlieferten Auseinandersetzung mit Frazer.) In den breiteren Zusammenhang seiner ethnologischen Lektüre gehört jedoch, dass er sich (gleichsam als ‚Feldforscher‘) von den Metaphysikern absetzt, die wie der ‚Lehnstuhlethnologe‘ Frazer von ihrem Schreibtisch aus fragen. Vgl. TS 213: 416; vgl. etwa auch TS 211: 520. – Vor allem wegen der Ähnlichkeiten mit dem Szenario der ‚radikalen Übersetzung‘ bei Quine wurde Wittgensteins ethnologisches Gleichnis als „Ursituation der neueren analytischen Philosophie“ bezeichnet (vgl. J. Schultes Nachwort in: Davidson 1993: 112; Sedmak 1994: 82). Zum Unterschied zwischen den Regelverzeichnissen bei Wittgensteins Forscher und den Übersetzungshandbüchern bei Quines Feldlinguisten siehe die Hinweise oben S. 366, Anm. 64.

5.2 Im Gespräch mit Sraffa

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Ist die Grammatik, wie ich das Wort gebrauche, nur die Beschreibung der tatsächlichen Handhabung der Sprache //Sprachen//? So daß ihre Sätze eigentlich wie Sätze einer Naturwissenschaft aufgefaßt werden könnten? | Das könnte man die descriptive Wissenschaft vom Sprechen nennen, im Gegensatz zu der vom Denken. | Es könnten ja auch die Regeln des Schachspiels als Sätze aus der Naturgeschichte des Menschen aufgefasst werden. (Wie die Spiele der Tiere in naturgeschichtlichen Büchern beschrieben werden.) (TS 213: 408; MS 109: 282)

Wittgenstein wird diese Fragen später verneinen: Regeln sind nicht einfach Erfahrungssätze über beobachtbare Regularitäten im Sprachgebrauch. Das Problem des Regelfolgens wird zeigen, dass eine regularistische Position unhaltbar ist. Anfangs aber schwankt Wittgenstein zwischen einem deskriptiv-empirischem und einem normativen Ansatz. Zunächst bekannte er sich noch eindeutig zum ersteren: Gegen eine ‚pneumatische‘ Auffassung hieß es zuerst einfach, die Grammatik sei „nicht die descriptive Wissenschaft des Denkens, sondern des Sprechens“ (MS 109: 282; 30.1.1931). Abstand von dieser deskriptiven Wissenschaft des Sprechens gewinnt der Philosoph in kritischem Austausch mit dem Ökonomen. In eine neue getippte Fassung fügt Wittgenstein den Namen „[Sraffa]“ (TS 212: 1108) handschriftlich ein – offenbar, weil er eine von diesem im Gespräch vertretene Position aufgreift bzw. in eigenen Begriffen wiedergibt. „If the rules of language“ – schreibt Sraffa – „can be constructed only by observation, there never can be any nonsense said. This identifies the cause and the meaning of a word. […]“ (WC: 196, Nr. 144; Januar-Februar 1932). Wer Bedeutung als Ursache auffasst, d. h. Regeln als Kausalgesetze, die sich aus der empirischen Beobachtung ergeben, kann dann zwischen Sinn und Unsinn nicht mehr unterscheiden. Der Ökonom dürfte diese Aufzeichnung als Diskussionsvorlage für seine Gespräche mit Wittgenstein verwendet haben; am 20. Februar 1932 steckt Letzterer nun im Anschluss an dieses oder ein anderes Gespräch die Grenze deutlich ab, die seinen Standpunkt von einer deskriptiven Wissenschaft trennt – und damit von Sraffas Vorschlag. Dies geschieht, noch bevor Wittgenstein Begriffe wie ‚Sprachspiel‘ und ‚Lebensform‘ einführt.⁶  Der Ausdruck „Sprachspiel“ taucht einige Tage später, am 1. März, zum ersten Mal auf. Vgl. MS 113: 45r-45v. Er setzt sich jedoch nicht unmittelbar durch: Wittgenstein verwendet ihn in einigen Aufzeichnungen, aus denen beim Diktieren § 46 des Big Typescript hervorgehen wird: „Fu n k t i o n i e r e n d e s S a t z e s a n e i n e m S p r a c h s p i e l e r l ä u t e r t “ (TS 213: 201). Dann aber kommt der neue Begriff im Manuskript erst einmal nicht mehr vor. (Er wird verwendet in MS 113: 45r, 50r, 50v, 51r, 53r, 55v, MS 114: 4, 9, 117, MS 115: 13.) – Sind fiktive Sprachspiele Lebensformen? Gehören sie zu einer Lebensform bzw. – wie es zuerst auch heißen wird – „Form des Lebens“? Den (scheinbar) naheliegenden Gedanken, dass Sprachspiel und Lebensform zusammenhängen oder sogar zusammenfallen, arbeitet Wittgenstein erst später aus. Selbst im Großen Format kommt nicht einmal der Ausdruck „Lebensform“ vor.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Ihm geht es einerseits um den Status der philosophischen Grammatik, die den Sprachgebrauch beschreibt bzw. dessen Regeln aufstellt, andrerseits aber auch um wesentliche Unterschiede in diesem Gebrauch selbst: Sprache darf nicht auf ihre deskriptive Funktion reduziert werden. Eine grammatische Regel ähnelt demnach „einem Gesetz im Staat“, und die Analogie liegt darin, dass Letzteres „nichts darüber aussagt was geschieht noch auch sagt daß jemand wünscht daß so und so gehandelt werde“ (MS 113: 24v): Eine grammatische Regel lässt sich hiernach weder als Tatsachenbehauptung noch als propositionale Einstellung (Wunsch, Befehl) formulieren. Der Sprecher selbst, sofern er grammatische Regeln befolgt, bezieht einen normativen Standpunkt. Dem werden Naturalisten wie die Kausaltheoretiker nicht gerecht, die dem Sprecher einen anderen Standpunkt zuschreiben, den nicht normativen, der ihren eigenen Forschungsansatz kennzeichnet. Und Sraffa? In Hinsicht auf das Normative gab es zwischen ihm und Wittgenstein wohl Differenzen. (Sraffa) Ein Ingenieur baut eine Brücke; er schlägt dazu in mehreren Handbüchern nach; in technischen Handbüchern und in juridischen. Aus den einen erfährt er daß die Brücke zusammenbrechen würde wenn er diesen Teil schwächer machen würde als etc.etc.; aus den andern daß er eingesperrt würde wenn er sie so und so bauen würde. – Stehen nun die beiden Bücher nicht auf gleicher Stufe? – Das kommt drauf an wie sie in sein was für eine Rolle sie in seinem Leben spielen. Das juridische Handbuch kann ja für ihn einfach ein naturgeschichtliches/Buch über die Naturgeschichte der ihn umgebenden Menschen/ sein.Vielleicht muß er auch ein Buch über das Leben der Biber nachschlagen um zu erfahren wie er die Brücke streichen muß daß die Biber sie nicht annagen. – Gibt es aber nicht noch eine andere Weise die Gesetze zu betrachten? Fühlen wir nicht sogar deutlich, daß wir sie nicht so betrachten? – Ist dies nicht die gleiche Frage wie: – Ist ein Vertrag nur die Feststellung, daß es |für die Parteien| nützlich ist, so und so zu handeln? Fühlen wir uns nicht in manchen Fällen (wenn auch nicht in allen) auf andre Weise „durch den Vertrag gebunden“? – Kann man nun sagen: „Wer sich durch einen Vertrag oder ein Gesetz gebunden fühlt stellt sich irrtümlicherweise das Gesetz als einen Menschen (oder Gott) vor der ihn mit physischer Gewalt zwingt“? Nein; denn wenn er handelt als ob ihn jemand zwänge so ist doch seine Handlung jedenfalls Wirklichkeit und auch die Vorstellungsbilder die er etwa dabei hat sind nicht Irrtümer; und er braucht sich in nichts irren und kann doch handeln wie er handelt und sich auch vorstellen, was er sich etwa vorstellt. Die Worte „der Vertrag bindet mich“ sind zwar eine bildliche Darstellung und daher mit der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „binden“ ein falscher Satz: aber richtig aufgefaßt sind sie wahr (oder können es sein) und unterscheiden einen Fall von dem in welchem der Vertrag mir bloß sagt was zu tun mir nützlich ist. Und wenn man etwas gegen die Worte einwendet „der Vertrag (oder das Gesetz) bindet mich“, so

5.2 Im Gespräch mit Sraffa

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kann man nichts sagen gegen die Worte: „ich fühle mich durch den Vertrag gebunden“. (MS 113: 25r-25v-26r; TS 211: 572 f.; TS 212: 709 f.; TS 213: 242 f.)⁷

Das Beispiel zeigt einen praktischen Handlungszusammenhang. Ein Ingenieur, der eine Brücke baut, greift auf mehrere Handbücher zurück. Sie enthalten Handlungsanweisungen, wenn auch unterschiedlicher Art. Stehen nun technische und juristische Handbücher, eben weil sie Handlungsanweisungen enthalten, „nicht auf gleicher Stufe“? Die erste Antwort auf diese Frage ist: Es komme auf die „Rolle“ an, die das jeweilige Handbuch „im Leben“ des Ingenieurs spiele. Dieser methodische Vorschlag, den Wittgenstein sich in späteren Jahren zu eigen machen wird, ist hier nicht unbedingt sein eigener;⁸ und der Vorschlag scheint nicht zu dem Ergebnis zu führen, dass es einen relevanten Unterschied gibt: Für den Ingenieur könne das juristische „ja […] einfach ein Buch über die Naturgeschichte der ihn umgebenden Menschen sein“; und in diesem Fall hätte es doch eine vergleichbare Rolle wie die technischen Handbücher. Der Ingenieur würde Gesetze nämlich als Feststellungen über den voraussichtlichen Nutzen und Schaden einer bestimmten Handlungsweise ansehen, als hypothetische Imperative, die er befolgen muss, wenn er bestimmte unangenehme Folgen (etwa Strafen) vermeiden will. Der oberste Gesichtspunkt wäre in diesem Fall die Nützlichkeit. Das Notat, und jetzt zweifellos Wittgenstein selbst,⁹ besteht aber anschließend darauf, dass es eine alternative Betrachtungsweise gibt, ja verneint gleich, dass wir Gesetze (nur) unter einem kausalen und utilitaristischen Gesichtspunkt beurteilen. Wir „betrachten“ sie doch anders, und zwar als Normen, die uns binden.

 Zu dieser Aufzeichnung und der unten zitierten späteren vgl. Kienzler 1997: 51 ff.; McGuinness 2008: 150 f.; Engelmann 2013b: 172 ff. Auf fiktive Handlungszusammenhänge wie die hier kommentierten werden Wittgenstein und Sraffa in ihren Gesprächen des Öfteren eingegangen sein. Aber selbst im Big Typescript stellt die Sprache noch keine Praxis im Sinn der Philosophischen Untersuchungen dar.  So Engelmann 2013b: 172 f.  Engelmann 2013b: 172 f., zufolge stellt Wittgenstein im ersten Teil des Notats Sraffas Position dar, gegen die er dann im zweiten Teil argumentiert. Der Einwand beginnt demnach mit dem Satz: „Gibt es aber nicht noch eine andere Weise, die Gesetze zu betrachten?“ Die Textur der Aufzeichnung scheint mir indes komplizierter, als Engelmann annimmt: Zusatzargumente, Präzisierungen und Repliken lassen sich nicht immer auseinanderhalten, geschweige denn eindeutig Sraffa oder Wittgenstein zuordnen. Eine Grundannahme Engelmanns scheint mir aber viel für sich zu haben: Er geht davon aus, dass das Notat Sraffas Position widergibt, wenn es die „Rolle“ des juristischen Handbuchs „im Leben“ des Ingenieurs unterstreicht. Ich neige ebenfalls zu der Ansicht, dass es sich nicht um Wittgensteins eigene Position handelt. Zu einem anderen wichtigen Ergebnis Engelmanns siehe unten S. 345, Anm. 19.

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Diese normative Betrachtungsweise – so ein möglicher Einwand – sei aber falsch, und die bindende Kraft der Norm ein Irrtum. Man könne gegebenenfalls zu Recht feststellen, dass eine Norm nützlich sei; man behaupte aber zu Unrecht, dass sie einen selbst binde. Wittgenstein wehrt diesen Einwand entschieden ab. Über die Nützlichkeit einer Vorschrift mag man sich irren, die entsprechende Aussage mag wahr oder falsch sein. Aber ein Sprecher stellt nicht fest, dass eine Norm ihn bindet, er äußert es: Diese Äußerung bedient sich eines Bildes; und „eine bildliche Darstellung“ wird erst dann zu einem Irrtum, etwa zu einem philosophischen, wenn sie missverstanden wird. Sie ist „wahr“ (oder kann es sein), wenn sie nur „richtig aufgefaßt“ wird, d. h. als wahrhaftige Äußerung eigener Gefühle und nicht als hypothetische Feststellung, beziehe sich nun Letztere auf die Nützlichkeit des Gesetzes oder auf dessen bindende Kraft. Man darf bei „Vorstellungsbilder[n]“ wie dieser bindenden Kraft nicht von Irrtümern reden, sofern die entsprechenden Sätze nicht als Aussagen gemeint sind. Ein Satz wie ‚der Vertrag (oder das Gesetz) bindet mich‘ lässt sich nämlich in einen Ausdruck subjektiven Gefühls umformulieren, in eine Äußerung (avowal) wie ‚ich fühle mich durch den Vertrag gebunden‘; beim Ausdrücken eines Gefühls ist die (wahrhaftige) Aussage des Sprechers das ausschlaggebende Kriterium. Man kann gegen eine Äußerung gegebenenfalls einwenden, dass der Sprecher dabei nicht wahrhaftig ist, uns etwas vormacht, nicht jedoch, dass er sich irrt. Wer sich durch das Gesetz gebunden fühlt, begeht keinen Irrtum. Wer derlei „Vorstellungsbilder“ als Irrtümer betrachtet, ist auf dem gleichen falschen Pfad wie Frazer, wenn dieser religiöse „Anschauungen“ mit Meinungen verwechselt. (Etwa so könnte Wittgenstein Einwände Sraffas abgeblockt haben, hinter der Idee einer normativen, bindenden ‚Kraft‘ des Gesetzes stecke die irrtümliche anthropo- bzw. theomorphische Vorstellung (Mythos) der zwingenden physischen Kraft eines Menschen oder Gottes.) Diese alternative Art, Regeln zu betrachten, ist uns demnach von der Ethik vertraut. Bereits in ethischen Reflexionen war Wittgenstein auf Sprechhandlungen aufmerksam geworden und auf den Unterschied zwischen Deskriptivem und Normativem. Ethische Sätze sind keine Feststellungen über das, was eine Menschengruppe sagt und tut („diese Menschen sagen das sei gut“), sondern Imperative („Du sollst das tun!“) oder Äußerungen („Das ist gut!“). Es sind zuletzt persönliche Handlungen.¹⁰ Was der Philosoph hier von anthropologischen Konstatierungen abhebt, sind anders als im früheren Vortrag über Ethik keine sinnlosen Pseudosätze, die gleichsam gegen die Grenzen der Sprache stoßen, sondern Sprechhandlungen (z. B. Imperative): Sie haben einen Sinn, nur sind sie weder

 Siehe dazu oben S. 39 ff.

5.2 Im Gespräch mit Sraffa

341

wahr noch falsch. Den Leser des Golden Bough warnt Wittgenstein dann in ähnlicher Absicht davor, magische und religiöse Äußerungen als wahre oder falsche Aussagen misszuverstehen sowie magische Riten und Gebräuche auf Meinungen zurückzuführen, insbesondere auf abergläubische Theorien über ihre (angebliche) Nützlichkeit. Das Sraffa-Notat vom 20. Februar 1932 kommt auf Norm und (anthropologische) Konstatierung zurück und verallgemeinert die Unterscheidung: Wittgenstein dehnt nun die normative Auffassung weit über die Ethik hinaus auf grammatische Regeln aus. Auch 1940 besinnt er sich auf ein „Gespräch mit Sraffa“, möglicherweise sogar auf dasselbe, nun länger zurückliegende, und wendet ein eng verwandtes Gleichnis auf „die Sätze der Mathematik“ an: Ist Mathematik Sind die Sätze der Mathematik anthropologische Sätze, die sagen wie wir Menschen schließen und kalkulieren? – Ist ein Gesetzbuch ein Werk über Anthropologie das uns sagt wie die Leute dieses Volkes einen Dieb etc. behandeln? – – Könnte man sagen: „Der Richter schlägt in einem Buch über Anthropologie nach und verurteilt |hierauf| den Dieb zum Galgen zu einer Gefängnisstrafe.“ Nun der Richter g e b r a u c h t das Gesetzbuch nicht als Handbuch der Anthropologie. (Gespräch mit Sraffa.) (MS 117: 172, 20. 2.1940)¹¹

Die Hauptfigur ist jetzt nicht mehr ein Ingenieur (wie Wittgenstein), sondern ein Richter, und er fungiert als Gleichnis für den Mathematiker. Die Frage, was ein Gesetzbuch (nicht mehr einfach ein juristisches Handbuch) von einem Handbuch der Anthropologie unterscheidet, steht für diejenige nach dem Unterschied zwischen Mathematik (aber auch Logik bzw. ‚Grammatik‘) und Erfahrungswissenschaften. Der Richter „g e b r a u c h t “ das Gesetzbuch nicht auf die gleiche Weise wie ein naturgeschichtliches Handbuch: Sätze der Mathematik (und dasselbe gilt für Logik und Grammatik) sind keine anthropologischen bzw. naturgeschichtlichen Sätze, keine erfahrungswissenschaftlichen Hypothesen über beobachtbare Regularitäten. Der Mathematiker gebraucht sie nämlich anders. Wohlgemerkt: 1940 ist Wittgenstein einer anthropologischen Betrachtung von Logik und Mathematik keineswegs abgeneigt.¹² Ihm zufolge „gehört“ „die Logik zur Naturgeschichte des Menschen“. Dennoch sind die „Sätze der Logik“ keine „Sätze der

 In BGM: 192, wurde der Hinweis auf das Gespräch mit Sraffa ausgelassen.  „Denn die Mathematik ist doch ein anthropologisches Phänomen.“ (MS 124: 116; BGM: 399) Und Wittgenstein will dieses „ethnologische Phänomen“ (MS 123: 11r) beschreiben, z. B. das „Auftreten“ des Widerspruchs „|und seine Folgen| gleichsam/sozusagen/ anthropologisch betrachten“ (MS 117: 256; BGM: 220); zu diesem „ethnological fact“ vgl. auch LFM: 249.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

menschlichen Naturgeschichte“ (MS 164: 69 f.);¹³ und Rechnen bildet zwar eine „Technik“, die „(wohl) ein naturgesch. Faktum ist“, „deren Regeln |aber| eine andere Rolle spielen als Sätze der menschlichen Naturgeschichte./ nicht die Rolle von Sätzen der menschl. Naturg. haben./“ (MS 163: 6r; BGM: 379) Dass die Regeln diese „Rolle“ nicht haben, heißt jedoch nicht, dass sie sie nicht haben könnten. Aus dem genannten Unterschied in der Bedeutung folgt nämlich nicht, dass Sätze der einen die der anderen Art überhaupt nicht ersetzen können. Man könnte doch „ein |mathematisches| Werk zum Studium der Anthropologie verwenden“ (MS 117: 186; BGM: 197 f.), selbst wenn dies nicht die Standardanwendung ist.¹⁴ In der Mathematik haben jene Sätze nämlich eine ganz andere Funktion, andere Kriterien und einen anderen Status.¹⁵ Aber letzten Endes kommt es weniger auf die Sätze an als auf ihren Gebrauch: Man könnte also Regeln als Erfahrungssätze benutzen, und umgekehrt könnte man „die Regel durch einen Erfahrungssatz ersetzen“: So könnte eine „ethnologische“ „Beschreibung“ bzw. „Darstellung“ der entsprechenden „menschlichen Einrichtung“ die „Funktion“ (MS 124: 10 f.; BGM: 356) der Regel übernehmen.¹⁶ (1932 war dies ausgeschlossen;

 „Was du sagst scheint darauf hinaus zu kommen, daß die Logik zur Naturgeschichte des Menschen gehört. Und das ist nicht vereinbar mit der Härte des logischen ‚muß‘. | Aber das logische ‚muß‘ ist ein Bestandteil der Sätze der Logik//der logischen Sätze.// und diese Sätze sind n i c h t Sätze der menschlichen Naturgeschichte.“ (MS 164: 149 f.; BGM: 352 f. ; zur „Härte des logischen Muß“ vgl. PU, § 437.)  Letzten Endes sind Regeln gleichsam ‚verhärtete‘ Erfahrungssätze, und man muss sie in solche zurückübersetzen können: Ein Satz wie ‚die Menschen stimmen darin überein, dass …‘ ist seiner Form nach ein Satz der menschlichen Naturgeschichte. So müssen „mathematische Sätze“ als „Prophezeiungen“ über das übereinstimmende Verhalten einer Gemeinschaft beim Rechnen angewandt werden können. Dass derlei Prophezeiungen möglich sind, „gehört nämlich zum Wesen der/einer/ Technik“ (MS 117: 174) bzw. der „R e c h e n technik“ (MS 117: 175; BGM: 193); denn zu diesem Wesen gehören „Consensus“ (MS 117: 175) und wiederholte Anwendung, und diese ermöglichen entsprechende Voraussagen. Was 1940 nur eine theoretische Möglichkeit ist, wird etwa ein Jahrzehnt später eingehend untersucht: Sätze von der Form der Erfahrungssätze fungieren oft als Regeln; aus einem Erfahrungssatz kann eine Regel werden und umgekehrt. Siehe dazu unten S. 387 ff.  Anders als „25 x 25 = 625“ können Prophezeiungen statistisch wahr sein bzw. äußerst wahrscheinlich, also gute empirische Approximationen.  „Aber kann man denn nun nicht die Regel durch einen Erfahrungssatz ersetzen, der sagt, daß Maßstäbe so und so gearbeitet sind, daß Leute so mit sie s o handhaben? //Leute d i e s mit ihnen tun?// Man gäbe etwa eine ethnologische Beschreibung/Darstellung/ des Messens. // des menschlichen Gebrauchs des Messens./der Gepflogenheit des Messens/. // der menschlichen | Verrichtung/Einrichtung/ des Messens. // // Darstellung dieser menschlichen Einrichtung.// | Nun ist es offenbar, daß diese Darstellung die Funktion einer/der/ Regel übernehmen könnte.“ (MS 124: 10 f.; BGM: 356)

5.2 Im Gespräch mit Sraffa

343

vgl. MS 113: 22r ff.) Die zwei Arten „Handbücher“ werden zwar jeweils anders „g e b r a u c h t “, erzwingen diese unterschiedlichen Verwendungen jedoch nicht. Der Unterschied zwischen Normen und naturgeschichtlichen bzw. anthropologischen Feststellungen muss Gegenstand des (kontroversen) Gesprächs mit Sraffa gewesen sein. Beide Bemerkungen – die von 1932 und die von 1940 – betonen diesen Unterschied, aber die spätere belässt es bei einer in ihrer Knappheit nahezu trivialen Antwort: Wir gebrauchen die entsprechenden Sätze jeweils anders. 1932 wiederum gelangt Wittgenstein erst nach längerem Mäandern zu dem Ergebnis, dass sich Gesetze und naturgeschichtliche Handlungsanweisungen voneinander unterscheiden, weil wir sie auf jeweils andere Weise betrachten. 1932 hält sich Sraffas ‚Einfluss‘ offenbar noch in Grenzen. ‚Naturgeschichtliche‘ bzw. ‚anthropologische‘ Vorschläge, wie der Ökonom sie formuliert haben wird, begegnen hier erst einmal derselben Kritik wie die Kausaltheorie – und Frazer. Das Sraffa-Notat vom Februar 1932 kritisiert nämlich Kategorien (die ‚Nützlichkeit‘, den ‚Irrtum‘), die auch dem Golden Bough zugrunde liegen. Ethische Vorstellungsbilder – der ‚bindende‘ Vertrag – sind demnach keine Irrtümer, sondern bildliche Darstellungen, die „richtig aufgefaßt“ „wahr“ sein, d. h. hier, ein echtes Gefühl ausdrücken können. Argumente, die Wittgenstein 1931 gegen den Golden Bough vorgebracht hatte, erfahren nun eine neue, und breitere, Anwendung. Riten lassen sich – hält Wittgenstein gegen Frazer fest – nicht durch ihre (vermeintliche) Nützlichkeit erklären; und auch grammatische Regeln – das geht dann aus dem Gespräch mit Sraffa hervor – fassen wir nicht in utilitaristischen Kategorien. Ähnlich abgewandelt wird im Februar 1932 auch das anti-intellektualistische Argument, Anschauungen seien Teil und nicht Ursache eines Brauchs. Eine „Handlung“ ist „Wirklichkeit“, und „die Vorstellungsbilder“, die der Handelnde „etwa dabei hat sind nicht Irrtümer“ (MS 113: 25v); denn diese „Vorstellungsbilder“ gehören zur Handlung und müssen deshalb ebenfalls als wirklich betrachtet werden, nicht als wahr oder falsch. Meint Wittgenstein, Sraffa teile das anti-intellektualistische Argument, dass Anschauungen Teil und nicht Ursache des ‚Gebrauchs‘ sind? Stimmen beide in diesem Punkt – dem Handlungscharakter von ‚Vorstellungsbildern‘– überein? Offenbar nicht: Weder der eine noch der andere hat hier eine Konsonanz gesehen. Sraffa bemerkt noch 1934 kritisch, Wittgenstein werde diesem Handlungscharakter nicht gerecht; bei dem, was der Philosoph „[i]ntuitions“ nenne, handle es sich eigentlich um „a way of acting“ (WC: 229, Nr. 174; 4. 3.1934). Und wie sah Wittgenstein Sraffas Position? Wird auch in dieser früheren Aufzeichnung ein „Gespräch“ (MS 117: 172, 20.2.1940) wiedergegeben? Wie verlief es? Hatte Sraffa sich das Beispiel ausgedacht? Hatte er die (rhetorische?) Frage gestellt? Wollte er darauf hinaus, dass Technisches und Juristisches (Ethisches?)

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anthropologisch betrachtet „auf gleicher Stufe“ stehen bzw. sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden? War es Sraffas Vorschlag, auf die Rolle des Handbuchs im Leben des Ingenieurs zu achten?¹⁷ Selbst in diesem Fall kann Wittgenstein den Vorschlag in seiner eigenen Begrifflichkeit formuliert haben.¹⁸ Welche Gedanken im ersten Teil der früheren Aufzeichnung sich dem Ökonomen zuschreiben lassen, ist m. E. daher nicht konklusiv zu entscheiden. Auf jeden Fall scheinen sich Gesetze hier durch die „R o l l e “, die sie „im Leben“ der Menschen spielen, von nützlichen naturgeschichtlichen Feststellungen nicht wirklich abzuheben. Dass sie indes doch nicht „auf gleicher Stufe“ stehen, liegt daran, dass wir Gesetze nicht so „betrachten“ (und „fühlen“) wie naturgeschichtliche Handlungsanweisungen. Wer mit dem späten Wittgenstein vertraut ist, würde diese Aufzeichnung freilich zuerst anders deuten: Dass wir Gesetze auf eine besondere „Weise“ „betrachten“, heiße eigentlich bzw. verweise uns darauf, dass sie in unserem „Leben“ eine besondere „Rolle“ spielen. Aber diese „Rolle“ ist für Wittgenstein 1932 noch etwas, was sich in kausalen und utilitaristischen Begriffen angeben und was dementsprechend den wesentlichen Unterschied nicht zum Vorschein kommen lässt. So wird in dieser früheren Aufzeichnung (Sraffas?) Hinweis auf die Rolle, die Gesetze in unserem Leben spielen, durch Wittgensteins abschließende Antwort nicht paraphrasiert und/oder bestätigt, sondern zurückgewiesen. Stünde es anders, wäre die Aufzeichnung in seiner damaligen Arbeit isoliert. Durch Argumente, wie er sie bereits gegen den Golden Bough gerichtet hatte, will er 1932 zeigen, dass wir Normatives – die Grammatik – nicht als Naturgeschichtliches betrachten. Er lehnt (Sraffas?) naturgeschichtliche Betrachtungsweise ab, weil sie ihn, Wittgenstein, dazu zwingen würde, die Grammatik und mit ihr die Philosophie zur Naturgeschichte zu erklären. Um zu seiner späteren ‚ethnologischen Betrachtungsweise‘ zu gelangen, wird er weniger im Ergebnis als unter methodischem Gesichtspunkt einlenken müssen: Er wird nach wie vor auf der Eigenartigkeit des Normativen bestehen, aber von dessen Rolle im Leben der Menschen nicht mehr absehen. Er hatte es offenbar in seiner frühen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough noch nicht genügend gelernt. Denn noch 1932 liegt ihm die Ansicht fern, dass die „Rolle“, die Gesetze und technische Anweisungen „im Leben“ der

 So Engelmann 2013b. Siehe oben S. 339, Anm. 9.  Einige Monate zuvor wollte Wittgenstein die „Stellung im Leben [im menschlichen Leben]“ eines Spiels (bzw. der Arithmetik) von diesem (bzw. dieser) selbst trennen, die „U m g e b u n g “ (MS 112: 17r), die „Lebenswichtigkeit“, die „Wichtigkeit einer Sache [Handlung]/Tatsache/, ihre Consequenzen, ihre Anwendung, von ihr selbst […] unterscheiden“ (MS 112: 18v). Zu diesen Überlegungen siehe oben S. 335.

5.2 Im Gespräch mit Sraffa

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Menschen haben, ihre Bedeutung bestimmt. Erst später sieht er in dieser „Rolle“ eine grammatische Kategorie und keine kausale. Ist ein Gesetz, etwa ein „Strafgesetz“, „ein Satz der Naturgeschichte der Menschen“ (MS 117: 142), der besagt, bei einem bestimmten Benehmen werde ein Mensch von seinen Mitmenschen bestraft? Auf diese Frage antwortet nun Wittgenstein selbst: Was ein Gesetz „von einem Satz der menschlichen Naturgeschichte“ unterscheidet, ist „die Rolle, die er im Leben der Menschen spielt. Die Maschinerie, in der er verwendet wird.“ (MS 117: 143) Ist die „Maschinerie“, in der ein naturgeschichtlicher Satz bzw. ein Strafgesetz verwendet wird, ein kausaler Mechanismus? Ist seine „Rolle im Leben der Menschen“ eine kausale Kategorie? Diese spätere Aufzeichnung sieht es nicht mehr so. Aber die Formulierung verrät noch die nun überwundenen Bedenken der frühen dreißiger Jahre. Ausschlaggebend war damals für Wittgenstein noch die Rolle von Worten bzw. Sätzen im Kalkül; die Rolle, die sie darüber hinaus im Leben der Menschen spielen, setzte er mit ‚Nützlichkeit‘ gleich und sah darin nur eine bedeutungstheoretisch irrelevante kausale Kategorie.¹⁹ In den frühen 30er Jahren wollte er nämlich seine Auffassung als eine logische bzw. grammatische von der Kausaltheorie abgrenzen. Er tendierte deshalb nicht dazu, pragmatische Zusammenhänge zu würdigen. Aus seiner Sicht gehörten sie nur zum Mechanismus und nicht zum Kalkül der Sprache. Sein Urteil darüber, welche Aspekte der Sprache grammatisch relevant sind, ändert sich erst allmählich, und zwar erst lange, nachdem er den Sprachspielbegriff eingeführt hat. So unterscheidet das um das Jahr 1934 datierbare sogenannte Große Format ²⁰ strikt zwischen der Rolle eines Zeichens im Kalkül und der „Rolle, die es im menschlichen Leben spielt“ (MS 140: 24). Die Rolle eines Wortes im Kalkül ist demnach seine grammatische Bedeutung – die einzige, die den Philosophen interessiert; auch die „Rolle, die es im menschlichen Leben spielt“, ist seine ‚Bedeutung‘, aber in einem anderen Sinn: nämlich seine Wichtigkeit, seine Relevanz im Leben der Gemeinschaft. Das Große Format rechnet diese Rolle nicht der Bedeutung im grammatischen Sinn zu. Die Frage, wie die Sprache ‚in mein Leben eingreift‘, wird im Wesentlichen kausal beantwortet. Und der Philo-

 Der Grund, weshalb Wittgenstein zu dieser Zeit die ‚Rolle im Leben‘ noch als bedeutungstheoretisch irrelevant betrachtet, liegt in seiner Auseinandersetzung mit der Kausaltheorie. Vgl. Engelmann 2013: 160 ff.  Das Grosse Format (MS 140) bildet den Haupttext des ersten Teils der von R. Rhees herausgegebenen Philosophischen Grammatik. Rhees nimmt an, dass Wittgenstein das Große Format „zum Teil etwas früher, zum Teil aber gleichzeitig mit seinem Diktat des Blue Book geschrieben hat“ (PG: 487, Anmerkung des Herausgebers).

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

soph, der Sprache als Kalkül betrachtet, kann von ihren Wirkungen absehen: Auch ohne sie lassen sich die Regeln angeben. Dies ist der Standpunkt der philosophischen Grammatik im Großen Format. Bald aber revidiert Wittgenstein diese Position. Die Rolle der Sprache im menschlichen Leben ist dann nicht mehr eine kausale Kategorie, die einer logischen gegenübersteht, sondern eine Sinnbedingung sprachlicher Äußerungen; denn die Sprachregeln sind nicht eindeutig, wenn man von ihrer Rolle im Leben der Gemeinschaft absieht.

5.3 Ethnologische Übersetzungen. Malinowski, Ogden und Richards, Waismann²¹ Im Diktat für Schlick bilden vergleichbare – fiktive oder wirkliche – Sprachspiele die „Umgebung“ anderer, insbesondere bilden (auch) imaginäre Sprachspiele die Umgebung des tatsächlichen Sprachgebrauchs.²² Wittgenstein orientiert sich hier an Goethes Ideal einer morphologischen Reihe, und man kann daher diese formale „Umgebung“, die einfach aus Vergleichsobjekten besteht, die ‚morphologische‘ nennen. Zugleich verwendet Wittgenstein im Diktat für Schlick die Methode, unsere Sprache mit einem erfundenen Sprachspiel zu vergleichen, das er einem imaginären Volksstamm zuschreibt. Bei einem solchen Vergleich versucht der Philosoph, sich die Ähnlichkeit zwischen der wirklichen und einer fiktiven Sprache „durch die Ähnlichkeit ihrer Funktion im Leben des Menschen klar auszumalen“ (VW: 66). Wittgenstein hat hier seine Vorbehalte gegen die bedeutungstheoretische Relevanz dieser „Funktion“ hinter sich gelassen; um die Grammatik unseres Worts „Sprache“ darzustellen, erfinden wir nun nicht nur fiktive Sprachen, sondern malen uns ihre Funktion im Leben fiktiver Volksstämme aus. Das Leben, in dem das Sprechen seine Funktion hat, nennt Wittgenstein im Diktat für Schlick nicht ‚Umgebung‘.²³ Erst später wird „Umgebung“ zu einem Namen für die Tätigkeiten und Handlungsweisen, mit denen der Gebrauch der Sprache verwoben ist, und für deren Hintergrund. Man kann diese Umgebung – das Sprachspiel als Lebensform – die ‚pragmatische‘ nennen.

 Die nun folgenden Seiten sind eine ergänzte und aktualisierte Fassung von Brusotti 2007b: 102 ff.  Siehe dazu ausführlich oben § 2.2.3.3, S. 248 ff.  Den Ausdruck „U m g e b u n g “ (MS 112: 17r) hatte er in einem verwandten Sinn schon gebraucht, als er noch Zweifel an jener bedeutungstheoretischen Relevanz hatte. Zu MS 112: 17r, siehe oben S. 341, Anm. 18.

5.3 Ethnologische Übersetzungen

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In Wittgensteins späteren Untersuchungen hängen die zwei Arten von Umgebung, die ‚morphologische‘ und die ‚pragmatische‘, unmittelbar miteinander zusammen: und mit ihnen jeweils die vergleichende Zusammenstellung ähnlicher und die ‚dichte Beschreibung‘ einzelner Sprachspiele. Der Philosoph stellt die Familie tatsächlicher und imaginärer Verwendungen eines Wortes (bzw. familienverwandter Wörter) dar sowie die sonstigen Umstände des Gebrauchs (das Sprachspiel und seinen Hintergrund, die Handlungen und Reaktionen, die Lebensform). Es geht hier beide Male nur um formale Zusammenstellungen. Auch deshalb vertragen sich die zwei Ansätze in der Philosophie. In der Ethnologie dagegen standen sich die zwei Arten der Kontextualisierung – vergleichende Zusammenstellung von Erscheinungen verschiedener Kulturen und eingehende Beschreibung einer einzelnen Kultur – unversöhnlich gegenüber. Sie entsprachen nämlich unterschiedlichen Paradigmen ethnologischer Forschung: dem überholten evolutionären und dem aufkommenden funktionalistischen. Bei Spengler dagegen, der eine höchst fragwürdige Variante einer holistischen Vergleichsmethode ausgearbeitet hatte, vertrugen sich beide Verfahrensweisen (das Suchen jeweils nach Analogien und Homologien). Und auch Wittgensteins spätere Weiterführungen der morphologischen Methode wollen fremdkulturelle Erscheinungen von ihrem intrakulturellen Kontext nicht isolieren. Beide Ansätze – vergleichende Zusammenstellung vieler und eingehende Beschreibung einzelner Sprachspiele – kennzeichnen das im akademischen Jahr 1934/1935 diktierte Brown Book und den deutschen ‚Versuch einer Umarbeitung‘ (MS 115), um den es im Folgenden geht. Hier setzt Wittgenstein seine fiktiven einfachen Sprachspiele explizit mit Lebensformen gleich. Sich eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform²⁴ oder „eine Kultur“ vorstellen.²⁵ Daher werden Sprachspiele immer wieder fingierten Volksstämmen zugeschrieben und ins Ganze einer, wenn auch nur ansatzweise skizzierten, Lebensform integriert. Im Allgemeinen ist sich Wittgenstein in diesen Sprachspielanalysen der Bedeutung des jeweiligen kulturellen Kontextes nicht weniger bewusst als in den Reflexionen über Frazers Feuerfesten (MS 143). Zugleich scheint das Brown Book, sofern es auf weite Strecken Sprachspiele aneinanderreiht, den auflistenden Stil des Golden Bough mehr oder weniger bewusst nachzuahmen. 1931 war Wittgenstein der Auffassung, dass Frazer sein ei-

 Vgl. MS 115: 239; EPB: 202; TS 220: 10. Vgl. auch die Urfassung in MS 142: 13. Allerdings benutzt Wittgenstein ‚Lebensform‘ auch später relativ selten und auf jeden Fall viel seltener als seine Interpreten.  „Stellen wir uns einen Sprachgebrauch |vor| (eine Kultur), in welcher es einen gemeinsamen Namen für grün und rot, und einen für blau und gelb gäbe |gibt|.“ (MS 115: 237; EPB: 202)

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

genes vergleichendes Verfahren missverstand: Der Ethnologe hätte den ‚Chor‘ seiner Gebräuche ohne erklärenden, genetischen Anspruch zusammenstellen müssen. Die im Anschluss an Goethes Metamorphose der Pflanzen umgedeutete Darstellungsform des Golden Bough schwebte Wittgenstein einstweilen als Vorbild für sein eigenes Verfahren vor. Diese an Goethes morphologische Methode angelehnte spezifische Auffassung von übersichtlicher Darstellung prägt noch den Aufbau des Brown Book. ²⁶ Dann aber weicht das Ideal einer „wohlgeordneten Reihe“ (MS 117: 111; TS 225: I), der Versuch einer linearen, an Goethes Ideal einer lückenlosen morphologischen Reihe orientierten Darstellung, einem freieren Verfahren; Wittgenstein vollzieht mithin die entscheidende Wende in seiner Werkkonzeption: diejenige vom Buch zum Album.²⁷ Später allerdings nimmt die übersichtliche Darstellung offenbar eine neue Gestalt an.²⁸ Das Brown Book und dessen (abgebrochene) deutsche Umarbeitung sind also nur eine Zwischenstation. Sie listen Sprachspiele auf wie der Golden Bough Gebräuche, zeigen aber zugleich etwas, was Frazers evolutionärer Ethnologie fehlt, eben ein ausgeprägtes Bewusstsein für die kontextuelle Einbettung der Sprache in das Leben der jeweiligen Gemeinschaft. Mit diesem Bewusstsein gehört Wittgensteins Philosophie bei aller Eigenständigkeit ihres Anliegens zur selben ‚Familie‘ wie ethnologische Ansätze, die damals weit aktueller waren als der überholte Frazers. Dieser ‚Familienähnlichkeit‘ gehe ich im Folgenden nach. In Malinowskis ethnologischen Übersetzungen etwa wird die Beschreibung der Bedeutung eines Wortes oder des Sinns eines Satzes letzten Endes zu einer Kulturbeschreibung. Der übersetzende Ethnologe, der eigen- und fremdkulturelle Äußerungen vergleicht, muss die jeweiligen komplexen intrakulturellen Zusammenhänge berücksichtigen. Will er seinen Lesern die Verwendung eines fremden Wortes oder Satzes klarmachen, muss er die fremde Kultur beschreiben und mit der eigenen vergleichen. Der Ethnologe, der Fremde teilnehmend beobachtet, muss nämlich die Rolle, die ein sprachlicher Ausdruck im Leben jener Gemeinschaft spielt, erst ermitteln und der scientific community mitteilen, oft eben durch eine sehr ausführliche  Vgl. Pichler 2004: 179. – Neben Goethe und Frazer sei auch Sraffa mit seinen primitiven Systemen erwähnt.  So Pichler 2004. Der Versuch einer deutschen Übersetzung und Umarbeitung des Brown Book trägt bereits den Titel Philosophische Untersuchungen. Wittgenstein bricht diesen Versuch ab und beginnt Anfang November 1936 mit der sogenannten ‚Urfassung‘ der Philosophischen Untersuchungen (MS 142). Der Autor – so das auf August 1938 datierte Vorwort der ‚Frühfassung‘ – bewegt sich „kreuz und quer“, weil „die einzelnen Gedanken […] in einem äußerst |komplizierten|/|sehr| verwickelten/ Netz von Beziehungen |zu einander| stehen“ (MS 117: 112; TS 225: II).  Zu G. P. Bakers These siehe oben S. 204 f., insbes. Anm. 316.

5.3 Ethnologische Übersetzungen

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Beschreibung. Dem Insider dagegen ist die Rolle, die ein Ausdruck im Leben seiner eigenen Gemeinschaft spielt, zumeist so vertraut, dass er diese Rolle nicht einmal in den eher seltenen Fällen angibt, in denen er die Bedeutung des Ausdrucks erklären muss. Die Sprechenden setzen den gemeinsamen Hintergrund stillschweigend voraus, sie verstehen einander, ohne ihn explizit machen zu müssen. So zumindest im alltäglichen Sprachgebrauch. Die philosophischen Missverständnisse entstehen jedoch nicht, wenn die Sprache ‚arbeitet‘, sondern, wenn sie ‚feiert‘; der Philosoph vergisst, wie ein Wort bzw. ein Satz tatsächlich verwendet wird, und muss sich deshalb jene Verwendung – und das heißt für Wittgenstein jetzt: die ‚Rolle‘, ‚Funktion‘, sprachlicher Äußerungen im Leben der Gemeinschaft (und nicht mehr nur: im ‚Kalkül‘) – immer wieder in Erinnerung rufen. Um die ihn plagenden philosophischen Verwirrungen zu beseitigen, muss er also etwas tun, was zum normalen Sprechen nicht nötig ist; insofern findet sich der Philosoph at home in einer Situation, die Wittgenstein mit der des (funktionalistischen) Ethnologen in der Fremde vergleicht. ‚Ethnologisch betrachtet‘ werden in der Philosophie daher erst einmal Sprachspiele der eigenen Kultur; und im Grunde ist Wittgensteins sogenannte imaginäre Anthropologie nur ein Mittel, um bestimmte kulturinterne Tatsachen übersichtlich darzustellen. Bei diesem Anliegen artikuliert der ‚Versuch einer Umarbeitung‘ dennoch die Idee, den Gebrauch ähnlicher Ausdrücke in verschiedenen Sprachen miteinander zu vergleichen. Wittgenstein sieht hier das Kriterium der richtigen Übersetzung darin, dass die Sätze bzw. die in ihnen vorkommenden Worte im Leben der jeweiligen Gemeinschaft eine vergleichbare Rolle spielen. Also, ob ein Wort des/eines/ Stammes richtig in durch ein Wort der deutschen Sprache wiedergegeben wurde, hängt von der Rolle ab, die jenes Wort im ganzen Leben des Stammes spielt; |d. h.| von den Gelegenheiten, bei welchen es gebraucht wird, den Ausdrücken der Gemütsbewegung, von denen es im Allgemeinen begleitet ist, den Eindrücken, die es erweckt, etc. etc. (MS 115: 162; EPB: 149)

In Waismanns Logik, Sprache und Philosophie erhält Wittgensteins Auffassung folgende Formulierung: Wenn man ein Wort aus einer Sprache eines uns fremden Kulturkreises in die unsrige übersetzen soll, so kommt es oft vor, daß unsere Sprache kein Wort von entsprechender Bedeutung hat. Wer die Bedeutung eines solchen Wortes beschreiben wollte, der würde am sichersten gehen, wenn er das ganze Leben der Gemeinschaft beschriebe und genau erklärte, welche Rolle das Wort in diesem Leben spielt. (WLP: 273)²⁹

 Waismann konnte, freilich erst nach dem Krieg, eine der damals in Oxford kursierenden

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Anschließend weist Waismann auf „die Untersuchungen von Malinowski über den Sinn von Worten in einer Eingeborenensprache im Anhang zu The Meaning of Meaning von Ogden und Richards“ (WLP: 273) hin.³⁰ In Wittgensteins Diktaten, die Logik, Sprache und Philosophie zugrunde liegen, kommt der Name Malinowski nicht vor. Der Vergleich geht also nicht unbedingt auf Wittgenstein selbst zurück.³¹ Aber bei seiner gründlichen Auseinandersetzung mit The Meaning of Meaning dürfte ihm auch Malinowskis Supplement nicht entgangen sein. Und er könnte von ihm auch anderes gelesen haben.³² Malinowski gibt in „The Problem of Meaning in Primitive Languages“ seiner funktionalistischen Methode ihre erste systematischere Formulierung.³³ Dementsprechend schwankt sein Kulturbegriff noch: Er ist z.T. noch evolutionistisch

Kopien des Brown Book benutzen. Vgl. das Nachwort der Herausgeber G. P. Baker und B. McGuinness in WLP: 653.  Waismann erwähnt auch „die eigentümlichen logischen Probleme, vor die uns die Übersetzung eines chinesischen philosophischen Textes in eine westeuropäische Sprache stellt, in Mencius on the Mind von Richards“ (WLP: 273; vgl. auch WLP: 365, zum „Tao“ in Richards 1932). Es fragt sich, ob Wittgenstein selbst dieses Buch von Richards je zur Kenntnis genommen hat. Zur Zeit seiner ersten Frazer-Lektüre war es noch nicht erschienen. (Es wurde ein Jahr später bei Kegan Paul veröffentlicht, in der International Library of Psychology, Philosophy and Scientific Method, also in derselben Reihe wie schon The Meaning of Meaning und der Tractatus.)  Unter den Zeitgenossen ist Waismann nicht der Einzige, der beide Autoren verbindet. In seinen „Recollections of Wittgenstein“ stellt Wittgensteins damaliger Zuhörer Wolfe Mays folgenden Zusammenhang zwischen dem Philosophen und dem weit über die Fachgrenzen hinaus bekannten Malinowski her: „Wittgensteinˈs discussion of meaning […]. His comparison of words to tools having different uses, i. e., meanings, in different contexts, reminded me strongly of the views of Malinowski. Malinowski noted that a cultural object such as a fish hook could have different functions according to its context of use. It could, for example, be used in one context for fishing and in another for ritual purposes. As far as I know, Wittgenstein did not actually regard words as cultural objects, but talked much more of the use of words in a fairly abstract way.“ (Mays 1978: 83) Auch Malinowskis Nachfolger, Raymond Firth (1901– 2002), sieht Analogien. Er weist auf Malinowskis Anhang zu The Meaning of Meaning hin (Firth 1995; vgl. auch den Vergleich zwischen Wittgenstein und Malinowski in Gellner 1998: 151 ff.). Firth nennt Sraffa, hält es aber für unwahrscheinlich, dass dieser als Verbindung zwischen Wittgenstein und Malinowski fungiert hat (Firth 1995; vgl. bereits Firth 1957: 94: 96). Auf Waismann weist Brusotti 2007b: 102 f., hin. Zu weiteren Belegen vgl. Brusotti 2007b: 102 ff., und Rothhaupt 2011: 143 ff.  So kannte Wittgenstein vielleicht einen Beitrag, in dem Malinowski etwa ein Jahrzehnt vor dem weit bekannteren Aufsatz Magic, Science, and Religion diese drei Bereiche voneinander unterscheidet. Der Philosoph polemisiert in einer Vorlesung gegen C. W. O’Hara. Der Beitrag, den Wittgenstein in Visier haben dürfte, ist in einem Band enthalten, der auf eine Sendereihe der BBC zurückgeht (vgl. Science and Religion 1931: „The Rev. C. W. O’Hara, S. J.“: 107– 116; vgl. den Hinweis des Herausgebers in LA: 57). Im selben Band ist auch Malinowskis Text veröffentlicht: „Professor B. Malinowski“: 65 – 81.  Vgl. Stocking 1995: 283.

5.3 Ethnologische Übersetzungen

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gefasst, z.T. schon im partikularistischen Sinn einer bestimmten Kultur.³⁴ Malinowski führt zunächst den Begriff „Situationskontext“ als ein Äquivalent von Ogdens und Richardsˈ Begriff der ‚Zeichensituation‘ ein. Er erklärt einfach, „that the c o n t e x t o f s i t u a t i o n […] is nothing else but the s i g n - s i t u a t i o n […]“ (Malinowski 1994: 453).³⁵ Im Folgenden heißt es jedoch, Ogdens und Richards’ Gebrauch von „context“ sei „compatible, but not identical, with my use of this word in the expression ‚context of situation‘.“ (Malinowski 1994: 455) Worin liegt der Unterschied? Die Frage ist nicht belanglos; denn Wittgenstein lehnt Ogdens und Richardsˈ kausalen Kontextbegriff, ihre „contextual theory of reference“ (MoM: 156), entschieden ab. Enthält nun Malinowskis Kontextbegriff eine kausale Theorie der Bedeutung – so wie Ogdens und Richards’ ‚Kontext‘ und ‚Zeichensituation‘? Auch Malinowskis Funktionalismus erhebt einen Anspruch auf kausale Erklärung; und zu seinem Prinzip der symbolischen Relativität gehört „a psychology of symbolic reference“; wie in Ogdens und Richardsˈ Kausaltheorie muss diese Psychologie „serve as the basis for all science of language.“ (Malinowski 1994: 454) Das Prinzip der symbolischen Relativität, das Malinowski durch die ethnographische Betrachtung der Sprache nachgewiesen sieht, steht jedoch zugleich für eine holistische, funktionalistische Theorie der Bedeutung.³⁶ Diese Theorie ist der bewusste Gegensatz zur ‚vergleichenden Methode‘ der evolutionistischen Anthropologie und zu Frazers Auflistung von dekontextualisierten Beispielen aus den verschiedensten Kulturen. „Since the whole world of ‚things-to-be-expressed‘

 Zu dieser Ambiguität vgl. Stocking 1995: 284 f.  R. W. Firth (1957b: 102 ff.) weist darauf hin, dass Malinowski (wie der Sprachwissenschaftler Alan Gardiner) in diesem Punkt auf Philipp Wegeners ‚Situationstheorie‘ zurückgreift.  In seinem Beitrag zu The Meaning of Meaning hatte er den wissenschaftlichen Sprachgebrauch von den anderen abgehoben, die kontextgebunden seien. In Coral Gardens and their Magic (1935) übt sich Malinowski dann in Selbstkritik: Auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch sei kontextgebunden. Gellner (1998: 151 ff.) sieht in Malinowskis späterer Selbstkritik einen schwerwiegenden Fehler und versteift sich darauf, Kontextgebundenheit nur den ‚primitiven‘ Kulturen zuzuschreiben. Er betont, dass Malinowski und Wittgenstein die Kontextgebundenheit ähnlich akzentuieren, und setzt sich mit dem späteren Malinowski ebenso kritisch auseinander wie mit Wittgenstein. Gellner verwechselt freilich das Prinzip symbolischer Relativität mit einem zur Beliebigkeit führenden Relativismus, der die von ihm festgehaltene strikt universalistische Position bedroht. Mit Hilfe von Stockings nüchterner historischer Einschätzung lassen sich diese neofrazerianischen Versuchungen leicht abwehren: Im Aufsatz von 1923 vertrat Malinowski noch eine an Mach orientierte evolutionäre Sprachauffassung, die in einem Kontinuitätszusammenhang mit Frazer stand. In seiner späteren Selbstkritik lässt er diese Ambiguität zwischen Evolutionismus und Funktionalismus hinter sich (vgl. Stocking 1995: 285). Die von Rothhaupt kritisierte verbleibende „Orientierung an einer evolutionären Entwicklung“ (Rothhaupt 2011: 146) kennzeichnet eher diese Übergangsphase als den reifen Malinowski.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

changes with the level of culture, with geographical, social and economic conditions, the meaning of a word must be always gathered, not from a passive contemplation of this word, but from an analysis of its functions, with reference to the given ‚culture.‘“ (Malinowski 1994: 454)³⁷ Unmittelbar vor dem zitierten Hinweis auf Malinowski stellt sich Waismann vor, er komme in eine Gesellschaft, in der um eine bestimmte Tageszeit immer die Glocke ertöne; ein Signal wie dieses lasse sich nicht einfach durch einen Satz wiedergeben, die Bedeutung des Glockenzeichens sei „viel komplizierter“ als eine derartige Übersetzung in die Wortsprache, und das Signal werde „eigentlich nur durch die Schilderung seiner Rolle im ganzen Leben der Gemeinschaft beschrieben“ (WLP: 273). Auch bei Wittgenstein lässt sich etwa die Ähnlichkeit zweier Ausdrücke sehr verschiedener Sprachen erst in einem extrem komplexen Vergleich ermitteln (vgl. MS 115: 147 f.; EPB: 137). Die erwünschte Entsprechung zwischen den zwei Sätzen formuliert der Philosoph ziemlich vage dahingehend, dass der Satz des Fremden „in seiner Sprache eine ähnliche Stellung einnimmt, wie mein Satz in der deutschen Sprache.“ (MS 115: 274; EPB: 225) Bei dieser Stellung geht es nicht einfach um die Rolle des Satzes im ‚Kalkül‘ der Sprache. Wichtig ist vielmehr, dass man „die Praxis des Sprachspiels ansieht und nicht bloß die Stellung der Wörter in |unsern| Sätzen“ (MS 115: 175; EPB: 158). Worauf es ankommt, ist also die Rolle des jeweiligen Wortes „in der ganzen Praxis des Sprachspiels/der Sprache/; und nicht bloß, in was für S ä t z e n es gebraucht wird.“ (MS 115: 173; EPB: 157) Ausschlaggebend ist „die Art, wie wir von diesen/ den/ Sätzen Gebrauch machen“ (MS 115: 160; EPB: 148), und darunter ist nun „die Rolle“ zu verstehen, „welche diese Ausdrücke/Äußerungen/ in dem ganzen Gebrauch |Leben der lebendigen Verwendung| der Sprache spielen.“ (MS 115: 162; EPB: 163) Das Kriterium, wenn es darum geht, ein fremdes „in e i n analoges Wort“ (MS 115: 182; EPB: 158) unserer Sprache zu übersetzen oder eine Sprechhandlung (etwa eine Voraussage) zu identifizieren, ist also die Rolle, die das Wort bzw. die Äußerung „im ganzen Leben des Stammes spielt“ (MS 115: 162; EPB: 149).³⁸ Die Übersetzung geht also den Weg über den Vergleich beider Lebensformen.

 Schon Firth 1995 zitiert diese Sätze. Zum „principle of Symbolic Relativity“ vgl. Stocking 1995: 284 f. Rothhaupt 2011: 148 f., weist auf den in The Meaning of Meaning angeführten Edward Sapir hin. – Auch Wittgenstein erwägt einstweilen eine „Art Relativitätstheorie der Sprache“ (MS 109: 58), und er sieht bis zuletzt eine Analogie zwischen seiner Betrachtungsweise und Einsteins Relativitätstheorie. Zu Wittgenstein und Einsteins Uhren vgl. Kusch 2011.  Zu dieser Rolle zählt Wittgenstein 1) die Umstände des Gebrauchs in der jeweiligen Sprache, „die Gelegenheiten, bei denen […] |sie| |das Wort| aussprechen“ (MS 115: 147; EPB: 137; vgl. MS 115: 147; EPB: 149). So würde er einen Satz aus der Sprache eines seiner fiktiven Stämme eine „Voraussage“ nennen „der Situation wegen, in der er gebraucht wird“; ein Wort jenes Satzes

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

353

Mit Wittgenstein verwirft auch Waismann die kausaltheoretische Auffassung der Signale, und zwar im selben Kapitel, in dem er auf „die Untersuchungen von Malinowski über den Sinn von Worten in einer Eingeborenensprache“ (WLP: 273) hinweist. Er kann diesen Untersuchungen also einiges abgewinnen. War auch Wittgenstein so tolerant? Malinowskis Thema dürfte auch ihn angesprochen haben, vergleicht er doch bereits 1930 den Philosophen mit einem Feldlinguisten; aber in den zwanziger oder in den frühen dreißiger Jahren dürfte Wittgenstein als scharfer Kritiker der Kausaltheorie Malinowskis Auffassung wegen ihrer kausalen Seite abgelehnt oder als wenig relevant angesehen haben. Zu einem Funktionalisten wurde er auch später nicht, und die Philosophie erklärte er nicht zur Ethnologie. Aber im lebhaften Austausch mit Sraffa überwand er seine anfänglichen Vorbehalte gegen die bedeutungstheoretische Relevanz der Rolle (der ‚Funktion‘) von Sprachlichem im Leben der Menschen. Er fand zuletzt einen Weg, diese „Rolle“ zu berücksichtigen, ohne sie kausaltheoretisch aufzufassen. Und im Brown Book wurde die Übersetzungstätigkeit eines Ethnologen, der etwas wie das ‚Prinzip der symbolischen Relativität‘ anwendet, zu einem Vorbild.

5.4 „Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele.“ Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis? 5.4.1 „A l l e r l e i G r a d e “, Zwischenstufen und Formen von Glauben³⁹ Im Herbst 1930 ging Wittgenstein noch davon aus, dass bestimmte Bilder auch im rituellen Kontext falsch sind: Die Akteure missverstehen sie und die Sprachlogik. Sie verlieren sich an ein Gleichnis wie den Sündenbock.⁴⁰ Wittgenstein betonte die

würde er durch „können“ wiedergeben, „weil wir unter diesen Umständen es das Wort ‚können‘ gebrauchen würden“ (MS 115: 181 f.; EPB: 163). Die Umstände des Gebrauchs sind also das leitende, aber nicht das einzige Kriterium, denn zur Rolle eines Ausdrucks im Leben der Sprachgemeinschaft gehören neben ihnen auch 2) die paralinguistischen Merkmale – die „Gesten und Formen des Benehmens“ (MS 115: 147; EPB: 137), in Verbindung mit welchen das Wort gebraucht wird, die „Ausdrücke[] der Gemütsbewegung, von denen es im allgemeinen begleitet ist“ – sowie 3) die „Eindrücke[], die es erweckt“ (MS 115: 162; EPB: 149). (Dies darf jedoch nicht im kausalen Sinn verstanden werden.) Der ‚Versuch einer Umarbeitung‘ betont den Unterschied zwischen natürlichem Ausdruck der ‚Gemütsbewegungen‘ und künstlichen Verständigungsmitteln. Wittgenstein betrachtet diesen Unterschied allerdings als fließenden Übergang ohne „scharfe Grenze“ (MS 115: 163; EPB: 149).  Die nun folgenden Seiten sind eine um wesentliche Punkte erweiterte und aktualisierte Fassung von Brusotti 2007: 196 ff.; vgl. auch Brusotti 2011: 233 ff.  Zum Sündenbockritual siehe oben § 2.1.1.6.1, S. 107 ff.

354

5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Verwandtschaft zwischen derartigen Ritualen und den Irrtümern der Philosophie: Beiden liegen dieselben falschen Bilder zugrunde. Wenig später, im Juni-Juli 1931, steht jedoch nicht mehr fest, dass „Bilder“, Gleichnisse und Analogien auch im rituellen Kontext irreführen und dass die Akteure sie missverstehen. Wittgenstein gelangt nun zwar zu keinem eindeutigen Resultat, aber sein Schwerpunkt hat sich merklich verlagert. Ist für ihn seine frühere Deutung des Sündenbockrituals damit überholt? Sie ist offenbar nicht definitiv erledigt: Er ist noch wesentlich später bemüht, die damals betonte Verwandtschaft zwischen rituellen Anschauungen und philosophischen Irrtümern zu relativieren. Er formuliert ein neues Beispiel, und die erste Skizze zieht daraus denselben Schluss: Wie beim Sündenbock liegt auch hier ein Missverständnis vor – mit denen der Philosophie durchaus vergleichbar: „Die Kinder Israel“: wie es kommt, daß das Gleichnis von den Kindern eines Menschen auf die Leute eines Volkes angewandt wird, und dann das Gleichnis mißverstanden wird. Wie in der Philosophie. (TS 219: 14)⁴¹

Die ‚Kinder Israel‘ sind die Beni-Israël, von denen Wittgenstein bei Renan gelesen hatte.⁴² Dieser erklärt, der Sinn des Stammesnamens Israël sei ungewiss,⁴³ eine Art Synonym sei aber Jakobel (der vom Gott El entlohnte, bzw. der, der El folgt), den man wiederum als Jacob abgekürzt habe: „Beni-Jacob ou Beni-Israël était le nom de la tribu. Plus tard, on prit Jacob pour un personnage, petit-fils d’Abraham.“ (Renan 1953: 94)⁴⁴ Bereits Renan nimmt also im äußerst spekulativen Stil des neunzehnten Jahrhunderts an, ein Teil des Stammesnamens sei zuletzt als Personennamen missverstanden worden. Wie Renan die Beni-Jacob deutet Wittgenstein die Beni-Israël. Der Ausdruck ‚die Kinder Israel‘ war, so Wittgenstein, ursprünglich ein Gleichnis für ‚den Stamm Israel‘, später aber wurde er miss Diese Aufzeichnung, die gleichsam den Keim der späteren Betrachtung enthält, stammt aus demselben, zwischen 1932 und 1933 abgefassten, Typoskript wie die meisten der im Folgenden angeführten Texte. Die Grundthese wurde zusammen mit Ernsts Auffassung z.T. schon oben, S. 107 ff., erläutert.  Die zwei ‚Bücher‘ im ersten Band der Histoire du peuple d’Israël heißen jeweils: „Les BeniIsraël à l’état nomade jusqu’ à leur établissement dans le pays de Chanaan“ (Renan 1953: 29 ff.) und „Les Beni-Israël à l’état de tribus fixées, depuis l’occupation du pays de Chanaan jusqu’à l’établissement définitif de la royauté de David“ (Renan 1953: 157 ff.).  Es handelt sich um ein „mot dont le sens est douteux“ (Renan 1953: 93). So Kapitel VIII „Les Beni-Jacob ou Beni-Israël (92 ff.).  Einen ähnlichen Vorgang vermutet Renan auch in einem anderen Fall: „Quelquefois les élohim étaient appelés Beni-Élohim, ‚les fils des dieux, la race divine‘. Quand on fit d’élohim un être unique, bien déterminé, les Beni-Élohim devinrent son entourage, une masse d’anges, […]“ (Renan 1953: 53).

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

355

verstanden: Wie Jacob bei Renan wurde ‚Israel‘ als Bezeichnung einer Person gedeutet. Das missverstandene Gleichnis der ‚Kinder Israel‘ erinnert etwa an Herbert Spencers Beispiel, in dem „conquerors coming from the region of sunrise, and therefore called ‚children of the sun,‘ come to regard the Sun as ancestor“ (Spencer 2003, Bd. 1: 431).⁴⁵ Spencers spekulative ‚Theorie der Spitznamen‘ führte Kultformen und Gebräuche auf sprachliche Verwechslungen zurück, ohne und statt sie in den jeweiligen kulturellen Kontext zu stellen. Auch Wittgenstein scheint an etwas wie ein spencersches „Missverständnis der Spitznamen“ („misinterpretation of nicknames“) zu denken, und Letzteres ist mit Paul Ernsts „Missverständnis der Sprachlogik“ nicht nur im Wortlaut verwandt.⁴⁶ Obwohl nicht dem „Nachwort“ entnommen, zeigt Wittgensteins Beispiel nämlich den auch von (dem hier nicht genannten) Ernst intendierten Vorgang: Das unverstandene Wort ‚Israel‘ wurde als Personenname gedeutet, für diesen wurde ein ‚Träger‘ erfunden, ein Stammvater wurde postuliert, und dessen fiktive Geschichte wurde (in Paul Ernsts Vokabular) als nachträgliche ‚Rationalisierung‘ des undurchschauten Gleichnisses erdichtet. So, als Scheinerklärungen undurchschauter Gleichnisse, entstehen nach Ernst Volksmärchen – und bei Wittgenstein philosophische Verwirrungen, z. B., wenn Substantive wie ‚Zeit‘ oder ‚Seele‘ imaginäre Wesenheiten suggerieren. Als Versuch einer historischen Erklärung gedeutet, wäre Wittgensteins Gedankenspiel nicht weniger spekulativ als evolutionistische ‚Hypothesen‘ à la Spencer oder ‚historische‘ Ansätze wie bei Renan und Frazer, deren Fragwürdigkeit der Philosoph immer wieder thematisiert. Denn durch Rekurs auf Miss-

 Spencer will nachweisen, dass der Ahnenkult die Urreligion darstellt. Die Verehrung von Naturerscheinungen – führt er gegen Max Müllers ‚Solar Theory‘ an – gehe in Wirklichkeit auf den Kult eines Ahnen mit entsprechendem Namen zurück: „Sun is either a birth-name or a metaphorical name given because of personal appearance, or because of exalted position“ (Spencer 2003, Bd. 1, Chapter XXVI „The primitive Theory of Things“: 431). Die Nachfahren – spekuliert Spencer – nahmen dann die Metapher wörtlich und gelangten so zur Überzeugung, von der Sonne abzustammen. Auf dieselbe Weise, „by misinterpretation of nicknames“, sieht er etwa auch „the conception of animal-ancestry“ (Spencer 2003, Bd. 1: 345) entstehen: Am Anfang stand „the idea that an ancestor named ‚the Tiger‘ was an actual tiger“ (Spencer 2003, Bd. 1: 343). Aus einer ähnlichen Verwechslung (man hatte Kinder mit Ding-Namen getauft) leitet Spencer auch den Glauben an beseelte Dinge ab. Es steht bei ihm also außer Frage, dass an jene Abstammung wirklich geglaubt wird. Seine phantasievolle Theorie will eben erklären, wie es zu diesem Glauben kommt. Frazer verwarf Spencers seinerzeit allgemein bekannte Spitznamentheorie, weil sie ihm mit Max Müllers ‚disease of language‘ verwandt schien. – Übrigens waren die ‚children of the sun‘ noch zu Wittgensteins Zeiten populär: Zur ‚Heliolithic School‘ vgl. Stocking 1995: 179 ff.  Weder Renans Histoire noch Ernsts „Nachwort“ erwähnen Spencer, aber dessen Theorie musste beiden Autoren, v. a. Ernst, bekannt gewesen sein.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

verständnisse der Sprachlogik lässt sich eher die Entstehung philosophischer Probleme erklären als die Herausbildung historischer, kultureller und sozialer Erscheinungen. Letztere auf sprachliche (‚logische‘) Verwechslungen zurückzuführen, entspräche einem lange untergegangenen Verständnis von Ethnologie. Dass Institutionen aus einem grammatischen Missverständnis hervorgehen, wäre eine extrem intellektualistische These, die vom jeweiligen soziokulturellen Kontext völlig absieht: Grammatische Missverständnisse würden hier dieselbe Rolle spielen, die Frazers Erklärungen empirischen Irrtümern zuweisen. Die (etymologisch erschlossene) Genau-so-Geschichte der ‚Kinder Israel‘ wäre bei anderen Autoren – auch bei Paul Ernst – tatsächlich ein hypothetischer Erklärungsversuch. Bei Wittgenstein handelt es sich jedoch nur um ein Gedankenspiel. Im Herbst 1930 schien er sich Frazers Erklärung des Sündenbockrituals anzuschließen, und auf ähnliche Weise stand die erste Deutung des neuen Beispiels mit Renans Analyse im Einklang: In beiden Fällen stimmte Wittgenstein auch mit Ernst überein. Anders steht es aber in einer späteren Aufzeichnung, die das Beispiel der ‚Kinder Israel‘ weiter ausbaut: In erneuter, wenn auch immer noch stillschweigender Auseinandersetzung mit Paul Ernst stellt Wittgenstein nun die Selbstverständlichkeit in Frage, mit der die erste Skizze von einem Missverständnis der Sprachlogik ausgegangen war. Denken wir uns, ein Stamm nennt sich „die Kinder Israel“. Ursprünglich, nehme ich an, heiße das nicht die Nachkommen eines Mannes mit Namen Israel. Viel Sondern Nachkommen „Nachkommen“ oder „Kinder“ heiße soviel wie „d e r S t a m m“, betrachtet als eine Erscheinung in der Zeit. Dies wäre als nennte man die Entwickelung von π „die Kinder π“. Nun denke „durch ein Mißverstehen“ fasst man jenen Ausdruck als „die Kinder |(Nachkommen)| d e s Israel“ und rede also von einem Mann Israel als dem Stammvater: die/ Die/ Frage ist: in was für Fällen hat man ein Recht von einem Mißverstehen zu reden; in was für Fällen aber nur von einer bildlichen Ausdrucksweise? Prima facie ist anzunehmen, daß es hier in Wirklichkeit a l l e r l e i G r a d e geben wird. |Und| daß in gewissen Religionen, was ursprünglich bildliche Ausdrucksweise war, zu einem|r| ausgewachsenen Mißverständnis|Verfälschung| (weiter)entwickelt wird. //zu einem vollen Mißverständnis sich auswächst.// (Mit der Hilfe etwa von Philosophen.) (MS 116: 284 f.)⁴⁷

Zwar werden bildliche Ausdrucksweisen manchmal völlig missverstanden, manchmal aber, räumt Wittgenstein nun ausdrücklich ein, bewusst als solche verwendet. Ob in einem bestimmten Fall die Akteure eine Ausdrucksweise miss-

 Laut von Wrights Katalog benutzte Wittgenstein MS 116 im Herbst 1937 und dann im Mai 1945 (Wright 1993: 486). Diese Aufzeichnung wird von Rhees (1979: 65 f.) auf 1945 datiert. Vgl. auch Schulte 1990c: 53 f., Anm. 21.

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

357

verstehen oder im Gegenteil bewusst eine bildliche einsetzen, mag also für den Beobachter schwer zu entscheiden sein. Denn beides kommt vor: bildliche Ausdrucksweise und volles Missverständnis. Noch mehr: Es wird zwischen den zwei Grenzfällen wohl „a l l e r l e i G r a d e “ geben. Dem trägt Ernsts Auffassung in der Form, wie Wittgenstein sie sich zuerst angeeignet hatte, nicht Rechnung: Sie denkt im Wesentlichen nur an ein ursprüngliches Gleichnis und an dessen späteres Missverständnis und ignoriert jene möglichen schwer bestimmbaren Grade, Zwischenstufen, Übergangsfälle. Hier liegt ihr blinder Fleck. Die Idee, ein Ritual beinhalte ein falsches Bild, das mit denjenigen der Philosophie verwandt sei, wird in dieser Aufzeichnung lediglich eingeschränkt. Dass man „ein Recht“ habe, „von einem Mißverstehen zu reden“, wird nicht kategorisch ausgeschlossen. Insofern gibt diese spätere Bemerkung die Position vom Herbst 1930 nicht ganz auf. Es komme durchaus vor, dass „in gewissen Religionen“ die Akteure ein Bild missverstehen, man dürfe jedoch nicht einfach von einem Missverständnis ausgehen; denn in anderen Fällen sei nur „von einer bildlichen Ausdrucksweise“ (MS 116: 284) zu reden. Dass in rituellen Handlungen dieselben Bilder vorkommen wie in der Metaphysik, heißt nun für Wittgenstein weder, dass auch bei den Ersteren sprachlogische Missverständnisse vorliegen müssen, noch, dass sie in diesem besonderen, ‚religiösen‘, Kontext ausgeschlossen sind. Es bleibt bei einem Gedankenspiel: Der Philosoph kann natürlich nicht sagen, wie jene „Bilder“ in fernen, nicht genau bestimmten Kontexten jeweils verwendet werden. Nicht nur, weil er, wenn überhaupt, sie nur sehr indirekt kennt: Als Philosoph ist er für Tatsachenfragen nicht zuständig; er streitet nie ab, dass es so ist, sondern immer nur, dass es so sein muss. Er ist nur für ‚grammatische‘ Fragen von ihm beherrschter Sprachen zuständig: Er kann also auch nicht sagen, dass jene ferne Grammatik so und so ist, sondern nur, dass sie nicht so sein muss. Wittgenstein berücksichtigt jetzt mehr als 1931 die Vielfalt der real vorkommenden Situationen und löst damit auch das Hauptproblem seiner frühen Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. In dieser späteren, vorsichtigeren Position herrscht zwischen den damals entwickelten zwei Gedankengängen keine Spannung mehr: Anschauungen (wie die ‚magischen‘), die auf die Mythologie in den Formen unserer Sprache zurückgehen, sind manchmal, aber nicht immer, Irrtümer bzw. Missverständnisse. Im Einklang mit Ernsts Theorie nimmt Wittgensteins Gedankenspiel an, dass im gegenwärtig zugänglichen Stadium ein Missverständnis vorliegt. Aber welchen Sinn hatte anfangs die Bezeichnung ‚die Kinder Israel‘? War sie zunächst einfach eine bildliche Ausdrucksweise? War dies den Leuten ursprünglich bewusst, bis diese Analogie später, etwa erst durch Philosophen, zu einem Missverständnis ausgebaut wurde? Oder war das Missverständnis schon immer der entscheidende Vorgang?

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Diese Fragen haben eine gewisse Patina: Auch hier bewegt sich Wittgensteins Gedankenspiel innerhalb des Horizontes, in dem die von ihm kritisierten pseudohistorischen Ansätze befangen sind. Ein Kernproblem der Urzeitspekulationen, wie Spencer, Renan und noch Frazer sie anstellten, ist eben, dass historische Bestätigungen überhaupt nicht zu haben sind, geschweige denn, dass sie eine Entscheidung ermöglichen: Es lag an Prinzip und Methode, dass trotz der Anhäufung heterogensten Materials empirische Belege so gut wie keine Rolle spielten. Wittgenstein reflektiert zwar auch über den Versuch, den Ursprung und die historische Entwicklung einer Sitte zu rekonstruieren, und über die damit einhergehenden epistemischen Schwierigkeiten. Das etwas gekünstelte Beispiel aus der Philosophie der Mathematik zeigt aber, dass er rein formal argumentieren will. Das von Renan beschriebene Missverständnis – ein Teil des Stammesnamens wird für einen selbständigen Personennamen gehalten – ist so wenig spezifisch ‚primitiv‘, dass es noch die zeitgenössische Philosophie der Mathematik plagt, insofern diese das Gesetz π mit einer Extension verwechselt.⁴⁸ Und die Frage, ob in einem bestimmten Fall eine bildliche Ausdrucksweise missverstanden oder im Gegenteil bewusst als solche angewandt wurde, stellt sich nicht nur im Kontext besagter Ursprungsspekulationen. Ähnlich wie der Philosoph muss auch der Feldforscher darstellen, wie das jeweilige Gleichnis in der von ihm jeweils beobachteten Gesellschaft tatsächlich angewendet wird. Die genannte Frage mag nun für ihn – und erst recht für einen späteren Interpreten – aus rein empirischen Gründen schwer zu entscheiden sein. Auch dem Historiker, der nicht über urzeitliche Ursprünge phantasiert, sondern archivarisch gut belegte geschichtliche Vorgänge erforscht, kann es nämlich an den entscheidenden Daten fehlen; und er mag nur aus diesem Grund unter den Glaubensbegriff etwas subsumieren,was eher die bewusste Anwendung einer bildlichen Ausdrucksweise ist. Auch historische und ethnologische Fehldeutungen – nicht nur philosophische, magische und religiöse Theorien – gehen auf eigene Art darauf zurück, dass die eigentümliche Verwendung jener Bilder missverstanden wird.

 Man kann zwar π ins Unendliche entwickeln, es gibt aber nirgendwo alle Nachkommastellen von π. Platonische Philosophen missverstehen jedoch das Gesetz als Extension („die Kinder π“). Dieses Missverständnis kommt in ‚realistischen‘ Philosophien der Mathematik wirklich vor, selbst wenn niemand von „Kindern π“ redet. Zu π vgl. z. B. § 139 des Big Typescript (TS 213: 756 ff.).

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

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5.4.2 Unbewusster Glaube?⁴⁹ Weit mehr als empirische Schwierigkeiten interessieren Wittgenstein jedoch begriffliche Verwechslungen und Verwirrungen. Eine begriffliche Frage in diesem Kontext ist: Wann sind wir bereit zu sagen, dass an die bildliche Ausdrucksweise ‚geglaubt‘ wird? Es gibt hier „a l l e r l e i G r a d e “ (MS 116: 284) (Kompromissbildungen, inkohärente Glaubenssysteme usw.), der Übergang zwischen Glauben und Nicht-Glauben ist fließend, ‚Glauben‘ ist ein Begriff mit unscharfen Rändern, noch mehr, ein ‚Familienbegriff‘. Es geht daher zwar auch um „Grade“, aber doch nicht nur um eine Skala, sondern vor allem um sehr unterschiedliche Formen, und hier finden sich ebenfalls alle denkbaren Zwischenglieder. Die Fälle, in denen ‚Glauben‘ sprachlich korrekt verwendet wird, sind also höchst heterogen. Zu viel bleibt daher unbestimmt, wenn Frazer ohne weitere Erklärung schreibt, der und der Stamm glaube das und das oder bei dem und dem Stamm herrsche der und der Glaube. Frazer will einen äußerst vereinfachten Glaubensbegriff universell anwenden. (Das ‚Urbild‘ ist die Theorie, die wissenschaftliche Hypothese, und es gilt am Ende, abergläubische Theorien von wissenschaftlichen zu unterscheiden.) Der schottische Ethnologe ist auch hier ein extremer Fall; aber es geht nicht nur um seinen überholten Ansatz. Das Problem ist viel allgemeiner – und noch heute aktuell. Denn „das allgemeine Begriffswort“, täuscht, wie es in anderem Kontext heißt, die „Vergleichbarkeit“ von Unvergleichbarem vor.⁵⁰ Zumindest verleitet die Ausdrucksweise dazu, eine durchgehende Gemeinsamkeit anzunehmen, wo es nur viele einander durchkreuzende Analogien gibt. Im Allgemeinen ist es so, dass verschiedene Dinge, wenn sie nur Gewisses miteinander gemein haben, wenn eine Analogie vorhanden ist, von den Theoretikern nicht mehr unterschieden werden und jede Ungerechtigkeit des Urteils begangen wird, nur um die Gleichheit dieser Dinge zu behaupten. Wenn der primitive Mensch „glaubt, dass die Sonne aufgehen wird, wenn ihr ein Menschenopfer gebracht wird“ und ich auf Grund von Erfahrungen vermute, oder glaube, dass etwas geschehen wird, wenn ich bestimmte Massnahmen treffe, so sind das offenbar verschiedene Vorgänge. (TS 219: 22 f.)⁵¹

 Der vorliegende Abschnitt ist eine überarbeitete Fassung von Brusotti 2007a: 199 ff.  „Der große Architekt in einer guten |schlechten| Periode (Van der Nüll) hat eine ganz andere Aufgabe als der große Architekt in einer guten Periode. Man darf sich wieder nicht durch das allgemeine Begriffswort täuschen/verführen/ lassen. Nimm nicht die Vergleichbarkeit, sondern die Unvergleichbarkeit als selbstverständlich hin.“ (MS 137: 76a; 25. 8.1948; VB: 555)  Wittgenstein nennt hier Frazer nicht, bezieht sich aber wohl auf sein Buch. In Urzeiten, lautet die Grundthese des Golden Bough, wurden Menschen geopfert in der Hoffnung, „eine gute Ernte zu erlangen“. (So wird Frazers Theorie wiedergegeben in V: 189; vgl. AWL: 33; vgl. auch

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1931 betonte Wittgenstein, dass der Golden Bough diesem Unterschied nicht gerecht wird. Frazer missverstehe den Zusammenhang zwischen Anschauung und ritueller Handlung, weil er von einem irreführenden Grundmuster ausgehe: von dem (falsch, weil intellektualistisch, aufgefassten) Zusammenhang zwischen einer wissenschaftlichen Theorie und deren technischer Anwendung. Dieser verwirrenden Analogie hatte Wittgenstein 1931 ein alternatives ‚Vergleichsobjekt‘ gegenübergestellt, die Ausdruckshandlung. Die Fortsetzung der eben zitierten späteren Bemerkung richtet nun gegen die Annahme, rituelle Handlungen, etwa Opferhandlungen, seien Zweckhandlungen, folgendes problematisches Argument: Es ist viel wahrscheinlicher, dass die ersten Opferhandlungen halb unbewusst geschehen sind, quasi als Reflexbewegungen, wie eine Geste, als dass sie überlegt als Zweckhandlungen vollzogen wurden. Oder eigentlich: das Letztere ist offenbarer Unsinn, denn der Charakter einer Opferhandlung ist eben nicht der einer Zweckhandlung. (TS 219: 23)

Die genetische Annahme, dass die ersten Opferhandlungen nicht „überlegt“ geschahen, sondern „halb unbewusst“, „quasi als Reflexbewegungen“, ist genauso unbegründet wie die Spekulationen der evolutionären Anthropologen. Genauer: Sie ist eine dieser Spekulationen. Marett etwa schreibt die (Intellektualisten wie Tylor und Frazer fremde) Auffassung, ‚primitive Religion‘ sei unbewusst (unconscious), Robertson Smith zu.⁵² Wittgenstein beschränkt die Idee, dass Opferhandlungen „halb unbewusst“ geschehen, auf die ersten Opferhandlungen; und dies zeigt, wie problematisch sie ihm selbst vorkommt. Er, dessen Anliegen nicht entwicklungsgeschichtlich ist, korrigiert die These im zweiten Satz: Es geht eigentlich um den „Charakter“ der „Opferhandlung“, nicht um ihre Entstehung. Das heißt, es geht nicht um die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese, sondern um einen kategorialen Unterschied, also um Grammatik, um Sinn und Unsinn. Wittgenstein verfolgt anschließend die Frage: Darf man bei jenen halb unbewussten Handlungen trotzdem von einem Glauben reden? Von einem unbewussten Glauben? Da die Grammatik autonom ist, steht es uns eigentlich frei, uns so auszudrücken; aber das Adjektiv ‚unbewusst‘ gibt hier Anlass zu mehr Fragen, 10/7/9: 6; MWL: 106.) In dem ausufernden Versuch, diese These zu beweisen, bespricht der Golden Bough auch zwei konkurrierende Erklärungen der Feuerfeste: Nach Mannhardts „Solar Theory“ – so Frazer – waren die Feuerfeste „sun-charms or magical ceremonies intended, on the principle of imitative magic, to ensure a needful supply of sunshine for men, animals, and plants by kindling fires which mimic on earth the great source of light and heat in the sky.“ (FGB 1922: 642) Siehe oben § 4.2, S. 308 ff., zu Mannhardt, Westermarck und den „Gelehrten die immer e i n e Theorie haben möchten!!!“ (MS 143: 25)  So Marett an Frazer (13. Mai 1911) in Frazer 2005: 310.

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

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als es sie löst. Die These, dass ‚primitive Religion‘ unbewusst sei, vertritt Frazer nicht; aber ihm zufolge ist die „theoretical magic“ etwas, was der savage „tacitly assumes“, sie wird „implicitly believed“ (FGB 1922: 11; FGB III 1: 53), und der wissenschaftlich geschulte westliche Beobachter liest sie aus dessen Handlungsweise ab.⁵³ Dementsprechend ist nicht ganz auszuschließen, dass Wittgenstein sich auch hier mit dem Golden Bough auseinandersetzt. Der Philosoph warnt auf jeden Fall vor dem Begriff ‚unbewusster Glaube‘, den er als besonders irreführend empfindet. Die Verfertigung eines Abbildes (etwa aus Ton) eines Menschen ist mit gewissen Gefühlen des Geheimnisvollen verbunden (oder kann es sein), ohne dass der Verfertiger glaubt, das Bild habe Eigenschaften des lebenden Menschen. Sagt man dann, er glaubt es unbewusst, so ist das wieder ein charakteristischer Fall einer Irreführung durch die Sprache. Freilich darf man auch diesen Ausdruck benützen um damit eine Ähnlichkeit im Benehmen des Menschen in beiden Fällen hervorzuheben; aber dann muss man dabei ganz genau wissen und im Auge behalten, wie verschieden die beiden Fälle sind. Und tut man dies, so wird man wohl lieber die dann gezwungene Ausdrucksweise aufgeben. Überhaupt soll nur der hervorheben, der sich dadurch anderseits nicht zur Ungerechtigkeit verleiten lässt. (TS 219: 23)

Wer von „unbewußten“ Gedanken, Motiven oder eben auch von einem „unbewußten“ Glauben redet, merkt oft nicht, dass er sich damit in ein neues „grammatisches Gebiet“ begeben hat (MS 140: 11; PG: 48). Das Wortpaar „bewußt“ und „unbewußt“ verhüllt hier einen fundamentalen grammatischen Unterschied (PU, § 149); der gemeinsame Ausdruck („Glauben“, „Gedanken“, „Motiv“) täuscht darüber hinweg, wie weit die jeweiligen Kriterien eigentlich auseinandergehen.⁵⁴ Der Begriff eines unbewussten Glaubens überdehnt eine Analogie, „eine Ähnlichkeit im Benehmen der Menschen“ (TS 219: 23): Eine Verhaltensweise, in der ein Glaube keine sichtbare Rolle spielt, wird doch unter diesen Begriff subsumiert, nur eben als ein Sonderfall, als ein unbewusster Glaube. Wittgenstein möchte einen Unterschied hervorheben: den zwischen Vermutungen, Meinungen oder Glaubenssätzen einerseits und den „Gefühlen des Geheimnisvollen“ (TS 219: 23) bei einem Opferritual andererseits.⁵⁵ Diesen fundamentalen grammatischen Unterschied kaschiert das Adjektiv „unbewusst“. Nicht, dass man diese Darstellungsweise auf keinen Fall anwenden dürfte. Die Grammatik ist ja autonom. Am Ende

 Siehe dazu oben S. 137 ff.  Auf diesen Missbrauch von ‚unbewusst‘ ging Wittgenstein auch in der Vorlesung vom May Term 1933 ein, und zwar unmittelbar vor einer Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Vgl. 10/7/9: 5, und siehe oben S. 285. Vgl. auch D 309: 36; BBB: 22 f.  Diesen Unterschied zum Intellektualismus betonen typischerweise emotionalistische Ansätze, so z. B. der von Rudolf Otto. Zu Mythos und Gefühl im Baumkult siehe oben S. 141 ff.

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also kann der Philosoph entscheiden, ob er hier dasselbe Wort (‚Glauben‘) verwenden will oder nicht.Worauf es ankommt, ist aber, dass er die jeweils relevanten Unterschiede beachtet und der Illusion des Gemeinsamen nicht erliegt. Da sich dies bei jener Ausdrucksweise aber kaum vermeiden lässt, rät Wittgenstein von ihr ab. Die Wendung ‚unbewusster Glaube‘ ist hier aus begrifflichen Gründen problematisch: Es geht weniger um die Frage, ob dieser Ausdruck zum aktuellen Sprachgebrauch gehört und/oder wie er sich mit ihm verträgt, als einfach darum, dass er Verwirrung stiftet. Selbst wenn man den ‚unbewussten Glauben‘ ausschließt, bleibt ‚Glauben‘ ein Begriff, unter den höchst Verschiedenartiges subsumiert werden kann. Wittgenstein betont also zugleich, dass ‚Glauben‘ ein Familienbegriff und dass nicht jede Erweiterung dieses Begriffs wünschenswert ist. Dass ein Begriff keine scharfen Ränder hat, dass er gleichsam „eine Familie“ ist, „sagt nicht, daß es uns also gleich sein wird, was alles in […] |sie| aufgenommen wird.“ (MS 124: 116; BGM: 399) Der Begriff kann dabei nämlich seine Physiognomie und vor allem seinen Witz verlieren. Der Philosoph muss also die Begriffsfamilie als Familie erkennen und auf die Unterschiede zwischen den Familiengliedern genauso hinweisen wie auf die Ähnlichkeiten; denn auch Züge, die immer wiederkehren, sind nicht unbedingt allen Gliedern gemeinsam. Man muss die „Familie“ vielfach verwandter, voneinander nicht immer deutlich abgegrenzter Verwendungsweisen des Wortes überblicken.⁵⁶

5.4.3 „Wie können sie das glauben?“ – „W i e glauben sie es?“⁵⁷ Nun scheinen diese Fälle tatsächlich einen gemeinsamen Zug zu haben: „‚Aber ‚glauben‘ heißt doch einfach: ‚für wahr halten‘!‘ – Ja, es heißt für wahr halten, und mit dieser Definition ist a u c h nichts erklärt, was uns interessiert.“ (MS 116: 345) Ist das Für-wahr-halten wirklich ein gemeinsamer Zug? Wittgenstein ist sich nicht immer so sicher, und allgemeine Züge sind bei Familienbegriffen, wenn überhaupt vorhanden, eher irrelevant, d. h. uncharakteristisch. Die Mitteilung, dass eine Person etwas glaubt bzw. etwas für wahr hält, ist – wie oben erwähnt – nur dann aufschlussreich, wenn wir das Sprachspiel kennen, innerhalb dessen sie den Satz

 Dies heißt nicht, es müsse ein vollständiges Regelverzeichnis aufgestellt werden. Letzteres ist bei einem offenen Begriff prinzipiell nicht möglich.  Der vorliegende Abschnitt ist eine überarbeitete Fassung von Brusotti 2007a: 202 ff.

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

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äußert – in Wittgensteins Gleichnis, „wenn wir die Maschine kennen, in die ein Rad eingefügt wird“ (MS 116: 345).⁵⁸ Wie kompliziert so eine „Maschine“ sein kann, erläutert Wittgenstein am Beispiel der Debatte über den damals bereits umstrittenen und dann untergegangenen Totemismusbegriff. Die etwa in Frazers monumentalem Totemism and Exogamy als ‚totemisch‘ rubrizierten Phänomene zeigen hinter oft oberflächlichen Ähnlichkeiten wesentliche Unterschiede; bei näherem Hinsehen erweist sich die Zusammenstellung als beliebig: Der vermeintliche ‚Chor‘ ist eigentlich keiner; hinter ihm steht trotz allem Anschein kein ‚Gesetz‘.⁵⁹ Darin liegt die Schwachstelle der entsprechenden Theorien, und aus diesem Grund ist der Begriff ‚Totemismus‘ in der Ethnologie schon lange überholt. Wittgenstein bemerkt: „Totemism. It is said that some people believe their fathers are wolves. But how do we know? And in what way?“ (PPO: 405)⁶⁰ Die Kriterien der Glaubenszuschreibung bestimmen die Bedeutung mit, die wir dem Wort ‚glauben‘ und dem angeführten erläuterungsbedürftigen Satz geben. Für Wittgenstein soll die Zuschreibung nur auf der Basis des nicht behavioristisch aufgefassten (auch verbalen) Benehmens erfolgen, weil, „wenn Du das Benehmen der Menschen (eines Stammes) beschrieben hast, Du a l l e s beschrieben hast“ (MS 124: 7). Sehen wir nun in dem Satz, den wir ihnen zuschreiben, eine empirische Hypothese, dann erscheint er absurd. „Wie können sie das glauben?“ fragen wir uns dann, ohne uns über den Sinn von „Glauben“ weiter Gedanken zu machen. 1931 hätte Wittgenstein schlicht verneint, dass ‚sie‘ etwas wie eine empirische Hypothese vertreten; aber die Frage, ob Menschen an irgendwie damit ver-

 Wittgenstein schließt folgende Beispiele an: „Ich glaube, daß das Wetter schön bleiben wird, | daß die Erde sich um die Sonne bewegt, | daß ich mich damals schlecht benommen habe.“ (MS 116: 345)  Zu einer frühen Kritik des Totemismus-Begriffs vgl. Goldenweiser 1910; zu einer späteren vgl. etwa Lévi-Strauss 1965. Der Totemismus gehörte nicht nur und nicht erst im Golden Bough zu Frazers Hauptthemen. Robertson Smith und er griffen den von J. F. McLennan eingeführten Begriff auf (vgl. etwa Kuper 1988: 82). Veranlasst von Robertson Smith, verfasste Frazer für die Encyclopaedia Britannica u. a. den Artikel ‚Totemism‘; eine längere, weil ungekürzte Fassung erschien 1887 als kleines Buch und wurde gleich zur Standardmonographie über (angebliche) ‚totemische Tatsachen‘. Dieser Text leitete dann auch das mehrbändige Werk ein, das aus Frazers jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema entstand, das u. a. für Freud bedeutsame Totemism and Exogamy. Dafür stellte Frazer zuletzt noch einen Ergänzungsband zusammen (Totemica, 1937).  So Wittgenstein in einer seiner ‚Saturday Discussions“, wahrscheinlich am 22. Februar 1947. Ähnlich wie in der Vorlesung über belief argumentiert Wittgenstein hier in Hinsicht auf Religion überhaupt, dass die gleichen Bilder höchst unterschiedlich begründet werden können; man kann erst dann sagen, was jemand glaubt, wenn man seine Gründe kennt; man muss finden, „what things are connected with what he says“ (PPO: 404).

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gleichbare Anschauungen eigentlich glauben, war für ihn schon damals nur vordergründig eine schlichte Ja-oder-Nein-Frage. Statt sich zu fragen, ob sie es (eigentlich) glauben, wechselt er jetzt indes dezidiert die Fragestellung: „W i e glauben sie es?“ (MS 116: 283) Evans-Pritchard schreibt 1937 in seiner klassischen Monographie: „I have always asked myself ‚How?‘ rather than ‚Why?‘ Azande do certain things and believe certain notions […].“ (Evans-Pritchard 1937: 5)⁶¹ Bei Wittgenstein tritt in denselben Jahren eine Frage in den Vordergrund, die an diejenige Evans-Pritchards erinnert: Wie, d. h., in welchem Sinn, wird eigentlich an so etwas geglaubt? Wir hören, primitive Völker Volksstämme glauben, sie stammten von einem Tier (z. B. einer Schlange) ab. Wir fragen uns: Wie können sie das glauben? – Wir sollten fragen: ‚W i e glauben sie es?‘ Sie sagen, etwa, Worte, die wir in den deutschen Satz „Wir stammen von … ab“ übersetzen. – „Aber das ist doch nicht alles!“ sagt man mir |nun|; sie haben ja die mannigfachsten Gebräuche und Gesetze; die alle sich auf diesen Glauben stützen (und also beweisen, daß wir ihre Worte r i c h t i g ins Deutsche übertragen/übersetzt/ haben)! Aber warum sollten wir nicht sagen: diese Gebräuche und Gesetze s t ü t z e n sich nicht auf jenen Glauben, sondern sie zeigen i n w i e f e r n , in welchem Sinn, ein solcher Glaube besteht. Man könnte sich z. B. fragen: Glauben jene Leute |jemals bei anderen Gelegenheiten| daß eine Schlange // Leute jemals b im gewöhnlichen Leben, daß eine Schlange einen Menschen statt einer Schlange hervorbringt? Je nachdem diese Frage zu beantworten ist, erhält ihr Glaube an ihren Ursprung ein anderes Feld. (MS 116: 283 f.; 1945.)⁶²

Der Glaube hat eine pragmatische Dimension. „Im Anfang war die Tat“ – und nicht das Wort; und der Glaube (das Geglaubte) kristallisiert sich in einem zweiten

 Zwar äußert sich Evans-Pritchard bereits in der Vorkriegszeit so; aber erst die spätere ‚hermeneutische Ethnologie‘ wird sich programmatisch von der (kausalen) Erklärung ab- und der Beschreibung zuwenden.  Mit dieser Erläuterung beginnt die Aufzeichnung, aus der oben das Beispiel der „Kinder π“ angeführt wurde. Der Anfang – „Wir hören“ – lässt vermuten, dass Wittgenstein sich auf eine bestimmte Quelle bezieht, nicht unbedingt auf eine schriftliche. Vielleicht handelt es sich auch hier um den Golden Bough. Frazer arbeitete nacheinander unterschiedliche Theorien über den Ursprung des Totemismus aus (vgl. Stocking 1995: 141 ff.). Unter Wittgensteins Autoren geht auch Ernst auf den „Glauben“ an den Totemismus ein (Ernst 1910: 274 f., 278). Das Thema war extrem verbreitet, und die von Wittgenstein angeführte Tatsache ist zu allgemein, als dass sich eine „Quelle“ identifizieren ließe. Die in der damaligen Literatur (z. B. bei Frazer, Lévy-Bruhl, Durkheim und Cassirer) immer wieder angeführten Berichte (Karl von den Steinen, Walter Baldwin Spencer und Francis James Gillen) dürfte Wittgenstein nicht gekannt haben. – EvansPritchard bemerkte 1934 kritisch, dass je nach Situation bestimmte Ideen markiert oder im Gegenteil ausgeblendet werden: Wer in einem besonderen (‚rituellen‘) Kontext eine Schlange ist, muss es nicht im Alltag sein. „Hence it comes about that a savage can be both himself and a bird, that a shadow can be both a shadow and a soul, that a plant can be both a plant and a magical substance, and so on.“ (Evans-Pritchard 1934: 54)

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

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Moment heraus, als das Resultat unterschiedlicher Denk- und Handlungsweisen.⁶³ Der Glaube ist also nicht die kausale Grundlage der Gebräuche. Im Gegenteil: Diese definieren den Glauben. Wittgenstein zielt nicht auf eine Kausalerklärung – weder (a) des Glaubens noch (b) der Gebräuche durch den Glauben. Seine Untersuchung ist eine grammatische. Wie in einem der Völker, von denen Wittgenstein ‚gehört‘ hat, der Satz tatsächlich gebraucht wird, den er mit ‚Wir stammen von einer Schlange ab‘ wiedergibt, ist allerdings eine empirische Frage; es geht ja um eine fremde Grammatik, mit der wir nicht vertraut sind. Wittgenstein zufolge muss der Ethnologe methodisch von den Gebräuchen ausgehen und von ihnen aus gleichsam die Grammatik des Satzes klären, den er ihnen zuschreibt. Er müsste diese Grammatik übersichtlich darstellen: das, was ein Satz wie ‚Wir stammen von einer Schlange ab‘ tatsächlich beinhaltet, die Regeln und Institutionen, die er voraussetzt, die Normen und Gesetze, die mit ihm verbunden sind, die Begründungszusammenhänge zwischen ihm und anderen Sätzen. Wittgenstein stellt hier wiederum nicht die Frage, ob ihre Sprache ein Wortfeld kennt, das wir mit ‚glauben‘ und ähnlichen Wörtern wiedergeben würden. Wir müssten eventuell die Verwendung dieses Wortfelds mit beschreiben, aber diese Beschreibung wäre nur ein kleiner Teil des gesamten Bildes; und selbst das Fehlen vergleichbarer Wörter bei ihnen müsste uns nicht zwingend davon abbringen, doch von einem ‚Glauben‘ zu reden. In jedem Fall muss der Ethnologe die Rolle des Satzes im ganzen Leben des Stammes beschreiben. Im Gegensatz zur intellektualistischen Tradition der evolutionären Anthropologie unterscheidet Wittgensteins Bemerkung implizit zwischen rituellem Bereich und gewöhnlichem Leben. Er enthält sich jedoch bewusst einer Antwort auf die empirische Frage, zu welchem „Feld“ der Satz gehört, dem rituellen oder dem alltäglichen. Wittgenstein scheint indes (ähnlich wie auch Malinowski) aprioristisch davon auszugehen, dass der Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen universell gilt, also auch in dieser Gesellschaft. Es geht hier allerdings nicht einfach darum, à la Drury einen ‚Schlusspunkt‘ zu setzen. Der Philosoph muss nämlich die Art der Fragestellung ändern. „Wie können sie das glauben?“ ist ja keine echte Frage; der ‚Fragende‘ geht einfach davon aus, dass sie daran glauben, und drückt seine Verwunderung in Frageform aus. Nimmt er die Frage „Wie können sie das glauben?“ dagegen ernst, d. h., als echte Frage, dann ist die Antwort dieselbe wie bei „W i e glauben sie es?“. Und

 „As it were, the belief as formulated on the evidence can only be the last result – in which a number of ways of thinking and acting crystallize and come together.“ (LA: 56) Zur ‚Verifikation‘ siehe oben S. 34 ff., 276 ff.

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wenn er diese letztere Frage nicht beantwortet, versteht er ihr Leben nicht. Einen Schlusspunkt zu setzen, würde nichts helfen; nötig ist vielmehr etwas wie eine dichte Beschreibung der fremden Lebensform. Diese empirische Beschreibung müsste aber ein Feldforscher leisten. Der Philosoph hat eine andere Aufgabe. Wittgenstein thematisiert hier die Bedeutung, die der externe Beobachter (nicht die Teilnehmer) dem Wort ‚Glauben‘ gibt, wenn er ihn auf diese Denk- und Handlungsweise anwendet. Was uns verwirrt, ist nämlich unser Ausdruck ‚Glauben‘, der offenbar nicht wirklich passt. Es geht um unsere Grammatik, und wir müssen nur wissen, ob und „in welchem Sinn“ wir beim Beschreiben dieses Wort verwenden wollen. Es handelt sich um einen Familienbegriff; aber keiner der im Westen gängigen Stereotype (die wissenschaftliche Hypothese, der magische Aberglaube, der religiöse Glaube) lässt sich in diesem Fall selbstverständlich anwenden. Der Philosoph weist auf die möglichen begrifflichen Verwechslungen und Verwirrungen hin. Es gehört dagegen nicht zu Wittgensteins Anliegen, etwas wie einen ethnologisch einsetzbaren Glaubensbegriff auszuarbeiten. In Wittgensteins Beispiel gibt es ex hypothesi keine Übersetzungsprobleme. Ein Satz wie ‚Wir stammen von einer Schlange ab‘ lässt sich korrekt übersetzen; und es lässt sich eindeutig beweisen, dass diese Übersetzung richtig ist. Dazu reichen allgemeinere Beobachtungen über die mit ihm verbundenen Gebräuche, also über die ganze Lebensform des jeweiligen Volkes. So wenigstens die gerade angeführte Stelle. In dieser Hinsicht scheint die radikale Übersetzung unproblematisch vonstatten zu gehen.⁶⁴ Bemerkenswert ist, wo Wittgenstein die eigentliche hermeneutische Schwierigkeit sieht. Auch bei einem Satz wie ‚Wir stammen von einer Schlange ab‘ ist „ ein Bild im Vordergrund, der Sinn aber (weit) im Hintergrund; d. h., die Anwendung des Bildes nicht leicht |schwer| zu übersehen.“⁶⁵ Das „Bild“ lässt sich ohne größere Schwierigkeiten übersetzen, aber man versteht nicht, woran und inwiefern jemand glaubt, wenn man seine Art, das jeweilige Bild anzuwenden, nicht beachtet.

 Zum Unterschied zwischen Wittgenstein und Quine in Hinsicht auf die „radikale Übersetzung“ vgl. die ausführliche Besprechung in: Hacker 1997: 363 – 436, sowie die Beiträge in Arrington/Glock 1996, insbes. Glock 1996c; vgl. auch Schulte 1989: 232; Ebbs 1997. Auf den jeweils anderen place of theorizing bei Wittgenstein und Quine macht M. Williams zu Recht aumerksam (1999: 216 ff.). Zur radikalen Übersetzung und zum berühmten „Gavagai“-Beispiel vgl. Quine 21 1996: 26 ff.; Quine 1969: 1 ff.  „Woran glaube ich wenn ich an eine Seele im Menschen glaube? Woran glaube ich wenn ich glaube diese Substanz enthalte zwei Ringe von C-Atomen? In beiden Fällen ist ein Bild im Vordergrund, der Sinn aber (weit) im Hintergrund; d. h., die Anwendung des Bildes nicht leicht |schwer| zu übersehen.“ (MS 116: 282 f.; vgl. PU, § 422.)

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

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Hier liegen die Schwierigkeiten; denn es gibt unzählige Arten, Sätze zu verwenden, und nicht bloß „Behauptung, Frage und Befehl“ (PU, § 23). Unzählige Missverständnisse rühren insbesondere daher, dass sprachliche Äußerungen durchgängig als Aussagen interpretiert werden.⁶⁶ Am schwierigsten zu übersetzen ist für Wittgenstein das, was ‚Anschauungen‘ von Theorien unterscheidet. Selbst wenn ‚glauben‘ sich als ‚für wahr halten‘ definieren lässt, ist diese allgemeine Definition zuletzt belanglos bzw. so gut wie leer. Ein Begriff wie die ‚behauptende Kraft‘ ist eine allzu arme Abstraktion.⁶⁷ Man muss daher auf das jeweilige Sprachspiel eingehen. Weiter hilft nämlich nur eine detaillierte Einzelfallanalyse.⁶⁸ Der Kontext, die Umstände einer Äußerung wie ‚Wir stammen von einer Schlange ab‘ erschließen sich, wenn überhaupt, erst einer langwierigen Untersuchung. Daran knüpft das erläuterte Argument an, wonach es zwischen einfacher Anwendung einer bildlichen Ausdrucksweise und deren absolutem Missverständnis „a l l e r l e i G r a d e “ (MS 116: 284) gibt. Es geht aber um Unterschiede nicht nur des Grades, sondern der Art, und auch zwischen letzteren gibt es denkbare kaum entscheidbare Zwischenstufen. In einer Vorlesung über belief scheint es zuerst nicht auf derlei Übergänge anzukommen. Zwischen „religious beliefs“ und „scientific beliefs“ reißt Wittgenstein eine Kluft auf: Sie stehen für zwei völlig unterschiedliche Verwendungen von „belief“/ „believe“.⁶⁹ Anschließend räumt der Philosoph allerdings ein, dass sich auch hier „transitions“ denken lassen, bei denen „we wouldnˈt know for our life whether to call them religious beliefs or scientific beliefs“ (LA: 58).⁷⁰ Eigentlich wissen ‚wir‘ auch nicht, wie ‚wir‘ mit solchen Zwischenstufen und/oder Mischformen umgehen sollen: Bei einem englischen Zeitgenossen wie C. W. O’Hara redet Wittgenstein ohne Umschweife von ‚Aberglauben‘.⁷¹ Bei ferneren Lebensformen würde er damit

 Hinzu kommt z. B. bei Frazer, dass alle Handlungen als Zweckhandlungen gelten und durch die entsprechenden Meinungen kausal erklärt werden.  Aus der Trennung von propositionalem Inhalt und illokutionärer Kraft wird leicht ein mentalistischer Mythos, und zwar zu Beginn der dreißiger Jahre bei Wittgenstein selbst. Siehe oben § 5.1, S. 332 ff.  Mit den Fehldeutungen, die Wittgenstein der evolutionären Ethnologie vorwirft, und mit den Interpretationsproblemen beim Satz ‚Wir stammen von einer Schlange ab‘ ist ein Missverständnis zu vergleichen, dem Wittgenstein bei Gottfried Keller begegnet. Vgl. TS 219: 6, und dazu die ausführliche Erläuterung in Brusotti 2007a: 206 f.  Die als „Lectures on Religious Belief“ edierten Mitschriften gehören zu einer Vorlesung über ‚Belief‘ (1938). Vgl. dazu die Anmerkung des Herausgebers, LA: VII.  Auf dieselbe Weise kann man nicht bei jeder Handlung entscheiden, ob man sie eine rituelle Handlung nennen soll oder eine Zweckhandlung.  Wittgenstein bezieht sich auf den Beitrag „The Rev. C. W. O’Hara, S. J.“. Vgl. den Hinweis des Herausgebers in LA: 57, und siehe dazu oben S. 350, Anm. 32. In der Definition des Aberglaubens

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jedoch leicht ungerecht. Es geht nicht nur darum, dass wir nicht immer wissen, zu welcher Kategorie wir einen fremden Brauch rechnen sollen. Die Kategorien sind selber fraglich: Wittgenstein ist sich letzten Endes bewusst, dass vor allem westlich geprägte Kultur zwischen magischem Aberglauben, religiösem Glauben und wissenschaftlichem Vermuten bzw. Wissen unterscheidet. Man mag hier die Analogie hervorheben (wie Frazer und unter umgekehrtem, religiösem, Vorzeichen O’Hara) oder im Gegenteil den Unterschied – wie Wittgenstein selbst: Die Kategorien entspringen unserem Sprachspiel. Wir sind nicht unbedingt imstande zu sagen, inwieweit ein fremdes Sprachspiel unserem in diesem Punkt entspricht. Es stellt sich nämlich die Frage, ob eine andere Kultur einen solchen Unterschied überhaupt kennt und ob unsere Kategorien auf sie anwendbar sind. Unser Glaubensbegriff weist extreme kulturelle Prägungen auf und gehört zu den Begriffen, die in unserer, aber nicht in jeder Lebensform selbstverständlich sind. Die fundamentale Rolle von Glaubensbegriff und Glaubensbekenntnis in der christlichen Tradition lässt sich nicht auf andere Kulturen übertragen (zu einem Beispiel vgl. Kramer 2005). Auch falsche Analogien aus der durch Wissenschaft geprägten modernen westlichen Kultur können hier leicht irreführen. Eine Reihe von Fragen – folgende Auswahl ist nicht einmal ansatzweise repräsentativ – beschäftigt noch heute unterschiedliche Disziplinen. Glaubten die Griechen an ihre Mythen? (Vgl. Veyne 1987.) Glaubten Hexen an ihre übernatürlichen Kräfte? (Vgl. Ginzburg 1986.) Und wie sind Abbildungen etwa des Teufels jeweils gemeint? Hinter welchen steht der Glaube an den Leibhaftigen? Welche haben magische Funktionen? Welche sind dagegen nichts weiteres als Gleichnisse?⁷² Am Ende lassen sich derlei Fragen selten mit einem klaren ‚Nein‘ beantworten. Einem solchen ‚Nein‘ kam Wittgenstein in seinen ersten Betrachtungen über den Golden Bough sehr nahe: Seine damaligen Zweifel grenzten zuweilen gefährlich an eine

(weniger in der des religiösen Glaubens) kommt folgende späte Aufzeichnung Frazer sehr nahe: „Religiöser Glaube und Aberglaube sind ganz verschieden. Der eine entspringt aus Fu r c h t und ist eine Art falscher Wissenschaft. Der andre ist ein Vertrauen.“ (MS 137: 48b; VB: 551; 1948) Diese Definition heißt natürlich nicht, dass Wittgenstein jetzt Frazers Anwendung von Begriffen wie ‚Aberglauben‘ und ‚Magie‘ auf das Weltbild der ‚Primitiven‘ überhaupt akzeptiert. Gelegentlich verbindet er – ebenfalls ohne Bezug auf fremde Völker, wohl aber im Hinblick auf sich selbst – ‚Magie‘, ‚Aberglauben‘ und ‚Unvernunft‘; er erklärt, er dürfe „nicht abergläubisch sein“, nicht „mit Worten […] Magie treiben“ und sich „nicht in eine Art Glauben, eine Art Unvernunft hineinreden“ (MS 183: 194).  Es gibt hier selbstverständlich alle möglichen absolut eindeutigen Fälle. Interpretationsresistent sind aber gerade Übergängsfälle zwischen „Mythos“ und Metapher. So Gombrich. Er versteht unter „Mythos“ „the system of shared beliefs that hold a society together“ (Gombrich 1999: 184). „That all-important moment of transition when myth fades into metaphor must of necessity elude the student of pictorial satire.“ (Gombrich 1999: 188)

5.4 Bildlicher Ausdruck oder Missverständnis?

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nicht weiter belegte empirische Hypothese. Anders wird es wie gesehen beim späten Wittgenstein. In Auseinandersetzung mit Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit, aber nicht mit seinen Erläuterungen des Glaubensbegriffs, folgerte vor einigen Jahrzehnten der Ethnologe Rodney Needham (1972), dass Glauben ein Familienbegriff ist. Er fragte, ob eine transkulturell gültige Bestimmung des Glaubensbegriffs möglich sei, die diesen auf Erscheinungen sehr heterogener Kulturen anwendbar mache. Er beantwortete diese Frage negativ. Er verneinte dabei schließlich auch die allgemeinere Frage, ob Familienbegriffe als Mittel zum Beschreiben von Phänomenen unterschiedlicher Kulturen geeignet sind und ob sie in wissenschaftlichen Untersuchungen überhaupt einen Platz haben.⁷³ Im Hinblick auf eine transkulturell gültige Bestimmung des Glaubensbegriffs sind Zweifel tatsächlich angebracht. Needhams Gründe sind allerdings nicht zwingend: Wenn man ohne weitere Erklärung sagt, eine Gruppe glaube an das und das, – führt er aus – bleibt unklar, welcher Seelenzustand, welches Gefühl ihr zugeschrieben wird. Needham sieht zwar, dass ‚Glauben‘ nicht für einen Seelenzustand oder für eine Fähigkeit steht; aber er ist sich nicht im Klaren darüber, dass dies nicht die Aufgabe des Glaubensbegriffes ist. Oder er zieht daraus nicht die richtigen Konsequenzen. Es muss jenen Menschen kein besonderer Geistes- oder Seelenzustand zugeschrieben werden. Wittgenstein ist in diesem Punkt unmissverständlich. Was glauben und nicht glauben unterscheidet, ist manchmal „nothing that happens while we speak, but a variety of actions and experiences of different kinds before and after.“ (BBB: 144 f.) Dies entgeht Needham: Man muss die Sprachspiele vergleichen, nicht die psychologischen Zustände. „Der feste Glaube (an eine Verheißung z. B.) – ist er weniger sicher als die Überzeugung von einer mathematischen Wahrheit? – (Aber werden dadurch die Sprachspiele ähnlicher!)“ (TS 232: 768 f.; BPP II, § 711) Die Ähnlichkeit wäre hier höchstens eine psychologische, die Sicherheit würde sich in beiden Fällen ähnlich anfühlen. Aber ähnliche oder unterschiedliche Seelenzustände kommen hier nicht in Betracht; denn die Art der Sicherheit, z. B. ob ‚mathematische‘ oder andere Sicherheit, ist kein psychologischer Begriff, sondern ein logischer, und Arten von Sicherheit unterscheiden sich logisch voneinander. Es geht hier nur um diesen logischen Unterschied, d. h., um den „Unterschied von// zwischen// Sprachspielen“ (MS 144: 100): „Die Art der Sicherheit ist die Art des

 Vgl. Needham 1972. Zu Needham siehe auch unten, S. 247, 321, und vgl. Andronico 1998: 280 ff. Neben Needham führt Andronico (1998: 280 ff.) in ihrer Untersuchung auch andere Positionen innerhalb der Ethnologie an und mit ihnen andere Antworten auf die Frage, inwieweit Familienbegriffe (oder die damit nicht zusammenfallende ‚polythetische Klassifikation‘) als Mittel zum Beschreiben von Phänomenen unterschiedlicher Kulturen geeignet sind.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Sprachspiels.“ (MS 144: 98; PU II xi: 569) Zu vergleichen sind also die Sprachspiele im Ganzen, nicht nur die Verwendung von ‚glauben‘ und ähnlichen Verben. Es ist gewiss alles andere als unwichtig, ob die Handelnden überhaupt ein Verb haben, das sich mit ‚glauben‘ übersetzen lässt, und wie sie es gebrauchen (vielleicht haben sie sogar mehrere). Man muss also durchschauen, inwieweit ‚glauben‘ ein kulturell idiosynkratischer westlicher Begriff ist. Möglicherweise verwenden die Handelnden selbst kein solches Verb, und das Verb ‚glauben‘ wird nur vom externen Beobachter benutzt, der ihre Äußerungen als Aussagen deutet. Aber es kommt nicht nur darauf an, ob sie ‚glauben‘ anders verwenden (oder gar nicht), sondern auch und vor allem auf den allgemeineren Unterschied zwischen den Sprachspielen. Entscheidend ist das, was Wittgenstein die logische Art von Sicherheit nennt, d. h., das Sprachspiel im Ganzen.

5.5 „What the hell’s the point of doing this“? Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘ Hermeneutische Probleme, wie sie etwa in der ethnologischen Übersetzung auftreten, kann nur eine Beschreibung lösen, aus der die „Rolle“ des Wortes im Sprachspiel und die Rolle des Sprachspiels im Leben der Gemeinschaft klar hervorgehen. Allerdings steht bei Wittgenstein die interkulturelle Hermeneutik nicht im Vordergrund, und auch at home geht es ihm weniger um die aktuellen Missverständnisse im alltäglichen Vollzug der Sprache als um die Schwierigkeiten der Philosophen, diesen Vollzug zu übersehen. (Auch Mathematiker, wenn sie über Mathematik philosophieren, missverstehen oft die ‚Grundlagen‘ der eigenen Praxis.) Fiktive Hermeneutische Schwierigkeiten bei fremden Handlungsweisen sollen veranschaulichen, wie Philosophen beim Philosophieren Sprachspiele missverstehen, die sie im Alltag selber spielen. Allmählich richtet Wittgenstein seine Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf die Regeln, sondern auch auf deren naturgeschichtlichen, pragmatischen und sozialen Hintergrund: auf den Kontext, ohne den Regeln nicht eindeutig sind, auf die Technik, in der sie ruhen, sowie auf die allgemeinen Tatsachen der Erfahrung, die jene Technik ermöglichen oder ihr einen Sinn, einen „Witz“, geben, im Sprachspiel aber ebenso wenig erwähnt werden wie die Technik selbst. Ein Sprachspiel hat nämlich nicht nur Regeln, sondern auch einen „Witz“; und erst wer ihn versteht, kann wesentliche und unwesentliche Regeln auseinanderhalten. Aber auch worin der „Witz“ bzw. der „Charakter“, die „Physiognomie“ eines Sprachspiels besteht, lässt sich nicht immer eindeutig angeben. Selbst die Teilnehmer sind sich darüber gelegentlich im Unklaren bzw. sind miteinander nicht immer einig.

5.5 Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘

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A use of language has normally what we might call a p o i n t . This is immensely important. Although it’s true this is a matter of degree, and we can’t say just where it ends. […] We have, apart from any table of rules, an idea of the p o i n t of a game. – But what is regarded by one person as essential may be regarded by another as inessential: and it isn’t always a clear issue. (LFM: 205; vgl. PU, § 567– 568)

Die Sprecher tendieren wohl dazu, miteinander übereinzustimmen, aber die Übereinstimmung ist eben nur tendenziell: Auch in Hinsicht auf den „Witz“ scheint nicht immer allgemeine Einigkeit zu herrschen. Die Unbestimmtheit, die oft durch den Hinweis auf den „Witz“ des Sprachspiels beseitigt wird, kann also auf dieser Ebene wiederkehren. Vor allem externe Beobachter, und eben auch Philosophen, gehen da leicht in die Irre. Deshalb bilden die Verständnisschwierigkeiten Außenstehender, mit denen uns Wittgensteins ‚imaginäre Ethnologie‘ konfrontiert, immer wieder eine treffende Analogie: Als Philosophen, nicht als Sprecher, verlieren wir den „Witz“ unserer Sprachspiele leicht aus den Augen. Wittgensteins ‚imaginäre Ethnologie‘ erinnert immer wieder an Malinowskis ethnologische Übersetzungen; aber auch der Golden Bough dient öfter als Vorlage. Zumeist geben Frazers Missverständnisse, eben weil sie für Wittgenstein mit den Verwechslungen beim Philosophieren verwandt sind, das Muster für die Missverständnisse der imaginären Ethnologen. In einem bekannten Fall aber liefert Frazer seltsamerweise auch das Vorbild für den richtigen Zugang, und eine Deutungsschwierigkeit wird in seinem Stil beseitigt: Dass man in Hinsicht auf den Witz eines Sprachspiels grob daneben greifen kann, zeigt Wittgenstein an einem fiktiven fremden Stamm vermeintlicher Holzhändler und an ihrem fremden System der Bezahlung.⁷⁴

 Dieses in der Literatur oft diskutierte Beispiel kommt u. a. in der zweiten Hälfte der Vorkriegsfassung der Philosophischen Untersuchungen vor. Wittgenstein notiert es sich zuerst im Manuskript MS 118, Bd. XIV „Philosophische Bemerkungen“ (MS 118: 34r ff.; 29. 8.1937) und im Manuskript MS 117, Bd. XIII „Philosophische Bemerkungen“ (MS 117: 46 ff.; das Manuskript wurde ab 11.9.1937 benutzt). Er nimmt es dann ins Typoskript der zweiten Hälfte der Vorkriegsfassung der Philosophischen Untersuchungen auf (TS 221: 171 ff.; 1938). In einem weiteren Typoskript, zusammengesetzt aus Zetteln aus TS 221, stellt Wittgenstein die entsprechenden Aufzeichnungen um (TS 222, 115 ff.; 1938). In der Literatur wird das Beispiel nach diesem Typoskript zitiert, d. h. nach Teil 1 der BGM (BGM: 93 f.). Wittgenstein ging auch in seinen Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik (1939) auf das Beispiel der Holzhändler ausführlich ein. Vgl. LFM: 202 ff. – Zu diesem Beispiel vgl. insbesondere die ausführliche Erläuterung in Cerbone 2000; vgl. auch Cerbone 1994, insbes. S. 168 ff.; Crary 2000: 134 ff.; Conant 1992. Vgl. außerdem Winch 1958: 115; Cavell 1999, insbes. S. 115 ff.; Stroud 1966, insbes. S. 483 ff.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Wittgenstein setzt sich dabei vor allem mit Freges Kritik des Psychologismus auseinander.⁷⁵ Ein psychologistischer Logiker wie der Neukantianer Erich Adickes setzt logische und psychologische Gesetze gleich. Er stellt beide empirisch fest – wie Naturgesetze. Dann aber – so läuft Freges Einwand im Vorwort der Grundgesetze – müsste der Psychologist, falls er fremdartigen psychologischen Gesetzen begegnete, sie als eine neue Art logischer Gesetze anerkennen. Ein solches ‚logisch fremdes Denken‘ wäre allerdings „nur eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit.“⁷⁶ Es sind zwar Wesen vorstellbar, die nicht nach unseren logischen Gesetzen denken; nicht vorstellbar ist aber, dass sie dabei recht haben, dass das, was sie ‚für wahr halten‘, tatsächlich wahr ist.⁷⁷ So Freges normativer Standpunkt. Wittgenstein kommt auf diese Stelle der Grundgesetze öfter zurück. „Frege glaubte daß wir durch aufgeben der logischen Gesetze ‚unser Denken in Verwirrung bringen‘ würden! Wenn das so wäre so würde ich diese Verwirrung studieren, sie wäre sehr interessant.“ (MS 154: 25r-25v) Der Grund, weshalb diese neue Art der Verrücktheit Wittgenstein so „interessant“ vorkommt, ist freilich ernüchternd: Er weiß nicht, was man sich darunter vorstellen soll, er stellt in Frage, dass sich unter dem Aufgeben der logischen Gesetze und der entsprechenden Verwirrung des

 Cerbone (2000) hebt die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Frege zu Recht hervor und geht auf das Vorwort der Grundgesetze sowie auf Freges Position ausführlich ein. Er sieht Frege zwischen einem normative und einem constitutive strand gespalten, zwischen der Idee, dass logische Gesetze vorschreiben, wie man denken soll, und der Idee, dass sie internal to thinking sind. Wittgensteins Tractatus ergreift dagegen konsequent den constitutive strand: Zwischen Logik und Denken besteht eine interne Relation, die Idee eines unlogischen Denkens ist also sinnlos. Ein Normativist wie Ramsey hatte diesen konstitutiven Ansatz des Tractatus sehr früh kritisiert. Man darf also das Frühwerk in diesem Sinn lesen, ohne der Lektüre des Tractatus im Sinn des New Wittgenstein beizupflichten, der Cerbone sich anschließt. Wie andere Vertreter des New Wittgenstein sieht er über die gravierenden Unterschiede zwischen Früh- und Spätwerk hinweg: Der späte Wittgenstein lehnt nicht nur Freges Normativismus, sondern auch den metalogischen Konstitutivismus des Tractatus ab.  „[…] Ich würde sagen: Es giebt also Wesen, welche gewisse Wahrheiten nicht wie wir unmittelbar erkennen, sondern vielleicht auf den langwierigern Weg der Induction angewiesen sind. Wie aber, wenn sogar Wesen gefunden würden, deren Denkgesetze den unseren geradezu widersprächen und also auch in der Anwendung vielfach zu entgegengesetzten Ergebnissen führten? Der psychologische Logiker könnte das nur einfach anerkennen und sagen: Bei denen gelten jene Gesetze, bei uns diese. Ich würde sagen: Da haben wir eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit.“ (Grundgesetze, Bd. 1: XVI; zum ersten Satz vgl. MS 125: 48v-49r; BGM: 240). Vgl. Kienzler 1997: 183 f.  „[…] diese Unmöglichkeit, die für uns besteht, das Gesetz zu verwerfen, hindert uns zwar nicht, Wesen anzunehmen, die es verwerfen; aber sie hindert uns anzunehmen, daß jene Wesen darin Recht haben; sie hindert uns auch, daran zu zweifeln, ob wir oder jene Recht haben.“ Frege sieht in einem solchen Zweifel einen „Versuch, aus der eignen Haut zu fahren“ (Grundgesetze, Bd. 1: XVII).

5.5 Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘

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Denkens überhaupt etwas denken lässt. „Frege sagt im Vorwort der Grundgesetze d.Arithm.: ‚… hier haben wir eine bisher unbekannte Art der Verrücktheit‘ – aber er hat nie angegeben, wie diese ‚Verrücktheit‘ wirklich aussehen würde.“ (TS 222: 118; BGM: 95) Die ‚Holzhändler‘ – diesem Beispiel schließt Wittgenstein den knappen Kommentar an – sind keine Stellvertreter für Freges logische Fremdheit.Vielmehr zerfällt hier dieser Begriff. Wittgenstein macht eigentlich zwei Beispiele. Das erste schließt eine Reihe von Fällen ab, in denen die „Technik des Rechnens“ „Teil“ einer anderen „Technik“ bzw. „Methode“ ist. Leute verkaufen und kaufen Scheitholz; die Stösse werden mit einem Masstab gemessen, die Masszahlen der Länge, Breite, Höhe multipliziert, und was dabei herauskommt, ist die Zahl der Groschen, die sie zu fordern und zu geben haben. Sie wissen nicht, „warum“ dies so geschieht, sondern sie machen es einfach so: so wird es gemacht. – Rechnen diese Leute nicht? (TS 222: 115 f.; BGM: 93)

Die ‚Holzhändler‘ begründen ihre Gepflogenheiten nicht: weder die übergeordnete Technik, den ‚Holzhandel‘, noch die Technik des Rechnens, die sie in diesem Rahmen einsetzen. Wir würden die Frage, ob sie rechnen, trotzdem nicht verneinen.⁷⁸ Dass sie – so eine (korrekte) „Beschreibung ihres Vorgehens (Benehmens)“ – „fürˈs Holz a u f G r u n d d e r R e c h n u n g “ zahlen, heißt, dass sie sich Letztere „als Beweis […] gefallen“ lassen (TS 222: 116); denn Gründe haben irgendwann ein Ende, und für diese Anwendung der Rechnung gibt es keine. Brauchen diese ‚Holzhändler‘ aber nicht eine Begründung, wenn sie mit ihrer eigentümlichen Anwendung ‚Recht‘ behalten bzw. nicht falsch handeln sollen? Diese Frage – „aber haben sie darin recht?“ (TS 222: 117) – ist eine Frege-Parodie.⁷⁹ Die Betrachtung, mit der Wittgenstein die Frage hier zurückweist, ist eher trivial: Sie wenden das Rechnen so an, und diese Anwendung ist eine Konvention von

 „Aber in welchem Verhältnis steht dann die B e g r ü n d u n g eines Rechenvorgangs zu der Rechnung selbst?“ (TS 222: 116; BGM: 92) Unter ‚Rechenvorgang‘ ist hier offenbar die Anwendung der Rechnung zu verstehen (die Anwendung ist im Kalkül nicht enthalten), und unter der ‚Begründung des Rechenvorgangs‘ also nicht die Begründung innerhalb der Rechnung, sondern die Begründung der Anwendung. Zwischen Rechnung und Anwendung besteht eine externe Relation, die dementsprechend empirisch beschrieben wird.  Die Frage, „warum und mit welchem Rechte wir ein logisches Gesetz als wahr anerkennen“, „kann die Logik nur dadurch beantworten, dass sie es auf andere logische Gesetze zurückführt. Wo das nicht möglich ist, muss sie die Antwort schuldig bleiben“ (Grundgesetze, Bd. 1: XVII). Das heißt, die Logik kann die Grundgesetze nicht begründen, sie geht von ihnen aus.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

vielen möglichen. Sie könnten auch anders vorgehen: Statt Holz zu verkaufen, könnten sie es etwa verschenken.⁸⁰ Lässt sich aber diese Betrachtung auch auf folgende neue Version des Beispiels ausdehnen? Gut; aber wie, wenn sie das Holz in Stösse von beliebigen, verschiedenen Höhen schichteten und es dann zu einem Preis proportional der Grundfläche der Stösse verkauften? Und wie, wenn sie dies sogar mit den Worten begründeten: „Ja, wer mehr Holz kauft, muss auch mehr zahlen.“ (TS 222: 117 f.; BGM: 94)

Dieser Kalkül scheint auf den ersten Blick eine unvollständige Form des früheren. Die ‚Holzhändler‘ multiplizieren nicht mit der Höhe und erhalten dementsprechend nicht das Kubikmaß des Holzstoßes. Wiederum errechnen sie die Fläche einwandfrei. Diese Rechnung ist an sich korrekt und uns wohlvertraut, die Anwendung aber umso irritierender; denn uns scheint es im Zusammenhang eines Systems der Bezahlung nur auf das Kubik- und nicht auf das Flächenmaß anzukommen. In diesem Kontext scheint uns der Kalkül, der die Multiplikation mit der Höhe nicht vorsieht, eine Lücke aufzuweisen, und zwar eine so wesentliche, dass sie ihn eigentlich sinnlos macht. Die Frage ist aber gerade, ob dieser Kalkül wirklich nur als eine bis zur Sinnlosigkeit unvollständige Form des anderen zu deuten ist. Was würde dann passieren, wenn ein Beobachter diese scheinbar unzulängliche Form in die andere zu überführen suchte? Wenn er diesen ‚Händlern‘ zeigen wollte, dass ihre Praxis eine wesentliche Lücke aufweist? Wie könnte ich ihnen nun zeigen, dass – wie ich sagen würde – der nicht wirklich mehr Holz kauft, der einen Stoss von grösserer Grundfläche kauft? – Ich würde z. B. einen, nach ihren Begriffen, kleinen Stoß nehmen und ihn durch Umlegen der Scheiter in einen „großen“ verwandeln. Das k ö n n t e sie überzeugen – vielleicht aber würden sie sagen: „ja, jetzt ist es v i e l Holz und kostet mehr“ – und damit wäre es Schluss. – Wir würden in diesem Falle wohl sagen: sie meinen mit „viel Holz“ und „wenig Holz“ einfach nicht das Gleiche, wie wir; und sie haben ein ganz anderes System der Bezahlung, als wir. (TS 222: 118; BGM: 94)

 „Wäre es nicht richtiger, es [das Scheitholz; MB] nach dem Gewicht zu verkaufen – oder nach der Arbeitszeit des Fällens – oder nach der Mühe des Fällens, gemessen am Alter und an der Stärke des Holzfällers? Und warum sollten sie es nicht für jeden Preis hergeben, der von alle dem unabhängig ist: jeder Käufer zahlt ein und dasselbe, wieviel immer er nimmt (man hat gefunden, dass man so leben kann). Und ist etwas dagegen zu sagen, daß man das Holz einfach verschenkt?“ (MS 117: 48)

5.5 Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘

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Vielleicht lassen sich die Akteure also überzeugen, dass sie einen Fehler begangen bzw. sich ‚unvernünftig‘ verhalten haben. Sie übernehmen unser Weltbild und blicken von diesem für sie neuen Standpunkt aus mit anderen Augen auf ihr Spiel. Sie kommen dann gleichsam im Nachhinein zu der Ansicht, dass sie eine wesentliche Möglichkeit (die Umschichtung bzw. die unterschiedliche Höhe der Stapeln) übersehen haben; nun scheint ihnen ihr bisheriges Spiel unvollständig, und zwar unter einem so entscheidenden Aspekt, dass es für sie jeden Sinn verliert. Aber wenn sie doch nicht dazu gebracht werden, die Sache anders zu sehen? Irgendwann wären Gründe und Erklärungen erschöpft, „[…] und damit wäre es Schluss.“ (TS 222: 118; BGM: 94)⁸¹ Es würde nun nicht mehr um die Wahrheit oder Richtigkeit ihrer Aussagen gehen, sondern höchstens um ihre Grammatik: Welchen Sinn haben sie eigentlich? Was bedeuten die Ausdrücke, die wir zuerst mit ‚viel Holz‘ und ‚wenig Holz‘ wiedergegeben haben? Ihr Satz ‚jetzt ist es viel Holz‘ ruht in einer anderen Technik als unser homophoner. Sie erhalten durch ihre Technik keine Mengenangabe: ‚Viel Holz‘ ist bei ihnen keine. Es steht eigentlich für eine große Grundfläche, wie sie sich aus einer uns wohlbekannten Messmethode bzw. Rechnung ergibt. Was uns fremdartig vorkommt, ist die Anwendung Letzterer: Die Ergebnisse sind für uns nur deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Messmethode, so will uns scheinen, in einem Kontext angewendet wird, in dem es nicht auf die Grundfläche ankommt, sondern auf die Menge. Sie haben aber diesen Begriff nicht oder verwenden ihn zumindest in diesem Kontext nicht. Gerade den Kontext haben wir aber missverstanden: Es handelt sich nämlich um ein „ganz anderes System der Bezahlung“. Ist nun ein ganz anderes System der Bezahlung“ überhaupt eines? Oder wird hier in unserem Sinn des Wortes gar nicht ‚bezahlt‘? Einer verwandten Schwierigkeit begegnet man bei einem auf dem ersten Blick spielähnlichen Vorgang, der mit einem Benehmen beginnt, wie es für das Gewinnen oder Verlieren typisch ist. Kann ein Spiel mit seinem Ergebnis beginnen? „‚K a n n das geschehen?‘ – Gewiß. Beschreib es nur bis in die Einzelheiten und Du wirst schon sehen, daß was Du/der Vorgang den Du/ beschreibst sich zwar leicht vorstellen läßt, daß Du aber freilich die und die Wörter |Ausdrücke| nicht auf ihn

 Bei jenen angeblichen Holzhändlern verhält es sich ähnlich wie bei einem Schüler, der auf die Abrichtung zum Befolgen der Regel +2 „von Natur aus“ anders reagiert als alle anderen und es nicht einsieht (vgl. TS 222: 87). Beim Regelfolgen ist die normale Reaktion auf Abrichtung das unumgängliche bridgehead der Verständigung. Wenn er nicht ‚mitspielt‘, „was willst Du tun?“ (TS 222: 87) „Und dann hört da die Verständigung auf.“ (PU, § 143) Zur Verwandtschaft beider Situationen vgl. Cerbone 1994.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

anwenden wirst.“ (MS 119: 116)⁸² Zuletzt sind die Sinnbedingungen, die wir mit „Spiel“ oder „Ergebnis“ gewöhnlich verbinden, hier nicht gegeben. In so einem Fall – erläutert Wittgenstein – gibt sich uns die Vernunft „als Gradmesser p a r e x c e l l e n c e “ (MS 119: 127). Der Maßstab hält unseren Blick gefangen; wir sind „mit der Betrachtung eines Maßstabes so präoccupiert, daß wir nicht unsre Blicke nicht auf gewissen (Erscheinungen oder) Bildern r u h e n lassen können.“ (MS 119: 127) Wer es tut und sie dann bis in die Einzelheit beschreibt, endet zuletzt damit, den falschen Vergleich aufzugeben, sieht schließlich ein, dass er den Vorgang mit falschem Maßstab gemessen hat, und schildert ihn dann mit ganz anderen Worten. Sollten wir auch bei jenem ‚Holzhandel‘ so verfahren und ihn nicht mehr so nennen? An dieses fremde „System der Bezahlung“ erinnert dasjenige, in dem „man auf einer Eisenbahn für lange und kurze Fahrstrecken“ „den gleichen Fahrpreis“⁸³ entrichtet, oder das andere, in dem man „für lange und kurze Arbeitszeit den gleichen Lohn“⁸⁴ bezahlt oder fordert. Im letzteren System etwa wird „die Arbeitsleistung“ nicht bezahlt, d. h., unser Begriff der „Arbeitsleistung“ passt nicht zu diesem Sprachspiel. Im gleichen Sinn wird in jenem ‚Holzhandel‘ nicht nach der Menge ‚bezahlt‘, d. h. der Begriff ‚Menge‘ passt nicht, und wir dürfen Ausdrücke wie ‚viel Holz‘ hier nicht als Mengenangaben übersetzen. Alle diese Systeme kennen den bei uns üblichen Unterschied zwischen ‚groß‘ und ‚klein‘ bzw. zwischen ‚kurz‘ und ‚lang‘ nicht, und zwar jeweils bei der Fahrstrecke, der Arbeitszeit oder der Holzmenge.⁸⁵ Sind aber ‚Menge‘, ‚Arbeitsleistung‘ und Ver-

 Vergleiche auch das Spiel, in dem jede Partie remis ausgehen muß (MS 119: 136v).  „Wenn man auf einer Eisenbahn für lange und kurze Fahrstrecken gleich viel zahlen/den gleichen Fahrpreis bezahlen/ müßte – wäre das eine offenbar ungerechte, unsinnige, Bestimmung?“ (MS 119: 109; 14.10.1937) Damit argumentiert Wittgenstein gegen die Idee, der Zweifel mache das Spiel erst „n a t u r g e t r e u “ (MS 119: 109), d. h. gegen die Idee, dass die Grundform, in der von Zweifel keine Rede sein darf, ohne ihren Ausbau keinen Sinn macht. Siehe dazu oben S. 319 ff.  „‚Wer nicht zweifelt, übersieht doch einfach die Möglichkeit, daß es sich anders verhalten kann!‘ Durchaus nicht, – wenn es diese Möglichkeit |in seiner Sprache| gar nicht gibt. (Wie der nichts übersehen muß, der für lange und kurze Arbeitszeit den gleichen Lohn gibt oder fordert.) ‚Aber der bezahlt dann eben nicht die Arbeitsleistung!‘ – So i s t es. –“ (MS 119: 120 f.; 15.10.1937)  Ein verwandtes Beispiel ist das Messen mit einem „Massstab, der sich bei der |geringer| Erwärmung ausserordentlich stark ausdehnte“: „Was hier ‚messen‘ und ‚Länge‘ und ‚längengleich‘ heisst, ist etwas Anderes, als was wir so nennen. Der Gebrauch dieser Wörter ist hier ein anderer, als der unsere; aber er ist mit ihm v e r w a n d t , und auch wir gebrauchen diese Wörter auf vielerlei Weise.“ (TS 222: 8) Wer so etwas bei uns triebe, würde freilich „mit der Gesellschaft“, „aber auch mit andern praktischen Folgen“ „in Konflikt“ kommen (TS 222: 89); aber wenn man sich „Verhältnisse“ denkt, in denen gerade jene Art zu messen „das Erwünschte“

5.5 Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘

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wandtes die einzigen Begriffe, die sich auf jenes fremdartige System nicht anwenden lassen? Wie steht es nun mit ‚Handel‘ und ‚Bezahlung‘? Ist „ein ganz anderes System der Bezahlung“ noch eines? Die erwähnte Vorlesung zieht darüber hinaus in Zweifel, dass wir in diesem Fall von ‚Rechnen‘ reden würden. Sie unterscheidet sich darin jedoch von den Autographen: In Letzteren kommt es nämlich gerade darauf an, dass von ‚messen‘ und ‚rechnen‘ auch bei der beschriebenen schrägen Anwendung weiterhin die Rede sein darf. Was Wittgenstein in den Autographen und in der Vorlesung gleichermaßen in Frage stellt, ist die Möglichkeit, einen Schritt weiter zu gehen. Kann man fragen, ob hier überhaupt von Logik die Rede sein darf, d. h., ob sie überhaupt logisch denken oder ihr Denken fremden logischen Gesetzen folgt? Dieser Übergang von Begriffen wie ‚Messmethode‘ (bzw. ‚Arbeitsleistung‘, ‚Menge‘) zu Begriffen wie ‚Logik‘ und ‚Sprache‘ ist nicht unproblematisch; und zuletzt stellt sich heraus, dass die Vorstellung einer fremden Logik oder eines nicht logischen Denkens keinen Sinn macht. Setzen wir den Fall, dass wir einer andersartigen Logik begegnen, „we may not be inclined to call it logic any more. Think of the case where people have a queer way of calculating a price for the wood: we might not be inclined to call it calculation at all.“ (LFM: 214) Die Logik zeigt „das Wesen, die Technik des Denkens“, sie „zeigt, was wir unter ‚Satz‘ und unter ‚Sprache‘ verstehen.“ (TS 221: 214; vgl. TS 222: 107 f.; BGM: 90) Die Grammatik ist autonom, und Begriffe wie ‚Logik‘ und ‚Sprache‘ dürfen nicht in metalogischem Sinn verwendet werden: Dass zwischen Denken und Logik, zwischen Sprache und Logik, eine interne Relation besteht, ist in Wittgensteins Selbstverständnis keine metalogische Theorie, sondern eine grammatische Bemerkung über unsere Verwendung dieser Worte und nur insofern über das, was wir noch ‚Sprache‘ nennen möchten. Bei einem ganz anderen System wären wir nicht mehr bereit, überhaupt von Logik, Sprache oder Denken zu reden; denn „[…] dies ist eben, was man ‚Denken‘, ‚Sprechen‘, ‚Schließen‘, ‚Argumentieren‘, nennt.“ (TS 222: 125; BGM: 96; vgl. TS 222: 107 f.; BGM: 90) Logische Fehler kommen natürlich immer wieder vor; ein durch und durch unlogisches Denken ist dagegen nicht so sehr eine bodenlose Fiktion als schlichtweg Unsinn.⁸⁶ Einem Menschen gegenüber, der an einem Paradox festzuhalten scheint, z. B. am ‚Lügner‘, könnten wir uns ähnlich verhalten wie in den angeführten Fällen.

wäre (TS 222: 8), würde bei allem Unterschied auch eine gewisse Verwandtschaft der Verfahrensweisen sichtbar werden.  Wittgenstein betont zwar, dass es einen Übergang gibt zwischen einem Rechenfehler und einer anderen Art zu rechnen; aber der Begriff einer anderen Art zu rechnen ist entweder weniger radikal als der eines nicht logischen Denkens oder ebenso sinnlos.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

„Wir würden vielleicht von diesem Menschen sagen, er meint mit ‚wahr‘ und mit ‚lügen‘ nicht dasselbe, was wir damit meinen. […]“. Außerdem oder alternativ dazu könnten wir aber seinen Satz „ich lüge immer“ als „Ausruf“ auffassen und nicht als (paradoxe) „B e h a u p t u n g “ (MS 127: 89 f.; BGM: 255). Es bestehen also mehrere Möglichkeiten, hier etwas wie ein ‚Prinzip der Nachsichtigkeit‘ anzuwenden. Man wäre versucht zu sagen, dass man nicht nur den propositionalen Gehalt, sondern auch die „Kraft“ seiner Äußerung anders deuten kann. Aber man braucht Freges Unterscheidung zwischen propositionalem Gehalt und Kraft (oder die sprechakttheoretische zwischen lokutionärem und illokutionärem Akt) nicht unbedingt in Anspruch zu nehmen.⁸⁷ Es geht nur darum, dass verschiedene Aspekte einer sprachlichen Äußerung pluralen Interpretationen offenstehen. Von diesen zwei Formen von ‚Nachsicht‘ zieht Wittgenstein bei den Holzhändlern zunächst nur die erste in Erwägung (sie meinen mit ‚viel Holz‘ nicht dasselbe wie wir). Die zweite kommt aber anschließend auch ins Spiel.⁸⁸ Wenn wir jene Praxis als Holzhandel verstehen, scheint sie uns nicht ‚rational‘. „Eine Gesellschaft, die so handelt, würde uns vielleicht an die ‚Klugen Leute‘ in de|n| Märchen erinnern.“ (TS 222: 118; BGM: 94)⁸⁹ Im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm werden äußerst einfältige Leute nach Strich und Faden betrogen.⁹⁰ Das wäre auch bei jenen Holzhändlern vorstellbar, ließe sich doch vor ihren Augen durch bloßes Umschichten „wenig Holz“ in „viel Holz“ verwandeln. Verglichen mit unserem System, in dem das nicht passieren kann, mag ihr ganz anderes also ‚verrückt‘ scheinen, wenn auch nicht im Sinne Freges. Zu Recht? Nur in einem Sprachspiel können Möglichkeiten übersehen werden, und zwar die in dessen Grammatik vorgesehenen.Vom Sprachspiel selbst – also hier vom ‚System‘ der Holzhändler – kann man aber nur sagen, dass es eine Möglichkeit nicht vorsieht, nicht, dass es eine übersieht. Die Grammatik ist autonom; sie muss keine besondere Möglichkeit berücksichtigen. Wittgenstein überlässt es uns Lesern, an diesem Beispiel weiter zu dichten: Er schließt nicht aus, dass die imaginären ‚Holzhändler‘ Grimms ‚klugen Leuten‘ ähneln und/oder dass wir ihnen ein anderes Sprachspiel, unseres, beibringen könnten; aber wir Leser werden es uns nur dann so vorstellen, wenn wir auf die Analogie zwischen dem Verhalten jener Leute und unserem ‚Holzhandel‘ bestehen.

 Wittgenstein kritisiert diese Unterscheidung: Weder sei sie mentalistisch aufzufassen, noch dürfe man sich auf eine begrenzte Anzahl möglicher Arten von „Kraft“ festlegen.  Vgl. das unten zu besprechende Beispiel der Stücke, die wie Münzen aussehen.  In den verschiedenen Bearbeitungsphasen ordnet Wittgenstein die Aufzeichnungen über die Holzhändler um und verschiebt dabei insbesondere diesen Satz, mit dem er auf Frege antwortet.  Vgl. Grimm/Grimm 1910, Bd. 2, Nr. 21: 98 – 103. Zu den ‚klugen Leuten‘ vgl. auch MS 160: 30v.

5.5 Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘

379

Statt auf diesen fiktiven ‚Stamm‘ weiter einzugehen, setzt Wittgenstein seine Erläuterung mit einem verwandten Beispiel fort, mit anderen Menschen, die uns ebenfalls ‚verrückt‘ scheinen mögen. Denke dir Menschen, die Geld im Verkehr gebrauchten, nämlich Münzen, die so aussehen wie unsere Münzen, aus Gold oder Silber sind und geprägt; und sie geben sie auch für Waren her – aber jeder gibt für die Waren, was ihm gerade gefällt und der Kaufmann gibt dem Kunden nicht mehr, oder weniger, je nachdem er bezahlt; kurz, dies Geld, oder was so aussieht, spielt bei ihnen eine ganz andere Rolle als bei uns. Wir würden uns diesen Leuten viel weniger verwandt fühlen, als solchen, die noch gar kein Geld kennen und eine primitive Art des Tauschhandels treiben. – „Aber die Münzen dieser Leute werden doch auch einen Zweck haben?“ – Hat denn alles, was man tut, einen Zweck? Etwa religiöse Handlungen –. Es ist schon möglich, dass wir geneigt wären, Menschen, die sich so benehmen, Verrückte zu nennen. Aber doch nennen wir nicht alle die Verrückte, die in den Formen unserer Kultur ähnlich handeln,Worte „zwecklos“ verwenden. (Denke an die Krönung eines Königs!) (TS 222: 119; BGM, § 153)⁹¹

Täuscht uns hier die ähnliche ‚Oberflächengrammatik‘ über die völlig unterschiedliche ‚Tiefengrammatik‘ hinweg? Wenn ja, verwechseln wir mit Geld etwas, „was so aussieht“, aber in Wirklichkeit „eine ganz andere Rolle“ spielt. Diese Institution verhält sich zu unserem Geldhandel nicht wie „eine primitive Art des Tauschhandels“, also nicht wie eine primitive Grundform zu einem weiter differenzierten Sprachspiel. Die zwei Institutionen sind sich viel fremder. Eine evolutionäre Deutung à la Frazer wäre ein Missverständnis und würde diese Fremdheit kaschieren. „Hat denn alles, was man tut, einen Zweck? Etwa religiöse Handlungen –.“ Wittgenstein knüpft hier offensichtlich an seine Frazer-Kritik an. Er bestreitet keineswegs die Existenz von Zweckhandlungen überhaupt. Aber rituelle Handlungen lassen sich im Normalfall nicht als Mittel zu einem Zweck erklären. Es ist ihre eigentümliche Natur, dass sie sich instrumentell nicht erklären lassen. Gegen eine utilitaristische Erklärung sperrt sich auch dieses scheinbare Geld. Hat es, haben die gemeinten Handlungen keinen Zweck? Oder sind sie ‚zwecklos‘ nur in Anführungszeichen? Lässt sich der ‚Zweck‘ einfach nicht in utilitaristischem Jargon angeben?

 Wittgenstein führt die Königskrönung als Beispiel von zeremoniellem Handeln wiederholt an, und zwar v. a. dort, wo er den religiösen Aspekt des Letzteren nicht markieren möchte. Er deutet diese Institution alles andere als funktionalistisch, selbst wenn er Nützlichkeitsbetrachtungen nicht schlichtweg zurückweist. „Ist eine Königskrönung f a l s c h ? Höchstens nutzlos. Und vielleicht auch das nicht.“ (MS 138: 27a) „Ist eine Königskrönung f a l s c h ? Sie könnte, von uns verschiedenen, Wesen höchst seltsam erscheinen.“ (MS 144: 103; PU II xi: 573) Vgl. auch PU, § 584. Zur Königskrönung vgl. Raatzsch 1996: 277.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Eine Vorlesung über Philosophie der Mathematik variiert den Einwand in diesem Sinn: „But is there a p o i n t in everything we do? What is the point of our brushing our hair in the way we do? Or when watching the coronation of a king, one might ask, ‚What is the point of all this?‘ If you wish to give the point, you might tell the history of it.“ (LFM: 203 f.)⁹² Zwar handelt es sich bei ‚Zweck‘ bzw. ‚Nutzen‘ um einen „fluktuierenden“ (MS 117: 198) Begriff, aber die Frage nach dem Zweck oder nach dem „Nutzen“ passt am besten zu Handlungen, die einen solchen im engeren, instrumentellen Sinn haben. Wiederum haben auch Handlungen, bei denen dies nicht der Fall ist, d. h. die ‚zwecklos‘ sind, etwa rituelle, religiöse, zumeist eine „Pointe“ bzw. einen „Witz“. Die Frage nach dem „Witz“ lässt sich also zumeist positiv beantworten, und die Vorlesung zeigt, wie. Der Mitschrift zufolge formuliert Wittgenstein eine allgemeinere Betrachtung, die für Zweck- und Ausdruckshandlungen gilt. Warum verstehen wir den „Witz“ einer fremden Institution nicht? Weil wir den falschen Vergleich anstellen. Wir gehen wie selbstverständlich von unserem Holzhandel bzw. unserem Geldwesen aus, und eine fremde Praxis scheint uns zuerst irgendwie mit unserer verwandt, vergleichbar, vielleicht wie eine primitive Variante derselben.Wir sehen eine „close analogy“ und nehmen den neuen Fall in die Begriffsfamilie auf. In Wirklichkeit aber haben wir aus einer äußerlichen Ähnlichkeit den angeblichen Kern der fremden Lebensform gemacht. Wir finden dann aber nicht, was wir erwarten.⁹³ Plötzlich bemerken wir eine radikale Abweichung von unserem Sprachspiel, und die Analogie bricht zusammen. „Then we would suddenly see an entire discrepancy between what we do and what they do – in such a way that the whole point of what they are doing seems to be lost, so that we would say, ‚What the hell’s the point of doing this’?“ (LFM: 203) Die Vorlesung erklärt, wie man die Schwierigkeit überwinden kann. Eine „historical explanation“ kann helfen, den Witz (point) einer Institution bzw. einer Praxis zu verstehen, und dies sogar in einem Fall, in dem wir zuerst „struck by the pointlessness“ sind.

 Der von Cora Diamond herausgegebene Text der Vorlesungen von 1939 (Lent Term, Easter Term) ist eine Kollation aus den Mitschriften von vier verschiedenen Zuhörern. Die Herausgeberin selbst fordert den Leser zur Vorsicht auf (LFM: 9), wie ich es in Hinsicht auf die Mitschriften der Vorlesung vom May Term 1933 getan habe. Die im Vergleich zu den Autographen eigentümlichen Akzente dürften aber nicht nur auf die indirekte Natur der Quelle zurückzuführen sein (es handelt sich um eine ungefähre und möglicherweise im Nachhinein edierte Mitschrift aus dem Mündlichen).  „[…] we can’t understand these people – because we expect something which we donˈt find.“ (LFM: 203)

5.5 Frazersche Missverständnisse in der ‚imaginären Ethnologie‘

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Suppose I gave you a historical explanation of their behaviour: (a) These people don’t live by selling wood, and so it does not matter much what they get for it. (b) A great king long ago told them to reckon the price of wood by measuring just two dimensions, keeping the height the same. (c) They have done so ever since, except that they later came not to worry about the height of the heaps. Then what is wrong? They do this. And they get along all right. What more do you want? (LFM: 204)

Wittgenstein ahmt hier Frazers Erklärungsstil nach. Unter (c) gibt er eine klassische evolutionäre Erklärung: Der rätselhafte Brauch wird verständlich als survival eines früheren, längst vergessenen. Dort, wo der Philosoph unter historischer Erklärung eine kausale versteht, bestreitet er, dass sie irgendwelchen Aufschluss über einen Kalkül oder ein Sprachspiel gewährt. Hier aber wird „historische Erklärung“ offenbar nicht so eng gefasst, nicht als Kausalerklärung, sondern als Erzählung („you might tell the history of it“). So die interessante, aber nicht autographe Variante in der (edierten) Mitschrift der Vorlesung. Warum ist nun eine eingehendere, ‚dichte‘ Beschreibung der Umstände und des geschichtlichen Kontextes hilfreich? Aus einem einfachen Grund: Der Verständigung steht hier doch kein logischer Widerspruch im Wege, keine „fremde Logik“ mit abartigen logischen Grundgesetzen, keine logische Über-Fremdheit. Eigentlich zeigt das Beispiel der angeblichen Holzhändler nur fremde Begriffe und eine ungewohnte Praxis. Bei diesem „ganz andere[n] System der Bezahlung“ bilden wir uns vielleicht nur ein, es gehöre zu etwas wie unserem ‚ökonomischen Bereich‘. Der imaginäre Ethnologe, der den Witz des Sprachspiels nicht versteht, könnte allerdings versucht sein, dem eigenen Unverständnis viel fundamentalere Gründe unterzuschieben und jenen Leuten etwas wie eine ‚fregesche Verrücktheit‘ zuzuschreiben.⁹⁴ Tatsächlich aber stünden der Verständigung weder ein ‚nicht logisches Denken‘ (Frege) noch fremde logische Gesetze (Psychologismus) im Wege; die Kommunikation würde aus anderen, alltäglicheren Gründen zusammenbrechen: Was wir nicht oder falsch verstünden,wären einfach fremde Begriffe, die eine eigentümliche Rolle in einer eigentümlichen Lebensform spielten, eine  Frazer hat keine derartige Versuchung; seine Theorie bejaht nämlich auf eigene Weise die Frage nach der Rationalität der Magie: Nur die Prämissen seien falsch; ansonsten lägen der Magie dieselben Denkvorgänge zugrunde wie menschlichem Erkennen überhaupt. Sie sei die primitive Stufe derselben. Eher als Frazer würde man hier Lévy-Bruhl assoziieren, aber der französische Philosoph ist nicht gemeint, und die hier kritisierte Auffassung ist mit dessen zumeist missverstandener ‚prälogischer Mentalität‘ nur scheinbar verwandt. Cerbone (2000: 304) sieht eine Analogie zwischen Wittgenstein und Quine, der den Anschein einer deviance in logic zuletzt auf bad translations zurückführt. Quine richtet sein an sich schlüssiges Argument gegen Lévy-Bruhl, aber ohne auf das von diesem mit ‚prälogischer Mentalität‘ Gemeinte wirklich einzugehen. Der späte Lévy-Bruhl selbst äußert Bedenken gegen seine frühe Auffassung und Terminologie.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

fremde Praxis und deren „Witz“, „Pointe“. Was dem Außenstehenden bei diesem fiktiven Stamm unterlaufen kann, ist also eigentlich nichts weiter – nichts mehr – als ein ‚ethno-kulturelles‘ Missverständnis. Scheinbare Anwärter auf die Rolle des Alogischen oder des logisch Fremden lassen sich mithin auf die analysierten Formen ethnologischer Fremdheit zurückführen, d. h., auf dieselbe Art begriffliches Missverständnis wie bei der ethnologischen Betrachtung beliebiger Kulturerscheinungen. Letzten Endes geht die Frage nach den logischen Grundgesetzen daher in eine hermeneutische – in eine ‚ethnologische‘ – über und damit in eine alltägliche, nicht philosophische. Mit dem Beispiel der scheinbaren Holzhändler ist, wie oben gezeigt, eine explizite Frege-Kritik verbunden. Führt Wittgenstein aber nicht stillschweigend auch ein Gespräch mit Sraffa? Denn die Verwendung juristischer Texte durch den Ingenieur bzw. den Richter kann jemand (Sraffa?) aus ähnlichen Gründen missverstehen wie dieses Sprachspiel, nämlich, wenn er sie einfach in utilitaristischen Kategorien zu fassen versucht. Im Allgemeinen erinnern Wittgensteins fiktive ‚primitive‘ Sprachspiele einige Interpreten an Sraffas einfache ökonomische Systeme (vgl. Rossi-Landi 1981: 134 ff.). In dem beschriebenen Fall freilich haben wir es mit einem Sprachspiel zu tun, das auf den ersten Blick wie ein ökonomisches System aussieht: Aber wenn man diese Praxis so darstellt, nämlich als Holzhandel, obgleich als eine abweichende Form desselben, dann macht sie keinen Sinn. Die scheinbare Analogie mit einem ökonomischen System führt uns hier in die Irre; erst wenn das Sprachspiel seinen Aspekt wechselt, erst, wenn wir es anders betrachten und darstellen, zerstreut sich der Anschein völliger Sinnlosigkeit.

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen 5.6.1 Ein gemeinsames Weltbild Noch in den letzten Manuskripten⁹⁵ entwickelt Wittgenstein seine „ethnologische Betrachtungsweise“ konsequent weiter. Er berührt hier allgemeine Themen seiner

 Die aus Wittgensteins letzten Manuskripten gezogenen bekannten Sammlungen der Werkausgabe – Über Gewißheit, die Bemerkungen über die Farben usw. – sind editorisch alles andere als einwandfrei. Über Gewißheit ist eine Zusammenstellung von Material aus verschiedenen Manuskripten. §§ 1– 65 stammen aus MS 172, § 66 – 192 aus MS 174, § 193 – 299 sowie § 300 – 425 aus MS 175, § 426 – 637 aus MS 176, §§ 638 – 676 aus MS 177. Vgl. das „Addendum to ‚The Wittgenstein Papers‘“, in PO: 509. Zur Manuskriptlage und zur editorischen Problematik vgl. Rothhaupt 1996, insbes. das Kapitel „Das Quellenmaterial für den Zeitraum 1946 – 1949“, 317– 326.

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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Auseinandersetzung mit dem Golden Bough und äußert sich auch zu einzelnen Gebräuchen, auf die er bereits bei der Lektüre dieses Buches eingegangen war. Ohne den Anspruch, eine Gesamtinterpretation vorzulegen, beschränkt sich der vorliegende Abschnitt auf einen knappen Vergleich mit den Frazer-Notaten. An die Stelle der Reflexionen über Verstehen und Beschreiben ‚magischer‘ Bräuche tritt beim letzten Wittgenstein eine Untersuchung zum Aufbau unseres Wissens: Unser Weltbild⁹⁶ wird nun in seinem Verhältnis zu anderen und in Hinsicht auf seine historische Wandelbarkeit thematisiert. Um Kulturwandel ging es bei Wittgenstein bereits 1930, und zwar in direktem Anschluss an Spengler; er betonte schon damals die jeweiligen Eigentümlichkeiten der (nicht nur) spenglerschen ‚Hochkulturen‘. 1931 wiederum unterschätzt er offenbar die Variationen, insbesondere diejenigen zwischen den ‚Primitiven‘. Eher als kulturelle „Weltbilder“ zu vergleichen, unterscheiden die Frazer-Notate, auch die späteren, zwischen magisch-religiösen Anschauungen und wissenschaftlichen Hypothesen. Ausdruckshandlungen (bzw. rituelle Handlungen) und technische Handlungen scheinen sich daher überall auf ähnliche Weise voneinander abzuheben. Denn Wittgenstein betont 1931 die tiefe Verwandtschaft, die uns unter den oberflächlichen Abweichungen mit Frazers ‚Wilden‘ verbindet. Er wirft dem schottischen Ethnologen vor, er spiele die Nähe der jeweiligen Naturerfahrungen herunter.⁹⁷ Die Mythologie, die Magie und Metaphysik gleichermaßen zugrunde liegt, besteht aus Bildern, die in den primitiven Formen unserer Sprache niedergelegt sind; dabei ist die Mythologie, die in Europa seit Platons Zeiten dieselbe geblieben ist, offenbar mit den Mythologien verwandt, die zu den höchst heterogenen Sprachen der ‚Wilden‘ gehören.⁹⁸ Im Gegenzug zu Frazers intellektualistischer und kognitivistischer Auffassung magischer und religiöser Handlungen neigt Wittgenstein 1931 zu einer anti-kognitivistischen. Während die erstere den Abstand zwischen ‚uns‘ und den ‚Primitiven‘ übertreibt, blendet die letztere die Unterschiede zwischen den Weltbildern tendenziell aus. Dem Anti-Kognitivisten scheint der common sense überall derselbe zu sein und alle Menschen im Grunde dasselbe für glaubwürdig bzw. unglaubwürdig zu halten. Mithin zieht Wittgenstein zwar Frazers pauschale Gegenüberstellung von ‚Modernen‘ und ‚Wilden‘ in Zweifel; aber er thematisiert nicht

 Eigentlich taucht der Begriff ‚Weltbild‘ bei Wittgenstein eher selten auf, und diese geringe Frequenz steht in keinem Verhältnis zu dem Interesse, das der Begriff bei den Interpreten erweckt hat. Vgl. dazu Kober 1993: 150 ff. Vgl. auch Schulte 1989: 221 ff.; Plaud 2011.  Siehe dazu oben S. 156 ff.  Anders als in seinen letzten Manuskripten betont Wittgenstein in den frühen 30er Jahren die Allgemeinheit und Stabilität der „Mythologie“. Siehe dazu oben S. 93 ff.

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die Vielfalt der Kulturen – insbesondere nicht die der ‚primitiven‘. Als einzige Eigentümlichkeit der durch Wissenschaft geprägten Moderne arbeitet er hier heraus, dass die zeitgenössische westliche ‚Zivilisation‘ echt religiöse Handlungen nicht zu verstehen vermag. Der Frage nach den spezifischen epistemischen Voraussetzungen im jeweiligen Weltbild gebührt wiederum nicht der Vorrang. 1931 geht Wittgenstein eher der pauschalen Frage nach, ob magische ‚Anschauungen‘ so ‚geglaubt‘ werden wie wissenschaftliche Theorien, und eigentlich auch, ob und inwiefern an ‚Magisches‘ überhaupt geglaubt wird. Nach dem Unterschied zwischen den „Weltbildern“ unterschiedlicher Kulturen fragt er erst dann wieder, wenn er anti-kognitivistische Versuchungen hinter sich hat. In den Reflexionen seiner letzten Lebensjahre stellt sich das Problem der ‚Relativität‘ und ‚Kommensurabilität‘ unterschiedlicher „Weltbilder“ eindringlicher als in der direkten Auseinandersetzung mit Frazer. Kann man überhaupt miteinander ‚Gründe‘ austauschen, wenn man das Weltbild nicht teilt? Inwiefern können diese ‚Gründe‘ ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ sein? Sie können bei dem, der sich durch sie angesprochen fühlt, etwas wie einen ‚Aspektwechsel‘ bewirken; aber ob sie ihn wirklich beeindrucken, bleibt ihm überlassen. In Wittgensteins Vorlesung vom May Term 1933 kennzeichnen Gründe dieser Art nicht nur die Ästhetik in engem Sinn; auch Freud und Frazer, die sich eine kausale Erklärung vornehmen, geben in Wirklichkeit ‚nur‘ ästhetische Gründe.⁹⁹ Gespräche jenseits der Grenzen eines gemeinsamen Weltbilds und Gründe, die kein gemeinsames Weltbild trägt, ähneln ästhetischen; die Verständigung bricht oft ab, aber es kann auch zu einem Wechsel des jeweiligen Weltbilds kommen. Können wir ein Weltbild, das eigene oder ein fremdes, überhaupt beschreiben? Auch in dieser Hinsicht gibt es eine Beziehung zu den Frazer-Notaten. Gegen den Golden Bough argumentiert Wittgenstein 1931, rituelle Handlungen seien nur zu beschreiben, nicht zu erklären. ‚Anschauungen‘ erklären die Handlungen nicht, sondern gehören zu ihnen und sind als deren Bestandteil mitzubeschreiben. In dieser Kritik kommt Wittgenstein den Ethnologen sehr nahe, die im Gegensatz zu intellektualistischen Positionen dem Kult bzw. dem Ritus einen Vorrang vor dem Mythos einräumen. Aus den ‚ritualistischen‘ Argumenten gegen Frazer gehen bei Wittgenstein jedoch nicht unmittelbar allgemeinere Einsichten über die Rolle der Sprache im menschlichen Leben hervor. Erst allmählich führt er die anti-intellektualistische Grundauffassung weiter. Schließlich aber wird das Verhältnis von Ritual und Anschauung zum Paradigma für das Verhältnis zwischen Sprachspiel und Überlegung, d. h. zwischen Handlungs- und Denkweisen

 Siehe dazu oben S. 279 ff., 299 ff.

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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überhaupt. Die Meinung sei bestenfalls Teil und nicht Ursache des Rituals, heißt es 1931.¹⁰⁰ Auf ähnliche Weise sieht Wittgenstein dann in der Überlegung einen „Teil des Sprachspiels“.¹⁰¹ Sie gehöre zum Sprachspiel, sie erkläre es nicht. Aus der Betrachtung zu den ‚Primitiven‘ ist nun eine zum Menschen überhaupt als einem „|Wesen| in einem primitiven Zustande“ (MS 176: 35r; ÜG, § 475) geworden. Vor dem Hintergrund primitiver, instinktiver, elementarer, natürlicher Reaktionen erheben sich weiterentwickelte Formen von Ausdrucksbenehmen. „Der Ursprung |und die primitive Form| des Sprachspiels ist eine Reaktion; erst auf dieser können die komplizierteren Formen wachsen. | Die Sprache – will ich sagen – ist eine Verfeinerung, ‚im Anfang war die Tat.‘“ (MS 119: 146 f.; 21.10.1937). Das Sprachspiel fängt gleichsam mit einer primitiven Reaktion an, die etwa in einem „Blick“, in einer „Gebärde“ oder in einem elementaren sprachlichen Ausdruck bestehen kann, und setzt diese Reaktion dann in Worte um.¹⁰² Aus primitiven Reaktionen entwickeln sich mithin kompliziertere Handlungsformen – und aus beiden wiederum einfachere und dann kompliziertere Sprachspiele. So bauen auch unsere fortgeschrittenen Sprachspiele auf eine primitive, d. h. in der Regel weitgehend vorsprachliche, instinktive Verhaltensweise auf. Sie bildet den „Ursprung und die primitive Form des Sprachspiels“ (MS 119: 146) bzw. dessen „Prototyp“ (MS 134: 113). Das Sprachspiel ist eine „Verfeinerung“ (MS 119: 147), „ein weiterer Ausbau“,¹⁰³ eine Umsetzung dieser Handlungsweise und im Wesentlichen „eine praktische Methode (eine Art des Handelns)“.¹⁰⁴ Auf dem Grund unserer Sprachspiele liegen keine Meinungen, keine Hypothesen, sondern elementare Reaktionen bzw. Einstellungen und Handlungsformen. „[I]m Anfang war die Tat“ (MS 119: 147), also keine Überlegung oder „Raisonnement“. „Der Instinkt ist das Erste, das Raisonnement das Zweite. Gründe gibt

 Siehe dazu unten § 2.1.2.1.5, S. 137 ff.  „Ich will eigentlich sagen, daß die gedanklichen Skrupel im Instinkt anfangen (ihre Wurzeln haben). Oder auch so: Das Sprachspiel hat seinen Ursprung nicht in der Ü b e r l e g u n g . (Die) Überlegung ist ein Teil des Sprachspiels. | Und der Begriff ist daher im Sprachspiel zu Hause.“ (MS 137: 55b; BPP II, § 632; vgl. Z, § 391.)  „‚Bei diesen Worten fiel er mir ein.‘ – Was ist die primitive Reaktion, mit der das Sprachspiel anfängt? – die dann in diese Worte umgesetzt werden kann. Wie kommt es dazu, daß Menschen diese Worte gebrauchen? | Die primitive Reaktion konnte ein Blick, eine Gebärde sein, aber auch ein Wort.“ (MS 144: 82; PU II xi: 559) Zum Menschen überhaupt als „|Wesen| in einem primitiven Zustande“ (MS 176: 35r; ÜG, § 475) siehe oben S. 140.  „[…] und unsere Sprache ist nur ein Hilfsmittel und ein weiterer Ausbau dieses Stellungnehmens |Verhaltens|. Ich meine: unser Sprachspiel ist ein Ausbau des primitiveren Benehmens. (Denn unser S p r a c h s p i e l ist Benehmen.)“ (MS 130: 204; BPP I, § 151; vgl. Z, § 545.)  „Das Wesentliche des Sprachspiels ist eine |praktische| Methode eine Art der Handlung (eine Art des Handelns), – kein|e| Geschwätz Spekulation, kein Geschwätz.“ (MS 119: 78v)

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

es erst in einem Sprachspiel.“ (MS 137: 66b; BPP II, § 689; 3.7.1948) Der Unterschied zwischen begründet und unbegründet, zwischen vernünftig und unvernünftig ist sprachspielintern. Innerhalb des Sprachspiels kann man Gründe austauschen; aber den Versuch, darüber hinaus Gründe für das Sprachspiel selbst zu geben, weist Wittgenstein nun mit ähnlichen Worten zurück wie vormals Frazers Erklärung fremder Riten und Gebräuche. „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.“ (PU, § 654; vgl. PU, § 656) Ähnlich wie ehemals die grausame Regel, die in Nemi die Nachfolge des Priesterkönigs bestimmte, will Wittgenstein nun Sprachspiele und Lebensformen überhaupt behandeln: „Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel |sozusagen| etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). | Es steht da – wie unser Leben.“ (MS 176: 60v-61r; ÜG, § 559)¹⁰⁵ „Nur b e s c h r e i b e n kann man hier“ – heißt es 1931 zum Duell in Nemi – „und sagen: so ist das menschliche Leben.“ (MS 110: 180; TS 211: 315) „Man möchte sagen: Dieser und dieser Vorgang hat stattgefunden; lachˈ, wenn Du kannst.“ (MS 110: 181; TS 211: 315) Verwandt ist die richtige Einstellung zum „Vorgang unsres Sprachspiels“ (MS 144: 13; PU II v: 498): Man muss ihn als ‚Urphänomen‘ hinnehmen und darf nicht versuchen, das Sprachspiel aus bestimmten Meinungen zu erklären oder weiter zu rechtfertigen.¹⁰⁶ Dass es „immer auf einer stillschweigenden Voraussetzung“ ruht, ist eine Täuschung;¹⁰⁷ und das Sprachspiel ist auch durch die Annahme eines verschwiegenen „Mittelglieds“ nicht zu erklären. Diese intellektualistischen Erklärungen verwischen den Unterschied zwischen Einstellung und Meinung; sie machen aus einer Einstellung etwas wie eine implizite Meinung. Hingegen: „Die

 Zu Entsprechungen zwischen den im Text angeführten späten Bemerkungen und den Frazer-Notaten siehe auch oben S. 221 f.  „Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien L e b e n s f o r m e n .“ (MS 144: 102; PU II xi: 572). In anderen Fassungen hieß es auch: „Tatsachen des Lebens“ (MS 133: 28r; BPP I, § 630) „Es ist vielmehr das alltägliche Sprachspiel h i n z u n e h m e n , […] Das primitive Sprachspiel, das dem Kind beigebracht wird, bedarf keiner Rechtfertigung: die Versuche der Rechtfertigung bedürfen der Zurückweisung.“ (MS 144: 49; PU II xi: 529; vgl. BPP 2, § 453)  „‚Aber diese machen dann eben eine stillschweigende Voraussetzung.‘ Dann ist die ruht der Vorgang unseres Sprachspiels immer auf einer stillschweigenden Voraussetzung. […] Ist Besteht eine Voraussetzung nicht, wo ein Zweifel besteht? Und der Zweifel kann gänzlich fehlen. Das Zweifeln hat ein Ende.“ (MS 144: 13 f.; PU II v: 498; vgl. BPP I, §§ 290, 291.) Zur stillschweigenden Voraussetzung vgl. Dreckmann 1996.

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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Einstellung kommt v o r der Meinung.“ (MS 169: 60v; LSPP II: 54 f.)¹⁰⁸ Intellektualistische Erklärungen sehen Meinungen dort, wo sie keine Rolle spielen, Gründe, wo sie in Wirklichkeit zu Ende sind. „Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.“ (MS 174: 35v; ÜG, § 166) „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.“ (MS 174: 20r; ÜG, § 253) Letzterer ist aber nicht etwas wie ein theoretisches, intellektualistisches Postulat, auch nicht „eine Art S e h e n“, sondern eben „unser H a n d e l n , welches am Grunde des Sprachspiels liegt“ (MS 175: 4v-5r; ÜG, § 204), also eine „unbegründete Handlungsweise“ (MS 174: 25r; ÜG, § 110).¹⁰⁹ Der Hintergrund ist keine Theorie, auch keine folks theory. Die letzte Antwort auf die Frage nach dem Grund ist vielmehr eine Praxis, die wir konstatieren. Das ‚Weltbild‘ ist weniger ein Bild als eine gemeinsame Handlungsweise, in die wir hineinwachsen, ohne dass die meisten Regeln je ausgesprochen würden; es handelt sich um die geteilte Lebensform, die selbstverständliche Grundlage aller Sprachspiele einer Gemeinschaft. „Wie könnte man die menschliche Handlungsweise beschreiben?“ Und wie „das ganze Gewimmel“, das hier den „Hintergrund“ (MS 137: 54b; BPP II, § 629) bildet? Das Weltbild (das eigene oder ein fremdes) entzieht sich einer erschöpfenden und/oder systematischen Beschreibung: Meine Überzeugungen bilden zwar „ein System, ein Gebäude“.¹¹⁰ Aber weder könnte ich sie vollständig aufzählen¹¹¹ noch dieses System beschreiben. Und eigentlich erübrigt sich dies im Alltag. Trotzdem vergleicht Wittgenstein Regeln, die vielleicht nie formuliert werden, mit Sätzen, die das Weltbild beschreiben.¹¹² Sie sehen zwar wie empirische Be „Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die M e i n u n g , daß er eine Seele hat.“ (MS 144: 10; PU II iv: 495; vgl. LSPP I, § 324; vgl. auch PU, §§ 249, 284, 310) Zu Wittgensteins „Einstellungsansatz“ vgl. Hark 1996.  „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz/des Sprachspiels/ kommt zu einem Ende; – aber das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar |als wahr| einleuchten, also eine Art S e h e n unsrerseits, sondern unser H a n d e l n , welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ (MS 175: 4v-5r; ÜG, § 204; vgl. MS 175: 71r-71v; ÜG, § 409.) „Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Annahme |Voraussetzung|, sondern die unbegründete Handlungsweise.“ (MS 174: 25r; ÜG, § 110)  „[…] Nicht, als ob ich das System dieser Überzeugungen beschreiben könnte. Aber meine Überzeugungen bilden ein System, ein Gebäude.“ (MS 174: 22v; ÜG, § 102)  „Kann man nun (wie Moore) die aufzählen, was man weiß? So ohne weiteres, glaube ich, nicht.“ (MS 172: 2; ÜG, § 6)  „Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, gehören beinahe |könnten| zu einer Art Mythologie gehören.|//könnte man mythologisch nennen.//| Und ihre Rolle ist eigentlich die |ähnlich der| von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, und ohne solche |ausgesprochenen| [sic] Regeln, lernen.“ (ÜG, § 95).

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

schreibungen aus, haben diese „Form“ (MS 175: 37v; ÜG, § 308), sind aber eigentlich keine Erfahrungssätze; denn über sie kann es „keinen Zweifel geben […], wenn nicht ein Urteil überhaupt möglich sein soll.“ (MS 175: 37r-37v; ÜG, § 308) Auch „die F r a g e n , die wir stellen und unsre Z w e i f e l beruhen“ nämlich darauf, dass jene Sätze „vom Zweifel ausgenommen sind“ (MS 175: 48r; ÜG, § 341). „Zweifel über all dies erhebt sich nicht. Aber das ist nicht genug. Man Dort können wir uns In einer gewissen Klasse von Fällen wissen wir nicht was der Zweifel für Folgen hätte, wie er zu beseitigen wäre, also, welchen Sinn er hat“ (MS 169: 75v; LPP II: 63). Wir können diese ‚Zweifel‘ nicht richtig einordnen; und wenn jemand einen unserer ‚Weltbildsätze‘ verneint, reden wir nicht einfach von ‚Irrtum‘ wie bei einem falschen empirischen Satz, sondern vermuten etwas wie ‚Verwirrung‘ oder gar eine ‚geistige Störung‘. („Eine Meinung kann sich irren. Aber wie sähe hier ein Irrtum aus?“ MS 169: 61r; LSPP II: 54 f.) Zwischen Weltbildsätzen und Erfahrungssätzen sowie zwischen den entsprechenden Fehlleistungen gibt es jedoch keine scharf geschnittene Grenze, sondern allerlei mögliche „Übergänge“ (MS 173: 100r; BÜF III, § 349): „Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, (so) daß ihr Sinn über die Grenzen hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten.“ (MS 176: 9v; BÜF III, § 19) Zudem können Sätze im Laufe der Zeit ihre Rolle ändern – und zwar in beide Richtungen: vom Erfahrungssatz zum Weltbildsatz, aber auch umgekehrt. Dies liegt auch daran, dass nicht alle Weltbildsätze auf derselben Ebene liegen: Während einige „vielleicht einmal umstritten“ waren, gibt es offenbar auch vieles, was „[v]ielleicht […] seit unvordenklichen Zeiten zum G e r ü s t aller unsrer Betrachtungen gehört. (Jeder Mensch hat Eltern.)“ (MS 175: 6v, 7r; ÜG, § 211) Gäbe es nur Letzteres, dann gäbe es ein einziges Weltbild, einen gemeinsamen Hintergrund, in dem die Menschen aller erdenklichen Zeiten und Kulturen völlig miteinander übereinstimmen würden. Es gibt aber gleichsam ‚weichere‘, wandelbare Anteile des Weltbildes, die in der Handlungsweise einer oder mehrerer, aber nicht aller Kulturen verankert sind. So gelten einige ‚Weltbildsätze‘ nicht schon seit unvordenklichen Zeiten als unbezweifelbar, sondern erst seit der Durchsetzung der modernen Wissenschaft. Der letzte Wittgenstein geht auf jeden Fall nicht davon uns, dass wir imstande sind, zwischen den Schichten des ‚Flussbetts‘, zwischen Felsgestein und Sandbank, irgendwie scharf zu trennen. Er betont eher, dass das ‚Weltbild‘ sich im Laufe der europäischen Geschichte gewandelt hat und wandeln wird; und tatsächlich sehen wir bereits heute einige der von ihm angeführten ‚Weltbildsätze‘ in anderem Licht (kein Mensch war je auf dem Mond, alle Menschen müssen Eltern haben). Das Weltbild, „der überkommene Hintergrund“ (MS 174: 21v; ÜG, § 94), ist ein soziales; ‚Weltbildsätze‘ sind gemeinsame, geteilte: „Wir sind dessen ganz sicher, heißt nicht nur, daß jeder Einzelne dessen gewiß ist,

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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sondern, daß wir zu einer Gemeinschaft gehören, die durch die Wissenschaft und Erziehung verbunden ist.“ (MS 175: 34r, 34v; ÜG, § 298)

5.6.2 „Wir würden trachten, ihm unser Weltbild zu geben“ Gelegentlich erwähnt der letzte Wittgenstein Gebräuche, die bereits im Mittelpunkt seiner Frazer-Lektüre standen. Dabei fällt eine deutliche Akzentverschiebung auf: Wir begegnen nun Völkern, die „phantastische Ideen vom Flugvermögen eines Menschen“ (MS 175: 23v; ÜG, § 264) haben, oder Stämmen, die sich nach Orakeln und Feuerproben richten bzw. an die Macht eines Regenkönigs glauben. „Menschen haben geurteilt, ein König könne Regen machen; w i r sagen, dies widerspreche aller Erfahrung.Wir urtei Heute urteil|t| |man| die Menschen, der Aeroplan, das Radio etc. seien Mittel zur Annäherung der Völker und Ausbreitung von Kultur.“ (MS 174: 28r; ÜG, § 132; vgl. MS 174: 20v; ÜG, § 92) Hier geht Wittgenstein einfach davon aus, dass Menschen an die Macht der frazerschen ‚Regenkönige‘ wirklich glaubten. In der (früheren wie in der späteren) Auseinandersetzung mit dem Golden Bough kam es im Gegenteil darauf an, gerade diese Voraussetzung in Frage zu stellen: Institutionen wie der Regenkönig gehen nicht auf Meinungen zurück; weder sind die entsprechenden Anschauungen mit fehlgeleiteten wissenschaftlichen Hypothesen zu verwechseln noch die Handlungen mit Techniken. Zwar hatte Wittgenstein nicht immer ausgeschlossen, dass die bei Frazer beschriebenen Völker in irgendeinem Sinn an den Regenkönig glaubten; er hatte dabei jedoch betont, dass die ‚Notion‘ eines Regenkönigs mit ihrer Erfahrung irgendwie übereinstimmen muss.¹¹³ Gerade das verneinen ‚wir‘ in diesem späten Notat: Jener Glaube widerspreche aller Erfahrung. Sagen ‚wir‘ es aber zu Recht? Es widerspricht unserer Erfahrung. Der letzte Wittgenstein stellt nicht (mehr) in Frage, dass zu einem fremden Weltbild etwas gehören kann, was in unserem falsch, ja absurd ist. Dieser Aktzentwechsel hängt auch damit zusammen, dass es hier eigentlich nicht darum geht, Gebräuche zu deuten: Wittgenstein schreibt den Fremden auch for the sake of argument einen Glauben zu: Wir lehnen zwar ihre Geltungs- und Wahrheitsansprüche ab, vergleichen sie aber zugleich mit unseren eigenen, die uns dann eventuell ebenso unbegründet vorkommen. Eher als ‚ihre‘ stehen also ‚unsere‘ Wahrheitsansprüche zur Debatte. Die gerade angeführte Bemerkung stellt eine Analogie zwischen dem Glauben an die magische Macht des Regenkönigs und dem Glauben an die ethische Kraft der Technik auf: Ein Urteil, das sich mit unserem modernen wissenschaftlichen

 Siehe dazu oben S. 161 ff.

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Weltbild nicht verträgt, wird rhetorisch mit einem verglichen, das zu unserer ‚Zivilisation‘ gehört,Wittgenstein jedoch fragwürdig scheint.Will er darauf hinaus, dass das eine Urteil genauso gut (oder genauso schlecht) „aller Erfahrung“ widerspricht, wie das andere? Vielleicht. Ist die antimoderne Analogie also in relativistischem, historistischem Sinn zu lesen? Selbst wenn ja, ist dies bei Wittgenstein nicht die Hauptrichtung. Er reflektiert vor allem über Sätze, die in unserem Weltbild allgemein anerkannt sind. Lässt sich die Rolle, die Physik im heutigen Weltbild hat, mit derjenigen vergleichen, die einem für uns unglaubwürdigen Entscheidungsverfahren in einem anderen Weltbild zukommt (bzw. zukommen könnte)? Erscheint ein für ‚uns‘ über jeden Zweifel erhabener schlichter physikalischer Satz gemäß diesem Vergleich in anderem Licht? Wird „die Sicherheit des Satzes, daß Wasser ca. bei 100º C kocht“ (MS 176: 70r-70v; ÜG, § 604), dadurch erschüttert? „Ist es falsch, daß ich mich in meinem Handeln nach dem Satze der Physik richte?“ (MS 176: 73r; ÜG, § 608) „Ist es falsch, daß sie ein Orakel befragen und sich nach ihm richten?“ (MS 176: 73v; ÜG, § 609) Sind die Fragen wirklich parallel? Können wir einfach die erste Frage mit ‚Ja‘ und die zweite mit ‚Nein‘ beantworten? Unser Sprachspiel bzw. Weltbild enthält tatsächlich beide Antworten. Will Wittgenstein nun auf den relativistischen Schluss hinaus, dass das eine genauso ‚falsch‘ oder ‚richtig‘ ist wie das andere? Dass wir, die wir ein für ‚ihr‘ Weltbild konstitutives Entscheidungsverfahren (Orakel) als absurd betrachten, auch von unserem eigenen Weltbild (Physik) Abstand gewinnen sollten? „Aber wie, wenn die Aussage des Physikers [„daß Wasser bei ca 100º C koche“ (MS 176: 72v; ÜG, § 604); MB] Aberglaube ist |wäre|, und es ebenso falsch ist/absurd wäre/, daß das Gericht |Urteil| sich nach ihr richtet, als |wie| daß es sich nach einer Feuerprobe richtet?“ (MS 176: 72v; ÜG, § 605)¹¹⁴ Physik würde nicht zu unserem Weltbild gehören, wenn das Urteil „in einem Gerichtssaal“ (MS 176: 72v; ÜG, § 604) sich nicht selbstverständlich nach ihr richtete; die Verneinung der physikalischen Aussage, „daß Wasser bei ca 100° C koche“ (MS 176: 72v; ÜG, § 604), würde der Richter nicht einfach als Irrtum ablehnen, sondern als absurd oder abergläubisch. Würde er damit falsch handeln? „Ist es falsch, daß ich mich in meinem Handeln nach dem Satze der Physik richte? Soll ich sagen, ich habe keinen guten Grund dazu? Ist [es] nicht eben das,was wir einen ‚guten Grund‘ nennen?“ (MS 176: 73r-73v; ÜG, § 608) Einen physikalischen Satz nennen wir einen guten Grund, weil

 Zum Aberglauben beim frühen Wittgenstein siehe oben S. 43 f. Der späte Wittgenstein akzeptiert implizit Frazers Auffassung des Aberglaubens als falscher Wissenschaft, wenn auch nicht die Anwendung auf die rituellen Handlungen (siehe dazu oben S. 367 f., Anm. 71).

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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er „einem bestimmten Maßstab des guten Grundes entspricht“, und dieser Maßstab ist selbst „nicht begründet“ (PU, § 482).¹¹⁵ Er gehört zur autonomen ‚Grammatik‘ des Sprachspiels; darin ist festgelegt, dass wir einen physikalischen Satz einen guten Grund nennen. Insofern kann ich nicht sagen, dass der physikalische Satz kein guter Grund ist, er gibt sogar ein Vorbild ab; so sieht ein guter Grund aus, nach dem die Gemeinschaft sich richtet und richten soll. Die autonome ‚Grammatik‘ legt nicht der einzelne Sprecher fest: „Was ein triftiger Grund für etwas ist |sei|, entscheide nicht ich“ (MS 175: 25r; ÜG, § 271), sondern eben die „Gemeinschaft“, „die durch die Wissenschaft und Erziehung verbunden ist.“ (MS 175: 34r34v; ÜG, § 298) Der „Maßstab des guten Grundes“ ist „nicht begründet“ (PU, § 482), weil er als eine fundamentale Regel des Sprachspiels nicht durch andere Regeln begründet ist: Zusammen aber bilden die Regeln ein System, ein System des Handelns. Die Erfahrung dagegen spielt nicht die Rolle eines Grundes, und selbst wenn sie einer wäre,wäre dieser seinerseits nicht begründet.¹¹⁶ Die Kette der Gründe und mit ihr die „Rechtfertigung“ (MS 174: 40; ÜG, § 192), „das Prüfen“ hat „ein Ende“ (MS 174: 35v; ÜG, § 164). Fängt an diesem Endpunkt die Beliebigkeit an? Nein, eher das in unserem Weltbild Selbstverständliche, wo wir Zweifel einfach als „Unsinn“ zurückweisen.Weitere ‚Gründe‘, die wir noch anführen würden, wären nicht fester und selbstverständlicher als das, was sie begründen sollen, wären also keine echten Gründe.¹¹⁷ Wo sich nicht sinnvoll zweifeln lässt, kann man auch nicht sinnvoll argumentieren. Was geschieht nun im Umgang mit fremden Weltbildern dort, wo in unserem die Gründe enden? Was geschieht, wenn andere unseren Maßstab des guten, triftigen Grundes nicht teilen? Er ist ja nicht begründet: Welchen Status haben dann die entsprechenden ‚Argumente‘: „Wenn wir dies ‚falsch‘ nennen, gehen wir nicht schon von unserm Sprachspiel aus und b e k ä m p f e n das ihre? | Und haben wir recht oder unrecht darin, daß wir’s bekämpfen?“ (MS 176: 73v; ÜG, § 609 – 610) Wir gehen „von unserm Sprachspiel aus“; aber haben wir wirklich schon deshalb

 „[…] daß dieser Grund einem bestimmten Maßstab des guten Grundes entspricht, – der Maßstab aber nicht begründet ist!“ (PU, § 482) „Ein guter Grund ist einer, der s o aussieht.“ (PU, § 483) Vgl. die zitierte Bemerkung MS 174: 20r (ÜG, § 253).  „[…] Ist sie [die Erfahrung; MB] der G r u n d , daß wir so urteilen (und nicht nur |bloß| die Ursache) so haben wir nicht wieder einen Grund dafür, dies als Grund anzusehen/zu behandeln/. | Nein, die Erfahrung ist nicht der Grund für unser Urteil[s]spiel. Und also auch nicht sein guter |ausgezeichneter| Erfolg.“ (MS 174: 27v-28r; ÜG, § 130 – 131)  „Ist aber was er glaubt von solcher Art, daß die Gründe, die er geben kann, nicht sicherer sind als seine Behauptung, so kann er nicht sagen, er wisse, was er glaubt.“ (MS 175: 17r; ÜG, § 243) Searle kritisiert dieses Kriterium von ‚Wissen‘. Vgl. dazu Glock 1996b: 237 ff.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Unrecht, wenn wir uns mit dem anderen Sprachspiel kritisch auseinandersetzen und es (in Anführungszeichen) ‚falsch‘ nennen? Das Wort ‚bekämpfen‘ ist kein neutrales: Man ‚bekämpft‘ einander nicht, wenn man (nur) Gründe austauscht. „Ich sagte, ich würde den Andern ‚bekämpfen‘, – aber würde ich ihm denn nicht G r ü n d e geben? Doch; aber wie weit reichen die? Am Ende der Gründe steht die Ü b e r r e d u n g . (Denke daran, was geschieht, wenn ein Missionare die Eingeborenen bekehren)“ (MS 176: 74r; ÜG, § 612). „Man könnte/wird/ freilich unser Vorgehen [das Bekämpfen ihres Sprachspiels; MB] mit allerlei Schlachtrufen |Schlagworten| (slogans) stützen.// aufstützen.//“ (MS 176: 73v-74r; ÜG, § 610) In einem Sprachspiel, vor dem Hintergrund eines geteilten Weltbildes, überzeugt man mit Gründen; mit Slogans wiederum bekämpft man ein fremdes Sprachspiel bzw. Weltbild, man will den anderen dazu überreden, es aufzugeben. Auch in einem geteilten Weltbild haben Gründe irgendwann ein Ende, aber an diesem Ende, wo man nicht weiter begründen kann, liegt der gemeinsame „unbegründete Glaube“ (MS 174: 20r; ÜG, § 253). Falls andere diese unbegründete Grundlage, das Weltbild, nicht teilen, kann man sie nicht durch Gründe überzeugen. Trotzdem nennen ‚wir‘ manchmal die ‚Weltbildsätze‘ anderer falsch, ja ‚abergläubisch‘, ‚wahnsinnig‘, und zwar dann, wenn sie unseren ‚Weltbildsätzen‘, unseren „Grundanschauungen“ widersprechen. Wir tun es von unserem eigenen Weltbild aus. „Wo sich wirklich zwei Prinzipe treffen, die sich nicht mit einander aussöhnen können“, heißt es bei Wittgenstein, „da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.“ (MS 176: 74r; ÜG, § 611) Diese Bemerkung ist weniger eine psychologische Beobachtung als etwas wie eine Definition von ‚unversöhnlichen Prinzipien‘.¹¹⁸ Aber gibt es selbst bei unverträglichen Weltbildern wirklich keine Alternative? Einerseits bekennt Wittgenstein, dass er das fremde Weltbild ‚bekämpfen‘ würde,¹¹⁹ andrerseits sagt er aber auch, dass man sich mit diesem Anderssein einfach abfinden könne: „[…] Und da k ö n n t e es sein, daß er meinen Grundanschauungen widerspricht. Und wäre es so, so müßte ichˈs dabei bewenden lassen.“ (MS 175: 15r; ÜG, § 238) Auf jeden Fall sieht Wittgenstein nur  Vgl. Raatzsch 1999: 97 ff. Prinzipien gehören zur Grammatik; und wenn sie „wirklich“ unvereinbar sind, und nur dann, sprechen deren Vertreter einander Vernunft und/oder moralische Integrität ab. Das heißt natürlich nicht, dass sie mit ihren gegenseitigen Anschuldigungen recht haben. Es zeigt aber, dass ein Unterschied in der Grammatik etwas anderes ist als einer in der Empirie. Menschen, die konträre Aussagen aufstellen, bezichtigen sich gegenseitig des Irrtums. – Eine Sprachgemeinschaft kann irren. Aber von einer systematischen, einer Sprachgemeinschaft insgesamt eigenen ‚geistigen Störung kann nicht die Rede sein: Die Sätze, die diese Gemeinschaft verneinen würde, wären ipso facto nicht ihre Weltbildsätze.  Hilary Putnam geht in seiner Lektüre eben davon aus. Vgl. die Interpretation von ÜG, § 612 in Putnam 1995: 55. Vgl. auch MS 176: 45v-46r; ÜG, § 520.

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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diese Alternative: Entweder bleibt jeder beim eigenen Weltbild, oder einer macht sich das Weltbild des anderen zu eigen. Wie, wenn wir einem König begegneten, der in dem Glauben erzogen wurde, „mit ihm habe die Welt begonnen“: „[…] Wir würden trachten ihm unser Weltbild zu geben. | Dies geschähe durch eine Art Ü b e r r e d u n g .“ Diese „Ü b e r r e d u n g “ wäre „eine Bekehrung besonderer Art: Der König würde dazu gebracht, die Welt anders zu betrachten.“ (MS 175: 23r; ÜG, § 262) Die heutige interkulturelle Hermeneutik plädiert eher für ein beiderseitiges Entgegenkommen, für eine Schlichtung: Das Ergebnis muss nicht unbedingt ein von beiden geteiltes Weltbild sein, geschweige denn unseres. Das Resultat wäre auf jeden Fall ein Weltbildwechsel, und Wittgenstein kommt es darauf an, dass das Aufgeben einer einzelnen Hypothese als Modell für einen Weltbildwechsel irreführend ist. Da die Verneinung eines Weltbildsatzes – und eigentlich schon der Zweifel an ihm – im jeweiligen Weltbild keinen Sinn macht, kann man Weltbildsätze nicht einzeln in Zweifel ziehen. Man muss das ganze Weltbild revidieren. Wenn wir aber unser Weltbild gegebenenfalls revidieren können oder gar müssen, sollten wir es dann nicht relativieren? Weltbilder wandeln sich, und einige gehen unter. Spengler hatte versucht, auf unser eigenes Weltbild wie auf ein untergehendes zu blicken. Für Spengler müssen alle Kulturen untergehen und zwar auf homologe Weise, jede Kultur hat ihre Untergangsphase, ihre Zivilisation. Wittgenstein kritisiert Spenglers angebliche Notwendigkeiten. Können wir aber wiederum ausschließen, dass unser aktuelles Weltbild untergehen, dass unsere Nachfahren für uns unbezweifelbare ‚Weltbildsätze‘ irgendwann aufgeben werden? Und wenn wir es nicht ausschließen können, was folgt daraus? Dürfen, ja müssen wir unser Weltbild aus diesem Grund relativieren? Diese Schlussfolgerung versucht Wittgenstein abzuwehren. „Kann ich nun prophezeien, daß Menschen die heutigen Rechensätze nie umstürzen werden, nie sagen werden, jetzt wüßten sie erst, wie es sich verhalte? Aber würde das einen Zweifel unsrerseits rechtfertigen?“ (MS 177: 4v; ÜG, § 652) „Man kann nun allem dem entg Beispiele entgegenhalten, die zeigen/wo/, daß Menschen dies und jenes für gewiß gehalten haben, was sich später, unsrer Meinung nach, für falsch erwiesen hat. Aber dieses Argument ist wertlos. Zu sagen: wir können |am Ende| nur solche Gründe anführen, die w i r für Gründe halten, sagt gar nichts.“ (MS 176: 70v71r; ÜG, § 599; vgl. auch Wittgensteins Randbemerkung dazu: MS 176: 71r.) Zum Begriff unseres Grundes gehört nämlich, dass wir ihn als Grund anerkennen.¹²⁰

 Der Ausdruck ‚Gründe in unserem Weltbild‘ ist redundant für ‚Gründe‘; auch die Wendung ‚ist wahr in meinem Sprachspiel/Weltbild‘ ist redundant (wie eigentlich schon die Wendung ‚ist wahr‘) und fügt dem jeweiligen Satz nichts hinzu.

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

Vielleicht werden unsere Nachfahren einige unserer Weltbildsätze ablehnen; und schon andere Menschen haben sich geirrt, etwa wenn sie sich nach einer Feuerprobe richteten. (Davon, dass sie sich irrten, geht Wittgenstein nun offenbar aus; dass sie ‚abergläubisch‘ waren, sagt er aber nicht.) Einen Zweifel unsererseits rechtfertigt jedoch weder jene Prognose noch diese historische Feststellung. Daß ein Andrer sich meiner Meinung nach geirrt hat, ist kein Grund anzunehmen, daß ich mich |jetzt| irre. – Aber ist es nicht ein Grund anzunehmen, daß ich mich irren k ö n n e ? Es ist k e i n Grund zu irgend einer U n s i c h e r h e i t in meinem Urteil, oder Handeln. (MS 176: 72v73r; ÜG, § 606)

Wittgensteins fundamentale Ideen sind: 1) Zweifel dürfen nicht einfach ins Blaue geäußert werden; wer zweifelt, muss seine Zweifel rechtfertigen, für sie Gründe geben können.¹²¹ 2) Der echte Zweifel ist – ähnlich wie bei Peirce – eine Unsicherheit im Handeln. Zwar können wir Sätze, deren wir sicher sind, in Zweifel ziehen, wenn auch nicht alle auf einmal. Aber was heißt hier ‚Zweifel‘? Wenn das Kriterium des echten Zweifels eine Unsicherheit im Handeln ist: Was für eine Art Zweifel wäre der an unserem eigenen Weltbild? Ein echter Zweifel? Eine Unsicherheit im Handeln liegt hier nicht vor: Das Weltbild ist nämlich eine unbegründete, aber selbstverständliche Handlungsweise. Was sollen wir nun von unseren Weltbildsätzen sagen? Wie ist die entsprechende unerschütterliche Sicherheit zu verstehen? Ist der Gebrauch von ‚wissen‘ nicht „arrogant |ungerechtfertigt| und anmaßend“ (MS 176: 58v; ÜG, § 553)? Sollen wir uns nicht lieber bescheiden und lediglich von einem Glauben reden? „Soll ich sagen ‚Ich glaube an die Physik‘, oder ‚Ich weiß, daß die Phys. wahr ist‘?“ (MS 176: 171v; ÜG, § 602) Wittgenstein antwortet nicht direkt, und vielleicht sollen wir weder das eine noch das andere sagen; denn beide Sätze sind zu allgemein, zu ‚philosophisch‘. Aber ich kann in einem geeigneten Kontext doch etwa sagen ‚Ich weiß, dass das Wasser mit 100 Grad kocht‘; und, „[w]enn von Anatomie die Rede wäre“, ist „Ich weiß, daß vom Gehirn 12 Nervenpaare ausgehen“, ein völlig legitimer Satz: „So wird eben hier das Wort ‚Ich weiß‘ |richtig| gebraucht.“. Dies trifft selbst dann zu, wenn ich „diese Nerven nie gesehen“ habe „und auch ein Fachmann […] sie nur an wenigen Specimina beobachtet“ hat (MS 176: 77r; ÜG, § 621). Der Ausdruck ‚ich weiß‘ wird aber falsch verwendet, wenn der Satz „außerhalb seinem Zusammenhang“ geäußert wird, und zwar so, als ob er „höher“ stünde als „das menschliche Sprachspiel“ (MS 176: 59r; ÜG, § 554). Im Vollzug der Sprache wiederum ist so eine Aussage „vollkommen gerechtfertigt und alltäglich. | In ih-

 „Also muß vernünftiges Mißtrauen einen Grund haben?“ (MS 175: 41v; ÜG, § 323; vgl. MS 175: 43r; ÜG, § 329.)

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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rem Sprachspiel ist sie nicht anmaßend.“ (MS 176: 59r; ÜG, § 553 – 554) Die Aussage „Ich weiß, daß die Phys. wahr ist“ (MS 176: 171v; ÜG, § 602), klingt indes allzu sehr wie von einer philosophischen Vogelperspektive aus gesprochen. Aber die Physik gehört tatsächlich zum Weltbild unserer Gemeinschaft; und in diesem kollektiven Weltbild ist die Physik ein Wissen. Es gibt keinen Grund, so zu tun, als ob sie nicht zum Weltbild unserer Gemeinschaft gehörte.Von welchem Standpunkt aus würden wir versuchen, auf die eigenen ‚Weltbildsätze‘ ähnlich wie auf einen fremden ‚Glauben‘ hinzublicken? Wir können nicht nach Belieben aus unserem Weltbild heraustreten. Die Rede von einem Weltbild dient zur Beschreibung, nicht zur Relativierung unseres Wissens. Insofern können wir auf unser Weltbild nicht wie auf ein schon untergegangenes blicken.Weltbilder ändern sich, ihre Grenzen verschieben sich, aber wir wissen nicht, welchen Sinn wir einem Zweifel an den ‚Scharniersätzen‘ unseres Weltbilds geben könnten (die „Angeln“ müssen nämlich „feststehen“, damit „die Türe sich drehe“ MS 175: 48v; ÜG, § 343). Dem Zweifel entzogen sind indes nur die ‚Scharniersätze‘. Und einen Blick wie auf bereits Untergegangenes richtet der späte Wittgenstein zuweilen auf seine eigene Philosophie und ihr therapeutisches Anliegen. „Wir kämpfen jetzt gegen eine Richtung. Aber diese Richtung wird sterben, durch andere Richtungen verdrängt. Und dann wird man unsere Argumentation gegen sie nicht mehr verstehen; nicht begreifen, warum man all das hat sagen müssen.“ (MS 126: 129; vgl.VB: 510) Nicht, dass die Argumentation dann nicht mehr stimmt; sie verliert ihre innere Konsistenz nicht; und die kritisierte Richtung behauptet sich keineswegs, sie verschwindet vielmehr. Aber eben deshalb wird man den ‚Witz‘ der Argumentation nicht mehr erkennen; und eine spätere Zeit wird sie in diesem Sinn nicht mehr verstehen. Wittgenstein will also keineswegs auf eine relativistische Beliebigkeit seiner Argumentation hinaus. Aber wie philosophische „Richtungen“ (MS 126: 129) – und mit ihnen die Argumente, die ein Philosoph wie er gegen sie formuliert hat – werden auch „die alten Probleme“ (MS 131: 49) mit der Zeit nicht mehr nachvollziehbar sein; „eine Veränderung der Lebensweise“ macht irgendwann „alle diese Fragen überflüssig“ (MS 134: 146; VB: 537; 1947). Wenn die Menschen ihr Leben ändern, legen sie nämlich auch ihre alte „Denkweise“ und „Ausdrucksweise“ ab: „[…] Ist sie/die neue Denkweise/ festgelegt, so verschwinden die alten Probleme; ja es wird schwer, sie wieder zu erfassen. Denn sie sitzen in der Ausdrucksweise; und wird eine neue angezogen, so streift man die alten Probleme mit dem alten Gewand ab.//, so legt man die alten Probleme mit dem alten Gewand beiseite.//“ (MS 131: 49; vgl.VB: 518) Zwar könnten die Lösungen, die Wittgenstein bietet, s. E. diese Probleme vielleicht überdauern, dies aber nur, insofern seine Philosophie eine neue Betrachtungsweise vorbereitet: eine neue „Denkbewe-

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5 Philosophische Probleme mit ‚ethnologischem‘ Blick sehen

gung“, nicht mehr seine eigene.¹²² Worauf er als auf etwas schon Untergegangenes blickt, ist weniger die argumentative Stimmigkeit als der ‚Witz‘ seiner Philosophie. Gibt es die ‚Krankheit‘ nicht mehr, wozu dann die Therapie? Von allein kann ein Einzelner genauso wenig die allgemeine „Denkweise und Lebensweise“ (MS 121: 27r; BGM: 132) umgestalten, wie er einen Ritus erfinden und durchsetzen kann.¹²³ Der Philosoph kann höchstens bei verwandten Menschen eine Wandlung durchsetzen, und Wittgenstein arbeitet in seinem Selbstverständnis vor allem an sich selbst, „[a]n der eignen Auffassung“, daran, wie er „die Dinge sieht“ (MS 112: 24r; VB: 472). Wie Philosophie überhaupt ist auch die ethnologische Betrachtungsweise eine „Arbeit an Einem selbst“ (MS 112: 24r). In dieser Betrachtungsweise geht es nun darum, den eigenen „Standpunkt weit draußen einnehmen, um |die| Dinge o b j e k t i v e r sehen zu können.“ (MS 162b: 67v; VB: 502; 1940) Am Anfang wurde bemerkt, dass das hier suggerierte Idealbild des distanzierten Zuschauers, der von einem externen Standpunkt aus das Beobachtete objektiv registriert, nicht wirklich zu einem Ethnologen passt, der wie Malinowski, so weit es geht, teilnehmend zu beobachten versucht.¹²⁴ Vielleicht meint es Wittgenstein auch nicht so. Worauf will nämlich die Metapher hinaus? Was ist ein „Standpunkt weit draußen“ in der Philosophie? „Wir sollten unsre Arbeit von außen betrachten, nicht nur von innen.“ (MS 138: 8b; VB: 563) So etwas versucht Wittgenstein in der eben erläuterten von Spengler inspirierten Betrachtung zum Nachleben der eigenen Philosophie. Der Philosoph kann versuchen, seine Philosophie von außen zu betrachten, aber nicht sein ‚Weltbild‘ und dessen ‚Scharniersätze‘; denn einen externen Standpunkt, von dem aus wir unser Weltbild als Wissen begründen oder als Glauben (ja, sogar: Aberglauben) relativieren könnten, haben wir nicht. Wir besinnen uns vielmehr auf unsere Sprachspiele und versetzen Ausdrücke wie ‚wissen‘ und ‚glauben‘ wieder in diese vertraute Umgebung, in der sie wirklich angewandt werden. In-

 „Im Geistigen läßt sich ein Unternehmen |meistens| nicht fortsetzen, soll auch gar nicht fortgesetzt werden. Diese Gedanken düngen den Boden für neue Gedanken. //für eine neue Saat.//“ (MS 137: 122a; VB: 558)  „Es ist,/wäre,/ als wollte ich durch reden die Männer- und Frauenmode ändern/Kleidung der Frauen und der Männer ändern/.“ (MS 134: 148; VB: 537) „Die Krankheit einer Zeit heilt sich durch eine/die/ Veränderung in der Lebensweise der Menschen und die Krankheit der philosophischen Probleme konnte nur durch eine veränderte Denkweise |und Lebensweise| geheilt werden nicht durch eine Medizin die ein Einzelner erfand. […]“ (MS 121: 27r; BGM S. 132). Zwar kann die „Mahnung“ eines Philosophen „‚Sieh’ die Dinge s o an!‘“ (MS 134: 146; VB: 537) im Sonderfall etwas wie einen Aspektwechsel herbeiführen; aber der Philosoph darf „immer nur auf die aller indirekteste Wirkung hoffen“ (MS 134: 148); „der Impuls“ zu einer „Änderung der Anschauung“ muss „|von| anderswoher kommen“ (MS 134: 147).  Siehe dazu oben S. 20.

5.6 Fremde Weltbilder. Zu Wittgensteins letzten Reflexionen

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wiefern können wir also einen „Standpunkt weit draußen einnehmen“ (MS 162b: 67v)? Einen „Marsstandpunkt“, von dem aus wir die Dinge „ohne jede vorgefaßte Idee betrachte[n]“ können, gibt es nicht; wir können höchstens „die normale vorgefaßte Idee zerstör[en]“ oder eher noch lediglich „durchkreuz[en].“ (TS 211: 498; vgl. Z, § 711) Wir können eventuell die „Dinge o b j e k t i v e r sehen“ (MS 162b: 67v): objektiver, nicht: objektiv. Die Möglichkeit, uns selbst und unsere ‚Sprachspiele‘ in diesem Sinn ‚ethnologisch zu betrachten‘, sieht Wittgenstein also keineswegs naiv. Der ‚abgelegene‘ Standpunkt,von dem aus wir ‚objektiver‘ sehen, ist mitten in unserem Leben.

Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough im Kontext des Nachlasses Die Ergebnisse von Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough gerieten zunächst auf indirektem Weg in die philosophische Diskussion. Peter Winchs einflußreicher Aufsatz Understanding a Primitive Society (1964) knüpfte in seinem Schlussteil „Our Standards and Theirs“ an Wittgensteins Frazer-Kritik an. „In what follows – schreibt Winch – I have been helped indirectly, but greatly, by some unpublished notes made by Wittgenstein on Frazer, which Mr Rush Rhees was kind enough to show me“.¹ 1967 erschien dann in der Zeitschrift Synthese eine von Rhees edierte Zusammenstellung (GB 1967). Es folgten unterschiedliche Editionen, die alle in mehreren Hinsichten unzulänglich sind.² 1979 etwa gab Rhees eine von der ersten abweichende zweisprachige Ausgabe heraus, diesmal als Buch.³ In sämtlichen Editionen besteht der als „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“ bekannte Text aus zwei Reihen von Aufzeichnungen. Die zweite (MS 143) ist nicht eindeutig zu datieren. Die Entstehung der ersten lässt sich wiederum genauer angeben: Wittgenstein schrieb sie zwischen dem 19. Juni und dem 6. Juli 1931 nieder. Im Wesentlichen jedoch liegt den erwähnten Editionen nicht diese erste erhaltene Fassung in MS 110 zugrunde, sondern die spätere Abschrift in der maschinengeschriebenen Synopse TS 211. Zuerst aber zur ersten Fassung der Notate in MS 110: In den Wochen ab dem 19. Juni 1931 notierte sich Wittgenstein zwischen Aufzeichnungen zu anderen Themen immer wieder kleinere Gruppen kritischer Bemerkungen über Frazer.⁴ Die

 Winch 1964: 103, Anm. 1, zit. auch bei Fretlöh 1987: 48, Anm. 62. In Winchs Ethics and Action, wurde diese Anmerkung durch einen Literaturhinweis ersetzt. Zu einer Bibliographie der ‚Rationalitätsdebatte‘ vgl. neben Fretlöh 1987 auch Deloch 1997.  Zu einem Verzeichnis der Ausgaben bis Mitte der neunziger Jahre, zu der unbefriedigenden editorischen Lage sowie zu Korrekturvorschlägen vgl. Orzechowski/Pichler 1995.  Vgl. GB 1979. (Vorangegangen war noch eine englische Übersetzung: GB 1971.) In der Zwischenzeit waren die Bemerkungen auch in Deutschland erschienen, und zwar im Kontext der durch Winchs Aufsatz ausgelösten ‚Rationalitätsdebatte‘. Vgl. GB 1975. Die in Deutschland am meisten benutzte Ausgabe ist diejenige in VE: 29 – 46. Umfangreicher ist die zweisprachige in PO: 118 – 155. Zu den Unterschieden zwischen beiden Ausgaben vgl. PO: 116, 512.  Die ersten Bemerkungen über Frazer sind in MS 110 auf S. 177– 185 (19.–20. Juni 1931); sie werden unter dem Datum 22. Juni 1931 auf S. 195 – 199 fortgesetzt; vgl. dann S. 203 – 206 (23. Juni), S. 225 (25. Juni), S. 256 – 257 (2. Juli), S. 259, S. 297– 299 (6. Juli 1931). Dem Incipit der Bemerkungen geht – gleich unter der Datumsangabe „19.6.1931“ – der Satz voraus: „[Was ich in der Zwischenzeit geschrieben habe, will ich später hier nachtragen.]“ (MS 110: 177) Diese

Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

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Aufzeichnungen zu anderen Themen sind zum großen Teil – wenn auch nicht nur – Abschriften von Notizen, die er ab etwa dem 10. Mai in ein Taschennotizbuch (MS 153a) eingetragen hatte; die Auseinandersetzung mit Frazer unterbrach also immer wieder die Auswertung dieses Taschennotizbuchs.⁵ Sind nun auch die Frazer-Notate in MS 110 Abschriften aus einem Taschennotizbuch, aus einem anderen, verschollenen? Rhees hielt es für möglich: „He may have made earlier notes in a pocket notebook, but I have found none.“⁶ Ganz auszuschließen ist es nicht, aber doch ziemlich unwahrscheinlich. Wenn ja, hat Wittgenstein abwechselnd aus beiden Taschennotizbüchern abgeschrieben. Aber warum? Warum hätte er die Bemerkungen zum Golden Bough erst in TS 211 und nicht bereits in MS 110 gruppiert? Drury zufolge wusste Wittgenstein schon lange von dem Golden Bough, bevor er Anfang der dreißiger Jahre endlich dazu kam, darin zu lesen. Drury berichtet über eine gemeinsame Lektüre aus dem ersten Band der full edition, die sich über einige Wochen erstreckt habe. „Wittgenstein told me he had long wanted to read Frazer’s The Golden Bough and asked to get hold of a copy out of the Union Library and read it out loud to ihm. I got the first volume of the full edition and we continued to read from it for some weeks. | He would stop me from time to time and make comments on Frazer’s remarks.“ (Drury 1984b: 119)⁷ An anderem Ort erzählt Drury, er habe Wittgenstein „for a short period“ „the opening chapters of Frazer’s Golden Bough“ (Drury 1973: x) vorgelesen.⁸ Einmal datiert Drury diese gemeinsame

„Zwischenzeit“ dürfte einige Wochen betragen haben. Die letzte Datumsangabe findet sich nämlich etwa dreißig Manuskriptseiten zuvor: Wittgenstein notierte auf derselben Seite „17.[4.1931]“ und datierte einen „Nachtrag“ auf den „3.5.[1931]“ (MS 110: 146; vgl. Nedos Erläuterung in Wi3: XII). Während der Vorlesungszeit scheint er MS 110 kaum benutzt zu haben; die Bemerkungen in dem Teil von MS 110, der dem Incipit der Frazer-Notate vorangeht, hat der Philosoph offenbar nicht unmittelbar zuvor aufgezeichnet. Gerade mit den Bemerkungen über den Golden Bough nimmt er die regelmäßige Benutzung von MS 110 wieder auf, und ‚nachgetragen‘ hat er anschließend (abwechselnd mit den Frazer-Notaten) Aufzeichnungen aus dem Taschennotizbuch MS 153a. – Auf eine ausführliche Beschreibung des Nachlassbestandes muss hier verzichtet werden. Außer G. H. v. Wrights Katalog und M. Nedos Einleitungen in der Wiener Ausgabe vgl. insbes. Rothhaupt 1996, passim; Stern 1995: 3 ff.; Stern 1996.  M. Nedo hat mir freundlicherweise die in der Wiener Ausgabe noch unveröffentlichte Transkription dieses Taschennotizbuchs zur Verfügung gestellt. Zur Rolle von MS 153a im Rahmen des Nachlasses der frühen 30er Jahre vgl. auch das Stemma in Nedos Einleitung, Wi3: IX.  R. Rhees: „Introductory Note“, in GB 1967: 233; GB 1979: v.  Dazu sowie zu Wittgensteins Frazer-Lektüre vgl. die einleitenden Bemerkungen der Herausgeber in PO: 115 – 117, sowie R. Rhees’ „Introductory Note“ in GB 1967: 233 f.; GB 1979: v f.  An die gemeinsame Frazer-Lektüre erinnert sich Drury auch in seiner Dublin Lecture on Wittgenstein (vgl. Drury 2003: 8 f.). Drury las Wittgenstein nicht nur Frazer vor: „Sometimes he liked me to read out loud to him, and he would comment on what we were reading: Frazer’s

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Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

Lektüre bereits auf 1930, allerdings nicht ohne eine gewisse Unsicherheit. Sie erfolgte, wenn er sich richtig erinnert, während der Vorlesungszeit und wurde im nächsten term nicht wiederaufgenommen.⁹ Nun ist das erste Frazer-Notat in MS 110 vom 19. Juni 1931 datiert.Wittgenstein hatte Cambridge knapp zwei Wochen zuvor verlassen und war damals seit etwa zehn Tagen in Wien. Daher kann man keineswegs davon ausgehen, dass die Bemerkungen im unmittelbaren Anschluss an jene gemeinsame Lektüre entstanden sind.¹⁰ Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn Wittgenstein noch in Cambridge eine nun verschollene allererste Fassung in einem Taschennotizbuch niedergeschrieben hätte. Was kannte Wittgenstein von Frazer, als er ab dem 19. Juni 1931 seine Aufzeichnungen zu Papier brachte? Drury machte die angeführten Angaben zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen. Dies heißt aber nicht, dass Wittgenstein ausschließlich den von seinem Studenten entliehenen ersten Band der dritten, zwölfbändigen, Ausgabe kannte¹¹ – oder sogar nur die von diesem vorgelesenen Abschnitte. Zuerst aber die Frage: Was hatte Wittgenstein unmittelbar zur Hand, als er in den Sommerferien die Notate in MS 110 niederschrieb? Den von Drury ausgeliehenen Band der Union Library wird er wohl nicht nach Österreich mitgenommen haben. Griff er lediglich auf eigene (jetzt verschollene) frühere Notizen zurück? Oder hatte er den Golden Bough auch in Wien zur Verfügung? Wenn er die vollständige Ausgabe weiter benutzte, dann hatte er in der Zwischenzeit weitere Bände zur Kenntnis genommen. Denn nicht alle Themen, die im Mittelpunkt dieser ersten Auseinandersetzung stehen, werden im ersten Band der vollstän-

Golden Bough, Prescott’s Conquest of Mexico, Morley’s Life of Cromwell, Boswell’s Life of Johnson […]“ (Drury 1978: 67). Sie widmeten sich nicht allen diesen Büchern im selben Jahr. Aus Prescott las Drury Wittgenstein (und Skinner) im Jahr 1934 vor (vgl. MDC: 126 f., und siehe dazu oben S. 213 f., Anm. 333); Boswells Buch sandte er dem Philosophen 1948 (vgl. MDC: 155).  „I think it would have been in 1930 that Wittgenstein said to me that he had always wanted to read Frazer but hadn’t done so, and would I get hold of a copy and read some of it out loud to him. I borrowed from the Union Library the first volume of the multi-volume edition and we only got a little way through this because he talked at considerable length about it and the next term we didn’t start it again.“ (M. OˈC. Drury, zit. bei R. Rhees: „Introductory Note“, in GB 1967: 233; GB 1979: v) Der im Text angeführte ähnliche Bericht in Drurys „Conversations with Wittgenstein“ gehört allerdings zu den Erinnerungen aus dem Jahr 1931 (MDC: 119). A. Koritensky (2002: 145) datiert die Lektüre auf Anfang 1931.  Am 6. Juni 1931, eine Woche vor Ende des Easter Term, hatte Wittgenstein Cambridge verlassen, und am 9. Juni war er in Wien eingetroffen (zu den Details vgl. M. Nedos Einleitung, in Wi11: VII). In diesen Tagen traf er sich mehrmals mit Moritz Schlick, so auch am 19. Juni, auf den er seine ersten Frazer-Bemerkungen datiert hat (vgl. Nedos Einleitung, in Wi11: VII).  Dem ersten Band der dritten Ausgabe entsprechen die ersten sieben Kapitel der Abridged Edition.

Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

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digen Ausgabe behandelt, z. B. der Kornwolf ¹² und der Baumkult¹³ nicht. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Philosoph schon damals die Abridged Edition benutzte. Und eine Anspielung, die sich wohl nicht auf diese Ausgabe bezieht, könnte auch eine Reminiszenz sein.¹⁴ Möglicherweise hängt auch eine frühere Bemerkung – die erste Fassung stammt bereits aus dem Herbst 1930 – mit einer, wenn auch nur kursorischen, Frazer-Lektüre zusammen. Die Aufzeichnung erläutert das Sündenbockritual, und The Scapegoat ist der sechste Teil bzw. der neunte Band der dritten Ausgabe. In diesem Fall hätte sich Wittgensteins Lektüre bereits im Herbst 1930 nicht auf den ersten, von Drury ausgeliehenen Band des zwölfbändigen Golden Bough beschränkt.¹⁵ Wenn er schon so früh Frazer las, könnte Drurys unsichere Datierung der gemeinsamen Lektüre auf 1930 stimmen. Erst in der Vorlesung vom May Term 1933 ging Wittgenstein auf die fire-festivals ein; in der vollständigen Ausgabe behandelt diese erst der zehnte Band, der erste des (zweibändigen) siebten und letzten Teils (Balder the Beautiful. The Fire-Festivals of Europe and the Doctrine of the External Soul). Wittgenstein nahm also spätestens 1933 entweder diesen späten Band oder, was mir viel wahrscheinlicher scheint, die Abridged Edition von 1922 zur Kenntnis. Dass er das Exemplar, auf das sich die späteren Bemerkungen in MS 143 beziehen, erst 1936 von Raymond Townsend geschenkt bekam,¹⁶ schließt nämlich keineswegs aus, dass er diese einbändige Ausgabe schon Jahre zuvor eingesehen hatte. Er könnte sie eigentlich schon 1931 benutzt haben. In der Zeit ihrer ersten Niederschrift waren die Frazer-Notate von Wittgensteins sonstigem Schaffen nicht abgetrennt. Er arbeitete an einem Buch: Als Titel zog er am 24. Juni „Eine philosophische Betrachtung“ (MS 110: 214) und am 1. Juli „Philosophische Grammatik“ (MS 110: 254)¹⁷ in Erwägung. Manuskript MS 110 verdient daher besondere Aufmerksamkeit: Es zeigt den ursprünglichen Kontext der Auseinandersetzung mit dem Golden Bough. Hier sieht man, welchen Standpunkt Wittgenstein damals vertrat, welche philosophischen Probleme im Vor-

 Darauf macht J. G. F. Rothhaupt aufmerksam (1996: 197, Anm. 1). Frazer behandelt den „Kornwolf“ im 48. Kapitel der Abridged Edition („The corn-spirit as an animal“) und im zweibändigen fünften Teil der vollständigen Ausgabe (Spirits of the Corn and the Wild). Zu weiteren Themen, die nicht dem ersten Band entnommen sind, vgl. Koritensky 2002: 145 f., Anm. 243.  Die entsprechenden Abschnitte finden sich im zweiten Band der dritten Ausgabe („The Worship of the Oak“ in FGB III 2: 349 ff.; „The Worship of Trees“, FGB III 2: 7 ff.). Siehe dazu oben S. 142 f., insbes. Anm. 189.  Wittgensteins Ausdruck „Tatsachensammlung“ (MS 110: 256) spielt auf die collections of facts an, von denen nur in der vollständigen Ausgabe die Rede ist.  Zu dieser Aufzeichnung siehe oben S. 107 ff.  Vgl. R. Rhees in MDN: 186, Anm. 18.  Zu diesem Buchprojekt vgl. insbes. Pichler 2004.

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Anhang: Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Golden Bough

dergrund standen und über welche Instrumente er bereits oder aber noch nicht verfügte. Den Ausgaben der ‚Bemerkungen über Frazers Golden Bough‘ liegt im Wesentlichen nicht die Fassung in MS 110, sondern, soweit vorhanden, die Ubertragung in die maschinengeschriebene Synopse TS 211 zugrunde.¹⁸ Die Synopse wurde zwischen dem Sommer 1931 und dem Sommer 1932 aus den Notizheften MS 109-MS 114 hergestellt, und auch die Aufzeichnungen über Frazer wurden bis auf wenige in das Typoskript aufgenommen.¹⁹ Während des Diktats übersprang Wittgenstein sie zumeist und stellte sie dann zum Großteil in den Seiten 313 – 322 zusammen. Sie bilden einen unbetitelten Abschnitt, der durch Seitenwechsel am Anfang und am Ende vom Rest der Synopse getrennt ist.²⁰ Beim Diktieren wurden die Aufzeichnungen nicht wesentlich überarbeitet und auch nicht wirklich oft neu geordnet; die Reihenfolge der ursprünglichen Niederschrift wurde nur wenig geändert.²¹ Nicht aufgenommen wurden die meisten der späteren, zwischen dem

 Der erste Block der ersten Gruppe von „Bemerkungen“ in PO (PO: 118 – 132) stammt aus TS 211: 313 – 321. Siehe S. 406 ff. u. vgl. Orzechowski/Pichler 1995, wo auch die Manuskriptquellen der übrigen „Bemerkungen“ angegeben werden, allerdings nicht sehr genau (siehe unten Anm. 29).  Wittgenstein diktierte die 771 Seiten umfassende Synopse TS 211 nicht in einem Zug: Er arbeitete daran nur während seiner Wiener Aufenthalte ab dem 16. August 1931. Sie wurde in den Sommerferien 1932, zwischen dem 28. Juni und dem 24. Juli, fertig. Zu genaueren Angaben vgl. M. Nedos Einleitung in Wi8,1: VII ff. Der in der Wiener Ausgabe erschienene erste Teilband hört genau vor dem zentralen Abschnitt auf, der den Großteil der Bemerkungen über den Golden Bough enthält. Zur Gänze ist das Typoskript in der Bergen-Ausgabe wiedergegeben sowie im Cornell Microfilm (Rolle Nr. 15). Zum Zustand von TS 211 berichtet G. H. v. Wright: „A few pages are missing, but can be identified in 213. Photocopies of the missing pages have been inserted.“ (Wright 1993: 499)  In TS 211 bilden sie damit eine Ausnahme: Seitenwechsel kommen hier sonst kaum vor. Die Synopse ist anders als das spätere Big Typescript nicht in nummerierte und betitelte Kapitel gegliedert. Die erwähnte typographische Trennung bedeutet jedoch nicht, dass zwischen dem zentralen Abschnitt und den anderen kein theoretischer Zusammenhang bestünde.  Zu den Details siehe unten die Konkordanzen, S. 406 ff., und zum interessanten Fall der magischen Kur oben S. 179 ff. – Im Allgemeinen sind die diktierten Bemerkungen in Wittgensteins Typoskripten nicht unbedingt ‚fertiger‘ als die handschriftlichen. M. Nedo bestreitet zu Recht, dass „die Typoskripte immer die ausgereifteren, fertigeren Versionen der Texte darstellen.“ (Wi11: XIII) Dies trifft erstens für die Anordnung der Bemerkungen zu: Die Herstellung von TS 211 und anderer Typoskripte stellte für Wittgenstein weniger eine konsistente Gliederung des Materials dar als einen ersten Schritt zu dessen weiterer Bearbeitung. „Für Wittgenstein waren die Synopsen Materialsammlungen für die Arbeit an seinem Buch.“ (Wi11: XIII) Es gilt zweitens auch für den Wortlaut der Bemerkungen: Zwar ist Wittgensteins Zeichensetzung oft unüblich (und in MS 110 auch nachlässig), aber die geläufigere der Maschinenschreiber hat ihre Tücken, und Hörfehler kamen beim Diktat immer wieder vor. Vgl. auch Kienzler 2006, insbes. S. 15; Koritensky 2002: 146.

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1. und dem 6. Juli 1931 entstandenen, Aufzeichnungen.²² Von den früheren dagegen fielen nur die erwähnten Anfangsbemerkungen heraus. Die darin formulierte Erwägung, das neue Buch mit Bemerkungen über die Metaphysik als eine Art der Magie zu beginnen, hatte Wittgenstein offensichtlich aufgegeben: Die meisten Bemerkungen über Frazer sind ja etwa in der Mitte des Typoskripts gruppiert. Sie werden nun von einigen Reflexionen über den Weg vom Irrtum zur Wahrheit eingeleitet, die ursprünglich mit der Lektüre des Golden Bough in keinem Zusammenhang standen.²³ Kehren wir kurz zur ersten Niederschrift zurück. Die meisten Frazer-Notate in MS 110 hat Wittgenstein irgendwann mit einem ‚Kringel‘ markiert.²⁴ (Mit so einem Randzeichen versah er neben vielen anderen Notaten auch persönlicher Natur etwa die Bemerkungen über Renan vom Herbst 1930.) Im Allgemeinen hängen Markierungen in den Manuskripten mit der Aufnahme der Aufzeichnungen in die Synopsen zusammen. Aber dies ist beim ‚Kringel‘ offenbar nicht der Fall. Er diente nicht zur Herstellung der Maschinenschrift TS 211.²⁵ Allerdings stimmen die zwei Auswahlverfahren im Ergebnis weitgehend überein: Die vor dem 1.7.1931 verfassten Frazer-Notate, die in MS 110 mit einem ‚Kringel‘ markiert sind, wurden bis auf eines in TS 211 im zentralen Block gesammelt (mit den einzigen zwei ins Typoskript aufgenommenen späteren).²⁶  Dies lag jedoch nicht unbedingt an dem späteren Datum. Einige der am 2. Juli notierten Aufzeichnungen, etwa zwei Bemerkungen zur übersichtlichen Darstellung, wurden ins TS 211 aufgenommen. Siehe dazu die Konkordanzen, S. 406 ff.  Die Ausgabe der GB in VE (GB 1989) enthält diese Aufzeichnungen nicht; sie eröffnen dagegen diejenige in PO (GB 1993).  Josef Rothhaupt hat die mit dem ‚Kringel‘ markierten Aufzeichnungen aus den Mss MS 107 bis MS 112 als „Kringel-Buch“ herausgegeben. Rothhaupts Ausgabe (KrBu) hat eine kontroverse Diskussion ausgelöst; vgl. in Rothhaupt/Vossenkuhl 2013 die Aufsätze von Rothhaupt, Majetschak und Stern. Vgl. auch Rothhaupt 2011.  Mit Ausnahme eines ‚Nachzüglers‘ (1.11.1931) hatte Wittgenstein die Manuskripteinträge, die er dann mit einem Kringel markierte, ursprünglich zwischen dem 11.10.1929 und dem 13.9.1931 notiert. Josef G. F. Rothhaupt zufolge (KrBu: 104) ist die Sektionenauswahl 1– 222 „zweiteilig“. Den ersten Teil bildet die Kringel-Markierung-Auswahl beim „TS208-Manuskriptenumfang“, den zweiten die Kringel-Markierung-Auswahl beim „TS210-TS211-Manuskriptenumfang“ (vgl. KrBu: 104). Letztere erfolgte laut Rothhaupts mündlicher Mitteilung zeitlich nach der Herstellung von TS 211.  Die umstrittene Frage nach dem Status des ‚Kringel-Buchs‘ ist in dieser Hinsicht nur insofern relevant, als dieses Auswahlverfahren die Frazer-Notate in eine andere ‚Umgebung‘ stellt als TS 211. So gehören zu Rothhaupts Sammlung wie erwähnt auch die Renan-Aufzeichnungen, die Wittgenstein in keine der Maschinenschriften aufnahm, auch in TS 211 nicht. Die Erforschung von Wittgensteins äußerst komplexem Schreibprozess, in dem er seine Bemerkungen aufzeichnet, redigiert, auswählt und zusammenstellt, ist ein wichtiges Desiderat der WittgensteinForschung, und Rothhaupt ist zweifellos recht zu geben, dass sie noch in den Anfängen steckt.

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Diese zehnseitige Zusammenstellung wurde dann weder in die Zettelsammlung TS 212²⁷ noch in das Big Typescript (TS 213)²⁸ aufgenommen. Den Weg in diese Synopsen fanden im Wesentlichen nur zwei kleinere Gruppen von Bemerkungen über Frazer, die Wittgenstein im TS 211 nicht dem zentralen Abschnitt zugeschlagen, sondern an jeweils anderer Stelle in seine übrigen philosophischen Reflexionen integriert hatte.²⁹

Das ‚Kringel-Buch‘ erfüllt seine Funktion als ‚Initialtext‘, insofern es die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge lenkt, die m. E. am besten in den Manuskripten studiert werden können. Rothhaupts ‚Kringel‘ stellen nämlich viele Fragen: Ist der ‚Kringel‘ ein einfaches Zeichen oder ein zusammengesetztes? Handelt es sich bei den ‚Kringeln‘ wirklich eindeutig um ein und dasselbe Zeichen mit einer einheitlichen ‚Auswahlfunktion‘? Selbst wenn sich der ‚Kringel‘ als einheitliche Sektionsmarkierung deuten ließe: War das Markieren auch in diesem Fall ein Auswahlverfahren, mit dem eine ‚Sammlung‘ von Bemerkungen hergestellt werden sollte? Majetschak stellt die Deutung der ‚Kringel‘ als einheitliche Sektionsmarkierung in Frage und hält es für „wenig wahrscheinlich“, dass „Wittgensteins auf ‚Kringeln‘ basierende Textauszeichnungen im Nachlass“ „allesamt Bemerkungen im positiven Sinne für eine virtuelle Sammlung von der von Rothhaupt vorgelegten Gestalt auswählen“ (Majetschak 2013: 83).  In die Zettelsammlung TS 212 arbeitete Wittgenstein drei Typoskripte ein: TS 208, TS 210 und eben TS 211 (vgl. das Stemma in Wi3: IX; vgl. auch Stern 1995: 94.) Die Arbeit dürfte nicht vor den ersten Julitagen 1932 begonnen haben, und die Zettelsammlung war Ende des Jahres offenbar noch nicht ganz fertig (vgl. M. Nedos Einleitung zu Wi11: VII). G. H. von Wright beschreibt sie so: „The cuttings from the ‚underlying‘ typescripts are arranged and clipped together in chapters. The chapters are grouped in ‚parts‘ and enclosed in folders.“ (Wright 1993: 499; vgl. auch M. Nedo: Einleitung, Wi11: 7.)  Das Big Typescript (TS 213), das auf der erwähnten Zettelsammlung TS 212 basiert, wurde in einem Schreibbüro hergestellt (vgl. Wi3: VIII), und zwar nicht auf einmal, sondern (nur) während Wittgensteins Aufenthalten in Wien: Die Arbeit begann wahrscheinlich erst im März 1933, und das Typoskript war vor dem 14. Dezember fertig. (Vgl. M. Nedos Einleitung zu Wi11: VII-X.) Wittgenstein korrigierte handschriftlich den maschinengeschriebenen Text und ergänzte ihn (auf den Rückseiten). Von diesen Korrekturen und Ergänzungen, sofern sie eine spätere Phase seines Denkens darstellen, sieht Wi11 bewusst ab. Sie sind in der Bergen Electronic Edition zugänglich und werden in Luckhardts und Aues Ausgabe (2012) wiedergegeben. Zum Big Typescript, das in mehreren Exemplaren erhalten ist (nähere Angaben in Luckhardts und Aues „Einleitung der Herausgeber“: vi), vgl. die Beiträge in Majetschak 2006 und insbes. Kienzler 2006; vgl. auch Sedmak 1994: 143 ff., 159 f. Zur Beziehung zwischen der Zettelsammlung TS 212 und TS 213 (d. h. zwischen dem ‚Proto-Big Typescript‘ und dem ‚Big Typescript‘) vgl. Rothhaupt 2010: 60 f.  Vgl. TS 211: 250 f., 281 f. Diese Bemerkungen, die über TS 211 dann ins Proto-Big Typescript (TS 212) und ins Big Typescript (TS 213) gelangten, wurden in MS 110 nicht mit einem Kringel markiert. Die eine ‚Auswahl‘ verhält sich „exklusiv“ (Rothhaupt 2011: 172) zur anderen. Orzechowski und Pichler (1995) geben in ihrem Schema diese Bemerkungen nicht an. Sie gehen offenbar davon aus, dass Rhees Aufzeichnungen aus dem Big Typescript übernommen hat. Das muß jedoch nicht sein, denn die von ihnen erwähnten Bemerkungen sind auch in TS 211 enthalten. Wittgenstein hat sie von dieser Synopse zuerst in die Zettelsammlung TS 212 und dann

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Wittgenstein plante damals ein ‚Buch‘, noch nicht ein ‚Album‘. Aber die Typoskripte waren eher ein Arbeitsinstrument als eine Rohfassung jenes Buches: Sie dienten der Auswertung, Sammlung und Rubrizierung des handgeschriebenen Materials. Diese Funktion hat auch das mit seinen Kapitelüberschriften vergleichsweise übersichtlich gegliederte Big Typescript, das Wittgenstein bereits vor der Fertigstellung zu überarbeiten begann. Es gewährt wichtige Einblicke in seine Denkentwicklung, hat aber nicht den Status eines unvollendeten Werkes. In TS 212 und TS 213 wird aus dem Material für die „Vorrede“ (MS 110: 184), in der Wittgenstein Paul Ernsts Nachwort zu den Kinder- und Hausmärchen erwähnen wollte, ein Kapitel über „Die Mythologie in den Formen unserer Sprache (P a u l E r n s t )“ (TS 212: 1203 – 1209; TS 213: 433 – 435). Hier sammelt Wittgenstein Reflexionen über die falschen Bilder und Analogien, die philosophische Irrtümer verursachen; und in beiden Synopsen setzt sich vor allem dieses Kapitel (TS 213, § 93) mit dem Golden Bough auseinander. Außerdem verwendet ein früheres Kapitel der großen Maschinenschrift (TS 213, § 89) methodologische Betrachtungen, die im Kontext der Auseinandersetzung mit Frazer entstanden waren. Ihr Thema ist die „übersichtliche Darstellung“, und sie finden schließlich in die Philosophischen Untersuchungen Eingang. In diesem Buch kommt jedoch Frazers Name nicht mehr vor. Im Big Typescript dagegen, auch im § 89, wird der schottische Ethnologe noch namentlich genannt: Offenbar erwog Wittgenstein damals noch, ihn in seinem Buch zu erwähnen und sich mit dem Golden Bough, wenn auch nur sehr knapp, auseinanderzusetzen.³⁰

ins Big Typescript übernommen. Dasselbe wie für Rhees’ Ausgabe gilt für die Ausgabe in PO. Eigentlich stammen die in PO: 118 – 132 abgedruckten Bemerkungen sämtlich aus dem TS 211, diejenigen in PO: 134– 138 finden sich dagegen nur im Manuskript MS 110. Wittgenstein nahm sie ins TS 211 und in die späteren Synopsen nicht auf.  Zu der Vorlesung vom May Term 1933, in der Wittgenstein kritisch auf Frazer einging, siehe oben S. 274 ff.; zu den auf losen Blättern notierten Bemerkungen (MS 143), die Wittgenstein in sein Exemplar der Abridged Edition einlegte, siehe oben S. 305 ff.

Konkordanzen Konkordanz GB 1995 – GB 1999 – MS 110 – TS 211 – TS 212 – TS 213 GB 1995 GB  (VE) (PO)

Textanfang (nach GB )

Datum (in MS )

MS 

TS  TS 

TS 

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[/] [/] [/] [/] [/] /a /b /c / /a /b /c /a /b /c

Ich glaube jetzt Worin ich aber Von der Magie Ja, das Ausschalten Denn, wenn ich Man muß beim D.h., man muß Einen von der Ich muß immer Frazers Darstellung der So war also Aber – kann man Schon die Idee Nie wird es Wenn er uns

. .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . . 

– – – – – – – – – – – – – – –

/ / /a

Es kann schon Frazer sagt, es Ich glaube, daß

. .  . .  . . 

– – – – –           –    

– – – – – – – – – – – – – – –

/ / /a

– – –

– – –

/b / / / / / /a /b / /a

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. .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . .  . . 

         

– – – – – – – – – –

– – – – – – – – – –

/b / /

/b / /

Und die Erklärung Nur beschreiben kann Die Erklärung ist Jede Erklärung ist Wer aber, etwa Das Gedränge der Wenn man mit Das Leben des Wer von der Einem religiösen Symbol Und nur der Man möchte sagen Die religiöse Handlung

               –     –           

  

– – –

– – –

/ / / /

/ / / /

In effigie verbrennen Man könnte auch Der selbe Wilde Die Idee, daß

. .  . .  . .  . . 

   –     

   

– – – –

– – – –

. .  . .  . . 

Konkordanzen

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GB  GB  (VE) (PO)

Textanfang (nach GB )

Datum (in MS )

MS 

TS  TS 

TS 

/ /a /b / /a /b

/ /a /b /a /b /c

Und immer beruht Die Darstellung eines Die Magie aber Die Taufe als Wenn die Adoption Von den magischen

. .  . .  . .  . .  . .  . . 

     

– – – – – –

– – – – – –

/c /d /e / f/a /b

/d /e /f / g/a /b

Welche Enge des Frazer kann sich Warum sollte dem Wie irreführend die

. .  . .  . .  . . 

      –      –  

    –  

– – – –

– – – –





/c /d

/c /a

 

– –

– –

/e

Daß der Schatten

. . 



Wie hätte das

. . 

 –  



/ f/a /b /c /d /e /f / g

/b/a /b





/c /d /e /f / g / h

Die Magie in Bei der magischen Man möchte nach Nichts ist so Ich meine nicht Das heißt, man

. .  . .  . .  . .  . .  . . 

– – – – – –

– – – – – –

/ h

/i

Nun aber ist

. . 





/i / / /

/ l / / /

Vielmehr ist das Wenn man es Wir müssen die Frazer: „That these

. .  . .  . .  . . 

/ / / – / /

/ / /

/

/

Frazer wäre im Frazer ist viel Die historische Erklärung Identifizierung der eigenen „Und so deutet

/

Das Zeremonielle (hei- . .  ße Ja, Frazers Erklärungen . .  Das Essen und . . 

  –    –       

      –       –    

–   –

–   –

. .  . .  . . 

 –      –    

– – –

– – –

. . 









..



 – 





408

Konkordanzen

GB  GB  (VE) (PO)

Textanfang (nach GB )

Datum (in MS )

MS 

TS  TS 

TS 

/

/

Der Begriff der

..



/

..



/a

/a

..









/b /a /b /c / / /a /b /

/b /a /b /c / / /a /b /

Diese übersichtliche Darstellung Ein hypothetisches Zwischenglied Aber auch die Ich möchte sagen (Das ist ja Ja, diese Sonderbarkeit In unserer Sprache Austreiben des Todes In den alten Und wenn ich Ich könnte mir

 –  



/

 – ¹ ²

.. . .  . .  . .  . .  . .  .. .. ..

        –

–        –

–        –

/ / / / / –

/ / / /a /b / – /a /b / /a /b

Man könnte sagen Ja, es ist Wenn es einem Ich glaube, das Ich lese, unter [Wenn ich über

.. .. .. .. .. ..

– – – – – –

– – – – – –

– – – – – –

Ist ein solches Kein geringer Grund Man könnte sagen (Die Form des

.. .. .. ..

         –        –     

– – – –

– – – –

– – – –

– – – –



Konkordanz GB 1995 – GB 1999 – MS 143 GB  (VE)

GB  (PO)

Textanfang (nach GB )

MS 

– – – – /

/ / / / /

Dies ist natürlich Wenn ein Mensch Der Unsinn ist „… a network of So einfach es

–    –

 In TS 211: 322, steht der Platzhalter „(zwei Bemerkungen)“ auch für diese anderweitig (TS 211: 281 f.) genutzte Aufzeichnung.  Siehe die vorige Anmerkung.

Konkordanzen

409

GB  (VE)

GB  (PO)

Textanfang (nach GB )

MS 

– – – / / / / – / / – /a /b-/a /b / / / / – /a /b /c /d /e-/a – – – – – – – – – – –

/a /b / / / / / – / / – /a /b /c / / – / / /a /b /c-/a /b /c / / / / / / / / / / /

Wievielmehr Wahrheit darin Frazer merkt nicht Alle kindliche (infantile) Das Auffallendste schiene In allen diesen Nichts spricht dafür Hier scheint die Hier sieht etwas Die Tatsache, daß Es ist, wenn Die Umgebung einer Eine Überzeugung liegt Was aber wehrt Man könnte es Aber es ist So wie das Ebenso, daß Kinder Warum soll es Das kann man Alle diese verschiedene Die Verbindung von Es liefert eine Wie es ‚infantile Das Richtige und Daß das Feuer Die gänzliche Zerstörung Auch wenn man ‚Soul-stone‘. Da Das würde darauf

       –   –   –      –   –    –    –    –     –    –      – 

In dieser Studie werden bei Wittgensteins Texten in der Regel Manuskript (MS) oder Typoskript (TS) und Seite angegeben. Die vorliegenden Konkordanzen mit den zwei heute am meisten benutzten Ausgaben der „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“ – jeweils in dem Band Vortrag über Ethik (VE) und in den Philosophical Occasions (PO) – sollen denjenigen Lesern helfen, denen die Texte nur in dieser editorischen Aufbereitung zugänglich sind. Dementsprechend verzeichnen die Konkordanzen nur die Bemerkungen, die in wenigstens einer dieser Ausgaben vorliegen, und halten sich an die Reihenfolge in GB 1999 (PO). Die erste der beiden Konkordanzen baut auf Josef Rothhaupts synoptischen Darstellungen auf, die auch seine ‚Kringel-Buch‘-Edition einbeziehen (vgl. KrBu: 136 ff.).

410

Konkordanzen

Die ersten zwei Spalten dieser ersten Konkordanz teilen Seitenzahl samt Absatz in GB 1995 (VE) und in GB 1999 (PO) mit, die dritte Spalte die Anfangsworte des Absatzes in GB 1999, die vierte und die fünfte Datum und Seitenzahl in MS 110 und die übrigen drei die Seitenzahl in TS 211, TS 212 und TS 213. Die zweite Konkordanz gibt in den ersten zwei Spalten Seitenzahl und Absatz in GB 1995 (VE) und in GB 1999 (PO) an, die dritte Spalte enthält die Anfangsworte des Absatzes in GB 1999 und die vierte die Seitenzahl in MS 143.

Siglenverzeichnis Bei Wittgensteins Texten wird in der Regel Manuskript (MS) oder Typoskript (TS) und Seite angegeben. Die entsprechenden Siglen sind aus G. H. v. Wrights Katalog (Wright 1993) bekannt; die Nummerierung der Seiten folgt der Bergen Electronic Edition. In der Textherstellung habe ich mich dieser Ausgabe, in der so gut wie der gesamte Nachlass vorliegt, indes nicht immer angeschlossen. Die Entzifferung in der Wiener Ausgabe (z. B. im Fall von Ms 110) ist oft adäquater. Auch andere Ausgaben wurden berücksichtigt, etwa Joachim Schultes Kritisch-genetische Edition, Josef Rothhaupts „Kringel-Buch“ und Ilse Somavillas Edition des Tagebuchs aus dem Koder-Nachlass (Ms 183). Ich habe in den meisten Fällen Wittgensteins Original herangezogen und übernehme die Verantwortung für die Zitate. Die Abweichungen von den gängigen, auf Rush Rhees zurückgehenden Ausgaben der Bemerkungen über Frazers Golden Bough (VE, PO) rühren nur zum Teil daher, dass ich eher aus dem etwa in der Zeichensetzung eigenwilligeren Manuskript MS 110 zitiere als aus dem Typoskript TS 211. Eine Konkordanz mit der nach wie vor am meisten benutzten Werkausgabe gebe ich nicht immer. Zwischen Detailreichtum und Lesbarkeit muss eine Monographie Kompromisse eingehen. Es war nicht der Zweck, Wittgensteins Handschriften bis in die kleinsten Einzelheiten zu reproduzieren; aber die Textwiedergabe kommt eher einer diplomatischen als einer normalisierten Fassung nahe. Die Zeichensetzung wurde in der Regel nicht verändert. Nur wenn ich Wittgensteins Worte in meine eigenen Sätze einbaue, füge ich Interpunktion (in spitzen Klammern ) hinzu. Sein Kürzel für ‚und‘ (ein ‚+‘ eher als ein ‚&‘) wird ausgeschrieben.¹ Die Bearbeitungszeichen, die Wittgenstein selbst in seinem Manuskript benutzt (z. B. ‚[‘, ‚//‘), werden treu wiedergegeben. Die Bergen Electronic Edition und die Wiener Ausgabe verwenden jeweils andere diakritische Zeichen. Ich habe folgendermaßen vereinheitlicht: U n t e r s t r i c h e n [in Typoskripten auch: G e s p e r r t ] Mehrfach unterstrichen Gewellte Unterstreichung Durchgestrichen |Einfügung| /Variante/

 Zu meinen Entzifferungen aus Moores unveröffentlichter Mitschrift der Vorlesung vom May Term 1933 siehe oben S. 274 f., Anm. 1.

412

Siglenverzeichnis

Von mir ausgelassene Zeichen (Buchstabe/Endung oder Interpunktion) | Absatzwechsel Zu einer ausführlichen Bibliographie der deutsch- und englischsprachigen Wittgenstein-Ausgaben inklusive Sigelverzeichnis vgl. Pichler/Biggs/Szeltner 2011. Im Folgenden werden nur die für diese Arbeit benutzten Schriften und Siglen angegeben. 10/7/4– 9

AWL

BBB BGM BPP I & II BT 2005 BÜF CB 1980

CC 1995

CCO

Moores Notizhefte mit seinen Lecture notes aus Wittgensteins Vorlesungen 1930 – 1933. Cambridge University Library, Sammlung: Add. Ms 8875, Sektion 10/7/4– 9. Unveröffentlicht. Eine Ausgabe ist in Vorbereitung: Citron, Gabriel/Rogers, Brian/Stern, David (Hg.): Wittgenstein: Lectures, Cambridge 1930 – 1933 from the Notes of G.E. Moore. Wittgenstein’s Lectures, Cambridge, 1932– 1935. From the Notes of Alice Ambrose and Margaret Macdonald edited by A. Ambrose, Oxford 1982. Dt.: Vorlesungen 1930 – 1935. Cambridge 1930 – 1932. Aus den Aufzeichnungen von John King und Desmond Lee hg.v. Desmond Lee. Cambridge 1932– 1935. Aus den Aufzeichnungen von Alice Ambrose und Margaret Macdonald hg.v. Alice Ambrose. Frankfurt/ M. 1984. The Blue and Brown Books. Preliminary Studies for the ‘Philosophical Investigations’. New York/London u. a. 1958. Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Werkausgabe, Bd. 6. Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I & II, Werkausgabe, Bd. 7: 5 – 215, 217– 346. The Big Typescript: TS 213. German English Scholars’ Edition. Hg.v. C. Grant Luckhardt/Maximilian A. E. Aue. Malden, Mass u. a. Bemerkungen über Farben, Werkausgabe, Bd. 8: 7– 112. Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker. Hg. v. Brian McGuinness/Georg Henrik von Wright. Frankfurt/M. 1980. Cambridge Letters. Correspondence with Russell, Keynes, Moore, Ramsey and Sraffa, ed. by Brian McGuinness/Georg Henrik von Wright. Oxford/Malden, Mass. Letters to Charles Kay Ogden, with Comments on the English Translation of the Tractatus Logico-Philosophicus. Hg. v. Georg Henrik von Wright. Oxford/London u. a. 1973.

Siglenverzeichnis

CF 1996

413

Familienbriefe. Hg.v. Brian McGuinness, Maria Concetta Ascher, Otto Pfersmann. Wien. DB 1997 Denkbewegungen. Tagebücher 1930 – 1932, 1936 – 1937. Hg. u. komm. v. Ilse Somavilla, Teil 1: Normalisierte Fassung, Teil 2: Diplomatische Fassung. Innsbruck 1997. [= MS 183.] DoW Drury, Maurice OˈConnor: The Danger of Words and Writings on Wittgenstein. With a Preface by D. Berman a. M. Fitzgerald. Bristol 2003. CPE 2006 Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen. Hg. v. Ilse Somavilla. Innsbruck/Wien. EPB Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), Werkausgabe, Bd. 5: 117– 282. FGB James George Frazer: The Golden Bough. Zu den verschiedenen Ausgaben siehe unten im Literaturverzeichnis: „James George Frazer. Schriften“, S. 416 f. GB I / GB II Jeweils der erste und der zweite ‚Teil‘ in den untenstehenden Ausgaben. GB 1967 Bemerkungen über Frazers The Golden Bough. Ed. by Rush Rhees. In: Synthese 17: 233 – 253. GB 1971 Remarks on Frazer’s Golden Bough. Ed. by Rush Rhees, transl. by A. C. Miles, transl. rev. by R. Rhees. In: The Human World 3: 28 – 41. GB 1975 Bemerkungen über Frazers „The Golden Bough“. In: Wiggershaus 1975: 37– 57. GB 1979 Bemerkungen über Frazers Golden Bough / Remarks on Frazer’s Golden Bough, ed. by Rush Rhees, transl. by A. C. Miles, transl. rev. by Rush Rhees. Doncaster. GB 1995 Bemerkungen über Frazers Golden Bough. In: VE: 29 – 46. GB 1999 Bemerkungen über Frazers Golden Bough / Remarks on Frazer’s Golden Bough. In: PO: 118 – 155. HW 2006 Wittgenstein, Hermine: „Ludwig sagt…“ Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein. Hg. v. Mathias Iven, Berlin. KrBu Wittgensteins Kringel-Buch. Recherchiert, rekonstruiert, arrangiert und ediert von Dr. Josef G. F. Rothhaupt, LMU München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, Oktober 2010. LA Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief. Compiled from Notes taken by Yorick Smythies, Rush Rhees and James Taylor. Hg. v. Cyril Barrett, Berkeley/Los Angeles, o. J. (1966). Dt.: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Hg. v. Cyril Barrett. Göttingen 1971.

414

LE LFM

LSPP I LSPP II

LSDPE LUS LWL MDC

MDN

MoM

MWL

OBC 1986

PB PG PO PPO

Siglenverzeichnis

A Lecture on Ethics. In: PO: 37– 44. Lectures on the Foundations of Mathematics. Cambridge 1939, from the Notes of R. G. Bosanquet, N. Malcolm, R. Rhees,Y. Smythies. Hg.v. Cora Diamond. Ithaca 1976. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, Werkausgabe, Bd. 7: 347– 500. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie: das Innere und das Äussere; 1949 – 1951. Hg. v. Georg Henrik von Wright u. Heikki Nyman. Frankfurt/M. 1993. Lectures on Sense Data and Private Experience. In: PO: 290 – 367. Licht und Schatten. Ein nächtliches (Traum‐)Erlebnis und ein BriefFragment. Innsbruck/Wien 2004. Wittgenstein’s Lectures, Cambridge, 1932– 1935. From the Notes of John King and Desmond Lee edited by D. Lee. Oxford 1980. Drury, Maurice O’Connor: Conversations with Wittgenstein. In: Rush Rhees (Hg.): Recollections of Wittgenstein. Oxford (1981): 112– 189. Jetzt auch in DoW. Drury, Maurice O’Connor: Some Notes on Conversations with Wittgenstein. In: Essays on Wittgenstein in Honour of Georg Henrik von Wright. In: Acta Philosophica Fennica 28 (1976): 22 – 40. Jetzt auch in DoW. Charles Kay Ogden/Ivor Armstrong Richards: The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism. Edited and Introduced by W. Terrence Gordon. London 1994. Originalausg.: 1923. George Edward Moore: Wittgenstein’s Lectures in 1930 – 1933. In: PO: 45 – 114. Erstausg.: Mind 63 (1954): 1– 15 (Part I); Mind 63 (1954): 289 – 316 (Part II); Mind 64, (1955): 1– 27 (Part III); Mind 64, (1955): 264 („Two Corrections“). Oets Kolk Bouwsma: Wittgenstein: Conversations 1949 – 1951. Ed. with an introduction by J. L. Craft and Ronald E. Hustwit. Indianapolis. Philosophische Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 2. Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Bd. 4. Philosophical Occasions 1912– 1951. Hg. v. James Carl Klagge/Alfred Nordmann. Indianapolis/Cambridge 1993. Public and Private Occasions. Hg. v. James Carl Klagge/Alfred Nordmann. Lanham/Boulder u. a. 2003.

Siglenverzeichnis

PT

415

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Namenregister Abel, Günter 417, 419, 429 Abraham 354 Achilles 86Fn58 Ackerman, Robert A. 10, 42Fn36, 44Fn40, 60, 62Fn2, 63, 63Fn4, 110Fn113, 111Fn116, 114Fn121, 121Fn139, 138Fn181, 187Fn279, 207Fn321, 208Fn324 – 325, 324Fn36, 417 Adickes, Erich 372 Adonis 416 Aeneas 225 Afrika 70Fn26, 158 Agassi, Joseph 188Fn281 Alber, Martin 174Fn251, 417 Alexander, Thomas M. 421, 424 Alice (in Wonderland) 86Fn58, 88Fn63 Ambrose, Alice 274 – 276, 275Fn2, 284, 287, 288, 288Fn26, 290, 291Fn31, 296, 412, 417 Anahuac 214Fn333 Anderson, R. J. 417 Andronico, Marilena 13Fn19, 234Fn369, 238Fn379, 369Fn73, 417 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 305Fn1 Apel, Karl Otto 1Fn2, 417 Aricia 205, 206, 208, 213, 225, 225Fn358, 289 Aristoteles 89, 89Fn66 Armstrong, Ivor 414, 431 Arrington, Robert L. 366Fn64, 417, 423 Ascher, Maria Concetta 413 Asmuth, Christoph 419 Attis 416 Aue, Maximilian A. E. 404Fn28, 412 Augustinus, Aurelius 37Fn24, 106, 106Fn104 – 105, 133 – 135, 134Fn171, 255Fn416 Australasien 417 Australien 417 Averno 225 Ayer, Alfred Jules 15Fn24, 126Fn155, 155Fn214, 417 Babel 431 Babylon 46 Baker, Gordon Park 15Fn24, 52Fn53, 92Fn70, 104Fn98, 106Fn104, 107Fn106, 116Fn126, 193Fn288, 194Fn291, 195Fn296, 198Fn302,

205Fn316, 234Fn369, 237Fn378, 238Fn380, 239Fn382, 270Fn443, 329Fn44, 348Fn28, 350Fn29, 415, 417, 418 Balder 209, 209Fn326, 254Fn414, 401, 416 Baldwin, Thomas 429 Banner, Michael C. 126Fn155, 151Fn204, 152Fn208, 418 Banzi, Anthony 418 Barrett, Cyril 413 Bauer, Helen von 63Fn4 Beattie, John 128, 130, 165Fn237 , 166Fn237 , 188Fn281, 418 Bell, Richard H. 312Fn12 – 13, 418 Beltane 280, 286Fn23, 295, 295Fn37 – 38, 298, 299, 302, 306, 312 – 315, 312Fn12, 313Fn16, 314Fn18, 318, 320, 321, 325 – 327, 330 Benfey, Theodor 115Fn122 Benjamin, Walter 76Fn34, 418 Berg, Eberhard 218Fn343, 418 Bergemann, Fritz 421 Bergson, Henri-Louis 97Fn84, 124, 170, 170Fn243, 178, 418 Berkeley, Elizabeth M. 425 Berman, Donald 413 Bernardino de Sahagún 214Fn333 Besterman, Theodore 63Fn4, 418 Beth, Karl 173Fn250, 418 Biesenbach, Hans 418 Biggs, Michael A. R. 412, 430 Black, John Sutherland 44Fn40 Bloor, David 418 Blumenberg, Hans 244, 418 Boas, Franz 63, 122Fn142, 256Fn418, 321Fn28, 418 Boltzmann, Ludwig 4Fn7 , 6Fn11, 250, 270, 270Fn443, 418 Borneo 428 Bosanquet, R. G. 414 Boswell, James 400Fn8 Bourdieu, Pierre 20, 20Fn29, 21Fn31, 139Fn183, 241Fn385, 247Fn398, 418 Bouveresse, Jacques 3Fn6, 21Fn31, 32Fn17 , 329Fn44, 418, 419, 432 Bouwsma, Oets Kolk 414

Namenregister

437

Breithaupt, Fritz 234Fn369, 419, 429, 432 Broad, Charlie Dunbar 96Fn80, 184Fn272 Brosses, Charles de 54Fn58 Brusotti, Marco 2Fn3, 3Fn6, 5Fn7 – 8, 12Fn17 , 27Fn6 – 7 , 32Fn16 – 17 , 33, 42Fn35, 54Fn59, 55Fn60, 57Fn66, 63Fn7 , 66Fn16, 71Fn26, 81Fn47 , 94Fn75, 156Fn217 , 172Fn247 , 187Fn277 , 193Fn288, 194Fn292, 264Fn429 – 430, 265Fn432, 266Fn435 – 436, 268Fn440, 291Fn30, 328Fn42, 346Fn21, 350Fn31, 353Fn39, 359Fn49, 362Fn57 , 367Fn68, 419 Bulgarien 152Fn206 Bunyan, Paul 41Fn31 Burkhardt, Frederick H. 425 Burley, Mikel 10Fn15, 67Fn19, 419 Burnouf, Eugène 114Fn120 Burnyeat, Myles Fredric 106Fn104, 419 Butler, Joseph 285Fn21 Butlin, Martin 224Fn354, 419

Clack, Brian R. 3Fn6, 8Fn13, 15Fn24, 62Fn2, 105Fn101, 108Fn107 , 108Fn109, 126Fn155, 127Fn156, 128Fn156, 147Fn195, 173Fn248, 182Fn266, 193Fn288, 205Fn316, 312Fn12 – 13, 313Fn16, 420 Clifford, James 218Fn343, 420 Coates, John 269Fn440, 420 Comte, Auguste 54Fn58, 63Fn7 , 420 Conant, James 85Fn54, 371Fn74, 420 Connor, Steven 114Fn121, 420 Conrad, Joseph 218Fn342, 312Fn12, 434 Constable, John 431 Cook, James 185Fn275 Cook, John W. 118Fn132, 126Fn155, 149Fn201, 151Fn204, 166Fn237 , 179Fn259, 420 Cornford, Francis Macdonald 77Fn36, 421 Craft, Jimmy Lee 414 Crary, Alice 371Fn74, 420 – 422, 424 Cumae 225

Cambridge 3, 6, 24, 62Fn2, 77Fn36, 85Fn54, 124Fn147 , 174Fn251, 184Fn272, 236Fn374, 274Fn1, 275Fn3, 400, 400Fn10, 412, 414, 415, 417, 426, 433 Camporesi, Cristiano 114Fn120, 419 Canguilhem, Georges 54Fn58, 420 Cann, Kathleen 274Fn1, 420 Carnap, Rudolf 36, 39Fn28, 127, 430 Carroll, Lewis 86, 86Fn58, 88Fn63 Cassirer, Ernst 15Fn22, 68, 69Fn23, 90Fn68, 91Fn68, 97Fn82, 124, 152Fn207 , 237Fn379, 364Fn62, 420 Cavell, Stanley 32Fn17 , 371Fn74, 420 Cerbone, David R. 21Fn31, 371Fn74, 372Fn75, 375Fn81, 381Fn94, 420 Chanaan s. Kanaan Chase, Richard 187Fn279 Cherry, Christopher 420 Chesterton, Gilbert Keith 312Fn13 Churchill, John 46Fn45, 420 Cioffi, Frank 3Fn6, 12, 15Fn24 – 25, 40Fn30, 126Fn155, 171Fn246, 176Fn254, 184Fn273, 185Fn276, 186Fn276, 202Fn308, 202Fn310, 211, 221Fn349, 288Fn26, 302Fn50, 303Fn50, 312Fn12 – 13, 329Fn44, 420 Citron, Gabriel 274Fn1, 275Fn1, 412, 415, 433

Darwin, Charles Robert 250, 250Fn405, 251, 281, 286Fn23, 291 – 294, 291Fn31, 292Fn33 – 34, 297 – 302, 300Fn45, 301Fn47 , 421, 425 Das, Veena 13Fn19, 421 David 354Fn42 Davidson, Donald 6Fn10, 152Fn208, 336Fn5, 421, 423 De Heusch, Luc 254Fn412, 425 De Martino, Ernesto 65Fn11, 421 De Pellegrin, Enzo 433 Deiphobe 225 Deloch, Heinke 10Fn15, 421 Descartes, René 420 Deutschland 44Fn40, 152Fn207 , 398Fn3 Dewey, John 11Fn16, 124, 421, 431 Diamond, Cora 85Fn54, 380Fn92, 414, 421 Diana 96Fn82, 148, 205, 206, 212, 213, 224Fn355 Dietrich, Ute 419 Dilthey, Wilhelm 122, 122Fn141, 421 Douglas, Mary 77Fn38, 124Fn148, 153Fn209, 158Fn224, 170Fn242, 212Fn330, 247Fn398, 421 Downie, Robert Angus 62Fn2, 120Fn136, 218Fn342, 256Fn419, 324Fn36, 417, 421 Dreckmann, Frank 386Fn107 , 421 Drury, Maurice O’Connor 37Fn24, 50Fn50, 55, 57Fn68, 58Fn70, 62, 83Fn51, 118, 125, 128 –

438

Namenregister

131, 128Fn157 – 158, 129Fn159, 148, 149, 153Fn209, 156, 156Fn217 – 218, 157, 169Fn241, 172Fn247 , 190Fn283, 195, 204, 204Fn314 – 315, 205Fn316, 209Fn326, 212Fn332, 213Fn333, 214Fn333 – 334, 221, 222Fn352, 224 – 226, 225Fn358, 253, 258Fn421, 269Fn441, 311Fn10, 312Fn13, 365, 399 – 401, 399Fn8, 400Fn8 – 9, 413, 414, 421, 424 Dublin 50Fn50, 128, 253, 399Fn8, 421 Durkheim, Émile 65Fn10, 121, 121Fn140, 123, 123Fn145, 159, 256Fn419, 364Fn62, 421 Durt, Christoph 2Fn3, 421 Dyak 152Fn206 Ebbs, Gary 366Fn64, 421 Eccles, William 412 Eckermann, Johann Peter 59Fn71, 421 Edwards, Gilbert Harris 132Fn168 Einstein, Albert 352Fn37 , 427 Eldridge, Richard Thomas 193Fn288, 421 Eliade, Mircea 179Fn260 Eliot, Thomas Stearns 218Fn342 Else (Die kluge Else) 321, 321Fn30 Emerson, Ralph Waldo 420 Engelmann, Mauro Luiz 2Fn3, 3Fn4, 6Fn11, 76Fn34, 339Fn7 – 8 – 9, 344Fn17 , 345Fn19, 421 Engelmann, Paul 412, 413 England 44Fn40, 63, 120 Ernst, Paul 5, 31, 82Fn50, 91 – 93, 92Fn70, 95, 104Fn98, 107, 107Fn106, 109, 111Fn115, 112 – 118, 112Fn117 , 113Fn118, 115Fn122 – 123, 116Fn126, 117Fn129 – 130, 120, 242, 244 – 247, 244Fn394, 307Fn4, 310, 354Fn41, 355 – 357, 355Fn46, 364Fn62, 405, 421, 424, 425, 427, 428, 431 Europa 60, 66, 67Fn18, 110Fn113, 115Fn122, 212Fn329, 214Fn333, 295, 296, 304, 305, 310, 383, 401, 416, 419 Evans-Pritchard, Sir Edward 53Fn57 , 56, 57Fn64 – 65, 60, 60Fn72, 63Fn5, 66Fn14, 67, 67Fn18, 67Fn20, 71Fn27 , 118Fn132, 122 – 124, 122Fn142, 123Fn143, 123Fn145 – 146, 124Fn148 – 149, 130Fn162, 138Fn180, 139Fn183, 147Fn197 , 149Fn201, 150Fn202, 151Fn204, 153, 154Fn210, 155Fn213, 155Fn216, 158Fn223, 159, 159Fn226, 165, 165Fn234, 170Fn245, 171Fn245, 178Fn256,

178Fn259, 186Fn276, 188, 188Fn281, 254Fn412, 256, 364, 364Fn61 – 62, 422, 429, 433 Ewing, Alfred Cyril 132Fn168 Fabian, Johannes 67Fn20, 422, 423 Fann, Kuang Tih 421, 422, 428 Faulkner, William 218Fn342 Ferber, Rafael 5Fn7 , 422 Fichte, Hubert 12 Ficker, Ludwig von 412 Figl, Johann 295Fn37 , 419, 422 Findlay, John Niemeyer 329Fn45 Firth, Raymond William 350Fn31, 351Fn35, 352Fn37 , 422, 429 Fitzgerald, Michael 413 Flaherty, Robert Pearson 314Fn19, 422 Fleck, Ludwik 180Fn263, 357, 422 Flowers, F. A. III 422 Floyd, Juliet 193Fn288, 276Fn4, 422 Fontenelle, Bernard 54Fn58 Fortes, Meyer 158Fn224, 254Fn412, 422 Frankreich 54Fn58‚ 124 Fraser, Robert 63Fn4, 63Fn7 , 208Fn325, 218Fn342, 224Fn354, 255Fn416, 420, 422, 431 Frazer, Sir James George 1 – 19, 2Fn4, 3Fn6, 8Fn12, 11Fn16, 12Fn18, 15Fn23, 15Fn25, 21 – 23, 30, 32Fn17 , 33, 34, 36, 38, 38Fn25, 40 – 45, 42Fn36, 43Fn36 – 37 , 44Fn40, 47 – 51, 52Fn52, 52Fn54, 54 – 58, 58Fn70, 59 – 75, 61Fn75, 62Fn2 – 3, 63Fn4 – 5, 63Fn7 , 64Fn – 9, 65Fn10 – 11, 66Fn13 – 14, 67Fn17 – 18, 69Fn22, 70Fn26, 71Fn27 , 74Fn32, 75Fn32, 77 – 79, 77Fn36 – 37 – 38, 81 – 83, 81Fn47 , 82Fn50, 85, 88 – 90, 88Fn63, 93 – 95, 95Fn78, 96Fn82, 97 – 101, 97Fn85, 98Fn86, 100Fn90, 103Fn97 , 105 – 127, 105Fn101, 107Fn106, 108Fn107 – 108 – 109, 109Fn111 – 112, 110Fn113, 111Fn115, 114Fn121, 116Fn127 – 128, 117Fn130, 120Fn135 – 136, 121Fn138, 122Fn142, 124Fn149, 126Fn155, 128Fn157 , 129 – 131, 133 – 135, 134Fn173, 135Fn175, 136Fn175, 137 – 140, 138Fn181 – 182, 142, 142Fn188, 143, 145Fn193, 146 – 164, 150Fn202, 152Fn206, 153Fn209, 155Fn213, 155Fn215 – 216, 157Fn221, 158Fn223 – 224, 163Fn230 – 231, 165Fn236 – 237 , 166, 169, 170, 171Fn246, 172 – 176, 173Fn248 – 249, 174Fn251 – 252, 178Fn257 – 258, 179 – 182, 179Fn261, 182Fn269, 185, 185Fn265, 186Fn276, 187 – 191,

Namenregister

187Fn279, 193, 195, 197, 199, 201 – 213, 202Fn310, 204Fn315, 205Fn316, 207Fn321, 208Fn325, 209Fn326, 210Fn328, 211Fn329, 212Fn330 – 331 – 332, 213Fn333, 214Fn333, 216 – 219, 218Fn342, 221 – 227, 222Fn352, 223Fn353, 224Fn354, 224Fn356, 225Fn357 – 358, 229 – 234, 229Fn362, 234Fn367 , 235Fn372, 237Fn377 , 238, 242, 243, 245, 246, 247Fn398, 248, 250, 250Fn405, 253 – 264, 254Fn412 – 413, 255Fn416, 256Fn417 , 256Fn419, 258Fn421, 271Fn445, 272 – 276, 274Fn1, 275Fn2 – 3, 277Fn9, 280 – 291, 281Fn14, 286Fn23 – 24, 289Fn28, 290Fn29, 293 – 299, 295Fn36 – 37 – 38, 299Fn44, 301 – 303, 301Fn47 , 303Fn50, 305Fn1, 306 – 321, 307Fn4, 308Fn5, 310Fn8, 311Fn10, 313Fn16, 319Fn24 – 25, 321Fn28, 323Fn33, 324 – 326, 324Fn36, 328, 329Fn44 – 45, 330 – 335, 332Fn1, 336Fn5, 340, 343, 347, 348, 348Fn26, 350Fn30, 351, 351Fn36, 355, 355Fn45, 356, 358 – 361, 359Fn51, 360Fn51 – 52, 363, 363Fn59, 364Fn62, 367Fn66, 368, 368Fn71, 371, 379, 381, 381Fn94, 383, 384, 386, 386Fn105, 389, 390Fn114, 398, 398Fn4, 399Fn4, 399Fn7 – 8, 400 – 407, 400Fn9 – 10, 401Fn12, 403Fn26, 405Fn30, 409, 411, 413, 416 – 422, 424 – 428, 430 – 435 Frege, Friedrich Ludwig Gottlob 1Fn1, 4Fn7 , 11, 38, 39Fn27 , 81, 164Fn232, 196, 332 – 334, 335Fn4, 372, 372Fn75, 372Fn77 , 373, 378, 378Fn89, 381, 382, 417, 420, 422 French, Peter A. 425 Fretlöh, Sigrid 10Fn15, 308Fn6, 398Fn1, 423 Freud, Sigmund 104, 104Fn98, 106, 135Fn175, 136Fn175, 170, 174, 174Fn252, 218Fn342, 247Fn398, 276, 280Fn13, 281, 281Fn14, 299, 301, 301Fn47 , 304, 310Fn8, 319Fn24, 328, 329, 329Fn44 – 45, 330Fn47 , 363Fn59, 384, 420, 423, 425, 427, 428 Frobenius, Leo 70Fn26, 265 Fuchs, Martin 218Fn343, 418 Futterknecht, Veronica 419 Gabriel, Gottfried 244Fn393, 423 Galton, Francis 235 – 237, 235Fn372 – 373, 236Fn374 – 375, 239, 266, 266Fn436, 267Fn438, 423

439

Gargani, Aldo Giorgio 280Fn13, 329Fn44, 423, 429 Gebauer, Gunter 3Fn4, 3Fn6, 11Fn16, 16Fn26, 20Fn29, 71, 423 Geertz, Clifford James 13Fn19, 60, 60Fn73 – 74, 122Fn142, 124, 159Fn226, 203, 216, 218Fn343, 423, 424 Gellner, Ernest 1Fn2, 350Fn31, 351Fn36, 423 Gillen, Francis James 256, 364Fn62 Ginzburg, Carlo 15Fn23, 368, 423 Glock, Hans-Johann 366Fn64, 391Fn117 , 417, 423 Goethe, Johann Wolfgang von 5, 14, 15Fn22, 16, 25, 27, 31, 59, 197, 198, 227Fn360, 228Fn360, 234 – 240, 234Fn369 – 370, 236Fn375, 237Fn377 – 378 – 379, 238Fn379, 239Fn382, 241Fn385, 242, 244, 244Fn393, 246, 248 – 251, 250Fn403, 250Fn405, 251Fn407 , 259, 261, 261Fn423, 264, 264Fn430, 265, 267Fn438, 271, 298 – 301, 299Fn43 – 44, 300Fn45, 318, 319Fn24, 328, 346, 348, 348Fn26, 419 – 421, 423 – 425, 429, 432, 434 Goldenweiser, Alexander A. 363Fn59, 424 Golgatha 207Fn321, 324 Gombrich, Ernst H. 368Fn72, 424 Goppelsröder, Fabian 16Fn26, 423 Gordon, Terrence W. 414 Gramsci, Antonio 2Fn4, 433 Greifeld, Katarina 180Fn263, 424 Grelling, Kurt 432 Griesecke, Birgit 13Fn19, 234Fn369, 238Fn379, 241Fn385, 251Fn409, 424 Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm 92Fn70, 114, 115Fn122, 321Fn30, 378, 378Fn90, 421, 424 Großbritannien 62Fn3, 124, 212 Gurwitsch, Aron 244Fn391 Hacker, Peter Michael Stephan 3Fn6, 15Fn24, 26Fn5, 29Fn8, 39Fn26, 42Fn36, 43Fn36, 76Fn34, 85Fn54, 92Fn70, 106Fn104, 107Fn106, 116Fn126, 126Fn155, 176Fn254, 193Fn288, 194Fn291, 199Fn305, 202Fn308, 234Fn367 , 234Fn369, 237Fn378, 239Fn381 – 382, 241Fn385, 270Fn443, 287Fn25, 288Fn26, 315Fn20, 317Fn23, 366Fn64, 418, 424 Haddon, Alfred Cort 174Fn251 Haeckel, Ernst Heinrich 250Fn405, 299

440

Namenregister

Haller, Rudolf 5Fn7 , 264Fn430, 424 Hallett, Garth L. 237Fn378, 424 Hänsel, Ludwig 25Fn2, 26Fn3, 43Fn36, 415 Hark, Michel ter 76Fn34, 387Fn108, 424 Harré, Rom 415 Harrison, Jane 187Fn279 Haverkamp, Anselm 425 Hayes, John 128Fn258, 424 Hegselmann, Rainer 429 Heidegger, Martin 47Fn46, 430 Hellerer, Heinz Otto 424 Helmholtz, Hermann von 425 Henderson, David 13, 281, 425 Hertz, Heinrich 4Fn7 , 199 – 202, 199Fn305, 222, 222Fn351, 223, 258, 270Fn443, 311Fn11, 425, 426 Hertzberg, Lars 425 Hesiod 63Fn7 Hickman, Larry A. 421 Hilmy, Stephen S. 29Fn9, 76Fn34, 79Fn41 – 42, 194Fn293, 235Fn372, 266Fn434 – 435, 268Fn440, 269Fn440, 425 Hintikka, Jakko 6Fn11, 425, 426, 431 Hintikka, Merrill B. 6Fn11, 425 Hocart, Arthur Maurice 5Fn8 Hödl, Hans Gerald 419 Hofmann, Werner 434 Hollis, Martin 425 Hrachovec, Herbert 428 Hubert, Henri 65Fn10, 121, 124Fn149, 170Fn242, 180, 180Fn263, 425 Hübscher, Paul 92Fn70, 234Fn369, 425 Hughes, John A. 417 Hume, David 44Fn40, 54Fn58, 78 Husserl, Edmund 6Fn11, 124, 244, 244Fn390 – 391, 425 Hustwit, Ronald E. 414 Hyder, David 199Fn305, 425 Hyman, Stanley Edgar 218Fn342, 425 Iacono, Alfonso Maurizio 5Fn7 , 193Fn288, 425 Indien 115Fn122 Israel 5, 42, 42Fn36, 69, 107Fn106, 110Fn113, 113Fn119, 354 – 357, 354Fn42 – 43, 431 Iven, Mathias 413

Jacquette, Dale 425 Jakobson, Roman 247Fn398, 425 James, William 11, 120, 120Fn135 – 136, 121, 124Fn147 , 131 – 133, 131Fn164 – 165, 132Fn166, 173Fn249, 188Fn282, 425 Janik, Allan 422 Japan 424 Jarvie, Ian C. 188Fn281 Jaspers, Karl 280Fn13, 425 Jeans, Sir James Hopwood 57, 57Fn66, 57Fn68, 58, 60, 321Fn30, 426 Jesi, Furio 426 Jesus 43Fn36, 207Fn321, 324 Johnston, Paul 426 Joll, Evelyn 224Fn354, 419 Joyce, James 218Fn342 Jukundus 433 Jupiter 53Fn56 Kanaan 354Fn42 Kant, Immanuel 420 Kanzian, Christian 10Fn15, 421, 426, 427 Kegan Paul 350Fn30 Keller, Gottfried 172Fn247 , 367Fn68 Kellerwessel, Rolf 426 Kenny, Anthony 426 Keynes, John Maynard 412, 420 Kienzler, Wolfgang 3Fn4, 5Fn7 , 6Fn11, 25Fn2, 29Fn8, 244Fn393, 267Fn438, 339Fn7 , 372Fn76, 402Fn21, 404Fn28, 426 Kierkegaard, Sören Aabye 26Fn3, 35, 35Fn20 – 21, 37, 47Fn46, 323 King, John 412, 414 Kippenberg, Hans G. 425 Kjaergaard, Peter C. 199Fn305, 426 Klagge, James Carl 1Fn1, 32Fn17 , 40Fn30, 272Fn447 , 414, 426 Kober, Michael 383Fn96, 426 Kohl, Karl-Heinz 67Fn20, 426 König, Ekkehard 426, 432 Kopernikus, Nikolaus 300 Koritensky, Andreas 37Fn24, 40Fn30, 46Fn45, 151Fn205, 305Fn1, 312Fn12, 400Fn9, 401Fn12, 402Fn21, 426 Kramer, Fritz W. 13Fn19, 244Fn392, 368, 426 Krämer, Sybille 426, 432 Kraus, Karl 4Fn7

Namenregister

Kremberg, Bettina 234Fn369, 419, 429, 432 Kross, Matthias 143Fn190 Künne, Wolfgang 92Fn70, 108Fn107 , 115Fn123, 117Fn130, 427 Kuper, Adam 67Fn20, 208, 363Fn59, 427, 431 Kusch, Martin 352Fn37 , 427 Lampert, Timm 195Fn296, 427 Lang, Andrew 65Fn10, 114Fn121 Langer, Susanne 170Fn243, 186Fn276, 187 – 189, 187Fn278 – 279, 427 Lara, Philippe de 3Fn6, 122Fn142, 125Fn154, 126Fn155, 147Fn195, 154Fn210, 155Fn215, 159Fn226, 163Fn231, 179Fn260, 188Fn281, 332Fn1, 427 Latour, Bruno 63, 427 Laugier, Sandra 418, 419 Lawrence, David Herbert 218Fn342, 429 Lazarus, Moritz 70Fn26 Leach, Edmund Ronald 62Fn2, 254Fn412, 256Fn417 , 314Fn18, 427 Lear (King Lear) 285Fn21 Lee, Desmond 412, 414 Lehmann, Johannes Edvard 170Fn242 Leinfellner, Elisabeth 427 Lerner, Berel Dov 109Fn112, 427 Leuba, James Heny 122, 427 Lévi-Strauss, Claude 67, 139Fn183, 247Fn398, 363Fn59, 427 Lévy-Bruhl, Lucien 60, 60Fn72, 65Fn10, 67Fn17 – 18, 68, 69Fn22, 97Fn82, 97Fn84, 121Fn140, 122Fn142, 123, 123Fn144, 155Fn216, 156, 156Fn219, 163, 163Fn230 – 231, 174Fn251, 204Fn315, 244, 244Fn390 – 391, 321Fn28, 364Fn62, 381Fn94, 422, 425, 427 Lichtenberg, Georg Christoph 86Fn58, 320Fn27 , 427, 429 List, Elisabeth 427 Löffler, Winfried 419 Logan, Peter Melville 427 London 62Fn2, 224Fn354, 225Fn358 Loos, Adolf 4Fn7 Lubbock, Sir John (Lord Avebury) 62Fn3, 66Fn12 Luchesi, Brigitte 426 Luckhardt, Grant C. 404Fn28,, 412, 417, 427, 430

441

Lukes, Steven 425 Lütterfelds, Wilhelm 10Fn15, 424, 427, 430 Macaulay, Thomas Babington 225, 225Fn358, 226 Macdonald, Francis 421 Macdonald, Margaret 412 Mach, Ernst 12Fn17 , 43, 125Fn154, 196, 196Fn297 , 201, 202, 241Fn386, 351Fn36, 427, 429, 434 Macho, Thomas 426 Macmillan, George A. 207Fn321, 208Fn325, 234Fn367 , 254Fn413 Madagaskar 416 Mainberger, Sabine 312Fn13, 427 Majetschak, Stefan 2Fn3, 3Fn6, 16Fn26, 92Fn70, 193Fn288, 261Fn423, 280Fn13, 329Fn44, 403Fn24, 404Fn26, 404Fn28, 426 – 428 Malaysia, malayisch 135Fn175 Malcolm, Norman 272Fn447 , 329Fn45, 414, 428 Malinowski, Bronislaw 5, 5Fn8, 20, 21, 63, 71Fn27 , 76, 76Fn35, 77Fn38, 122Fn142, 124, 124Fn148, 147Fn197 , 150Fn202, 156, 156Fn220, 157, 159, 159Fn226, 165, 165Fn237 , 170, 170Fn242, 181, 181Fn265, 186Fn276, 218, 346, 348, 350 – 353, 350Fn31 – 32, 351Fn35 – 36, 365, 371, 396, 422, 423, 428, 429, 434 Mannhardt, Wilhelm 100Fn90, 255, 306, 308 – 310, 360Fn51 Marcus, George E. 218Fn343, 420 Marett, Robert Ranulf 5, 5Fn8, 44Fn40, 64, 65Fn10, 121, 122Fn142, 123, 124, 124Fn147 – 148 – 149, 130Fn162, 139, 139Fn183, 147Fn197 , 156, 159, 171Fn246, 173, 173Fn249, 174Fn251, 182Fn269, 184Fn273, 186Fn276, 187, 187Fn279, 188Fn279, 188Fn282, 203, 208, 208Fn323, 242, 255Fn415, 266, 266Fn436, 323Fn33, 360, 360Fn52, 428 Margalit, Avishai 3Fn6, 428 Marjanović, Alexandra 3Fn4, 428 Marx, Karl 2Fn4, 425, 426 Mauss, Marcel 65Fn10, 121, 124Fn149, 170Fn242, 180, 180Fn263, 203, 425 Mays, Wolfe 350Fn31, 428 McDougall, William 124Fn147 , 174, 174Fn251, 428 McDowell, John 428

442

Namenregister

McGuinness, Brian 2, 3Fn4, 5Fn7 , 6Fn9, 80Fn43, 174Fn251, 275Fn3, 329Fn44, 339Fn7 , 350Fn29, 412, 413, 415, 416, 423, 428, 429, 433 McLennan, John Ferguson 62Fn3, 363Fn59 Mecklenburg 100Fn90 Meinong, Alexius 39Fn27 , 334 Mellor, David Hugh 431 Merleau-Ponty, Maurice 244, 244Fn390, 429 Merten, Victor 60Fn72, 122Fn142, 124Fn148, 154Fn210, 155Fn216, 159Fn225, 429 Mexiko 213Fn333, 214Fn333 Miles, A. C. 413 Mithras 53Fn56 Mohrs, Thomas 10Fn15, 427 Monk, Ray 2Fn3, 237Fn378, 251Fn409, 429 Moore, George Edward 4, 11, 17, 148, 274 – 277, 274Fn1, 275Fn1 – 2, 276Fn4 – 5, 277Fn8, 279, 280Fn12, 282, 284, 284Fn19 – 20 – 21, 286Fn23, 287, 288, 288Fn26, 289Fn27 , 290, 290Fn29, 291Fn31, 292Fn32, 294Fn35, 295Fn38, 297, 297Fn40 – 41, 298, 298Fn42, 299Fn43, 302, 302Fn50, 303, 303Fn50, 312, 313, 387Fn111, 411Fn1, 412, 414, 420, 429, 431, 433 Morgan, Lewis Henry 62Fn3 Morley, John 400Fn8 Morse, Frances Rollins 120Fn135, 131Fn165 Mounce, Howard O. 10Fn15, 118Fn132, 126Fn155, 312Fn13, 419, 429 Mühlhölzer, Felix 193Fn288, 429 Müller, Johannes 271 Müller, Max Friedrich 5, 44Fn40, 59, 94, 96Fn82, 97Fn82, 111, 111Fn116, 113, 114, 114Fn120 – 121, 115Fn123, 355Fn45, 419, 432 Müller-Tamm, Jutta 427 Murray, Gilbert 187Fn279 Musil, Robert 29, 423 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich Baron von 334 – 335 Myers, Charles Samuel 5Fn8, 174Fn251, 429 Nadel, Siegfried Frederick 124Fn148, 156Fn220, 157Fn220, 181Fn265, 429 Nähr, Moritz 236, 236Fn374 Nedo, Michael 3Fn6, 236Fn374, 275Fn3, 399Fn4 – 5, 400Fn10, 402Fn19, 402Fn21, 404Fn27 – 28, 415 – 417, 419, 429

Needham, Rodney 3Fn6, 13Fn19, 146Fn194, 235Fn373, 244Fn392, 247, 257Fn420, 314Fn19, 318, 321, 369, 369Fn73, 429 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 237Fn379 Nemi 34, 42Fn36, 110Fn113, 139, 202, 205Fn317 , 206, 207, 207Fn321, 209, 210, 211Fn329, 217, 219, 223 – 225, 224Fn355 – 356, 229, 231, 232, 234, 289, 298Fn42, 310, 312, 323Fn33, 386, 431 Neuguinea 417, 428 Neumer, Katalin 10Fn15, 429, 432 Neurath, Otto 5Fn7 , 12Fn17 , 26, 26Fn4 – 5, 27, 27Fn6, 33, 59, 66Fn16, 81Fn47 , 134Fn173, 188, 188Fn280, 194Fn292 – 293, 195Fn294, 265, 265Fn432, 419, 429 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 32, 32Fn16, 244, 266, 266Fn436, 291Fn30, 419, 428, 430 Nordmann, Alfred 237Fn378, 414, 426, 429 Nyíri, J. Christoph 92Fn70, 244Fn394, 307Fn4, 429, 431 Nyman, Heikki 414, 415 O’Hara, Charles Willibrord 350Fn32, 367, 367Fn71, 368 O’Keefe, Daniel Lawrence 182Fn267 , 188Fn281, 429 Oedipus 422 Ogden, Charles Kay 5, 7, 8, 42, 44Fn39, 76 – 79, 76Fn34 – 35, 77Fn36 – 37 – 38, 78Fn40, 79Fn41 – 42, 81, 81Fn47 , 82, 88, 88Fn64, 105Fn101, 109Fn111, 111Fn115, 119, 160Fn228, 165, 170, 171Fn245, 293, 346, 350, 351, 412, 414 Orsucci, Andrea 80Fn43, 430 Orzechowski, Andrzej 398Fn2, 402Fn18, 404Fn29, 430 Osiris 416 Österreich 400 Otto, Rudolf 173, 174, 179Fn260, 361Fn55, 430 Ovid 225Fn358, 430 Oxford 124Fn147 , 242, 349Fn29 Ozeanien 417 Pareto, Vilfredo 122Fn142, 151Fn204, 422 Pascal, Fania 88Fn65, 430 Paul, Denis 6Fn11, 430 Pausanias 256

Namenregister

Pavlov, Ivan 78 Peirce, Charles Sanders 78, 78Fn40, 394 Petzoldt, Leander 430 Pfersmann, Otto 413 Phillips, Dewi Zephaniah 3Fn6, 43Fn37 , 53Fn57 , 81Fn48, 109Fn112, 118, 118Fn132 – 133, 119Fn134, 123Fn145 – 146, 126Fn155, 129Fn159, 130Fn162, 139Fn183, 151Fn204, 169Fn241, 171Fn246, 178, 178Fn258 – 259, 179, 181Fn266, 182Fn266, 182Fn269, 190Fn283, 205Fn316, 214Fn334, 215Fn334, 312Fn13, 430, 431 Piaget, Jean 174, 174Fn252, 175, 430 Pichler, Alois 348Fn26 – 27 , 398Fn2, 401Fn17 , 402Fn18, 404Fn29, 412, 428, 430 Platon 94, 102, 106, 383 Plaud, Sabine 5Fn7 , 383Fn96, 430 Polynesien, polynesisch 185Fn275 Popper, Sir Karl Raimund 155Fn215 Poser, Hans 419 Prescott, William Hickling 213Fn333, 214Fn333, 400Fn8, 430 Preuss, Konrad Theodor 44Fn40, 152Fn207 , 173, 187Fn279 Prezzolini, Giuseppe 428 Psichari, Henriette 431 Puhl, Klaus 193Fn288, 329Fn44, 430 Pupin, Michael 433 Putnam, Hilary 76Fn34, 301Fn47 , 392Fn119, 430 Quine, Willard Van Orman 6Fn10, 164Fn232, 336Fn5, 366Fn64, 381Fn94, 417, 423, 430 Raatzsch, Richard 234Fn369, 379Fn91, 392Fn118, 419, 429, 430, 432 Radcliffe-Brown, Alfred Reginald 63, 123Fn146, 124, 124Fn149, 130Fn162, 178Fn256, 431 Radin, Paul 431 Raffael 267Fn438 Ramharter, Esther 419, 427, 430, 431, 434 Ramsay, John 295Fn38 Ramsey, Frank Plumpton 18, 26, 26Fn5, 27, 84Fn52, 195Fn295, 372Fn75, 412, 431 Ranchetti, Michele 429 Ranke, Leopold von 52Fn54 Read, Rupert 420 – 422, 424, 431 Redding, Paul 15Fn24 – 25, 126Fn155, 202Fn310, 431

443

Redpath, Theodore 277Fn9, 431 Rees, Tobias 13Fn19, 244Fn392, 426 Regillus lacus 225, 225Fn358 Renan, Ernest 5, 9, 12, 30, 42 – 46, 42Fn36, 43Fn36, 44Fn40, 45Fn41, 48 – 61, 53Fn55 – 56, 54Fn58, 56Fn62, 68, 69, 96Fn81, 98Fn85, 114Fn120, 202, 214Fn333, 271Fn445, 287, 354 – 356, 354Fn42 – 43 – 44, 355Fn46, 358, 403, 403Fn26, 416, 417, 419, 431 Rétat, Laudyce 43Fn36, 431 Rhees, Rush 2Fn3, 3, 3Fn6, 8Fn13, 21Fn31, 53Fn54, 80Fn45, 81Fn48, 92Fn70, 99Fn87 , 107Fn106, 109Fn112, 118, 128Fn158, 165Fn236, 182Fn269, 214Fn334, 215Fn334, 219Fn344, 226, 230, 236Fn376, 305Fn1, 316Fn22, 345Fn20, 356Fn47 , 398, 399, 399Fn6 – 7 , 400Fn9, 401Fn16, 404Fn29, 405Fn29, 411, 413, 414, 430, 431 Richards, David 5, 7, 8, 42, 76 – 79, 76Fn34 – 35, 77Fn36 – 37 – 38, 78Fn40, 79Fn41 – 42, 81, 81Fn47 , 82, 88, 88Fn64, 105Fn101, 109Fn110 – 111, 111Fn115, 119, 160Fn228, 165, 170, 171Fn245, 293, 346, 350, 350Fn30, 351 Richards, Ivor Armstrong 414, 431 Rivers, William Halse 121, 174Fn251 Rogers, Brian 274Fn1, 275Fn1, 414, 433 Rom 120Fn136, 206, 225Fn358 Rosat, Jean-Jacques 418, 419 Roser, Andreas 10Fn15, 427, 430 Rossi-Landi, Ferruccio 3Fn4, 382, 431 Rothhaupt, Josef G. F. 2Fn3, 3Fn6, 5Fn7 – 8, 6Fn11, 35Fn20, 43Fn36, 74Fn31, 92Fn70, 99Fn89, 174Fn251, 193Fn288, 228Fn360, 234Fn369, 235Fn371 – 372, 236Fn374, 237Fn378, 238Fn379, 261Fn423, 270Fn443, 274Fn1, 305Fn1, 350Fn31, 351Fn36, 352Fn37 , 382Fn95, 399Fn4, 401Fn12, 403Fn24 – 25 – 26, 404Fn26, 404Fn28 – 29, 409, 411, 413, 419, 426, 427, 431, 432 Rowe, Mark W. 234Fn369, 237Fn378, 432 Rudich, Norman 3Fn6, 12, 15Fn24, 126Fn155, 202Fn308, 432 Ruhr, Mario von der 415 Rumpelstilzchen 88, 182Fn266 Runggaldier, Edmund 10Fn15, 421, 426, 427 Russell, Bertrand Arthur William 1Fn1, 4Fn7 , 7, 8, 11, 18, 26, 43, 62Fn2, 78Fn40, 79Fn41 – 42,

444

Namenregister

86Fn56, 102Fn96, 167, 196, 220Fn347 , 320, 331, 412, 424, 432 Ryle, Gilbert 13Fn19, 19, 203 Sachs, David 432 Salehi, Djavid 10Fn15, 424, 427 Sapir, Edward 5Fn8, 352Fn37 Savigny, Eike von 106Fn104, 415, 421, 423, 424, 430, 432 Schaelsky, E. 431 Schiller, Johann Christoph Friedrich 235, 237, 237Fn378 – 379, 238, 238Fn379, 251, 251Fn408, 271, 319Fn24 Schlick, Moritz 36, 39Fn28, 253, 346, 400Fn10, 432, 433 Schmidgen, Henning 427 Schmidt, Wilhelm 122, 122Fn142, 123Fn143, 432 Schneider, Hans Julius 20Fn30, 432 Scholz, Oliver R. 421, 423, 424, 430, 432 Schopenhauer, Arthur 4Fn7 , 30Fn13, 105, 132Fn166, 135Fn175, 270Fn445, 271Fn445 Schottland 306 Schrempp, Gregory 114Fn121, 432 Schubert, Franz 133Fn170, 245 Schulte, Joachim 6Fn9, 44Fn38 – 39, 45Fn43, 80Fn43, 136Fn178, 234Fn369, 237Fn378, 239Fn382, 264Fn430, 267Fn438, 312Fn12, 336Fn5, 356Fn47 , 366Fn64, 383Fn96, 411, 415, 423, 432, 433 Schutz, Alfred 118Fn132 Schweizer, Monica 2, 3Fn4, 4Fn7 , 433 Schweppenhäuser, Hermann 418 Searle, John 391Fn117 Sedmak, Clemens 6Fn11, 336Fn5, 404Fn28, 433 Seekircher, Monika 416 Sen, Amartya 433 Servius 225, 225Fn357 Sharrock, William W. 417 Sibylle s. Deiphobe 225 Simmel, Georg 187Fn279 Skinner, Francis 400Fn8 Skorupski, John 154Fn210, 155Fn215, 171Fn245, 433 Skrupskelis, Ignas K. 425 Sluga, Hans 426, 433 Smith, Adam 54Fn58,

Smith, Jonathan Z. 12, 207Fn320, 208Fn323 – 324, 209Fn326, 225Fn357 – 358, 255Fn415, 308Fn5, 433 Smith, Robertson 44Fn40, 111Fn116, 123Fn146, 360, 363Fn59 Smythies, Yorick 300Fn46, 413, 414 Sol 53Fn56 Somavilla, Ilse 411, 413, 415 Sophie von Sachsen 423 Soulez, Antonia 270Fn443, 433 Soulez, Philippe 425 Spencer, Herbert 63Fn7 , 111, 111Fn116, 114Fn121, 256, 321Fn28, 355, 355Fn45 – 46, 358, 433 Spencer, Sir Walter Baldwin 64Fn9, 364Fn62, Spengler, Oswald 4, 4Fn7 , 5, 5Fn7 , 6Fn9, 11, 14, 15Fn22, 24, 25, 25Fn2, 27 – 33, 27Fn6, 29Fn8 – 9 – 10, 30Fn13, 32Fn16 – 17 , 43Fn36, 46Fn44, 48Fn48, 49Fn49, 53Fn56, 56Fn62, 61, 69Fn23, 70, 70Fn26, 71Fn26, 80Fn43, 98Fn86, 133, 137, 146, 179, 193, 194, 216, 220, 250Fn404 – 405, 256Fn418, 264 – 273, 264Fn430, 265Fn432, 266Fn434 – 435, 267Fn437 – 438 – 439, 268Fn440, 269Fn441, 270Fn445, 271Fn445 – 446, 273Fn448, 300, 300Fn45, 319Fn24, 347, 383, 393, 396, 415, 419, 422, 424 – 426, 429, 430 Sraffa, Piero 2, 2Fn3 – 4, 4, 4Fn7 , 5, 5Fn7 , 6Fn9, 21 – 23, 40, 41Fn33, 195, 332, 335 – 338, 339Fn7 , 339Fn9, 340, 341, 341Fn11, 343, 344, 348Fn26, 350Fn31, 353, 382, 412, 421, 429, 433, 434 Stanley, Jason 13Fn19, 19, 433 Starobinski, Jean 281Fn13, 433 Stassen, Manfred 3Fn6, 12, 15Fn24, 126Fn155, 202Fn308, 432 Stein, Charlotte von 251 Steinen, Karl von den 364Fn62 Steiner, Franz Baermann 185Fn275, 433 Steinthal, Heymann 70Fn26 Stern, David G. 6Fn10 – 11, 61Fn75, 228Fn360, 263Fn426, 274Fn1, 275Fn1, 399Fn4, 403Fn24, 404Fn27 , 412, 426, 433 Stocking, George W. Jr. 42Fn35, 62Fn3, 63Fn4, 64Fn9, 65Fn11, 68, 95Fn78, 105Fn101, 114Fn120 – 121, 121Fn138, 138Fn181, 139Fn183, 171Fn246, 207Fn320, 208, 208Fn325, 218, 242Fn387 , 254Fn414, 281Fn14, 292Fn34, 350Fn33, 351Fn34, 351Fn36, 352Fn37 , 355Fn45, 364Fn62, 433 Strabon 225Fn357

Namenregister

Stroll, Avrum 136Fn178, 433 Stroud, Barry G. 371Fn74, 433 Südindien 207 Sundholm, Göran 423, 433 Syamken, Georg 15Fn22, 434 Szeltner, Sarah Anna 412, 430 Tambiah, Stanley 13Fn19, 60, 60Fn72, 65Fn11, 66Fn15, 77Fn39, 144Fn191, 150Fn202, 155Fn215 – 216, 158Fn224, 163Fn231, 178Fn256, 244Fn392, 247Fn398, 434 Taylor, James 413 Terricabras, Josep-Maria 419 Tetens, Holm 434 Thebais 212Fn332 Thiel, Christian 422 Thornton, Robert J. 434 Tiedemann, Rolf 418 Todorov, Tzvetan 214Fn333, 434 Tolksdorf, Stefan 434 Tolstoi, Leo N. 26Fn3, 30Fn13, 43Fn36, 215Fn336, 216Fn336, 424 Torres-Straße 124Fn147 , 174Fn251 Toulmin, Stephen Edelston 6Fn10 Townsend, Raymond 305Fn1, 401 Tramsen, Eckhard 419 Trilling, Lionel 218Fn342, 434 Trinity College (Cambridge) 62Fn2 Trobriand-Inseln 428 Trunz, Erich 424 Turner, Jonathan H. 433 Turner, Joseph Mallord William 224 – 226, 224Fn354 – 355 – 356, 298Fn42, 330, 419 Tylor, Edward Burnett 10, 18, 43Fn37 , 44Fn40, 55, 62Fn3, 63, 63Fn5, 65Fn11, 66, 69Fn22, 77, 77Fn39, 95, 95Fn78, 96Fn81, 97Fn82, 113, 114, 114Fn121, 115Fn123, 120, 121, 121Fn137 , 122Fn142, 123, 124Fn149, 126, 150Fn202, 153, 154Fn210, 155, 155Fn213, 155Fn216, 163Fn230, 170, 174, 233, 242, 245, 264, 290, 360, 433, 434 Uehling, Theodore E. Jr. 425 Unterkircher, Anton 416 USA s. Vereinigte Staaten von Amerika Usener, Hermann 90Fn68, 91Fn68

445

Venturinha, Nuno 3Fn4, 432, 434 Vereinigte Staaten von Amerika 62Fn3, 63, 122Fn142, 213Fn333 Vergil 206, 225 Veyne, Paul 368, 434 Vickery, John B. 12, 218, 218Fn342, 434 Vico, Giambattista 63Fn7 Vierkandt, Alfred 173, 173Fn250, 186Fn276, 187, 187Fn279, 188, 188Fn280, 188Fn282, 434 Volbers, Jörg 16Fn26, 423 Vossenkuhl, Wilhelm 403Fn24, 419, 426, 427, 432, 434 Vulpius, Christiane 234 Waismann, Friedrich 28Fn8, 167, 167Fn239, 237Fn379, 239Fn382, 249, 250, 252Fn410, 270Fn443, 346, 349, 349Fn29, 350Fn30 – 31, 352, 353, 415, 417, 433 Warburg, Aby 15, 15Fn22, 427, 434 Ward, James 121Fn138 Warnke, Martin 434 Wassermann, August von 180Fn263 Watson, William H. 275Fn3, 276Fn7 Weber, Max 150Fn202 Wegener, Philipp 351Fn35 Weiberg, Anja 26Fn3, 48Fn48, 434 Weimar 271 Weingartner, Paul 419 Weininger, Otto 4Fn7 , 30Fn13, 43Fn36, 244Fn393, 423 Wenzel, Manfred 434 Westermarck, Edward 308 – 310, 360Fn51 Wettstein, Howard K. 425 Whewell’s Court (Trinity College Cambridge) 62Fn2 Wien 275Fn3, 400, 400Fn10, 404Fn28 Wiggershaus, Rolf 413, 434 Wilke, Tobias 427 Williams, Meredith 6Fn10, 366Fn64, 434 Williamson, Timothy 19, 433 Wilson, Bryan R. 434 Winch, Peter 10, 10Fn15, 98Fn86, 118Fn132, 126Fn155, 149Fn201, 371Fn74, 398, 398Fn1, 398Fn3, 418, 419, 423, 434 Winkler, Martina 419 Wirth, Uwe 434 Wittgenstein, Helene 236Fn374

446

Namenregister

Wittgenstein, Hermine 24Fn1, 131Fn163, 193Fn289, 236Fn374, 413 Wittgenstein, Ludwig Wittgenstein, Margarethe 236Fn374 Wolgast, Elizabeth 434 Woolf, Virginia 218Fn342 Wright, Georg Henrik von 5Fn7 , 32Fn17 , 266Fn435, 356Fn47 , 399Fn4, 402Fn19, 404Fn27 , 411, 412, 414, 415, 426, 431, 433, 434

Wundt, Wilhelm 70Fn26, 121, 256Fn418 Wunschel, Annette 426 Yeats, William Butler 218Fn342 Zengotita, Thomas de 435

Sachregister Aberglaube 12, 42 ff., 51 f., 57, 65 f., 68, 75Fn32, 77, 79, 87 f., 97 f., 116, 153Fn209, 162 ff., 201, 213 f., 246 f., 290, 296, 359, 366 ff. Abrakadabra 38, 127 Ähnlichkeit (s. auch Familie, Familienähnlichkeit) 168, 175 ff., 266 ff., 272 ff., 279, 296 f., 306 ff., 361 ff., 369, 380 – formale Ä. 233 ff., 240, 250 ff. – Ä. der Bräuche bei Frazer 206 Allgemeinmenschlich 10, 68, 114, 243, 259 ff., 312Fn13 Alltagssprache 91 f., 102, 192, 196 ff. Analogie s. Gleichnis, Analogie Analogiehandlung 173 f. Anerkennung (bei Gründen) 138, 232, 329 ff. Animismus, animistisch 66, 96Fn81, 97Fn82, 115Fn123 Anker 82Fn50, 182Fn268 Annahme, im Unterschied zum Satz 333 ff. – im Unterschied zur Meinung 39Fn27, 290, 321 ff. Anschauungen s. unter Magie, magisch Anthropologie, anthropologisch (s. auch Ethnologie, ethnologisch) 80, 140, 145, 244Fn390, 317Fn23, 340 ff. – evolutionäre A., funktionalistische A. s. unter Ethnologie – fiktive, imaginäre, spekulative A. 21Fn31, 73, 219, 243, 244Fn392, 349, 370 ff. – poetische A. 12, 205 Antisemitismus, antisemitisch 43Fn36 Anzeichen vs. Zeichen 167 f. Aspekt 262, 294, 299, 330, 378 – Aspektwechsel 40, 52, 240, 261, 304, 315Fn21, 328, 384, 396Fn123 – A. vs. Deutung 213 ff., 319 ff. Assoziation, Assoziationspsychologie 43, 110, 116, 170, 171Fn246, 203, 243, 245, 247Fn398, 305 ff. Ästhetik 1, 24, 36, 40 f., 61, 278ff., 304, 384 – Grammatik ethischer und ästhetischer Ausdrücke (s. auch unter Grund) 48, 61Fn75, 278

Aufwachen, Erwachen (s. auch Staunen, Verwunderung) 47 ff., 51, 54 f., 56, 142 ff. Ausdruck, ausdrücken 47, 127 ff., 131Fn164, 133 ff., 141, 147 ff., 166 ff., 172, 185, 186Fn276, 204, 223 ff., 229Fn363, 230 ff., 238, 247, 272, 287, 291, 331Fn48, 335Fn4, 348 ff., 353Fn38, 380, 383, 385, 388 – artikulierter Ausdruck 166 f. Ausdruckshandlung 9, 170 ff., 179 ff., 204 ff., 262, 271, 287, 380, 383 Ausdrucksweise 68, 86, 131, 133, 136 f., 247 ff., 356 ff., 395 – (Hertz) 200, 222 Äußerung, avowal 35, 127, 136 ff., 214, 215Fn334, 222, 227, 229, 325 ff., 330Fn46, 340, 346, 348, 367, 378 s. auch unter Ethik, Magie, Religion Autonomie der Grammatik 7, 28Fn8, 11Fn114, 91, 127Fn156, 132Fn169, 133, 135, 136, 258Fn421, 270 Baumkult 142 f., 361Fn55 Bedeutung 84, 106, 128Fn156, 197Fn299, 199, 266, 267Fn437 , 277, 284, 288, 348 ff. – s. auch Wandlungen der B. – praktische vs. symbolische B. s. unter Symbol, symbolisch – B. als Wichtigkeit, Relevanz 86, 87, 345 – s. auch Kausaltheorie der B. Bedeutungskörper 197Fn299 Begründung (s. auch Grund) 39 ff., 98, 127, 221, 265, 280, 365, 373, 373Fn78, 387Fn109 – begründen vs. beschreiben s. unter Beschreibung, beschreiben Behauptung, Behauptungszeichen 38 f., 215, 252, 269, 272, 367, 378 – erwägen und behaupten 332 ff. Belief s. Glaube Beschreibung, beschreiben 15, 33, 34 ff., 40 f., 42, 44, 192 ff., 201 ff., 218 ff.,

448

Sachregister

220 ff., 232, 241, 249, 260 ff., 304, 324 ff., 230 ff., 364 ff., 370, 373, 395 – b. vs. begründen/erklären 191 ff., 217, 227, 280 ff., 230 ff., 301 Beunruhigung, ethische 58, 203, 217, 232 ff., 314, 330 Bild 7, 8 f., 219, 235 ff., 334 – allgemeines B. 238 ff. – falsches, irreführendes B. 75, 90 ff., 96, 98, 101 f., 105 f., 107 ff., 113, 118, 119, 134, 150, 181 ff., 228Fn360, 357, 365 ff., 405 – primitives B. 105 f. – sublimiertes B. [80Fn43], 103 ff., 119 Boden s. Grundlage. Brauch [57], 64, 69 ff., 94 f., 111, 116Fn125, 123, 135, 137 ff., 149 ff., 192 ff., 298, 217, 242 ff., 246 ff., 256 ff., 314 ff., 336 ff., 341 ff., 346 ff., 352, 364 ff., 386 – Assoziation der Gebräuche 243, 305 ff. – B. und Kontext 11, 17 ff., 244Fn390, 263, 306 ff., 307Fn4, 351 Buddhismus, buddhistisch 131 ff. Chor 16, 17, 95, 205Fn316, 233 ff., 240, 243, 246, 250, 259, 263, 298 f., 306 f., 327 f., 330, 348, 363 Christentum 233 ff., 240, 243, 246, 250, 259, 263, 299, 306 ff., 328 ff. 348, 363 Common sense 60, 90, 155Fn216, 163, 383 Composite portraiture s. Kompositbild Darstellung, Form der 15 f., 23, 52, 125, [135], 148, 163, 152, 193, 198 ff., 218, 222, 238 ff., 258, 268Fn440, 270Fn445, 272, 289, 318, 319Fn24, 348 Darstellung, übersichtliche (s. auch Synopse) 13Fn19, 14 ff., 90, 92Fn71, 100 ff., 112 ff., 125, 191 ff., 201, 204 f., 223, 231 f., 232 ff., 246, 257 ff., 271 ff., 301, 319, 322, 336, 348 f., 365, 403Fn22, 405 – Oktaeder-Darstellung s. Farben-Oktaeder Darwinismus s. Entwicklung, Evolution Denkbewegung 332 Denkstil 52, 192, 288 Denkweise 19, 43, 58, 68, 73, 84, 384, 395 ff., 396Fn123 Deutung s. unter Aspekt

Diffusion, Entlehnung 245, 345Fn396 – s. auch unabhängige Erfindung Distanz, historische, kulturelle 14, 17 f., 203, 216, 311 ff. Dogma, Dogmatismus 29, 176Fn254, 269 ff. Dreieck, semiotisches (bei Ogden und Richards) 78 Durchsichtigkeit (s. auch Darstellung, übersichtliche) 194 ff. Eindruck 32 ff., 36, 39 ff., 144, 219 ff., 232, 313, 321 Einfühlung, Empathie 14, 216, 312, 312Fn13 Einstellungen, propositionale 100, 166 ff., 334 Emotionalismus, Emotivismus (s. auch Expressivismus) 44Fn40,121 ff.,, 149, 170Fn242, 173Fn242, 174, 185Fn276 Empirisch 12, 15, 16, 30, 35, 37, 38, 40Fn30, 44, 51, 60, 79, 81Fn47 , 110, 11, 116, 117, 145, 148, 157, 168, 177, 180Fn263, 181, 185, 196, 200 ff., 218, 220, 222, 228 ff., 258, 261, 269 ff., 299 ff., 318 ff., 325 ff., 337, 358, 363, 365 – s. auch unter Irrtum und Unsinn, Fragen, Theorien Entlehnung s. Diffusion, Entlehnung Entstehungsgeschichte s. Entwicklungsgeschichte, entwicklungsgeschichtlich – s. auch unter Geschichte Entwicklung, Evolution [54], 64 ff., 75Fn32, [93], 115, 116, 117, 144, 150, 157, 207, 212, 238, 240 ff., 247, 251, 262, 265, 272, 293, 299 ff., 309, 318, 358 – s. auch unter Ethnologie Entwicklungsgeschichte, entwicklungsgeschichtlich 14, 66, 176, 219, 229, 231, 233, 240 ff., 250, 260, 293, 303, 313, 315, 322, 360 – s. auch unter Erklärung, Hypothese Erdichten s. erfinden, erdichten Erfahrung (in der ersten Person) 11, 18, 40Fn30, 46Fn45, 48, 58, 131, 134, 197, 213, 217, 222, 227 f., 232, 325 ff., 332, 337, 370, 388 ff., 390 ff. Erfinden, erdichten 116Fn125, 129, 240, 242 ff., 251 ff., 346, 396

Sachregister

Erfindung, unabhängige (independent invention) 114 f., 245 f. – s. auch Diffusion, Entlehnung Erklärung 13 ff., 19, 30, 33 f., 40 ff., 44, [47 f.], 50, 54 ff., 57 ff., 64, 93 ff., 105, 113, 116 f., 129, 140, 143, 152, 175 f., 191 ff., 280 ff., 328, 355 ff., 381, 386 – s. auch Zeichenerklärung (vs. Kausalerklärung) – beschreiben vs. erklären s. unter Beschreibung – historische, genetische E. (s. auch unter Hypothese) 14, 175 f., 203, 216, 231, 240, 310 ff., 355, 381 Erzählung, erzählen 217, 223 ff., 232, 280Fn12, 298 f., 304, 327Fn41, 328 ff., 329Fn45, 330, 334 f., 381 Ethik 1, 6, 21Fn231, 24, 30, 31, 34, 35Fn20, 37, 38, 41, 47Fn46, 50, 58, 61, 61Fn75, [97Fn83], [114], 278 f.. 340 f. – E. in absolutem und in relativem Sinn 27 ff., 33, 46 ff., 61, 137 – Sätze der E. 6, 37 ff., 84 – ethische Äußerungen 5 f., 37 ff., 127, 340 Ethnologie, ethnologisch (s. auch Anthropologie, anthropologisch). 2, 5, 8, 13, 13Fn19, 15, 19 ff., 21 f., 42, 51, 59, 63, 70, 71Fn27 , 88, 111, 113, 121, 124Fn147 ,135, 137, 152, 162, 164, 174, 180, 202, 211, 219, 233, 244, 260, 347, 353, 356, 363 – evolutionäre E. 7, 16, 62 ff., 113 ff., 193, 242, 245, 257, 290Fn29, 290 ff., 292Fn34, 308, 312Fn13, 335, 348, 351, 365, 367Fn68 – Lehnstuhlethnologe 21,125, [164], 256, 336Fn5 – funktionalistische E. 5, 7, 63, 124, 347 ff., 379Fn91 – hermeneutische E. 24, 364Fn61 – strukturalistische E. 246Fn398 – fiktive, imaginäre, spekulative E. s. unter Anthropologie, anthropologisch Ethnologische Betrachtungsweise (in der Philosophie) 2 ff., 18 ff., 195, 332, 344, 382, 396 Ethnozentrismus 59, 65, 95, 125, 215 Expressivismus 9, 124, 125 ff., 185Fn276 – s. auch Emotivismus

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Familie, Familienähnlichkeit 6, 13Fn9, 16, 17, 61Fn75, 101, 128Fn156, 146Fn194, 176, 191, 235 ff., 236Fn374 – 375, 239 f., 250, 259, 262 ff., 288, 269, 271, 272 ff., 288, 305 ff., 348, 369 Farbenlehre 238Fn379 Farben-Oktaeder 16, 192, 195 ff. Fest, Feuerfest 130, 211Fn329, 229, 289 ff., 298 ff., 311, 314, 320, 326, 347, 360Fn51 – s. auch Beltane, Beltanefest im Namenregister Fetischismus s. Götzenanbeter, Götzenverehrung Feuer 52Fn52, 55, 56, 72, 178Fn257, 295Fn36 – 37 , 309 Fire festivals s. unter Fest, Feuerfest Floh und Hund s. Symbiose Form der Darstellung s. Darstellung, Form der Formaler Zusammenhang s. unter Zusammenhang Fortschritt 29, 34, 45, 50, 66, [110Fn113], 142Fn188, 149, 150Fn202, 283 Fragen 58, 85 f., 199 ff., 203, 226, 278 ff., 288 ff., 304, 317 – grammatische F. 93, 357 – begriffliche vs. empirische F. (s. auch unter Philosophie) 51 f., 57, 61, 79, 82, 84, [111Fn115], 145, 196, 229, 359, 365 Fremdheit, das Fremde, Fremdkulturelle 1Fn1, 2, 18, 19, 20 f., 28, 49, 59, 61, 65, 66, 67, 94, 100Fn90, 114, 121, 123, 137, 158, 216, 347 f., 379, 382, 438 – Verstehen des Fremden (s. auch Hermeneutik, interkulturelle) 10, 11, 121 – Fremdheit, logische (Frege) 22, 164Fn232, 373 Funktionalismus s. unter Ethnologie, ethnologisch Gebärde, Geste [7 f.], 35Fn21, 47, 105Fn103, 173 f., 177, 317Fn23, 353Fn38, 360, 385 Gebärdensprache 167 f., als primitive Sprache 71 f., 98 f., 177 Gebrauch s. Brauch, Verwendung Gedankenexperiment 125, 162, 196, 196Fn297 , 201 f., 241Fn386, 245Fn395, 309

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Sachregister

Gefühl 97, 122 f., 129, 131 ff., 141, 142, 148, 199, 217, 222, 224 ff., 230 ff., 245, 279, 307, 330 f., 340, 343, 361 Gegenstand und Komplex 93Fn72, 100Fn92, 101 ff. Geheimnis s. Rätsel Geist 24 ff., 33, 35Fn21, 50, 63, 64, 65, 75Fn32, 115, 194ff, 195Fn294, 206 ff., 243, 245, 260, 272, 307, 316, 369 – s. auch Aufwachen, Erwachen – (Gespenst) 92, 97, 103, 104, 141 Geisteswissenschaften 13, 281 Gemeinschaft (s. auch Gesellschaft) 9, 142 ff., 342Fn14, 345 ff., 352, 370, 391, 395 – Lebensgemeinschaft s. Symbiose Genrebild und Porträt 323 ff. Geschichte (s. auch Historie) 30, 49 52, 53, [64], [65], 69, [79], 115, 116Fn127 , 137, 180Fn263, 245, 388 – G. als kausale Kategorie 296, 314 – s. auch unter Kalkül Geschmack, Geschmacksfragen 279 Gesellschaft (s. auch Gemeinschaft) 21Fn31, [57], [60], 71, [115], 150Fn202, [180], 213, 352, 358, 376Fn85, 378 Gesetz 31, 54, 95, 192, 234 ff., 242 ff., 259 ff., 298, 306, 328, 340 ff., 364, 372 ff. Gewissheit s. Sicherheit Glaube, glauben 22, 34 ff., 65, 123, 134Fn173, 135, 139Fn184, 140 ff., 166, 171 ff., 186Fn276, 283, 290, 321, 323, 353, 355Fn45, 358, 362 ff., 366 ff., 387 ff. – s. auch unter Religion, Magie – implicit belief 137 f. – unbewusster G. 359 ff. Glaubenserhaltung, Problem der 148 ff. Gleichnis, Analogie (s. auch Bild) 21, 41Fn31, 73, 104Fn99, 114, 117, 142, 185, 224, 236, 236Fn374 – 376,239, 262, 265, 272 ff., 341, 353 ff. Golden Bough, Theorien 62 ff. – Aufbau 206 ff. – als literarisches Werk (s. auch Erzählung, erzählen) 12, 208, 218 Gott 139, 133 f., 276, 282 f. Götzenanbeter, Götzenverehrung 57, 283 f.

Grammatik 8, 16, 18, 36, 41Fn99, 52, 69, 89, 90, 101, 166 – grammatische Erläuterung (s. auch Zeichenerklärung) 50 f., 125, 137, 145 f., 166, 167, 169, 201 – Autonomie, Willkürlichkeit der G. s. Autonomie – Oberflächengrammatik vs. Tiefengrammatik 98, 172, 196, 228, 322, 325 f., 379 – s. auch Missverständnis, Sprachlogik – G. ethischer und ästhetischer Ausdrücke s. Ethik – G. religiöser Ausdrücke s. Religion Grund 36, 142 ff., 227, 232, 280, 301, 324 ff. – ästhetische Gründe 40 f., 110, 280, 331, 384 – psychologische 280 – G. vs. Ursache 20, 89, 110 f., 129, 138 f., 143 f., 191, 227, 232, 280 ff., 287, 294, 303, 325, 330, 330Fn46, 391Fn116 – s. auch Grundlage Grundform (des Sprachspiels) 229Fn364, 320 ff., 379 Grundlage 4 ff., 41, 56, 72 f., 142 ff., 170 ff., 195, 246, 262, 294, 304, 320 ff., 362 ff., 370 ff. Handlung s. Analogiehandlung, Ausdruckshandlung, Instinkthandlung, Sprechhandlung, Zweckhandlung – s. auch unter magisch, rituell Handlungsweise 17, 31 f., 46Fn44, 97, 139, 150 f., 151Fn204, 158, 172 f., 176, 191, 246 f., 306, 308, 316 f., 339, 343 f., 361, 365 f., 370, 385, 387 f., 394 Heilung, magische 96, 179 ff. Hermeneutik, interkulturelle 10 ff., 121, 370, 393 – s. auch unter Fremdheit, das Fremde, Fremdkulturelle Hintergrund 36, 65Fn11, 124, 129, 133, 136Fn178, 161, 217, 221, 226, 252, 283Fn18, 317, 346 ff., 366, 366Fn65, 370, 387 f. Historie, historisch (s. auch Geschichte) 1 f., 10, 14 f., 15Fn24, 18, 28, 30, 35, 99, 109 f.,

Sachregister

115 f., 124, 150, 177, 202, 206, 211, 242, 321 ff. – s. auch unter Erklärung, Hypothese – historische Distanz s. Distanz Holismus, logischer vs. praktischer 6Fn10, 8, 263 Homunculare Auffassung der Seele 135Fn175 Humor 26Fn3, 310 f. Hypothese 13, 49, 59, 72,118, 135, 151, 153, 153Fn209, 168 f., 198, 204, 207, 210 f., 219, 227 f., 238 ff., 251, 254, 260, 289 f., 296, 299 ff., 309, 315, 318 ff., 341, 360, 363, 366, 369, 383, 385, 389 – historische, entwicklungsgeschichtliche H. 55, 109, 251, 296, 299, 315Fn21, 320 f., 325, 330 Ideal, ethisches, religiöses 24, 26, 182, 189, 235, 237, 297 Idee (nach Schiller und Goethe) 237, 237Fn379, 238 ff., 246, 251, 251Fn407 – 408, 264, 271 Inkommensurabilität s. Kommensurabilität Instinkt, instinktiv, Trieb [58], 97, 126Fn155, 130, [175], 176, 231 Instinkthandlung 9, 18, 71 ff., 147Fn197 , 168 f., 170 ff., 175 ff., 189 f., 262, 287 Intellektualismus, intellektualistisch 5 f., 18 ff., 44Fn40, 63Fn5, 72, 111, 120 ff., 126 ff., 135, 137, 139, 151, 169, 171Fn246, 173Fn249, 176, 182, 182Fn269, 186Fn276, 187, 203, 343, 356, 361Fn55, 365, 383 ff. Intention 6 f., 104Fn98, 169Fn241, 335 Introspektion 229Fn364, 323 ff., 330 Irrtum und Unsinn, empirischer Irrtum und begriffliche Verwirrung 37, 44, 82, 87 ff., 89 ff., 117 ff., 132, 135, 144 f., 163 f., 182 ff., 192, 201, 337, 356, 360, 377, 391 – s. auch unter Magie Isomorphie 271 Kalkül 6, 28, 101, 192, 196 f., 263, 267Fn439, 268, 268Fn440, 314, 345 f., 374, 381 – Geschichte des 18, 116Fn127 Kausalerklärung s. Zeichenerklärung vs. K. Kausalität, Ursache (s. auch Grund) 30 f., 43, 48, [55], 56Fn62, 62, 64 f., 78 f., 81,

451

107, 109, 110, 111, 116, 119, 123, 129, 156 f., 156Fn219, 159 f., 163Fn231, 188, 192, 204, 211, 227Fn359, 240, 250, 281 f., 299, 301, 319, 320, 393 – s. Zeichenerklärung vs. Kausalerklärung – imaginäre U. 82, 129, 157 – Aberglaube, Magie als falsche K. (bei Frazer) s. Aberglaube, Magie – Theorien der doppelten K. 159 Kausaltheorie der Bedeutung 7 f., 18, 42, 76, 76Fn34, 79, 166, 177Fn255, 201, 242, 259, 281, 293 Kind, kindlich 69Fn24, 73, 73Fn30, 152 Kinder Israel 107Fn106, 113Fn119, 354 ff. Kognitivismus, Anti-Kognitivismus 19,128 f., 186Fn276 Kommensurabilität 23,133,164, 384 Kompositbild 235 f., 236Fn374, 239, 298 Kontext (s. auch Umgebung, Zusammenhang) 17 f., 67, 71 ff., 99, 109 ff., 130, 158, 172, 190, 244Fn390, 256 ff., 266 ff., 288, 316 ff., 328, 347 f., 351, 351Fn36, 353 ff., 367, 370, 375, 381, 394 s. auch unter Brauch Kornwolf 99 f., 100Fn90, 102, 109, 113Fn118, 166, 197 f., 401, 401Fn12 Kraft, in der Mechanik 199 f., 222 – bei Frege 38 f., 334 Kult (s. auch Ritus) 18 f., 142, 144, 178 Kultur, kulturell 1 f., 4 f., 10 ff., 24 ff., 58 ff., 65 ff., 98, 109 ff., 115 f., 121, 130, 137, 158 f., 164, 179 f., 191 ff., 203, 215 f., 222, 230, 233 f., 25 f., 256 ff., 262 ff., 305 f., 311 f., 347 ff., 368 ff., 382 ff., 388 ff. – Kulturgrenze, Grenze der K. 25 ff., 29, [179], 215 f. – s. auch Distanz, historische, kulturelle – s. auch Zivilisation Leben 18, 22, 34 ff., 41 ff., 88, 139, 141, 145, 148, 151Fn204, 212 ff., 221, 223, 226, 231 f., 262, 265, 335 f., 337 ff., 337Fn6, 344 ff., 365 f., 384 Lebensform, Lebensweise 8, 21 ff., 29 f., 29Fn9, 49 f., 59, 86 f., 100Fn90, 130, 133, 139, 158, 191, 204, 221, 262, 263, 268, 271, 273, 316, 320, 333, 347, 380, 386 f., 395 f., 396Fn123

452

Sachregister

Lebensgemeinschaft s. Symbiose Lebensphilosophie 206 f. Liebe 217, 219 f. Literatur s. unter Golden Bough Logik, Sätze der (vs. Sätze der menschlichen Naturgeschichte) 341 f., 342Fn13 Magie, magisch, Frazers Magiebegriff 42 f., 63 ff., 116, 242, homöopathische (imitative) M. u. Übertragungsmagie (contagious magic) als Unterarten der sympathetischen M. bei Frazer 78, 88Fn63, 247Fn398, 286Fn24, 308 – magische und religiöse Anschauungen 14, 19, 86 f., 133 ff., 138 f., 201, 213, 333 ff., 340, 353, 383 ff. – m. und religiöse Handlungen 34, 138 f. 147, 191, 212, 214 f., 223Fn353, 271, 286 f., 384 f. – m. Gebräuche aufgeben 149 ff. – M. u. Metaphysik 8 f., 74 ff., 89 ff., 98 ff., 106, 111Fn115, 118 ff., 201, 383, 403 – m. Auffassung der Zeichen 76 ff., 88, 287 – m. Ausschalten der Metaphysik 74, 82 ff. – M. vs. Wissenschaft 60, 148 ff., 157Fn221, 189, 286 f. – M. vs. Technik s. Technik – M. u. Religion: Fragwürdigkeit von Frazers Unterscheidung 71, 83, 181, 182Fn266, 207, 213, 221 – M. als Äußerung, Darstellung eines Wunsches (s. auch Ausdruckshandlung) 165 ff., 170 – rudimentary magic 173 – kindliche M. 174 ff. – m. Welt bei Spengler 80Fn43 Märchen (Paul Ernst) 112 f., 117, 355, 405 Marsstandpunkt 20, 397 Mathematik 242, 253, 279, 341 f., 358, 370 f., 380 Meinung, keine Ursache, sondern Teil des Ritus 18 f., 72, 134 f., 139 ff., 272, 333, 343, 385 ff. M. als Intention, Auffassung 334 ff. Menschenopfer s. Opfer Mentaler Akt, Vorgang 107 f., 117, [197Fn299], 233, 332 ff., 335

Mentalität, primitive (bei Lévy-Bruhl) 156, 163, 204, 204Fn315, 379 f., 381Fn94 Metalogik, metalogisch 33, 84 ff., 197, 249, 277, 372Fn75, 377 Metamorphose (bei Goethe) 234, 237, 237Fn378, 239Fn382, 249 ff., 298, 348 Metaphysik (s. auch unter Magie) 83, 201, 261Fn423, 270, 357, 383, 403 Methode, vergleichende (in der Ethnologie) 193, 207 f. , 223, 233, 245, 256 ff., 263 f., 306, 351 Missing links s. Zwischenglieder Missverständnis, missverstehen 195, 199, 211, 318 f., 335, 349, 356, 357 ff., 367, 370, 379, 382 – M. der Spitznamen s. Spitznamen-Theorie – M. der Sprachlogik s. Sprachlogik Mitschrift (Moores M. von Wittgensteins Vorlesungen) 4, 17, 274 ff., 312, 380 f., 380Fn92, 411, 438 f. Möglichkeit (s. auch Notwendigkeit) 28 f., 57, 61, 95, 240 – alternative bzw. gegensätzliche Möglichkeiten 50 ff., 52Fn53, 243 ff. Morphologie, morphologisch 14 ff., 29, 30, 192 f., 195, 197 f., 205Fn316, 216, 232 ff., 236, 238 ff., 244, 246, 248Fn401, 250Fn405, 250, 257, 264 ff., 271, 299, 301 Motiv (s. auch Grund) 206, 245 ff., 285 ff., 308, 361 Mystisch (bei Lévy-Bruhl, Evans-Pritchard u. a.) 60, 67 f., 156, 159Fn226, 163Fn231 Mystische, das 1 f., 24 ff., 78 ff., 85, 129, 191 Mythologie des Symbolismus, M. in den Formen unserer Sprache 9, 87 f., 90 ff., 93 ff., 98 f., 102 f., 107, 119, 181 f.Fn266, 357, 383, 387Fn112, 405 Mythologie, vergleichende (Max Müller) 111, 113 f. Mythos 19, 98 f., [141], 304, 368Fn67 , 368Fn72, 384 Name, Eigenname (seine magische Rolle als Stellvertreter) [53Fn56], 81, 87 f., 88Fn64 – 65, 160Fn228, 168, 171, 182Fn266, 347Fn25, 354 ff. – s. auch Spitznamen-Theorie

Sachregister

Natur, natürlich 192, 196 f., 197Fn300, [202], 204, 205Fn316, 214Fn333, 224Fn355 – 356, 225, 227 f.Fn360, 237 f.Fn379, 249, 251 ff., 261 f., [281], [291], [293 f.], [301], 304, 313, 337 f., 375Fn81, 383 – n. und übernatürlich 159 f., 368 Naturgeschichte, naturgeschichtlich 21, 39, 258Fn421, 261Fn423, 262, 337 ff., 341 ff., 342Fn13 – 14, 344 f. New Wittgenstein 26, 372Fn75 Normativ, Normativität 281, 332, 337 f., 340 f., 344, 372, 372Fn75 Notwendigkeit (s. auch Möglichkeit) [30], 44, 51 ff., 57 f., [287], [289] Nützlichkeit 290 f., 294, 332, 339 ff., 343, 345, 379Fn91 – s. auch Utilitarismus, Zweckhandlung Opfer, Opferhandlung 44Fn40, 110Fn113, 144, 177, 207, [214Fn333], 290, 314, 314Fn18, 324 f., 360 f. Person, erste und dritte 34, 37, 47, 203 f., 227, 229, 229Fn364, 260, 326 Personifikation 95 ff., 184 Phänomenologie, phänomenologisch 6, 71, 101, 145, 192, 196Fn298, 220, 221, 221Fn349, 227 ff., 230 ff., 244, 244Fn390, 247Fn389, 260, 326 Philosophie, Philosoph 1 ff., 7, 11 f., 16, 16Fn26, 19 ff., 27, 41Fn31, 51, 55, 57Fn67 , 61,79, 80Fn43, 81 f., 85, 87, 85Fn56 – 57 , 89 ff., 101 ff., 105 ff., 111Fn114, 118Fn131, 119, 125 f., 189 f., 192, 203, 223, 228Fn360, 252, 278, [279] 300, 301Fn48, 331Fn48 – philosophische Probleme (s. auch Fragen) 1, 58, 85 ff., 201, 222, 301Fn48, 331Fn48, 304, [354], 355, [371] – frühe Philosophen (bei Tylor u. Frazer) 54 f. Physik 200, 202, 282Fn15, 390 f., 294 f. Physiologie, physiologisch 293 Pietät 147 f., 165Fn236, 231, 245 ff. Pneuma, pneumatisch 6, 80Fn43, 337 Porträt (s. auch Genrebild) 234 ff., 298, 307, 332 ff., [335Fn4] Präanimisten, präanimistisch 97Fn82

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Pragmatik, pragmatisch 18, 127, 215, 258Fn421, 271, 345 ff., 364 f., 369 f. Pragmatismus 18 Prälogisch (Lévy-Bruhl) 163, 381Fn94 Pretence 295 f., 315Fn20 Priesterkönig 34, 36, 41, 137, 142, 203, 207, 209 f., 212 f., 215, 217, 223, 225, 230, 234, 255, 280Fn12, 289, 299, 304, 330, 332, 386 Primitiv 45, 48 ff., 64 ff., 67Fn18 – 20, 70 f., 73 f., 102 ff., 140, 146, 170 ff., 186Fn276, 208 f., 212Fn331, 224Fn356, 234, 243, 245 f., 247Fn397 , 248Fn399, 285 ff., 290Fn29, 312Fn13, 320 f., 321Fn28, 327, 351Fn36, 358 f., 360 f., 364, 385Fn103 – primitive Formen unserer Sprache (s. auch unter Bild) 22, 71, 91 ff., 383 – s. auch unter Gebärde, Geste, Zeichen, Reaktionen – primitive Sprachspiele 220Fn347 , 379, 382, 385Fn102, 386Fn106 – s. auch Mentalität, primitive Primitive 11, 45 f., 51, 60 f., 66 f., 67Fn18 – 19, 68 ff., 73, 136Fn175, 138 f., 153, 157, 159, 202, [214Fn333], 368Fn71, 383 f. – s. auch Wilde Projektion, projizieren 139 Projektionsmethode 7 Propositional attitudes s. Einstellungen, propositionale Psychoanalyse 104, 170, 216Fn336, 280 f.Fn13 – 14, 285Fn21, 301 ff., 301Fn47 , 331Fn48 Psychologie 39, 78, 92, 120 ff., 130, 169, 179Fn260, 189, [196], 229Fn364, 279, 308, [317Fn23], 351 Psychologisch, psychologische Gründe s. unter Grund – psychologische Prozesse s. unter mentaler Akt, Vorgang – psychologische Entitäten s. unter Wesen Rationalisierung (bei Paul Ernst) 112 ff., 116 f., 355 Rationalität (der Magie) 381Fn94 Rationalitätsdebatte 10, 98, 122Fn142, 398, 398Fn1,3

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Sachregister

Rätsel 83 f., 92 f., 155, 203, 205 ff., 217, 234 f., 237, 255, 299, 318, 327 f. Reaktion, primitive 18, 41, 57, 71 ff., 78, 130, 147, 172 f., 175 ff., 186Fn276, 220Fn347 , 221 f., 287Fn25, 320, 385 – natürliche R. (Phillips) 178 f., 385 – s. auch Instinkthandlung Rechtfertigung 280, 280Fn12, 386Fn106, 387Fn109, 391 Regel 16, 20, 22, 28Fn8, 41Fn33, 52, 69 f.Fn24, 72 f., 80, 91, 93Fn73, 101, 145, 192, 192Fn287 , 195 f., 196Fn298, 197, 202, 205, 222, 238, 248, 272, 289, 289Fn27 , 332, 336 ff., 340 ff., 342Fn14,16, 343, 346, 370, 387Fn112, 391 – s. auch Sukzessionsregel Regelfolgen 93Fn73, 197Fn299, [207], 293, 337, 375Fn81, 385 ff. Regelverzeichnisse 336, 336Fn5, 362Fn56 Regenkönig, Regenzauber 154 f., 158, 160 ff., 173 f., 180, 186Fn276, 187, 276, 332, 389 ff. Relativismus 10, 25 ff., 31 f.Fn15, 98, 136, 181Fn264, 351Fn36 Relativität, Prinzip der symbolischen (Malinowski) 351 ff. Relativitätstheorie der Sprache 7, 41 f., 270, 329Fn45, 352Fn37 Religion 8 ff., 24 ff., 34 ff., 37, 44Fn40, 47 ff., 63 ff., 67Fn19, 122, 131 ff., 133 ff.,157Fn221, 178 ff., 207, 213, 214Fn333, 215, 221, 234, 242, 264, 272, 283, 283Fn18, 286, 324Fn36, [355Fn45], 356 ff., 363Fn60 – Grammatik religiöser Ausdrücke (s. auch Gott, Götzenanbeter, Götzenverehrung) 132 f. – primitive R. 209 f., 234, 360 f. – religiöse Äußerungen 37 f., 132 – religiöse Handlungen 139, 215, 379, 384 – s. auch unter Magie, magisch – religiöse Anschauungen s. unter Magie, magisch – Magie und R.: Fragwürdigkeit von Frazers Unterscheidung s. unter Magie, magisch – s. auch Zeremonie, zeremoniell Ritus, rituell 8, 19, 99, 143 ff., 147, 198Fn302, 203, 211, 215, 217, 215Fn316, 219Fn345, 220, 224 ff., 224Fn356, 229 f., 232 f., 247, 259,

262 f., 287 f., 294 f., 304 f., 314 f., 326 f., 350Fn31, 354, 356, 370, 384 f., 396, 401 – tierische vs. rituelle Handlungen 204, 230 f., 262, 359 f., 367Fn70, 379, 383 f. Rolle, der Zeichen im Kalkül 7, 80 f., 345 f. – R. von Zeichen und Normen im Leben der Menschen 18, 22, 37 f., 139 f., 317Fn23, 335, 338 f., 344 ff., 345Fn19 Satzform, allgemeine 38, 192 Satzradikal, Regel als 333 Savages s. Wilde Scharniersätze s. Weltbildsätze Schweigen/Reden 26, 203, 211, 222, 349, 356, 382, 386, 386Fn117 Seele 97, 103 ff., 141Fn188, 234, 243, 245Fn395, 282 f., 355, 366Fn65, 369, 387Fn108 – s. auch homunculare Auffassung der S. – s. auch unter Geist Selbstsicherheit 141, 142Fn188 Sicherheit 72, 178Fn257 , 219 ff., 301Fn47 , 320 ff., 369 f., 388 f., 390 ff. Sonnentheorie vs. Reinigungstheorie 308 f. Spiel 72, 80, 86, 195Fn295, 248Fn401, 252 f., 279, 281 ff., 291, 315 f., 315Fn20 – 21, 335 f., 344Fn18, 376, 378, 387Fn112 Spitznamen-Theorie (Spencer) 111, 114Fn121, 355 Sprache 1 f., [6], 8 f, 24, 28 f., 76 ff., 84 ff., 93 f., 98 ff., 166, 182Fn266, 191 f., 196 ff., 204, 227, 230, 249, 252 f., 259 – gleichmachende Gewalt der S. s. Wörterbuch – primäre S. (phänomenologische S.) 71, 101, 220, 228Fn361 – primäre, primitive S. (Gebärdensprache) 71 f., 98 f., 167, 177 – Wortsprache und Gebärdensprache bzw. Signale 7, 167 f., 352 – s. auch Relativitätstheorie der S. Sprachfallen 85 ff., 112, 120 Sprachformen – (primitive) 9, 22, 71, 86 ff., 89 ff., 98 f., 102, 103Fn97 , 107Fn106, 113, 357, 383, 405 – (fiktive) 252 f.

Sachregister

Sprachgebrauch 40, 109, 113Fn118, 125, 129, 196Fn298, 252, 326, 336 ff., 346, 347 f., 349, 351Fn36, 362 – s. auch Verwendung Sprachgemeinschaft 160, 249, 392Fn118, 249, 353Fn38, 392Fn118 Sprachgrenzen 27, 37 f., 47, 61, 340 f. Sprachlogik (Missverständnis der) 58, 75, 83 f., 87, 89 ff., 100, 107 ff., 111, 112 ff., 181Fn266, 353 ff. Sprachspiel 2, 6, 16, 19, 22, 40 f., [60 f.], 71, 72 ff., 80 f., 99, 101, 110, [127 f.Fn156], 130, 133, 149Fn201, 151Fn204, 172, 178 f., 190 f., 220Fn347 , 221 f., 229Fn364, 250, 252 f., 258Fn241, 258, 263, 281, 304, 314, 317, 317Fn23, 320 ff., 333, 337, 337Fn6, 345 ff., 352, 362, 367 ff., 378 ff., 381 ff., 385Fn101 – 104, 386Fn106, 387Fn109, 390 ff., 393Fn120 – s. auch Grundform Sprechhandlung 37 f., 41, 134 f., 340 f., 352 Staunen s. Verwunderung, Staunen Stellvertreter, Stellvertretung (in der Magie) 87Fn62, 168, 171, 173Fn249 – s. auch Name, Eigenname Sublimation, sublimieren 70Fn37 , 80Fn43, 92 f.Fn72, 97 f.Fn85, 102 ff., 108, 119 Substanz 92 f., 92 f.Fn72, 102 f., 105 f., 184Fn172, 282 , 366Fn65 Sukzessionsregel 58, 148, 205 f., 210 ff., 217, 231 f., 312 Sündenbock 8 f., 98Fn86, 107 ff., 181 f.Fn266, 353 f., 356, 401 Survival s. Überbleibsel, Überlebsel Symbiose 9, 142 ff., 262 f. Symbol, symbolisch, das Symbolische 78 f., 132, 134, 139, [148], 179Fn249, 216Fn338, 220 f., 223 f., 229, 231 f., 265, 314Fn18, 315, 324Fn35, 334 – symbolische Bedeutung (vs. praktische) 27 ff., 31 ff., 46Fn44, 47, 56 f., 137, 139, [146 f.], 216Fn338 – Eindruck des Symbolischen (s. auch Eindruck) 35Fn21, 47 f. – S.e zusammenstellen 7 f., 42, 223 ff. – s. auch Zeichen, Ursymbol

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– Verwechslung von Symbolik und Wirksamkeit (s. auch unter Magie) 77Fn38, 78, 81, 170 ff., 180, 188 Symbolische Relativität, Prinzip der 351, 351 f.Fn36 – 37 , 353 Symbolismus 74, 82, [84Fn53], 87 f., 90 f., 96, 98, 102, 136, 165 f., 176Fn254, 192, 230 Synopse (s. auch übersichtliche Darstellung) 205Fn316, 240, 255, 279 ff., 299 f. Tabu [77], [88], 185, 185Fn276 Tätigkeit s. Handlung, Brauch Tatsachensammlung (collection of facts) 13, 234, 237, 254 ff., 260, 304, 306Fn2, 319Fn25 Technik 86 f., 182, 235, 257, 262, 265, 310, 370, 375, 377, 389 – Magie und T. 12Fn17 , 42, 64 f., 71, 81Fn47 , 138, 148 ff., 156 ff., 170, 180 ff., 189, 213Fn333 – T. des Rechnens 342Fn14, 373 Teilnehmende Beobachtung 20, 348 f., 396 Theorien (s. auch Hypothese, Meinung), philosophische, metaphysische 61, 110 f., 112 f. – philosophische vs. empirische 9, 13, 18 ff., [26], 61, 110 f. [364Fn62], [366], 384 – Unterschied zwischen T. u. (magischen bzw. religiösen) ‚Anschauungen‘ 35 ff., 75, 116 ff., 125, 131 f., 133 ff., 137 ff., 140 f., [144], 149 ff., 181 f., [333], [341], 358 – magische und religiöse T. (laut Frazer) 150, 189 – Frazer zu seinen T. 54, 63 Tiefe, tief 83 ff., 90, 182Fn266, 196, 216 f., [216Fn338], [224], 229, 259, 264 f., 306, 307, 314 ff., 315Fn21, 317, [322], 324 f., 324Fn37 , 330Fn46, 331, 379, 383 Tiefengrammatik 98 Tiefenstruktur 1 f., 20, 196 Tierische Handlungen vs. rituelle s. unter rituell Tod, töten [54 f.], 101 ff., 223 ff., 230 f., 245, 314, 327 Todaustragen 108Fn109 Totemismus 97Fn83, 207, 210, 363, 363Fn59, 364Fn62 Träger 105, 355

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Sachregister

Traum 237Fn377 , 327 ff., 329Fn45 Traumdeutung 299Fn44, 327 f., 329Fn45, 330 Traumgedanke, latenter 329 Trieb s. Instinkt Typus, typisch [67], 122, 150, 184, 188Fn281 – 282, 193, 236 f., 251, 270 f., 283Fn18 Überbleibsel, Überlebsel 66, 117Fn129, 211 f., 284 ff. Überblick (s. auch Darstellung, übersichtliche) 239, 249 ff. Übereinstimmung [23], [27], 114, [161 ff.], 230, 248Fn401, 336, 371, 403 Überreden vs. Überzeugen 285Fn21, 293 Übersetzen, Übersetzung 159, 230 f, 336Fn5, 346 ff., 349, 352 f., [364], 366 f., 366Fn64, [370 f.], [376] Übersichtliche Darstellung s. Darstellung, übersichtliche Umgebung (s. auch Kontext, Zusammenhang) 29Fn8, [51 f.], 194, 246, 248 ff., 252Fn410, 304, 306Fn2, [315Fn21], 316 f., 317Fn23, 326, 344Fn18, 346 f., 346Fn23, [396] Umwelt 9, 262 f Ungerechtigkeit 268, 270, 359, 361 – s. auch Gerechtigkeit Unheimliche, das 173 f., 203, 217, 226, 230, 316 Universalismus, universalistisch 4, 10, 20, 59 f., 93 ff., 98 Universalsprachlich 1 f. Unsinn s. Irrtum und Unsinn Unverantwortlichkeit 270 Urbild (s. auch Vergleichsobjekt) 29, 56Fn62, 91, 104Fn100, 235 ff., 244Fn393, 256 f., 266 ff., 319Fn24, 346, 348, 396 Urpflanze 232 ff., 237Fn379, 238Fn379, 239Fn382, 246, 248, 250 f., 318, 319Fn24, 331. Urphänomen 59Fn71, [143], 221 f., 319Fn24, 386 Ursache s. Kausalität, Ursache Ursymbol 27 f., 266Fn435, 267 Urszene 327 ff. Utilitarismus, utilitaristisch 22, 64, 146, 223, 288 f, 294, 339, [343 f.], 382 – s. auch Nützlichkeit, Zweckhandlung

Variation, freie 244Fn390, 259 – centre of variation 238Fn380, 252 f. Vergleich, vergleichen, vergleichend 67, 165 ff., 264 ff. – falsche Vergleiche (s. unter Gleichnis, Analogie) 9, 380 Vergleichende Methode (Frazer) 5, 14, 17, 115, 193, 207 f, 223, 233, 245, 256 ff., 347, 351 Vergleichende Mythologie (Müller) 44, 111, 113 f. Vergleichsobjekt (s. auch Urbild) 9, 16, [130], 148, 176 f., 187 ff., 191, 239 f., 250, 250Fn404, 261 f., 264, 268 ff. Verifikation 34 ff., 72, 127 f.Fn156, 133, 127, 220, 277 f, 277Fn9, 322, 330, 334 Verstehen (s. auch Missverständnis) 1, 6, 10 f., 13 f., 15Fn24, 21, 24, 32 f., 47, 59, 80, 95, 121, 190, 215 f., 240, 243 f., 260, 310 ff., 366, 370 ff., 383 f., 395 – Verstehen vs. Erklären 116, 280Fn13, 281, 293 f. Verwandtschaft 70 f., 94 ff., 115, 163 f., 191, 243, 251, 265 ff. Verwendung 9, 73Fn30, 88Fn36, 92 f., 100, 105, 110, 113, 132, 196ff, 250, 256 ff., 272, 281, 307, 322 ff., 347 ff., 352, 353Fn38, 358, 365, 367, 376Fn85, 377 Verwunderung, Staunen 33, 42, 44 ff., 189, 202, 206, 211 f., 217Fn340, 229Fn363, [265], 365 Vorsprachlich 41, 73, 326, 385 – s. auch Gebärde, Geste, Instinkthandlung, Reaktionen, primitive Vorstellung, Vorstellungsbild 71, 93Fn73, 104Fn98, 161 ff., 180 ff., 196Fn297 , 325, 338 ff. Wahnsinn, Verrücktheit 152 f., 161 ff., 372 f., 392 Wahrscheinlich, Wahrscheinlichkeit 53, 230 Waldkönig s. Priesterkönig Wandlungen der Bedeutung 98 ff., 113Fn18, 197, 198, 260, 263 Wandlungen der Sprache (Paul Ernst) 112 f. Welt 1, 24, 46, 48, 84 f.

Sachregister

Weltanschauung 14, 43 f., 52, 122, 125, 191 ff., 272, 311, 319Fn24 – Weltanschauung vs. Weltauffassung 134Fn173, 194 Weltbetrachtung, „Betrachtung der Welt“ 31, 32, 35Fn21, 46, 58, 141 Weltbild 2, 10, 20, 23, 106, 133, 136Fn178, 144, 155, [158Fn224], 161, 164, 194Fn293, 294, 375, 382 ff., 383Fn96, 384 ff., 390 ff., 393Fn120 Weltbildsätze 392 f, 392Fn118, 394 Wesen 9, 192, 194 f., 199 f., 307, 372, 372Fn76 – 77 – W. der Welt, der Sprache 83 ff., 252, [259] – wesentliche vs. unwesentliche Probleme 84 f., [272] – imaginäre Wesenheiten 92 f., 103 f., 113, 355 Wilde (s. auch Primitive) 45, 64, 66Fn12, 67 f., 67Fn19, 68 ff., 74 f.Fn32, 94, 97, [139 f.], 153Fn209, 157 f., 160, 162, 163, [243], 313, 336, 383 Willkürlichkeit der Grammatik s. Autonomie der G. Wissen 28 f., 55, 61, 65 f., 222 f., 282Fn15, 368, 383 f, 391, 394 ff. Wissenschaft, wissenschaftlich 49, 57 ff., 156 f., 194 ff., 194Fn293, 200, 202Fn308, 208 ff., 227 ff., 232, 255, 258, 318, 321 ff., 337, 341, 360 f., 368 Wissen-Wie und Wissen-Dass 19, 137, 367 Witz 22, 310, 310Fn8, 370 f., 380 ff., 395 f. Worte, magische Macht der 76 f., 81 Wörterbuch 91 f., 96 Wunder 33Fn19, 35Fn21, 46 f., 46Fn45, 47Fn47 , 216 Wunderbar, das Wunderbare 33Fn19, 47, 131 Wunsch, 158, 166 ff., 170, 170Fn242, 180, 184 f., 199, 287, 309, 313, 328, 331 – unbewusster W. 104 – einen W. ausdrücken/darstellen 127, 165 ff., 165Fn237 , 170

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Zeichen (s. auch Symbol, Symbolismus), magische vs. logische Auffassung der Z. 76 ff. – dynamische Betrachtung der Z. 7, 18 – Z. vs. Anzeichen 167 f. – primäre Z. s. unter Sprache, primitive Sprache u. unter Gebärde, Geste) 71 f., 98 f. – Z. der Pietät s. Pietät Zeichenerklärung (vs. Kausalerklärung) 7 f., 15, 41 f., [82], 148, 179Fn261, 190, 196Fn298, 201 f., 215 ff., 221 ff., 230 ff., 258Fn421, 280 f., 293 f., 311, 328, 334, 351, 365, 381 f. Zeigen vs. sagen 26 f., 33, 37, 84, [86] Zeremonie, zeremoniell (s. auch Ritus, rituell) [119], 147 f., 150, [152Fn206], 165Fn236, 177 f., [193], [198], 230 f., 243, 247, 259 – der Mensch als z. Tier [9], 144 ff., 178, 262, 379Fn91 Zivilisation 11, 25 f., 32, 50, 59, 110Fn113, 194 f. Zusammenhang (s. auch Kontext, Umgebung), formaler versus kausaler Z. 42, 80, 166 f., 170, 203, 220, 232 ff., 240 ff. – kultureller Z. 16 f., 110, 130, [234], 256, 272 f., 326 ff., [348] – pragmatischer Z., Handlungszusammenhang 8 ff., 18, 21, 37 f., 81, 132, 133, 151Fn204, 172, 215Fn334, 339, 339Fn7 , 345 Zusammenstellung, zusammenstellen 8, 35Fn20, [200], 203, 222, 232, 246, 248, 257, 259, 347 – Zusammenstellung zweier Dinge (primitive Auffassung des Satzes) 102 Zweckhandlung 183 f., 257, 262, 290 f., 360, 367Fn66, 367Fn70, 379 Zweifel [89], [153], 220, 220Fn347 , 227, 239, [256], 320, 376Fn83 – 84, 377, 383, 386Fn107 , 388, 390 ff. Zwischenglieder 99Fn89, [177], [223], 240 ff., 244, 246, 258, 263, [359] Zwischenstufen 61, 82Fn50, 99, [173], [233], [244Fn393], 282 f., 353 ff., 367

Danksagung Die vorliegende Untersuchung geht auf meine Habilitationsschrift im Fach Philosophie zurück. Sie trug den Titel ‚Fremde Lebensformen. Sprache und Kultur in der Entwicklung von Wittgensteins Philosophie‘ und wurde im Sommersemester 2004 von der Fakultät I Geisteswissenschaften der Technischen Universität Berlin angenommen. Unmittelbar nach der Habilitation trat ich eine Professur an der Università del Salento im italienischen Lecce an, womit ganz andere Verpflichtungen verbunden waren. Ich musste die Überarbeitung aufschieben, und die Aktualisierung erforderte dann mehr Zeit als gedacht. Der mittlere Abschnitt der Arbeit (über Wittgensteins Auseinandersetzung mit Frazers Hauptwerk) wuchs und wuchs, dem Golden Bough hierin nicht ganz unähnlich, so dass am Ende der ursprüngliche erste Abschnitt wegfallen und der letzte drastisch gekürzt werden musste. Diese Abschnitte enthielten im Wesentlichen eine ausführliche Darlegung von Wittgensteins philosophischem Standpunkt zur Zeit seiner ersten Bemerkungen über Frazer im Jahr 1931 und den Versuch, die Entstehung seiner ‚ethnologischen Betrachtungsweise‘ Schritt für Schritt nachzuzeichnen. Eine erste Fassung einiger Teile dieses Buches (Brusotti 2000) geht bis auf die Jahre 1998 – 2000 zurück, in denen ich am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin (Prof. Dr. Günter Abel) im Rahmen des durch die VolkswagenStiftung geförderten Schwerpunktes „Das Fremde und das Eigene – Probleme und Möglichkeiten interkulturellen Verstehens“ an einem Projekt über „Grundzüge interkultureller Hermeneutik und Methoden des Kulturverstehens“ arbeitete. In den Jahren nach der Habilitation hatte ich im Rahmen von Kolloquien und Tagungen immer wieder Gelegenheit, Gedanken und Thesen daraus mitzuteilen. Nach und nach sind Teile dieser Studie oder Vorstufen dazu einzeln erschienen; die entsprechenden bibliographischen Angaben finden sich im Text. Bei einer Arbeit, die sich über eine so lange Zeit erstreckte, kann auch die Liste der Danksagungen nicht kurz sein: Dem Erstgutachter, Prof. Dr. Günter Abel (TU Berlin), und dem auswärtigen Gutachter, Prof. Dr. Tilman Borsche (Universität Hildesheim), danke ich sehr für ihre detaillierten Gutachten zur genannten Habilitationsschrift. Während eines kurzen Aufenthalts im Wittgenstein Archive (Cambridge) hat mir Michael Nedo freundlicherweise einige Transkriptionen aus einem unveröffentlichten Band seiner Wiener Ausgabe zur Verfügung gestellt, insbesondere diejenige des Taschennotizbuchs Ms 153a. Im Sommer 2013 hatte ich die Möglichkeit, im Manuscripts Reading Room der Cambridge University Library Moores unveröffentlichte Mitschriften von Wittgensteins Vorlesungen der frühen dreißiger

Danksagung

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Jahre einzusehen, zu digitalisieren und die Vorlesung vom May Term 1933 zu entziffern. Die Bibliothekare des Manuscripts Reading Room und insbes. der Superintendent Dr. Frank Bowles haben mich bei meinen Forschungen sehr unterstützt. Im Februar 2014 wurde den Autoren eines von Lars Albinus und Josef Rothhaupt herausgegebenen Sammelbandes zu Wittgenstein und Frazer und auch mir die unveröffentlichte Entzifferung von den Mitschriften der Sitzungen am 5. und 9. Mai 1933 zugeschickt, und ich konnte diese wichtige Vorarbeit zur künftigen Ausgabe (Hg.: G. Citron/D. Stern/B. Rogers) mit meiner Wiedergabe der entsprechenden Stellen vergleichen. Es bleiben jedoch Abweichungen, und für eventuelle Fehlentzifferungen trage ich – wie bei der Transkription der übrigen Vorlesungsmitschriften aus dem May Term 1933 – die alleinige Verantwortung. Das Namenregister wurde im Wesentlichen von M.A. Alice Togni hergestellt und das Sachregister von Dr. Moira De Iaco und M.A. Sergio Solombrino. Die Reihenherausgeber, insbesondere Stefan Majetschak und Josef G. F. Rothhaupt, haben das Buch in die Reihe ‚Über Wittgenstein‘ aufgenommen. Beim de Gruyter Verlag haben insbesondere Dr. Gertrud Grünkorn (Editorial Director Philosophy) und Christoph Schirmer (Project Editor) das Buch betreut. Für die Herstellung war Kathleen Prüfer (Production Editor) zuständig. Ihnen allen möchte ich ganz herzlich danken! Mein größter und persönlichster Dank gebührt wie immer Sabine Mainberger: für die vielen gemeinsamen Jahre, in denen nicht nur diese Studie unterwegs war, für die aufmerksame und kritische Lektüre, für die unzähligen Gespräche, in denen das Buch deutlichere Konturen gewann und facettenreicher wurde, und vor allem einfach dafür, dass sie an meiner Seite ist.