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German Pages [177] Year 2020
DORIS KAUFMANN
ORNAMENTWELTEN ETHNOLOGISCHE EXPEDITIONEN
UND DIE KUNST DER »ANDEREN« (1890–1930)
Doris Kaufmann
Ornamentwelten Ethnologische Expeditionen und die Kunst der »Anderen« (1890–1930)
Böhlau Verlag wien köln weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Papiermuster der Nanai. In : B. Laufer, The Decorative Art of the Amur Tribes, New York 1902, 45 Einbandgestaltung : Guido Klütsch, Köln Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51836-3
Inhalt
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse. . . . . . . . . . . . .
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II. Ornamente als Volkssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Ornamente als Geschichtserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Ornamente als Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Kunst-Diskussion in der amerikanischen Kulturanthropologie um Franz Boas, 1890–1930 Die sibirischen Ethnien am Amur und auf Sachalin im Blick des Orientalisten Berthold Laufer, 1898–1899
Deutung und transkulturelle Rezeption »primitiver Südseeornamentik« auf der Haut – der Völkerkundler Karl von den Steinen auf den Marquesas
Koloniales Sammeln, ethnologisches Wissen und das afrikanische Kunsterbe – Expeditionen in das kongolesische Königreich der Kuba, 1885–1908
Einleitung
Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre lieferten sich Völkerkundler, Archäologen, Prähistoriker, Kunsthistoriker, Entwicklungspsychologen und Soziologen einen erbitterten Streit über die Ornamentik insbesondere der sogenannten Naturvölker. Mitgetragen von Künstlern, Journalisten, Reiseschriftstellerinnen und -schriftstellern wurde die transdisziplinäre und transnationale wissenschaftliche Debatte über Ornamente auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Mittelpunkt stand nichts weniger als die Frage nach dem Ursprung des Menschen und nach der Entwicklung der Menschheit zur »westlichen Zivilisation«. Abenteurer, Kapitäne, Kolonialbeamte, Kolonialoffiziere und -soldaten, Kaufleute, Händler, Missionare und Völkerkundler brachten im Zuge der kolonialen Eroberung der Welt von ihren Reisen und Expeditionen für den europäischen Geschmack ästhetische und außergewöhnliche Dinge mit nach Europa. Ihre besondere Aufmerksamkeit richtete sich von Beginn an auf ornamentierte Gegenstände. Prominent präsent in den Sammlungen der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründeten Völkerkundemuseen, auf Völkerschauen, in Welt-, Kolonial- und Gewerbeausstellungen, auf Kolonialpostkarten und -briefmarken, auf Sammelbildern, in illustrierten Zeitschriften wie dem Globus und der Gartenlaube, auf Buchumschlägen von Abenteuer-, Jugend- und Reiseliteratur, in Musterbüchern, als Motiv in belletristischer Literatur und als Gegenstand von wissenschaftlichen Monographien und Aufsätzen – niemand hätte dem Ethnologen Karl Weule widersprochen, der 1896 in der Festschrift für den Nestor der deutschen Völkerkunde Adolf Bastian »die Stunde der Ornamentik« der »Naturvölker« ausrief.1 Diese Stunde war mit tätiger Sammelhilfe der Ethnologen eingeläutet worden. Sie stand für den ersten großen Arbeitsschwerpunkt in der frühen Phase der professionellen Etablierung ihres Fachs.2 Zwar unterschied sich die Praxis aller 1 Karl Weule : Die Eidechse als Ornament in Afrika. In : Festschrift für Adolf Bastian zu seinem 70. Geburtstage, Berlin 1896, 169–194, hier 171. 2 Siehe dazu Glenn H. Penny : Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill/London 2002.
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Einleitung
beteiligten europäischen Sammler nicht grundsätzlich voneinander – genauer : die Aneignung und der ungleiche Tausch im kolonialen Machtzusammenhang. Doch grenzten sich die Völkerkundler von den anderen Sammlern ab. Nicht das Mitbringen exotischer Souvenirs und Trophäen für private Schauzwecke oder ein Verkaufsgewinn auf dem zunehmend boomenden Ethnographica-Markt, sondern die Rettung der materiellen Kultur der »Naturvölker« (die sogenannte Salvage Anthropology), die durch den Kontakt mit der westlichen Zivilisation von Zerstörung bedroht war, sollte die Sammlungspraxis bestimmen und Wissen über die außereuropäischen Anderen generieren, nicht zuletzt auch zum Vorteil der kolonialen Herrschaftssicherung.3 »Anleitungen für ethnographische Beobachtungen und Sammlungen«4 gaben den nach wie vor unverzichtbaren Zulieferern in kolonialen Handels- und Staatsdiensten und Missionen sowie den Völkerkundlern selbst einen ausführlichen Aufgabenkatalog mit auf den Weg. Aus allen Bereichen des alltäglichen, religiösen und politischen Lebens und Arbeitens sollte gesammelt werden. Die Stücke waren zu nummerieren und mit genauen Angaben zu Namen und Verwendung zu versehen. Dringend erwünscht waren ebenfalls Auskünfte über ihre Bedeutung in religiösen Kontexten. Dass dieser Auftrag schwer einlösbar sein würde, war dem Verfasser der deutschen Anleitungsschrift Felix von Luschan bewusst. »Ohne vollständige Beherrschung der einheimischen Sprachen sowie jahrelangen intimen Verkehr mit den Eingeborenen«5 konnte nur eine möglichst umfangreiche empirische Materialsammlung erwartet werden. Aber genau sie bildete im ethnologischen Selbstverständnis um die Jahrhundertwende die wichtigste Grundlage für die Arbeit der Ethnologen in ihren Heimatländern. Zumeist als Zoologen, Botaniker und Mediziner ausgebildet mit überwiegend evolutionistischem Hintergrund, nahmen sie die Ornamente auf den unter 3 »Wir (haben) längst schon eingesehen, dass auch politische Erfolge in den Schutzgebieten stets nur auf der Grundlage ethnographischer Erfahrungen erwartet und erreicht werden können und dass Unkenntnis der ethnographischen Verhältnisse nur allzu oft von politischen Misserfolgen und von großen Verlusten an Geld und Menschenleben gefolgt war.« So Felix von Luschan : Anleitung für ethnographische Beobachtungen und Sammlungen in Afrika und Oceanien, Berlin 1899, 101. 4 Von Luschan, Anleitung ; Notes and Queries on Anthropology for the use of Travellers and Residents in Uncivilized Lands, hg. v. British Association for the Advancement of Science, London 1874. Die »Notes and Queries« erschienen 1892 in einer 2. und 1899 in einer 3. Auflage ohne Zielgruppenangabe im Titel. 5 Felix von Luschan : Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf dem Gebiete der Anthro pologie, Ethnographie und Urgeschichte, Leipzig 1910, 88.
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schiedlichen gesammelten Gegenständen wie Objekte der Natur – Tiere, Pflanzen und Mineralien – in den Blick. Sie lösten die Ornamente von ihren Trägerobjekten, von sozialen und religiösen Kontexten und damit von ihren charakteristischen Bedeutungen und Verwendungen in den außereuropäischen Kulturen. Die Ornamente wurden in hierarchische Gruppen eingeteilt und in eine zeitliche Entwicklungsreihe eingeordnet, die eine stetige Höherentwicklung der Ornamentformen konstruierte – meist von einer konkreten zu immer abstrakteren Darstellungen eines Naturmotivs.6 Auf Basis dieses evolutionären Konzepts konstatierten die Völkerkundler auch »Verkümmerungs-« und »Wucherungsprozesse« in der Ornamentik einzelner »Naturvölker« sowie Redundanz und mangelnde Variabilität bei anderen. Sie galten ihnen als Zeichen für ein mangelhaftes künstlerisches Vermögen und für eine niedrige Platzierung auf der evolutionären Stufenleiter der Zivilisationsentwicklung. Der evolutionistische Ansatz blieb nicht unwidersprochen. Prominentester Kritiker war Franz Boas, der im Mittelpunkt des ersten Kapitels dieses Buchs steht. Der Begründer der amerikanischen Kulturanthropologie wies unter Hinweis auf seine Ornamentforschungen bei den Native Americans der Nordwestküste die behauptete Kongruenz von gesellschaftlicher Entwicklungsstufe und spezifischer Kunstform zurück und erklärte außerdem den autonomen Ursprung von Ornamentik. Ornamente waren bei Boas Beweisstücke in seiner anti-evolutionären Kritik wie auch indigene Kunstartefakte. Kunstforschung wurde in der Kulturanthropologie Boas’scher Prägung, in der ebenfalls Räume für individuelle Kreativität in den Grenzen künstlerischer Tradition zum Thema wurden, bis in die 1920er Jahre zu einem der Schlüssel, Singularität und Eigenwert, d. h. die grundlegende Idee einer außereuropäischen Ethnie – gedacht als Kulturentität, als »cultural whole« – zu erfassen. Deutlich folgte der Orientalist Berthold Laufer, der im zweiten Kapitel vorgestellt wird, diesem Ansatz. Als Teilnehmer der von Boas initiierten und geleiteten Jesup North Pacific Expedition (1897–1902) untersuchte er die Ornamentik der sibirischen Ethnien am Amur. Er bewertete ihre Ornamentmuster auf Fischhaut, Leder, Seidenstoffen und Papier als Kunstwerke und interpretierte sie im Kontext seiner ethnologischen Forschungsarbeit als Volkssprache. Die ornamentale Kunst insbesondere der Golden (heute Nanai) sicherte ihnen nach Laufer einen Platz unter den »civilized nations« unter der Voraussetzung, dass es den Golden
6 Als Beispiel Alfred C. Haddon : Evolution in Art – As Illustrated by the Life-Histories of Designs, London 1895.
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gelänge, ihre kulturelle Selbstbehauptung gegenüber russischer Einflussnahme – das Amurgebiet wurde 1858 dem Zarenreich einverleibt – zu bewahren. Der Völkerkundler Karl von den Steinen, Hauptfigur im dritten Kapitel, gehörte ebenfalls zum Boas’schen deutschen Netzwerk. Er reiste 1897 als Salvage Anthropologist auf die ostpolynesische Inselgruppe der Marquesas in französischem Kolonialbesitz. Ein vordringliches Ziel war, »die Geheimnisse einer ganz ungewöhnlichen und rätselhaften Ornamentik«7 auf der Haut der Marquesaner und Marquesanerinnen aufzudecken. In enger Zusammenarbeit mit alten, nicht mehr praktizierenden Tätowiermeistern – die Kolonialregierung hatte die Praxis des Tätowierens verboten – trug er eine umfassende Sammlung der Ende des 19. Jahrhunderts noch vorhandenen Tätowiermuster als Zeichnungen auf Papier zusammen. Um ihre Bedeutung zu entschlüsseln, arbeitete von den Steinen mit einem frühen Oral History-Ansatz, d. h. er interviewte alte Marquesanerinnen und Marquesaner. Zudem untersuchte er die Muster auf Veränderungen in der Zeit und wertete frühere Literatur von Naturforschern, Kapitänen und Missionaren aus. Im Ergebnis wurden die Tätowiermuster zu Quellen, die die Geschichte der Marquesas erzählen. Der Tätowierungsband und seine Abbildungen erfuhren fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung ein weltweites Interesse und zirkulierten in heterogenen Rezeptionsmilieus. Das Buch – im kolonialen Kontext verfasst – wurde zum Bildarchiv für eine Rekonstruktion der »vergessenen Geschichte« der Marquesas in den kolonialkritischen kulturellen Revival-Bewegungen der 1970er Jahre in Polynesien. Bis heute sind die abgebildeten Musterblätter wie auch Einzelmotive international präsent in Tätowierstudios, in der Südsee-Tourismus-Werbung, in der globalen Kunstszene und nicht zuletzt im marquesanischen Tourist Art-Geschäft. Bedeutungswandel und Zirkulation von Ornamentmustern in verschiedenen politischen und kulturellen Verwendungskontexten ist auch ein wichtiges Thema im vierten Kapitel. Untersucht wird, welche Transformationen die ornamentierten Raphia-Stoffe aus dem kongolesischen Königreich der Kuba, der sogenannte Kasai Velvet, seit der kolonialen Eroberung des Kongo durch die Belgier durchliefen – vom Souvenir und von einer Trophäe zum ethnologischen Wissensobjekt mit Wert für die Kolonialadministration, zum Instrument in der belgischen 7 Karl von den Steinen : Die Marquesaner und ihre Kunst. Studien über die Entwicklung primitiver Südseeornamentik nach eigenen Reiseergebnissen und dem Material der Museen, Bd. 1 : Tatauierung. Mit einer Geschichte der Inselgruppe und einer vergleichenden Einleitung über den polynesischen Brauch, Berlin 1925, Vorwort, unpag.
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und bakubanischen Gabenpolitik, zum Gegenstand in Völkerkundemuseen, zur Ware auf dem Ethnologica- und Kunstmarkt, zum Kunstwerk in Kunstausstellungen und -museen, zur Vorlage für amerikanische Designer und Textilindustrie und zum Ausdruck des afrikanischen Kunsterbes und Beweis für die kreativen Fähigkeiten der (im zeitgenössischen Sprachgebrauch) »Negro race« in der Harlem Renaissance der 1920er Jahre. Bei Boas, Laufer, von den Steinen und den beiden Ethnologen des Kongo-Kasai William Sheppard und Emil Torday fungieren die Ornamente auf menschlicher und tierischer Haut, auf Stoffen und Papier als ethnologische Objekte, die Wissen über die untersuchten Kulturen liefern. Sie werden aber zugleich auch als Kunstartefakte beschrieben, deren ästhetische Qualität betont wird. Damit überschreiten sie in den Schriften dieser Ethnologen die getrennten Zonen von Ethnologie und Kunst.8 Eine Grenzüberschreitung, die das europäische Kunstverständnis zu erweitern beginnt, bevor in den 1910er Jahren mit Carl Einsteins Buch Negerplastik sowie durch mehrere Galerieausstellungen in Frankreich und den USA und mit dem Interesse der europäischen künstlerischen Avantgarde vorrangig die afrikanische Plastik ihren Siegeszug als universale Kunst antritt. Ethnologen waren die ersten, die vor Ethnologica-Sammlern und Sammlerinnen, Kunsthändlern, Künstlern, Galeristen, Museumskuratoren, Kunstwissenschaftlern und Publizisten außereuropäische Artefakte als Kunst »nobilierten«, wie es Walter Grasskamp ausgedrückt hat, und damit den europäischen Kunstbegriff des späten 19. Jahrhunderts in Frage stellten.9
8 Dazu James Clifford : On Collecting Art and Culture. In : Ders.: The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge/London 1988, 215–251 ; Sally Price : Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, u. a. 125–150. 9 Walter Grasskamp : André Malraux und das Imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon, München 2014, 115. Zu den Entwürfen eines Weltkunstkonzepts in der Kunstgeschichte bzw. Kunstwissenschaft um 1900 siehe Ulrich Pfisterer : Origins and Principles of World Art History – 1900 (and 2000). In : Kitty Zijlmans/Wilfried van Damme (Hg.) : World Art Studies. Exploring Concepts and Approaches, Amsterdam 2008, 69–89.
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I. Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse Die Kunst-Diskussion in der amerikanischen Kulturanthropologie um Franz Boas, 1890–1930*
Eine Untersuchung über das Verhältnis von Ethnologie und Kunst(-Geschichte) von der Jahrhundertwende bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kann an einem zentralen vieldiskutierten zeitgenössischen Werk nicht vorbeigehen. Es beeinflusste in unterschiedlicher Weise die Teilnehmer der ethnologischen Expeditionen nach Sibirien, in die Südsee und in den Kongo, die in diesem Buch vorgestellt werden. Sein Autor steht zugleich für einen neuen Ansatz in der Anthropologie. Gemeint ist Franz Boas’ Buch Primitive Art 10, das bis heute als Klassiker gilt. Es fasst Boas’ Forschungen zum Thema außereuropäischer Kunst zwischen 1890 und 1916 zusammen. Im Jahr 1927 erstmals veröffentlicht und 1955 als Taschenbuch in einer Neuauflage erschienen, ist Primitive Art noch immer auf dem Buchmarkt erhältlich und eine Referenzgröße für Kunstwissenschaftlerinnen, Ethnologen, Kulturanthropologen und Kulturhistorikerinnen geblieben. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen verbeugen sich vor dem »great anthropologist« Franz Boas wie der Kunsthistoriker und Warburg-Biograph Ernst Gombrich 2002 in seinem letzten Buch The Preference for the Primitive. Gombrich betont mit Bezug auf Boas ausdrücklich : »Makers of primitive images should not be characterized as primitive species of the human race«.11 Auch der Ethnologe Lorenzo Brutti beruft sich auf Boas’ Buch als Ausgangspunkt seiner scharfen Kritik an * Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes Die Entdeckung der ›primitiven Kunst‹. Zur Kulturdis kussion in der amerikanischen Anthropologie um Franz Boas, 1890–1940. In : Hans-Walter Schmuhl (Hg.) : Kulturrelativismus und Antirassismus. Der Anthropologe Franz Boas (1858– 1942), Bielefeld 2009, 211–230. 10 Franz Boas : Primitive Art, New York 1955 (zuerst 1927). Der Begriff »Primitive Kunst« aus dem Untersuchungszeitraum wird auch im Folgenden verwandt. »Primitive Kunst« als im kolonialen Zusammenhang konstruiertes Sujet mit abwertender Konnotation, das in der heutigen postkolonialen Zeit verschwunden ist, wird jedoch auch gegenwärtig noch in Bezeichnungen wie Stammeskunst oder Tribal Art, Ethnic Art und l’art premier weitergeschrieben. Dazu Price, Primitive Kunst. 11 Ernst H. Gombrich : The Preference for the Primitive. Episodes in the History of Western Taste and Art, London/New York 2002, 269 ff., hier 273.
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Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse
dem 2006 eröffneten Pariser Musée du Quai Branly, das die Sammlungen des Musée de l’Homme und des Musée des Arts d’Afrique et d’Océanie unter einer universalistischen Kunstkonzeption vereinigt, die die verschiedenen kulturellen, sozialen und politischen Kontexte der Artefakte zum Verschwinden bringe.12 Die Anthropologin Aldona Jonaitis aus Alaska schließlich betont, dass Boas nicht allein die Grundlage für alle weiteren Analysen der amerikanischen Nordwestküsten-Kunst gelegt habe, sondern auch eine vorbildliche Wissenschaftlerpersönlichkeit gewesen sei : »Boas has given us an early model of how values and tolerance coupled with openness and critical judgement can coexist without grinding down or dismissing the Native people studied«.13 Diese Stimmen aus unserer Gegenwart ließen sich leicht um zeitgenössische Urteile aus den 1920er Jahren vermehren. Umso überraschender ist auf den ersten Blick die Rezension des Boas’schen Buches von Alfred L. Kroeber, die 1929 im zentralen Fachorgan American Anthropologist erschien.14 Kroeber, einflussreicher Professor für Anthropologie an der University of California in Berkeley, war Franz Boas’ erster Doktorand gewesen – er hatte 1901 über Decorative Symbolism of the Arapaho promoviert – und galt lange als einer der führenden »Boasians« der zweiten Generation.15 Kroeber warf Boas vor, zwar jeden erdenklichen Aspekt »Primitiver Kunst« systematisch behandelt und die Komplexität des Phänomens erschöpfend herausgearbeitet 12 Lorenzo Brutti : Die Kritik. Ethnographische Betrachtungen des Musée Du Quai Branly aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters. In : Cordula Grewe (Hg.) : Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft, Stuttgart 2006, 231–251. Zur Gründungsgeschichte und Kritik des Musée Du Quai Branly siehe Sally Price : Paris Primitive. Jacques Chirac’s Museum on the Quai Branly, Chicago 2007. 13 Aldona Jonaitis (Hg.) : A Wealth of Thought. Franz Boas on Native American Art, Seattle 1995, 335 ; siehe die instruktive Einführung der Herausgeberin ebd., 3–37. Ein vorzüglicher Abriss von Boas’ Kulturanthropologie auch bei Boris Weiler : Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der »jungen« Anthropologie, Bielefeld 2006, 296–415 ; Alexa Geisthövel : Intelligenz und Rasse. Franz Boas’ psychologischer Antirassismus zwischen Amerika und Deutschland, 1920–1942, Bielefeld 2013. 14 Alfred Kroeber : Review of Primitive Art by Franz Boas. In : American Anthropologist 31, 1929, 138–140. 15 Ira Jacknis : The First Boasian. Alfred Kroeber and Franz Boas, 1896–1905. In : American Anthro pologist 104, 2002, 520–532 ; Marvin Harris : The Rise of Anthropological Theory. A History of Theories of Culture. Aktual. Ausg., Walnut Creek 2001, 319–342 ; Thomas Buckley : »The Little History of Pitiful Events«. The Epistemological and Moral Contexts of Kroeber’s Californian Ethnology. In : George W. Stocking (Hg.) : Volksgeist as Method and Ethic. Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition, Madison 1996, 257–297 ; Theodora Kroeber : Alfred Kroeber. A Personal Configuration, Berkeley/Los Angeles/London 1979.
Die Kunst-Diskussion in der amerikanischen Kulturanthropologie
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zu haben, jedoch keine umfassende These zu liefern, die seine Ergebnisse zusammenbinde. Boas gehe naturwissenschaftlich vor, nicht historisch. Er zerreiße die Raum-Zeit-Relation der kulturellen Phänomene, um einzelne dynamische Elemente herauszufiltern. Dies sei die im Labor übliche Methode. Boas habe mit allen seinen Arbeiten die Anthropologie so nahe wie möglich an die Naturwissenschaften herangeführt – so Kroebers Hauptargument, das er 1935 in einem langen Grundsatzartikel History and Science in Anthropology weiter ausführte.16 Als Beispiel für Boas’ vorherrschende naturwissenschaftliche Orientierung galt Kroeber auch hier dessen Umgang mit der Kunst. Boas setze sich in Primitive Art nicht mit dem elementaren kunsthistorischen Begriff des Stils auseinander. Dies heiße, auf ein historisches Vorgehen zu verzichten, das nach Kroeber eine beschreibende und interpretierende Integration von kulturellen Phänomenen bedeute. Nicht die Analyse von »small bits of culture« wie der Nadelbüchsen aus Alaska, der Bieberhüte der Nordwestküste und der aztekischen Tonscherben, die Boas in seinem Buch behandele, sondern eine kohärente Synthese der Totalität einer Kultur als ein lebender Organismus müsse die Aufgabe der Anthropologen sein.17 Die Werke der Boas-Schülerinnen Ruth Benedict, Margaret Mead und Ruth Bunzel aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren führte Kroeber als gelungene Beispiele dafür an und rückte ihre Arbeiten »in its essential character and spirit« in die Nachfolge von Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien.18 Kroebers Anwürfe veranlassten Boas zu einer längeren zurückweisenden Replik,19 in der er sich zur Untersuchung von »cultural wholes« bekannte und für einen vorurteilslosen Gebrauch von historischen und naturwissenschaftlichen Methoden in der Anthropologie eintrat – nach den jeweiligen Erfordernissen des zu lösenden Problems. Zur konkreten Kritik verwies er auf sein längeres Kapitel über Stil in Primitive Art. »Maybe Dr. Kroeber has an idea of his own of what 16 Alfred Kroeber : History and Science in Anthropology. In : American Anthropologist, 37, 1935, 539–569. Zur Integration von natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissensfeldern in der Boas’schen Kulturanthropologie Doris Kaufmann : »Rasse und Kultur«. Die amerikanische Kulturanthropologie um Franz Boas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Gegenentwurf zur Rassenforschung in Deutschland. In : Hans-Walter Schmuhl (Hg.) : Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, 309–327. 17 Kroeber, History, 556. 18 Ebd., 557. 19 Franz Boas : History and Science in Anthropology. A Reply. In : Ders., Race, Language and Culture, New York 1940, 305–311.
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Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse
style is, as he has an idea of his own of what history is«, schrieb Boas.20 Er verstand Kroebers Kritik nicht. Noch in den 1980er Jahren bewegte die Erinnerung an diese Auseinandersetzung um Stil und Geschichte den Anthropologieprofessor und ehemaligen Boas-Schüler Alexander Lesser zu einer Attacke auf Kroe ber, über den Boas in einem Brief geschrieben habe : »He never thinks anything through«.21 Die Kontroverse zwischen Boas und Kroeber22 ist Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung. Zum einen soll nach der bisher wenig untersuchten und unterschätzten Bedeutung gefragt werden, die der Gegenstand »Primitive Kunst« in der knapp fünfzigjährigen Wissenschaftsgeschichte der von Boas geprägten Kulturanthropologie zwischen 1890 – dem Erscheinungsjahr seines ersten Artikels zum Thema – bis in die 1930er Jahre spielte. Zum anderen sollen begriffliche und methodische Transferprozesse zwischen Anthropologie und Kunstgeschichte thematisiert werden. Wie oben erwähnt, konnte der kunsthistorische Begriff des Stils ebenso wie der Bezug auf den Schweizer Kunsthistoriker Jacob Burckhardt zum Kritikarsenal eines Anthropologen gehören. Die Rezeptionsprozesse zwischen anthropologischem und kunstgeschichtlichem Wissen besaßen in unserem Fall auch eine räumliche, internationale Dimension. Sie waren Austauschprozesse zwischen nordamerikanischen Anthropologen, deutschen Völkerkundlern – Letztere vor allem aus dem alten Boas’schen Netzwerk aus Berliner Zeiten23 – und deutschsprachigen Kunsthistorikern. Das Sujet der »Primitiven Kunst« nahm in der Formierungsphase der Kulturanthropologie einen breiten Raum ein. Grund war die Forschungspraxis, die sich zunächst auf die Sammlung von sogenannten Ethnologica für Museen konzentrierte. In seiner Feldforschungszeit zwischen 1883 und 1900 folgte Boas – abgesehen vom Sammeln linguistischen Materials und von Volksmärchen – der vorherrschenden objektzentrierten Arbeitsweise.24 Als einer der wichtigsten Vertreter einer Neuorientierung in der Anthropologie, die sich in den 1880er Jahren durchzusetzen begann, forderte er jedoch eine veränderte Sammlungspraxis. Der wissenschaftliche Wert eines gesammelten Objekts sollte allein an der Zuordnungsfähigkeit in einen spezifischen kulturellen Herkunftskontext gemessen 20 Ebd., 308. 21 Alexander Lesser : Franz Boas. In : Sydel Silverman (Hg.) : Totems and Teachers. Key Figures in the History of Anthropology, Walnut Creek 22001, 1–23, hier 22. 22 Siehe auch Harris, Rise, 276–277. 23 Dazu Geisthövel, Intelligenz, 107–127. 24 Ira Jacknis : The Ethnographic Object and the Object of Ethnology in the Early Career of Franz Boas. In : Stocking, Volksgeist, 185–214.
Die Kunst-Diskussion in der amerikanischen Kulturanthropologie
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werden. Daher mussten möglichst viele Informationen über Funktionsweise und kulturellen Platz erlangt werden. Die ästhetische Wertschätzung einzelner Artefakte trat demgegenüber mindestens programmatisch in den Hintergrund.25 So schrieb Boas im Herbst 1886 an seinen ehemaligen Kollegen Felix von Luschan aus dem Berliner Völkerkundemuseum26 über seine nordamerikanische Nordwestküsten-Reise : »Der Himmel verzeihe, was frühere Sammler gesündigt haben. Die Sachen, zu denen man hier nicht gleich die Geschichte sammelt, werden größtentheils immer unverstanden bleiben.«27 Dass dieses Geschichte-Sammeln vor Ort jedoch im Falle mancher »Sachen« schwierig, ja fast unmöglich war, erfuhr Boas bei seiner ersten Feldforschung selbst. Das Wissen über die Bedeutung bestimmter Kunsterzeugnisse war keineswegs allgemein und nicht immer von den sogenannten indigenen Informanten zu erhalten. Oftmals war es an einen hohen sozialen Rang und ein damit verbundenes Eigentumsrecht geknüpft.28 Doch breit gesammelt und beschrieben werden konnten und sollten Alltags- und Arbeitsgegenstände.29 Dies stand im Einklang mit dem Ansatz der sogenannten Salvage Anthropology, die so viel wie möglich von den materiellen Erzeugnissen einer fremden Kultur vor ihrem Kontakt mit der zerstörerischen »weißen Zivilisation« retten wollte. Ein umfassendes Sammeln war zudem ein zwingendes Gebot, da fremde Kulturen als singuläre Einheiten (wholes) galten, in die sich die verschiedenen kulturellen Einzelphänomene integrierten. Dieser neue Aspekt wurde besonders von Boas betont. Der Historiker Glenn Penny hat in seinem Buch Objects of Culture dargelegt, dass das ethnologische Sammeln trotzdem weiterhin von der Faszination für das Außergewöhnliche, das Absonderliche, das 25 H. Glenn Penny : Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill/London 2002, 84 ff. 26 Über F. v. Luschans Ansatz und Arbeit Anja Laukötter : Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper. Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007 ; Peter Ruggendorfer/Hubert Szemethy (Hg.) : Felix von Luschan (1854–1924). Leben und Wirken eines Universalgelehrten, Wien/Köln/Weimar 2009. 27 Boas an v. Luschan am 23.11.1886. In : Nachlass Felix von Luschan, Briefwechsel mit Franz Boas, Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung. 28 Siehe Boas, Primitive Art, 280 ; Jacknis, Object, 193. 29 So schrieb z. B. Boas, nunmehriger Kurator am American Museum of Natural History, am 10.9. 1896 an Luschan : »Ich plage mich hier mit der Aufstellung unserer ethnologischen Sammlungen ab, kann aber nicht viel anstellen […]. Ich habe jetzt gerade das Material aus Neu-Britannien und Neu-Irland in die Schränke gestellt. Da stellt sich nun heraus, dass wir nichts als Masken, Schnitzereien und Ruder […] haben. Also alles, was das eigentliche Leben des Volkes ausmacht : Kleidung, Schmuck, Geräth, Fischereigegenstände u. s. w. fehlt. Es muss doch ein Haufen solches Zeug sich in Berlin herumtreiben. Wissen Sie nicht von einer Sammlung, die derartiges Material enthält und die billig zu kaufen wäre?« (in : Nachlass Felix von Luschan).
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Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse
Alte, das Rare und das Ästhetische beeinflusst blieb.30 Der spektakuläre Erfolg der ersten Sammlung von materieller Kultur der indianischen Ethnien entlang der Nordwestküste von Vancouver bis Alaska durch den Kapitän und Sammler Johan Adrian Jakobsen31 in den Jahren 1881 bis 1883 – im Besitz des Berliner Völkerkundemuseums und von Boas als damaligem Mitarbeiter des Museums teilweise bearbeitet – beruhte primär auf der besonderen ästhetischen Qualität der Objekte im europäischen Blick, die sich vor allem aus der Ornamentierung beinahe aller Gegenstände ergab. Als Boas 1886 selbst zu Feldforschungen in diese Region aufbrach, untersuchte er die Verbreitung und Bedeutung von Ornamenten auf der Körperhaut, auf sakralen Objekten und auf Haushalts- und Arbeitsgegenständen bei den dortigen Indian Nations. Die Decorative Art der nordamerikanischen Nordwestküste stand dann auch im Mittelpunkt seiner Veröffentlichungen über »Primitive Kunst« zwischen 1890 und 1927. Boas nahm damit an der transdisziplinären Debatte von europäischen und amerikanischen Anthropologen, Kunstwissenschaftlern und Prähistorikern über das Ornament teil, die im Rahmen des Primitivismus-Diskurses geführt wurde.32 Das Ornament stand im Mittelpunkt dieser weltanschaulichen und epistemischen Grundsatzdebatte am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ging um nichts weniger als um die Erklärung des menschlichen Ursprungs und der Anfänge und Entwicklung der Menschheit zum Stand der westlichen Zivilisation, die sich vermeintlich analog zur Entwicklungsgeschichte eines einzelnen Menschen vollzogen. Gestritten wurde also um die Frage, ob sich Phylogenese und Ontogenese entsprachen. Als »Leitfossil« für eine solche »biogenetische Betrachtung«33 von geschichtlichem wie menschlichem Entwicklungsgang galt die Kunst. Die Ornamentik, die als quantitativ bedeutende Kunstform bei vorgeschichtlichen und außereuro
30 Penny, Objects, 81. 31 Zu Jacobsen siehe Viola König : Adolf Bastian and the Sequel. Five Companions as Successors and Collectors for Berlin’s Royal Museum of Ethnology. In : Manuela Fischer/Peter Bolz/Susan Kamel (Hg.) : Adolf Bastian and his Universal Archive of Humanity, Hildesheim 2007, 134–136. 32 In ihrer Dissertation führt Elisabeth Wilson (Das Ornament auf ethnologischer und prähistorischer Grundlage. Ein Abschnitt aus den Anfängen der Kunst, Phil. Diss. Erfurt 1914) mehr als 139 einschlägige Literaturtitel an. Zum Primitivismusdiskurs Doris Kaufmann : »Primitivismus«. Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900–1930. In : Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, 425–448. 33 Wilson, Ornament, 4.
Die Kunst-Diskussion in der amerikanischen Kulturanthropologie
Abb. 1 Ornamente auf Nasenflöten vom Bismarck-Archipel, Papua-Neuguinea
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päischen Völkern gefunden und dokumentiert wurde34 (Abb. 1), hielt man für den »Schlüssel für das geistige Leben der Naturvölker«.35 Ein Bündel von Fragen wurde aufgeworfen. War das Ornament als nicht-naturalistische Kunstäußerung ein Zeichen mangelhaften künstlerischen Vermögens, gar eine Verflachungs- oder Verfallserscheinung? Konnte primitive Ornamentik überhaupt als Kunst gelten, war sie eine »uranfängliche« Kunstform? Oder stellte sie allenfalls eine Zwischenstufe dar, da Ornamente – so wurde in der Nachfolge des Architekten und Kunsttheoretikers Gottfried Semper argumentiert – ohne künstlerische Absicht zustande kamen und allein die vom Trägermaterial vorgegebenen Muster reproduzierten, also der Beschaffenheit des Rohstoffs und des Werkzeugs wie den Bedingungen des Gebrauchszwecks Rechnung trugen?36 Gab es eine Höherentwicklung der Ornamentformen im Verlauf der Geschichte von der Prähistorie bis zu den zeitgenössischen sogenannten Naturvölkern – analog zur Entwicklung eines europäischen Kindes, das mit steigendem Lebensalter differenziertere formale Ausdrucksmöglichkeiten erlangte? Oder hatte auf einer bestimmten gesellschaftlichen Stufenleiter die Entwicklung eines »Naturvolkes« ein Ende, weil die geistigen Fähigkeiten seiner Angehörigen – die mentalité primitive (Lévy-Bruhl), die auch gelegentlich auf eine beschränkte Hirnkapazität zurückgeführt wurde – kein weiteres Fortschreiten mehr erlaubte? Diese Fragestellungen entstammten einer evolutionstheoretischen Betrachtungsweise,37 in die sich auf deutscher Seite unter anderen Beiträge des Psychologen Wilhelm Wundt, des Historikers Karl Lamprecht und des Anthropologen Theodor Koch-Grünberg einfügten.38 34 Ein Beispiel ist der umfangreiche Tafelanhang mit Ornamentreihen bei Felix von Luschan : Beiträge zur Völkerkunde der deutschen Schutzgebiete, Berlin 1897. 35 Ebd., 10. 36 Gottfried Semper : Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, München 21878 (zuerst 1861–63). 37 So z. B. Haddon, Evolution ; Henry Balfour : The Evolution of Decorative Art : An Essay upon its Origin and Development as Illustrated by the Art of Modern Races of Mankind, London 1893 ; Hjalmar Stolpe : Entwicklungserscheinungen in der Ornamentik der Naturvölker. In : Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft Wien 22, 1892, 19–62. 38 Wilhelm Wundt : Völkerpsychologie, Bd. 3 : Die Kunst, Leipzig 31919 ; Karl Lamprecht : Fragen moderner Kunst. In : Neue deutsche Rundschau 12, 1901, 734–741 ; Theodor Koch-Grünberg : Anfänge der Kunst im Urwald, Berlin 1904 ; in seinem lateinamerikanischen Expeditionsbuch auch Karl von den Steinen : Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderungen und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887–1888, Berlin 1894, 243–294 ; Karl Weule : Die Eidechse als Ornament in Afrika. In : Festschrift für Adolf Bastian, Berlin 1896, 169–194 ; Leo Frobenius : Die Kunst der Naturvölker. In : Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte 40, 1895, 329–340 ; Heinrich Schurtz : Urgeschichte der Kultur, Leipzig/Wien 1900, 492–552 ; Max
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Es gab dazu jedoch auch dezidierte Gegenpositionen. Ihre wichtigste Stimme war der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl. Er veröffentlichte 1890 eine Miszelle über die neuseeländische Ornamentik, um dann 1893 ausführlich in seinem Buch Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik das Ornament als vollständig anerkanntes Kunstwerk zu untersuchen.39 Riegl ging von einem in allen Völkern und zu allen Zeiten verbreiteten »Kunstwollen« aus, d. h. von einem »immanenten künstlerischen Trieb, der im Menschen rege und nach Durchbruch ringend vorhanden« sei.40 Eine Entsprechung von hoher »sittlicher Kulturstufe« und künstlerischem Rang wies er unter Hinweis auf die bedeutende paläolithische Kunst, die Höhlenmalerei der »Halbkannibalen Aquitaniens« zurück.41 Einem solchen kunsthistorisch begründeten Kulturrelativismus schloss sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch ein deutscher Südseereisender an. Zwischen 1904 und 1906 hatte Emil Stephan ethnographische Studien und Sammlungen42 im Bismarck-Archipel betrieben, während er als Schiffsarzt auf einem kaiserlichen Marinedampfer arbeitete, dessen Mannschaft die Aufgabe hatte, Küstenvermessungen der deutschen Kolonialgebiete Neu-Guineas vorzunehmen.43 Die Verworn : Die Anfänge der Kunst, Jena 1909 ; Konrad T. Preuß : Die geistige Kultur der Naturvölker, Leipzig/Berlin 1914 ; Martin Heydrich : Afrikanische Ornamentik. Beiträge zur Erforschung der primitiven Ornamentik und zur Geschichte der Forschung, Leiden 1914. 39 Alois Riegl : Das neuseeländische Ornament. In : Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 20, 1890, 84–87 ; Alois Riegl : Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 21923. 40 Riegl, Stilfragen, 20. 41 Ebd., 19. Für einen konzisen Überblick siehe Frank-Lothar Kroll : Ornamenttheorien im Zeitalter des Historismus. In : Isabelle Frank/Freia Hartung (Hg.) : Die Rhetorik des Ornaments, München 2001, 163–175 ; sowie Ernst H. Gombrich : Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982. 42 Sie befinden sich im Ethnologischen Museum in Berlin. 43 Zum kolonialen Hintergrund von Stephans Südseeforschung Andrew Zimmerman : Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago/London 2001, 221–238. 1907 wurde Stephan Leiter der Deutschen Marine-Expedition, die im Auftrag des Berliner Museums für Völkerkunde – finanziert vom Kaiserlichen Marineamt und Preußischen Kultusministerium – ausgewählte Gebiete Neuirlands erforschen und dort sammeln sollte. Er starb im Mai 1908 auf Neuirland, sein Nachfolger Augustin Krämer führte die Expedition durch ; siehe Anette Schade : Fragen, Sammeln, Fotografieren. Die Deutsche Marine-Expedition nach Neuirland (1907–1909). In : Expeditionen in die Südsee. Begleitbuch zur Ausstellung und Geschichte der Südsee-Sammlung des Ethnologischen Museums, hg. v. Markus Schindlbeck, Berlin 2007, 91–118 ; Markus Schindlbeck : Deutsche wissenschaftliche Expeditionen und Forschungen in der Südsee bis 1914. In : Hermann Joseph Hiery (Hg.) : Die Deutsche Südsee, 1884–1914. Ein Handbuch, Paderborn 2001, 132–155 ; Rainer Buschmann : Anthropology’s Global Histories. The Ethnographic Frontier in German New Guinea, 1870–1935, Honolulu 2009.
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Ergebnisse seiner Forschungen, die er in die laufende kunstgeschichtliche und anthropologische Ornamentdiskussion einband, veröffentlichte Stephan in seinem Buch Südseekunst.44 Nachdrücklich forderte der Autor eine neue ästhetische Begriffsbildung. Sein Buch fand sofort Eingang in die deutsche und amerikanische Debatte über »Primitive Kunst«, stieß jedoch nicht auf einhellige Zustimmung.45 Das war nicht erstaunlich, übte Stephan doch grundsätzliche Kritik an »unsere[r] ›Bildung‹, die uns daran hindert, die sicher vorhandene Schönheit und den ästhetischen Gehalt der [Südsee-]Kunst zu verstehen«.46 Die westlichen Betrachter – so Stephan – seien in den herrschenden ästhetischen Wertmaßstäben, selbst Produkt europäischer Geschichte, befangen. Er resümierte : Man sollte überhaupt nicht mehr von der »Ornamentik der Primitiven«, sondern schlechtweg von der »Kunst der Primitiven« sprechen, weil die technischen Ausdrücke unsrer Ästhetik bei ihrer Anwendung auf die Kunst der sogenannten Naturvölker eine falsche Auffassung geradezu herausfordern, wie dies eingehend begründet worden ist.47
Stephan lieferte eine »richtige Auffassung« in systematischer Form nicht. In seiner Auseinandersetzung mit dem evolutionistischen kunstgeschichtlichen Ansatz versuchte er vielmehr, ihn – modern ausgedrückt – zu dekonstruieren. Er konzentrierte sich auf einige der evolutionistischen Hauptannahmen wie das mangelnde Abstraktionsvermögen der Primitiven, die er zurückwies. Zur Unterstützung seiner Beweisführung griff der Mediziner Stephan auf ein Verfahren zurück, das bei der Ermittlung von ärztlichen Diagnosen üblich war, nämlich den Erzählungen der Patienten zuzuhören, d. h. in diesem Fall seinen beiden Hauptinformanten und melanesischen Künstlern, Selin und Pore. Zunächst ließ sich Stephan in Gesprächen und durch demonstrierendes Zeichnen auch auf 44 Emil Stephan : Südseekunst. Beiträge zur Kunst des Bismarck-Archipels und zur Urgeschichte der Kunst überhaupt, Berlin 1907. Er widmete sein Buch den »Manen Rembrandts«. 45 Kritisch z. B. Felix Speiser : Die Ornamentik von St. Cruz. In : Archiv für Anthropologie N. F. 13, 1915, 323–334. Eine andere Art von Kritik äußerte der Gouverneur des damaligen Deutsch-Neuguinea Albert Hahl. Er könne keinen kolonialen Nutzen in der Monographie entdecken und schrieb Stephan, dass er kein Interesse an den neuesten Kunsttheorien habe und beim Lesen der Südseekunst Mühe gehabt habe, wach zu bleiben. Hahls Brief v. 26.1.1908 ist zitiert bei Rainer Buschmann : Colonizing Anthropology. Albert Hahl and the Ethnographic Frontier in German New Guinea. In : H. Glenn Penny/Matti Bunzel (Hg.) : Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, 230–255, hier 247. 46 Stephan, Südseekunst, 125. 47 Ebd., 124.
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Abb. 2 Bootsmodell, angefertigt von dem Siassi-Insulaner Aitogarre, Bismarck-Archipel
die für ihn hergestellten Bootsmodelle über die Gestaltung von Ornamenten unterrichten (Abb. 2 u. 3).48 Nachdem er die lokale Sprache in Ansätzen gelernt hatte, sammelte er weitere Stimmen über die Bedeutung der verschiedenen Ornamente, die er auf dem Bismarck-Archipel vorfand. Statt »Sammeln« sollte »Beobachten« das Losungswort werden, und einige Hefte voll sorgfältiger Aufzeichnungen sind ein viel wertvolleres Reiseergebnis als große Kisten voll eilig zusammengerafften Gegenständen, die man in der Südsee mit einem äußerst treffenden Namen als Kuriositäten bezeichnet.49
48 Vgl. Andrew Zimmerman : Selin, Pore, and Emil Stephan in the Bismarck Archipelago. A Fresh ad Joyful Tale‹ of the Origin of Fieldwork. In : Pacific Arts, 2000, H. 21/22, 69–84. 49 Stephan, Südseekunst, 132.
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Abb. 3 Ornamentierungen auf Bootsmodellen vom Bismarck-Archipel
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Stephans Vorgehensweise ähnelt derjenigen Boas’. Boas ging es vor jeglicher Klassifikation und Theoriebildung zunächst darum, möglichst viele Informationen über ein kulturelles Phänomen zu sammeln. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem evolutionistischen Sammlungskonzept des American Museum of Natural History im Jahr 1887 führte Boas nicht zufällig die Kunst als Beispiel für seinen neuen Ansatz an : The art and characteristic style of a people can be understood only by studying its production as a whole. In the collections of the national museum the marked character of the North-west American tribes is almost lost, because the objects are scattered in different parts of the building, and are exhibited among those from other tribes.50
Gegen eine Klassifikation und eine hierarchische Anordnung von Objekten nach dem Stand ihrer Technik – seit der Arbeit Gottfried Sempers Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten von 1861–1863 ein gebräuchliches und Boas bekanntes Ordnungsprinzip – monierte der amerikanische Anthropologe weiter : The rattle for instance is not merely the outcome of the idea of making noise, and of the technical methods applied to reach this end : it is, besides this, the outcome of religious conceptions, as any noise may be applied to invoke or drive away spirits, or may be the outcome of the pleasure children have in noise of any kind ; and its form may be characteristic of the art of people.51
Das entnervte Resümee einer Leipziger Kunsthistorikerin in ihrer Dissertation über das Ornament aus dem Jahr 1914, dass Boas »am Ende seiner Untersuchungen keine Ergebnisse erhält, sondern sich mit gewissen methodischen Positionen negativen Charakters begnügt«,52 ist durchaus unzutreffend. Ihr Urteil benennt jedoch im Kern Boas vordringliches Erkenntnisinteresse an einer Kritik und methodischen Zurückweisung der Evolutionstheorie, das seinen Untersuchungen der »Primitiven Kunst« zu Grunde lag. Ausgehend von zwei großen Prämissen – »der fundamentalen Gleichheit von geistigen Prozessen bei allen Rassen und in allen kulturellen Formationen und der Geschichtlichkeit jedes 50 Franz Boas : The Principles of Ethnological Classification (1887). In : George W. Stocking (Hg.) : A Franz Boas Reader. The Shaping of American Anthropology, 1883–1911, Chicago/London 1974, 61–67, hier 62. 51 Ebd., 65. 52 Wilson, Ornament, 71.
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kulturellen Phänomens«53 – ging es Boas um eine »analytische Beschreibung von grundlegenden Wesenszügen der primitiven Kunst«.54 Seine Schwerpunktthemen dabei fügten sich in die internationale Ornamentdebatte ein. Einige werden im Folgenden exemplarisch vorgestellt. So wie Boas im oben angeführten Beispiel der Klapper die Bedeutungsvielfalt eines ethnologischen Objekts demonstriert hatte, widersprach er auch der Behauptung von Vertretern der deutschen und österreichischen Kulturkreislehre, dass gleiche Formen, die in auseinanderliegenden Räumen und Zeiten zu finden seien, auch den gleichen Gehalt trügen. Seine Untersuchungen der Verbreitung oder Diffusion bestimmter wiederkehrender Ornamentformen und Muster in den benachbarten indianischen Kulturen der Nordwestküste sollten vielmehr zeigen, dass diese wandernden Formen unter Bewahrung ihrer Gestalt in den Prozessen der kulturellen Aneignung und Inkorporierung eine eigene Bedeutung gemäß der jeweiligen Werte und Weltsicht der aufnehmenden Kultur erhielten.55 Kunststil – von Boas im Sinn von Formgestaltung gebraucht – und Inhalt konnten also auseinandertreten. Daraus ergab sich für Boas ein grundsätzlicher ethnologischer Imperativ : Die Artefakte/Kunstwerke waren in ihrem jeweiligen individuellen, d. h. singulären kulturellen Kontext zu untersuchen. Dabei musste in Rechnung gestellt werden, dass sie fortwährendem Wandel und manchmal auch schneller Veränderung unterworfen waren.56 Als weiteres Ergebnis seiner Kunstforschungen beschrieb Boas gleichzeitig vorhandene naturalistische und ornamentale Kunstformen bei den Native Americans.57 Da naturalistische Kunst den europäischen Anthropologen als zivilisatorisches Endprodukt und typisch für weiterentwickelte Gesellschaften galt, entkräftete Boas damit das Argument einer Kongruenz von gesellschaftlicher Entwicklungsstufe mit einer singulären, sie kennzeichnenden Kunstform. Noch einer weiteren verbreiteten Auffassung in der Ornamentdebatte widersprach Boas. Er machte am Beispiel der Nadelbüchsen aus Alaska deutlich, dass Ornamente sich nicht notwendigerweise aus realistischen (Tier-)Darstellungen als sogenannte Verkümmerungserscheinung entwickelten, sondern einen autonomen Ursprung besaßen.58 53 Boas, Primitive Art, Preface, 1 (Übers. durch Autorin). 54 Ebd. 55 Boas, Primitive Art, 161–182. 56 Ebd., 7. 57 Franz Boas : The Decorative Art of the North American Indians. In : Popular Science Monthly, 1903, wiederabgedr. in Jonaitis, Wealth, 155–173. 58 Franz Boas : Decorative Designs of Alaskan Needlecases. A Study in the History of Conventional
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Schließlich soll noch ein weiteres wichtiges Thema von Boas kurz vorgestellt werden – die symbolische Bedeutung des Ornaments. Zur einführenden Erläuterung griff er 1927 in Primitive Art ein aktuelles Beispiel auf : In Germany at the present time, the swastika as the symbol of antisemitism, and the David’s star as the Jewish symbol have very definite political significance and are apt to excite the most violent passions when used for decorative purposes, – not on account of their form, but because of the emotional reaction to the ideas they represent.59
Die symbolische Bedeutung des Ornaments erschloss sich dem Fremden bzw. dem Ethnologen als dessen Archetyp durch bloße Anschauung eben nicht. Er oder sie war auf eine Erklärung durch sogenannte einheimische Informanten angewiesen. Zwischen 1901 und 1904 initiierte Boas, zu dieser Zeit Kurator am American Museum of Natural History, ein umfangreiches Projekt über die symbolische Kunst nordamerikanischer Indianerkulturen, aus dem vier größere Arbeiten von Alfred Kroeber, Clark Wissler, Roland Dixon und Carl Lumholtz hervorgingen (Abb. 4).60 Sie demonstrieren noch einmal die Bedeutung des Themas für die sich formierende Kulturanthropologie um Boas und die Museumsnähe ihrer Forschungen.61 Im Jahr 1904 erschien ebenfalls, vermutlich herausgegeben von Boas, ein »Guide Leaflet« mit dem Titel Primitive Art durch die ethnologische Sammlung des American Museum of Natural History, der sich ausschließlich der Darstellung und Interpretation von Ornamentierungen widmete.62
Designs, Based on Materials in the U.S. National Museum. In : Proceedings of the U.S. National Museum, 1908, wieder abgedr. in : Jonaitis, Wealth, 248–278. 59 Boas, Primitive Art, 100–101. 60 Alfred Kroeber : Decorative Symbolism of the Arapaho. In : American Anthropologist 3, 1901, 308–336 ; Ders.: The Arapaho. In : Bulletin of the American Museum of Natural History 18, Part I, 1902, 1–150 ; Clark Wissler : Decorative Art of the Sioux Indians. In : Bulletin of the American Museum of Natural History 18, 1904, 231–277 ; Roland Dixon : Basketry Designs of the Indians of Northern California. In : Bulletin of the American Museum of Natural History 17, 1902, 1–32 ; Carl Lumholtz : Decorative Art of the Huichol Indians. In : American Museum of Natural History Memoirs 3, 1904, 279–327. 61 Vgl. Ira Jacknis : Franz Boas and Exhibits. On the Limitations of the Museum Method of Anthro pology. In : George W. Stocking (Hg.) : Objects and Others. Essays on Museums and Material Culture, Madison 1985, 75–111. 62 Primitive Art. A Guide Leaflet to Collections in the American Museum of Natural History, No. 15, Supplement to the American Museum Journal 4, 1904, 1–39.
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Abb. 4 Muster auf Rohhaut-Taschen der nordamerikanischen Arapaho-Indianer
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Das erkenntnistheoretische Problem insbesondere der Symbolic Art-Untersuchungen war die wissenschaftliche Anerkennung der ethnologischen Beweisführung, die in hohen Maße abhing von den Aussagen der Einheimischen. So versuchte Emil Stephan in seiner Südseekunst über die Anzahl der Befragten eine quantitative Legitimierung.63 Alfred Kroeber rettete sich in seiner Arbeit über die Decorative Art of the Arapaho in eine Art »Aufspaltungsstrategie«. Die Indianer seien zuverlässige Informanten über die symbolische Bedeutung ihrer Kunst, aber unbrauchbare bei Angaben über deren Ursprung und Geschichte. Kroeber bediente sich dabei einer naturwissenschaftlichen Rhetorik, die erkennbar seine ethnologische Autorität unterstützen sollte : In law and exact science, and wherever evidence is judged, an account that is in great part manifestly absurd or palpably impossible is not accepted as true after the impossibilities have been subtracted, but is disregarded as a whole. So, too, it is necessary to attach no importance to the statement of the Arapaho as to the origin of these paintbags.”64
Boas selbst schrieb noch Ende der 1920er Jahre beim Thema Symbolismus in Primitive Art, wie ungesichert auch er die sogenannte secondary explanation einschätzte.65 Er wies verschiedentlich auf »beträchtliche Diskrepanzen« bei den Erklärungen einzelner Artefakte durch die Informantinnen und Informanten hin. Ausdrücke wie »uncertainty of interpretation« und »uncertainty of explanation« finden sich mehrfach.66 In der Auseinandersetzung mit der sich naturwissenschaftlich präsentierenden evolutionistischen Anthropologie in den USA verzichtete der naturwissenschaftlich ausgebildete Boas auf ein prominentes Einbeziehen sogenannter weicher Methoden bei seinen Primitive Art-Forschungen. So warf er zwar die Frage nach den Spielräumen für die Kreativität der Künstler und Künstlerinnen auf, die er eingezwängt in eine ziemlich starre konventionelle Formgebung sah, untersuchte jedoch dieses Thema nicht näher. Individuelle Künstler und kreative Prozesse blieben fast unbehandelt. Boas war sich dieses Problems bewusst, für das er jedoch keine unmittelbare Lösung fand. 63 Stephan, Südseekunst, z. B. 102–117. 64 Kroeber, Symbolism, 323. 65 George W. Stocking : Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective. In : Ders.: Race, Culture, and Evolution. Essays in the History of Anthropology, Chicago/London 1982, 195–233, hier 222–225 ; Jacknis, Object, 202–206. 66 Boas, Primitive Art, 209–216.
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Unfortunately, observations on this subject are very rare and unsatisfactory, for it requires an intimate knowledge of the people to understand the innermost thoughts and feelings of the artist. Even with thorough knowledge the problem is exceedingly difficult, for the mental processes of artistic production do not take place in the full light of consciousness.67
Boas’ Arbeiten über Kunst sind so in der Mehrzahl vergleichende, empirisch erhobene Formbeschreibungen und Inhaltsanalysen von Artefaktgruppen auf der Grundlage eigener Feldforschungen und einer Auswertung der vorhandenen ethnologischen Literatur.68 Einen nicht unerheblichen Anteil in seinem Anmerkungsapparat machen die Bücher und Aufsätze seiner ehemaligen deutschen Kollegen aus dem Umkreis des Berliner Völkerkundemuseums aus.69 Er nutzte ihre Quellen und Ergebnisse, auch wenn den zitierten Arbeiten oftmals ein anderer wissenschaftlicher Ansatz zugrunde lag, der jedoch vergleichsweise weniger stark evolutionistisch geprägt war als im englischsprachigen Raum vor 1914. Kunsthistorische Forschungen und vor allem den Neuansatz von Alois Riegl führte Boas in seinen Fußnoten an, ohne sie jedoch inhaltlich tiefergehend zu rezipieren. Dabei berührten sich wichtige Grundgedanken des kunstgeschichtlichen Ansatzes der Wiener Schule um Riegl mit der Boas’schen Kulturanthropologie. Unter Stil verstand Riegl allerdings nicht die Summe äußerer Formen und Merkmale von Kunstwerken wie Boas, der damit einem alten Stilbegriff folgte. Stil war für den österreichischen Kunsthistoriker vielmehr Ausdruck eines umfassenderen allgemeinen »Kulturwollens«, das auch nichtkünstlerische Kulturgebilde wie Staat, Religion und Wissenschaft umfasste und formte.70 Kunst als eigenständige Kultur, aber auch eingebettet in die Gesamtkultur zu untersuchen, war in Boas’ Ansatz ebenfalls angelegt. Zu seinen Grundauffassungen gehörte, 67 Ebd., 155. 68 Ruth Benedict charakterisierte Franz Boas’ methodischen Ansatz als »inductive study of man’s subjective life«, siehe dies.: Franz Boas as an Ethnologist. In : American Anthropologist 45, 1943, 27–34, hier 30. 69 Boas war seit 1899 ein »ernanntes korrespondierendes Mitglied« der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (siehe Zeitschrift für Ethnologie 48, 1916, 2) und bis Anfang der 1930er Jahre regelmäßiger Beiträger in der Zeitschrift. 70 Eine Einführung in Riegls Werk bei Hans Sedlmayr : Die Quintessenz der Lehren Riegls (Einleitung). In : Alois Riegl, Gesammelte Aufsätze, Augsburg 1928, 11–34 ; Georg Vasold : Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Wiener Gelehrten, Freiburg i. Br. 2004 ; Willibald Sauerländer : Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siècle. In : Roger Bauer u. a. (Hg.) : Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1977, 125–139.
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dass letztlich das Substratum oder die grundlegende Idee einer Kultur nur durch eine integrierende historische Untersuchung kultureller Teilphänomene erschlossen werden konnte.71 Der amerikanische Anthropologiehistoriker George W. Stocking hat bemerkt, dass Boas’ Schülerinnen und Schüler Elemente seines Ansatzes aufnahmen und über seine Intention hinaus zuspitzten.72 Auch beim Sujet Kunst war dies der Fall. Im Jahr 1918 erschien im American Anthropologist ein Aufsatz von Herman Karl Haeberlin, der eine stärker betonte kulturhistorische Perspektive bei der Erforschung der »Primitiven Kunst« anmahnte ; eine rein ethnologische Betrachtungsweise sei ungenügend.73 Haeberlin forderte, kunsthistorische Fragestellungen in die anthropologische Arbeit einzubeziehen. Dazu gehöre, den Künstler als Individuum wahrzunehmen, künstlerische Imaginationsprozesse zu untersuchen und das intuitive Erfassen und »Nacherleben«74 eines kulturellen Stils durch den ethnologischen Wissenschaftler zu berücksichtigen. Auch für die Untersuchung von »Primitiver Kunst« sollte es legitim sein, schrieb Haeberlin, die psychischen Wirkungen, die ein Kunstwerk beim Betrachten auslösten, zu erforschen. Die von ihm angesprochenen Themen waren zeitgleich auch zentral in der deutschen Expressionismus-Debatte um den Kunsthistoriker Wilhelm Worringer und seine beiden Bücher Abstraktion und Einfühlung und Formprobleme der Gotik.75 Worringer hatte 1908 in seiner Dissertation Abstraktion und Einfühlung zudem eine genauere Analogie der psychischen Kräfte versucht, die für das Entstehen einer Gemeinsamkeit von sogenannter primitiver und zeitgenössischer moderner Kunst, nämlich der abstrakten Kunstform, verantwortlich waren. Haeberlin, der in Leipzig bei Karl Lamprecht, Wilhelm Wundt und Karl Weule studiert hatte und Forschungsassistent bei Boas an der Columbia University war, deutete mit der Erwähnung der verschiedenen Betrachtungsweisen der gotischen Kathedrale an, dass er diese Debatte kannte und sie für den ge-
71 Siehe dazu George W. Stocking : Franz Boas and the Culture Concept in Historical Perspective. In : Ders., Race, 195–233. 72 Stocking, Introduction. In : Franz Boas Reader, 17. 73 Herman K. Haeberlin : Principles of Esthetic Form in the Art of the North Pacific Coast. A Preliminary Sketch. In : American Anthropologist 20, 1918, 258–264 ; Haeberlins Curriculum Vitae. In : Herman Karl Haeberlin, The Idea of Fertilization in the Culture of the Pueblo Indians, Phil. Diss. Columbia 1916, unpag., Reprint Kessinger Publishing, Whitefish/Montana 2010. 74 Im Original deutsch. 75 Wilhelm Worringer : Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1908 ; Ders.: Formprobleme der Gotik, München 1911.
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forderten neuen kulturanthropologischen Blick auf »Primitive Kunst« fruchtbar machen wollte. Was Herman K. Haeberlin, der zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Artikels bereits tot war,76 nicht mehr verwirklichen konnte, übernahm Ruth Bunzel in ihrer Doktorarbeit bei Franz Boas und dessen damaliger Assistentin Ruth Benedict über The Pueblo Potter. A Study of Creative Imagination in Primitive Art, die schließlich 1929 im Druck erschien77. Bunzel untersuchte erstmals subjektive Prozesse, nämlich wie die einzelnen Künstlerinnen und Künstler innerhalb der Begrenzungen eines etablierten Stils neue Ausdrucksformen schufen und künstlerische Wandlungsprozesse in Gang setzten. Zugleich fragte sie nach der Rolle der Töpferei – als zunehmend wichtiger Industriezweig für die von ihr besuchten Pueblos im amerikanischen Südwesten – für künstlerische Weiterentwicklungen, die sie explizit herausstellte. Damit brach Bunzel mit dem Salvage Anthropology-Ansatz, der auch Boas’ Kunstforschung beherrscht hatte, nämlich möglichst nur Artefakte zu untersuchen, die vor dem »giftige[n] Odem«78 entstanden waren, mit dem der Kolonialismus die fremden Kulturen anhauchte und ihren angeblich »authentischen« Charakter zerstörte. Bunzels vordringlichstes Ziel war »to enter fully into the mind of primitive artists : to see their technique and style, not as they appear objectively to students of museum collections, but as these appear to the artists themselves.«79 Zu diesem Zweck lernte sie in Pueblos der beiden unterschiedlichen Nations der Zuñi und der Hopi zu töpfern und versuchte, mehr oder weniger erfolgreich, deren Standards zu erfüllen (Abb. 5). Neben dem sich daraus ergebenden engeren Kontakt mit den Künstlerinnen und wenigen Künstlern ging es Bunzel um das eigene Nacherleben von Teilen des künstlerischen Schaffensprozesses. So schrieb sie, dass sie den dekorativen Stil der Zuñi, den sie beobachtet und beim Töpfern dort nachgebildet hatte, unbewusst imitierte, als ihr später in einem Hopi-Pueblo ein unbemaltes Gefäß mit 76 Franz Boas : In Memoriam Herman Karl Haeberlin. In : American Anthropologist 21, 1919, 71– 74. Zu diesem wichtigen Wandel in der Erforschung »Primitiver Kunst« und Haeberlins Bedeutung siehe Ira Jacknis : »The Artist Himself«. The Salish Basketry Monograph and the Beginnings of a Boasian Paradigm. In : Janet C. Berlo (Hg.) : The Early Years of Native American Art History. The Politics of Scholarship and Collecting, Seattle/London 1992, 134–161. 77 Ruth L. Bunzel : The Pueblo Potter. A Study of Creative Imagination in Primitive Art, New York 1929. Zum professionellen Lebensweg siehe Brigittine M. French : Partial Truths and Gendered Histories. Ruth Bunzel in American Anthropology. In : Journal of Anthropological Research 61, 2005, 513–532. 78 So Stephan, Südseekunst, 131. 79 Bunzel, Pueblo Potter, 1.
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Abb. 5 Wasserkrüge der nordamerikanischen Zuñi Pueblo-Indianer
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typischer Zuñi-Form gegeben wurde. In solchen unbewussten Prozessen, kommentierte sie, werde der traditionelle Stil weitergegeben.80 Bunzel knüpfte hier noch an den alten Boas’schen Stilbegriff an, setzte ihn jedoch in einen neuen Kontext. Sie folgte in Themenwahl und Methode dem Ansatz ihrer Mentorin Ruth Benedict, die das Verhältnis von Individuum und Kultur in den Mittelpunkt stellte und zur prominenten Vertreterin des neuen Culture and Personality-Ansatzes wurde.81 Nicht mehr wie bei Boas die Entstehung, Ausbreitung oder Übernahme einzelner Kulturelemente, zu denen auch die »Primitive Kunst« gehörte, sondern die zentrale Frage nach der kulturellen Integration stand für die Boas nachfolgende Generation im Vordergrund. In Benedicts Konzept, Kultur als Konfiguration zu untersuchen, hatte Kunst wie in der Formierungsphase der amerikanischen Kulturanthropologie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Bedeutung. Aber es ist nun eine andere. Die Untersuchung der europäischen Kunststile als Kulturengeschichte durch die Kunstwissenschaft in der Prägung von Alois Riegl und Wilhelm Worringer wurde zum Modell für einen kulturanthropologischen Ansatz, der Kulturen als Ganzheiten mit konsistenten künstlerischen Denk- und Ausdrucksmustern fasste. Diese Neubewertung kam bei Ruth Benedict deutlich zum Tragen, als sie bei der Darlegung ihres holistischen Kulturkonzepts in den berühmten Patterns of Culture von 1934 zentral auf Wilhelm Worringer Bezug nahm. The whole, as modern science is insisting in many fields, is not merely the sum of all its parts, but the result of a unique arrangement and interrelation of the parts that has brought about a new entity. […] It is the same process by which a style in art comes into being and persists. Gothic architecture beginning in what was hardly more than a preference for altitude and light, became, by the operation of some canon of taste that developed within its technique, the unique and homogenous art of the thirteenth century. It discarded elements that were incongruous, modified others to its purposes
80 Ebd., 62. 81 Über Ruth Benedict siehe Clifford Geertz : Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, München/Wien 1990, 101–124 ; Sidney W. Mintz : Ruth Benedict. In : Silverman, Totems, 103–121 ; Barbara Babcock : »Not in the Absolute Singular«. Rereading Ruth Benedict. In : Ruth Behar/Deborah Gordon (Hg.) : Women Writing Culture, Berkeley/Los Angeles 1995, 104– 130. Über den Culture and Personality-Ansatz siehe die Beiträge in George W. Stocking (Hg.) : Malinowski, Rivers, Benedict and Others. Essays on Culture and Personality, Madison 1986.
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and invented others that accorded with its taste. […] What has happened in the great art styles has happened also in cultures as a whole.82
Die Schwierigkeit, historische (einschließlich verstehende) wie naturwissenschaftliche Ansätze, Fragestellungen und Methoden gleichermaßen in der Kulturanthropologie einzusetzen und zusammenzuführen – mithin das Problem, das Kroebers Auseinandersetzung mit Boas um dessen Kunstforschungen zugrunde lag – war damit jedoch nicht gelöst. Drei Jahre nach dem Erscheinen der Patterns of Culture fragte Robert Lowie, Boasian der zweiten Generation, in einer kritischen Würdigung nach der zugrundeliegenden Definition der Denkfigur Cultural Patterns : Here we feel that Benedict has been somewhat lacking in caution. The reality she seeks, which she aptly compares to an art style, shares with such styles a comparative elusiveness. The danger of impressionism is averted only by the ample and concurrent testimony of several good witnesses.83
Bei aller Anerkennung ihres Buches war bei Lowie die Besorgnis herauszulesen, Ruth Benedict liefere sich dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aus84 und gefährde den auch in der Boas’ nachfolgenden Generation weiterhin erstrebten Platz der Kulturanthropologie in der Gemeinschaft der (Natur-)Wissenschaften. »Being a science, ethnology implies an orderly arrangement of its data, the verifiability of its findings, a logical basis for its conclusions«85, erklärte Lowie in unmittelbarem Anschluss an seine Auseinandersetzung mit Benedicts Ansatz programmatisch. Sein Unbehagen erinnert unter umgekehrten Vorzeichen an die eingangs geschilderte Auseinandersetzung zwischen Kroeber und Boas über dessen Buch Primitive Art. Die Unstimmigkeit im Lager der Boasians verweist auf die sich in den 1920er Jahren abzeichnende zunehmende Bedeutung, die in der amerikanischen Kulturanthropologie der Persönlichkeit und Intuition der Forscher und Forscherinnen im ethnologischen Untersuchungsprozess selbst zugeschrieben wurde – mitsamt den sich daraus ergebenden methodischen Implikatio82 Ruth Benedict : Patterns of Culture, Boston 1989 (zuerst 1934), 47–48. 83 Robert H. Lowie : The History of Ethnological Theory, New York 1937, 278. 84 Dazu Sylvia Schomburg-Scherff : Ruth Benedict. Patterns of Culture. In : Christian F. Feest/KarlHeinz Kohl (Hg.) : Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart 2001, 41–47. 85 Lowie, History, 279–280.
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Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse
nen.86 Unstrittig in Theorie und Praxis hatte sich der Boas’sche Imperativ für die Erforschung materieller Kultur in der Anthropologie insgesamt durchgesetzt, kulturelle Erzeugnisse im jeweiligen singulären Kontext auf ihre mehrdimensionalen Bedeutungsebenen hin zu erschließen. Die Forderung nach Berücksichtigung und methodischer Gleichbehandlung subjektiver (zumeist emphatischer) Wahrnehmung und Rezeption der Ethnologin und des Ethnologen dabei – wie im Fall von Ruth Bunzel durch praktische Partizipation bei kreativen Prozessen – zur Erschließung »des Ganzen« einer fremden Kultur traf jedoch auf weit geringeren Konsens.87 Der kunstgeschichtlich inspirierte Einfühlungsprozess in den Stil einer Kultur wurde in der Kulturanthropologie nicht zu einem eingeführten methodisch reflektierten Werkzeug – wie er beispielsweise in der kunstgeschichtlichen Debatte um prähistorische und »Primitive Kunst« um die Jahrhundertwende diskutiert wurde.88 Doch gab es in der Kulturanthropologie auch alternative Wege, die Kunst oder den Stil einer Kultur zu erschließen, nämlich mit methodischen Belehnungen an ein anderes Wissensfeld – die Orientalistik. Dies wird im nächsten Kapitel Thema sein.
86 George W. Stocking : The Ethnographic Sensibility of the 1920s and the Dualism of the Anthropological Tradition. In : Ders. (Hg.) : Romantic Motives. Essays on Anthropological Sensibilities, Madison 1989, 208–275. 87 Zu ähnlichen Diskussionen in der zeitgleichen deutschsprachigen Kunstgeschichte siehe Pfisterer, Origins, 69–89. 88 Siehe Kaufmann, Primitivismus, 435–441.
II. Ornamente als Volkssprache Die sibirischen Ethnien am Amur und auf Sachalin im Blick des Orientalisten Berthold Laufer, 1898–1899
Der Schriftsteller Anton Čechov reiste 1890 nach Sachalin – ins »russische Ca yenne« – »zu wissenschaftlichen und literarischen Zwecken«, wie er dem Leiter der Hauptgefängnisverwaltung mitteilte.89 Er wollte die russische Öffentlichkeit über die »unerträglichen Leiden« der Häftlinge in der Strafkolonie aufklären und auch das Desinteresse »des gebildeten Europa« an den Verbannten beenden.90 Dabei vertraute Čechov auf die Überzeugungskraft von wissenschaftlichen Untersuchungen über den Strafvollzug und die Lebensverhältnisse, den Alltag und das Überleben der Verbannten.91 Der ausgebildete Mediziner reiste im eigenen Selbstverständnis nicht als Schriftsteller, sondern als Ethnologe zu der Strafinsel ins ferne Sibirien. Zur Vorbereitung hatte er Berichte von früheren Forschungsreisenden gelesen – darunter die Reisen und Forschungen im Amur-Lande des deutsch-russischen Zoologen und Geographen Leopold von Schrenck.92 Der spätere Direktor des St. Petersburger Anthropologischen und Ethnographischen Museums93 hatte die Insel und das Amurgebiet im Auftrag der russischen Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1854 bis 1856 ethnographisch erkundet.94 In dieser Zeit unmittelbar vor der russischen 89 Brief v. 20.1.1890, abgedr. in : Anton Čechov : Die Insel Sachalin, hg. v. Peter Urban, Berlin 1976, 399. 90 Brief an den Verleger Suvorin v. 9.3.1890. In : Čechov, Sachalin, 399–402. Zur Geschichte Sibiriens siehe Dittmar Dahlmann : Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2009 ; zum Strafsystem ebd., 154–166. 91 Zum Scheitern seines Unternehmens Cathy Popkin : Chekhov as Ethnographer : Epistemological Crises on Sakhalin Island. In : Slavic Review 51, 1992, 36–51. 92 Leopold von Schrenck, Reisen und Forschungen im Amur-Lande in den Jahren 1854–1856, Bd. 3 : Die Völker des Amur-Landes. Ethnographischer Theil. Erste Hälfte, St. Petersburg 1891. 93 Zur Geschichte des Museums G. I. Dzeniskevich/L. P. Pavlinskaia : Treasures by the Nerva. The Russian Collections. In : Crossroads of Continents. Cultures of Siberia and Alaska, hg. v. William W. Fitzhugh/Aron Crowell, Washington 1988, 83–88 ; Sergei Kann : Lev Shernberg. Anthropologist, Russian Socialist, Jewish Activist, Nebraska 2009, 130–141. 94 Siehe Mark Bassin (The Russian Geographical Society, the »Amur Epoch«, and die Great Sibe-
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Annexion des chinesischen Amurgebiets und während der russisch-japanischen Auseinandersetzungen um den Besitz von Sachalin war die Forschungsreise von Schrencks durch eine enge Verknüpfung von wissenschaftlichen und imperialen Interessen charakterisiert. 1858 besetzten die Russen das linke Amur-Ufer, das zusammen mit dem Küstengebiet des Amur in Verträgen mit China 1858 und 1860 von ihnen »erworben« wurde. Sachalin wurde 1875 schließlich in Gänze dem russischen Reich zugeschlagen. Den dort lebenden Ethnien der mehrheitlichen Giljaken (heute Niwchen), Ainu, Golden (heute Nanai), Ultschen, Negidalen, Orotschen und Oroken hatte Leopold von Schrenck einen eigenen Band gewidmet.95 Auf ihn verwies Čechov die Leser, »die ausführlich die Giljaken kennenlernen wollen«96. Ihn selbst interessierten sie hauptsächlich wegen der ungeklärten Ursache ihrer fortschreitenden zahlenmäßigen Abnahme und wegen ihres Umgangs mit den »hiesigen Naturbedingungen […], welche für die Neukolonisten von praktischem Nutzen« sein könnten.97 In seinen kurzen Ausführungen charakterisierte Čechov die Giljaken als friedliche, liebenswürdige, gewissenhafte, weibische Kinder. Sie seien lügnerisch beim Handeltreiben und behandelten ihre rechtlosen Frauen wie Gegenstände. Eine »hygienisch ungesunde« Lebensweise – »Unsauberkeit, übermäßiger Genuss von Alkohol, der frühere Umgang mit Chinesen und Japanern, ständige Nähe von Hunden«98 – sei verantwortlich für ihre mangelnde Widerstandskraft gegen Krankheiten und rian Expedition 1855–1863. In : Annals of the Association of American Geographers 73, 1983, 240–256) über die innenpolitische Bedeutung der »Amur-Frage«, d. h. die geplante Annexion des Amurgebietes, als Hintergrund der fast zeitgleichen Großen Sibirien-Expedition der Russischen Geographischen Gesellschaft. 95 Die Giljaken (Niwchen) erkannten klar den kolonialen Hintergrund der Schrenck’schen Reise : »Gleichwohl herrschte zu meiner Zeit unter den Giljaken von Sachalin, wo es […] noch keine russischen Niederlassungen gab, eine den Russen gegenüber argwöhnische und feindliche Stimmung, welche den Reisenden stets vor thätlichen Angriffen auf seiner Huth zu sein nöthigte. Wiederholt hörte ich sie, wenn sie […] über die in ihr Land gekommenen Russen raisonierten und in der Überzeugung, dass ich sie nicht verstände, den Argwohn äussern, dass dieselben jetzt vorerst das Land auskundschafteten, wie ich es auch thäte, um es nachmals in Besitz zu nehmen und alle Giljaken aus demselben zu verdrängen und zu vernichten.« (v. Schrenck, Reisen, 592). Im Folgenden werden in Anlehnung an die Bezeichnungen in den Quellen die alten Namen der sibirischen Ethnien verwandt. 96 Čechov, Sachalin, 163. 97 Ebd. Quellenkritisch nicht zu halten ist die Interpretation von Joseph L. Conrad : Anton Chekhov’s Views of the Ainu and Gilyak Minorities on Sakhalin Island. In : Rolf-Dieter Kluge (Hg.) : Anton P. Čechov. Werk und Wirkung, Wiesbaden 1990, 433–443, die einseitig Čechovs Empathie für die indigene Bevölkerung behauptet. 98 Čechov, Sachalin, 166.
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Ursache von Epidemien mit hoher Sterblichkeitsrate. An eine Rettung durch Russifizierung glaubte Čechov »in der Nähe des Gefängnisses« nicht, das die Giljaken völlig demoralisiere. Sie seien »noch weit davon entfernt, unsere Bedürfnisse verstehen zu können«, und »sie wissen nicht, was Rechtsprechung bedeutet«99. Čechov schloss die einheimische Bevölkerung in seine Sachalin-Beobachtungen von Elend, Grausamkeit und Inkompetenz ein, schenkte ihr jedoch wenig Platz und Beachtung. Seine Narratio über die letztlich inferioren »Primitiven« korrespondiert mit der im 19. Jahrhundert herrschenden Sicht vieler russischer Intellektueller auf Sibirien als leeren bzw. originär russischen Raum, in dem sich das Leben der sibirischen Indigenen – im amtlichen Sprachgebrauch bezeichnenderweise der »Fremdstämmigen«100 – gewissermaßen in einem Vakuum abspielte.101 Acht Jahre nach Čechov, 1898, brach der deutsche Reisende Berthold Laufer (1874–1934) nach Sachalin und in das Amurgebiet auf. Er wird die Einheimischen dort in einen völlig anderen Blick nehmen und – ausgerechnet, ist man versucht zu sagen – ein Buch über ihre ornamentale Kunst schreiben, das im pointierten Gegensatz zu den Beobachtungen Čechovs stehen wird.102 Laufer war als Mitglied der amerikanischen Jesup North Pacific Expedition mit dem Auftrag unterwegs, die sibirischen Ethnien auf Sachalin und entlang des unteren Amurs und seiner Mündung zu erforschen. Wie der russische Schriftsteller zuvor war auch Laufer kein professioneller Ethnologe. Diese gab es im strengen Sinn noch nicht in den 1890er Jahren. Das Fach Ethnologie bzw. im amerikanischen Sprachgebrauch Cultural Anthropology begann gerade erst, sich mit eigenem Profil und Berufsweg herauszubilden, und zwar unter Beteiligung mehrerer Wissensfelder – vornehmlich der Geographie, Medizin, Zoologie, Botanik, Sprachwissenschaft und Archäologie. Im Folgenden wird der kultur- und wissenschaftshistorische Kontext um die Jahrhundertwende entfaltet, in dem Berthold Laufers differierende Sichtweise 99 Ebd., 171. Seine Charakterisierung der Ainu, 206 ff., ähnelt der der Giljaken. 100 Dietrich Geyer : Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1850–1914, Göttingen 1977, 240. 101 So Bruce Grant : In the Soviet House of Culture. A Century of Perestroikas, Princeton 1995, 40–67, hier 48 ; Ders.: Empire and Savagery. The Politics of Primitivism in Late Imperial Russia. In : Daniel R. Brower/Edward J. Lazzerini (Hg.) : Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917, Bloomington 1997, 292–310 ; Yuri Slezkine : Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North, Ithaca/London 1994, 95–129. 102 Berthold Laufer : The Decorative Art of the Amur Tribes, Leiden/New York 1902 (= Memoirs of the American Museum of Natural History, Bd. 7).
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auf »außereuropäische Andere« – verglichen mit der im zeitgenössischen rassistischen und kolonialapologetischen Diskurs vieler europäischer Reisender103 – möglich wurde. Warum konnte gerade indigene Ornamentik zur Linse für einen veränderten Blick auf eine fremde Kultur werden? Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage führt zunächst erneut zu dem amerikanischen Kulturanthropologen Franz Boas, der Ende des 19. Jahrhunderts eine der größten Expeditionen in den nordpazifischen Raum initiierte und leitete. Berthold Laufer, der 1897 nach einem Studium orientalischer Sprachen in Berlin und Leipzig an der Universität Leipzig promoviert hatte – seine Dissertation widmete sich der Edition und Kommentierung eines tibetanischen Textes – wurde Mitglied der international und interdisziplinär zusammengesetzten Wissenschaftlergruppe dieser Jesup North Pacific Expedition.104 Sie hatte zum offiziellen Ziel, die Kulturen, die Sprachen und die Vorgeschichte der ethnischen Gruppen beiderseits der Beringstraße gründlich zu erforschen, um die Frage zu klären, ob die nordamerikanischen Indianer als Ureinwohner der Neuen Welt die Nachkommen von asiatischen Völkergruppen waren, die über die Beringstraße vor tausenden von Jahren nach Nordamerika eingewandert waren. Die Expeditionsteilnehmer sollten in den Gebieten entlang der Nordwestküste Nordamerikas und der Pazifikküste Sibiriens bis an die chinesischen und koreanischen Grenzgebiete kulturelle Zeugnisse der indigenen Volksgruppen dokumentieren und sammeln sowie archäologische Überreste ausgraben, um 103 Dazu u. a. Johannes Fabian : Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001. 104 Laufer leitete in unmittelbarem Anschluss an die Jesup Expedition im Auftrag des American Museum of Natural History die Jacob H. Schiff Expedition nach China (1901–1904) und blieb danach in den USA, da er in Deutschland keine Stelle fand. Von 1908 bis zu seinem Tod 1934 arbeitete er als Kurator am Field Museum of Natural History in Chicago und wurde einer der bedeutendsten Ostasienwissenschaftler seiner Zeit. Siehe Kenneth S. Latourette : Biographical Memoir of Berthold Laufer, 1874–1934. In : National Academy of Sciences of the United States of America. Biographical Memoirs, Bd. 18, Washington 1936, 43–68 ; Bennet Bronson : Bert hold Laufer. In : Stephen E. Nash/Gary M. Feinman (Hg.) : Curators, Collections, and Contexts. Anthropology at the Field Museum, 1893–2002, Chicago 2003, 117–126 ; Hartmut Walravens : Berthold Laufer. In : Neue Deutsche Biographie 13, 1982, 710–711 ; siehe auch die Nachrufe in Man 35, 1935, 28–29 ; Nature 1934, 562 ; Journal of the American Oriental Society 54, 1934, 349–362 ; Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 1935, 230–232 ; American Anthropologist 38, 1936, 101–111. Hartmut Walravens gab von 1976 bis 1985 die umfangreichen fünfbändigen Kleine[n] Schriften von Berthold Laufer heraus : Teil 1 (2 Halbbde.) : Publikationen aus der Zeit von 1894 bis 1919, Wiesbaden 1976 ; Teil 2 (2 Halbbde.) : Publikationen aus der Zeit von 1911 bis 1925, Wiesbaden 1979 ; Teil 3 : Nachträge und Briefwechsel, Wiesbaden 1985.
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Abb. 6 Franz Boas’ vorab Skizze der Kulturen, die von der Jesup North Pacific Expedition besucht werden sollten, um 1896
die Frühgeschichte der Beziehungen zwischen der Neuen und der Alten Welt rekonstruieren zu können (Abb. 6).105 Finanzier dieses Großprojekts, das in den Jahren 1897 bis 1902 durchgeführt wurde und heute als erster »large anthropological survey«106 gilt, war der Bankier 105 Franz Boas : The Jesup North Pacific Expedition. In : The American Museum Journal 3, 1903, 73–119 ; Igor Krupnik/William W. Fitzhugh (Hg.) : Gateways. Exploring the Legacy of the Jesup North Pacific Expedition, 1897–1902, Washington 2001 ; Laurel Kendall/Igor Krupnik (Hg.) : Constructing Cultures Then and Now. Celebrating Franz Boas and the Jesup North Pacific Expedition, Washington 2003. Über die Vorphase der Expedition, die Teilnehmer sowie die Erfolge wie Misserfolge Douglas Cole : »The Greatest Thing Undertaken by Any Museum«? Franz Boas, Morris Jesup, and the North Pacific Expedition. In : Krupnik/Fitzhugh, Gateways, 29–70 ; ausführlich zum Verlauf der Expedition und den einzelnen beteiligten Personen Stanley A. Freed : Anthropology Unmasked. Museums, Science, and Politics in New York City, Bd. 1 : The Putnam-Boas Era, Wilmington 2012, 164–383. 106 Igor Krupnik/Nikolai Vakhtin : »The Aim of the Expedition has in the Main Been Accomplished«. Words, Deeds, and Legacies of the Jesup North Pacific Expedition. In : Constructing Cultures, 15–31, hier 15.
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und Präsident des American Museum of Natural History (AMNH) Morris K. Jesup ; Initiator war Franz Boas, der auch die Leitung der Expedition übernahm. Boas, zur damaligen Zeit Assistant Curator am AMNH, verfolgte zudem eine eigene Agenda, die nicht in erster Linie auf die Beantwortung der genannten offiziellen »grand theory-Frage« zielte. Vielmehr sollten die indigenen Kulturen diesseits und jenseits der Beringstraße vor ihrem Verschwinden oder vielmehr ihrer völligen Zerstörung noch als wichtige Zeugnisse der Menschheitsgeschichte dokumentiert, ihr eigenes Selbstverständnis erschlossen und verstanden werden, um für die gegenwärtige und zukünftige Wissenschaft und die Öffentlichkeit – museal aufbewahrt – weiter und dauerhaft zur Verfügung zu stehen (Abb. 7).107 Der Auftrag an die Expeditionsteilnehmer mit unterschiedlichem fachwissenschaftlichem Herkommen lautete dann auch, so viele Daten wie möglich im jeweiligen geographisch abgesteckten Untersuchungsfeld zu sammeln. Dazu sollten sie sich ganz verschiedener Praktiken bedienen : anthropometrische Messungen zur Konstruktion eines »physical type« durchführen, grammatische Strukturen und phonetische Prozesse auch mittels Phonograph aufnehmen, Märchen, Ornamente, Kinderspiele und Haushaltsutensilien sammeln, religiöse Ideen rekonstruieren, Verwandtschaftsstrukturen und -terminologien erfassen, Zeremonien und Feste auch photographisch dokumentieren. Die Resultate sollten in Einzelmonographien über die jeweiligen Ethnien einfließen, die alle Aspekte des Alltagslebens, Arbeitens und Glaubens umfassten. Nicht zuletzt wurde ein wichtiger Zuwachs für die Sammlungen des American Museum for Natural History in New York erwartet.108 Boas verpflichtete als hauptverantwortliche Wissenschaftler für die sibirischen Gebiete – neben Berthold Laufer – Vladimir Bogoras und Vladimir Jochelson. Beide waren als Mitglieder der russischen oppositionellen Vereinigung Narodnaja Volja (Volkswille) in ihrer Studentenzeit verurteilt und nach Sibirien verbannt worden. Auch hier waren sie »ins Volk gegangen« und hatten ethnolo107 Zur Objektzentrierung in dieser Phase der Boas’schen Kulturanthropologie siehe Jacknis, Franz Boas. 108 Siehe z. B. Boas’ Aufgabenbeschreibung für Laufer in seinem Brief v. 25.3.1897 an Laufer. In : American Museum of Natural History. Division of Anthropology Archives : Jesup Archive : »1st a very complete ethnological collection for the Museum, 2nd the fullest information on all specimens in the collection, 3rd good ethnological and linguistic information on the tribes of that region.« Über die Photo-Sammlung der Jesup Expedition als Teil der »holistic collections which aimed at representing entire cultures« siehe Thomas Ross Miller/Barbara Mathé : Drawing Shadows to Stone. In : Laurel Kendall u. a. (Hg.) : Drawing Shadows to Stone. The Photography of the Jesup North Pacific Expedition, 1897–1902, New York 1997, 19-40.
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Abb. 7 American Museum of Natural History, New York. Postkarte ca. 1900-1910. Photo Detroit Photographic Company
gische Studien im äußersten Nordosten und Osten Sibiriens unternommen, an die sie jetzt anknüpfen konnten. Unterstützt wurden sie von ihren mitreisenden Ehefrauen, die jedoch nicht für ihre beträchtliche Arbeit bezahlt wurden.109 Warum schickte Boas mit Berthold Laufer aber nun ausgerechnet einen Altphilologen, dazu noch einen jungen Wissenschaftler ohne jegliche Feldforschungspraxis an den Amur und nach Sachalin?110 Boas’ Entscheidung für einen deutschen Orientalisten war keine Verlegenheitslösung. Auch für seinen ersten Wunschkandidaten, den österreichischen Sinologen Erwin Ritter von Zach111, der schließlich absagte, traf diese Fachzugehörigkeit zu. Unter dem Dach der 109 Stanley A. Freed/Ruth S. Freed/Laila Williamson : Capitalist Philanthropy and Russian Revolutionaries. The Jesup North Pacific Expedition (1897–1902). In : American Anthropologist 90, 1988, 7–24 ; Nikolai Vakhtin : Franz Boas and the Shaping of the Jesup Expedition Siberian Research, 1895–1900. In : Gateways, 71–89 ; Kan, Shernberg, 101–111 ; Slezkine, Arctic Mirrors, 124–125. 110 Das fragen auch Alexia Bloch/Laurel Kendall (The Museum at the End of the World. Encounters in the Russian Far East, Philadelphia 2004, 100), die 1998 der JNPE-Route nachreisten und im Kapitel über Khabarovsk, 99–125, Laufers Spuren nachgehen. 111 Die Korrespondenz zwischen Boas und v. Zach ist im Archiv des AMNH, Jesup Archive erhalten. Siehe auch Vakhtin, Boas, 75–76 ; Kurt Stimmer : Eine Erinnerung an den Diplomaten und Sinologen Erwin Zach. In : Wiener Zeitung v. 15.9.2000.
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Orientalistik fanden sich in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert die Wissenschaftler zusammen, die sich mit dem Studium der sogenannten Kulturvölker jenseits der klassischen Antike beschäftigten.112 Assyriologen, Ägyptologen, Judaisten, Arabisten, Byzantinisten, Turkologen, Indologen, Japanologen, Sinologen arbeiteten insbesondere mit den Methoden der Philologie, d. h. sie sicherten, edierten und kommentierten Texte. Die deutschen Orientalisten avancierten dabei zu den »pacesetting European scholars in virtually every field of oriental studies between about 1830 and 1930«113. Noch in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs standen in diesem heterogenen Feld theologische Fragen im Vordergrund, wie die nach der Wahrheit des Alten Testaments, dem Ort und der Sprache des verlorenen Paradieses und nach dem Fortschritt oder Niedergang der Menschheit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer wichtigen inhaltlichen Erweiterung des wissenschaftlichen Gegenstandsfeldes. Sie korrespondierte mit dem Einstieg des Deutschen Reiches in den »kolonialen Wettbewerb«, ohne jedoch eine Dominanz und nennenswerte staatliche Finanzierung anwendungsbezogenen kolonialen Wissens114 in der Orientalistik einzuläuten. 112 Siehe die wichtige Arbeit von Suzanne L. Marchand (German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Washington 2009), auf die sich meine folgenden Ausführungen wesentlich stützen. Sabine Mangold (Eine ›weltbürgerliche Wissenschaft‹. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004) konzentriert sich in ihrer Pionierarbeit fast ausschließlich auf die Arbeitsgebiete Vorderer und Mittlerer Orient. Für den Nahen Osten Stefan Hauser : Deutsche Forschungen zum Alten Orient und ihre Beziehungen zu politischen und ökonomischen Interessen vom Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg. In : Comparativ 14, 2004, 46–65. 113 So das Urteil von Marchand, Orientalism, XVIII, die sich hier auch kritisch mit dem Buch von Edward Said : Orientalism, New York 1978, auseinandersetzt, der die deutsche Orientalistik nicht in seine Untersuchung eines westlichen Diskurses über den Orient einbezogen hat. 114 So Marchand, Orientalism, 373–383 ; Woodruff D. Smith : Politics and the Sciences of Culture in Germany, 1840–1920, New York/Oxford 1991, 162–173 ; Lothar Burchardt : The School of Oriental Languages at the University of Berlin. Forging the Cadres of German Imperialism?. In : Benedict Stuchtey (Hg.) : Science across the European Empires, 1800–1950, Oxford 2005, 63–105. Unmittelbare Verwendung bei der imperialen Expansion des deutschen Kaiserreichs nach China fanden dagegen die Berichte und Karten des Geographen und Chinaforschers Ferdinand von Richthofen, dessen chinesische Sprachkenntnisse und damit professionelle Seriosität von dem Sinologen Friedrich Hirth (in : Fremde Einflüsse in der chinesischen Kunst, München/Leipzig 1896, Vorwort, 8–11) bezweifelt wurden. Zu Richthofen siehe Jürgen Osterhammel : Forschungsreise und Kolonialprogramm. Ferdinand von Richthofen und die Erschließung Chinas im 19. Jahrhundert. In : Archiv für Kulturgeschichte 69, 1987, 150–195 ; Lothar Zögner : Ferdinand von Richthofen. Neue Sicht auf ein altes Land. In : Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897–1914. Ausst.-Kat. Berlin 1998, hg. v. Hans-Martin Hinz/ Christoph Lind, Berlin 1998, 72–75.
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Nachdem bereits vergleichende sprachwissenschaftliche Untersuchungen historische Beziehungen zwischen Kulturen aufgedeckt und den Weg für eine stärker relativistische Betrachtungsweise geöffnet hatten, forderte nun eine junge Orientalistengeneration mit Nachdruck die Einbeziehung nicht-biblischer und nicht auf die klassische Antike bezogener Fragestellungen. In Umkehrung der bisherigen Perspektive sollte insbesondere die kulturelle Anlehnung des Westens an den Osten oder, moderater formuliert, der Einfluss der alten großen östlichen Kulturen auf westliche Ideen Gegenstand orientalistischer Forschungen werden.115 Das hieß für die bisher überwiegend mit Texten befassten Wissenschaftler, vom Schreibtisch aufzustehen und in Kontakt mit den »lebenden« zeitgenössischen Kulturen zu treten. »Dorthin gehen« wurde – wie in der sich professionalisierenden Ethnologie – eine notwendige Voraussetzung für das akademische Weiterkommen.116 Zugleich bedeutete dieser Aufbruch, dass nicht mehr allein Texte, sondern auch kulturelle Objektivationen, vor allem materielle Objekte, für ein Verständnis der Kulturen des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens unabdingbar wurden. Wichtiges Arbeitsfeld für die philologisch ausgebildeten Orientalisten wurde es, diese materiellen Zeugnisse zu entdecken, zu sammeln und vorzugsweise für die nationalen Kunst- und Völkerkunde-Museen zu erwerben und dort später zu katalogisieren. Die Historikerin Suzanne Marchand urteilt : The inventories and catalogs produced by these scholars served as the art-historical equivalent of positivist translations, editions, and dictionaries in the realm of textual scholarship and laid the foundation for the non-aestheticizing art history and oriental cultural history practiced in the twentieth and twenty-first centuries.117
Ansatz und Praxis rückte diese erweiterte deutsche Orientalistik in die Nähe der amerikanischen Kulturanthropologie, die sich in den USA um Franz Boas 115 Marchand, Orientalism, 212–251. Vera Tolz (Russia’s Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011) untersucht die par allele »Oriental Renaissance« in Russland, die nicht nur Avantgarde-Künstler, Schriftsteller und die »popular imagination« erfasste, sondern auch zu einer Neuorientierung der akademischen »Oriental Studies« im hier erläuterten Sinn führte. 116 So ermahnte der Sinologe Wilhelm Grube seinen Schüler Berthold Laufer, das Angebot von Boas anzunehmen : »Bedenken Sie aber wohl, ehe Sie etwa ›Nein‹ sagen, von welchem Nutzen Ihnen eine solche Expedition für Ihre ganze Zukunft werden kann, und vor allem, welch’ reichen wissenschaftlichen Gewinn sie eintragen kann und muß!«. Brief von Grube an Laufer am 7.3.1897. In : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 3, 323. 117 Marchand, Orientalism, 397.
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konstituierte. Die inhaltliche und personelle Verbindung beider Wissensfelder spiegelt sich beispielhaft in Franz Boas’ deutschem Netzwerk wider. Die Wissenschaftler, die ihn bei seiner Suche nach einem geeigneten Expeditionskandidaten für das Amurgebiet und Sachalin berieten und für Berthold Laufer Empfehlungsschreiben verfassten118, gehörten zu den führenden Orientalisten der Zeit und waren gleichzeitig ethnologisch engagiert. Laufers Doktorvater Wilhelm Grube119, einer der bedeutenden zeitgenössischen Sinologen und Experte für giljakische und goldische Sprachen arbeitete zum Zeitpunkt seiner Korrespondenz mit Boas an einem Wörterverzeichnis des Goldischen als Supplement zu den Bänden Leopold von Schrencks.120 Grube war Mitarbeiter des Berliner Völkerkundemuseums wie Laufers weiterer Befürworter Albert Grünwedel, der spätere Leiter der deutschen Turfan-Expeditionen in Zentralasien.121 Der Turkologe Wilhelm Radloff122, gebürtiger Berliner und Direktor des St. Petersburger Anthropologischen und Ethnographischen Museums und Leopold von Schrencks Nachfolger, empfahl Boas nicht nur Vladimir Bogoras und Vladimir Jochelson.123 Er zog auch die entscheidenden Fäden, um Berthold Laufer die Einreise nach Sibirien zu ermöglichen, die ihm als Jude von der russischen Regierung zunächst verweigert worden war.124 Boas konnte also bei einem Orientalisten, der im deutschsprachigen Raum ausgebildet worden war, neben der Kenntnis mongolischer Literatur und mandschurischer Sprachen125 eine Vertrautheit mit materieller Kultur voraussetzen. 118 Empfehlungsschreiben in : AMNH, Jesup Archive. 119 Hartmut Walravens/Iris Hopf (Hg.) : Wilhelm Grube (1855–1908). Leben, Werk und Sammlungen des Sprachwissenschaftlers, Ethnologen und Sinologen, Wiesbaden 2007. Grube war auch Beiträger in Boas Anniversary Volume. Anthropological Papers Written in Honor of Franz Boas – Presented to Him on the Twenty-Fifth Anniversary of his Doctorate, hg. v. Berthold Laufer, New York 1906. Cole, Greatest Thing, 32. 120 Brief von Grube an Laufer v. 26.11.1897. In : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 3, 322. 121 Hartmut Walravens (Hg.) : Albert Grünwedel. Briefe und Dokumente, Wiesbaden 2001 ; Caren Dreyer : Albert Grünwedel. Zeichnungen und Bilder von der Seidenstraße im Museum für Asiatische Kunst, Berlin 2011 ; Marchand, Orientalism, 418–420 ; allgemein Franziska Torma : Turkestan-Expeditionen. Zur Kulturgeschichte deutscher Forschungsreisen nach Mittelasien (1890–1930), Bielefeld 2011. 122 Ahmet Temir : Leben und Schaffen von Friedrich Wilhelm Radloff (1837–1918). Ein Beitrag zur Geschichte der Turkologie. In : Oriens 8, 1955, 51–93. Zur Rolle Radloffs bei der Formierung der russischen Ethnologie siehe Kan, Shternberg, u. a. 113 ff., 131 ff., 261–262. 123 Brief von Radloff an Boas v. 11.2.1898. In : AMNH, Jesup Archive. 124 Freed/Freed/Williamson, Philanthropy, 12–13 ; Freed, Anthropology, 292–298. 125 Dies formulierte Boas als Voraussetzung für eine Verpflichtung im Brief(entwurf ) an seinen vorgesetzten Kurator Putnam am 2.3.1897. In : AMNH, Jesup Archive.
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Und – wichtig angesichts seiner aktuellen Auseinandersetzungen mit den amerikanischen Evolutionisten – er konnte ebenso davon ausgehen, dass dieser Orientalist seine Vorstellung von der Einzigartigkeit und eigenen Wertigkeit jeder Kultur teilte, die seit Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt in der deutschen Völkerkunde, Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft präsent war.126 Berthold Laufer hatte zudem bei Boas’ ehemaligen Kollegen im Berliner Völkerkundemuseum, den Anthropologen Adolf Bastian, Felix von Luschan und Eduard Seler Vorlesungen gehört. Er versicherte Boas, dass er sich »mit ethnographischen Dingen während meiner ganzen Studienzeit mit intensiver Leidenschaft abgegeben« habe.127 Tatsächlich verfolgte der überwiegend allein reisende Laufer während seines zweijährigen Aufenthalts in Sibirien seine Aufgaben mit Energie und Leidenschaft und trotzte dabei Kälte, Einsamkeit, Reise- und Transportschwierigkeiten, Unfällen, schwerer Krankheit, Geldmangel und den Klagen des ihn für eine kurze Zeit begleitenden amerikanischen Archäologen Gerard Fowke128. Solche Entbehrungen und Härten im ethnologischen Feld teilte er Boas in seinen Briefen jedoch eher beiläufig mit.129 Im Mittelpunkt standen neben seinen Reisebewegungen, bei denen Laufer die russische binnenkoloniale Infrastruktur, die ihm manchmal zuteilwerdende Gastfreundschaft russischer Beamter und die Dienste des deutschen Fernhandels- und Bankkontors »Kunst und Albers« in Wladiwostok nutzte, vor allem seine Sammlungserfolge. Am 15. September 1898 zum Beispiel meldete er seinem Mentor : 126 Ivan Kalmar : The Völkerpsychologie of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture. In : Journal of the History of Ideas 48, 1987, 671–690 ; Matti Bunzl : Franz Boas and the Humboldtian Tradition. From Volksgeist and Nationalcharakter to an Anthropological Concept of Culture. In : Stocking, Volksgeist, 17–78. 127 Brief von Laufer an Boas v. 5.4.1896. In : AMNH, Jesup Archive, ebenfalls abgedr. in : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 1–2, in dem Laufer seine akademischen Lehrer nennt und über seine Sprachkenntnisse Auskunft gibt, nämlich Sanskrit, Pali, Malaiisch, Chinesisch, Mandschu, Mongolisch, Tibetisch und Neu-Japanisch. In einem Brief v. 14.7.1897 an Boas berichtet Laufer von seinen fortgesetzten sibirischen Sprachstudien des Korjakischen, Giljakischen, Tschuktschischen, Kamschadalischen und Jukagirischen (Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, 1. Hb., 6–7). Dazu auch Berthold Laufer : Einige linguistische Bemerkungen zu Grabowskys giljakischen Studien. In : Internationales Archiv für Ethnographie 11, 1898, wieder abgedr. in : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 263. 128 Siehe dazu den mehrseitigen Brief von Gerard Fowke an Boas v. 15.9.1898. In : AMNH, Jesup Archive. 129 Die ausführliche Korrespondenz zwischen Laufer und Boas während Laufers Sibirienreise befindet sich im AMNH, Jesup Archive.
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I have spent two months and a half on the east coast of Sachalin and succeeded in getting large vocabularies and a great deal of grammatical observations on three languages, Gilyak and two very distinct Tungus idioms, as well as a series of texts in the two latter ones, […] I have taken about hundred measurements and carried on investigations on the physical types and the culture of those tribes, particularly regarding their decorative art, of that I have obtained interesting specimens together with good explanations, daily life, fishing and hunting, social organization, shamanism, medicine and so on ; as to their healing methods I got a very important collection of amulets, protecting from diseases and representing the figure of various animals.130
Boas zitierte in seinen Artikeln über die Jesup-Expedition mehrmals aus Laufers Briefen, um die interessierte Öffentlichkeit aus erster Hand sowohl über die Härten wie die Erfolge der sibirischen Forschungen zu informieren (Abb. 8).131 Nichts deutete darauf hin, dass Laufer schließlich weder eine umfassende ethnologische Monographie132 über die besuchten sibirischen Ethnien wie Bogoras und Jochelson133 noch – etwa seinem Lehrer Grube folgend – eine sprachwissenschaftliche Studie vorlegte. In der Rezeptionsgeschichte der Jesup Expedition hat Laufer deshalb wenig Beachtung gefunden. Sein Beitrag The Decorative Art of the Amur Tribes wird im günstigsten Fall als enttäuschend beurteilt134 oder seine Verpflichtung durch Boas, der sich aus eigenen lebensgeschichtlichen
130 Brief von Laufer an Boas v. 15.9.1898. In : AMNH, Jesup Archive, auch in : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 19–20. Es sind keine Aufzeichnungen von anthropometrischen Messungen Laufers gefunden worden, so dass es sich hier nur um beabsichtigte und nicht realisierte »measurements« handeln kann, siehe dazu Stephen Ousley/Richard Jantz : 500 Year Old Questions, 100 Year Old Data, Brand New Computers. Biological Data from the Jesup Expedition. In : Krupnik/Fitzhugh, Gateways, 262–263. 131 Boas, Expedition, 94–98. Boas veranlasste auch die Veröffentlichung von Teilen des Briefes von Laufer an ihn v. 4.3.1899 (AMNH, Jesup Archive, auch in : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 22–28) in der Zeitschrift Science. Siehe Berthold Laufer : Ethnological Work on the Island of Saghalin. In : Science 9, 1899, May 26, 732–734 ; auf Deutsch unter dem Titel : Über seine ethnologischen Forschungen auf der Insel Sachalin berichtet unser Mitarbeiter. In : Globus 76, 1899, 36, abgedr. in Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 357. 132 Angekündigt wurde eine Monographie von Laufer mit dem Titel The Gold, die nicht erschien, siehe Igor Krupnik : A Jesup Bibliography. In : Krupnik/Fitzhugh, Gateways, 300. 133 U. a. Vladimir Bogoras : The Chukchee, Leiden/New York 1904–1909 ; Vladimir Jochelson : The Koryak, 2 Bde., Leiden/New York 1908. 134 Laurel Kendall (Young Laufer on the Amur. In : Fitzhugh/Crowell, Crossroads, 104) nennt Laufers Beitrag »disappointingly spare«.
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Abb. 8 Zeichen für das öffentliche Interesse an Expeditionen und entfernten Erdteilen sind die Liebigs Sammelbilder, hier : Ausser-Europäische Wasserstrassen, 1906
Gründen stark mit dem deutschen jüdischen Nachwuchswissenschaftler identifiziert habe135, als Fehlgriff bezeichnet.136 Diese Ansicht muss korrigiert werden. Laufers Buch über die Ornamente der ethnischen Gruppen am Amur und auf Sachalin passte genau in das übergreifende Boas’sche inhaltliche und wissenschaftspolitische Konzept einer Zurückweisung des Evolutionismus um die Jahrhundertwende, in dem Forschungen über Decorative Art eine zentrale Rolle einnahmen. Nicht zufällig behandelte der erste Band der Publications of the Jesup North Pacific Expedition in der Reihe der Memoirs of the American Museum of Natural History von 1898 die Facial Pain135 So Cole, Greatest Thing, 37. 136 Kan, Shternberg, 114 ; Koichi Inoue (Franz Boas and an ›Unfinished Jesup‹ on Sakhalin Island. Shedding New Light on Berthold Laufer and Bronislaw Pilsudski. In : Constructing Cultures, 135–163) hat weder die Boas-Laufer Korrespondenz noch den wissenschaftlichen Ausbildungshintergrund Laufers berücksichtigt und wiederholt die Behauptung des Verbannten und 1898 im Wladiwostoker Heimatmuseum beschäftigten B. Pilsudski – die Kan, ebd., ebenfalls ungeprüft übernimmt –, dass es Laufer an Kenntnis des Russischen sowie der sibirischen Sprachen gemangelt habe. Ein eher negatives Urteil über Laufer auch bei Stanley A. Freed, Anthropology, 309–310, der Laufers Unerfahrenheit und die Härten der sibirischen Feldforschung für dessen enttäuschend magere publizierte Ergebnisse verantwortlich macht.
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tings of the Indians of Northern British Columbia. Autor war Franz Boas, der als Herausgeber der Reihe vornehmlich die Kunstkapitel in den Beitragsbänden zum Teil stark redigierte und mit seinen Ergänzungen versah.137 Laufers Ornament-Band war zum Zeitpunkt seiner Publikation 1902 also keine Veröffentlichung, die am Rand des Themen- und Publikationsspektrums einer ethnologischen Expedition angesiedelt war.138 Für kulturanthropologische Monographien allgemein galt dies noch bis in die frühen 1920er Jahre. Laufers Buch lag jedoch mit einem entscheidenden Grundgedanken quer zu zwei Makro-Hypothesen des Boas’schen Jesup-Unternehmens. Hier wurde zum einen ein großer ganzheitlicher Kulturraum entlang des North Pacific Rim angenommen, der die dort liegenden Küstengebiete Sibiriens und Nordamerikas umfasste ; zum anderen galt dieser transpazifische Bogen als die wichtigste Hauptverkehrsstraße für kulturelle Entwicklungen, Austauschprozesse und Migrationsbewegungen zwischen Asien und Nord-Amerika. Als Schlüsselkulturen galten die Ethnien Nordostsibiriens, insbesondere die Tschuktschen, Korjaken und Yukagieren. Die russischen Expeditionsmitglieder Jochelson und Bogoras, die sie erforscht hatten, »find their similarity to the American tribes so striking that they speak of them as Americanoid«, bekräftigte Boas noch Ende der 1920er Jahre.139 Den Sinologen Berthold Laufer interessierte dagegen ein ganz anderer Kulturraum und kultureller Austauschprozess. Schon in seinem ersten längeren
137 So bei John R. Swanton : The Haida of Queen Charlotte Islands, Leiden/New York 1905, Boas ergänzte die Seiten 147–154. In der Monographie von Jochelson, The Koryak, merkte Boas in der ersten Anmerkung im dortigen Kapitel »Art«, 642, an : »[…] some matters of detail have been added by the editor. And also the greater part of the discussion relating to the technique and rhythmic arrangement of the designs on clothing, basketry, and rugs.« Boas teilte ferner Laufer in seinem Brief v. 25.10.1901 mit : »There were two places in your paper which appeared to me so exceedingly doubtful that I did not venture to print them, and which, although reluctantly, I suppressed.« (in : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 46–48). 138 Prominentes Beispiel sind die Arbeiten des britischen Zoologen und Anthropologen Alfred C. Haddon. Haddon veröffentlichte von der Expedition zu den Inseln der Torres-Straße 1898, die als Meilenstein in der Formierung der britischen Anthropologie gilt, in den Reports of the Cambridge Anthropological Expedition to Torres Straits den vierten Band, Arts and Crafts, Cambridge 1912, mit einem Ornament-Schwerpunkt. 139 Franz Boas : Migrations of Asiatic Races and Cultures to North America. In : The Scientific Monthly 28, 1929, 110–117, hier 113. Zum Gesamtkontext der Americanoid-Theorie Igor Krupnik : Jesup Genealogy. Intellectual Partnership and Russian-American Cooperation in Arctic/ North Pacific Anthropology. Bd. I : From the Jesup Expedition to the Cold War, 1897–1948. In : Arctic Anthropology 35, 1998, 199–226.
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Aufsatz über die Jesup-Expedition im Jahr 1900 hatte er deutlich und nicht unbescheiden angekündigt : It is hoped that one of the chief results of my investigations may be the finding of the missing link in the intellectual and psychological connection formerly existing between the Amoor tribes and the peoples of central Asia, and that thereby we may draw nearer to the possibility of assigning to the latter their true position in the history of Asia and of all mankind.140
Ein solches Erkenntnisinteresse widersprach nicht nur der offiziellen Jesup- Agenda. Es traf auch angesichts von gering entwickelter Sinologie in den USA141 zeitgenössisch auf fast keine interessierte wissenschaftliche Rezipientengruppe.142 Laufers Kenntnis der Kulturen und der bedeutenden Geschichte Zentralasiens, zu dem bis Anfang des 20. Jahrhunderts neben West-Turkestan der später zu China gehörende Teil Ost-Turkestan (Xinjiang), Tibet, die Mongolei und die Mandschurei gezählt wurden143, ließ ihn von Beginn an nach dem Austausch der sibirischen Volksgruppen am Amur und auf Sachalin mit den innerasiatischen Nachbarn fragen. Waren doch die fortwährenden Bewegungen der vielen verschiedenen Ethnien und Sprachen ein Kernthema in der Geschichte Zen tralasiens144, das Laufer mit seiner Frage nach Transfer- und Adaptionsprozessen von künstlerischen Artefakten aufnahm. Mit seiner historischen und geographischen Untersuchungsrichtung beschritt Laufer einen Sonderweg innerhalb des Jesup-Unternehmens. Zugleich hob er – in diesem Fall im Einklang mit Boas’ fächerübergreifenden Konzept einer Kulturanthropologie – die Arbeitsteilung zwischen Orientalistik und Ethnologie auf. Denn Laufer untersuchte den Kulturaustausch zwischen sibirischen im damaligen deutschen Sprachgebrauch »Naturvölkern« als Gegenstand der Ethnologie und dem chinesischen »Kulturvolk« als Gegenstand der Orientalistik. Sein 140 Berthold Laufer : Preliminary Notes on Explorations among the Amoor Tribes. In : American Anthropologist 2, 1900, 297–338, hier 331. 141 Kenneth Scott Latourette : American Scholarship and Chinese History. In : Journal of the American Oriental Society 38, 1918, 97–106. 142 Dies könnte u. a. die fortdauernde Missrepräsentation von Laufer in der Nachgeschichte der Jesup-Expedition erklären. 143 Siehe z. B. die geographische Karte »Zentral-Asien« in Meyers Konversationslexikon, Bd. 16, Leipzig 41885–1892, 872a. 144 Einen Überblick geben Peter B. Golden : Central Asia in World History, Oxford 2011 ; S. Frederick Starr : Rediscovering Central Asia. In : The Wilson Quaterly, Summer 2009, 33–43.
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Thema – die Adaption und Umwandlung von chinesischer Ornamentik in eigene Decorative Art der Amur tribes – schrieb die Ethnien am Amur zudem aus dem evolutionistischen Kulturstufenschema heraus, gingen die Evolutionisten doch von klaren Hierarchien zwischen den Kulturen aus und nahmen eine weltweit gleichförmige und gesetzmäßige Entwicklung der verschiedenen ethnischen Gruppen an145, die sich angeblich in ihrer Ornamentik widerspiegelte. Laufer folgte mit seinem Forschungsprogramm Boas’ kulturanthropologischem Ansatz. Jedoch interessierte ihn im Gegensatz zum dort ausgeübten Untersuchungsansatz von Kunst nicht primär die soziale, symbolische und religiöse Bedeutung der Ornamentik. Sein Blick richtete sich zunächst auf die in seiner Wahrnehmung große ästhetische Qualität der ornamentierten Artefakte, die er bei den sibirischen Ethnien am Amur, in der Küstenprovinz und auf Sachalin vorfand. Schon Leopold von Schrenck hatte in seinen Reisen und Forschungen im AmurLande den besonderen »Sinn der Giljaken für Ornamentik« herausgestellt, der sich »in freiester und weitester Entfaltung […] in den Stickereien zur Verzierung ihrer Kleidung« äußere, aber »auch alle übrigen zu ihrem Leben und Haushalt gehörigen Gegenstände« nicht ausspare (Abb. 9).146 Schrenck war nicht entgangen, dass »manche spiralförmig gewundene[n] Linien, kunstvolle[n] Bandverschlingungen, mit mehrfachen Spitzen sich verjüngende[n] Schildbegrenzungen« auch auf altchinesischen und altjapanischen Gegenständen im Petersburger Museum zu sehen waren.147 Dies erklärte er mit dem »beständigen Handelsverkehr« der Giljaken mit den Chinesen und auf Sachalin mit den Japanern. Jedoch gebe es trotz »des Jahrhunderte alten, vielfachen und beständigen Verkehrs mit den Russen« in der giljakischen Ornamentik keine »national-russischen Einflüsse«. Dies erstaunt – wohl unbeabsichtigt vom Autor mit dem russischen Auftrag, das Verhältnis der Amur-Völker zu Chinesen und Japanern zu erkunden – seine aufmerksame Leserschaft nicht. Brachte von Schrenck doch die Eigenart der giljakischen Ornamentik und deren auffällige Distinktheit von der der benachbarten sibirischen Ethnien mit ihrer wirtschaftlichen Stärke, »Schlauheit und Umsicht« beim Handel und mit ihrer politischen Unabhängigkeit in Zusammenhang. »Die Giljaken haben es verstanden, sich von der Herrschaft der Mandschu-Chinesen unabhängig zu machen und direkte Besuche und 145 Einen Abriss über die Kontroversen um dieses Konzept gibt Eva Kudraß : Franz Boas und die kulturgeschichtliche Ethnologie in Deutschland. In : Schmuhl, Kulturrelativismus, 141-162. 146 V. Schrenck, Reisen, 400. 147 Ebd.
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Abb. 9 Giljakische Kleidungsstücke
Niederlassungen derselben in ihrem Gebiet zu verhindern.«148 Im Gegensatz zu ihren Nachbarn seien sie »einer beständigen Exploitation durch den Mandschu-Beamten und den chinesischen Kaufmann« entgangen und auch nicht wie die Ainu in Süd-Sachalin »durch den Druck und die Ausbeutung seitens der Japaner in Handel und Wandel zurückgehalten und geschädigt« worden.149 Die Ornamentik ist bei Leopold von Schrenck Seismograph der inneren Verfasstheit der ethnischen Gruppen am Amur, d. h. ihrer bewahrten oder aufgegebenen Eigenständigkeit gegenüber den Chinesen. Das war aus russischer Perspektive während der zeitgleichen imperialistischen Inbesitznahme des Amurgebiets in den 1850er Jahren eine politisch wichtige Aussage. Schrenck sah in der Ornamentik der Giljaken zwar chinesische und japanische Anleihen, charakterisierte sie aber trotzdem als eigenständig, während die anderen Amur-Völker, so sein Urteil, entweder diese giljakische Ornamentik nachahmten wie die Oroken oder die chinesische Ornamentik vollständig kopierten wie die Nanai (Golden).150 148 V. Schrenck, Reisen, 401. 149 Ebd., 403. 150 V. Schrenck, Reisen, 403–409.
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Schon auf den ersten Seiten seiner Monographie widersprach Laufer heftig von Schrencks abschließender Feststellung, dass »der Sinn für Ornamentik und die Entfaltung der letzteren im Amur-Lande mit der Entfernung vom maassgebenden Culturvolke, den Chinesen, nicht ab- sondern zunehmen und ihren Höhepunkt bei dem von diesen letzteren am weitesten entfernten Volke, den Giljaken erreichen«151. Diese These sei »decidedly erroneous«152, schrieb Laufer. Das Gegenteil sei der Fall : On my journeyings my observations led, first of all, to the deduction of a prevailing law : namely, that the nearer the people live to a centre of Chinese culture, the higher the development of their art : the farther they recede from it, the less their sense of the beautiful.153
Die Nanai (Golden), nicht die Giljaken, die den größeren Teil ihrer Ornament-Muster von ihnen entlehnten, waren nach Laufer die »most talented representatives of the Amur tribes«. Sie besäßen das beste Verständnis für dekorative Kunst und die größte Zahl an einzigartigen Künstlerinnen. Insbesondere in und um Chabarovsk, wo die Golden in der unmittelbaren Nachbarschaft der Chinesen lebten, hätten sie unter anderem eine außerordentliche Fertigkeit in der Kunst der Seidenstickerei erlangt. Solch eine Fähigkeit »in its highest degree of perfection« sei nur hier zu finden.154 Laufers Urteil, das auch die bildliche und textliche Schwerpunktsetzung seines Buches bestimmte, war eindeutig : The art industry carried on by the Gold in Khabarovsk and its environs remains the central circle from which the practices of the other tribes radiate, and lose in light and warmth toward the periphery.155
Zwar konzedierte er, dass die Giljaken die schönsten Holzschnitzereien anfertigten und die tungusischen Volksgruppen am Ussuri und Amgun unübertroffen bei der ornamentalen Verzierung von Körben aus Birkenrinde waren, die ästhetische Superiorität der Nanai (Golden) wurde dadurch aber nicht gemindert. Sie gründete sich, so Laufers Argumentation, auf die feinere und eigenständigere 151 Ebd., 401. 152 Laufer, Art, 6. 153 Ebd., 7. 154 Ebd. 155 Ebd., 8.
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Abb. 10 Fischhaut-Frauenmantel der Nanai (Golden), von B. Laufer erworben
Ausführung der allen in der Amur- und Sachalin-Region lebenden Ethnien gemeinsamen Ornamentik bei den Golden. Ausnahme seien die Ainu, die zur Urbevölkerung Japans gehörten. Zudem beruhe die ästhetische Überlegenheit auf dem edlen Material der ornamentierten Objekte der Golden, zu denen insbesondere ihre bestickten Gewänder aus Fischhaut und Seide gehörten (Abb. 10). Zwar sammelte und beschrieb Laufer in seiner Monographie getreu seines ethnologischen Sammlungsauftrags Dinge des Alltags wie Tabakdosen, Messergriffe, Schüsseln und Körbe und vereinzelt rituelle Gegenstände, die jedoch fast ausnahmslos ornamentiert waren.156 Auswahl und Präsentation folgte sei156 Die Kuratorin der Asiatischen Ethnologischen Sammlungen des AMNH, Laurel Kendall, urteilt : »Although Laufer fulfilled his mandate to provide a comprehensive selection of artifacts, his collection bears the mark of his own scholarly interests and aesthetic judgements.« (Kendall, Young Laufer, 104).
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nem Erkenntnisinteresse, die schöpferischen Leistungen der Ethnien am Amur sichtbar zu machen und deren Anerkennung und ästhetische Wertschätzung157 zu befördern. Wenig Informationen gab Laufer in seinem Buch und in seiner Korrespondenz mit Boas über seine Erwerbspraxis. Im März 1899 bat er Boas dringlich um eine weitere Geldsumme von Morris K. Jesup, because all objects, the smallest as well as the biggest, are awfully expensive. For some time the natives have known the real value of their possessions and what they can get for it. The demands for their things, from Russian amateurs and dealers alike, is very high and so the prices are going up.158
Laufers bevorzugtes Sammel-Sujet waren neben Papierschnitten, die als Schablonen für Stickereien dienten159, ornamentierte Textilien160 : Mützen, Handschuhe, 157 Ein gegensätzliches Urteil fällte Laufer dagegen in seinen früheren »Preliminary Notes«, 300 : »All their productions of art are lifeless. Nevertheless, it cannot be denied that the people, at least some individuals, have cultivated and developed a certain sense for beautiful lines and tasteful forms.« 158 Laufer an Boas v. 4.3.1899. In : AMNH, Jesup Archive. Einen Hinweis auf Laufers Einstellung zur ethnologischen Sammlungs- und Erwerbspraxis geben seine Bemerkungen über den Orientalisten F. W. K. Müller, dem späteren Leiter der Ostasiatischen Abteilung des Berliner Völkerkundemuseums, die er Boas während seiner Schiff-Expedition in China anvertraute : »Wir erwerben unsere Sammlungen auf ehrlichem Wege, wie es sich gehört oder gar nicht, wir sind keine Aasgeier, die im Gefolge eines rohen und barbarischen Militarismus mitlaufen, um zu rauben. Dr. Müllers Sammlung besteht grösstenteils aus Loot u. ist eine Schmach u. Schande für das Berliner Museum, u. er hat nicht nur Loot gekauft, sondern sich auch selbst direkt Loot angeeignet wie ein Soldat oder Missionar. […] Der vorgebliche Deckmantel des ›Wissenschaftlichen Zwecks‹ macht den Abgrund der Gemeinheit u. Nichtswürdigkeit nur um so grösser, es gibt gar keine Worte für eine solche Erbärmlichkeit. Meine Achtung hat er vollständig verscherzt : u. ich würde keinen weiteren Verkehr mit ihm haben, auch das Lootmuseum in Berlin nie mehr betreten. […] die Geschichte der Pekinger Lootereien, ein Schandblatt der Weltgeschichte, das so recht ad oculos demonstriert, wie herrlich weit es die westliche ›Civilisation‹ gebracht hat, wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.« Laufer spielt hier auf die Plünderungen in Peking durch die Alliierten nach der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands von 1901 an (Brief von Laufer an Boas v. 1.2.1902. In : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 58–63, hier 58–60). 159 Papierschnitte gab es in China seit der Han-Zeit. Hauptsächlich von Frauen geschnitten, dienten sie als Schmuck von Wänden und Fenstern und als Muster bei Töpfer- und Holzarbeiten. Das chinesische Schattenspiel ist ohne diese ältere Papierschnittkunst nicht denkbar. Siehe Nancy Kuo : Chinese Paper-Cut Pictures. Old and Modern, London 1964. 160 Laufers Eltern führten ein Textilgeschäft in Köln. Es ist zu vermuten, dass er sich deshalb – nicht unbedingt zeittypisch für Männer mit akademischer Ausbildung – für Bekleidungen interessierte.
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Abb. 11 Männermantel der Nanai (Golden), von B. Laufer erworben Abb. 12 Kaiser Yongzheng in Mandschu-Verkleidung, Yongzheng-Periode (1723–35)
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Hosen, Gürtel, Schuhe und besonders Borten und Bordüren sowie großflächige Ornament-Stickereien auf festlicher Männer- und Frauenkleidung, die Mandschu-Gewändern ranghoher Träger und Trägerinnen in Schnitt, Seidenstoff und Applikationsgebrauch an den Kleidungsrändern ähnelten (Abb. 11 u. 12). Diese Verwandtschaft überrascht nicht. Das im Osten vom Japanischen Meer, im Norden vom Stanowoigebirge begrenzte Amurgebiet jenseits der Flüsse Amur und Ussuri war Teil der Äußeren Mandschurei und gehörte zu China, regiert von der mandschurischen Qing-Dynastie, und wurde erst nach dem russisch-chinesischen Vertrag von Aigun 1858, der in die Reihe der »Ungleichen Verträge« gehört, zu Russisch-Fernost bzw. zur russischen Küstenprovinz (Abb. 13). Das Auffinden von gleichen und ähnlichen Formen materieller Objekte in einem räumlich definierten Gebiet gehörte zum grundlegenden Arbeitsprogramm anti-evolutionistischer Ethnologen. Sie dienten als Quelle zur Bestimmung von zusammenhängenden sogenannten Kulturkreisen und zum Nachweis von Kulturkontakten und Migrationsprozessen. Die Ornamentikanalyse nahm dabei einen hohen Stellenwert ein. Sie war zudem direkt einbezogen in die Auseinandersetzungen um die Frage von soziokultureller und »rassischer« Evolution mit korrespondierenden Stufen der Menschheitsentwicklung. Die ethnologischen Vertreter des Diffusionismus und der Kulturkreislehre wiesen wie die amerikanischen Kulturanthropologen um Franz Boas die evolutionistische These von einer linearen Höher- oder Komplexitätsentwicklung von Ornamentformen in der Zeit zurück, die angeblich mit dem Aufstieg eines Volkes auf der zivilisatorischen Fortschrittsleiter einherging. Berthold Laufer erinnerte in seiner Monographie zunächst an die historischen Beziehungen zwischen den Ethnien am Amur und den Kitan aus der Mandschurei, die im 10. Jahrhundert die Liao-Dynastie in Nordchina errichteten und nach chinesischen Quellen die Schriftzeichen der Chinesen übernahmen, ebenso wie die tungusischen Jurchen der nachfolgenden Jin-Dynastie im 12. Jahrhundert. Laufer vermutete, dass die Einführung von Ideogrammen oder Begriffszeichen einen Anreiz für die tungusischen Ethnien schuf, ebenfalls chinesische ornamentale Formen zu adoptieren. This art […] gradually infused itself into the minds of the people, who in this way absorbed and assimilated a part of the Chinese art, as the nations of Europe imbibed classic art in the period of the Renaissance. It was due no less also to a congeniality of the minds of the two peoples.161 161 Laufer, Art, 3.
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Abb. 13 Karte von Tibet, der Mongolei und Mandschurei (Ausschnitt) von John Tallis, The Illustrated Atlas, and Modern History of the World, 1851
Laufers Vergleich siedelte die Prozesse von künstlerischer Formadaption auf Augenhöhe mit Geschehnissen in der europäischen Renaissance an. Sein etwas irritierendes Springen durch die Jahrhunderte hatte einen Grund. Die »exakten« historischen Beziehungen zwischen chinesischer und sibirischer Kunst konnten bisher noch nicht bestimmt,162 wohl aber allgemeine übereinstimmende Merkmale aufgezeigt werden, schrieb er.163 Die Frage nach den konkreten geschichtlichen Transferprozessen von lediglich kopierender Übernahme chinesischer Kunstformen bis zu ihrer kreativen Aneignung, Neuinterpretation und der Schaffung einer »eigenen« Kunst der ethnischen Gruppen am Amur musste offen bleiben. Die sibirische Kunst repräsentiere einen unabhängigen Zweig der Ostasiatischen Kunst, »which sprang from the Sino-Japanese cultural centre«164, stellte Laufer fest. Mit dieser Erklärung machte er sich den Weg frei für eine 162 Diese Frage untersuchte der deutsche Sinologe und Professor (seit 1902) an der Columbia University in New York, Friedrich Hirth, in seinem Buch Über fremde Einflüsse in der chinesischen Kunst, München/Leipzig 1896, das Laufer zweifellos gekannt haben muss, aber nicht erwähnt. 163 Laufer, Art, 4. Vgl. Ivan A. Lopatin : Animal Style among the Tungus on the Amur. In : Anthropos 56, 1961, 856–868. 164 Ebd.
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detaillierte Beschreibung des zeitgenössischen Kunstschaffens der sibirischen Indigenen am Amur und auf Sachalin, das sich – so Laufer – hauptsächlich auf die »Ornamentierung von Oberflächen«165 konzentriere. Dieses Urteil bestimmte dann auch seinen eigenen Untersuchungsansatz, nämlich die verschiedenen Artefakte aus unterschiedlichen Materialien, die bestickt, beschnitzt, beschnitten wurden, allein als Oberflächenträger für Kunst zu behandeln und von ihren konkreten Gebrauchskontexten abzusehen. Das ging mit dem Boas’schen Ansatz nicht konform. Da sich Laufer ebenso wenig für die gesellschaftliche Funktion der ornamentalen Kunstäußerungen interessierte, stand er damit auch in Gegensatz zur soziologisch orientierten französischen Ethnologie um Émile Durkheim und später zu den Vertretern der funktionalistischen Ethnologie um Bronislaw Malinowski. Der Hauptteil seiner Amur-Monographie ist eine mit 250 Zeichnungen166 illustrierte Sammlung und detaillierte Beschreibung von Ornamentformen und Musterausschnitten, die nur noch manchmal die ornamentierten Dinge selbst sichtbar werden lassen (Abb. 14). Dies sei ziemlich langweilig für nicht an Problemen der Ornamentik interes sierte Leser, merkte dann auch ein Rezensent im American Anthropologist an. Alfred Kroeber, der sich soeben bei Franz Boas promoviert hatte, schrieb weiter, es mache jedoch gerade Laufers Sorgfalt und Gründlichkeit den Wert des Buches aus, das zudem den unschätzbaren Vorteil besäße, sich auf die Aussagen der Indigenen zu stützen.167 Hier bezog sich Kroeber auf Laufers emphatisches Eingangsbekenntnis, dass Ornamente zutreffend nur durch den Künstler und die Künstlerin selbst erklärt werden könnten. I adhere to the principle that ornaments should not be regarded as enigmas which can be easily puzzled out by the homely fireside. Neither are ornaments of primitive tribes like inscriptions, that may be deciphered ; they are rather productions of their art, which can receive proper explanation only from the lips of their creators. They are comparable to modern symphonic compositions, that are incomprehensible without the printed synopsis in the hands of the auditors. The writing of such guides can only
165 Laufer, Art, 5. 166 »54 Zeichnungen nach Gegenständen aus dem K. Museum f. Völkerkunde und dem K. Kunstgewerbe Museum zu Berlin« wurden von dem professionellen Zeichner Wilhelm von den Steinen, der seinen Cousin Karl auf dessen erster Xingú-Expedition 1884 begleitet hatte, angefertigt. Rechnung von W. von den Steinen an Laufer v. 29.9.1900. In : AMNH, Jesup Archive. 167 Rezension von Alfred Kroeber. In : American Anthropologist 4, 1902, 532–534.
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Abb. 14 Stickarbeiten und Papiermuster der Nanai (Golden), die Hähne, Fische und Drachen zeigen
be accomplished by consulting the native artist as to his own fancy concerning the significance of the ornaments evolved from it.168 168 Laufer, Art, 1.
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Im späteren Text Laufers finden sich ausgewiesene indigene Stimmen jedoch nur selten, so dass sich Kroeber mehr Klarheit über die Autorschaft von Ornament erklärungen wünschte.169 Schärfer urteilte Franz Boas in einem Brief an Laufer : My principal criticism is, that you do not state clearly in each particular case whether the interpretation you gave is based on the general principles which were explained to you by the natives, or whether in each individual case you simply rendered the interpretation that you have obtained. In a good many cases the wording is such that the reader must infer that you give your interpretation, based, as I say, on the general run of the explanations given to you by the natives. […] These do not seem plausible to me.170
Laufer reagierte betroffen auf Boas’ methodische Kritik.171 Tatsächlich hatte der Orientalist die von den Amur tribes geschaffene Ornamentik – von der sich konstituierenden Kulturanthropologie als genuin ethnologischer Gegenstand reklamiert – mit der philologischen Methode untersucht. Das hieß jedoch nicht, dass er im eigenen Selbstverständnis die sibirischen Indigenen zum Schweigen gebracht hatte. Laufer hatte ihre Ornamente als kollektiven Text – als ihre Sprache – behandelt. Die Ornamentschöpfungen einer einzelnen Künstlerin oder eines Künstlers betrachtete er daher nicht als individuellen, »freien« Ausdruck von Schönheit, sondern eben als Variante und Variation im Ganzen einer Volkssprache bzw. Volkskunst, die den Artikulations- und Handlungsraum einer Kultureinheit bildete. Mit Besonderheiten versehene oder in irgendeiner Weise auffällige Ornamentmuster wurden von ihm als Versionen des gemeinsamen Kunststils sorgfältig beschrieben und abgebildet ; ein Verfahren, das das von Kroeber beklagte »tedious reading« seines Buches bewirkte. Eine persönliche Interpretation durch die Künstlerin – die Ornamentierung der von Laufer zentral in den Blick genommenen Textilien wurde fast ausschließlich von Frauen geleis169 Der Kunsthistoriker Wilfried van Damme (Siberian Ornaments, German Scholars, and a Transitional Moment in the Anthropology of Art, c. 1900. In : Art History 38, 2015, 512–535) argumentiert, dass Laufer sich zwar methodisch gegen die »Armchair«-Interpretation von sibirischen Ornamenten insbesondere des Bremer Völkerkundlers Heinrich Schurtz wende, sich jedoch selbst auch letztlich nicht auf die Aussagen indigener Künstlerinnen und Künstler über die Bedeutung der Ornamente stütze und so schließlich allein einen beschreibenden Katalog seiner Ornament-Sammlung vorlege. 170 Brief von Boas an Laufer v. 25.10.1901. In : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 46–48. 171 Dies lässt sich aus einem Brief von Boas an Laufer v. 10.1.1902. In : ebd., 53–55, erschließen, in dem Boas schreibt : »I am very sorry that my remarks on your paper should have depressed you so very much, because they were certainly not meant that way. […] Of course I should not think for a moment of holding back your memoir. It is altogether too good and too interesting for that.«
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tet172 – konnte angesichts der Verbindlichkeit des kulturellen Gesamt-Zeichensatzes aber vernachlässigt werden. Die Hauptaufgabe im philologischen Selbstverständnis, das Laufer seiner universitären Ausbildung entsprechend teilte, bestand vordringlich in der Ermittlung und Sicherung von Texten, ihrer Edition und dem Verfassen historischer Kommentare.173 Diese wissenschaftliche Praktik überführte Laufer in seine ethnologische Arbeit. Ornamente untersuchte er als Texte, die mit allen Versionen erfasst und in seiner Monographie aufbewahrt, d. h. von ihm ediert wurden. Sein historischer Kommentar bestand in der detaillierten Aufdeckung der Adaptionen und Umwandlungen chinesischer Muster und Motive, ohne ihrer Funktion und Bedeutung für ihre Trägergegenstände weiter nachzugehen. Ein Beispiel bilden Laufers Ausführungen zur Tier-Ornamentik. Prominent präsent in der Amur-Ornamentik waren nach Laufer Tiere, insbesondere der Hahn und der Fisch. Laufer entfaltete detailliert die vielen Kombinationen und Vermischungen der entsprechenden Einzelmotive in Ornamentmustern und entzifferte so die auf den ersten Blick mehr oder weniger abstrakten Linienkombinationen für seine Leserschaft (Abb. 15). Da der Hahn ursprünglich nicht in der Amur-Region heimisch war, galt seine beherrschende Rolle in der Ornamentik Laufer als weiterer Nachweis für den starken chinesischen Einfluss auf das Kunstschaffen der dortigen Ethnien. Der Hahn spielte wie der Drache, der ebenfalls wiederholt in ihren Ornamentmustern nachgebildet wurde, eine wichtige Rolle in der chinesischen Kunst und Mythologie. Nicht zufällig standen die Nanai (Golden), die dem chinesischen Ein172 »All needlework is done by women, and clever embroiderers especially enjoy a high reputation among their countrymen. To be skillful in such work is regarded as a great merit, and increases exceedingly the value and esteem of a girl in the eyes of her father, who, a careful calculator, includes the amount brought in from this talent in the purchase-price due from his son-in-law. Men, on the other hand, aspire to possess a woman experienced in this line of art, and take great pride in her work ; while wives are proud of dressing up their husbands with all the costly and gaudy art expedients available, and vie with their fellow-artists in their zeal to produce the most striking effects.« (Laufer, Art, 6). Siehe auch Lopatin, Animal Style, 857 : »The chief methods of ornamentation are embroidery, appliqué, painting, carving and engraving. […] Each woman has a collection of such patterns, inherited from her mother, her grandmother, and her maternal ancestors, which she cherishes and preserves ardently and carefully. The author saw certain patterns so ancient that in his opinion their origin dates back for centuries.« Lopatin besuchte u. a. die Nanai (Golden) zwischen 1925 und 1950. 173 Siehe die Beschreibung der philologischen Grundtätigkeiten bei Hans Ulrich Gumbrecht : Die Macht der Philologie, Frankfurt a. M. 2003. Sowie Eckhard Keßler : Philologische Methode und Naturwissenschaft. In : Denis Thouard/Friedrich Vollhardt/Fosca Mariani Zini (Hg.) : Philologie als Wissensmodell, Berlin 2010, 165–180.
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Abb. 15 Malerei auf Hirschhaut-Hose der Nanai (Golden) (1) ; Stickerei auf Hirschhaut-Schuh der Orochen (2) ; Malerei auf dem Kragen eines Fischhaut-Kleidungsstücks der Orochen (3) ; Malerei auf Fischhaut-Hose der Nanai (4)
flussgebiet am nächsten waren, im Mittelpunkt von Laufers Buch. Seiner Wahl, vornehmlich ihre ornamentale Kunst zu beschreiben und zu edieren, lag zudem ein ästhetisches Urteil zugrunde, das Laufer gewissermaßen zu einem aktiven Teilnehmer in der Sphäre der Kunst werden ließ. Durchgängig ist in seinem Buch auch eine sinnliche Komponente sichtbar. Mit seinen Untersuchungsobjekten verband Laufer eine ästhetische Erfahrung.174 Es fand eine Art Einverleibung statt, die er wenig später bei anderer Gelegenheit mit folgenden Worten beschrieb : »Ich hänge an diesen Sammlungen [seiner nachfolgenden Jacob H. Schiff-Expedition nach China 1901 bis 1904], sie sind ein Teil von mir und mit meinen Gedanken verwachsen. Es würde mir ewig leid thun, wenn ich mich je 174 Zu diesem Aspekt allgemein Gumbrecht, Macht, 17–20.
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Abb. 16 Papiermuster der Nanai (Golden)
von ihnen trennen müsste.«175 Immer wieder machte er seine Leserschaft auf die besondere Qualität von Stickereimustern aufmerksam : »The exquisite graceful175 Brief von Laufer an Boas v. 15.11.1901. In : Laufer, Kleinere Schriften, Teil 2, Hb. 1, 49. Zur Geschichte dieser Sammlung John Haddad : »To Inculcate Respect for the Chinese«. Berthold Laufer, Franz Boas, and the Chinese Exhibits at the American Museum of Natural History, 1899–1912. In : Anthropos 101, 2006, 123–144.
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ness of lines and the fine taste here displayed deserve special mention.«176 Über ornamentierte Tiere in einem Papierschnitt urteilte er : »The following animal pieces demonstrate the supreme degree of zoöphily innate in the minds of these people, who display such a wonderful amount of creative power in these productions so full of freak and fancy«177 (Abb. 16). Die künstlerische Kreativität der sibirischen Indigenen entsprang einer maßgeblichen Ursache : »The strong inward impulse to create new forms is the primary underlying cause for the rise of the various degrees of conventionaliza tion.«178 Laufer nahm damit eine Kernaussage des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl auf, der 1893 in seinem Buch Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik einen »immanenten künstlerischen Trieb, der im Menschen rege und nach Durchbruch ringend vorhanden« sei, behauptet hatte. Dieses »Kunstwollen« sei allen Völkern eigen und habe sich zu allen Zeiten auf den verschiedensten Gestaltungsgebieten entfaltet.179 Riegl verlieh damit der Ornamentik, die bis dahin zum sogenannten niederen Bereich des Schmückenden, der unselbstständigen Kunst gezählt wurde, den Status eines gleichrangigen Kunstwerks. Kunsterzeugnisse sollten in ihrem persönlichen Stil und Zeitstil beurteilt werden, also nur an sich selbst gemessen und ihnen eine eigene Bedeutung gegeben werden.180 Laufer konnte hier nicht zuletzt aufgrund der Nähe des Riegl’schen zum kulturrelativistischen Konzept von Boas leicht anknüpfen. Damit stand er allerdings in der Gruppe der russischen Jesup-Expeditionsteilnehmer allein, wie ein Blick in die sibirischen Monographien von Jochelson und Bogoras zeigt, die – gewissermaßen Boas zum Trotz – einem evolutionistischen, auch im marxistischen Denken vorherrschenden Fortschrittskonzept verpflichtet blieben. Jochelson thematisierte den Aspekt der indigenen Kunst nur wenig, Bogoras überhaupt nicht. Beide siedelten die sibirischen Ethnien auf einer niedrigen Kulturstufe an. 176 Laufer, Art, 32. 177 Ebd., 42. 178 Ebd., 77. 179 Alois Riegl : Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 21923, hier 20. 180 Siehe auch Frank-Lothar Kroll : Ornamenttheorien im Zeitalter des Historismus. In : Isabelle Frank/Freia Hartung (Hg.) : Die Rhetorik des Ornaments, München 2001, 163–175, der festhält : »Daß dem Ornament […] die Bedeutung einer für die Stillage des jeweiligen Kulturkreises typische Kunstäußerung, einer unbewußten und unterschwelligen, aber gerade deshalb höchst charakteristischen Abbreviatur der Grundgestimmtheit einer Gesellschaft zuzusprechen ist – diese Erkenntnis wird man noch am ehesten als gemeinsames Fazit aller ornamenttheoretischen Deutungsversuche im Zeitalter des Historismus bilanzieren können« (ebd., 175).
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Abb. 17 Nanai-Frauenmantel aus Fischhaut mit Seidenstickereien (1) ; tungusischer Tabaksbeutel (2) ; tungusischer Schurz aus Fischhaut (3) ; Nanai-Jägermütze
Dieses Urteil seiner russischen Kollegen teilte Laufer eben nicht – weder für die historischen Tungus-Mandschu-Dynastien, die Nordchina im 10. Jahrhundert in Besitz genommen und chinesische Kulturformen während ihrer Herrschaft aufgenommen hatten, noch für das mit ihnen verwandte Volk der Nanai (Golden), das er Ende des 19. Jahrhunderts besuchte (Abb. 17 u. 18). Die Kongenialität zwischen goldischem und chinesischem Geist – sichtbar an der ornamentalen Kunst – werde den Nanai (Golden) als Nachfahren der Mandschu, die in der Vergangenheit Reiche begründet hatten, einen Rang unter den »civilized nations« sichern. Jedoch nur, so Laufer im Schlussabsatz seines Buches, wenn die herrschende russische Regierung die wirtschaftlichen Lebensbedingungen dieses »intelligent tribe« verbessern werde.181 Daran zweifelte Laufer wohl selbst. Hatte er doch einleitend die zerstörerischen Wirkungen der russischen Kultur, die er an dieser Stelle in seinem Text in Anführungszeichen setzte, auf das gesamte Leben der sibirischen Indigenen angeprangert. Jedoch hoffte er trotzdem auf ihre zukünftige kulturelle Selbstbehauptung. Anhaltspunkt dafür
181 Laufer, Art, 79.
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Abb. 18 Malerei auf der Rückseite eines Fischhaut-Kleidungsstücks der Orochen
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Abb. 19 Nanai-Hochzeitsgesellschaft um 1895, die Braut trägt einen bestickten Fischhautmantel. Photo Pjotr P. ãimkevič (Schimkewitsch)
bilde eben die »native art«, die »pure and intact« geblieben sei, wie er mit Nachdruck feststellte (Abb. 19).182 From this we may be justified in inferring that their artistic conceptions have taken deep root in the hearts of the people, and have acquired a high value in their intellectual world. The tenacity with which the style of art survives should be counted as evidence of its national character.183
Laufers Vertrautheit mit der zeitgleichen deutschsprachigen Debatte über Volkskunst und Kunstgewerbe wird deutlich an seinem hier verwandten Begriff des Nationalcharakters. Spielte doch die Nationalitätenfrage bei den österreichischen Volkskundlern und Kunsthistorikern im Habsburger Reich, die dieses Wissensfeld um die Jahrhundertwende dominierten, eine wichtige Rolle.184 Zu182 Laufer, Art, 2. 183 Ebd. 184 Alois Riegl : Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie, Mittenwald 1978 (zuerst 1894) ; Gott-
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gleich nahm Laufer aber auch die ältere Denkfigur des »Volksgeistes« auf. Sie wurde in der deutschen Völkerpsychologie um Heymann Steinthal und Moritz Lazarus Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt.185 Danach besaßen die Völker, die als Kulturentitäten gedacht wurden, ein eigenes seelisch-geistiges Leben, eben einen »Volksgeist«, der vor allem in Kunst, Sprache, Mythos und Religion seinen spezifischen Ausdruck fand. Diese Teilbereiche mit ihren verschiedenen Formgebungen reflektierten also immer die Gesamtorientierung – das Ganze einer Kultur. Die amerikanische Kulturanthropologie um Franz Boas knüpfte an diesen Gedanken in ihren Kulturbegriff an.186 Die Decorative Art stand so bei Laufer für den »Volksgeist« der Amur tribes. In seiner Interpretation war ihre Ornamentik künstlerischer Ausdruck und zugleich kulturelle Sprache dieser tungusischen-mandschurischen Volksgruppen, deren jahrhundertealte Kultur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert unter russischer Herrschaft bedroht schien. In Laufers Selbstverständnis hatte er ihre Essenz erfasst und mit seinem Beitrag einen Kern zum Verstehen und zur Bedeutung dieser Ethnien geleistet. Hintergrund und Voraussetzung für Laufers ethnologische Arbeit bildeten Veränderungen innerhalb der Orientalistik, in der deutsche Fachtraditionen und fachspezifisch definierte Gegenstandsbereiche in Fluss geraten waren, die philologische Kernmethode jedoch bestehen blieb. Berthold Laufers frühes Buch, in dem er als ausgebildeter Orientalist mit kulturrelativistischem Ansatz unter Rückgriff auf Denkfiguren wie »Nationalcharakter« und »Volksgeist« die Ornamente der Ethnien am Amur zu einem kunstwissenschaftlichen Gegenstand machte und mit philologischer Methode und subjektiver ästhetischer Wertschätzung untersuchte, verweist auf die Probleme, aber auch auf das große Potential des transdisziplinären kulturanthropologischen Aufbruchs um die Jahrhundertwende.
fried Korff : Volkskunst und Primitivismus. Bemerkungen zu einer kulturellen Wahrnehmungsform um 1900. In : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 97, 1994, 373–394 ; Katalin Sinko : Die Entstehung des Begriffs der Volkskunst in den Kunstgewerbemuseen des Zeitalters des Positivismus. Ornament als Nationalsprache. In : Acta Historiae Artium 46, 2005, 205–259. 185 Georg Eckardt (Hg.) : Völkerpsychologie – Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, Weinheim 1997 ; Céline Trautmann-Waller : Aux origines d’une science allemande de la culture. Linguistique et psychologie des peuples chez Heymann Steinthal, Paris 2006 ; Egbert Klautke : The Mind of the Nation. The Debate about Völkerpsychologie, 1851–1900. In : Central Europe 8, 2010, 1–19. 186 Siehe die Beiträge in Stocking, Volksgeist, insbesondere Bunzl, Franz Boas, 17–78.
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Abb. 20 Berthold Laufer in Hankow, China, um 1904, Photo Field Museum Library
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Dieses Kapitel soll mit einem empathischen Bekenntnis von Berthold Laufer schließen. Sechzehn Jahre nach Erscheinen seines Ornament-Buchs bekannte er sich 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu einem übergreifenden, »transnationalen« Verständnis und Begriff von Kultur jenseits ethnischer oder nationaler Eigentumsansprüche : Culture is as vast and as free as the ocean, throwing its waves and currents in all directions. It is absurd to seek the origin of civilization in any particular region or to trace it to a single nation. In its present aspects, culture is the common good of mankind, the product of human thought of all ages. It is something above or below the nations, but not a thing of their own.187
187 Berthold Laufer : Review of Robert H. Lowie, Culture and Ethnology. In : American Anthropologist 20, 1918, 87-91, hier 90-91.
III. Ornamente als Geschichtserzählung Deutung und transkulturelle Rezeption »primitiver Südsee ornamentik« auf der Haut – der Völkerkundler Karl von den Steinen auf den Marquesas
Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, seine Ruder, kurz alles was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen 80 Prozent der Inhaftierten Tätowierungen aufweisen. […] Evolution der Kultur ist gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornamentes aus dem Gebrauchsgegenstande.188
Diese Polemik des Wiener Architekten Adolf Loos gegen den Wiener Jugendstil in seinem Aufsatz »Ornament und Verbrechen« aus dem Jahr 1908 stammt aus dem Reservoir eines erbitterten Streits über die »Primitive Kunst«. Am Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre diskutierten Völkerkundler, Kunsthistoriker, Architekten, Prähistoriker, Entwicklungspsychologen und Soziologen insbesondere über die Ornamentik der sogenannten Naturvölker. Wenn die Antriebskräfte für die Entwicklung der Zivilisation im geistigen Leben der prähistorischen und außereuropäischen »Primitiven« zu suchen waren – wie angenommen wurde –, dann war der Grad der Entfaltung ihrer Ornamentformen ein Schlüssel für deren jeweilige Platzierung auf der »Stufenleiter der Zivilisation«. Wir werden uns im Folgenden auf die Spuren von Adolf Loos begeben, nicht nach Papua-Neuguinea, sondern auf die ostpolynesische Inselgruppe der Marquesas. Dorthin brach der deutsche Völkerkundler Karl von den Steinen (1855–1929) im Jahr 1897 auf, um nach eigenem Bekunden »die Geheimnisse einer ganz ungewöhnlichen und rätselhaften Ornamentik« aufzuklären. Erst Mitte der 1920er Jahre erschienen seine Ergebnisse in der Trilogie Die Marquesaner und ihre Kunst. Studien über die Entwicklung primitiver Südseeornamentik189 – ein Werk mit einer ungewöhnlichen, weltweiten und bis heute andauernden Rezeptionsgeschichte. 188 Adolf Loos : Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Adolf Opel, Wien 2000, 193. 189 Karl von den Steinen : Die Marquesaner und ihre Kunst. Studien über die Entwicklung primitiver
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Abb. 21 Die Marquesas-Inseln befinden sich am östlichen Rand Ozeaniens
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Von Anfang an begleiteten konfliktreiche Zeitumstände die Drucklegung der drei Südsee-Bände und lieferten sie danach zunächst dem Vergessen aus. Erst fünfzig Jahre nach ihrer Publikation setzte eine breite und komplexe Wirkungsgeschichte besonders des ersten Bandes über »Tatauierung« ein. Dafür war nicht die ursprünglich vom Autor adressierte akademische Öffentlichkeit verantwortlich. Vielmehr förderte der politische und kulturelle Zeitkontext der 1970er Jahre das ungewöhnlich starke Interesse an dem Tätowierungsbuch von den Steinens. In diesem Jahrzehnt, das von Dekolonisierung und Auseinandersetzungen um kulturelle Selbstbestimmung geprägt war, kehrte das Buch auf die polynesischen Inselgruppen, den Untersuchungsort von den Steinens, zurück. Es wurde zum Bildarchiv nicht nur für eine kolonialkritische kulturelle Revival-Bewegung. Der Tätowierungsband – oftmals allein seine Abbildungen von Hautzeichen – reiste von nun an um die Welt. Er wurde zu einem global traveller, der bis in die Gegenwart nationale und kulturelle Grenzen zwischen unterschiedlichen Öffentlichkeiten überschreitet. Präsent ist von den Steinens Südseearbeit in Polynesien bei kulturellen Revitalisierungsbewegungen190 ebenso wie auf regierungsamtlichen Webseiten der politisch zu Frankreich gehörigen Marquesas, aber auch weltweit bei internationalen Tattoo Conventions und in Tätowierstudios von Paris, St. Petersburg, Berlin, Manchester bis Minden, bei internationalen Tourismusagenturen, in der globalen Kunstszene und im wissenschaftlichen Feld bei Kulturwissenschaftlern und Ethnologen. Welchen Gebrauch machen diese heterogenen Rezeptionsgruppen von der völkerkundlichen Untersuchung und ihren Abbildungen? Welche Aspekte interessieren so unterschiedliche Gruppen und Öffentlichkeiten bis in unsere Gegenwart? Welche neuen Bedeutungsinhalte erhält dabei das vermittelte ethnologische Wissen über die Tätowiermuster durch die späteren Rezeptionsmilieus? Doch bevor diese Transfer- und Transformationsprozesse des Wissens über Südseeornamente untersucht werden, soll zunächst der historische und wissenschaftsgeschichtliche Kontext, in dem die Südsee-Monographie Karl von den Steinens entstand, in den Blick kommen. Südseeornamentik nach eigenen Reiseergebnissen und dem Material der Museen, 3 Bde., Berlin 1925–1928. Zitat im vorangegangenen Satz ebd., Bd. 1 : Tatauierung. Mit einer Geschichte der Inselgruppe und einer vergleichenden Einleitung über den polynesischen Brauch, Vorwort, unpag. 190 Begriff bei Peter Probst : Im Zeichen der Körper. Tradition und Politik im gegenwärtigen Polynesien. In : Markus Schindlbeck (Hg.) : Von Kokos zu Plastik. Südseekulturen im Wandel, Berlin 1993, 49–60.
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Das dreibändige Werk Die Marquesaner und ihre Kunst erschien von 1925 bis 1928 im Berliner Dietrich Reimer Verlag. Die Bände dokumentieren die Ergebnisse einer halbjährigen ethnologischen Feldforschung 1897–98 auf den sechs bewohnten ostpolynesischen Marquesas-Inseln, die von den Steinen im Auftrag des Berliner Völkerkundemuseums191 durchführte. Zusätzlich zur Präsentation seiner eigenen Sammeltätigkeit arbeitete der Völkerkundler die Erträge seiner Besuche aller Museen und privaten Sammlungen, die marquesanische Artefakte besaßen, ein. Seine Studien über die Entwicklung primitiver Südseeornamentik widmen sich im ersten Band der »Tatauierung« – er steht im Folgenden im Zentrum meiner Untersuchung –, im zweiten der Plastik und stellen im dritten die Sammlungen des »alten Kulturbesitz(es) der Marquesas wieder vereinigt«192 vor. Nach längerer Arbeit an der Trilogie fiel ihre Fertigstellung in »Zeitverhältnisse«, die für eine Publikation »verhängnisvoll« waren, wie der Autor konstatierte.193 Er spielte damit auf den Ersten Weltkrieg, den anschließenden internationalen Boykott deutscher Wissenschaft und die Wirtschaftskrise in Deutschland an. Schließlich wurde die Drucklegung durch eine Förderung der Emergency Society for German and Austrian Science and Art in New York realisiert – mit maßgeblicher Unterstützung ihres Vorsitzenden Franz Boas.194 Die Hilfe kam jedoch für eine breite zeitgenössische wissenschaftliche Rezeption, die der Bedeutung der Arbeit angemessen gewesen wäre, in mehrfacher Hinsicht zu spät. Einer der Gründe dafür war die Bayard Dominick Expedition, die im Auftrag des Bernice P. Bishop Museum in Honululu und in Kooperation mit der Yale University 1920 und 1921 die zentral- und ostpazifischen Inselgruppen erforscht hatte. Ihre ethnologischen, archäologischen und anthropometrischen Ergebnisse für die Marquesas wurden zwischen 1922 und 1925 in mehreren Monographien veröffentlicht.195 Dazu gehörte der schmale Band Tattooing in the Marquesas von Willowdean Chatterson Handy.196 Als »volunteer associate« der Expedition 191 Zu Gründung und Geschichte bis zum I. Weltkrieg Cornelia Essner : Berlins Völkerkunde-Museum in der Kolonialära. Anmerkungen zum Verhältnis von Ethnologie und Kolonialismus in Deutschland. In : Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1986, hg. v. Hans J. Reichhardt, Berlin 1986, 65–94. 192 So K. von den Steinen, Marquesaner, Bd. 2 : Plastik, Vorwort, unpag. 193 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, Vorwort, unpag. 194 Bernd Weiler : Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der »jungen« Anthropologie, Bielefeld 2006, 397–401. 195 Als Auswahl E. S. Craighill Handy : Native Culture of the Marquesas, Honolulu 1923 ; Ders.: Marquesan Legends, Honolulu 1930 ; Ralph Linton, Material Culture of the Marquesas Islands, Honolulu 1923 ; Ders.: Archaeology of the Marquesas Islands, Honolulu 1925. 196 Willowdean C. Handy : Tattooing in the Marquesas, Honolulu 1922.
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hatte sie »taken skillfull advantage of her opportunity to obtain what is believed to be an unusually complete and intimate record of tattooing designs«197. Die Zeitschrift Science resümierte nach Abschluss der Expedition, »that at last the inhabitants of the Marquesas and their culture have been, so to speak, charted on the scientific map of the world«198. Tatsächlich erschöpfte sich mit diesem ethnologischen Unternehmen,199 das der zeitgenössisch aktuellen Fragestellung nach dem Ursprung der »polynesian race« und den Migrationsverläufen in Ozeanien gefolgt war, das ethnologische Interesse an den Marquesas für viele Jahrzehnte. Dazu mag die Auffassung beigetragen haben, dass die verbliebenen »Überreste« dieser Kultur, die schon weitgehend durch den Kolonialismus zerstört war, nun abschließend wissenschaftlich erfasst, gesammelt und beschrieben waren.200 So hatte auch W. C. Handy die letzten noch vorhandenen Tätowiermuster auf der Haut von nur noch 125 Personen, die von einem schon lange nicht mehr praktizierenden Tätowiermeister stammten, mitsamt der indigenen Musternamen aufgezeichnet und photographiert. Allerdings, klagte sie, seien ihre Bedeutungen den Marquesanern nicht mehr bekannt und so auch nicht mehr zu erfragen gewesen. Die Tätowiermuster könnten nur noch »as pure design« studiert und ausschließlich ästhetisch gewürdigt werden.201 Handy kehrte damit zum Umgang mit kulturellen Artefakten im frühen 19. Jahrhundert zurück, als Ornamente und ornamentierte Gegenstände von ihren Bedeutungsinhalten und ihrer spezifischen Einbettung in die fremden Kulturen gelöst und allein als ästhetische und dekorative Gegenstände – in der Wahrnehmung europäischer Reisender – gesammelt wurden.202 Karl von den Steinens Tätowierungsband genügte eher dem internationalen Forschungsstand über »Primitive Kunst« nach der Jahrhundertwende. So galt 197 Vorbemerkung ebd., 2. 198 The Bayard Dominick Marquesan Expedition. In : Science v. 9.12.1921, 571–572 ; Te Rangi Hiroa (Peter H. Buck) : An Introduction to Polynesian Anthropology, Honolulu 1945, 45–46, 56–57, 87–89. 199 Siehe »$ 40.000 for Exploration. Bayard Dominick’s Gift to Finance Pacific Expedition«. In : The New York Times v. 31.3.1920. 200 »We now have as much information about the material culture and decorative art of the Marquesas as we are likely to obtain«, stellte der britische Anthropologe Alfred C. Haddon in seiner Rezension der Marquesas-Bände von den Steinens und der Publikationen des Bernice P. Bishop Museum fest. In : Man 29, 1929, 161. 201 Handy, Tattooing, 24. 202 Zum Gesamtkontext Nicholas Thomas : The European Appropriation of Indigenous Things. In : Ders.: Entangled Objects. Exchange, Material Culture, and Colonialism in the Pacific, Cambridge/London 1991, 125–184.
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die Untersuchung außereuropäischer Kunst besonders in der amerikanischen Cultural Anthropology Boas’scher Prägung als wichtiges Schlüsselgebiet, um Singularität, Eigenwert und letztlich die angenommene grundlegende Idee einer Kultur zu erschließen. Dass trotzdem Handys Tattooing in the Marquesas – vor der Neuentdeckung von den Steinens in den 1970er Jahren – im internationalen ethnologischen Diskurs stärker präsent blieb, lag sicher in nicht unerheblichem Maß auch an dem Verschwinden des Deutschen als Wissenschaftssprache nach dem Ersten Weltkrieg. Zur schwachen Rezeption von den Steinens Südsee-Publikation Ende der 1920er Jahre trug zudem eine nur marginale Ausbildung des Fachs Kulturanthropologie/Ethnologie in Deutschland bei, ganz im Gegensatz zur Ausbreitung dieses Wissensfeldes in den USA, in England und Frankreich. Die human und cultural sciences wurden in Deutschland in den zwanziger und dreißiger Jahren von genetisch-naturwissenschaftlichen und rassenhygienischen Ansätzen dominiert.203 Die deutsche Völkerkunde nahm also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Trilogie von den Steinens in der internationalen kulturanthropologischen Diskussion nur noch eine Randstellung ein. Nach 1933 schließlich grenzten sich ihre Vertreter mit wenigen Ausnahmen durch eine weitgehend bejahende Haltung zum nationalsozialistischen Regime international fast vollständig aus.204 Karl von den Steinen besaß als Einzelpersönlichkeit in den 1920er Jahren ein großes internationales Renommee als bedeutender Südamerikanist.205 Er hatte in den späten 1880er Jahren in Zentralbrasilien eine viel beachtete Forschungsexpedition durchgeführt. Geboren 1855, gehörte der Mediziner und Psychiater 203 Doris Kaufmann : Eugenik-Rassenhygiene-Humangenetik. Zur lebenswissenschaftlichen Neuordnung der Wirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In : Richard van Dülmen (Hg.) : Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Köln/ Weimar/Wien 1998, 347–365 ; Dies., Rasse. 204 Thomas Hauschild (Hg.) : Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1995 ; Hans Fischer : Völkerkunde im Nationalsozialismus. Aspekte der Anpassung, Affinität und Behauptung einer wissenschaftlichen Disziplin, Berlin 1990 ; Ingrid Kreide-Damani (Hg.) : Ethnologie im Nationalsozialismus. Julius Lipps und die Geschichte der »Völkerkunde«, Wiesbaden 2010. Sichtbar in der internationalen ethnologischen scientific community blieben Richard Thurnwald und Leo Frobenius ; siehe auch Thomas Hauschild : Kultureller Relativismus und anthropologische Nationen. In : Positionen der Kulturanthropologie, hg. v. Aleida Assmann/Ulrich Gaier/Gisela Trommsdorff, Frankfurt a. M. 2004, 121–147. 205 Franz Boas : Obituary Karl von den Steinen. In : Science 71, 1930, No 1827, 7–8. Im Jahr 1900 erhielt von den Steinen als Erster den Ruf auf eine außerordentliche Professur für Ethnologie an der Berliner Universität ; 1914 wurde ihm die Ehren-Mitgliedschaft der American Anthropological Association verliehen, siehe Scientific Notes and News. In : Science 1914, Feb. 20, 279.
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noch zur deutschen völkerkundlichen Aufbruchgeneration, die von Adolf Bastian beeinflusst wurde.206 Er folgte dessen Ansatz einer genauen lokalen und regionalen Beobachtung und empirischen Sammlung, der verbunden war mit einer exzessiven Aneignung materieller Objekte im sogenannten ethnologischen Feld. Zudem entwickelte von den Steinen in seinen späten Südseeforschungen ein neues Erkenntnisinteresse. Er fragte nach den historischen Veränderungen, die die marquesanische Kultur durchlaufen hatte und vollzog damit gewissermaßen einen »historical turn«, den auch der Geograph Friedrich Ratzel in anderem Rahmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den deutschen Völkerkundlern eingefordert hatte, als er dazu aufrief, über eine Untersuchung der geographischen Verbreitung von einzelnen Kulturelementen Aufschlüsse über historische Zusammenhänge zu gewinnen.207 Als von den Steinen 1929 starb – ein Jahr nach Erscheinen seines dritten und letzten Marquesas-Bandes – wurde er in Nachrufen vor allem als »le doyen des explorateurs ethnographes sud-américaine«208 gewürdigt, der durch seine beiden Expeditionen in das Quellen- und Verlaufsgebiet des brasilianischen Rio Xingú in den 1880er Jahren Grundlagen für die ethnologische Erforschung Südamerikas gelegt hatte.209 Seine Südsee-Bände wurden nur am Rande erwähnt und erschienen allenfalls in Fußnoten, auch noch später wie in der Geschichte der Anthropologie des deutschen Rasseanthropologen und Ethnosoziologen Wilhelm E. Mühlmann von 1948.210 Eine Ausnahme machte der anonyme Verfasser [Boas?] eines Nachrufs in der englischen Wissenschaftszeitschrift Nature. Nach seiner Würdigung der lateinamerikanischen Arbeiten von den Steinens folgte die Vor-
206 Für einen Überblick Fischer/Bolz/Kamel, Adolf Bastian. 207 Siehe Zimmerman, Anthropology, 204 ff. 208 So Erland Nordenskiöld : Nécrologie de Karl von den Steinen. In : Journal de la Société des Américanistes 22, 1930, 220–227. 209 Anita Hermannstädter : Abenteuer Ethnologie. Karl von den Steinen und die Xingú-Expeditionen. In : Deutsche am Amazonas – Forscher oder Abenteurer? Expeditionen in Brasilien 1800 bis 1914, hg. v. Ethnologischen Museum Berlin, Berlin 2002, 66–85 ; Michael Kraus : Bildungsbürger im Urwald. Die deutsche ethnologische Amazonienforschung (1884–1929), Marburg 2004. Von den Steinen war von 1902 bis 1906 Direktor der Südamerikanischen Abteilung des Berliner Völkerkundemuseums. 210 Im Jahr 1949 kritisierte der amerikanische Kulturanthropologe und »Boasian« Robert H. Lowie in seiner Rezension des Buchs von Mühlmann : »[…] there remains little space for what most of us regard as the core of cultural anthropology. Significantly enough, Bertold Laufer’s name does not appear at all, Karl von den Steinen’s is just barely mentioned.« (In : American Anthropologist 51, 1949, 629–631, hier 360).
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aussage : »His monumental work on Marquesan art […] cannot but have a profound effect on method in all future studies of primitive art«211. Ende der 1920er Jahre hatte das ethnologische Interesse an der Kunst fremder Kulturen jedoch bereits stark abgenommen. Zuvor, in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. bis ins zweite des 20. Jahrhunderts waren zahlreiche Publikationen über die ornamentale Kunst einzelner außereuropäischer Ethnien erschienen, die sich mit dem mutmaßlichen Zusammenhang von Ornamentik und Zivilisationsgrad auseinandersetzten.212 In den 1920er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Forschung insbesondere in der britischen Social Anthropology und in der französischen Ethnologie auf soziologische Fragen. Die Erforschung der materiellen und visuellen Kulturäußerungen trat mehr in den Hintergrund. In den USA wurden zwar bis in die 1930er Jahre im neuen Culture and Personality-Ansatz – entwickelt von der Boas’ nachfolgenden Schülerinnen- und Schülergeneration – noch Kunststudien weitergeführt und in die Untersuchung des Verhältnisses von Individuum und Kultur einbezogen. Sie verloren jedoch auch hier den wichtigen Rang, den sie in der Formierungszeit des Wissensfeldes Kulturanthropologie eingenommen hatten.213 Die Marquesas-Trilogie von den Steinens gehört in mehrfacher Hinsicht in die Tradition der frühen objektzentrierten Ethnologie und scheint auf den ersten Blick alles andere als innovativ zu sein. Schon die thematische Aufteilung der drei Teilbände, gewidmet einer kulturellen Praxis und einer Artefaktgruppe – Tatauierung und Plastik – zusammen mit dem dritten Abbildungsband der (Museums-)Sammlungen, verweist auf die enge Verbindung mit dem Museum als dem Raum, in dem Wissen über außereuropäische Kulturen qua Sammlung, Klassifizierung, Ordnung und Ausstellung von sogenannten Ethnographica generiert wurde.214 Getrieben von der Einschätzung, dass die Zeugnisse der sogenannten Naturvölker wie diese selbst durch den Kontakt mit der »weißen Zivilisation« im Begriff waren zerstört zu werden,215 versuchten Ethnologen – das asymmetrische 211 N. N.: Obituary Prof. Dr. Karl von den Steinen. In : Nature 125, 1930, H. 3145, 208–209. 212 Siehe Kap. I : Ornamente als anti-evolutionistische Zeugnisse. 213 Howard Morphy/Morgan Perkins : The Anthropology of Art. A Reflection on its History and Contemporary Practice. In : Dies. (Hg.) : The Anthropology of Art. A Reader, Malden/Oxford 2006, 1–32. 214 Ein Überblick bei H. Glenn Penny : Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic Museums in Imperial Germany, Chapel Hill/London 2002 ; Anja Laukötter : Von der ›Kultur‹ zur ›Rasse‹ – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007. 215 Nicht zufällig beginnt von den Steinen den ersten Band seiner Trilogie mit einem Abschnitt über »Die Entvölkerung«, die mit der Ankunft der Europäer einsetzte. Die Einwohnerzahl sank von
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Machtverhältnis zwischen ihnen und den Indigenen ausnutzend – sich Gegenstände aller Art durch Kauf, Tausch und Raub anzueignen, die vor der kolonialen Inbesitznahme und damit vor fremdem Einfluss in Gebrauch gewesen waren. Auch Karl von den Steinen war ein Vertreter dieser sogenannten Salvage Anthropology, die selbst paradoxerweise nicht unerheblich daran beteiligt war, den fremden »Anderen« die noch verbliebenen Artefakte ihrer Kultur im Interesse einer sie konservierenden Wissenschaft wegzunehmen und den beklagten kulturellen Zerstörungsprozess damit zu beschleunigen. Allerdings musste von den Steinen auf den Marquesas enttäuscht feststellen, dass er fünfzig Jahre zu spät gekommen war : »Handelsschiffe, Kriegsschiffe, immer wechselnde Beamte hatten die Schätze der alten Kultur entführt. […] Mir blieb die Nachlese.«216 Kraft seiner persönlichen Anstrengungen, wie er den Mitgliedern der Berliner Gesellschaft für Erdkunde später in einem Vortrag erläuterte, war diese »Nachlese« trotzdem ertragreich : »Meine Sammlung kam nur dadurch zustande, dass ich jedes bewohnte Dorf aufsuchte und den Resten wie ein Antiquitätenhändler nachspürte.«217 Von den Steinen übergab dem Völkerkundemuseum in Berlin schließlich mehr als 400 sogenannte Ethnographica von den Marquesas218 und konnte damit – in seinen Worten – »eine sehr bedauerliche Lücke«219 in der Berliner Südsee-Sammlung schließen. Die akribische Dokumentation und Beschreibung der Objekte unter vergleichender Einbeziehung sämtlicher weltweit in Museen verstreuter marquesanischer Artefakte sowie die Auswertung der gesamten vorhandenen Literatur von Kapitänen und Matrosen, Naturforschern, Missionaren, Marineoffizieren und französischen Verwaltungsbeamten ließen einen prominenten zeitgenössischen 12.550 Personen 1856 auf 3.800 Personen im Jahr 1897 ; von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 12–14. 216 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, Vorwort, unpag. 217 Karl von den Steinen : Reise nach den Marquesas-Inseln (Rubrik : Vorträge und Aufsätze). In : Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 25, 1898, 489–513, Zitat 494. Der bulgarische Künstler Nedko Solakov hat das Verhältnis von – wie von der Steinen hier sagt – Antiquitätenhändler und Indigenen in seiner Kunstinstallation »Art Collector« auf der Biennale 2000 in Lyon dekuvrierend umgekehrt und kommentiert : »Somewhere in Africa, there is a great black man, a collector of art from Europe and America, who buys Picassos for 23 coconuts a piece, and Lichtensteins for 7 antilope bones.« In : Partage d’exotismes. 5. Biennale d’Art contemporain de Lyon, hg. v. Laurence Barbier, Bd. 2, Paris 2000, 16–17. 218 Markus Schindlbeck : Die Sammlungen. In : Expeditionen in die Südsee. Begleitbuch zur Ausstellung und Geschichte der Südsee-Sammlung des Ethnologischen Museums, hg. v. dems., Berlin 2007, 19. 219 Von den Steinen, Reise, 489.
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Rezensenten der Südsee-Trilogie, den britischen Anthropologen Alfred C. Haddon, klagen, dass das Werk solch einen Reichtum an Informationen enthalte, »that it is impossible to summarise it«.220 Auch der australische Historiker Greg Dening charakterisierte fünfzig Jahre später in seiner Geschichte der Marquesas221 Karl von den Steinens Kunstpublikation in einer kurzen Erwähnung als rein enzyklopädisch, um sich dann kritisch mit den Ergebnissen der Bayard Dominick Expedition auseinanderzusetzen.222 Ein zeitloses, statisches Bild einer Kultur ohne Geschichte und ohne Individuen werde dort gezeichnet. Dening beklagte eine schwer erträgliche Begrenztheit des ethnologischen Wissens in den 1920er Jahren. Dieses Urteil muss für von den Steinens Südsee-Trilogie relativiert werden, denn sie geht über eine enzyklopädische Materialsammlung und -beschreibung hinaus und löst zwei Kritikpunkte Denings an den damaligen ethnologischen Arbeiten ein. In seinem Tatauierungsband untersucht von den Steinen zum einen die Veränderungen der materiellen und visuellen Kultur – in Gestalt der Tätowiermuster – historisch, also in der Zeit. Zum anderen spielen Marquesaner als handelnde Personen eine wichtige Rolle bei der Lösung seiner selbsterteilten »Hauptaufgabe : die Geheimnisse einer ganz ungewöhnlichen und rätselhaften Ornamentik aufzuklären«223. Rückblickend schilderte von den Steinen die methodischen Probleme, mit denen er sich zu Beginn seiner Forschungen konfrontiert sah. Das vorhandene Material von den Marquesas in den Museen sei »zu spärlich« gewesen, um die »wunderbare Leistung dieser primitiven Völkerfamilie« zu erschließen. Noch »weit schlimmer war : es fehlten die Erklärungen der Eingeborenen« in örtlicher, sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht. Außerdem – so von den Steinen – gab es »nur ein altes, ganz unzureichendes Wörterbuch des Marquesanischen, nur Bruchstücke ihrer Tradition und Mythologie«.224 In der Aufzählung dieser Defizite verbarg sich zugleich sein Forschungsplan, d. h. seine eigene methodische Vorgehensweise. Der Völkerkundler kombinierte das Sammeln von Hautzeichen, 220 Alfred C. Haddon : Review of von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst. In : Man 29, 1929, 160–161. 221 Greg Dening : Islands and Beaches. Discourse on a Silent Land : Marquesas 1774–1880, Chicago 1988 (zuerst Hawaii 1980), 278 ff. 222 Kritik der wichtigsten Monographien der Bayard Dominick Expedition auch bei Carol S. Ivory : Reviewing Marquesan Art. In : Artistic Heritage in a Changing Pacific, hg v. Philip J. C. Dark/ Roger G. Rose, Honolulu 1993, 63–73. Ivory bedauert die mangelhafte Rezeption der nicht übersetzten Trilogie Karl von den Steinens durch englischsprachige Wissenschaftler ; ebd., 63, 65. 223 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, Vorwort, unpag. 224 Alle Zitate in : von den Steinen, Reise, 490.
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von Ornamenten auf diversen anderen Objektträgern sowie von Mythen, Geschlechterlisten und Gesängen mit dem Befragen der Einheimischen, modern ausgedrückt mit Oral History. Zudem versuchte er, marquesanische Begriffe und Sprachstrukturen philologisch vergleichend zu erschließen. Es liegt auf der Hand, dass den Marquesanern und Marquesanerinnen – im ethnologischen Sprachgebrauch den Informanten – dabei eine zentrale Rolle zukam. Doch nur bestimmte Personen konnten diesen Platz noch einnehmen. Man macht sich zu wenig und zu selten klar, welch’ ungeheure Kluft sich bei den Einheimischen zwischen dem Geschlecht der Großväter und der Enkel aufgetan hat, und kein Unbefangener wird die tiefe Tragik verkennen, die mit restloser Entwurzelung das Leben wenigstens jener Alten betroffen hat. […] alles, alles von Sitte und Brauch, Religion und Kult, Wissen, Kunst und Handwerk lebte nur noch in der Erinnerung der verbitterten Alten, denen andererseits das Glück der Zivilisation unverständlich und verhaßt war.225
Es spricht für von den Steinens Praxis der teilnehmenden Beobachtung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer öfter praktiziert wurde – schon bevor der polnisch-britische Ethnologe Bronislaw Malinowski als ihr Begründer auftrat226 –, dass er mit einigen der »verbitterten Alten«, mit zwei noch lebenden Tätowiermeistern und mit seinen Dolmetschern persönliche Beziehungen aufbauen konnte. Sie erlaubten ihm überhaupt erst, eine größere Zahl von tätowierten Personen sprechen und photographieren zu können. Dies war keineswegs problemlos für die Beteiligten, denn im Zusammenspiel von christlicher Mission und französischer Kolonialregierung war seit Beginn der Okkupation der Marquesas im Jahr 1842 die Praxis des Tätowierens offiziell verboten worden. Verstöße wurden seit 1879 nach Amtsantritt eines neuen kolonialen Residenten verschärft geahndet.227 225 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 2, 216–217. 226 Kritisch über Malinowskis selbstgeschaffene und in der ethnologischen Fachgeschichte fortgeschriebene Rolle als Paradigmenwechsler in seiner Trilogie (1922, 1929, 1935) über die melanesischen Trobriander George Stocking : The Ethnographer’s Magic : Fieldwork in British Anthropology from Tylor to Malinowski. In : Ders. (Hg.) : Observers Observed. Essays on Ethnographic Fieldwork, Madison 1983, 70–120 ; ebenso James Urry : Notes and Queries on Anthropology and the Development of Field Methods in British Anthropology, 1870–1920. In : Ders.: Before Social Anthropology. Essays on the History of British Anthropology, London/New York 1993, 17–40. 227 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1,92 ; Juniper Ellis : Tattooing the World. Pacific Designs in Print & Skin, New York 2008, 23-24, 96-97, 110.
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Einen kleinen Einblick in von den Steinens Arbeitsweise erlaubt seine folgende Schilderung. Ich suchte diesem wichtigsten Teil meiner Aufgabe (in die Geheimnisse der Mythologie einzudringen) dadurch nachzukommen, dass ich mir von alten Männern und Frauen lange Geschichten in die Feder diktieren ließ, von denen ich vorläufig noch kaum ein Wort verstand. Zwischendurch las ich der immer zahlreichen Corona, die Affekte des Erzählers möglichst nachahmend, kleinere Abschnitte vor, die, da der Inhalt oft stark erotisch gewürzt war, schallendes Gelächter hervorriefen, mir aber Anerkennung eintrugen und zur Fortsetzung des oft ermüdenden Werkes bis tief in die Nacht hinein begeisterten. Hinterher bemühte ich mich dann mit meinem französisch oder englisch verstehenden Dolmetscher, die Niederschrift zu enträtseln. So arbeitete ich von Insel zu Insel und nach Möglichkeit von Dorf zu Dorf und wurde endlich selbst ein Tuhuka, ein Wissender. Alle Erzähler ließen sich bezahlen, denn der Besitz einer Geschichte galt als reeller Wert.228
Das Wissen über marquesanische Mythen und den Ahnenkult war unabdingbar, um Tätowiermuster lesen zu können. Dies gelang oft eben nur mit Hilfe von einheimischen Experten, schrieb von den Steinen und erwähnte namentlich den Häuptling Vaikau. Der griff zur Erklärung der stark stilisierten Zeichen zum Stift, um dem »begriffsstutzigen Fremdling«, wie sich von den Steinen selbst nannte, eine weniger abgekürzte Form einer mythischen Gestalt in einem beliebten tikigenen Muster aufzuzeichnen.229 Tikis wurden die vergöttlichten Ahnenfiguren genannt, die sich in der Umwandlung vom plastischen Objekt einer kleinen Figur durch zahlreiche Zwischenstufen hindurch in geometrisierte Linear-Ornamente verwandelten. Von den Steinen knüpfte an die evolutionistische Praxis an, eine solche Abfolge in ein linear und chronologisch verlaufendes Konstruktionsschema von konkreten zu immer mehr stilisierten, abstrakt-ornamentalen Darstellungen zu bringen. Er verwandte jedoch zum Beispiel eine so angefertigte Tafel von Sitz- und Stehhocker-Tikis nicht als Beurteilungsmaßstab für gesellschaftliche Fortentwicklung oder gesellschaftlichen Verfall, sondern nutzte sie wie ein Alphabet, um bestimmte Zeichen, die er nicht lesen konnte, zu erschließen (Abb. 22).230
228 Von den Steinen, Reise, 499. 229 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 164. 230 Ebd., 152–156, Tafel 153.
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Abb. 22 Tafel mit Tiki-Ahnenfiguren
Hinter einer Anzahl von detailliert beschriebenen und abgebildeten Tätowierzeichen stand – so seine Erklärung – das Motiv des Schutzes und der Abwehr, z. B. bei anthropomorphen Mustern wie dem Schädelgesicht und bei stilisierten Tiermustern wie dem Schildkröten- und dem Haifischzahn-Ornament. Beim Kalebassen-Muster lag eine Schutzeigenschaft der getrockneten Fruchthülle des Kürbisses, die eine harte, undurchlässige und holzige Außenhaut ausbildet, unmittelbar auf der Hand. Schutz durch eine zweite künstliche harte Haut war im marquesanischen Selbstverständnis für die Häuptlinge, Krieger und Gefolgsleute der einzelnen Clans unerlässlich angesichts der permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Chiefs der Nachbartäler und -inseln. Eine Zentralgewalt bildete
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sich auf den Inseln der Marquesas nicht aus.231 Um so wichtiger für die lokale Binnenstabilisierung waren die kollektiven Feste, bei denen Nahrung und Beute von den Häuptlingen und von ranghohen Personen mittels sogenannter Essgesellschaften ausgegeben wurden. Mitgliedschaft und damit Zugang zu diesen Nahrungsressourcen regelte der Besitz spezifischer Tattoos.232 Die Speisen konnten bei diesen Festen nur von Frauen zubereitet und gereicht werden, deren Hände tätowiert waren.233 Auf der Grundlage von Karl von den Steinens Dokumentation der zahlreichen Tätowiermuster234 und seiner Nacherzählungen marquesanischer Mythen haben heutige Ethnologen wie Alfred Gell und Nicholas Thomas – neben der kriegerischen Schutzfunktion – insbesondere auch auf die Abwehrfunktion von Tätowiermustern gegen die »contagious sacredness« eines nichttätowierten Körpers hingewiesen.235 Für gefährlich und ansteckend hielten die Marquesaner den ungezeichneten Körper wegen seiner Nähe zum Reich des Dunklen und des Todes, das die Götter und Geister beherrschten. Im entgegengesetzten, gleichzeitig bestehenden Reich des Lichts und der Lebenden mussten die Götter durch Opfer um ihre Gunst gebeten werden. Die Häuptlinge und Priester, die diese Mittlerfunktion zwischen den zwei Gebieten auszuüben hatten, galten göttlichem Zorn besonders ausgesetzt und bedurften deshalb des besonderen Schutzes. Auch alle anderen Marquesaner, die im Alltag die unabdingbare Balance zwischen beiden Welten erhalten mussten, wurden durch ein komplexes System immer wieder erneuerter und ergänzender Tätowierungen beim Zusammenhalten des Selbst bzw. der Integrität ihres Selbst unterstützt. »Wrapping in images« hat Gell diese kulturelle polynesische Praxis passend genannt. Die Gestalter und »Einhämmerer« dieser Bilder – das ist die Bedeutung des polynesischen Wortes tatau –, die Tuhuna, entstammten ursprünglich der Pries231 Nicholas Thomas : Marquesan Societies. Inequality and Political Transformation in Eastern Polynesia, Oxford 1990. 232 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 90–93. 233 Ebd., 93, 128–136. Frauen wurden an den Händen, Armen, Beinen und Lippen mit dem Beginn der Pubertät tätowiert. Die These, dass die europäischen Entdecker die Gesellschaften auf den Südpazifikinseln wegen der dortigen Tätowierpraxis als feminisiert beurteilten, so Harriet Guest (Curiously Marked. Tattooing and Gender Difference in Eighteenth-Century British Perceptions of the South Pacific. In : Jane Caplan (Hg.) : Written on the Body. The Tattoo in European and American History, London 2000, 83–101), kann für die Marquesas nicht gehalten werden. 234 J. Ellis hat 96 benannte Muster, die bei von den Steinen dokumentiert sind, gezählt (dies., Tattooing, 138). 235 Alfred Gell : Wrapping in Images. Tattooing in Polynesia, Oxford 2004, 140–141, 163–217 ; Nicholas Thomas : Oceanic Art, London 1995, 99–114.
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terschaft. Jede Tätowierung wurde mit Opferspenden begonnen und beendet. Auch als im 19. Jahrhundert die Tuhuna zu einer selbstständigen Berufsgruppe wurden, die sich für ihre Dienste bezahlen ließ, blieben sie nach Karl von den Steinen »in der Erinnerung der Gegenwart […] Hüter und Lehrer der Tradition«236. Der sakrale Charakter der Kulturpraxis des Tätowierens wurde durch das mit ihr verbundene schmerzhafte Fließen von Blut als den Göttern zugedachtes Blutopfer unterstrichen. Dieses Motiv schob sich bei der Trauertätowierung auf der stark blutenden Zunge vor das der öffentlich sichtbaren Markierung eines Todesfalls als wichtiges lebensgeschichtliches Ereignis eines Menschen. Dagegen stellte die Rachetätowierung – eine Angel auf Nase und Wange – eine augenfällige soziale Ankündigung dar. Der so Gezeichnete kündigte dem ausgemachten Schuldigen damit dessen Schicksal als Menschenopfer an – als ein zukünftiger Fisch für die Götter, dem eine Angel in den Mund gehakt wurde.237 Die Jagd auf Menschenopfer bei kriegerischen Fehden war Aufgabe der Kaioi, so nannten sich die Mitglieder der Gesellschaft der Krieger und Junggesellen. Die überwiegend jungen Männer aus vornehmen Familien bildeten eine Art Schutztruppe des Häuptlings. Sie besaßen eigene Tätowierungen, die ihre Blutsbrüderschaft bekräftigten und den Zutritt zu ihren Festlichkeiten gewährten, die im Mittelpunkt des marquesanischen Kults standen. In diesem Zusammenhang stellte von den Steinen eine der ältesten Darstellungen eines tätowierten jungen marquesanischen Kriegers, eines »echten Kaioi«, vor (Abb. 23).238 Hier wird deutlich, dass Tätowieren ein Lebenszeit-Projekt für ranghohe Männer darstellte. Die Beine und der linke Oberarm sind noch nicht fertig tätowiert. Unterhalb der Schultern ist das Schädelgesicht zu sehen, ebenso wie der Speer und der mit Schweinehauern versehene Schädel eines erschlagenen Feindes – Ausweise der bereits errungenen kriegerischen Leistungen. Abgebildet war dieser Kupferstich schon 1812 in den Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807 des Arztes Georg Heinrich von Langsdorff, der den deutsch-baltischen Admiral Adam Johann von Krusenstern bei der ersten russischen Weltumsegelungsexpedition begleitet hatte.239 Porträtiert hatte 236 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 59–62, hier 61. 237 Ebd., 62–65, auch für das Folgende. 238 Ebd., 70. 239 Georg Heinrich von Langsdorff : Bemerkung auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807, 2 Bde. mit 45 Kupfern, Frankfurt a. M. 1812, Kupfer VIII.
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Abb. 23 Junger marquesanischer Krieger (nach Georg Heinrich von Langsdorff : Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807)
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den »jüngeren, noch nicht völlig tatauirten Nukahiwer«, so die Bildunterschrift, der Expeditions-Zeichner, der deutsche Naturforscher und Mediziner Wilhelm Gottfried Tilesius. Seit den Entdeckungs- und Forschungsreisen der Aufklärung war den Tätowierungen der Südseeinsel-Bewohner als exotisches Kuriosum eine mit Abscheu und Bewunderung gemischte Aufmerksamkeit geschenkt worden, unter anderem in den Berichten von Kapitän James Cook und den beiden Naturforschern Johann Reinhold Forster und Georg Forster, die Cook auf dessen zweiter Welt umsegelung von 1772 bis 1775 begleitet hatten.240 Georg Forster beschrieb in seinem zeitgenössischen Bestseller Reise um die Welt von 1784 oberflächlich, was er beim kurzem Aufenthalt auf den Marquesas beobachtet hatte : »Punctierungen, welche bey Leuten von mittlerm Alter fast den ganzen Körper bedeckten, machten es schwer, die Schönheiten ihrer Gestalt entwickeln zu können.«241 Die »Punctierungen« ließen die Betroffenen trotz eigentlich heller Haut als Schwarze erscheinen und degradierten damit ihre Träger aus Sicht der weißen europäischen Beobachter. Die unterstellte Schmuck- oder Bekleidungsfunktion der Tätowierungen verkehrte sich so in ihren Augen ins Gegenteil.242 Georg Forster machte keinen weiteren Versuch, die Bedeutung der »tättowirten Zierrathe« herauszufinden. »(Sie) bestanden aus einer Menge von Flecken, krummen Linien, Würfeln und Sparren, die zusammen ein sehr buntes und sonderbares Ansehen hatten.«243 Erst die Reiseberichte der russischen Expedition, die sich knapp dreißig Jahre später zehn Tage auf der marquesanischen Insel Nuku Hiva aufgehalten hatte, lieferten in Gestalt der Bücher von Krusenstern, Langsdorff und des Kapitäns des zweiten Krusenstern’schen Schiffes, Juri Lisiansky244, nach Karl von den Steinen »Darstellungen der Tatauierung von unvergänglichem Wert«, die zumeist auf Wilhelm Gottlieb Tilesius zurückgingen.245 Zu diesem Urteil kam er nach der vergleichenden Analyse von Bildern und Texten seit dem letzten 240 Dazu Bronwen Douglas : »Cureous Figures«. European Voyagers and Tatau/Tattoo in Polynesia, 1595–1800. In : Nicholas Thomas/Ann Cole/Bronwen Douglas (Hg.) : Tattoo. Bodies, Art and Exchange in the Pacific and the West, London 2005, 33–52. 241 Georg Forster : Reise um die Welt, Frankfurt a. M. 1983 (1784), 521. 242 Zu diesem wiederkehrenden Argument Douglas, Figures, 49. 243 Forster, Reise, 522. 244 Adam Johann von Krusenstern : Reise um die Welt in den Jahren 1803–1806 auf den Schiffen Nadeshda und Newa, 3 Bde., St. Petersburg 1810–1812 ; Juri Lisiansky : A Voyage Around the World in the Years 1804, 1805 and 1806, London 1814. Siehe auch Elena Govor : »Speckled Bodies«. Russian Voyagers and Nuku Hivans, 1804. In : Thomas/Cole/Douglas, Tattoo, 53–71. 245 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 29.
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Drittel des 18. Jahrhunderts. Von den Steinen betonte, bis dahin nur schemenhafte und flüchtige Darstellungen polynesischer Tätowierungen gefunden zu haben, die zumeist allein den »allgemeinen künstlerischen Eindruck« der Zeichner und keineswegs die »strenge Genauigkeit der Ornamente« wiedergäben. Zudem konstatierte er ein häufiges »unwillkürliches Hineinsehen des Bekannten in das Unbekannte«246. Demgegenüber seien die Darstellungen von Tilesius durchweg »ganz zuverlässig und fast immer genau«. Anerkennung zollte er insbesondere den »beiden wichtigsten Stücken« im Langsdorff ’schen Reisebericht : dem oben schon vorgestellten Jungen Krieger und seinem Gegenstück, dem sogenannten Alten Krieger mit Ruderkeule und Fächer (Abb. 24).247 Karl von den Steinen vertraute dem wissenschaftlichen Zeichnen von Tilesius, der die seltene Doppelqualifikation eines Naturforschers und eines Zeichners besaß und sich schon vor der Krusenstern’schen Expedition als anatomischer, botanischer und zoologischer Illustrator auch seiner eigenen Bücher248 ausgezeichnet hatte.249 Tilesius’ »Einwohner von Nuka Hiva« – genannt der Alte Krieger – riss von den Steinen zu einem fast überschwänglichen ästhetischen Urteil hin : Der Gipfelpunkt der Mq. Schachornamentik und Tatauierung überhaupt erscheint in dem Bild des Langsdorffschen Alten Kriegers, dessen Gegenstück die Figur des KaioiJünglings in der Rückenansicht mit noch unfertiger Ausschmückung ist. Ich weiß nicht, ob es bei irgend welchem Volk […] ein Denkmal der barbarischen Zierkunst gibt, diesem gleich an harmonischer Durchbildung des Stils. Sicherlich nicht des geo246 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 96–102, hier 96, 97. 247 Ebd., 97, Abb. 142. 248 Wilhelm Gottlieb Tilesius (von Tilenau) : Beschreibung merkwürdiger Höhlen, 1799 ; Ders.: Verzeichnis und Bestimmung merkwürdiger Seeprodukte, 1800 ; Ders.: Über die sogenannten Seemäuse, 1802. Biographischer Abriss bei Wilhelm Heß : W. G. Tilesius. In : Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 38, Leipzig 1894, 208–209. 249 Trotzdem entging Tilesius nicht der sekundären Position im asymmetrischen Verhältnis zwischen Autor – in diesem Fall Langsdorff – und Zeichner. Tilesius verschwindet meist als Urheber der beiden Abbildungen in der späteren Rezeption, die Langsdorff als Künstler nennt. Auch bei von den Steinen taucht sein Name nur im Text und nicht in den Bildunterschriften aus, die nur Langsdorff ausweisen. Es ist ebenfalls nicht ersichtlich, wer – Tilesius selbst? – die Kupfer gestochen hat. In englischsprachigen Publikationen wird manchmal der Kupferstecher J. Storer, der für die englische Ausgabe des Langsdorff ’schen Werks die Stiche fertigte, als der ursprüngliche Künstler genannt, so bei Thomas, Introduction. In : ders./Cole/Douglas, Tattoo, 10, und bei Govor, Bodies, 62. Allgemein zu diesem Problemzusammenhang Lorraine Daston/Peter Galison : Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, 88–103 (Abschnitt : Sehen mit vier Augen).
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Abb. 24 Alter marquesanischer Krieger (nach Georg Heinrich von Langsdorff : Bemerkungen auf einer Reise um die Welt in den Jahren 1803 bis 1807)
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metrischen Stils. Sicherlich steht dieser Tatauierte auch unerreicht auf der Welt da in der Zahl der Stichpunkte!250
Diese Bewunderung hatte die spätaufklärerische Öffentlichkeit lange vor Karl von den Steinen geteilt. Die beiden Abbildungen des jungen und des alten Kriegers waren in der Zeit ihrer Erstveröffentlichung weit verbreitet und wurden zu Bildikonen der Südsee-Ornamentik. Der Aufklärer und Pädagoge Carl Bertuch zum Beispiel druckte in seinem Bilderbuch für Kinder 1813 unter der Überschrift »Nukahiwer mit verschiedener Tatowirung« eine Tafel ab, auf der beide marquesanischen Krieger zusammen, sich anschauend, zu sehen sind (Abb. 25).251 Im 20. und frühen 21. Jahrhundert traten sie dank des Nachdrucks in Karl von den Steinens Tatauierungsbuch einen erneuten Siegeszug an. Die Abbildungen der Krusenstern’schen Expedition dienten von den Steinen als Ausgangspunkt für seine Untersuchung der Veränderungen, die die Tätowiermuster zwischen 1804 und 1897/98 durchlaufen hatten. Die Schachtätowierung in Flächen und Bändern, die exemplarisch beim Alten Krieger zu sehen ist, machte einer Zonentätowierung Platz. Karl von den Steinen ließ zwei mit ihm bekannte Tuhuna, die Tätowiermeister Kahi und Tanakika, den neuen Stil des späten 19. Jahrhunderts in einer Gesamtschau in fertige Personenumrisse einzeichnen und die einzelnen Ornamentmotive benennen (Abb. 26). Diese »Originalzeichnungen«, auf die von den Steinen sichtlich stolz war, waren jedoch »Idealbilder, weil kein Lebender mehr am Ende des XIX. Jahrhunderts einen gleichen Reichtum der Ornamentik auf seinen Körper vereinigte«.252 Sein »Freund Tanakika« – von den Steinen bezeichnete ihn wie Kahi als Künstler253 – zeichnete zudem zahlreiche Einzelmuster. Andere Tuhuna, die stets mit ihren Namen genannt werden, lieferten sogenannte Lagepläne, d. h. »Bleistiftzeichnungen ohne eine Spur von Körperumrissen, der Tatauierdekor war sehr sorgfältig und regelmäßig in verständlicher Topographie auf das Blatt
250 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, hier 141. 251 Carl Bertuch : Bilderbuch für Kinder : enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften : alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen und mit einer kurzen wissenschaftlichen und den Verstandes-Kräften eines Kindes angemessenen Erklärung begleitet, 8. Bd., Weimar 1813, Tafel Vermischte Gegenstände, CLXXIV. 252 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 108. 253 Ebd., 109.
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Abb. 25 Der Pädagoge Carl Bertuch bringt in seinem Bilderbuch für Kinder von 1813 die beiden marquesanischen Krieger zusammen auf eine Tafel
abgewickelt«.254 Als weitere Quellen zog von den Steinen seine Photographien von tätowierten Marquesanern und Marquesanerinnen, außerdem Holzmodelle für Arm- und Beintätowierungen, Tapastoff mit aufgemaltem Tätowiermuster, 254 Ebd.
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Abb. 26 Marquesanische Tätowierungsmuster des späten 19. Jahrhunderts
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die als Umhüllung der Reliquienschädel gedient hatten, Flöten sowie Stein- und Holztikis mit Tätowiermustern hinzu. Dabei untersuchte er als einer der ersten Ethnologen überhaupt auch die einheimische zeitgenössische Produktion von Tourist Art. Das waren kleinere, leichte transportierbare Objekte – wie Gefäße, Terrinen, Spazierstöcke, Ruder –, die mit eingeschnitzten Tätowiermustern des neuen Stils versehen waren. Angesichts dieser »spielerischen Kunsterzeugnisse der ›Fremdenindustrie‹«255, die zum Teil schon mit der »geschäftlichen Inschrift ›Schnitzwaren, Oomoa, Fatuiva‹«256 gekennzeichnet waren, behielt er einen differenzierten Blick. Der Völkerkundler war damit seinen ethnologischen Kollegen und Kolleginnen weit voraus, die diese Produkte bis in die 1970er Jahre ignorierten oder als »nicht authentisch« abwerteten.257 Nicht so von den Steinen : »So lässt sich wohl bei den meisten Gegenständen trotz ihres neuartigen Aussehens und trotz ihrer Sinnlosigkeit als Gebrauchsobjekte noch eine wertvolle innere Beziehung, die aus altem Bestand vererbt wurde, entdecken.«258 Abschließend urteilte er : »Sehr gern wird man die besseren Erzeugnisse als Beweisstücke für die glückliche Begabung und Eigenart der Tuhuna anerkennen!«259 Doch beobachtete von den Steinen auch den umgekehrten Weg des kulturellen Imports von nichtpolynesischen Tätowierzeichen wie Schrift, die Seeleute auf die Inseln brachten, die seit Cooks Entdeckungsreisen mit marquesanischen Tattoos als Souvenirs selbst wieder abfuhren. Als »geschmacklos« empfand er, dass »die Kanaken« deren Praxis der Namenstätowierung auf die Arme übernahmen.260 Diese erschöpfte sich nicht allein im Einzeichnen wichtiger oder geliebter Personen. Die Schrift in der Haut konnte auch eine Kampfansage gegen die koloniale Okkupation und deren christliche Religion bedeuten. Als Beispiel übersetzte von den Steinen für seine Leser und Leserinnen die Schrifttatauie-
255 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 2, 217. 256 Ebd., 216. 257 Siehe dazu Nelson H. Graburn (Hg.) : Ethnic and Tourist Arts. Cultural Expressions from the Fourth Worlds, Berkeley 1976, und die Beiträge in Ruth B. Phillips/Christopher B. Steiner (Hg.) : Unpacking Culture. Art and Commodity in Colonial and Postcolonial Worlds, Berkeley/Los Angeles 1999. 258 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 2, 216. 259 Ebd., 217. Karl von den Steinens Pionierrolle betont auch Carol S. Ivory : Art, Tourism, and Cultural Revival in the Marquesas Islands. In : Phillips/ Steiner, Unpacking Culture, 316–333, hier 320–322. 260 Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 93–96, hier 93.
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rung auf dem Arm eines Mannes : »Seid eingeladen zu folgen dem Gott Jehova? (Sein) Zorn ist Asche, das Feuer ist nass! Schnell herbei zu den Göttern.«261 Mit dem Gebrauch der importierten Form der Schrifttätowierung für seinen Protest erfüllte dieser Marquesaner exemplarisch die europäische Konnotation von Tätowierungen als in die Haut eingeschriebene Abgrenzung von der herrschenden – im konkreten Fall der christlichen kolonialen – Kultur. Es war kein Zufall, dass von den Steinen in diesem Zusammenhang in einen sonst bei ihm nicht üblichen abfälligen Sprachduktus – »Kanaken« – fiel. Drehte sich doch der juristisch-kriminologische und medizinisch-psychiatrische Diskurs in Europa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um Tätowierung als äußeres charakteristisches Zeichen von einheimischen »Primitiven« wie Seeleuten, Soldaten und Schaustellern und anderen ausgegrenzten Gruppen wie Kriminellen, »Psychopathen« und Nichtsesshaften.262 Genau an diese europäische Auffassung von Tätowierung als Selbstmarkierung von Randgruppen, die sich damit bewusst von der Gesellschaft abgrenzen, knüpfte in den 1970er Jahren in Französisch-Polynesien eine kulturelle Autonomiebewegung an. Damit vollzog sich eine tiefgehende Bedeutungs-Transformation von Hautornamentik im polynesischen Raum. Die Tatauierungsmuster und -motive hatten bis in das 19. Jahrhundert gesellschaftsinterne Differenzierungen nach Rang, Alter, Geschlecht, Clanzugehörigkeit und Mitgliedschaft in verschiedenen religiösen und kriegerischen Bünden bezeichnet und auch die verschiedenen Inselkulturen im Pazifik voneinander unterschieden. Jetzt diente die alte kulturelle Praxis des Tätowierens der Abgrenzung nach außen. Sie sollte eine kulturelle Differenz nunmehr aller Polynesier gegenüber der französischen Verwaltungsmacht und kulturellen Dominanz markieren. Die Mitglieder der kulturellen Revival-Bewegung, die die fast verschwundene Tätowierpraxis wieder erinnerten, waren in der Mehrzahl Teil der politischen Opposition gegen die atmosphärischen und unterirdischen französischen Atomversuche auf den Moruroa- und Fangataufa-Atollen der Tuamotu-Inseln zwischen 1966 und 1995.263 Als Antwort der französischen Territorialverwal261 Ebd., 95. 262 Jane Caplan : »Speaking Scars«, The Tattoo in Popular Practice and Medico-Legal Debate in Nineteenth-Century Europe. In : History Workshop Journal 44, 1997, 107–142 ; Dies.: National Tattooing. Traditions of Tattooing in Nineteenth-Century Europe. In : Dies., Body, 156–173. 263 Siehe Tatjana Thimm : Kultureller Wandel in Französisch-Polynesien vor dem Hintergrund ausländischer Einflussnahme und endogener Entwicklung. Ausgangssituation für nachhaltige Tourismusprojekte der indigenen Bevölkerung der Maohi, Phil. Diss. Göttingen 2001, 150–177 ; Probst, Zeichen, 49–60.
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tung wurden verschiedene Kultureinrichtungen wie Museen und Bibliotheken zur Pflege des »einheimischen Kulturerbes« gegründet oder ausgebaut. Ihre Errichtung wie ihre Nutzung bis heute zeigen das Doppelgesicht des kulturellen Revitalisierungsprojekts in Polynesien. Einerseits war es Ziel, über eine Wiederaneignung der vorkolonialen Vergangenheit – ganz konkret von altem Kunsthandwerk, Tätowierung, Tanz, Musik und oraler Literatur – eine eigene polynesische kulturelle Identität zu befördern. Andererseits ermöglichten die Kulturinstitutionen die touristische Vermarktung des »Erbes«, wie die 1978 auf den Marquesas gegründete Kulturorganisation Moru Haka, die auf den sechs Inseln Museen, Bildungszentren, Künstlerforen und Künstlervereinigungen ins Leben rief, um die marquesanische Geschichte und Kultur zu erforschen und wiederzubeleben.264 Der tahitianische Antiatom-Aktivist Gabriel Tetiarahi kritisierte in einem Interview im Jahr 1999 eine solche »prostitution culturelle«.265 Auch der in Tahiti lebende deutsche Künstler Andreas Dettloff beklagte die »Disneylandisierung« einer wiedererfundenen Kultur. »Mir schien allerdings damals schon [Ende der 1980er Jahre], dass diese ganzen Wiederbelebungsversuche nur dazu dienten, dem Tourismus eine qualitativ gute Folklore anbieten zu können«, kritisierte er anlässlich der fünften Biennale für zeitgenössische Kunst unter dem Motto Partage d‘exotismes in Lyon im Jahr 2000. Anstatt die alten Muster »auf die heutige Zeit (zu) übertragen und damit moderne Kunst (zu) machen«, nehme er, Dettloff, »ihre Ausdrucksformen« und vermische sie »mit westlichen Bildern«. Dettloffs erklärte Absicht ist es, damit kulturübergreifend zu provozieren und Objekte zu schaffen, die in »Tahiti, Neuseeland, New York oder Paris« Interesse wecken.266 Sein Gauguin-Kopf, der einen in Tapastoff eingewickelten Schädel mit aufgemalter Tätowierung zeigt, erinnert an den Einband des Tatauierungsbuchs von 264 Carol S. Ivory : Art and Aesthetics in the Marquesas Islands. In : Eric Kjellgren/Carol S. Ivory (Hg.) : Adorning the World. Art of the Marquesas Islands, New York 2005, 25–38. 265 Thimm, Kultureller Wandel, 177. Siehe auch Gabriel Tetiarahi : Society Islands. Squeezing out the Polynesians. In : French Polynesia. A Book of Selected Readings, hg. v. Nancy J. Pollock/ Ron Crocombe, Institute of Pacific Studies at the University of the South Pacific, Suva 1988 ; Ders.: Decolonizing the Mind. David Ransom Talks to Activist Gabriel Tetiarahi at his Home in Faa’one, Tahiti, about Positive Options for the Future. In : New Internationalist, Juni 1997. 266 Alle Zitate aus dem Interview mit Andreas Dettloff aus dem Filmskript der Sendung »Künstler ohne Grenzen – Artistes sans frontières«, Südwestrundfunk. In : www.passe-partout.de/content_de/20030307/index.php [besucht am 19.5.2010]. Diese Webseite ist nicht mehr abrufbar. Ausdruck im Privatarchiv der Autorin. Andreas Dettloff : Les graphismes marquisiens à Papeete, laboratoire des rencontres. In : Mata Hoata, 283–287. Siehe auch die Webseite des Künstlers : www.dettloff.org.
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Abb. 27 Buchumschlag, 1925 Abb. 28 Andreas Dettloff, Gauguin in seinem letzten Dekor, 2008
den Steinens. Gauguin wird in einem Akt spielerischen postmodernen Primitivismus zu einem Objekt vorkolonialer marquesanischer Toten-Riten (Abb. 27 u. 28). Ging es nun in Polynesien um Identitäts(er)findung durch ein wiederentdecktes »Kulturerbe« oder vordringlich um dessen touristische Vermarktung? Beide Aspekte lassen sich nicht so einfach voneinander trennen. Auf der Webseite der Îles Marquises, gesponsert von der Air Tahiti und realisiert vom Comité du Tourisme de Nuku Hiva, war 2010 unter der Überschrift Marquesan Islands Arts Festival – ein regelmäßig stattfindendes intrainsulares Ereignis – zu lesen : The beginning of the last day was accompanied by the beating of all the pahu together, the ancient stones vibrated as they recaptured their long forgotten mana [Macht]. The day continued with games, stone lifting contests, string games, stilt races. Then the singing and dancing took place again. The day resonated to the songs and sacred movements of the »haka«. »I want to keep my culture«, was the message hammered out by the dancers.
Mit ähnlichem Tenor kam an gleicher Stelle ein junger Marquesaner zu Wort : Keeping our culture unique in the world, and the pride which we hold within ourselves […]. We are alive and constantly asking ourselves the fundamental questions : Who are
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we? Where do we come from? Where are we going? This festival is already a response. We are proud of our past, of our language, and of our dances. The sacred sites here come alive again and we have always respected them. They will always transmit messages that will pass on to new generations.267
»I want to keep my culture.« Aber sie musste erst einmal im Akt einer (re)invention of tradition nach dem Kerngedanken von Eric Hobsbawn und Terence Ranger268 geschaffen werden. Es ist nicht erstaunlich, dass Karl von den Steinens Marquesas-Trilogie dafür als wichtiger Schlüssel galt. Insbesondere sein Tätowierungsbuch bewahrte im marquesanischen Selbstverständnis ein verlorenes Wissen, »intrinsically tied to the marquesan culture«, wie auf der oben angeführten Webseite unter »Arts and craft : Tattoo« angeführt wird. Als Illustration dient ohne Herkunftsnachweis der Junge Krieger von Tilesius aus dem Jahr 1804. Von den Steinens Buch wird durchgängig als das einzig vorhandene große Muster- und Motiv-Archiv gewürdigt – ironischerweise eine späte Rechtfertigung der frühen Salvage Anthropology durch die Nachkommen der damals in den ethnologischen Blick Genommenen.269 Die kulturelle Revival-Bewegung, die die Arbeit als Quelle nutzt, bezieht sich aber noch aus einem anderen Grund auf den deutschen Ethnologen. Denn die Aneignung der historischen Praxis der Hautornamentik, mit der eine inhaltliche Bedeutungsveränderung einhergeht – statt Markierung innergesellschaftlicher Differenz und hierarchischer Ordnung nun Markierung von innergesellschaftlicher Gleichheit, gemeinsamer Identität und Abgrenzung nach außen – legitimiert sich am überzeugendsten durch einen Rückbezug auf marquesanische Stimmen aus der Vergangenheit selbst. So erschien 2005 in dem tahitianischen Verlag Haere po unter dem Titel L’art du tatouage aux îles Marquises eine Auswahl aus der Südseeornamentik-Trilogie von den Steinens. »Nous avons voulu retrouver, respecter et développer le plus 267 Www.marquises.pf/2index.htm [besucht am 7.3.2010]. Die Website ist nicht mehr abrufbar. Ausdruck im Privatarchiv der Autorin. Vgl. jetzt Debora Kimitete/Carol Ivory : Le Festival des arts des îles Marquises. Te Matavaa o te Henua Ènana. In : Mata Hoata, Arts et Société aux îles Marquises. Ausst.-Kat. Musée du Quai Branly, Paris 2016, 275–281. 268 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.) : The Invention of Tradition, Cambridge 1999 (zuerst 1983). 269 Walter Tauber behauptet in seinem Filmbeitrag »Südseeträume auf der Haut- Tätowierung auf Tahiti«, ARD v. 9.2.2012, gar, »[…] die Aufzeichnungen von Forschern wie Karl von den Steinen und Adam Johann von Krusenstern erlauben es, die ›koloniale Schuld‹ Europas wenigstens teilweise wieder gutzumachen.« Zitat in der Programmanzeige : https://programm.ard.de/TV/one/ suedseetraeume-auf-der-haut---taetowierung-auf-tahiti/eid_287227419671603 [besucht am 2.9. 2018].
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possible la parole marquesienne – et aussi la compréhension qu’a pu en avoir von den Steinen«270, erklären die Herausgeber auf der Webseite der Bibliothèque insulaire virtuelle. »Tracer notre propre voie«, unseren eigenen Weg nachzeichnen, ist das Erkenntnisinteresse. Wichtigste Quelle sind die Gespräche Karl von den Steinens mit den Tätowiermeistern und die Zeichnungen, die die Tuhuna für ihn anfertigten.271 Im Jahr 2005 wurde die erste vollständige französische Übersetzung des Tatauierungsbuchs von den Steinens publiziert,272 die 2006 den Prix du Livre insulaire gewann. Wiederum wird an das Moment der eigenen marquesanischen Stimme, die aus von den Steinens Buch spreche, angeknüpft : Frucht einer strengen Methodologie, basiert das Werk Karl von den Steinens ebenso – und das ist einer der Gründe seiner bis heute andauernden Anziehungskraft – auf der tiefen Sympathie ihres Autors für die marquesanische Bevölkerung und ihre Kultur. […] So hebt er bei der Wiedergabe der Legende über die Tätowierung des Helden Kena hervor, dass der Vorzug dieses Zeugnisses sei, dass es »allein die Marquesaner sind, die hier zu Marquesanern sprechen«.273
Da das Werk von den Steines bis jetzt nur auf deutsch vorgelegen habe,274 so weiter, sei der Text für die französischsprachigen Leser fast nicht zugänglich gewesen. »Schlimmer noch«, die abgebildeten Ornamentmuster und -motive, besonders der Tätowierungen, seien einer »systematischen Plünderung« ausgesetzt gewesen. Zwar hätten die Reproduktionen in hohem Maß zur Popularisierung der marquesanischen Kunst auf der ganzen Welt beigetragen, aber auf Kosten ihres historischen, sozialen und kulturellen Kontextes.275 In der Tat ist das Buch außerhalb großer Bibliotheken in Polynesien nicht präsent. Weit verbreitet sind dagegen – in Form von gezeichneten und mechanischen Kopien – die beiden Krieger von Tilesius und einige andere Kupfer von der Krusenstern’schen Expedition sowie die großen Tuhuna-Zeichnungen und einzelne Musterblätter aus dem Tätowierungsband von den Steinens. Die Abbil270 »Wir wollten so weit wie möglich die marquesanische Stimme wiederfinden, wahren und fördern – und auch den Einblick, den von den Steinen in sie hatte.« (Übers. durch Autorin). 271 Www.haerepo.com/steinen_tatouage.html [besucht am 2.9.2018]. 272 Karl von den Steinen : Les Marquisiens et leur art. L’ornamentation primitive des mers du Sud, vol. 1 : Le tatouage, Papeete 2005, 2016 (avec nouvelles corrections). 273 www.vers-les-iles.fr/livres/2006/Steinen_Kunst_1.html [besucht am 2.9.2018] (Übers. durch Autorin). 274 Ein Reprint der deutschen Ausgabe erschien 1969 bei Hacker, New York. 275 Www.vers-les-iles.fr/livres/2006/Steinen_Kunst_1.html [besucht am 2.9.2018].
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dungen – »sans mise en perspective historique, sociale ou culturelle«276 – dienen als Vorlagen für den wichtigen Wirtschaftszweig Tourist Art. Sie sind Motiv auf den Tapablättern, d. h. den bemalten Rindenstoffstücken, die ein Hauptartikel des touristischen Markts darstellen und eine neue von Frauen aus Fatu Hiva betriebene Technik sind (Abb. 29). Die Tätowiermuster des frühen 19. Jahrhunderts, die im Buch von den Steinens wiedergegeben sind, dekorieren ebenso wie die Muster und Motive des Stils des späten 19. Jahrhunderts, den von den Steinen dokumentierte, unterschiedslos Flöten, Holzgefäße, Ruder und Keulen. Sie gelten als authentisch und zeitlos marquesanisch.277 Touristen und französisches Militärpersonal lassen sich nach Vorlagen in dem Buch von den Steinens Tattoos stechen. Sie nehmen damit – wie die aufklärerischen Naturforscher und Seeleute vor ihnen – ein exotisches Souvenir mit nach Hause. Die auswärtigen Kunden kennen die historische Bedeutung der Hautzeichen nicht und geben ihnen den Sinn, der sich in ihren eigenen Lebenszusammenhang einfügt. Das gilt auch für die Marquesaner, an dieser Stelle zutreffender die Polynesier, die die ästhetische Qualität der marquesanischen Tätowierung als distinkte Gestaltungsweise hochschätzen und durch die Rezeption von den Steinens im gesamten polynesischen Raum verbreitet haben.278 Die Folge ist eine Hybridisierung der Formen und Muster aus den unterschiedlichen pazifischen Inselkulturen unter Einbeziehung europäischer und japanischer Motive in die Tätowierpraxis und die bildende Kunst.279 Dieser Prozess wird befördert durch die große internationale Tattoo Convention Tattoonesia auf Tahiti, die seit 2005 jährlich mit Unterstützung des polynesischen Präsidenten, der Fluggesellschaft Air Tahiti, der Tourismusindustrie und diversen Tätowierzeitschriften stattfindet. Hier, wie auch auf Tattoo Conventions zum Thema »polynesische Tätowierstile« in anderen Orten weltweit, trifft sich eine »globalisierte internationale Tattoo-Szene« zum Austausch und 276 Ebd. 277 Siehe Ivory, Art, Tourism, 326–332. 278 Als Beispiel für die übergreifende Rezeption von den Steinens und die Vermischung der ursprünglich lokalen Muster in der Tätowierpraxis siehe den Artikel eines ZEIT-Journalisten über einen Tätowierer von den Cook Islands, der u. a. äußert : »Von den Steinen ist unsere Bibel. Ohne ihn wäre alles verloren«. So Michael Obert : Polynesien unter der Haut. Die Inselvölker im Südpazifik entdecken ihre Vergangenheit. In : Die Zeit v. 4.2.1999. 279 Zur Geschichte der Globalisierung der Tätowierung siehe Eduard Schüttpelz : Unter die Haut der Globalisierung. Die Veränderung der Körpertechnik »Tätowieren« seit 1769. In : Tobias Nanz/ Bernhard Siegert (Hg.) : Ex machina. Kulturtechniken und Medien, Weimar 2006, 109–154.
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Abb. 29 Tapas mit Mustern in Anlehnung an Karl von den Steinens Abbildungen in Die Marquesaner und ihre Kunst werden in Fatu Hiva auf den Marquesas verkauft. Photo Galen R. Frysinger
Verkauf von Südsee-Tattoomotiven, die nicht nur im Falle der Marquesas kein exklusiver Besitz von einheimischen Tätowierern mehr sind.280 Von den Steinens Abbildungen, mit und ohne Quellennachweis, kursieren zahlreich im Internet, nicht zuletzt auf den Webseiten von vielen Tätowierstudios, die sich auf Tribals – das sind Motive, die sich an sogenannte Stammeszeichen anlehnen – spezialisiert haben.281 Marquesanische Motive und Muster in Anlehnung an von den Steinen sind eine gut verkäufliche Ware auf dem globalen Tattoo-Markt. Aber es gibt nicht nur eine Rezeption und Aneignung der Formensprache dieser besonderen lokalen historischen Tatauierung im pazifischen Raum und weltweit. Es ist zu fragen, ob darüber hinaus die kulturelle Revival-Bewegung in Polynesien mit der Wiederbelebung der Tätowierung auch deren Bedeutungs-
280 Siehe TätowierMagazin. Forum der deutschen Tattoo-Szene, 2010, H. 2, mit dem Schwerpunkt »Das große Polynesien-Special«, Zitate aus dem Editorial. 281 Z. B. www.tattootribes.com ; www.tahititatou.com ; www.tribalsite.com ; www.tiki-styles.de ; www. vanishingtattoo.com ; www.easytahiti.com [besucht am 7.4.2010].
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spektrum wieder aufgerufen hat, das von den Steinen zu entschlüsseln angetreten war. Eine erste Antwort gibt ein Tätowierer aus der deutschen Kleinstadt Minden, Jörg »Monte« Klein, der 2002 auf die Marquesas reiste – »zurück zum Ursprung, dahin, wo das Tätowieren begann, dorthin, wo man sich noch Symbole und Bedeutungen unter die Haut bringt«.282 Unzufrieden, seinen Kunden zwar schöne, aber bedeutungslose Mode-Tribals zu tätowieren, erhoffte sich der spätere Autor eines Kultbuchs der deutschen Tattoo-Szene : »Vielleicht lässt sich ja beides zu einem neuen Stil verbinden : ästhetische Tribals nach europäischem Geschmack mit der bedeutsamen Symbolik der traditionellen Tätowierung der Südsee.«283 Zu seiner Überraschung stieß Klein auf die Kopien von Abbildungen aus dem ihm unbekannten Tatauierungsband von den Steinens als Vorlagen bei marquesanischen Tätowierern (Abb. 30). Über die Bedeutung der alten Motive erhielt er jedoch keine oder nur sehr oberflächliche Auskunft. Aber er entdeckt transkulturelle Gemeinsamkeiten bei der Entscheidung der Kunden für ein bestimmtes Tattoo. Sowohl marquesanische Tattoos wie auch die europäischen Adler-, Drachen- und Indianer-Tattoos auf seiner eigenen Haut sollen einen Lebensabschnitt und eine Gruppenzugehörigkeit markieren, nicht selten abseits der »vernünftigen Wege«, stellte er fest und erinnert sich an seine Biker-Zeit.284 Klein spricht hier den seit Beginn des 20. Jahrhunderts manifesten Zusammenhang von Tätowierung und gesellschaftlichem Anti-Mainstream-Bekenntnis an, dessen Verschwinden er in der aktuellen westlichen Tribal-Tätowierungsmode bedauert.285 Die Wahl eines marquesanischen Tattoos hat heute zum einen ästhetische Gründe und verbindet sich oftmals mit einer vagen Vorstellung von geheimnisvoller Südseemagie. Zum anderen sollen persönliche Erinnerungen und Lebensmaximen dokumentiert werden.286 Die Tribal-Mode ist hochgradig individuell und nicht kollektiv vermittelt. 282 Jörg »Monte« Klein : Mana. Die Geheimnisse der marquesanischen Tätowierung, Paderborn 2 2006, 10, auch für das folgende Zitat. 283 Ebd., 95. 284 Klein, Mana, 31–32. 285 Ebd., 51 : »Heutzutage gleicht das Tätowieren ja eher einem Friseurbesuch.« 286 Siehe die Interviews in : Tribal Tattoo. The tribe of the tribals, traditionelle, archaische und moderne Stammestätowierungen, hg. v. Igor Warneck/Björn Ulbrich, Engerda 22002, 148 ff. Im Abschnitt »Die Marquesas« sind zehn Abbildungen aus dem Tatauierungsband von den Steinens abgedruckt, 39–45. Susan Benson : Inscriptions of the Self. Reflections on Tattooing and Piercing in Contemporary Euro-America. In : Caplan, Body, 234–254.
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Abb. 30 Ein Tattoo-Studio auf Moorea mit Kopien von Abbildungen in von den Steinens Die Marquesaner und ihre Kunst an der Außenwand
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Trotz Globalisierung und Vermarktung hat die Tätowierung im polynesischen und/oder »rein« marquesanischem Stil auf den polynesischen Inseln selbst jedoch auch eine lokale Bedeutung. Sie kann eine Protesthaltung ausdrücken, die ethnische Sonderheit bekundet und sich von französischer Lebensweise abgrenzt. So bekundete etwa ein tahitianischer Tätowierer bei einer Befragung, dass die alten Tätowiermuster für die meisten Leute, d. h. für seine vorwiegend französischen Kunden, nur Dekoration bedeuteten. Für ihn selbst seien sie wichtiges Erbe seiner Vorfahren und Ausdruck von Kriegertum.287 Entsprechend unterstreicht die Anthropologin Makiko Kuwahara in ihrer Untersuchung über die Bedeutung des Tätowierens für die Bewohner im heutigen Französisch-Polynesien, dass die Hautzeichen »wildness« und »savageness« demonstrieren und für die Unzugänglichkeit der Marquesas für Fremde stehen können. Im Selbstverständnis der von ihr interviewten tätowierten Männer sollen die marquesanischen Muster zudem Männlichkeit und physische Kraft unterstreichen. Vor allem in der Phase der Adoleszenz grenzten sie sich damit auch von Frauen – konkret von dem von Frauen dominierten polynesischen Haushalt – ab und markierten eine Verbundenheit mit der jugendlichen männlichen Peergroup. Die wiederentdeckte kulturelle Praxis des Tätowierens und seine Formensprache kann auf den Marquesas wie in ganz Polynesien also spezifische ethnische, geschlechter- und alterskonnotierte Bedeutungsinhalte besitzen. Gleichzeitig teilt der pazifische Raum mit Europa und Amerika einen gemeinsamen ästhetisch-dekorativen Gebrauch der marquesanischen Muster und Motive, der sich im Prozess von globaler Wanderung, Rezeption und Vermarktung herausgebildet hat. Muster, die von einem deutschen Ethnologen im kolonialen Kontext am Ende des 19. Jahrhunderts erforscht und beschrieben wurden und die dann in den 1970er und 1980er Jahren in Polynesien wieder erfunden werden. In dieser historischen, kulturellen, ökonomischen und geographischen Gemengelage sind die »Muster des Fremden«, die in der »primitiven Südseeornamentik« Karl von den Steinens aufbewahrt wurden, zu »Mustern des Eigenen« geworden. Die marquesanische Ornamentik spricht heute viele Sprachen. Das letzte Wort soll ein Objektbild haben, das die verschiedenen Transferund Transformationsprozesse der marquesanischen Hautornamentik verkörpert. Auf ein Stück Rindenstoff ist der Junge Krieger von Tilesius aus dem Jahr 1804 gemalt. Diese Darstellung wird durch das Tatauierungsbuch von den Steinens über Photokopien in den 1980er Jahren auf den Marquesas bekannt und zum 287 Makiko Kuwahara : Multiple Skins. Space, Time and Tattooing in Tahiti. In : Thomas/Cole/ Douglas, Tattoo, 171–190, hier 179.
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Abb. 31 Der junge marquesanische Krieger auf einem Tapa, gezeichnet von Hina Tiaho, 1990er Jahre
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Motiv für die Tapas, eben die bemalten Rindenstoffe, die von Frauen für den touristischen Markt hergestellt werden. Die amerikanische Kunsthistorikerin Carol Ivory, Expertin für marquesanische Kunst, kaufte das Rindenstoffbild auf den Marquesas und gab es 1999 an das American Museum of Natural History, das es in seine Pacific Ethnographic Collection aufnahm, ohne allerdings in der Objektbeschreibung auf die historische Vorlage der Darstellung hinzuweisen (Abb. 31).288
288 Siehe Objekt und Objektbeschreibung (Catalogue No 80.1/7045) in der Pacific Ethnographic Collection des AMNH.
IV. Ornamente als Politik Koloniales Sammeln, ethnologisches Wissen und das afrikanische Kunsterbe – Expeditionen in das kongolesische Königreich der Kuba, 1885–1908
Der Kongo als »Herz der Finsternis« : Das zentralafrikanische Land hat diese Charakterisierung, die Joseph Conrad mit dem Titel seines Buchs von 1902 populär machte, bis heute nicht abgestreift.289 Die Empörung und das Entsetzen über die kolonialen Verbrechen im Freistaat Kongo, die die europäischen und amerikanischen Leserinnen und Leser bei der Lektüre von Conrads Buch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfassten, verstärkten sich durch die Werke seiner Schriftstellerkollegen Mark Twain, der 1905 die Satire King Leopold’s Soliloquy. A Defence of his Congo Rule veröffentlichte, und Arthur Conan Doyle, der 1909 The Crime of the Congo publizierte. Doch auch weniger an Literatur Interessierte waren in dieser Zeit mit der Thematik vertraut. Vor allem in Großbritannien und in den USA lancierte eine der ersten Menschenrechtsorganisationen, die Congo Reform Association, eine große und sehr effektive Medienkampagne gegen den belgischen König Leopold II., der den Kongo gleichsam in Privatbesitz genommen hatte, und gegen den monopolisierten Elfenbein- und später Kautschukhandel von Konzessionsgesellschaften, die eine ungehemmte Ausbeutung des Landes und seiner Bewohner und Bewohnerinnen mit brutalster Gewalt anwendung – Zwangsarbeit, Verstümmelungen, Geiselnahme, Brandschatzung, Zwangsumsiedlungen – verfolgten und beispiellose Profite erpressten. Die Zerstörung des einheimischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems kostete Millionen Kongolesen und Kongolesinnen das Leben.290 289 Siehe z. B. die Buchtitel von Robert B. Edgerton : The Troubled Heart of Africa. A History of the Congo, New York 2002 ; Loso Kiteti Boya : D. R. Congo. The Darkness of the Heart. How the Congolese have survived 500 Years of History, Bloomington 2010. 290 Zeitgenössisch Edmund D. Morel : King Leopold’s Rule in Africa, London 1904 ; Ders.: Red Rubber. The Story of the Rubber Slave Trade flourishing on the Congo for 20 Years, London 2 1920 ; Seamus O. Siochain : The Eyes of Another Race. Roger Casement’s Congo Report and 1903 Diary, Dublin 2003 ; Roger Louis/Jean Stengers (Hg.) : E. D. Morel’s History of the Congo Reform Movement, Clarendon 1968. Überblick bei Jean Stengers/Jan Vansina : King Leopold’s
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Nach der Übernahme von Leopolds Freistaat Kongo durch die belgische Regierung 1908 kam es in der nunmehrigen Kolonie Belgisch-Kongo zu veränderten Formen kolonialer Herrschaft und mit der beginnenden Industrialisierung in einigen Regionen auch zu neuen Arten von Ausbeutung und Unterdrückung.291 Der Kongo als Schauplatz von kolonialen Gräueltaten292 verschwand jedoch (zunächst) aus den europäischen und nordamerikanischen Schlagzeilen. Am Ende des 20. Jahrhunderts rief das erfolgreiche Sachbuch des amerikanischen Journalisten Adam Hochschild King Leopold’s Ghost die »Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen« im Kongo des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wieder in das Gedächtnis zurück.293 Im deutlichen Gegensatz zu diesem Vergessen steht ein seit der europäischen kolonialen Eroberung Ende des 19. Jahrhunderts fortdauerndes Interesse für Kunstwerke der kongolesischen Kultur. Europäische und nordamerikanische Afrikareisende, Kaufleute, Kolonialbeamte, Offiziere, Soldaten, Missionare und Ethnologen schätzten wie heutige Kunsthändler und -sammler, Kuratoren, Museumsbesucherinnen und Besucher, Kunsthistoriker und Historikerinnen, Galeristen und Auktionshäuser anthropomorphe Plastiken294 und Masken aus Zentralafrika – besonders aus dem Königreich der Kuba (auch Bakuba) im süd-westlichen Kongo, dem Kasai-Gebiet.295 Obwohl Plastiken in der Wahrnehmung des Westens für afrikanische Kunst standen, galten auch im Kasai-Gebiet hergestellte Stoffe, der sogenannte Kasai Velvet oder im Deutschen die Raphia-Plüsche – so der Name der Congo, 1886–1908. In : Cambridge History of Africa, Bd. 6, hg. v. Roland Oliver/Neville Sanderson, Cambridge 1985, 315–358. 291 Grundlegend David Van Reybrouck : Kongo. Eine Geschichte, Berlin 22012, 127–171 ; Bogumil Jewsiewicki : Belgian Africa. In : Cambridge History of Africa, Bd. 7, hg. v. Andrew Roberts, Cambridge 1986, 461–493. Für das Gebiet der Kuba siehe Jan Vansina : Being Colonized. The Kuba Experience in Rural Congo, 1880–1960, Madison 2010. 292 Siehe z. B. Martin Ewans : European Atrocity, African Catastrophe. Leopold II, the Congo Free State and its Aftermath, London/New York 2002 ; Susanne Gehrmann : Kongo-Greuel. Zur literarischen Konfiguration eines kolonialkritischen Diskurses 1890–1910, Hildesheim 2003. 293 Adam Hochschild : King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa, Boston/New York 1998 (dt. Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen, Stuttgart 92012). 294 Carl Einsteins Negerplastik, Leipzig 1915, ist eines der ersten vielbeachteten Bücher, in dem afrikanische Skulpturen ohne Nennung der Herkunft und ohne Bezug auf ihren sozialen und kulturellen Kontext als Kunst vorgestellt werden. Zum Entstehungszusammenhang und zur Bedeutung des Buchs siehe K. S. Strother : Looking for Africa in Carl Einstein’s Negerplastik. In : African Arts 46, 2013, 8–21. 295 Enid Schildkrout/Curtis A. Keim : Objects and Agendas. Re-collecting the Congo. In : Dies. (Hg.) : The Scramble for Art in Central Africa, Cambridge 1998, 1–36.
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Abb. 32 Karte des Freistaats Kongo. Postkarte, Brüssel 1905
gewebten und ornamental bestickten Stoffe aus den Fasern der Raphiapalme – in europäischen Augen als Ausweis für die außergewöhnlichen künstlerischen Fähigkeiten der Kuba und ihre »überlegene Cultur«, die Spekulationen über ihre Verbindung mit der »altägyptischen Cultur« auslösten.296 Im Folgenden wird es um diese besonderen Stoffe gehen, deren geometrische Muster auch auf Skulpturen, Waffen, Hauswänden, Schachteln, Bechern und Pfeifen im Einzugsbereich der Kuba zu finden waren. Portugiesische Seeleute und Händler hatten einzelne dieser Stoffe schon im 16. und 17. Jahrhundert nach Europa gebracht.297 Auf einer Abbildung in der »Historischen Beschrei296 So z. B. bei Ludwig Wolf, siehe Wolf ’s Bericht über seine Reise in das Land der Bakuba. In : Hermann Wissmann/Ludwig Wolf/Curt von François/Hans Mueller : Im Innern Afrikas. Die Erforschung des Kassai während der Jahre 1883, 1884 und 1885, Leipzig 1888, 200–264, hier 254. Siehe auch Vansina, Being Colonized, 42–43. 297 Im Ulmer Museum befindet sich ein kongolesischer »Sammet«-Stoff aufgeführt im Verzeichnis der Weickmann’schen Kunst- und Naturkammer von 1655 ; siehe Adam Jones : A Collection of African Art in Seventeenth-Century Germany. Christoph Weickmann’s Kunst- und Naturkammer. In : African Arts 27, 1994, 28–43, 92–94, hier 38–39.
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bung« der Königreiche Kongo, Matamba und Angola des italienischen Kapuziner-Missionars Cavazzi dienen sie als Unterlage für den menschlichen »Stuhl« einer Fürstin des Kuba-Königreichs im Kongo (Abb. 33). Damit ist bereits ein wichtiger gesellschaftlicher Ort für die sogenannten Samtstoffe aus der Kasai-Region markiert. Die Bushong als dort herrschende Ethnie im Kuba-Reich nutzten sie zur Außendarstellung, z. B. als Teil der königlichen und adeligen Prunkgewänder bei höfischen Festen und Tänzen, in ihnen wurden die Leichen ihrer Angehörigen begraben und sie zirkulierten als Gaben im herrschaftlichen Verwandtschaftssystem.298 Die bestickten Stoffe mit ihren großen, überwiegend geometrischen Mustervariationen waren zudem wertvolle Prestigegüter im innerafrikanischen Handel, der vom König im Einflussbereich des Kuba-Reichs kontrolliert wurde und der lange vor dem Handel mit den Portugiesen existierte.299 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen die bestickten Raphia-Stoffe zum begehrten Gegenstand eines internationalen Ethnologica- und Kunst-Markts zu werden, der sich im Zuge der europäischen kolonialen Herrschaft etablierte und ausweitete. Die Stoffe verwandelten sich in eine Ware, die mit ihrem ursprünglichen Gebrauch und Bedeutungskontext nichts mehr zu tun hatte. Ihr kommerzieller Wert auf dem westlichen Markt bestimmt(e) sich wie der anderer Werke der Tribal Art, wie sie noch immer oft genannt werden, vermittelt durch die Gruppe der Kunsthändler und der ethnologischen Experten nach möglicher Beschreibung von Alter, Ort und Zeit des Erwerbs, nach dem Leumund von Sammler und Händler sowie nach renommierten Orten der Präsentation wie Museums-, Galerieausstellungen oder Kunstauktionen. Für diesen Markt und angepasst an die Vorlieben der westlichen Sammler, Händler und Käufer für »vorkolonial Altes« und damit angeblich Authentisches begannen die Bakuba ihrerseits mit Beginn der Kolonialherrschaft neue und »alte« Gegenstände für den Export herzustellen. Dies läutete den Beginn eines Markts mit später auch seriell hergestelltem Kunsthandwerk sowie eine Massenproduktion von Tourist oder Airport Art ein, der heute einen Faktor in der regionalen Wirtschaft bildet.300 298 Moni Adams : Kuba Embroidered Cloth. In : African Arts 12, 1978, 24–39, 106–107 ; Patricia Darish : Dressing for the Next Life. Raffia Textile Production and Use among the Kuba of Zaire. In : Annette B. Weiner/Jane Schneider (Hg.) : Cloth and Human Experience, Washington/London 1989, 117–140. 299 Jan Vansina : Long-Distance Trade-Routes in Central Africa. In : Journal of African History 3, 1962, 375–390. Zur Geschichte der Kuba und ihres Königreichs Jan Vansina : The Children of Woot. A History of the Kuba Peoples, Madison 1978. 300 Jan Vansina : La survie du royaume Kuba à l’époque coloniale et les arts. In : Annales Aequatoria
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Abb. 33 Zinga, die Schwester des kongolesischen Königs, verhandelt mit einer portugiesischen Delegation auf einer ornamentierten Raphia-Unterlage, 1694
Doch damit ist die Bedeutung der bestickten Raphia-Stoffe nicht erschöpft. Es lohnt sich, nicht nur ihr Oszillieren zwischen den Zuordnungen ihrer europäischen und nordamerikanischen Aneigner – den Ethnologen, Kunstsammlern und -händlern, Käufern, Käuferinnen, Museums- und Galerieausstellern – als ethnologische und/oder als Kunst-Werke genauer in den Blick zu nehmen, sondern damit verbunden auch die vielfältigen Transformationen und Neuinterpretationen zu untersuchen, die die Stoffe in unterschiedlichen Verwendungskontexten zu politischen Werkzeugen machten. So wurden sie von kolonialen wie kolonialkritischen und einheimischen Akteuren im Kongo am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für ihre jeweiligen Interessen eingesetzt. Zunächst aber, welche Bedeutung hatte die Generierung ethnologischen Wissens 28, 2007, 5–29 ; Schildkrout/Keim, Objects, 5–6, 21–22. Joseph Cornet : African Art and Authenticity. In : African Arts 9, 1975, 52–55, für die Geschichte und Professionalisierung von Tourist Art im Verlauf des 20. Jahrhunderts im Kongo. Zur Gesamtthematik siehe Raymond Corbey : Tribal Art Traffic. A Chronicle of Taste, Trade and Desire in Colonial and Post-Colonial Times, Amsterdam 2000.
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über die textile Kunst der Kuba in den beiden Jahrzehnten um die Jahrhundertwende in diesem historischen Prozess? An diesem Prozess wesentlich beteiligt waren einzelne Kongoreisende, die sich zwischen 1892 und 1908 erstmals länger im Siedlungsgebiet der Bushong zwischen den Flüssen Sankuru und Kasai und in deren Hauptstadt Nsheng (Mushenge) aufhielten – also kurz vor und kurz nach der eingangs geschilderten kolonialen Eroberung, Unterwerfung und Ausplünderung auch dieses zentralafrikanischen Gebiets. Es bildete das Herzstück des multiethnischen und multilingualen Kuba-Reichs (Abb. 34), in dem die Bushong als herrschende Ethnie den König, die Mitglieder verschiedener Kollegien und die sogenannten Titelhalter wie z. B. Räte und Richter stellten.301 Da das Gebiet Fremden bis Anfang der 1890er Jahre verschlossen geblieben war, zählen sie zu den Ersten seiner ethnologischen Erforschung und davon untrennbaren kolonialen »Erschließung«. Der schwarze Missionar der Southern American Presbyterian Church William Sheppard (1865–1927), der ungarische Forschungsreisende und ehemalige Agent der belgischen Konzessionsgesellschaft Compagnie du Kasai Emil Torday (1875–1931) sowie der deutsche Völkerkundler Leo Frobenius (1873–1938) tauschten, kauften, erhielten als Geschenk und verlangten Stoffe, Masken, Skulpturen, Waffen, Musikinstrumente, Arbeits- und Haushaltsgegenstände im Kasai-Gebiet – im Fall der beiden Letztgenannten für europäische Völkerkundemuseen und zwar in großem Stil.302 Frobenius verkaufte die 8.000 Objekte aus seiner Kongo-Expedition von 1904 bis 1906 überwiegend an das Hamburger Völkerkundemuseum für den vorab ausgehandelten Stückpreis von 10 Mark und über den Hamburger Ethnologica- und Zoohändler Heinrich Umlauff u. a. an das Museum der University of Pennsylvania.303 Torday sammelte 301 Dazu eingehend Vansina, Children of Woot. 302 Leo Frobenius : Im Schatten des Kongostaates. Bericht über den Verlauf der ersten Reisen der D.I.A.F.E. von 1904–1906, über deren Forschungen und Beobachtungen auf geographischem und kolonialwirtschaftlichem Gebiet, Berlin 1907 ; Emil Torday/Thomas A. Joyce : Notes ethnographiques sur les peuples communément appelés Bakuba, ainsi que sur les peuplades apparentées. Les Bushongo, Brüssel 1911. 303 Hans-Jürgen Heinrichs : Die fremde Welt, das bin ich. Leo Frobenius - Ethnologe, Forschungsreisender, Abenteurer, Wuppertal 1998, 46 ; Emil Torday : The New Congo Collection. In : The Museum Journal 4, 1913, H. 1, 14–30. Torday katalogisierte drei Monate lang die 2.000 Objekte, die die Philadelphia University von Frobenius gekauft hatte. Zu Frobenius’ Sammlungspraxis zuletzt Michaela Oberhofer : »Der Wert von Stroh, Eisen und Holz«. Leo Frobenius als Händler und Sammler. In : Jean-Louis Georgt/Hélène Ivanoff/Richard Kuba (Hg.) : Kulturkreise. Leo Frobenius und seine Zeit, Berlin 2016, 141–157.
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Abb. 34 Karte des multiethnischen Kuba-Königreichs, um 1880
1908 und 1909 im Auftrag des British Museum über 3.000 Gegenstände im Kongo, darunter 1.200 Objekte von den Bakuba.304 Neben der exzessiven Sammeltätigkeit von Frobenius und Torday,305 d. h. ihrer Aneignung der materiellen Kultur der »Anderen« für die im späten 19. Jahrhundert errichteten Völkerkundemuseen, generierten ihre Beobachtungen im ethnologischen Feld und ihre Beschreibungen der Kulturobjekte ein Wissen, das in die belgische Kolonialpolitik und -praxis Eingang fand. Ausdrücklich bereisten Frobenius und Torday das Kasai-Gebiet unter Nutzung der kolonialen Infrastruktur und mit logistischer und zum Teil auch finanzieller Unterstützung der Regierung des Freistaats Kongo und der mächtigen Kautschuk-Konzessionsgesellschaft Compagnie du Kasai.306 304 John Mack : Kuba Art and the Birth of Ethnography. In : Schildkrout/Keim, Scramble, 63–78, hier 66. 305 Siehe dazu Johannes Fabian : Curios and Curiosity. Notes on Reading Torday and Frobenius. In : Schildkrout/Keim, Scramble, 79–108 ; Markus Joch : Sammeln, forschen, erzählen, erzählen, erzählen. Leo Frobenius am Kongo-Kassai. In : Alexander Hunold/Oliver Simons (Hg.) : Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen/Basel 2002, 105–126. 306 Siehe die jeweiligen Danksagungen in den Vorworten der beiden Expeditions-Monographien von Frobenius und Torday und bei dessen Begleiter Melville W. Hilton-Simpson : Land and Peoples of the Kasai, London 1911.
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Bereits vor Sheppard, Frobenius und Torday war im Jahr 1885 der deutsche Stabsarzt Ludwig Wolf, Teilnehmer der Afrika-Expedition von Hermann Wissmann, der im Auftrag Leopolds II. die Kasai-Region und ihre möglichen Verkehrswege erkunden sollte, als erster Weißer für einige Wochen in die Peripherie des für Fremde verschlossenen Bushong-Gebiets mit mehr als 30 überwiegend bewaffneten Trägern, Dienern und Dolmetschern eingedrungen.307 Sein fast hymnischer Bericht über das Kuba-Königreich und die »hohe Culturstufe« seiner Bewohner und Bewohnerinnen setzte Ton und Urteil über die Bakuba auch für Wolfs spätere koloniale Nachfolger, wie der Afrika-Historiker Jan Vansina schreibt.308 Nicht zufällig entschied sich um 1920 die belgische Kolonialmacht für die Form indirekter Herrschaft allein im Kuba-Gebiet, wo der König zum »Angestellten« der Kolonialverwaltung mutierte.309 Die ästhetische Wertschätzung von Kuba-Artefakten und die Herleitung ihres besonderen Kunststils aus der altägyptischen Kultur, wie gemutmaßt wurde, diente – wie auch die Bewunderung der physischen Körpergestalt der Bushong – als ein Merkmal ihrer vermeintlichen »rassischen Überlegenheit« im innerafrikanischen Vergleich310 und stützte damit zugleich eine ethnische Definition und klassifizierende Abgrenzung. Ludwig Wolf, der bei den Bushong »auf allen Gebieten […] Leistungen (sah), welche alle die der bis jetzt berührten Völker weit in den Schatten stellten«311, galten auch die bestickten Raphia-Stoffe als Beleg für die postulierte überlegene und »einzigartige« Kultur der Kuba. So verlangte er beim gegenseitigen Austausch von Geschenken312 vom König – neben Waffen und Geräten – Matten und selbstgewebte Stoffe. Ihrer Beschreibung gab er im späteren
307 Wolf ’s Bericht, 200–264. Über Wissmans Expedition Johannes Fabian : Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001, u. a. 233–241, 263–264 ; Vansina, Being Colonized, 36–37, 39–43. 308 Vansina, Being Colonized, 44, nennt als wiederkehrendes Urteil : »A sophisticated ›feudal‹ kingdom, very conservative, opposed to all innovation, a peaceful but haughty people, great traders, indifferent farmers and the greatest artists and architects of central Africa«. 309 Ebd., 178–209. Ders., La survie du royaume Kuba. 310 Zu diesem Diskurs siehe David A. Binkley/Patricia J. Darish : »Enlightened but in darkness«. Interpretations of Kuba Art and Culture at the Turn of the Century. In : Schildkrout/Keim, Scramble, 37–62. 311 Wolf ’s Bericht, 254. 312 Wolf gab »bunte Zeugen, Perlen, Messing und Kauris [Muscheln = Schmuck- und Zahlungsmittel]«, in : Wolf ’s Bericht, 236. Er verließ das Bushong-Gebiet »reichbeschenkt mit Elfenbein, Waffen, Zeugen und Lebensmitteln« ; ebd., 255.
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Abb. 35 Erste Abbildung eines bestickten Raphia-Stoffs in Ludwig Wolf’s Bericht über seine Reise in das Land der Bakuba, 1888
Wissmann’schen Expeditonsbericht Im Inneren Afrikas einigen Raum und fügte die Abbildung eines bestickten Raphia-Stoffs ein (Abb. 35) : Das grobe Gewebe aus der Raphiafaser wird Mbale genannt und von den Männern gewebt, während das feine, bunte mit den verschiedenartigsten roth, schwarz und gelb gefärbten Mustern versehene Mpelle von den Frauen hergestellt wird. […] Mit im Lande geschmiedeten Nadeln werden die verschiedenartigsten Muster hineingenäht, die einzelnen Fäden dann auf dem Daumennagel kurz abgeschnitten und ausgefranst. Man kann die Geschicklichkeit nicht genug bewundern, mit der die einzelnen Zeichnungen ohne alle Vorlage auf der Mbala geschmackvoll und symmetrisch zum Ausdruck gebracht werden. Ebenso künstlerisch verfahren sie auch in der Anfertigung von Körben und Matten.313
Wolfs Aufzeichnungen und der Rumor über das verschlossene prächtige Kuba-Königreich war den beiden presbyterianischen Missionaren aus den amerikanischen Südstaaten, dem Euro American Samuel Lapsley und dem African American Wil313 Ebd., 244.
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liam Sheppard314, wohl vertraut, als sie vor dessen äußerer Grenze 1890 in Luebo am unteren Verlauf des Kasai, eine Missionsstation eröffneten. Die Begegnung dort mit königlichen Händlern der Kuba und deren »apparent superiority in physique, manners, dress and dialect«315 bekräftigte ihren Plan einer Expedition in das »Forbidden Land«316. 1892 brach Sheppard, »missionary-ethnographer-explorer«, wie ihn die Kunsthistorikerin Ramona Austin zutreffend charakterisiert hat317, mit sieben Begleitern dahin auf. Seine späteren mündlichen und schriftlichen Beobachtungen, Erlebnisse und Bewertungen seines viermonatigen Aufenthalts waren im Zeitkontext in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich – wie zunächst auch seine Aufnahme bei den Bushong. Sheppard war der erste Fremde überhaupt, der die Hauptstadt Nsheng betreten durfte. Dort wurde er als Reinkarnation eines königlichen Verwandten mit allem Pomp und allen Feierlichkeiten vom König und seinem Hof empfangen. »It was the most brilliant affair I had seen in Africa«, kommentierte Sheppard nachher.318 Beweggründe dafür mögen seine schwarze Hautfarbe, seine Beherrschung der Sprache, seine (vorgetäuschte) Ortskenntnis und sein schnelles Begreifen und Erfüllen der Regeln des formalen Hofzeremoniells und des Hoflebens sowie möglicherweise auch ein politisches Kalkül des Kuba-Herrschers Kot aMbweeky II. gewesen sein. Obwohl sich Sheppard gegen seine Zuschreibung als wiedergeborener hoher Kuba-Aristokrat verbal zur Wehr setzte, sein respektvolles und achtsames Verhalten gegenüber seinen Gastgebern wie seine Kühnheit bei der Jagd und in Gefahrensituationen machten ihn als solcher in Nsheng glaubwürdig. Sheppards Bewunderung der zentralistischen politischen Organisation, des Städtebaus, der Höhe der Handwerkskünste, der Kindererziehung, um nur einige der Punkte in seinem mehr ethnologisch beschreibenden als missionspropagandistisch geprägten Reisebuch Presbyterian Pioneers in Congo zu nennen, wird auch den Bushong nicht verborgen geblieben sein (Abb. 36). Er habe sich gefühlt, als ob er dort wieder ein »land of civilization« betreten habe, 314 Siehe die Sheppard-Biographien von Pagan Kennedy : Black Livingstone. A true Tale of Adventure in Nineteenth Century Congo, New York 2002, und von William E. Phipps : William Sheppard. Congo’s African American Livingstone, Louisville 2002. Sheppard wurde nach 1900 einer der zentralen Zeugen der Verbrechen des belgischen Kolonialregimes und wichtiger Gewährsmann der Congo Reform Association. 315 William Henry Sheppard : Pioneers in Congo, Louisville, o. J., 85 (= Reprint der Originalausgabe William H. Sheppard : Presbyterian Pioneers in Congo, Richmond 1917). 316 Sheppard, Pioneers, 87. 317 Ramona Austin : An Extraordinary Generation. The Legacy of William Henry Sheppard. The »Black Livingstone« of Africa. In : Afrique et Histoire 4, 2005, H. 2, 73–101. 318 Sheppard, Pioneers, 113.
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Abb. 36 William Sheppard mit seinem Freund, dem Bushong-Prinzen Maxamalinge, Photograph unbekannt
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bekannte Sheppard ein Jahr später, 1893, beim ersten Heimaturlaub vor begeisterten Studenten und Studentinnen des Hampton Normal and Agricultural Institute in Virginia.319 Das Hampton Institute, gegründet 1868, war eines der ersten höheren Lehranstalten nach dem Bürgerkrieg im Süden der USA für African Americans und Indian Americans. Sie sollten hier eine gewerbliche praktische Ausbildung erhalten und als Lehrer und Lehrerinnen »zivilisierend« in ihren lokalen »communities« wirken. Daneben schob sich in dieser Zeit der Reconstruction ein weiteres Moment in den Vordergrund, nämlich die Wertschätzung der eigenen Geschichte und Herkunft zu fördern.320 Hampton richtete bereits 1873 ein African Studies-Programm ein, in dem ethnologische Arbeitsweisen geübt wurden. Dazu gehörte die studentische Nutzung der Objekte eines curiosity rooms.321 In den 1890er Jahren wurde das Hampton Institute zum Sitz der Hampton Folklore Society, die die Traditionen und Lebensgewohnheiten der ehemaligen afrikanischen Sklaven in den USA und ihrer Nachfolgegeneration erforschen wollte.322 Die institutseigene Zeitung, der Southern Workman, druckte den Aufruf zur Bildung dieser Vereinigung im Dezember 1893 direkt vor die Wiedergabe von Sheppards Vortrag Into the Heart of Africa über seinen ersten Kongo-Aufenthalt.323 Sheppard, bereits berühmter Alumnus des Hampton Institute, der gerade in London zum Fellow der Royal Geographical Society ernannt worden war, wird diesem Vortrag viele weitere folgen lassen – in und weit jenseits seiner früheren Ausbildungsstätte. Zwar dienten seine Auftritte in den 1890er Jahren vorrangig dem Ziel, für die Southern American Presbyterian Church Gelder und Freiwillige für die Kongomission zu gewinnen. Sie vermittelten seiner großen überwiegend schwarzen Hörerschaft vor allem aber auch ein unvertrautes, neues positives Afrikabild, indem er sie mit den »highly civilized«324 Bushong bekannt machte. 319 William H. Sheppard : Into the Heart of Africa. In : Southern Workman 22, 1893, H. 12, 182– 187, hier 185. 320 Robert R. Morow : Hampton – Tuskegee. Missioners of the Masses. In : Alain Locke (Hg.) : The New Negro, New York 1997 (zuerst 1925), 323–333. 321 Mary Lou Hultgren/Jeanne Zeidler : A Taste for the Beautiful. Zairian Art from the Hampton University Museum, Hampton 1993, 13–26 ; Benedict Carton : From Hampton »into the Heart of Africa«. How Faith in God and Folklore turned Congo Missionary William Sheppard into a Pioneering Ethnologist. In : History in Africa 36, 2009, 53–86. 322 Shirley Moody-Turner : Black Folklore and the Politics of Racial Representation, Jackson 2013, 46–71. 323 Alice Baton : Folk-Lore and Ethnology. To Graduates of Hampton Normal School and Others Who may be Interested. In : Southern Workman 22, 1893, H. 12, 180–181. 324 Sheppard, Pioneers, 143.
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Wie bedeutsam dieser Aspekt war, machen die Erinnerungen von W. E. B. Du Bois, prominenter Protagonist einer zeitgleich entstehenden schwarzen Emanzipationsbewegung, an einen Vortrag von Franz Boas in der Historically Black Atlanta University 1906 deutlich : Few today are interested in Negro history because they feel the matter already settled : the Negro has no history. […] I remember my own rather sudden awakening from the paralysis of this judgement taught me in high school and in two of the world’s great universities. Franz Boas came to Atlanta University where I was teaching history in 1906 and said to a graduate class : You need not be ashamed of your African past ; and then he recounted the history of the black kingdoms south of the Savanna for a thousand years. I was too astonished to speak. All of this I had never heard.325
»The evidence of African ethnology«, hatte Boas vor den Studierenden ausgeführt, »is such, that it should inspire you with the hope of leading your race from achievement to achievement.« Er schilderte konkret historische Leistungen der vergangenen afrikanischen Königreiche und erklärte schließlich : Nothing, perhaps, is more encouraging than a glimpse of the artistic industry of native Africa. I regret that we have no place in this country where the beauty and daintiness of African work can be shown, but a walk through the African Museums of Paris, London and Berlin is a revelation. I wish you could see the scepters of African kings, carved of hard wood and representing artistic forms ; or the dainty basketry made by the people of the Kongo river and of the region near the great lakes of the Nile, or the grass mats with their beautiful patterns.326
Eine ohnehin völlig illusorische Reise in die europäischen Völkerkundemuseen konnten sich die Besucher und Besucherinnen von Sheppards Vorträgen sparen. Denn hier lernten sie unmittelbar Beispiele der Kunst des Kuba-Hofs kennen. Bei seinen Reden in den USA und in England präsentierte der Missionar seinem Publikum stets ausgewählte Stücke zur visuellen Unterrichtung ihres Gebrauchs und ihres Bedeutungszusammenhangs und im übergreifenden Sinn zur Illust325 W. E. B. Du Bois : Black Folk Then and Now. An Essay in the History and Sociology of the Negro Race, Oxford 2007 (zuerst 1939), Preface, XXXI. Du Bois bezieht sich auf Franz Boas : Commencement Address at Atlanta University, May 31, 1906, abgedr. in : Franz Boas Reader, 310–316. 326 Boas, Commencement Address, 312 f.
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ration der Schönheit des afrikanischen Erbes. Diesen Aspekt betonte Sheppard verschiedentlich : »The natives of Africa have a decided taste für the beautiful. They decorate everything.«327 Und wie zuvor Ludwig Wolf urteilte er über die Kuba : »Their knowledge of weaving, embroidering, wood carving and smelting was the highest in equatorial Africa.«328 Seine Nähe zur Kultur der Bushong in der einzigartigen Rolle eines königlichen Verwandten – vor der kolonialen Unterwerfung des Kuba-Reichs 1899–1900 und des niedergeschlagenen Aufstands der Kuba gegen den Freistaat Kongo 1904 – spiegelte sich in den Artefakten wider, mit denen er und seine Begleiter schwer beladen auf die Missionsstation in Luebo zurückgekehrt waren. Sheppard hatte sie u. a. mit Kaurimuscheln, einem der üblichen Zahlungsmittel vor Einführung der Geldwährung im Jahr 1910 gekauft, sie gegen kleine Spiegel und Glasperlen getauscht und auch als Geschenke erhalten, darunter »royal cups, a royal sceptre and a royal knife«.329 Bestickte Raphia-Stoffe, die einen Schwerpunkt seiner Sammlung ausmachten330 und deren Herstellungsprozess er detailliert beschrieb331, kamen jedes Mal bei seinen Vorträgen zum Einsatz (Abb. 37). Dass Sheppard sie als besondere Zeugnisse der künstlerischen Kreativität der Bakuba schätzte, macht die Wahl einer Matte aus Raphia-Plüsch deutlich, die er dem amerikanischen Präsidenten Grover Cleveland schenkte, der ihn 1893 empfing.332 Diese Geste wiederholte er 1905 bei seinem Besuch von Präsident Theodore Roosevelt.333 Als Sheppard 1911 nach zwanzig Jahren Kongomission in die USA zurückkehrte, übergab er dem Museum des Hampton Institute, dem früheren curiosity room, seine Sammlung von ca. 400 »African curios« – wie sie im Southern Workman bei der Vorstellung der Sammlung noch 1921 genannt wurden. Keinen Zweifel gab es hier jedoch über ihren Doppelcharakter als ethnologische Objekte und Kunstwerke. The collection »meets not only the requirements of the ethnologists, but those of the artist as well«. Die »extraordinary beauty« der vierzig Stoffe in der Sammlung wurde besonders herausgestellt : »every one of which has a different design, while many are of different weaves and patterns,
327 328 329 330 331 332 333
William Sheppard : African Handicrafts and Superstitions. In : Southern Workman 50, 1921, 401. Sheppard, Pioneers, 143. Sheppard, Handicrafts, 403. Austin, Generation ; Phipps, Sheppard, 82. Z. B. in Sheppard, Handicrafts, 407–408. Kennedy, Livingstone, 110 ; Phipps, Sheppard, 93. Rug and Pipe for Roosevelt. In : Washington Post. Daily Press v. 15.1.1905.
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Abb. 37 Bestickter Raphia-Stoff aus der Sammlung Sheppard
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some very old (one at least one hundred years) and done with most intricate and beautiful stitches«.334 Die Sheppard-Sammlung im Hampton Institute war nicht allein wegen des privilegierten Zugangs des protestantischen Missionars zum Hof der Bushong vor der endgültigen kolonialen Inbesitznahme ihres Kuba-Herrschaftsgebiets außergewöhnlich, sondern auch weil sie – zeitgenössisch einzigartig – zwei Aspekte verband : Sie repräsentierte zum einen für den Sammler Sheppard wie für die Besucher und Besucherinnen seiner Vorträge und des Hampton Museum das ästhetische kulturelle afrikanische Erbe. So feierte die Museumskuratorin des Hampton Institute die Neuzugänge mit den Worten : »To the negro it is a great aid to respect of race to find their ancestors capable of the taste and skill exhibited by the articles that had come from the hand of African men and women.«335 Zum anderen stellten die Kuba-Stücke in sehr praktischem Sinn eine Ausbildungsressource dar. Sie wurden nämlich zu Lehrzwecken aus den Museumsvitrinen herausgenommen und den Studentinnen des Hampton Institute zum Lernen in die Hand gegeben (Abb. 38).336 Während sich in Hampton die bestickten Raphia-Stoffe in der afroamerikanischen Wahrnehmung von exotischen Kuriositäten in künstlerische Zeugnisse einer großen afrikanischen Vergangenheit verwandelten, wurde fast zeitgleich 1897 die Exposition de l’Etat Indépendant du Congo als eine Sektion der Brüsseler Weltausstellung im Palais des Colonies im königlichen Park von Tervuren bei Brüssel eröffnet. Hier wurde der Kasai Velvet in einen ganz anderen Bedeutungsund Ausstellungskontext gestellt. Wie das Museum des Hampton Institute wollte auch diese Ausstellung, die 1898 verstetigt und Kern des Musée Colonial am gleichen Ort wurde, ein Lernoder Bildungsort sein – jedoch mit kolonialpropagandistischer und -legitima torischer Zielsetzung, nämlich »de faire un grand effort pour intéresser le peuple belge à l’œuvre coloniale et montrer au monde entier l’immense progrès réalisé par le jeune Etat Indépendant du Congo depuis sa fondation«337. Zu Letzte334 Editorial : Hampton’s African collection. In : Southern Workman 50, 1921, 388, auch für das vorangegangene Zitat. 335 Die Kuratorin des Hampton Institute Museum 1911, zit. in Jeanne Zeidler/Mary Lou Hultgren : »Things African Prove to be the Favorite Theme.« The African Collection at Hampton University. In : Art/artifact. African Art in Anthropology Collections, hg. v. The Center for African Art, New York 21989, 97–111, hier 103. 336 Zeidler/Hultgren, Things ; Dies., Taste ; Austin, Generation. 337 […] große Anstrengungen zu unternehmen, das belgische Volk für das koloniale Werk zu interessieren und der ganzen Welt die enormen Fortschritte vor Augen zu führen, die der junge
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Abb. 38 Eine Hauswirtschafts-Klasse des Hampton Institute arbeitet mit den Kuba-Stoffen der Sheppard Sammlung, um 1920
rem zählten die Ausstellungsverantwortlichen Erfolge bei Leopolds sogenannter humanitärer Anti-Sklaverei-Aktion und grundsätzlich bei der »zivilisatorischen Mission« in Zentralafrika. Zudem und vorrangig sollten und wurden die materiellen Ressourcen im Freistaat Kongo (wie Elfenbein, Kautschuk, Tropenhölzer) als auszubeutende Quellen für belgische nationale und private Unternehmen präsentiert sowie die Möglichkeiten neuer, lukrativer Exportmärkte vorgeführt und zwar in der Gestalt gewerblich-industrieller (Welt-)Ausstellungen.338 Die Staat des Unabhängigen Kongo seit seiner Gründung unternommen hat.« So der Direktor der Ethnologischen Abteilung des Musée du Congo Belge (seit 1910 so benannt ; heute Königliches Museum für Zentralafrika) Joseph Maes : L’Ethnologie de L’Afrique Centrale et le Musée du Congo Belge. In : Africa. Journal of the International African Institute 7, 1934, H. 2, 174–190, hier 175 (Übers. durch Autorin). Siehe auch Sarah Van Beurden : Authentically African. Arts and the Transnational Politics of Congolese Culture, Athens 2015, 25–29. 338 Barbara Küster : Zwischen Ästhetik, Politik und Ethnographie. Die Präsentation des Belgischen Kongo auf der Weltausstellung in Brüssel. In : Cordula Grewe (Hg.) : Die Schau des Fremden. Zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft, Stuttgart 2006, 95–118 ; allgemein zu Weltausstellungspräsentationen Anke te Heesen : Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, 73–104.
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Schau der Rohstoffe und Produkte des Kongo in den Räumen Import, Export, Transport wurde komplettiert durch eine Saalflucht zur Ethnographie kongolesischer Ethnien. Ihre materiellen Kulturgegenstände wie Waffen, religiöse Artefakte und Gebrauchsgegenstände wurden nach geographischen Regionen, die den belgischen Verwaltungsdistrikten entsprachen, ohne Objektbeschreibungen größtenteils in ornamentaler Anordnung, d. h. in symmetrischen Mustern auf den Wänden platziert und auf kleineren Podesten ausgestellt. Dieses ästhetische Arrangement gab es zeitgenössisch auch in anderen ethnologischen Museen und Privatsammlungen. Außergewöhnlich war jedoch, dass die gesamte Ausstellungsgestaltung in Tervuren 1897 in den Händen der führenden Künstler der belgischen Art nouveau-Bewegung lag. Sie schufen die lebensgroßen Jugendstil-Skulpturen und -Skulpturengruppen, die Kongolesen und Kongolesinnen339 u. a. beim Fischen, Musizieren und Jagen darstellen sollten, malten die Wandfriese und fertigten das Ausstellungsmobiliar. Wie in der Revue des Arts décoratifs unterstrichen wurde, hatte Leopold II. an diese neue Kunsthandwerksbewegung appelliert, sein koloniales Unternehmen zu unterstützen, »pour faire pénétrer chez un peuple l’amour d’une colonie, pour faire connaître ses richesses naturelles, donner l’envie d’avoir recours à ses minerais, à ses bois, à ses étoffes«340. Die Ausstellung wurde ein großer Publikumserfolg mit über einer Million Besuchern und Besucherinnen und verschaffte dem belgischen Art nouveau mit seiner als Gesamtkunstwerk entworfenen Kolonialausstellung die gewünschte öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Die Historikerin Debora Silverman hat darüber hinaus eine intrinsische Verbindung von Ausdrucksformen des belgischen Art nouveau mit kolonialistischen und rassistischen Praktiken im Kongo ausgemacht.341 Unzweifelhaft ist, dass auf Seiten der Kunsthandwerks339 267 Kongolesinnen und Kongolesen wurden nach Belgien gebracht und in drei neu aufgebauten »Kongo-Dörfern« im königlichen Park von Tervuren wie in einem menschlichen Zoo ausgestellt ; sieben von ihnen starben an den Witterungsbedingungen. Siehe u. a. Maarten Couttenier : Brussels 1897, or the Universal Meets the Colonial. In : Human Zoos. The Invention of the Savage, hg. v. Pascal Blanchard/Gilles Boetsch/Nanette Jacomijn Snoep, Katalog Musée du Quai Branly, Paris 2011, 210-211. 340 »[…] um beim Volk die Liebe für die Kolonie einzupflanzen, deren natürliche Reichtümer bekannt zu machen, das Verlangen zu wecken, auf deren Mineralien, Wälder und Stoffe zu zugreifen.« V. Campier : L’exposition universelle de Bruxelles. L’art et l’industrie en Belgique. In : La Revue des Arts décoratifs, Paris 1897, zit. nach M. Luwell/M. Bruneel-Hye de Crom : Tervuren 1897, Brüssel 1967, 48 (Übers. durch Autorin). 341 Debora L. Silverman : Art Nouveau, Art of Darkness. African Lineages of Belgian Modernism. Part I. In : West 86th. Journal of Decorative Arts, Design History and Material Culture 18, 2011, 139–181 ; Part II. In : West 86th. Journal of Decorative Arts, Design History and Material Cul-
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Abb. 39 Der Ehrensaal der Ausstellung des Freistaats Kongo als Teil der Brüsseler Weltausstellung im Palais des Colonies im königlichen Park von Tervuren. Photo Alexandre, 1897
bewegung weder eine kritische Auseinandersetzung mit der bestehenden brutalen Kolonialherrschaft noch eine künstlerische mit den kongolesischen Artefakten, ihren Formen und ihren unterschiedlichen Stilen stattfand. Ein Beispiel dafür ist der Salon d’Honneur, durch den die Besucher und Besucherinnen die Ausstellung betraten. In diesem Saal zu Ehren aller Beteiligter am Kolonialunternehmen Leopolds II., der in Gestalt einer Elfenbeinbüste zugegen war, interpretierten belgische Art nouveau-Künstler mit ihren Arbeiten – zuvor mit Elfenbein aus dem Kongo versehen – den Sieg der Zivilisation über die Barbarei oder in anderer Lesart : der Kultur über die Natur unter der Selbstbezeichnung L’Art congolais.342 Eine kleinere Anzahl kongolesischer Artefakte war im Salon ture 19, 2012, 175–195 ; Part III. In : West 86th. Journal of Decorative Arts, Design History and Material Culture 20, 2013, 3–61. 342 Ausführliche Darstellung ebd.; Tom Flynn : Taming the Tusk. The Revival of Chryselephantine Sculpture in Belgium during the 1890s. In : Tim Barringer/Tom Flynn (Hg.) : Colonialism and the Object. Empire, Material Culture and the Museum, Routledge 1998, 188–204 ; Dominique Jarrassé : Art nouveau ou art congolais à Tervuren? Le musée colonial comme synthèse des arts. In : Gradhiva. Revue d’anthropologie et d’histoire d’arts, 2016/1, H. 23, 122–145.
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d’Honneur ebenso vertreten, die im Ausstellungsführer aufgeführt, auf den erhaltenen Photos indes nicht sichtbar sind. Ins Auge fallen jedoch die etwa hundert bestickten Raphia-Stoffstücke an den Saalwänden in kunstmusealer Bildhängung – dazwischen acht große Tapisserien der belgischen Art nouveau-Künstlerin Hélène de Rudder (Abb. 39). Damit rückten die überwiegend aus dem Kasai stammenden Stoffe in den Rang von Kunstwerken. Der Kolonialoffizier und Generalsekretär der Tervurener Ausstellung Leutnant Théodore Masui bekräftigte diesen Eindruck, indem er im Ausstellungsführer zu den Stoffen im Salon d’Honneur erklärte : L’imagination des artistes nègres est d’une fécondité extraordinaire ; à l’aide du losange, du triangle et des carrés, par un assemblage varié de ces figures géométriques, ils savent trouver tant et tant de compositions qu’ils déroutent les conceptions de nos décorateurs les plus inventifs.343
Der Anschein, kongolesische Kunst sei auf Augenhöhe mit Art nouveau-Werken angekommen344, relativiert sich durch die folgende Bemerkung von Masui. Man solle nicht in den verbreiteten Irrtum verfallen, zu meinen, die Neger ignorierten geschwungene und gebogene Ornamentmuster [wie sie prägend für den Art nouveau waren]. Aber es gebe nur wenige unter ihnen, die eine höhere künstlerische Stufe erreicht hätten.345 Für diesen Rang standen offenbar auch im zeitgenössischen kunsthistorischen Urteil346 die Tapisserien von Hélène de Rudder, die die Vergangenheit und die Zukunft des Kongo in Gegensatzpaaren aufriefen : Barbarei und Zivilisation, Fetischismus und Christentum, Sklaverei und Freiheit, Polygamie und Familie. Die auf vorgezeichnete Leinwand mit Seidenfäden aufgestickten Motive347 nahmen keinerlei Bezug auf Ornamentmuster der Bakuba oder überhaupt auf kongolesische Kunststile,348 sondern setzten 343 »Die Imagination der schwarzen Künstler ist von außergewöhnlicher Fruchtbarkeit ; mit Hilfe der Raute, des Dreiecks und des Quadrates, durch variierende Collagen dieser geometrischen Formen, gelingt es ihnen, so viele Kompositionen zu finden, die jenseits der Vorstellungskraft unserer erfinderischsten Dekorateure liegen.« Théodore Masui : Guide de la section de L’Etat Indépendant du Congo à L’Exposition de Bruxelles-Tervuren en 1897, Brüssel 1897, 8 (Übers. durch Autorin). 344 So die Ansicht von Couttenier, One speaks softly, 27. 345 Masui, Guide, 8. 346 Siehe Luwel/Brueel-Hye de Crom, Tervuren, 77–78. 347 Sie stammten von ihrem Ehemann Isidore de Rudder, einem Art nouveau-Künstler und maßgeblichen Gestalter der Ausstellung. 348 Darauf verweist auch Küster, Ästhetik, 103–105.
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das Fantasiebild eines vorkolonialen grausamen, wilden und zügellosen Afrikas in Kontrast zu den Errungenschaften seiner erstrebten »Zivilisierung« in Szene. Das Publikumsecho auf die Kasai-Stoffe, die letztlich als Wanddekoration für die Kolonialpropaganda-Schau des Ehrensaals fungierten, war offenbar zwiespältig. Ein Besucher lobte die Tapisserien de Rudders, weil sie »die Monotonie« der bestickten Raphia-Stoffe an den Wänden des Ehrensaals unterbrachen, während ein anderer den »Primitiven Zentralafrikas« einen »elementaren Begriff von Schönheit« zubilligte.349 Bei der Darstellung der Kasai-Region im hinteren Teil des Ausstellungsführers erklärte Masui zur Hängung der Kuba-Stoffe im Salon d’Honneur dann auch eher defensiv : Sie seien aufgrund ihres dekorativen Aussehens ausgewählt worden und auch als Warenmuster im Ethnographischen Saal zu sehen350 und verwies damit auf ihren Charakter als ethnologisches Objekt mit wachsendem ökonomischen Marktwert ; wohl nicht zufällig wählte Masui für sie die Bezeichnung »échantillon« (Warenmuster oder -probe). Wie und auf welchem Weg gelangte der Kasai Velvet nun an die Wände der Tervurener Kolonialausstellung von 1897? Ludwig Wolf und William Sheppard waren nicht die Einzigen, die seine ästhetische Qualität schätzten, die Stoffe sammelten und zeigten. Seit der imperialen Besitzergreifung des Kongo eigneten sich belgische Offiziere und Soldaten zumeist während militärischer Aktionen materielle Kulturgüter, darunter bestickte Raphia-Stoffe, als Trophäen an. Verwaltungs- und Faktoreipersonal, Kaufleute, Händler, Schiffskapitäne, Abenteurer und Missionare nahmen sie in unterschiedlichen Kontexten, z. B. im Zuge von Aneignungen von Naturressourcen, bei Zwangsumsiedlungen und Evangelisierungsaktivitäten, als exotische Erinnerungsstücke und Souvenirs mit zurück nach Belgien. Zugleich wuchs die Zahl von privaten Ethnologica-Sammlern und -Händlern in Brüssel und Antwerpen, die nie im Kongo gewesen waren.351 Schon für die Präsentation des gerade etablierten Freistaats Kongo auf der Welt ausstellung 1885 in Antwerpen waren sie ebenso wie alle Belgier, die sich im Freistaat aufhielten oder aufgehalten hatten, angesprochen worden, kongolesische Artefakte zu sammeln bzw. zur Verfügung zu stellen.352 Das Ergebnis war eine Anhäufung von Gegenständen, die keinerlei Angaben über ihren jeweiligen Herkunfts-, Bedeutungs- und Gebrauchskontext und über die Erwerbs 349 Siehe Couttenier, One speaks softly, 31. 350 Masui, Guide, 193. 351 Van Beurden : Authentically African, 37-40 : siehe auch das Kapitel »Collectors and Dealers« bei Corbey, Tribal Art Traffic, 37-53. 352 Couttenier, One speaks softly, 13–23.
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umstände lieferten. Das traf auch auf viele Artefakte der Tervurener Ausstellung von 1897 zu, für die im Vorfeld ein erneuter Sammlungsaufruf an »tous les anciens colonieux, agents, missionaires et pionniers de l’époque héroïque«353 ergangen war. Wie der Direktor der Ethnographischen Abteilung des Museums für Belgisch-Kongo, Joseph Maes, rückblickend feststellte : On comprend que les généreux donateurs et dévoués collaborateurs avaient songé avant tout, en récoltant des objets de la vie indigène à ramener en Europe, à leurs parents et à leur famille des souvenirs de ce pays lointain et mystérieux. En les offrant au Musée du Congo Belge, ils n’y ajoutèrent le plus souvent qu’une documentation très limitée et vague sur la signification sociale des objets, leur mode d’emploi, leur origine régionale ou leur provenance ethnique.354
Ein kleines Streiflicht auf Aneignungspraktiken der »ancien colonieux« wirft ein Artikel in der Zeitschrift Le Congo illustré. Voyages et travaux des Belges dans L’Etat Indépendant du Congo aus dem Jahr 1893 über Les tissus indigènes [Die indigenen Stoffe].355 Er basierte, wie der ungenannte Autor mitteilte, auf Informationen von M. F. De Meuse, der das gesamte Territorium des Freistaats durchquert und interessante Sammlungen mitgebracht habe. Neben der regionalen Verbreitung, Herstellung und zunehmenden Verdrängung der indigenen Stoffe durch die europäische Einfuhr von Baumwollstoffen – »c’est la loi fatale du progrès« – wurden darin auch die »wirklich bemerkenswerten« Plüsch-Stoffe vorgestellt, die – so der belgische Informant von Congo illustré – bei Begräbnissen von Würdenträgern als Leichentücher und für Grabbeigaben verwendet würden, damit sich der Verstorbene »umgeben von diesen Reichtümern im Königreich der Geister behaupten« könne. M. F. De Meuse erstrebte dies offensichtlich schon im irdischen Leben und wurde zum Grabräuber. Wie der Artikel berichtet, durchsuchte er die Grabstätte eines »grand chef« der Bassumba im 353 Maes, L’Ethnologie, 176. 354 »Es ist verständlich, dass unsere großzügigen Spender und engagierten Unterstützer beim Sammeln von Gegenständen des indigenen Lebens vor allem daran dachten, ihren Eltern und ihren Familien Erinnerungsstücke aus diesem weit entfernten und geheimnisvollen Land nach Europa mitzubringen. Als sie diese dem Museum für Belgisch-Kongo gaben, machten sie meistens nur sehr begrenzte und vage Angaben über die gesellschaftliche Bedeutung der Objekte, ihre Verwendung, ihre regionale Herkunft und ihre ethnische Herkunft.« Maes, L’Ethnologie, 178 (Übers. durch Autorin). 355 Les tissus indigènes. In : Le Congo illustré. Voyages et travaux des Belges dans L’Etat Indépendant du Congo 2, 1893, 202–203, 210–211, auch für die folgenden Zitate (Übers. durch Autorin).
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Dorf Bariku und grub die bestickten Raphia-Stoffe offenbar umstandslos wieder aus, in denen »zwei Jahre Arbeit [hinzuzufügen wäre : der Frauen] der gesamten Ortschaft« steckten. Der »Scramble for art in Central Africa«356 hatte also schon vor 1900 begonnen. Aus klarem politischem Kalkül beteiligte sich auch Leopold II. daran. Auf dem Höhepunkt der nunmehr auch regierungsoffiziellen britischen und amerikanischen Kritik an der Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik des Freistaats Kongo wies er sein Kolonialpersonal und seine Handelsagenten erneut an, für ihn zu sammeln und übergab 1907 dem American Museum of Natural History in New York 3.000 Artefakte aus dem Kongo, darunter eine große Anzahl von Kasai Velvet-Stoffen, für die dort geplante African Hall.357 Interessierten sich das belgische Kolonialpersonal, Kolonialpropagandisten und westliche Afrikareisende selbst also zunächst vorwiegend für zentralafrikanische Artefakte als Trophäen, Souvenirs und materielle Zeugnisse von Gesellschaften mit angeblich niedrigerer zivilisatorischer und religiöser Entwicklungsstufe, geriet zunehmend ihre ästhetische Qualität und damit ihr wachsender kommerzieller Wert mit in den Fokus (Abb. 40 u. 41). Bedeutungskontext und geographische und ethnische Herkunft der Artefakte waren für die kolonialen Interessenten jedoch, wie schon erwähnt, eher unwesentlich.358 Als Joseph Maes an dieses Problem aus der Perspektive eines Museumsdirektors im Jahr 1934 erinnerte, machte er sofort klar, dass es jetzt dank des Auftritts eines neuen (wissenschaftlichen) Akteurs im Kongo gelöst war. Nachdrücklich verwies er auf die Ethnologie, d.h. auf die Ethnologen, die ihr Wissen über kongolesische Artefakte als ihr Forschungsobjekt entscheidend über Sammlungs- und Forschungsreisen für Museen generierten. Maes konnte Mitte der 1930er Jahre auf diesem Feld eine beträchtliche Erfolgsbilanz des Musée du Congo Belge vorweisen.359 Nach der Jahrhundertwende, als die Stunde der sogenannten wissenschaftlichen Sammlungsexpeditionen schlug, initiierte und förderte Tervuren bzw. Leopold II. nämlich mehrere »wissenschaftliche Missi356 So der zutreffende Titel des Sammelbandes von Enid Schildkrout und Curtis Keim, Scramble. 357 Enid Schildkrout : Art as Evidence. A Brief History of the American Museum of Natural History African Collection. In : Art/artifact, 153–160 ; Dies.: Collecting in the Congo. The American Museum of Natural History Congo Expedition, 1909–1915. In : Dies./Curtis A. Keim : African Reflections. Art from Northeastern Zaire, Seattle/London 1990, 47–67 ; Robert H. Lowie : Industry and Art of the Negro Race. In : American Museum Journal XI, 1911, 12–19. 358 Mangelnde Kontextualisierung und Zuordnung charakterisierte auch die Objekte aus der Schenkung von Leopold II., siehe Schildkrout, Collecting, 50 ; Dies., Art as Evidence, 156. 359 Siehe Maes’ Überblicksartikel, L’Ethnologie.
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Abb. 40 In der Wohnung der Brüsseler Sammlerin und Kunsthändlerin Jeanne Walschot. Photo Germaine Van Parys, 1931 Abb. 41 Bestickte Raphia-Stoffe aus der Sammlung von Jeanne Walschot, ausgestellt im Museum für Belgisch-Kongo, Tervuren. Photo Germaine Van Parys, 1931
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onen« finanziell und unterstützte auch ausländische Wissenschaftler wie Emil Torday mit großem Ertrag für das belgische Kolonialmuseum. Zwischen 1910 und 1914 vergrößerte sich die Sammlung allein der ethnographischen Abteilung unter Maes um mehr als 200.000 kongolesische Objekte – »bien identifiés«.360 Warum waren Leopold II. und später die belgische Regierung so interessiert an der Förderung von ethnologischen Sammlungs- und Forschungsaktivitäten im Kongo? Tatsächlich ging es vordringlich nicht darum, Wissen über fremde Kulturen vor deren Auslöschung zu gewinnen, wie es die Vertreter der Salvage Anthropology beabsichtigten, oder vergangene Migrationsbewegungen zu rekonstruieren, wie die Jesup North Pacific Expedition. Ethnologie wurde recht umstandslos als angewandte Kolonialpolitik verstanden. »Sie ist die Wissenschaft, die Daten zur Psychologie der nicht-zivilisierten Völker erhebt, schriftlich festhält, klassifiziert und synthetisiert«, schrieb der belgische Ethnologe, Historiker und hohe Kolonialbeamte Edouard De Jonghe361 und führte weiter aus : »Die Ethnologie ist die Grundlage der ganzen wahren zivilisatorischen Aktivität« und sei Prävention gegen Missverständnisse, Zerwürfnisse und blutige Konflikte zwischen Kolonie und Mutterland, die aus der Unkenntnis der Mentalität der Indigenen und ihrer Sitten und Gebräuche erwüchsen.362 In diesem Sinn war es Aufgabe der Ethnologen, die zahlreichen Bevölkerungsgruppen in der Kolonie zu kategorisieren und sie in geographisch unterschiedene, politisch und administrativ beherrschbare kleinere Entitäten einzuteilen und damit zugleich Informationen über günstige Produktions- und Förderstandorte und (zwangs-)arbeitspolitische Maßnahmen zu liefern.363 Die Gründung des belgischen Bureau international d’ethnographie im Jahr 1905 gehörte in diesen Zusammenhang. Das Bureau wertete die vorliegenden Reise- und Missionsberichte aus dem Kongo aus und erstellte einen umfangreichen Fragebogen, der an alle belgischen Kolonialbeamte, Händler, Militärs und Missionare verschickt wurde. Zwischen 1907 und 1913 erschienen in seiner Reihe Collection des Monographies ethnographiques elf Bände, die jeweils eine Bevölkerungsgruppe in einer bestimmten Region thematisierten und je eine eigene abgeschlossene »tribale Identität«, eine besondere Mentalität und distinkte kulturelle Ausdrucksformen konstruierten 360 Ebd., 182. 361 De Jonghe war Direktor des belgischen Bureau international d’ethnographie und trat 1908 als Generalsekretär in das Kolonialministerium ein. Siehe Académie royale des sciences d’Outre-Mer (Hg.) : Biographie Belge d’Outre-Mer, Bd. VI, 1968, 551–560. 362 Edouard De Jonghe : L’activité ethnographique des Belges au Congo, 1908, zit. In : Maes, L’ethnologie, 174 (Übers. durch Autorin). 363 Schildkrout/Keim, Scramble, 31 ; Van Reybrouck, Kongo, 137–144.
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und festschrieben. Künstlerische Darstellungsweisen und -formen galten als ein wichtiges Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmal. David Van Reybrouck spricht von dem Aufbau einer kulturellen Mauer um die als autonom und kon stant entworfenen Ethnien,364 die in der vorkolonialen Gegenwart nicht nur geprägt von erheblichen Migrationsbewegungen waren, sondern auch in vielfältigen ökonomischen und kulturellen Austauschprozessen vor der Inbesitznahme des Kongo gestanden hatten. Das Tervurener Museum war zentraler Träger dieses kolonialpolitisch motivierten ethnologischen Unternehmens mit eigenen Forschungsaktivitäten und mit einer Schriftenreihe, den Annales du Musée du Congo (Belge). Publiées par le Ministère des Colonies. In der Unterreihe Anthropologie et ethnographie, Serie : Documents ethnographiques concernant les populations du Congo Belge erschien 1911 der Band Notes ethnographiques sur les peuples communément appelés Bakuba, ainsi que sur les peuplades apparentées. Les Bushongo von Emil Torday und seinem Koautor, dem Kurator des British Museum Thomas A. Joyce. Die Monographie war das Ergebnis der Expedition, die Torday von Oktober 1907 bis September 1909 zusammen mit dem Großwildjäger Melville W. Hilton-Simpson und dem Maler Norman H. Hardy im Auftrag des British Museum in das Kuba Königreich und seine Nachbargebiete unternommen hatte. Zehn Wochen hatten sich Torday und Hilton-Simpson in der Kuba-Bushong Hauptstadt Nsheng aufgehalten. Der Band wurde in der ethnologischen Fachwelt positiv aufgenommen und als erste ethnologische Beschreibung der Kuba gewürdigt. Zwar hatte Leo Frobenius schon vier Jahre zuvor sein Buch Im Schatten des Kongostaates über seine erste Afrikareise 1904 bis 1906 u. a. in das Kasai-Gebiet veröffentlicht, das jedoch mehr den Charakter eines Erlebnis- und Abenteurerberichts trug. Seine ethnographischen Resultate, Frobenius hatte sie in 19 Tagebüchern und 13 Notizbüchern niedergelegt, publizierte er selbst nicht.365 Tordays Notes ethnographiques erhielten ihren wissenschaftlichen »Ritterschlag« sowohl vom Kulturanthropologen Franz Boas, der den Band in seiner Rezension als »a contribution of first rank to our knowledge of African ethnology«366 lobte, als auch von dem Evolutionisten und Kurator des Pitt Rivers Museum 364 Ebd., 139. 365 Frobenius, Schatten ; Joch, Sammeln. 366 Franz Boas : Review of Notes ethnographiques sur les peuples communément appelés Bakuba, ainsi que sur les peuplades apparentées. Les Bushongo by E. Torday and J. A. Joyce. In : American Anthropologist 13, 1911, 478–480. Malinowski »placed him among the makers of modern ethnology« in seinem Nachruf, zit. in : John Mack : Emil Torday and the Art of the Congo, 1900–1909, Seattle 1991, 15.
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in Oxford, Henry Balfour, der ihm »new and important ethnological results«367 bescheinigte. Beide Rezensenten strichen besonders Tordays Ausführungen über die Kunst der Bakuba heraus. Boas würdigte, dass Torday die Bedeutungen und indigenen Namen für die textilen und (in Holz) geschnitzten Ornamentmuster ermittelt hatte, während Balfour schätzte, dass er ihre Evolution, Ähnlichkeiten und Mischformen untersucht hatte. Torday gab in seinen Notes ethnographiques der detaillierten Beschreibung von Ornamentmustern auf verschiedenen Trägermaterialien einiges Gewicht. So zeigte er ihre Besonderheiten, Verwandtschaften und wechselseitigen Entlehnungen bei unterschiedlichen »sous tribus« der Kuba und bei ihren benachbarten Ethnien der Bashilele und Bakongo auf. Zahlreiche Abbildungen im Text und farbige Bildtafeln dienten dazu, seinen Darlegungen Evidenz zu verleihen (Abb. 42). Torday unterrichtete seine Leserinnen und Leser zudem ausführlich über die arbeitsteiligen Herstellungsprozesse der gewebten und bestickten Raphia-Stoffe. Mit einer gewissen missbilligenden Verwunderung verwies er auf das mangelnde Zeitmanagement der Stickerinnen, nämlich auf den außerordentlichen Zeitaufwand für das Besticken eines Raphia-Stoffstücks. Die Zeit, so Torday, existiere jedoch nicht für die Indigenen : »[…] lorsqu’il entreprend un ouvrage il n’a aucune idée de le terminer dans un temps donné ou pour une date fixe.«368 Zeichen für die hohen geistigen Fähigkeiten der Bakuba sei jedoch, dass die Stickerinnen die Ornamentmuster allein aus dem Gedächtnis applizierten.369 Es sei sehr zu bedauern, dass diese Kunst, die unendliche Geduld und große Konzentration erfordere, gegenwärtig aussterbe, denn »even as a commercial proposition it would be worth reviving«,370 schrieb er später an anderer Stelle und nahm damit zukünftige Entwicklungen vorweg (Abb. 43).371 Grundsätzlich, befand Torday, sei die Angst vor der Leere ein charakteristisches Merkmal der Kunst der Bakuba und der benachbarten Ethnien der Bas367 Henry Balfour : Review of Les Bushongo by Torday/Joyce. In : Man 12, 1912, 45–48. Balfour, ausgebildeter Biologe, hatte 1893 The Evolution of Decorative Art. An Essay upon its Origin and Development Illustrated by the Art of Modern Races of Mankind, New York, veröffentlicht. 368 »[…] wenn dieser ein Werk beginnt, denkt er in keinster Weise daran, es innerhalb einer bestimmten Zeit oder für ein bestimmtes Datum fertigzustellen.« Torday, Notes ethnographiques, 15. 369 Ebd. 370 Emil Torday : On the Trail of the Bushongo, Philadelphia 1925, 208–209. 371 Elisabeth L. Cameron : Coming to Terms with Heritage. Kuba Ndop and the Art School of Nsheng. In : African Arts 45, 2012, H. 3, 28–41.
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Abb. 42 Bestickte Raphia-Stoffe der Bashoba (Bushong) und Bangongo. Tafel in Emil Tordays Buch über die Bakuba-Bushong, 1911
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Abb. 43 Bakuba-Stickerin, Aquarell von Tordays Reisebegleiter Norman H. Hardy
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hilele und Bakongo. Obwohl es auf manchen Gegenständen keinen Zoll gäbe, der nicht ornamentiert sei, wirkten diese dank des Gefühls der Kuba für Proportionen niemals überladen. Wesentliche Erkennungszeichen ihrer Ornamentierungen seien die Kühnheit und Sicherheit der Muster, konstatierte er. In dieser Hinsicht überträfen die Kuba ihre Nachbarn, deren Tendenz zu übertriebener Genauigkeit den ästhetischen Gesamteindruck ihrer Ornamentmuster mindere.372 Die bestickten Raphia-Stoffe der Bakuba seien oftmals von einzigartiger Schönheit (»d’une singulière beauté«) und erinnerten ihn an alte keltische Buchmalerei.373 Der Vergleich der Ornamentstile in Tordays ethnologischer Monographie ist durchsetzt mit begeisterten ästhetischen Urteilen über die Bakuba-Kunst. In einem Vortrag vor der Royal Geographical Society in London 1910 bekräftigte er, dass die Kuba eine »really pure African art« entwickelt hätten, »an art which must be ranked high even when judged by the standard of civilized peoples«.374 Die Zuhörer konnten sich zu diesem Zeitpunkt selbst von der Richtigkeit dieser Bewertung überzeugen. Das British Museum in London hatte schon vor Tordays Rückkehr einen Teil der zugesandten Artefakte gezeigt und 1910 eine Ausstellung seiner Kuba Collection eröffnet. Erstmals wurde ausschließlich die materielle Kultur einer afrikanischen Ethnie in Großbritannien ausgestellt.375 Die zahlreichen Artefakte, darunter eine große Auswahl von Raphia-Stoffen wurden als wissenschaftliche Objekte mit genauen Informationen über Vorbesitz, Bedeutung, Herkunftsort und mit indigenen Namen präsentiert. Doch nicht diese zeitgemäß moderne ethnologische Ausstellungsweise fand die größte Beachtung. Alfred C. Haddon, einer der führenden englischen Anthropologen, zeigte sich nach dem Besuch vielmehr erstaunt über die Kunst dieses »most civilized people of Central Africa«. Er fühlte sich aber bemüßigt anzumerken, dass die Bakuba ursprünglich von einem weißen Vorfahren abstammten.376 Sein Kollege Henry Balfour ließ dagegen seiner ungeteilten Begeisterung freien Lauf und soll hier ausführlich zu Wort kommen :
372 Torday, Notes ethnographiques, 208–209. 373 Ebd., 191. 374 Emil Torday : Land and Peoples of the Kasai Basin. In : The Geographical Journal 36, 1910, H. 1, 26–53, hier 34. 375 Mack, Torday, 16–19. Eine ausführliche Darstellung von Tordays Expedition ebd. 376 Alfred C. Haddon, Redebeitrag nach Tordays Vortrag über »Land and Peoples of the Kasai Basin«, 55.
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The art is so remarkable that it does really strike one as something quite new. We were prepared for it to a certain extent, because there have been a few specimens coming in sometimes. But when seen in bulk, I think that any one who visits Mr. Torday’s collection in the British Museum will feel immensely struck by the extraordinary artistic feeling which the natives of that region have developed. The patterns are intricate and wonderfully executed. […] The results are almost, if not quite, as striking as those which were revealed to us in the famous punitive expedition to Benin, when practically a new form of art was revealed to the world in the famous bronze castings of that region […] which show evident signs of European contact and influence. In the case of the patterns and descriptive designs in general of the Kasai region, […] it seems to me that those designs have been evolved in the country itself and in a native environment pure and simple.377
Tordays Monographie und die begleitende Ausstellung im British Museum verstärkte und etablierte endgültig die – von Wolf und Sheppard bereits formulierte – westliche Auffassung vom Kuba-Reich als einer alten, eigenständigen Hochkultur mit einer in Afrika einzigartigen Kunst »auf der Höhe zivilisierter Völker«. Diese Meinung teilten dann auch die belgischen kolonialen Machthaber, die den Kuba Selbstverwaltung zugestanden und ihnen damit in der kolonialen Ordnung Belgisch-Kongos einen vergleichsweise privilegierten Platz einräumten. Jan Vansina hat pointiert formuliert : »Torday’s work saved the Kuba kingdom, the effects of which are felt even today.«378 An diesem Ergebnis hatte König Kwet aPe ebenfalls erheblichen Anteil. Er verkaufte bzw. schenkte Torday und später anderen belgischen Staatsrepräsentanten einzigartige Gegenstände der höfischen Kultur der Bushong, unter anderen vier alte Königsstatuen (Ndop), die weltweit zu den bekanntesten zentralafrikanischen Kunstwerken wurden.379 Gaben, denen die Empfänger auf 377 Henry Balfour, Redebeitrag nach Tordays Vortrag über »Land and Peoples of the Kasai Basin«, 56. 378 Jan Vansina : Review of Emil Torday and the Art of the Congo, 1900–1909 by John Mack. In : The Journal of African History 33, 1992, H. 2, 334–335, hier 335. Siehe auch ders., Being Colonized, 182–183. Vansina weist ebenfalls darauf hin, dass Tordays Buch für die lokalen Kolonialadministrationen eine wichtige Orientierung darstellte ; ebd. 379 Ebd., 111 ; Mack, Torday, 17, 71–72 ; Tordays Begleiter Hilton-Simpson, Land, 209, kommentierte : »It may seem rather like vandalism to deprive the Bushongo people of the statues to which such importance is attached – it seemed so to us at the time – but when one remembers that the respect with which they are regarded will, as the inevitable change in native customs and beliefs following upon the introduction of European ideas gradually spreads over the dark continent, slowly perhaps, but surely fade away until the statues, if left at the Mushenge would have come to
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gleicher Ebene nichts entgegensetzen konnten, und die Kwet aPe wohl nicht machte, weil er Tordays Beteuerungen, die Ndop seien im British Museum sicherer aufgehoben und ewige Zeugen der großen Geschichte seines Volkes Glauben schenkte380, sondern weil er sich angesichts des gerade zuvor niedergeschlagenen Kuba-Aufstands über die belgische Machtüberlegenheit im Klaren war und sich der Unterstützung von Torday und von belgischen Staatsvertretern gegen die Agenten der sein Gebiet beherrschenden Compagnie du Kasai versichern wollte, was ihm auch gelang.381 Gut ein Jahrzehnt nach der Präsentation von Tordays Sammlung im British Museum wurde im New Yorker Brooklyn Museum 1923 eine Ausstellung mit dem Titel Primitive Negro Art, chiefly from the Belgian Congo eröffnet. Unter der programmatischen Bezeichnung »Negro Art« hatten seit den 1910er Jahren private Sammler in Europa und den USA wie Alfred Stieglitz und Maurice de Zayas afrikanische Plastik in ihren Galerien als ästhetische und formale Kunstwerke gezeigt.382 Erstmals stellte nun ein Museum neben Plastiken auch Masken, Musikinstrumente, Möbel, Alltagsgegenstände und in größerer Zahl Textilien als Kunstwerke aus. Der Kurator und Leiter der ethnologischen Abteilung des Museums Stewart Culin erklärte im Katalog : The entire collection, whatever may have been its original uses, is shown under the classification of art ; as representing a creative impulse, and not for the purpose of illustrating the customs of the African peoples.383
be looked upon as valueless, one cannot help thinking that it is better that such objects should be permanently preserved in a place where they are appreciated, and where they run the smallest risk of damage or destruction.« Zur Geschichte der Ndop siehe Monni Adams : 18th-Century Kuba King Figures. In : African Arts 21, 1988, H. 3, 32–38. 380 Vansina, Being Colonized, 183 : »Torday had insisted that Kuba art was highly appreciated in Europe that museums craved such objects, and hence that gifts of textiles and carvings to foreigners from oversea were highly appreciated. By his behavior he also proved that the rare official royal statues of former kings were supergifts, the richest possible things that the Kuba court could bestow. From then on Kwet aPe and his successors gave art objects of appropriate quality to all foreign visitors and especially to administrators for services rendered.« 381 Vansina, Being Colonized, 114–115. 382 Jean Louis Paudrat, Aus Afrika. In : Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. v. William Rubin, München 31996, 135–183. 383 Stewart Culin : Primitive Negro Art – Chiefly from the Belgian Congo. Ausst.-Kat. Department of Ethnology, Brooklyn Museum 1923, Introduction, unpag.
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Zum Erwerb der Kunstobjekte war der Ethnologe Culin nicht in den Kongo gereist, sondern nach Brüssel, London, Paris, Budapest, Wien und Berlin. Dort hatte er von Kunsthändlern und Sammlern wie Paul Guillaume in Paris »artis tic material« für die Afrika-Sammlung des Brooklyn Museum erworben ; unter anderen in Brüssel durch Vermittlung des Museums in Tervuren eine größere Anzahl von Bushong-Artefakten für 25.000 Franken von einem früheren belgischen Kolonialoffizier, die zum Kern seiner »Primitive Negro Art«-Ausstellung wurden.384 Von Beginn an beabsichtigte Culin, die Afrika (Dauer-)Ausstellungen der großen nordamerikanischen und europäischen Museen mit seiner Präsentation zu übertreffen, zum einen »in point of artistic distinction«385 mit dem Nebeneffekt, damit auch mehr öffentliches Interesse an African Studies zu wecken.386 Zum anderen sollte die geplante Ausstellung den – so Culin – unbedingt notwendigen Anreiz für einen neuen kreativen Aufschwung in der amerikanischen Designindustrie einläuten. »I shall show new textiles, furniture, paintings and costums inspired by the art of the Congo«, teilte er dem amerikanischen Anthropologen Frederick Starr im Vorfeld der Ausstellung mit.387 In Zusammenarbeit mit M. C. D. Crawford, dem Design-Editor der Fairchild Publications und Herausgeber der Zeitschrift Women’s Wear. Daily Fashion News and Ideas, gelang es Culin, fünf New Yorker Textilunternehmen zu gewinnen, einen besonderen »Congo cloth« zu kreieren und Damenkostüme, Kleider, Sportbekleidung und Decken mit an Bushong-Ornamentik angelehnten Mustern und Stickereien herzustellen (Abb. 44).388 Parallel zur »Negro Art«-Ausstellung zeigte Bonwit Teller & Co »Congo cloth«-Sportkleidung in einem Schaufenster in der Fifth Avenue, für dessen Dekoration Culin bestickte Raphia-Stoffe und einige Holzplastiken aus dem Kongo auslieh.389 Gleichsam spiegelbildlich platzierte er wiederum amerikanische »Congo Cloth«-Textilien in seiner Ausstellung zwischen die zentralafrika384 Brief von Culin an H. Stutzer vom 3.10.1922 ; Brief von Culin an den Direktor W. H. Fox vom 3.10.1922. In : Brooklyn Museum Archives (BMA) : Culin Archival Collection, African Art Exhibition of 1923, Correspondence. 385 Brief von Culin an Walter Crittenden vom 24.4.1922, ebd. 386 Brief von Culin an Joseph Maes vom 16.11.1922, ebd. 387 Brief von Culin an Fredrick Starr vom 19.3.1923, ebd. 388 Im Ausstellungskatalog (Primitive Negro Art) werden diese Firmen sowie eine (Kongo-)Hutmacherin und eine (Kongo-)Puppenmacherin unter den Leihgebern genannt. Siehe auch die Korrespondenz zwischen Culin und Crawford in BMA, Culin Archival Collection. 389 Culin an I. R. Parsons am 13.3.1923 ; Culin an Miss Hamburger am 19.4.1923. In : BMA, Culin Archival Collection.
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Abb. 44 Zeichnung eines Schaufensters des New Yorker Textilunternehmens Bonwit Teller & Co. in Women’s Wear vom 14. April 1923
nischen Kunstwerke und knüpfte damit an Formen der Gewerbe- und Weltausstellungen an (Abb. 45). In einem Artikel für Opportunity. A Journal of Negro Life wies Stewart Culin 1925 – als ein Fazit seiner vergangenen Ausstellung – auf die große Bedeutung der Kunst der Bushong für die gewerblichen Künste und Branchen hin. Bekannt sei der Einfluss afrikanischer Kunst auf die zeitgenössische Avantgarde des Westens, jedoch : Less known and understood is the effect it had upon the industrial arts, upon pattern making, upon so-called decorative art. […] Mostly occupied with the textile patterns,
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Abb. 45 Ausstellungsansicht »Primitive Negro Art, chiefly from the Belgian Congo«, 1923. Die beiden Decken im Vordergrund sind amerikanische »Congo cloth«-Textilien, an der Wand bestickte Raphia-Stoffe der Bushong
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I have seen their adoption by the French and American textile industries following the display of raffia embroideries in the Brooklyn Museum in the spring of 1923. […] The sober elegance of those patterns in which the color schemes of the negro fabrics, black, ecru, and brown were repeated, will remain the most notable of present-day accessions.390
Bereits im August 1923 hatte Opportunity unter dem Titel The Creative Art of Negroes eine längere Besprechung der »Negro Art«-Ausstellung veröffentlicht, die ein Interview des Chefredakteurs Charles S. Johnson mit Culin aufnahm.391 Die Zeitschrift, herausgegeben von der National Urban League, galt als ein Sprachrohr der Harlem Renaissance, einer kulturellen Bewegung schwarzer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterschaffender, Musiker, Tänzer und bildender Künstler und Künstlerinnen in den 1920er und 1930er Jahren mit dem Ausgangspunkt in Harlem. Ihr Entwurf eines »New Negro« und einer modernen genuin »African American Art« suchte auch einen neuen Zugang zum afrikanischen Erbe zu finden.392 Culins Ausstellung, die zeitlich mit dem Beginn der Harlem Renaissance zusammenfiel, war dafür von großer Wichtigkeit. Bis jetzt habe – so argumentierte der ungenannte Autor393 in Opportunity – sein Land der afrikanischen Kunst wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ihre sichtbar große Ausdruckskraft und Gestaltungsvielfalt schienen nicht in das herrschende Bild von Persönlichkeitsmerkmalen der »Negroes« zu passen. Es sage wenig aus, dass das Museum of Natural History und das Smithonian Institute in Washington wertvolle Sammlungen afrikanischer Kunst besäßen. »Those are tagged and catalogued precisely enough, but meaninglessly. They are curiosities rather than art, relics of a dead past rather than symbols of the life of a living race.«394 Erst Steward Culin, lobte der Rezensent, habe die Werke afrikanischer Kunst mit Leben und Bedeutung erfüllt und dem Glauben an die kreativen Fähigkeiten von Schwar390 Maschinenschriftliches Manuskript von Culin mit handschriftlichem Zusatz »Written for Opportunity«, datiert 14.4.1925. In : ebd. 391 (Charles S. Johnson) : The Creative Art of Negroes. In : Opportunity. A Journal of Negro Life 1, 1923, H. 8, 240–245. 392 Für einen ersten Überblick siehe Rhapsodies in Black. Art of the Harlem Renaissance. Ausst.-Kat. Hayward Gallery und Institute of International Visual Arts, Berkeley/Los Angeles/London 1997. 393 Wahrscheinlich der Chefredakteur Charles S. Johnson, der auch das Interview mit Culin führte und in Kontakt mit ihm blieb, siehe die Korrespondenz in BMA, Culin Archival Collection. 394 Creative Art, 240.
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zen neue Geltung verschafft. Eine Quelle der Inspiration könnten sie vor allem auch für die zeitgenössischen afroamerikanischen Künstlerinnen und Künstler sein. »For the present day art of Negroes in America either follows very closely the patterns of a culture which is, in a sense, alien to Negroes, as they are by common judgement classed, or adapts this pattern to special exigencies of their American status.«395 Culins Ausstellung stieß auf ein breites Interesse im Umkreis der Harlem Renaissance noch Jahre nach ihrer Schließung im Mai 1923. Verbände wie das Colored Commitee der Young Women’s Christian Association, die Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People, Galerien wie die Memorial Art Gallery in Rochester anlässlich ihrer »Negro Culture Week« und Einzelpersönlichkeiten wie der Philosoph und Literaturkritiker Alain Locke erbaten von Culin Vorträge, schriftliche Beiträge oder Unterstützung bei ihren Kunstaktivitäten und oftmals auch Leihgaben von afrikanischen Kunstobjekten aus der Brooklyn Sammlung.396 Diese erfragte zum Beispiel eine Vertreterin des Harlemer Tri-Arts-Club für einen von ihr organisierten Vortrag von Alain Locke über »African Negro Art« in der New Yorker Public Library. Sie machte dabei die Verbindung der African Americans mit der afrikanischen Kunst deutlich : »Is it asking too much of you to share some of your treasures with the descendants of their creators?«397 Was dieses Erbe konkret für die schwarzen Künstlerinnen und Künstler in den USA beinhaltete, diskutierte Locke unter anderem in der zentralen Anthologie der Harlem Renaissance The New Negro, die er 1925 herausgab. The African spirit […] is at its best in abstract decorative forms. Designs, and to a lesser degree, color, are its original fortes. It is this aspect of the folk tradition, this slumbering gift of the folk temperament that most needs reachievement and reexpression. And if African art is capable of producing the ferment in modern art that it has, surely this is not too much to expect of its influence upon the culturally awakened Negro artist of the present generation.398
Die mit geometrischen, abstrakten Ornamenten bestickten Raphia-Stoffe der Kuba-Bushong erlebten im hier untersuchten Zeitraum mehrere Transformatio395 Ebd. 396 Siehe die Korrespondenzen in BMA, Culin Archival Collection. 397 Brief von Louise R. Latimer an Stewart Culin vom 3.6.1924. In : BMA, Culin Archival Collection. 398 Alain Locke : The Legacy of the Ancestrial Arts, in : Ders., New Negro, 254–267, hier 267.
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nen und Neuinterpretationen in unterschiedlichen Verwendungskontexten. Von ihrer Bedeutung als distinkte höfische Zeremonialgüter im Kuba-Reich wurden sie Ende des 19. Jahrhunderts zu Trophäen und Souvenirs für das belgische Kolonialpersonal und zu Waren in einem wachsenden internationalen Ethnologicaund Kunstmarkt. Sie waren Wanddekoration und »primitive« Gegenstücke zu den Art nouveau-Tapisserien im Ehrensaal der Kolonialausstellung in Tervuren bei der Weltausstellung in Brüssel. Der schwarze Missionar William Sheppard brachte sie als ästhetische Zeugnisse eines afrikanischen »Land of Civilization« nach Amerika und zeigte sie seinem Vortragspublikum als Zeichen der künstlerischen Kreativität der Bushong. Sie verwandelten sich so einerseits in Gegenstände, die Auskunft über eine afrikanische Kultur gaben und andererseits in Kunstwerke, die mit der Bewunderung für die Leistung der afrikanischen Schöpferinnen auch Stolz auf die eigene Rasse vermitteln konnten. Der Kasai Velvet aus der Sheppard-Sammlung, seit 1911 im Museum des Hampton Institute, wurde zudem zur praktischen Ausbildungsressource für die Studentinnen der Hauswirtschaftsklassen des Instituts. Erstmals zeigte das British Museum 1910 die materielle Kultur der Kuba mit den Sammlungsergebnissen des Ethnologen Emil Torday in einer ethnologischen Ausstellung. Kongolesische Artefakte, damit auch die Raphia-Stoffe wurden zu Forschungsobjekten, über die ethnologisches Wissen generiert wurde. Torday klassifizierte ihre Ornamentierungen nach Besonderheiten, Verwandtschaften, wechselseitigen Entlehnungen und Veränderungen und ordnete sie den verschiedenen Ethnien und Untergruppen der Kuba zu. Der Ornamentstil als distinkte kulturelle Ausdrucksform wurde zu einem wichtigen Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmal und im Kontext der belgischen Kolonialpolitik zu einem der Mittel, abgeschlossene tribale Identitäten zu konstruieren. Leopold II. machte die bestickten Kuba-Stoffe zu einem weiteren kolonialpolitischen Instrument, als er sie zusammen mit anderen kongolesischen Artefakten im Wert von 1,5 Millionen Dollar auf dem Höhepunkt der internationalen Kritik am Freistaat Kongo dem American Museum of Natural History für dessen geplante African Hall schenkte. Mit gänzlich anderen Absichten wandte auch der König der Kuba diese Gabenpolitik gegenüber belgischen Staatsvertretern an. Explizit als Kunst und nicht als ethnologisches Objekt stellte der Kurator des Brooklyn Museum 1923 den Kasai Velvet aus. Ebenso ausdrücklich dachte er der großen gezeigten Anzahl der Kuba-Stoffe eine wirtschaftliche Aufgabe zu. Ihre Ornamentmuster sollten als Anregung und Vorlage für amerikanische Designer und die Textilindustrie dienen. Eine weitere Interpretation kam von der Harlem Renaissance. Die Brooklyner Ausstellung Primitive Negro Art, chiefly from the
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Belgian Congo war für sie Ausdruck und Beweis für die kreativen Fähigkeiten der »Negro race«, die dem vorherrschendem Bild in den USA widersprachen. Das afrikanische Kunsterbe könnte zudem Inspiration für die afroamerikanischen Künstlerinnen und Künstler sein, wünschte Alain Locke, der zu dessen Essenz feststellte : »The African spirit is at its best in abstract decorative forms«.
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Bildnachweis
Abb. 1 : Felix von Luschan : Beiträge zur Völkerkunde der deutschen Schutzgebiete, Berlin 1897, Tafelanhang, Tafel XXXII. Abb. 2 : Emil Stephan : Südseekunst. Beiträge zur Kunst des Bismarck-Archipels und zur Urgeschichte der Kunst überhaupt, Berlin 1907, 126, Abb. 101. Abb. 3 : Stephan, Südseekunst, Tafelanhang, Tafel VIII. Abb. 4 : Alfred Kroeber : The Arapaho. In : Bulletin of the American Museum of Natural History 18, Part I, 1902, Tafel XVIII. Abb. 5 : Ruth Bunzel : The Pueblo Potter. A Study of Creative Imagination in Primitive Art, New York 1929, Tafel III. Abb. 6 : Courtesy of the Division of Anthropology, American Museum of Natural History, Catalogue No. Z/171. Abb. 7 : Archiv der Autorin. Abb. 8 : Archiv der Autorin. Abb. 9 : Leopold von Schrenck : Reisen und Forschungen im Amur-Lande in den Jahren 1854–1856, Bd. 3 : Die Völker des Amur-Landes. Ethnographischer Theil. Erste Hälfte, St. Petersburg 1891, Tafel XX. Abb. 10 : Courtesy of the Division of Anthropology, American Museum of Natural History, Catalogue No. 70/628. Abb. 11 : Courtesy of the Division of Anthropology, American Museum of Natural History, Catalogue No. 70/582. Abb. 12 : Album of the Yongzheng Emperor in Costumes, by anonymous court artists. Eins von 14 Blättern, Palastmuseum Peking. Wikimedia Commons [besucht am 3.9.2019]. Abb. 13 : John Tallis : The Illustrated Atlas, And Modern History Of The World Geographical, Political, Commercial & Statistical, Edited By R. Montgomery Martin, London/New York 1851, 804. David Rumsey Historical Map Collection. Abb. 14 : Berthold Laufer : The Decorative Art of the Amur Tribes, New York 1902, Tafel XII. Abb. 15 : Laufer, Decorative Art, Tafel XXXII. Abb. 16 : Laufer, Decorative Art, 45, Abb. 21. Abb. 17 : Laufer, Decorative Art, Tafel XXVIII.
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Bildnachweis
Abb. 18 : Laufer, Decorative Art, Tafel XXXIII. Abb. 19 : Sammlung Ethnologisches Museum Berlin, Ident. Nr. VIII NA 654. Mit freundlicher Genehmigung des Ethnologischen Museums Berlin. Abb. 20 : © Getty Images. Abb. 21 : The World Factbook 2016–17. Washington, DC : Central Intelligence Agency, 2016. Abb. 22 : Karl von den Steinen : Die Marquesaner und ihre Kunst, Bd. 1 : Tatauierung. Mit einer Geschichte der Inselgruppe und einer vergleichenden Einleitung über den polynesischen Brauch, Berlin 1925, 153, Abb. 100. Abb. 23 : Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 70, Abb. 30. Abb. 24 : Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 142, Abb. 84. Abb. 25 : Carl Bertuch : Bilderbuch für Kinder : enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Früchten, Mineralien … alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen und mit einer … den Verstandes-Kräften eines Kindes angemessenen Erklärung begleitet, Weimar 1813, Bd. 8, Tafel CLXXIV. Abb. 26 : Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, 103, Abb. 53. Abb. 27 : Von den Steinen, Marquesaner, Bd. 1, Buchumschlag. Abb. 28 : © Andreas Dettloff. Abb. 29 : © Dr. Galen R. Frysinger. Abb. 30 : Jörg »Monte« Klein : Mana. Die Geheimnisse der marquesanischen Tätowierung, Paderborn 2006, 95. Abb. 31 : Courtesy of the Division of Anthropology, Pacific Ethnographic Collection, American Museum of Natural History, Catalogue No. 80.1/7045. Abb. 32 : Archiv der Autorin. Abb. 33 : Giovanni Antonio Cavazzi und Fortunato Alamandini : Historische Beschreibung der in dem untern occidentalischen Mohrenland ligenden drey Königreichen, Congo, Matamba, und Angola, und der jenigen apostolischen Missionen, so von denen PP. Capucinern daselbst verrichtet worden, München 1694, Blatt zwischen 676 und 677. Abb. 34 : Jan Vansina : The Children of Woot. A History of the Kuba Peoples, Madison 1978, 8. Mit freundlicher Genehmigung der University of Wisconsin Press. Abb. 35 : Hermann Wissmann/Ludwig Wolf/Curt von François/Hans Mueller : Im Innern Afrikas. Die Erforschung des Kassai während der Jahre 1883, 1884 und 1885, Leipzig 1888, 245. Abb. 36 : © Presbyterian Historical Society, Philadelphia. Abb. 37, 38 : Courtesy of Hampton University Archives.
Bildnachweis
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Abb. 39 : Collection Royal Museum for Central Africa, Tervuren. Abb. 40 : © akg-images/ GermaineImage/ Germaine Van Parys. Abb. 41 : © akg-images/ GermaineImage/ Germaine Van Parys. Abb. 42 : Emil Torday/Thomas A. Joyce : Notes ethnographiques sur les peuples communément appelés Bakuba, ainsi que sur les peuplades apparentées. Les Bushongo, Brüssel 1911, Tafel XV. Abb. 43 : Emil Torday/Thomas A. Joyce : Notes ethnographiques sur les peuples communément appelés Bakuba, ainsi que sur les peuplades apparentées. Les Bushongo, Brüssel 1911, Tafel VIII. Abb. 44, 45 : Courtesy of the Department of Ethnology, exhibitions & installations, 1925–1927. Culin Archival Collection, Brooklyn Museum Archives.
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Personenregister
Balfour, Henry 135, 138 Bastian, Adolf 7, 47, 80 Benedict, Ruth 15, 32, 34, 35 Bertuch, Carl 93, 94 Boas, Franz 9, 11, 13, 15–18, 23, 25–27, 29–32, 35, 40, 42, 43, 45, 46, 50, 51, 58, 62, 66, 67, 69, 70, 77, 81, 121, 134, 135 Bogoras, Vladimir 42, 46, 48, 66 Brutti, Lorenzo 13 Bunzel, Ruth 15, 31, 32, 35 Burckhardt, Jacob 15, 16 Čechov, Anton 37–39 Cleveland, Grover 122 Conrad, Joseph 109 Crawfort, M.C.D. 141 Culin, Stewart 140–142, 144, 145 Dening, Greg 83 Dettloff, Andreas 98, 99 Dixon, Roland 27 Doyle, Arthur Conan 109 Du Bois, W.E.B. 121 Einstein, Carl 11, 110 Forster, Georg 90 Forster, Johann Reinhold 90 Fowke, Gerard 47 Frobenius, Leo 114–116, 134 Gell, Alfred 87 Gombrich, Ernst 13 Grasskamp, Walter 11 Grube, Wilhelm 46, 48 Grünwedel. Albert 46 Haddon, Alfred C. 9, 83, 138 Haeberlin, Herman Karl 31
Handy, Willowdean C. 77–79 Hardy, Norman H. 134, 137 Herder, Johann Gottfried 47 Hilton-Simpson, Melville W. 134, 139 Hochschild, Adam 110 Humboldt, Wilhelm von 47 Ivory, Carol 108 Jacobsen, Johann Adrian 18 Jesup, Morris K. 42, 56 Jochelson, Vladimir 42, 46, 48, 66 Jonaitis, Aldona 14 Jonghe, Edouard de 133 Johnson, Charles S. 144 Joyce, Thomas A. 134 Kahi, Tätowiermeister 93 Klein, Jörg „Monte“ 104 Koch-Grünberg, Theodor 20 Kot aMbweeky II. 118 Kroeber, Alfred 14–16, 27, 35, 60 Krusenstern, Johann von 88, 89, 92 Kuwahara, Makiko 106 Kwet aPe 139 Lamprecht, Karl 20, 31 Langsdorff, Georg Heinrich von 88, 89, 92 Lapsley, Samuel 117 Laufer, Berthold 9, 11, 37, 39, 40, 43, 46–51, 54–56, 58–60, 62–67, 69–72 Lazarus, Moritz 70 Leopold II. 109, 110, 116, 131, 133, 146 Lesser, Alexander 16 Lisiansky, Juri 90 Locke, Alain 145, 147 Loos, Adolf 73 Lowie, Robert 34, 72 Lumholtz, Carl 27
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Personenregister
Luschan, Felix von 8, 17, 47 Malinowski, Bronislaw 60, 84 Marchand, Suzanne 45 Maes, Joseph 131 Masui, Théodore 128, 129 Mead, Margaret 15 Meuse, M.F. de 130 Mühlmann, Wilhelm 80 Penny, Glenn H. 17 Pore 22 Radloff, Wilhelm 46 Ratzel, Friedrich 80 Riegl, Alois 20, 21, 30, 34, 66 Roosevelt, Theodore 122 Rudder, Hélène de 128 Schrenck, Leopold von 37, 38, 46, 52–54 Seler, Eduard 47 Selin 22 Semper, Gottfried 20, 25 Sheppard, William 11, 114, 116–122, 129, 139, 146 Silverman, Deborah 126 Starr, Frederick 141 Steinen, Karl von den 10, 11, 73, 76–80, 82–85, 87, 88, 90, 91, 93, 96, 97, 100–102, 106
Steinthal, Heymann 70 Stephan, Emil 21, 22, 27 Stieglitz, Alfred 140 Stocking, George W. 30 Tanakika, Tätowiermeister 93 Tetiarahi, Gabriel 98 Thomas, Nicholas 87 Tilesius, Wilhelm Gottlieb 90, 91, 106 Torday, Emil 11, 114–116, 133–135, 138–140, 146 Twain, Mark 109 Umlauff, Heinrich 114 Vaikau, Häuptling 85 Vansina, Jan 116, 139 Van Reybrouck, David 134 Weule, Karl 7, 31 Wissler, Clark 27 Wissmann, Hermann 116 Wolf, Ludwig 116, 117, 129, 139 Worringer, Wilhelm 31, 34 Wundt, Wilhelm 20, 31 Zach, Erwin Ritter von 43 Zayas, Maurice de 140
GESCHICHTE ALS TOURISTISCHE ATTRAKTION
Angela Schwarz | Daniela Mysliwietz-Fleiß (Hg.) Reisen in die Vergangenheit Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert TransKult, Band 1 2019. 424 Seiten, mit 44 s/w und 13 Farbabb., gebunden € 50,00 D | € 52,00 A ISBN 978-3-412-50780-0 Auch als E-Book erhältlich
Preisstand 1.1.2020
Die Vergangenheit ist wie ein fremdes Land, das man bereisen kann. Das Phänomen des Geschichtstourismus hat zwar eine lange Geschichte, aber erst ab dem 19. Jahrhundert boten neue Verkehrsmittel, verbesserte Infrastrukturen und nicht zuletzt auch steigende Einkommen die Voraussetzung dafür, Geschichte als Reiseziel massenmedial zu bewerben und schließlich ein Massenphänomen daraus zu machen. Die Autor/innen dieses Bandes nehmen verschiedene Stationen dieser Entwicklung in den Blick – romantische Reisen, heilige Orte, nationale Stätten, Schlachtfelder, Friedhöfe sowie andere dunkle Orte – und beschreiben, wie Geschichte als touristische Attraktion konstruiert und wahrgenommen wurde.
ZUR DEBATTE UM DIE RESTITUTION KOLONIALER KULTUROBJEKTE
Thomas Sandkühler | Angelika Epple | Jürgen Zimmerer (Hg.) Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit Beiträge zur Geschichtskultur, Band 40 2020. Ca. 488 Seiten, ca. 80 s/w-Abb. , gebunden ca. € 49,00 D | € 51,00 A ISBN 978-3-412-51860-8 Auch als E-Book erhältlich (August 2020)
Preisstand 1.1.2020
Mit der Forderung nach Restitution von Kunstschätzen kolonialer Provenienz werden grundlegende und äußerst komplexe Fragen nach der Gegenwart der Vergangenheit aufgeworfen und das in ethischer, wissenschaftlicher, politischer, juristischer und ästhetischer Hinsicht. Sie betreffen nicht nur Kunsthistoriker*innen und Museumsfachleute , sondern auch Kultur-, Wissenschaftshistoriker*innen, Jurist*innen und Geschichtsdidaktiker*innen, aber auch alle diejenigen, die die Museen besuchen. In diesem Band wird erstmals der Versuch unternommen, die geschichtskulturellen Dimensionen der Debatte auszuleuchten und einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen. Rund dreißig Autor*innen verdeutlichen, wie wichtig es ist, ein Kernstück der gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung um das Erbe des Kolonialismus von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten: Einfache Antworten gibt es nicht, und gerade in dieser Schwierigkeit liegt die besondere Aufgabe.