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German Pages [549] Year 2021
Christian Niemeyer
Nietzsches Syphilis – und die der Anderen
Eine Spurensuche VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823996
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Christian Niemeyer Nietzsches Syphilis – und die der Anderen
VERLAG KARL ALBER
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Christian Niemeyer
Nietzsches Syphilis – und die der Anderen Eine Spurensuche
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Christian Niemeyer Nietzsche’s syphilis - and the others’ A search for traces This book opens with an overview of Nietzsche’s medical history as well as a literature report with astonishing results: Preconceptions dominate, as can be observed with Nietzsche’s sister, but also with physicians from more recent times, who are looking for a prominent godfather, namely Nietzsche, for their favored clinical picture (I.). Hardly observable and therefore to be made up for here: a thorough rereading of Nietzsche’s most important works and letters. Findings, also astonishing: Nietzsche declined his syphilis and the concern for it subtextually in all conceivable facets (II.). His image of Luther and his position on the Renaissance (III.) are also affected by this, as well as the reconstructable proximity to French writers such as Gustave Flaubert, Edmond de Goncourt, or Guy de Maupassant (IV.). Finally (V.), starting with the case of Arthur Schnitzler, the significance of syphilis around 1900 and its change in meaning up to the Shoa with its – as in Hitler’s case – sexual-anti-Semitic motives. Conclusion: Assuming that Nietzsche had syphilis and knew about it, the coordinates for a discussion about Nietzsche and his Nazification must be completely redefined.
The Author: Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer, born 1952, educationalist and psychologist, is currently one of the leading Nietzsche researchers with numerous publications on Nietzsche (since 1994), among them, most recently, the essay: Nietzsche e a sífilis: o polêmico diagnòstica do Dr. Möbius. In: Cadernos Nietzsche 41 (2020), n. 1, p. 25– 61 as well as, with Karl Alber, the book: »Embark, philosophers!« Friedrich Nietzsche and the abysses of thought (2019).
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Christian Niemeyer Nietzsches Syphilis – und die der Anderen Eine Spurensuche Dieses Buch wird eröffnet mit einem Überblick zu Nietzsches Krankengeschichte sowie einem Literaturbericht mit erstaunlichem Ergebnis: Es dominieren Vorannahmen, wie bei Nietzsches Schwester beobachtbar, aber auch bei Medizinern aus neuerer Zeit, die für das von ihnen favorisiertes Krankheitsbild einen prominenten Paten, nämlich Nietzsche, suchen (I.). Kaum beobachtbar und deswegen hier nachzuholen: eine gründliche Relektüre der wichtigsten Werke und Briefe Nietzsches. Befund, gleichfalls erstaunlich: Nietzsche deklinierte seine Syphilis und die Sorge um sie subtextuell in allen nur denkbaren Facetten durch (II.). Auch sein Lutherbild und seine Stellung zur Renaissance (III.) sind hiervon betroffen, desgleichen die rekonstruierbare Nähe zu französischen Literaten wie Gustave Flaubert, Edmond de Goncourt oder Guy de Maupassant (IV.). Am Ende (V.) interessiert, ausgehend vom Fall Arthur Schnitzler, die Bedeutung der Syphilis um 1900 und deren Bedeutungswandel bis hinein in die Shoa mit ihren – so bei Hitler – sexual-antisemitischen Begründungsmotiven. Fazit: Gesetzt, dass Nietzsche Syphilis hatte und darum wusste, müssen die Koordinaten für eine Diskussion um Nietzsche und seine Nazifizierung gänzlich neu bestimmt werden.
Der Autor: Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer, Jg. 1952, Erziehungswissenschaftler und Psychologe, ist aktuell einer der führenden Nietzscheforscher mit zahlreichen Veröffentlichungen zu Nietzsche (seit 1994), darunter, zuletzt, der Aufsatz: Nietzsche e a sífilis: o polêmico diagnòstica do Dr. Möbius. In: Cadernos Nietzsche 41 (2020), n. 1, p. 25– 61 sowie, bei Karl Alber, das Buch: »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens (2019).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Hans Olde, Friedrich Nietzsche, Ölfarben auf Pappkarton, 1899 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49064-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82399-6
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Inhalt
Prolog
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Kapitel I Nietzsches Syphilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 31 1. Nietzsches Krankengeschichte – ein Problemaufriss . . . 37 2. Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht . . . . . . . . /1 Ola Hansson (1889/90): Das Damoklesschwert lautet auf: »Erbübel« (38) · /2 Hermann Türck (1891): Der Entrüstete (40) · /3 Heinrich Köselitz via Maximilian Harden (1893): Kein »Erbübel!« Ersatzweise: Schlafmittelmissbrauch plus Überarbeitung (45) · /4 Thomas Mann (1897): Der Dichter deutet an: Syphilis (46) · /5 Heinrich Köselitz (1900): Der zweitwichtigste entsorgt den wichtigsten Zeugen (48) · /6 Elisabeth Förster-Nietzsche (1900/04): Nietzsches Schwester gibt die Richtung vor: Es war ein Schlaganfall! (51) · /7 Thomas Mann (1900): Der Dichter deutet an: Syphilis (Teil II) (56) · /8 Paul Deussen (1901): Die Bordellgeschichte betritt die Bühne (58) · /9 Paul J. Möbius (1902): Syphilis plus Wahnsinn im Werk (60) · /10 Isabella von Ungern-Sternberg (1902): Kein Wahnsinn in der Schrift (68) · /11 Raoul Richter (1903): Kein Wahnsinn im Werk (69) · /12 Adalbert Düringer (1906/07): Der Entrüstete (Teil II) (70) · /13 Wilhelm Carl Becker (1908): Der »Entrüstete« (Teil III) (71) · /14 Raoul Richter (1908): Kein Wahnsinn in Ecce homo, zumal nicht in puncto ›Polengerücht‹ (73) · /15 Carl Albrecht Bernoulli (1908): Subtext einer Prozesses: Nietzsches Schwester ist verrückt (79) · /16 Heinrich Köselitz (1909): Der wichtigste Zeuge entdeckt, dass auch er betrogen wurde (81) · /17 Carl Albrecht Bernoulli (1910): Die Bordellgeschichte (oder etwas derart) findet einen unerwarteten AlibiZeugen: Paul Rée (84) · /18 Theodor Fritsch (1911/1915): Das ›Polengerücht‹ wird völkisch aufbereitet (84) · /19 Carl Gustav Jung (1912): Nietzsche warnte vor sich als Syphilitiker (86) · /20 Elisabeth Förster7 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Nietzsche (1912): Die Bordellgeschichte wird entsorgt, die neue Krankheitsmär lautet auf »Cholera« (87) · /21 Elisabeth FörsterNietzsche (1914) oder: Die Mär vom im Februar 1891 an auf dem Weg der Besserung sich befindenden Nietzsche als eine posthum gegen die Mutter gerichtete (95) · /22 Walter Vulpius (1923): Es war Syphilis, erworben im Dienst für’s Vaterland (98) · /23 Elisabeth Förster-Nietzsche (1924): Die Bordellgeschichte wird, von den Quellen her, entsorgt, des Gleichen der »Erbübel«-Verdacht (100) · /24 Karl Kynast (1925): Das ›Polengerücht‹ wird völkisch aufbereitet (Teil II) (102) · /25 Ernst Benda (1925): Die Bodellgeschichte wird erstmals mit der Syphilisdiagnose verknüpft (105) · /26 Brunold Springer (1926): Nietzsche war Syphilitiker – wie so viele andere Genies auch (105) · /27 Kurt Hildebrandt (1926): Nietzsches Schwester fälschte nicht – dennoch Syphils (106) · /28 Erich F. Podach (1930): Schwester fälschte, dennoch wohl eher keine Syphilis – wohl aber eine etwas schwer zu deutende Geschichte vom Pferd (in Turin) (107) · /29 Paul Cohn (1931): FörsterNietzsches willigster Helfer: Haschisch wäre eine Option, wenngleich … (110) · /30 Elisabeth Förster-Nietzsche (1931): Vom Winde verweht – ein wichtiger Brief, den ein bisher unbekannter Kronzeuge, »Don Enrico«, beinahe gerettet hätte, wenn nicht … (113) · /31 Heinrich Möller (1931): Nietzsche bestätigte die Bordellgeschichte gegenüber Heinrich Köselitz (115) · /32 Helmut Walther Brann (1931): Die Bordellgeschichte zieht ihre Spuren über Leipzig (1866) bis nach Nürnberg (1876) (116) · /33 Josef Hofmiller (1931): Förster-Nietzsches letzte Ausflucht: Die Simulationsthese (117) · /34 Reinhard Goering (1933): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (119) · /35 Gaston Vorberg (1933): Es war Syphilis, plus Psychopathie nach Art des ›Polengerüchts‹ (120) · /36 Hans Goebel (1935): Ein Lutheraner erkennt auf Schizophrenie – in durchaus eigennütziger Absicht (121) · /37 Karl Jaspers (1936): Vom Reden als Schweigen unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft (123) · /38 Heinrich Härtle (1937): Nazifizierung durch Entpsychiatrisierung (128) · /39 Erich F. Podach (1937): Nietzsche beglaubigte die Bordellgeschichte – und niemand, auch Podach nicht, merkt’s (129) · /40 Georges Bataille (1939): Entnazifizierung durch Normalisierung (131) · /41 Lutz Gelpke (1941): Der »echte« Nietzsche war Mr. Hyde, nicht Dr. Jekyll (131) · /42 Wilhelm Lange-Eichbaum (1945/46): Entnazifizierung durch Repsychiatrisierung (132) · /43 Thomas Mann (1947): Die Bordellgeschichte betritt die ganz große Bühne (134) · /44 Gottfried Benn (1950): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (Teil II) (136) · /45 Karl Schlechta (1958): Der Fall Nietzsche(s)
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als Fall der Schwester (137) · /46 Erich F. Podach (1961): Der Fall Nietzsche(s) als Fall der Schwester (Teil II) (138) · /47 S. F. Oduev (1971): Keine Entnazifizierung durch Repsychiatrisierung (140) · /48 Mazzino Montinari (1977): Das ›Polengerücht‹ taucht wieder auf und erweist sich als relevant für die Syphilisdiagnose (141) · /49 Volker Gerhardt (1978): Die Syphilisdiagnose als quantifizierbare (142) · /50 Rudolf Augstein (1981): Denn sie wussten, was sie taten, Nietzsche (der Denker), aber auch Hitler (der Täter) (144) · /51 Louis Corman (1982): Es war eine schizophrene Psychose (145) · /52 Günther Schulte (1982): Die Bordellgeschichte wird, als heteronormative, entsorgt (146) · /53 Wolfgang Harich (1987): Nietzsche hat nur simuliert (147) · /54 Joachim Köhler (1989): Die Syphilisdiagnose als werkanalytisch entschlüsselbare (147) · /55 Pia Daniela Volz (1990): Alles spricht für Syphilis – und ein Standardwerk! (149) · /56 Yrvin D. Yalom (1992): Die Nebensache, aus erzählerischem Ehrgeiz zur Hauptsache erklärt (153) · /57 Lutz Gentsch (1995): Nietzsche hat nur simuliert (Teil II) (154) · /58 Johannes Wilkes (2000): Nichts Genaues weiß man (ich) nicht (154) · /59 Klaus Goch (2000): Der Vater war krank – aber bitte: Keine Psychologie! (155) · /60 Richard Schain (2001): Syphilis als Legende – und als Ersatz gleich eine neue: Schizophrenie! (156) · /61 Timo Hoyer (2002): Keine Psychologie, kein Verzeihen! (163) · /62 Domenico Losurdo (2002/09): Keine Psychologie, kein Verzeihen! (Teil II) (164) · /63 Leonard Sax (2003): Es war Krebs (166) · /64 Deborah Hayden (2003): Nietzsche war Syphilitiker – wie so viele andere Genies auch (Teil II) (167) · /65 Anja Schonlau (2005): Nietzsche war Syphilitiker – wie so viele andere Genies auch (Teil III) (167) · /66 Christiane Koszka (2009/10): Es war MELAS (168) · /67 Malcolm Bull (2011): Keine Psychologie, kein Verzeihen (Teil III) (168) · /68 Helmut Koopmann (2012): Deussens Bordellgeschichte wird entsorgt (Teil III) (169) · /69 Tobias Dahlqvist (2012/14): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (Teil III) (171) · /70, 71 Roland Schiffter & Thomas Klopstock (2013): Es war kein MELAS (174) · /72 Reto Winteler (2014): Nietzsche hat nur simuliert (Teil III) (175) · /73 Martin Poltrum (2016): Nichts Genaues weiß man (ich) nicht (Teil II) (179) · /74 Werner Stegmaier (2016): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (Teil IV) (179) · /75 Jochen Schmidt (2016): Der Entrüstete (Teil IV) (181) · /76 Bernhard H. F. Taureck (2019): Keine Psychologie, kein Verzeihen! (Teil III) (183) · /77 N.N. (2020): Der Tag X ist da! (184) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
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Kapitel II Nietzsches Syphilis und Verwandte(s) in seinem Schrifttum . . . 189 1. Frühe Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 /1 Nietzsches Aufsatz Barmherzigkeit (1858) – ein Vatersuchmotiv, von seinem Ursprung her betrachtet und weiterverfolgt bis hin zu Ecce homo (1888/89) (193) · /2 Nietzsches Lied vom Tod in Aus meinem Leben (1858) im Vergleich zu jenem in Mein Lebenslauf (1861) (197) · /3 Nietzsches Leierlied von seiner Krankheit in Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867) im Vergleich zu jenen aus zeitgleichen Briefen, etwa einem vom 4. August 1865 an Carl von Gersdorff (205) 2. Werke (und Briefe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 /1 Menschliches, Allzumenschliches I u. II (1878–80) (221) · /2 Morgenröthe (1881) (230) · /3 Die fröhliche Wissenschaft (1882) (235) · /4 Also sprach Zarathustra I-IV (242) · /5 Jenseits von Gut und Böse (1886) (264) · /6 Zur Genealogie der Moral (1887) (271) · /7 Götzen-Dämmerung (1888) (275) · /8 Der Antichrist (1888) (278) · /9 Ecce homo (1888/89) (281) · /10 DionysosDithyramben (1888) (296) Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Kapitel III Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen, darunter auch einige Päpste, als Impuls für die Luther- wie Christentumskritik dieses Antichristen . . . . . . . . . . . . . 1. Nietzsches Amerika – eine »andere Welt«, die der Psychologie bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche . . . . . . 3. Luther als Syphilistheoretiker und Sexualpädagoge (im Vergleich zu Wichern und Nietzsche) . . . . . . . . 4. Über die Syphilis ausgewählter Renaissance-Päpste . . . 5. Über Oskar Panizzas Nietzsche-Überbietungsgeste in seiner Anti-Syphilis-Groteske Das Liebeskonzil (1894) . 6. Des Antichristen 6 Paragraphen, gelesen als Antwort auf Luthers 95 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel IV Nietzsche und die Syphilis (-Thematisierung) der »Anderen« . . 350 /1 Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): Der von Nietzsche verachtete Moralist und Erfinder des romantischen Liebesideals versagt in puncto (Safer) Sex (361) · /2 Stendhal (d. i. Henry Beyle [1783–1842]): Der von Nietzsche bewunderte Anti-Pädagoge und Erfinder des gegenrevolutionären Realismus versagt in puncto (Safer) Sex (368) · /3 George Gordon Noel Lord Byron (1788–1824): Nietzsches Mutmacher (372) · /4 Heinrich Heine (1797–1856): Nietzsches Leidensgenosse (374) · /5 Jules Amedée Barbey d’Aurevilly (1808–1889): Ein verdächtig gut informerter katholischer Moralist, auf den Nietzsche verdächtig gut zu sprechen war (375) · /6 Alfred de Musset (1810– 1857): Ein »Mensch des Augenblicks« (Nietzsche) (383) · /7 Charles Baudelaire (1821–1867) oder: »Le gout de la prostitution« (394) · /8 Gustave Flaubert (1821–1880) oder »La bêtise bourgeoise« (398) · /9 Edmond de Goncourt (1822–1896) und sein Bruder- und SyphilisRoman La Faustin (1881/82), gelesen aus Perspektive Nietzsches, eines »décadent« (409) · /10 Algernon Charles Swinburne (1837–1909): »Treten da sado-masochistischen Züge zutage?« (Ross) (421) · /11 Émile Zola (1840–1902): Ein Syphilisleugner als Nietzsches (Bestseller-) Idol (423) · /12 Guy de Maupassant (1850–1893): Nietzsche alter ego (432) · /13 Oscar Wilde (1854–1900): Der schönere Nietzsche mit dem zum Fin de Sècle passenden Tod (442) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Kapitel V Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie – eine Geschichte vom Typ »Gottes Werk und Teufels Beitrag« . . . . . . . . . . 1. Die Syphilis um 1900 – einige Schlaglichter auf eine sich anbahnende Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Fall Arthur Schnitzler oder: Über das mühsame Reden in puncto Syphilis unter den Bedingungen einer autoritären Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Fall Hermann Popert oder: Über eine lebensreformerisch-völkische Perspektive auf die Syphilis, an deren Ende der Verbrecher steht . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.
Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe, für die Hitler an sich hätte dankbar sein müssen . . . . . . . . . . . . . Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag« . . . . . . . .
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Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister
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Hinweis zur Zitation:
Nietzsches Werke werden zitiert nach römischen Ziffern, also: I–XV = KSA: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München 1988. Nietzsches Briefe werden zitiert nach arabischen Ziffern, also: 1–8 = KSB: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München 1986. Weitere Siglen zu Nietzsche: BAW = Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften. Bd. 1–5. Hrsg. v. H. J. Mette. München 1994. GBr = Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe. 5 Bände. Hrsg. v. E. Förster-Nietzsche u. a. 2. Aufl. Leipzig 1909. KGB = Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. Berlin, New York 1975 ff. NLex2 = Nietzsche-Lexikon. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Hrsg. v. Ch. Niemeyer. Darmstadt 2011. Weitere Sigle: JGG = Edmond de Goncourt / Jules de Goncourt: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851–1896. Erste vollständige deutsche Ausgabe in 11 Bänden nebst einem Beibuch. Hrsg. v. G. Haffmans. Leipzig 2013. Siglen zu weiteren Werkausgaben im Literaturverzeichnis nach dem jeweiligen Autorennamen.
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Prolog
»Macht Turnübungen, hält oft stundenlang seine Nase fest.« (Nietzsche lt. Jenaer Krankenjournal, 17. Juni 1889)
Die Intention des vorliegenden Buches erklärt am besten ein Blick in den Epilog meines letzten zu Nietzsche mit dem Titel »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens (2019). Hier heißt es (zitiert auch auf die Gefahr hin, der Eitelkeit verdächtigt zu werden): »Wer mich jetzt, am Ende dieses Buches und nach einem Vierteljahrhundert des Nachdenkens über Nietzsche, fragte, wer oder was mit der Vokabel ›Nietzsche‹ bezeichnet werde, bekäme wohl zur Antwort, es handele sich hierbei um einen Pastorensohn und genialen Philosophen, der die cartesianische Aufklärung im Zeichen des »Ich denke« zu ersetzen suchte durch eine neue, nietzscheanische Aufklärung im Zeichen des »Es denkt«. Und da es Nietzsche dabei nicht nur, wie nach ihm Freud, um die aktuell vielbeschworene Software ging, in Übersetzung geredet: um neue Wege zur nachträglichen Durchleuchtung eines als problematisch erkannten Geschehens, sondern um die Hardware, also um die grundlegende Vermeidung aller nur denkbaren Probleme mit dem Ergebnis eines fürderhin »richtigen Lebens« (Adorno), also einer so etwas wie Auschwitz grundlegend unmöglich machenden Lebensführung (vgl. Niemeyer 2019a: 26 ff.), wandelte sich Nietzsche angesichts der Vermessenheit dieser Zielsetzung zunehmend nicht nur in einen Gottes-, sondern auch in einen Menschenfeind und verlor am Ende darüber – nicht deswegen, wohlgemerkt – den Verstand, und zwar ganz in der Logik von Nietzsches nur mit Erschütterung zu lesenden legendären ›Wahnsinnszettels‹ an seinen Basler Kollegen Jacob Burckhardt vom 6. Januar 1889 aus Turin: »Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.« (8: 578 f.)
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Prolog
Zweck des vorliegenden Buches war es, unter Ausklammerung von Dokumenten dieser Art die zentrale Intention von Nietzsches Werk und die Wirkung desselben nachzuerzählen. Jener andere, in diesem Brief an Burckhardt sich offenbarende Abgrund des Geistes, der Nietzsche eigen war, inklusive der Frage, woher er rühren mag, macht ein weiteres, womöglich den Untertitel zum Haupttitel erklärendes Buch erforderlich.« (Niemeyer 2019: 429) Nun, wie man am Titel dieses Buches unschwer erkennen kann: Der Titel Friedrich Nietzsche und die Abgründe des Denkens hat sich nicht halten lassen. Vielmehr spitzte sich meine kritische Frage an Nietzsche im Laufe der Zeit zu auf nur einen Abgrund seines Denkens, die Syphilis, von der schon in jenem Epilog die Rede war, indem ich zwei Sprüche Nietzsches in ihrem Kontrast zueinander besprach: den für jenes Buch programmatisch hilfreichen von 1882: »Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (III: 530) Und den vom Sommer 1888: »Willst Du fliegen, willst du in Höhen heimisch sein: wirf dein Schwerstes in das Meer! Hier ist das Meer, wirf dich ins Meer! Göttlich ist des Vergessens Kunst!« (XIII: 557)
Mir schien seinerzeit, beim Schreiben jenes Buches – und mir schien beim Schreiben dieses seines ›Zwillings‹ –, dass sich dieser Imperativ im Vergleich zu jenem von 1882 verhält wie Wasser zu Feuer. Was also, so lautete meine Frage seinerzeit (vgl. Niemeyer 2019: 427 ff.), ist passiert zwischen 1882 und 1888? Was erklärt die 1888er Abkühlung, die Resignation Nietzsches? Denn anders als mit einer Vokabel wie dieser wird man sie ja wohl kaum belegen können – die nun, vor allem im Dionysos-Dithyrambus Die Sonne sinkt dominierende Einsicht (s. V.2/4), wie gefahrvoll die Erkundungsfahrt auf einem Schiff à la Nietzsche ist, gesetzt, das je zu befahrende Meer sei unter der Oberfläche mit Hindernissen alles Art ausgestattet, stammend von Mitreisenden, die, um »in Höhen heimisch sein« zu können, das ihnen »Schwerste« einfach ins Meer geworfen haben. Welches ›Schwerste‹ eigentlich? Meine damals angedeutete Antwort (Syphilis) kann nun, nach dem im Motto mitgeteilten Fund, kaum fraglich sein, womit ich beim wichtigsten Punkt dieses Prologs bin: beim, wie ich es abkürzend mal nennen will, ›Nasen-Notat‹. Entdeckt habe ich es im Herbst 2019 recht unspektakulär, nämlich am Schreibtisch, bei Durchsicht der Jenaer Krankengeschichte, aus der zuerst Erich F. Podach 1929 zitierte und dessen letzte, noch einmal 16 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Prolog
durchgesehene Fassung Pia Daniela Volz 1990 erstmals publizierte. Hier findet sich das auf den 17. Juni 1889 datierte Notat und von Volz von »Turnbewegungen« (zit. n. Podach 1930: 123) zu »Turnübungen« verbesserte Zitat: »Macht Turnübungen, hält oft stundenlang seine Nase fest.« (zit. n. Volz 1990: 401)
Ist derjenige, der hier beschrieben wird mit all seinen scheinbar sinnlosen Faxen, derselbe Nietzsche, der 1882 eroberungssüchtig ›auf die Schiffe‹ ging? Wohl kaum. Eher schon gemahnt er an den Nietzsche vom Sommer 1888, der vage darum ahnte, dass nur ›in Höhen heimisch‹ wird, wer zuvor erfolgreich sein ›Schwerstes‹ in das Meer geworfen hat – und der nun, ein Jahr später, weiß, dass das ›Schwerste‹ unaufhebbar präsent ist und nur mittels ›Turnübungen‹ wie der genannten einigermaßen in Schach gehalten werden kann. Bleibt die Frage: Auf welchen Namen lautet dieses ›Schwerste‹? Es ist nicht ersichtlich oder gar überliefert, dass das Jenaer Personal seinerzeit diesem Notat größere Bedeutung beimaß. Auch in der Nietzscheforschung fand es meiner Beobachtung zufolge kaum jemand weltweit bis auf den heutigen Tag der Beachtung wert. Dies gilt auch für jene, die vom Fach sind. Zu denken ist etwa an Christopher M. Owen, Carlo Schaller und Devin K. Binder. Sie meinten den Jenaern eine Art Vorentschiedenheit pro Syphilisdiagnose vorwerfen zu können (»the Jena records were made by persons who had paralysis [i. e., syphilis] in mind all the time«). Komplementär dazu gestanden sie ihren Vorrednern Leonard Sax (2003) und Richard Schain (2001) »powerful arguments« zu, »that Nietzsche did not have syphilis at all«, um selbstsicher und ganz im Sinn der Vorgenannten hinzuzufügen, »the actual event of Nietzsche’s presumed infection is known only through third-hand accounts at best.« (Owen / Schaller / Binder 2007: 628) Ist, zurückgefragt, ein Notat wie das eben zitierte aus dem Jenaer Krankenjournal eine ›third-hand-information‹? Oder stammt sie nicht vom Betroffenen selbst, muss also ernstgenommen und sorgsam interpretiert werden? Die Frage ist rhetorisch und richtet sich damit kritisch auch an die Adresse des Berliner Neurologen Roland Schiffter. Er ist der Einzige, der sich bisher für das ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889 interessierte – ein ernst zu nehmendes Interesse, ist doch Schiffter einer der engagiertesten Proponenten der Syphilisdiagnose. Umso auffälliger, dass er an jenem Notat nur das »stundenlang« für auffällig hielt, 17 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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unter dem Gesichtspunkt der sich darin aussprechenden »Stereotypie« (Schiffter 2013a: 72) – nicht aber auf die Idee kam danach zu fragen, was Nietzsche da eigentlich stundenlang festgehalten hat: eben die Nase, also exakt das Organ, um dessen Bestand ein auch nur ungefähr über die Syphilis informierter Patient damals als allererstes fürchten musste. Und dass Nietzsche dieser von Ärzten gefürchteten Patientengruppe der sich selbst Expertisierenden zugehörte, stellt beispielsweise Aph. 268 aus Der Wanderer und sein Schatten (1880) klar, auf den mich Micha Brumlik (2019: 14) aufmerksam machte und der mit den Worten beginnt: »Es jammert uns, wenn wir hören, dass einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem Andern die Augen erblinden.« (II: 668)
Was Nietzsche hier beschreibt, sind klassische, in der damaligen (Fach-) Literatur vielfach beschworene Syphilis-Folgen. Aber es wirkt auch ein wenig wie abgeschrieben von Nietzsches Idol jener Jahre, Voltaire, dem Nietzsche das Werk, aus dessen 2. Fortsetzung wir eben zitierten, dedizierte (vgl. Niemeyer 2016: 121 ff.) und dessen Romansatire Candide (1759) in Nietzsches persönlicher Bibliothek prominent vertreten ist. (vgl. Campioni et al. 2013: 635) Insoweit dürfte Nietzsche kaum entgangen sein, dass Voltaire das Mitleid seines Romanhelden mittels der folgenden Szene auf die Probe stellte: »Am nächsten Tag begegnete er auf einem Spaziergang einem Bettler, dessen Haut über und über mit Pusteln bedeckt war. Seine Augen waren erloschen, seine Nasenspitze abgefressen, und dazu hatte er einen schiefen Mund und schwarze Zähne. Er sprach mit heiserer Stimme, von heftigen Hustenanfällen unterbrochen, wobei er jedesmal einen seiner Zähne ausspie.« (SRE I: 290)
Kein Zweifel, wenn man Voltaires Candide im Kontext bedenkt, was wir im Folgenden noch tun wollen (s. III/4): Nietzsches Idol (ab 1878) redete hier von der Syphilis damals und deren schrecklichen Nebenfolgen – so wie auch Nietzsche in WM 268, nun für seine Zeit und, zugegebenermaßen, unter Ausklammerung der Nase. Aber dass Voltaires ›abgefressene Nasenspitze‹ ihm nicht aus dem Sinn gegangen sein dürfte, und zwar bis in den Januar 1889 hinein, ist keine gar so unwahrscheinliche Zusatzannahme, als dass man sie hier nicht vortragen und einfließen lassen könnte in einen Interpretationsvorschlag zum ›Nasen-Notat‹ wie den folgenden: Am 17. Juni 1889, dem Tag, von dem das ›Nasen-Notat‹ stammt, trug »des Vergessens Kunst«
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(XIII: 557), die Nietzsche noch im Sommer 1888 in Vorarbeiten zu den Dionysos-Dithyramben beschworen hatte (s. VI.2/10), nicht mehr. Folge: Angesichts des dem Pat. Nietzsche noch Ende März 1889 attestierten Krankheitsbewusstseins (vgl. Volz 1990: 397) bricht das bisher kunstvoll Verdrängte unvermutet durch und begehrt Mitspracherecht im Reich des Manifesten, etwa in Gestalt der entsetzten stillen Frage Nietzsches, die wir hier als Subtext des in Rede stehenden Eintrags vom 17. Juni 1889 meinen vorschlagen zu dürfen: »Oh Gott, es ist passiert, was ich lange schon befürchtet hatte, die Paralyse als schlimmste Folgeerscheinung meiner syphilitischen Infektion, ist ausgebrochen, und ich muss so gut es geht versuchen, der weiteren fatalen Entwicklung Einhalt zu gebieten!«
Wem diese lange Übersetzung des in Rede stehenden kurzen Einzeilers zu weit hergeholt scheint, sei zusätzlich zu Voltaires Candide noch auf die Funktion der Nase in Thomas Manns (1875-1955) Novelle Der Weg zum Friedhof (1900) hingewiesen (s. IV.2/7), mitsamt des mutmaßlich auch in sie eingeflossenen Expertenwissens. Ausgebreitet wird es beispielsweise in Meyers Hand-Lexikon, dessen Langversion – Meyers Konversations-Lexikon – von Thomas Mann für die medizinischen Partien seines Romans Buddenbrooks (1901) gerne genutzt wurde. (vgl. Schonlau 2005: 166) Hier konnte, wer wollte, zum Stichwort »Nase« unter »Krankheiten der N.«, als letztes, nach »Schnupfen«, »Nasenbluten« sowie »Polypen«, lesen: »Syphilis. Letztere führt oft zu Zerstörung der äussern N.« (Meyers…. 31878: 1330) Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht, ob Nietzsche (oder eben Thomas Mann) speziell diesen Eintrag gelesen hat. Wichtig ist, was Nietzsche angeht, zunächst einmal der Sachverhalt selbst: Weit über Mann hinausgehend begann sich Nietzsche als sein eigener Arzt einzurichten, ließ beispielsweise seine Nächsten in Naumburg im Juli 1881 von Sils-Maria aus wissen: »Mein Gehirnleiden ist sehr schwer zu beurtheilen, in Betreffs des wissenschaftlichen Materials, welches hierzu nöthig ist, bin ich jedem Arzt überlegen […]. Vertraut mir doch ein wenig mehr auch hierin! Bis jetzt bin ich erst 2 Jahre in meiner Behandlung.« (6: 103)
Vier Jahre später betonte Nietzsche im Blick auf das Hilfeansinnen Malwida von Meysenbugs geradezu trotzig: »Ich selber bin bei weitem mein bester Arzt.« (7: 29) Die hier zutage tretende, erstmals von Thomas A. Long (1990: 112) herausgestellte Denkfigur wird neuer-
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dings vielbeachtet als Teil von »Nietzsche’s self-proclaimed medical expertise« (Salanskis 2020: 171; Denat 2020: 42 ff.) und/oder im Segment der »self-help literature dedicated to Nietzsche’s philosophy« (Argy 2020: 203) und/oder in Analogie zu Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität (vgl. Lemm 2016) gesehen, namentlich im Rückblick auf Foucauls gesundbeitsbezogene Überlegungen in Le souci de soi (1984; dt. Die Sorge um sich) – und mehrheitlich positiv bewertet. Mir scheint dies ein wenig beschönigend gesehen, ohne zureichende Beachtung der Begrenztheit von Foucaults Nietzschebild. »[D]er ganze Nietzsche [ist] eine Exegese einiger griechischer Wörter«, deklarierte er früh (1966) und in nicht statthafter Verengung. Deutlicher: Eine der Breite und Tiefe von Nietzsches Ansatz gerecht werdende Deutung hätte Foucaults gleich nachfolgendes treffliches Freud-Porträt – ihn charakterisiere »die Exegese all jener stummen Sätze, die gleichzeitig unsere offenbaren Diskurse, unsere Phantasmen, unsere Träume, unseren Körper aufrechterhalten und aushöhlen« (Foucault 1966: 363) – auch Nietzsche als Freud-Vorläufer zugestehen müssen und Nietzsche nicht nur als Textverarbeitungsautomaten, sondern auch als Subjekt mit eigener Krankengeschichte zur Geltung bringen müssen. 1 Foucault, aber vor allem seinen Anhängern in der Nietzscheforschung, entbehrt des Weiteren hinreichende Sensibilität für die dunkle Seite des von ihnen gelobten Expertisierungsgeschehens auf Seiten der Betroffenen und Laien, resultierend aus einem so gut wie kompletten Ärzteversagen damals speziell dieser Krankheit gegenüber. Stefanie Fröschen hat dies in ihrer medizinischen Dissertation zu Guy de Maupassants Syphilis sehr genau aufgearbeitet (vgl. Fröschen 1999: 52 f.), mit, wie mir scheinen will, einiger Bedeutung für den Fall Nietzsche. Denn Nietzsches medizinische Expertisierung ist nicht nur eine freiwillige Leistung eines seine Mündigkeit Reklamierenden. Sondern sie ist allererst als kritisches Statement zu lesen im Blick auf den damaligen Für Foucault war derlei Sicht auf Nietzsche als Subjekt offenbar nicht machbar. Dies offenbart sein Kult um die Maske resp. um sich als »maskierten Philosophen« (Foucault 1980) resp. um die Idee, als Urheber seiner Texte möglichst nicht identifizierbar zu sein, damit der einzige sinnvolle Streit, jener ad rem, keine Einbuße erfahre. Die Folgen der Ausdehnung dieses methodologischen Vorentscheids auch auf den Untersuchungsgegenstand – als habe Nietzsche einem derartigen anti-biographischen Apriori gleichfalls das Wort geredet, – sind erheblich und erklären unter dem Strich Foucaults unzureichende Beachtung der Krankheitsursache Syphilis auch nur ihrer Möglichkeit nach, mitsamt des fehlenden Verständnisses für die Not Nietzsches.
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Zustand einer Profession, die erst mühsam lernen musste, dass man über Syphilis offen und auch auf die Gefahr hin, den Patienten zu verärgern, sprechen muss – eine Kritik insbesondere an Nietzsches Arzt Otto Eiser übrigens, wie im Folgenden im Zusammenhang meiner Deutung eines Zarathustra-Traums noch deutlicher werden wird. (s. V.2/4) Davon bleibt der Befund selbst unbetroffen: Nietzsche hielt sich als sein eigener Arzt zu allem Möglichen auf dem Laufenden, etwa, wie Andreas Urs Sommer (2019) herausarbeitete, zu den Themen Schwangerschaft (ebd.: 366), Onanie (ebd.: 489) und Syphilis (ebd.: 513), dies jeweils mittels des seit Juni 1875 in seinem Besitz befindlichen (vgl. Campioni et al. 2003: 144 f.) Gesundheitsratgebers Das Buch vom gesunden und kranken Menschen aus der Feder Carl Ernst Bocks, Professor der pathologischen Anatomie zu Leipzig. In ihm findet sich – um auf das ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889 zurückzukommen – zum Lemma »Nase« auch der Umstand »Verlust« derselben verzeichnet (vgl. Bock 81870: 756). Gleichfalls Nietzsches persönlicher Bibliothek in 7. Auflage von 1881 zugehörend und von Sommer beachtet: Das Compendium der praktischen Medicin des Hallenser Arztes C. F. Kunze. Dieser überaus differenzierte Gesundheitsratgeber weist im Index das Stichwort »Nasensyphilis« (Kunze 71881: 419) aus. In Betracht kommt des Weiteren Nietzsches Wissen um Gustave Flauberts Reisebericht von 1850 aus Nordafrika über Syphilitiker mit »Löchern an der Stelle der Nase.« (Flaubert 1977: 156) (s. III/9) Was aber auch immer Nietzsche gelesen haben mag: Der Jenaer Krankenjournaleintrag vom 17. Juni 1889 erlaubt auch ohne dies die Deutung, dass Nietzsche um seine Syphiliserkrankung wusste, vermutlich auch um seine syphilisbedingte Eheuntauglichkeit. Als Indiz hierfür gilt uns vorläufig seine beiläufige Bemerkung aus einem Briefentwurf an seine Schwester von Mitte März 1885: »Für Menschen, wie ich bin, giebt es keine Ehe.« (7: 25)
Diesem Kontext gehört auch seine damals zwanzig Jahre zurückliegende Nachricht zu, dass er an einigen Festen teilgenommen habe, aber in den letzten Wochen wegen Krankheit im Bett liegen müsse. Die Krankheitssymptome beschrieb Nietzsche wie folgt: »[M]ein Leiden ist ein heftiger Rheumatismus, der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne und gegenwärtig mir täglich die stechendsten Kopfschmerzen verursacht.« (2: 76)
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Wir werden auf diesen Brief noch ausführlich eingehen, auch auf den Umstand, dass der Neurologe Ernst Benda diese Symptome, im Verein mit dem bereits erwähnten Bericht Paul Deussens über einen auf Februar 1865 terminierten Bordellbesuch Nietzsches, für verräterisch genug hielt, um Rheumatismus oder Migräne (à la Paul J. Möbius) auszuschließen und eine im Juli 1865 erfolgte luetische Ansteckung in Betracht zu ziehen. Zusammenfassend gesprochen liegt die Annahme nahe, der ›Selbstarzt‹ Nietzsche habe seinen Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 als Indiz dafür zu lesen verstanden, dass er in das tertiäre und damit finale Stadium dieser seiner Geschlechtskrankheit, in die paralytische, eingetreten war. Zu deren Merkmalen gehört die sukzessiv und unaufhaltsam voranschreitende und am Ende vollständige Demenz – ein Stadium, deren Beginn durch eben jene im Lexikon von 1878 verzeichnete ›Zerstörung der äußeren Nase‹ indiziert werden kann (nicht muss). Und um diese Entwicklung aufzuhalten, schien dem Pat. Nietzsche das ›stundenlange Festhalten‹ eben dieses Organs ein durchaus probates Mittel. Rührend (wenn man so sagen darf) dabei, dass er, um dem Personal keinen Rückschluss auf diese seine Befürchtung zu erlauben, das Ganze als Teil von ›Turnübungen‹ tarnte – und mit dieser Tarnung, wie das Notat bzw. seine angesprochene Geringschätzung durchs Jenaer Personal sowie Roland Schiffters 2013er Stereotypie-Diagnose erkennen lässt, erfolgreich war. Und was folgt aus dieser Ableitung? Nun, zunächst einmal nur: die Setzung der Syphilisdiagnose als noch nicht falsifizierte – eine Setzung, die kaum spektakulärer als die umgekehrte, in der Nietzscheforschung gängige: die nämlich, dass man, da nicht sicher geredet werden könne über Nietzsches Syphilis, besser von ihr schweigen solle. Ganz in diesem Sinne verlautete es 2011 aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich am Ende eines Überblicks zum Stand der Forschung aus der Feder eines Autorenduos – Oliver G. Bosch und Friederike X. E. Höfer –, die »despektierliche Diagnose« (Syphilis) könne als »vom Tisch gefegt« gelten, ersatzweise böte sich Forschung an über »Akademiker, Männer zumeist, die kaum den Namen des Kontrazeptivums ihrer Partnerinnen kennen«, sich aber gleichwohl erquickten »in den tiefsten Winkel einer Vita intima [jener Nietzsches, d. Verf.].« (Bosch / Höfer 2011: 14) Sehr witzig, in der Tat, und sicher ein Brüller in Einführungsveranstaltungen für Erstsemester in der Schweiz – aber doch nicht des ernsthaften Nachdenkens wert, etwa im Vergleich zu Elke Wachendorff, die unlängst im 22 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Jahrbuch Nietzscheforschung eine anti-psychiatrische Pointe wie die Folgende vortrug: »Und so erblickten ihn die Vermieter im Januar 1889, als sie von seinem Tanzgesang und Poltern aufgeschreckt, durchs Schlüsselloch lugten: Ein ungebundener Bär im Tanz, seinem eigenen Tanz, frei von allem Sollen und Müssen, schlechtem Gewissen und Schuldgefühl, frei von aller Bewegung, ganz bei sich selbst und glücklich. Der tanzende Bär ganz ohne Ketten: seine Umwelt aber fühlte sich von so viel ausgelassener Freiheit irritiert und bedroht. Und so sperrte sie ihn künftig ein und fort.« (Wachendorff 2019: 169)
Nicht, dass mir die Flucht in derlei Krankheitsmetaphysik gänzlich unverständlich wäre, im Gegenteil: Auch mir wäre es hin und wieder durchaus lieb, mir Nietzsche als einen krank Gemachten zu fingieren, als Opfer einer auf ein Ereignis wie ihn nicht wirklich vorbereiteten Umwelt. Hilft dies aber dauerhaft, weitergehender: Negiert die Wiederkehr von derlei Metaphysik nicht nachhaltig Nietzsches Vermächtnis, das sich doch wohl vor allem im Gedanken der (neuen) Aufklärung bündeln lässt? Dies vorausgesetzt, bleibt nur noch das Zugeständnis, dass einem die Schlüssellochperspektive eigentlich gegen den Geschmack gehen sollte, ebenso wie die durch die Studentenbewegung populär gewordene Parole »Das Private ist politisch!« Reinhard Goering, den lebensreformerischen Bewegungen zurechenbar, brachte die Sache schon vor bald neunzig Jahren auf den Punkt, als er zu Nietzsche notierte: »Ob er Lues hatte, ist so gleichgültig, daß wir ruhig zugeben können, er hat sie zehnmal gehabt und alles übrige dazu. Damit wird gar nichts gesagt.« (Goering 1933: 249)
Heute indes, nach den schrecklichen Jahren des Nationalsozialismus und den vielfältigen Versuchen, Nietzsche als NS-Staatsphilosophen in Dienst zu stellen (vgl. Niemeyer 2019: 326 ff.), haben zumindest die Nietzscheverehrer unter den Nietzschelesern leidvoll erfahren müssen, dass es eben nicht egal ist, ob Nietzsche an seiner Syphilis (und den Gedanken darüber) litt oder nicht. In Gestalt einer Frage vorgetragen und die in Kapitel I des vorliegenden Buches ausführlich zur Darstellung gebrachte, speziell auf die Syphilisproblematik bezogene Nietzscherezeption von ihren Anfängen in den 1890er Jahren her bedenkend: Wie soll man das seit gut einhundertfünfundzwanzig Jahren immer wieder aufs Neue in der Nietzscheforschung und auch 23 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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außerhalb von ihr lautstark skandalisierte Unausgewogene bei Nietzsche, das Hasserfüllte, das Fanatische, ja das Biologistische und auf Erbkrankheiten aller Art desaströs und fast mit Vernichtungsfreude Reagierende eigentlich anders verstehbar machen als mittels des biographischen Zugangs und der durch ihn möglichen Einblicke in das zutiefst Tragische an einem Lebenslauf wie jenem Nietzsches? Jedenfalls muss die Umkehrprobe doch auffallen: Alle veritablen Nietzschehasser im Verlauf der Rezeptionsgeschichte haben, wie in jenem Kapitel ausführlich zu zeigen sein wird, den biographischen Zugang und jedwede psychologische Erklärung strikt untersagt: Man – wahlweise, unter Konzentration auf die Zeit nach 1945: Männer wie S. F. Oduev, Wolfgang Harich, Timo Hoyer, Domenico Losurdo, Malcolm Bull, Jochen Schmidt und Bernhard F. Taureck wollten Nietzsche zur Rechenschaft ziehen, ohne Pardon. Hier, in diesem Buch, dominiert der gegenläufige Zugang, soll mit dem Interesse an Versachlichung der Debatte Verständnis für den Umstand geschaffen werden, dass Nietzsches Philosophie, auch seine Philosophie der Liebe, unter dem Vorzeichen des sukzessiv wachsenden und/oder von ihm zugelassenen Wissens um die Hintergründe seiner Syphilis einen grundlegend anderen Charakter gewann, einen am Ende tragischen. Dies erfordert die grundlegende Absetzung von den seit Werner Stegmaier modisch gewordener und auch von Marcus Andreas Born verfochtenen Position, »weder in der Biographie des Autors, noch in anderen Werken oder gar dem Nachlass den Ausgangspunkt zu suchen, um ein einzelnes Werk zu interpretieren«, sondern den Fokus auf »den Text selbst« (Born 2014: 3) zu legen, so wie dies neuerdings auch im Nietzsche-Lexikon von Enrico Müller (2020: 257) geschieht, das demonstrativ mit dem Ecce-homoZitat ausklingt: »Das Eine bin ich, das Andere sind meine Schriften.« (VI: 298)
Das Problem ist nur: Wer diesen Satz wie eine Monstranz vor sich meint hertragen zu müssen, um zu folgern: »Insbesondere schlichte Rückschlüsse von Nietzsches Leben auf sein Werk verbieten sich so« (Stegmaier 2011: 74), hat zu erklären, mit welchem Recht er die von Marco Brusotti sehr umsichtig zusammengetragenen Gründe für das Argument, alle Texte Nietzsches seien »›autobiographisch‹, auch wenn sie keine Autobiographien sind« (Brusotti 2018: 121), ignoriert, inklusive der diametral zum eben beigezogenen Zitat angelegte ›Mit-
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te-November-Fassung‹ von Ecce homo, die an der bezeichneten Stelle den Satz vorsah: »Zuletzt rede ich nur von Erlebtem, nicht bloß von ›Gedachtem‹: der Gegensatz von Denken und Leben fehlt bei mir.« (XIV: 485)
Gesetzt, was man wohl angesichts der Grundanlage des Ecce homo setzen darf, dies sei die wahre Meinung Nietzsches, die er in gleichsam letzter Minute unter den Tisch fallen ließ, um Aufklärung über sich zu erschweren (vgl. Niemeyer 2014), bleibt nur der Schluss, dass Stegmaier, Born als auch Müller dieser Täuschungshandlung Nietzsches aufsitzen. Die Folgen lassen sich gleichsam vor Ort besichtigen: Aus Müllers Nietzsche-Lexikon von 2020 erfährt man so gut wie nichts über »das Eine« – und ist insoweit auch beim »Anderen« mehr oder weniger auf sich gestellt. Anders beim Nietzsche-Lexikon von 2009/2011: Nietzsches Privates wird hier in sehr vielen Lemmata beachtet und deutlich gemacht, dass Nietzsche zumal dort, wo er seinem Projekt einer »Psychologie des Philosophen« das Wort redet (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 316 ff.), nach dem eben herausgestellten Satz aus der ›Mitte-November-Fassung‹ von Ecce homo verfuhr und nicht nach jenem aus der von Stegmaier wie Müller ins Zentrum gerückten Druckfassung. Um auf die Pointe zu kommen: Für diesen insofern von Nietzsche selbst geforderten Zugang auf Nietzsche möchte ich mit diesem Buch neue Rechte und Räume sichern, Platz also allemal, zumal für die Einsicht, dass Schweigen und Verschweigen gerade im Blick auf ein Thema wie dieses niemandem weiterhelfen und also, zumal im 21. Jahrhundert, in Bann getan werden müssen. Reden – um an dieser Stelle ganz im Geiste Nietzsches meinen Erziehern zu trotzen – ist eben nicht Silber, Reden ist Gold und verwandelt womöglich allererst in Gold, was man, in der Hoffnung, der eigenen Verehrungssucht zu dienen, ganz fern von sich dachte, wie eben Nietzsche – und mit Nietzsche gedacht, insofern er in Menschliches, Allzumenschliches zum Thema »Cultus des Genius‹ aus Eitelkeit« ausführte: »[N]ur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht.« (II: 151)
Dieser mit sowohl trauerndem als auch wissend gewordenem Rückblick auf die Zeit seiner Wagnerverehrung gesprochene Satz will auf sein Unausgesprochenes hin bedacht sein, nämlich: Nun, wo ich Wagner infolge der bitteren Einsichtnahme in sein Menschliches-All25 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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zumenschliches nicht mehr als fern von mir denken kann und also nicht mehr als »Miraculum«, verletzt mich der Umstand, dass ihm Größe zugesprochen wird, nicht aber mir. Vielleicht liegt in dieser psychologisch klugen Bemerkung Nietzsches auch begründet, warum wir – Nietzscheforscher oder an Nietzsche Interessierte – uns Nietzsche fern denken müssen und ihm also eine Syphilis als sein Menschlich-Allzumenschliches nicht zugestehen wollen: weil uns dann seine Größe im Vergleich zu der uns im Allgemeinen vorenthaltenen verletzen müsste, nehmen wir es doch zumindest im Menschlich-Allzumenschlichen locker mit ihm auf. Eventuell ist aber das Gegenteil richtig: Gerade weil Nietzsche, als Syphilitiker erkannt und also nicht als geschlechtsloses Wesen konzipiert, uns wieder näher rückt, ist für seine Zukunft als einen nach wie vor relevanten Denker weit mehr erreicht als durch die bisher dominierenden Versuche, seine Größe allein im Reich des Geistigen sichern zu wollen. Entscheidungshilfen im Blick auf Fragen wie diese soll nun in vier Schritten gegeben werden 2: Zunächst (Kap. I) unter Konzentration auf die Syphilis Nietzsches und die Argumente, die in den vergangenen gut einhundertdreißig Jahren für oder gegen sie ins Feld geführt wurden; bzw. jener Argumente, die sich mittels einer Reinterpretation seiner Briefe und Werke in dieser Frage geltend machen lassen. (Kap. II) Danach durch allmähliche Erweiterung des Horizonts, zunächst in Richtung Renaissance unter Konzentration auf die Syphilis einiger Päpste und deren (Nicht-) Thematisierung, auch durch Luther, in deren Bedeutung für den Antichristen Nietzsche. (Kap. III) Schießlich durch Kontentration auf Nietzsche und seinen Kreis, insbesondere natürlich: die Syphilis (-Thematisierung) in diesem Kreis, dem wir uns mittels des von Nietzsches stammenden Attributs »Wir Anderen« nähen wollen. (Kap. IV). Sowie, ganz zum Schluss (Kap. V), durch Erläuterung des Schicksals, das auch jenes Nietzsche gewesen wäre, gesetzt, er sei vierzig Jahre jünger gewesen und nicht durch den Umstand geschützt, dass ihn die Nazis inzwischen zu ihrem Staatsphilosophen gemacht hatten – der schlicht nicht krank sein durfte und den man auch nicht einfach per Euthanasie durch den Schornstein entsorgen konnte. Am Ende dieses Buches, so die Hoffnung, ist die Nietzscheforschung hinreichend präpariert für Meinem Lektor Steffen Bonhoff sei an dieser Stelle gedankt für seine hartnäckige Kritik an einer Erstfassung, die noch einen ganz anderen Aufbau vorsah, gleichsam von hinten nach vorn.
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den Tag X – jenen Tag also, an dem qua Sektionsbefund nicht mehr in Frage stehen kann, was hier in der Linie des im Motto aufgerufenen ›Nasen-Notats‹ als gewiss behauptet wird: Nietzsche hatte Syphilis – und er litt unter diesem Umstand und dem Wissen darum wie ein Hund und mit fatalen Folgen für seine Philosophie. Darüber muss man endlich offen reden, im Interesse Nietzsches. Dies meint zugleich: Mit diesem Buch wird die Neuverhandlung einer Frage eingefordert, die der US-Neurologe Richard Schain Anfangs des Jahrtausends bereits einer ultimativen Lösung zuzuführen gehofft hatte mit seinem Buch The Legend of Nietzsche’s Syphilis (2001). Vergebens, wie gezeigt werden soll als Teil eines größeren und seit Jahren laufenden Forschungsvorhabens, das erhebliche Motivation dem Umstand verdankt, dass Schain schon deswegen nicht den Stand der Forschung zu Nietzsches Syphilis bereicherte, weil er seinerseits, wie noch genauer zu zeigen sein wird, keine zureichende betrieb. Die Folgen dessen brachte der Schain-Rezensent Sander L. Gilman auf den Punkt: »You should still turn to [Pia Daniela] Volz for account of the illness and death of Nietzsche if you are at all interested in this question.« (Gilman 2002: 733/3) Dieser subtile und für Schain ›tödliche‹ Hinweis auf die von ihm weit unterschrittene Benchmark, Pia Daniela Volz‹ Dissertation Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung (1990) adelt dasselbe als Standardwerk zu diesem Thema. Dem soll hiermit ein weiteres, allein auf Nietzsches Syphilis konzentriertes Buch beiseitegestellt werden, das ganz nebenbei eine neue Grundlage schaffen will für den endlosen Streit um die Nazifizierung resp. die NS-Nähe Nietzsches.
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Kapitel I Nietzsches Syphilis
Wo beginnen? Am besten doch wohl, wie man meinen sollte, mit dem Allerneuesten aus der Forschung, also etwa mit Ulrich Sieg ElisabethFörster-Nietzsche-Biographie Die Macht des Willens (2019). Sie lässt uns in der Frage von Nietzsches Krankheit und Tod sowie der Frage, welche Auffassungen Nietzsches Schwester hierzu vertrat, komplett allein. Verwiesen wird ersatzweise auf eine erstmals 1992 erschienene Nietzsche-Einführung von Volker Gerhardt Sieg, erklärt auf diese Weise also dessen damaligen Satz von der »bis heute nicht ganz sicheren Diagnose […] progressive Paralyse« (Gerhardt 42006: 60) für aktuell, wie ja auch Siegs Fazit andeutet »dass die Diagnose seiner Krankheiten bis heute nicht zweifelsfrei feststeht.« (Sieg 2019: 165) Man kann dieses Fazit bedauern – wäre mit ihm nicht auch gerichtet über die Nietzscheforschung im Ganzen, zumindest aber doch ein erster Verdacht vorgetragen dahingehend, dass Erkenntnisfortschritt auf diesem Feld womöglich gar nicht erwünscht ist, nach dem Muster: So genau wollen wir es gar nicht wissen! Deswegen eine zweite Probebohrung, diesmal am Exempel der 2020 auf deutsch erschienenen und in den USA als »groundbreaking new biography of philosophy’s greatest iconocast« gefeierten Studie I am Dynamite! A Life of Nietzsche (2018) aus der Feder von Sue Prideaux. Sie referiert zwar brav Paul Deussens auf Februar 1865 zu datierende Bordellanekdote (s. 2/8) (Prideaux 2018 [2020]: 59 f.), nicht aber die darauf bezügliche verfälschende Variante von Nietzsches Schwester (s. 2/20). Mehr als dies: Prideaux erweist sich aufgrund unzureichender Kenntnis der maßgeblichen Sekundärliteratur als außer Stande, einen Zusammenhang herzustellen zu einem von ihr zuvor (ebd.: 13 f.) zitierten Passus aus Nietzsche Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867), der seinerseits nicht ohne Kenntnis eines Nietzsche-Briefes an Carl von Gersdorff vom August 1865 angemessen interpretiert werden kann – wie noch zu zeigen sein wird. (s. II.1/3) Wie man an diesem Beispiel schon sieht: Eine Nietz29 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
sche-Biographie zu schreiben ist nichts für Leseunlustige, wie schon Prideaux’ Auswahlbibliographie verrät: Wichtiges ist kaum präsent, und was das hier im Zentrum stehende Thema angeht: Angeführt wird Richard Schain (2001), nicht hingegen Pia Daniela Volz (1990) – ein Kritikpunkt, der im Rückblick auf die diametral hierzu angelegte Wertschätzung sowohl Sander L. Gilmans (s. Prolog) als auch Schains sich als das erweist 3, was er hier meint: ein Vorwurf. Andererseits: Ist es eigentlich fair, von professionellen Biographenschreiberinnen wie Prideaux substantielle, forschungsgesättigte Auskünfte über Nietzsche und speziell über seine Syphilis erwarten zu wollen? Anja Schonlau ist dieser Frage vor Jahren nachgegangen, am Beispiel ausgewählter Nietzschebiographien der Jahre 1897 bis 2000. Der Befund lässt einen Trend erkennen, und zwar in etwa den folgenden: »Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg verzichten progressive Biographien auf somatische Aspekte, während ihre konservativen Kollegen das Krankheitsbild weiterhin tabuisieren oder – weniger stringent – dagegen argumentieren. In den dreißiger Jahren fällt erstmals eine deutschnationale Pathologisierung Nietzsches auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entmystifizierung der Syphilis durch Penicillin beginnt eine wissenschaftlich-sachliche Darstellungsphase. Das Tabu unterdrückter Homosexualität wird allerdings erst in den 80er Jahren durchbrochen. Dieses Jahrzehnt zeigt sich sexuell und pathologisch äußerst interessiert, wobei alle Themen spannender erscheinen als die altbekannte Diagnose, deren ehemalige Tabuisierung nun zu verurteilen ist. Seit den 90er Jahren wird Paralyse als anerkanntes Forschungsergebnis mit wissenschaftlicher Skepsis rezipiert, wobei der medizinische Fachdiskurs wenig Interesse findet.« (Schonlau 2005: 167)
Der Tendenz dieses auf das Jahr 2000 terminierten Befundes kann zugestimmt werden – nur die Frage bleibt und kann hier in eine Antwort verwandelt werden: Sue Prideaux ist nicht schon, trotz ihrer so charmant geschilderten Ersterfahrungen mit Nietzsche in ihrer Kindheit in Norwegen (vgl. Prideaux 2019), automatisch Nietzscheforscherin, genauso wenig wie, um einen vergleichbaren Fall aus Deutschland zu nennen, Rüdiger Safranski (2000). Für ihn 4 wie für
Ihm war, wie erinnerlich, Volz’ Rang als »invaluable source of information for anyone interested in this subject« (Schain 2001: 91) unmittelbar evident. 4 Was ersatzweise gegen Safranskis Resümee als ein solches zur Geltung bringen ist, wird noch zu zeigen sein. (s. V) 3
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Nietzsches Krankengeschichte – ein Problemaufriss
sie gilt, dass Wissen aus zweiter Hand dominiert – und damit die Frage: Sind Biographien von Spezialisten eigentlich sinnvoll? Sowie: Ist es bei Spezialfragen klug, auf Tertiärliteratur zurückzugreifen, wenn als Alternative doch der Weg offensteht, die speziell auf Nietzsches Krankheit hin relevanten Quellen – und sei es, wie im Fall Schain, über deren Präsentation durch Volz – zu konsultieren, inklusive der einschlägig relevanten Sekundärliteratur? Mir jedenfalls schien dieser Weg, wie nun zu zeigen versucht wird (2.), der plausiblere, allerdings erst nach Klärung des materiellen Ausgangsproblems, nochmals in Gestalt einer Frage: Was, in der Summe betrachtet, steht eigentlich zur Debatte, wenn über Nietzsches Krankheit inklusive seiner Syphilis geurteilt wird? (1.)
1. Nietzsches Krankengeschichte – ein Problemaufriss Vorab und um hier zunächst nur die Jahre ab Ruferteilung zu berücksichtigen: Nietzsche imponierte Außenstehenden ursprünglich als ein der Substanz nach durchaus gesunder junger Mann. So heißt es in einem Empfehlungsschreiben Ritschls, mit dem dieser Nietzsche den Weg in Basel bahnte: »Er ist jetzt 24 Jahre alt: stark, rüstig, gesund, tapfer von Körper und Charakter, recht gemacht, um ähnlichen Naturen zu imponieren.« (KGB I 4: 542) Und Paul Deussen erinnerte sich später an seinen Besuch bei seinem Freund Nietzsche in Basel im Jahre 1871 mit den Worten: »Spät, nach elf Uhr erschien Nietzsche […], in animierter Stimmung, feurig, elastisch, selbstbewußt, wie ein junger Löwe.« (Deussen 1901: 85) Im Jahr 1886 hingegen, Nietzsche ist nun zweiundvierzig Jahre alt und seit sieben Jahren wegen Krankheit von seiner Philologieprofessur entbunden und pendelt rastlos zwischen Italien, Frankreich und der Schweiz auf der Suche nach einem Ort, der seiner Gesundheit förderlich ist, gewinnt Deussen einen ganz anderen Eindruck: »Das war nicht mehr die stolze Haltung, der elastische Gang, die fließende Rede von ehedem. Nur mühsam und etwas nach der Seite hängend, schien er sich zu schleppen, und seine Rede wurde öfter schwerfällig und stockend.« (ebd.: 92) Was zwischen 1871 und 1886 geschah, kann hier nur in wenigen Strichen nachgezeichnet werden, ausgehend von der Bilanz für das Jahr 1879 und dem Resümee gegenüber seinem Arzt Otto Eiser: »Meine Existenz ist eine f ü r c h t e r l i c h e L a s t « (6: 3), das diesen schwer erschüttert, ihn vom »ärztlich-nüchternen Standpunkt« an31 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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nehmen lässt, »als ob die Riesen-Arbeit […] zur Steigerung der Krankheit« (KGB III/2: 14 f.) führte, woraufhin Nietzsche konkreter wird und bilanziert, er habe 1879 »118 schwere Anfallstage« gehabt, was meine: »beständiger Schmerz und Druck im Kopf, auf den Augen« und ein »lähmungsartiges Gesammtgefühl von Kopfe bis in die Fußspitzen!« (6: 6) Der ganz normale Tagesablauf Nietzsches in einer der Pensionen, die er in der Folge im Winter an der Riviera und im Sommer, mit zunehmender Regelmäßigkeit, in Sils-Maria verbringt, hat etwas Beklemmendes. So schreibt er seiner Mutter am 24. August 1881 von Sils-Maria aus: »Alle Morgen um 5 kalte Gesammtabwaschung, täglich 5–7 Stunden Bewegung. Von 7–9 Abends still im Dunkeln sitzen […]: nie Theater, Concert u. s. w.« (6: 121) Beinahe sechs Jahre später lässt er die Mutter, diesmal von Nizza aus, wissen: »Ich gehe Vormittags eine Stunde, Nachmittags drei Stunden durchschnittlich spazieren, in scharfem Schritte – Tag für Tag den gleichen Weg: er ist schön genug dazu. Nach dem Abendessen sitze ich noch bis 9 Uhr im Salon, unter fast lauter Engländern und Engländerinnen, bei einer Lampe mit Lampenschirm an meinem Tische. Ich stehe halb sieben auf und mache mir meinen Thee selbst: dazu einige Zwiebäcke. Um 12 Uhr das Frühstück; um 6 Uhr die Hauptmahlzeit. Kein Wein, kein Bier, keine Spirituosen, kein Kaffee: größte Gleichmäßigkeit in der Lebens- und Ernährungsweise.« (8: 272) Der Zusatz: »Seit vorigem Sommer habe ich mich an Wassertrinken gewöhnt: ein gutes Zeichen, ein Fortschritt« (ebd.), unterstreicht, wie bescheiden Nietzsche inzwischen geworden ist, wie vernünftig er mit seiner Krankheit umzugehen weiß. Jenseits aber dieser ganzen Vernunft, die Nietzsche im Umgang mit dem ganz Anderen in seinem Innern an den Tag zu legen vermag, finden sich in Nietzsches Briefen immer wieder Hoffnungen ausgesprochen auf den »erlösenden Hirnschlag« (6: 4), Selbstmordgedanken, Aussagen wie »Ich bin vieler Dinge so müde« (6: 477) oder »Ich war noch nie so einsam« (6: 453) – und schließlich die Zwischenbilanz vom Dezember 1885: »Fast sieben Jahre Einsamkeit und, zum allergrößten Theil, ein wahres Hundeleben, weil es an allem m i r Nothwendigen fehlte!« (7: 116) Diese Befund wird sich seiner Tendenz nach auch in den nächsten drei Jahren, bis hin zu Nietzsches geistigem Zusammenbruch, nicht ändern. So erfährt Nietzsches Adlatus Heinrich Köselitz beispielsweise im März 1888 von Nietzsche: »Ich kenne nichts mehr, ich höre nichts mehr, ich lese nichts!« (8: 275) Anhand der Briefe also wird der Leser auf besonders
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Nietzsches Krankengeschichte – ein Problemaufriss
anschauliche Art Zeuge eines Niedergangs, der nicht mehr aufzuhalten scheint. Und doch: Der Paradigmenwechsel im Krankheitsbild darf nicht übersehen werden, der nur ein halbes Jahr später zutage tritt und sich erstmals schriftlich Ausdruck verschafft im auf den 30. September 1888 datierten Gesetz wider das Christenthum. Dass zu jener Zeit die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohen, bezeugen zahlreiche der letzten Briefe Nietzsches, am nachdrücklichsten aber der allerletzte vom 6. Januar 1889 an Jacob Burckhardt in Basel, endend mit den fast als Hilfeschrei zu lesenden Zeilen: »Sie können von diesen (sic!) Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt.« (8: 579) Als Burckhardt diese Zeilen las, wusste er, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Nietzsches Freund und Kollege Overbeck, von Burckhardt alarmiert, aber auch seinerseits durch einen ›Wahnsinnszettel‹ Nietzsches vom 4. Januar 1889 (»Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen … Dionysos«; 8: 575) beunruhigt, fuhr sofort nach Turin und fand Nietzsches dort am 8. Januar in seiner Pension in einem offensichtlichen Wahnsinnsanfall befangen, über den er Mitte Januar in einem Brief an Heinrich Köselitz das Folgende berichtete: »Ich erblickte Nietzsche in einer Sophaecke kauernd und lesend […] entsetzlich verfallen aussehend, er mich und stürzt sich auf mich zu, umarmt heftig mich erkennend und bricht in einen Tränenstrom aus, sinkt dann in Zuckungen aufs Sopha zurück […]« (zit. n. Volz 1990: 206)
Wichtiger aber ist die Fortführung: »[…] kaum lag N. stöhnend und zuckend wieder da, als man ihm das auf dem Tisch stehende Bromwasser zu schlucken gab. Augenblicklich trat Beruhigung ein, und lachend begann N. vom grossen Empfang zu reden, den für den Abend vorbereitet sei. Damit war er im Kreise der Wahnvorstellungen aus dem er dann, bis ich ihn aus den Augen verloren, nicht wieder getreten ist, über mich und die Personen Anderer stets klar, über sich in völliger Nacht befangen.« (zit. n. Hoffmann/Peter/Salfinger 1998: 205 f.)
Das entscheidende Stichwort ist hier ›Bromwasser‹ – wohl, wie man nun vermuten darf, von Nietzsches Wirt Fino bereitgestellt aufgrund der Verordnung eines gewissen Dr. Turina im Blick auf Fälle wie diese und im Rückblick auf einen womöglich schon stattgehabten epileptischen Anfall als Begleitsymptom einer anhebenden Paralyse. Letztere wurde denn auch zwei Tage später, am 10. Januar, deutlich als Diag33 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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nose herausgestellt. Jedenfalls verzeichnete die Basler Krankenakte von diesem Tag, im Original von Ludwig Wille (1834–1912), dem Direktor der Kantonalen Irrenanstalt Basel Stadt, mit der Diagnose »Paralysis progressiva« überschrieben, über den Pat. Nietzsche: »Er habe auch einige Anfälle gehabt, während derselben habe sich Pat. ungemein wohl und gehoben gefühlt, er hätte am liebsten alle Leute auf der Straße umarmt u. geküßt, wäre am liebsten an den Mauern in die Höhe geklettert. Pat. ist schwer zu fixieren, beantwortet bloß teilweise u. vollständig oder gar nicht die an ihn gerichteten Fragen, fortwährend in seinen verworrenen Reden fortfahrend. Sensoriell stark benommen […]. Nachmittag spricht Pat. fortwährend wirr durcheinander, zuweilen laut singend und johlend. Der Inhalt seines Gespräches ist ein buntes Durcheinander von früher Erlebtem, ein Gedanken jagt den anderen ohne jeden logischen Zusammenhang. – Gibt an, daß er sich spezifisch inficiert habe.« (zit. n. Volz 1990: 380 f.)
Die Jenaer Krankenakte, noch 1931 von Nietzsches Schwester als »wahrscheinlich gestohlen« ausgewiesen, um den im August 1929 von Erich F. Podach besorgten Vorabdruck aus ihr zu diskreditieren (ebd.: 390), bringt, nach der von Volz noch einmal durchgesehenen und korrigierten Fassung, die folgenden aussagekräftigen Einträge für das Jahr 1889: »19. I. / Während des Sprechens grimassiert er fast unausgesetzt. Auch in der Nacht ging sein zusammenhangloses Geplauder fast ununterbrochen fort […]. / 23. II. / Versetzt plötzlich einem Mitkrhankeni Fußtritte. / ›Zuletzt bin ich Friedhrichi Wilhhelmi IV. gewesen […]. / 1. IV. / Koth geschmiert. ›Ich bitte um einen Schlafrock zur gründlichen Erlösung. Nachts sind 24 Huren bei mir gewesen […]. / 5. IV./ Uriniert in den Stiefel und trinkt den Urin […]. / 17. IV./ Man hat nachts gegen mich geflucht, man sagte, meine Mutter hätte alles voll gemacht; man hat die schrecklichsten Maschinerien gegen mich gewandt […]. / 19. IV./ Schreibt an die Wände unleserliches Zeug. ›Ich will einen Revolver, wenn der Verdacht wahr ist, daß die Großherzogin selbst diese Schweinereien und Attentate gegen mich begeht‹. Ich werde rechts in der Stirn krank gemacht‹. Verweigert heftig genaue Auskunft […]. / 25. IV. / Muß nachts stets isoliert werden. / 27. IV./ Oft Zornausbrüche. Beschmiert shichi mit Koth […]. / 18. V. / Schreit oft ganz unartikuliert […]. / 10. VI. / Plötzlich ein Fenster eingeschlagen […]. / 16. VI. / Bittet öfter um Hilfe gegen nächtl. Torturen. / 17. VI. Macht Turnübungen, hält oft stundenlang seine Nase fest […] / 18. VI. / Spricht in knurrendem Ton, sehr geziert, zuweilen sehr pathetisch […]. / 8. VIII. / Verlegt seinhei Chorioditis in das Jahr 64 od. 66 […]. / 16. VIII. / Schlug ganz plötzlich einige Scheiben ein. Behauptet hinter dem Fenster einen Flintenlauf gesehen zu haben […]. / 5. IX. / Behauptet, bis
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Nietzsches Krankengeschichte – ein Problemaufriss
zum 17. Jahr an epileptischen Zuständen ohne Bewusstseinsverlust gelitten zu haben […]. / 7. IX. / Bettet sich fast stets neben das Bett auf dem Boden […]. / 2. XII. / Behauptet, ›in der Nacht ganz verrückte Weibchen gesehen zu haben‹. […]« (zit. n. Volz 1990: 394 ff.; Fettdruck v. Verf.)
Ohne die Bedeutung der hier festgehaltenen Beobachtungen für die Syphilisdiagnose im Einzelnen herausstellen zu wollen (beim hier fettgedruckten ›Nasen-Notat‹, haben wir es im Prolog versucht): Was bei all dem ins Auge sticht, ist die Schrecklichkeit und Ausweglosigkeit des Krankheitsbildes. Legendär geworden ist in dieser Frage der Bericht Paul Deussen (1845–1919), einem der ältesten Freunde Nietzsches, der von einem Besuch in Naumburg 1889, »bald nach seiner Erkrankung« 1901 vom Kranken zu berichten wusste: »Ich erzählte von Spanien, welches ich im Jahr zuvor mit meiner Frau bereist hatte. ›Spanien!‹ rief er und wurde lebhaft, ›da war ja auch der Deussen!‹ – ›Aber ich bin ja der Deussen‹, erwiderte ich. Da sah er mich starr an und konnte es nicht fassen.« (Deussen 1901: 96 f.)
Selbst Nietzsches Mutter, die es auf durchaus couragierte Weise geschafft hatte, Nietzsche im Mai 1890 von Jena aus in häusliche Pflege nach Naumburg zu übernehmen und sich bei dieser Gelegenheit immer wieder an die denkbar kleinsten Zeichen der Besserung klammerte, musste schließlich einräumen, im September 1893: »Hoffnung ist nicht mehr. Wenn er nur wenigstens am Leben bleibt […]. Sein Bewusstsein ist fast ganz erloschen. Mich und Alwine kennt er noch, sonst Niemand, ich lasse auch Niemamd zu ihm […]. Von seinen Arbeiten spricht er nie. Meine Mutter, sagt er zu mir, ich bin dumm. Nein, mein Herzenssohn, sag ich zu ihm, Du bist nicht dumm, deine Bücher sind jetzt weltbewegend. Doch, meine Mutter, sagt er, ich bin dumm.« (zit. n. Volz 1990: 474)
Dies, so will mir scheinen, ist ein allerletzter, wohl kaum ohne Erschütterung zu lesender Beleg für die finale Zerstörung jenes Geistes, der Nietzsche einst eigen gewesen war und der ihn fast einzig macht unter den großen Philosophen der Weltgeschichte – einzig auch, weil kein anderer seines Ranges vor als auch nach ihm ein vergleichbares Schicksal zu durchleiden hatte – als Folge eines einzigen vergifteten Pfeils jenes Liebesgottes namens Amor? Der Fragesatz stellt darauf ab, dass Nietzsche, von Turin aus unter abenteuerlichen Umständen in die Nervenheilanstalt Basel verbracht, dort angab, er habe sich »zweimal specifisch inficiert« (zit. n. Volz 1990: 381). Die Mutter wird ihn dann, noch im Januar, in Basel 35 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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abholen und nach Jena, in die dortige Irrenanstalt, überführen. Die hier angelegte Krankenakte verzeichnet, allerdings im Unklaren haltend, ob hier Nietzsche selbst noch sich entsprechend geäußert hat: »1866 Syphilit. Ansteckg.« (ebd.: 393). Nimmt man Nietzsches Jenaer Prostituiertenträume hinzu (ebd.: 398) sowie die Mitteilung eines der ersten ihn nach seinem Turiner Zusammenbruch diagnostizierenden Ärzte, wonach der Patient »fortwährend Frauenzimmer« (zit. n. Podach 1930: 107) verlange, entsteht jener Kontext, in den Nietzsches progressive Paralyse, allen späteren Ablenkungsmanöver seiner Schwester sowie Mutter zum Trotz, gehört. Deren Aufgeregtheit gründete im Wesentlichen in schon bald aufgekommen Gerüchten, der Zusammenbruch Nietzsches verweise auf ein Erbübel väterlicherseits. Was dem noch folgte, sei knapp erzählt: Der irreversibel erkrankte Nietzsche lebte zunächst in häuslicher Pflege in Naumburg bei der Mutter und nach deren Tod (1897) in Weimar bei der Schwester, wurde durch seinen Turiner Zusammenbruch auf einmal weltberühmt, bekam aber zum Glück nichts mehr mit von dem Kampf zwischen Mutter und Schwester um sein geistiges Erbe, diente zuletzt in Weimar nur noch als Requisit, das man einflussreichen und finanzstarken Besuchern zur Schau stellte. Selbst noch mit seinem Tod am 25. 8. 1900 wurde er verleugnet, jedenfalls wenn man das Röckener Kirchenbuch zu Rate zieht: »Friedrich Wilhelm Nietzsche, Professor, Dr. phil. aus Weimar / in Röcken geboren 15. Okt. 1844 als Sohn des damaligen Pfarrers Nietzsche und sonach evang; nach seinen philosoph. Werken aber a n t i-christlich«, lautet die Kunde angesichts von Nietzsches Beisetzung, die, wie hinzugesetzt wird, »ohne kirchliche Beteiligung« (zit. n. Bohley 1980: 405) stattfand. Unausgesprochen bleibt hier, dass Nietzsche nicht des Berufs des Vaters wegen, sondern seiner Konfirmation halber evangelisch war. Und schon gar nicht wird die Frage gestellt, was in Nietzsche wohl vorgegangen sein mag auf seinem langen Weg vom Tod des Vaters über sein schon fast angetretenes Erbe geistiger Vaterschaft bis hin zur Errichtung seiner selbst als des Begründers einer neuen Konfession der Konfessionslosigkeit. Hiermit wollen wir es vorerst bewenden lassen, um uns, in chronologischer Ordnung, den Erklärungsversuchen für Nietzsches geistigen Zusammenbruch zuzuwenden. Als kritisches Leitmotiv diene dabei die fast fünfzig Jahre alte Beobachtung des Medizinhistoriker Ernst Bäumler:
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
»Offenbar können manche, ob Laien oder Ärzte, den Gedanken nicht ertragen, daß einer der größten Geister der Geschichte […] an einer [schlecht beleumundeten; d. Verf.] Krankheit zugrunde gegangen sein sollte […]: der progressiven Paralyse. […]. Aber nicht nur das ›liebe Lama‹, wie Bruder Friedrich seine Schwester Elisabeth in seinen Briefen zu titulieren pflegte, sondern auch eine große Anzahl seiner Biographen und Verehrer wollen die Paralyse Nietzsches nicht wahrhaben. Lieber attestieren sie ihm Schizophrenie, endogene Psychosen der verschiedensten Art, Medikamentenmißbrauch, ja sogar eine nicht von der Syphilis, sondern von Haschisch erzeugte Paralyse.« (Bäumler 1976: 250)
Läge es angesichts dieses trüben Befundes nicht ersatzweise nahe, der eingangs via Ulich Sieg und Volker Gerhardt angedeuteten Fährte nachzugehen, also, nun in positiver Wendung, der durch sie nahegelegten These Recht zu geben, seit 1992 habe sich auf dem Felde dieser Forschungsfrage nichts sonderlich Aufregendes ergeben? Nicht, dass ich damit – nochmals sei es zitiert – Volker Gerhardt Recht gäbe und seinem Satz von der »bis heute nicht ganz sicheren Diagnose […] progressive Paralyse« (Gerhardt 42006: 60) oder gar Ulrich Siegs Fazit, »dass die Diagnose seiner Krankheiten bis heute nicht zweifelsfrei feststeht.« (Sieg 2019: 165) Ich behaupte, mit dem folgenden Literaturbericht Material bereitstellen zu können, dessen die Nietzscheforschung bedarf, weil, summarisch betrachtet, die Syphilisdiagnose anders als alle anderen Diagnosen – zuletzt die unter Verzicht auf »jegliche biografische Spekulation« vorgetragene, auf »Psychosomatik« lautende Luca Guerreschis (2019: 209) – Erklärungsleistungen für ansonsten Unverständliches oder gar Unverzeihliches an Nietzsche zu mobilisieren verspricht.
2. Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht Nach dem im Prolog Gesagten kaum fraglich: Pia Daniela Volz (= Schmücker) hat schon vor über dreißig Jahren (1990) eine Art Benchmark in diesem Themenfeld gesetzt, die es erlaubt, alle Vorläuferstudien an dieser zu messen, des Gleichen alle nachfolgenden Untersuchungen bis heute, und zwar mit negativem Ergebnis für alle Gegner der Syphilisdiagnose, welches auch immer ihre Motive gewesen sein mögen. Die Auswahl der bei dieser Gelegenheit zusammengestellten und im Folgenden näher charakterisierten Studien erfolgte dabei nach bestem Wissen und Gewissen und – dies versteht 37 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sich vielleicht von selbst – unter Absehung von eigenen Vorabeiten. Vielleicht ist es aber gleichwohl erlaubt anzumerken: Meine Haltung zur Syphilisfrage ist seit meiner allerersten Studie zu diesem Themenkomplex unter der Überschrift Vom Nutzen und Nachteil von Krankheitstheorien – in zwei Teilen: Nietsches Krankheit sowie Die Krankheit des Vaters (vgl. Niemeyer 1998: 68–91) – klar und wird mitsamt der seitdem (vgl. Niemeyer 2011: 22–134) bzw. im vorliegenden Buch angebrachten erforderlichen Korrekturen und Aktualisierungen hinreichend deutlich. Nicht berücksichtigt habe ich im folgenden Literaturbericht des Weiteren die doch recht zahlreichen Versuche, sich auf literarische Art mit Nietzsches Krankheit auseinanderzusetzen (etwa Isabelle Prêtres Mein Wahnsinn ist meine Insel [1993], Otto A. Böhmers Der Hammer des Herrn [1994] oder Joachim Köhlers Nietzsches letzter Traum [2000]) – von einer Ausnahme abgesehen und auch nur, weil ich im Zuge der Vorbereitung dieses Buches in meinem Bekanntenkreis immer mal wieder auf dieses Beispiel angesprochen wurde und gerne meine Meinung dazu sagen möchte: Irvin D. Yaloms Roman When Nietzsche wept (1992). Ansonsten habe ich mich um Vollständigkeit bemüht bei meinem nun folgenden Literaturbericht zur Krankengeschichtsthematisierung ad Nietzsche in chronologisch aufsteigender Linie anhand von insgesamt 76 (die Gliederung verspricht gar 77!) Beiträgen unterschiedlichster Intention und Qualität aus der Feder nicht nur von Medizinern. Zu berichten ist – um dies zumindest doch schon vorwegzunehmen – in Teilen von einer Geschichte der Unterschlagung deutungsrelevanter Quellen, die einem hin und wieder den Atem stocken lässt über die dabei jeweils leitenden Erkenntnisinteressen zumal von Nietzsches Schwester und ihrem Kreis, auf die ich, falls nötig und sinnvoll, schon mittels der Überschriften aufmerksam zu machen suche.
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Ola Hansson (1889/90): Das Damoklesschwert lautet auf: »Erbübel«
Hanssons (1860–1925) Essay Friedrich Nietzsche. Seine Persönlichkeit und sein System (1889/90) basiert auf einer Vorstudie, die in Unsere Zeit 11/1889 erschien. Diese Vorstudie mit hier nicht interessierendem Prioritätenstreit zwischen diesem schwedischen Autor und dem dänischen Nietzscheentdecker Georg Brandes (vgl. Fambrini 38 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
1997: 421 ff.) steht am »eigentlichen Beginn der Nietzsche-Rezeption in Deutschland« (Gloßmann 1997: 93), wichtiger hier: mit den am 9. und 11. März 1890 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Ergänzungen, den Abschnitten I, II und VIII, steht dieser Essay für den Beginn einer insgesamt recht unerquicklichen öffentlichen Debatte um Nietzsches Krankheit und die dabei einzubeziehenden erblichen Gesichtspunkte. Hansson hierzu in Abschnitt II, sich mystifizierend auf Informationen einer Familie 5 berufend, »die mit Nietzsche von seiner Kindheit an verkehrte«: »In seiner Familie war die Disposition für Geisteskrankheiten auf väterlicher wie auch mütterlicher Seite über Generationen vererbt worden. Sein Vater war früh dem Wahnsinn zum Opfer gefallen. Nietzsche wußte, daß dieses Damoklesschwert über seinem Haupte hing, und er wurde von der angstvollen Spannung, wann der dünne Faden reißen könne, verzehrt. Es war erst im vorigen Jahr, daß Gott Fatum ihn traf, diesen letztgekommenen unter den großen Männern des Geistes, denen die Nornen den schrecklichsten aller Tribute abfordern für das Genie, das sie ihnen verliehen.« (Hansson 1889/90: 13)
Wohlgemerkt: Syphilis hatte Hansson hier nicht auf dem Schirm. Gleichwohl beeinflusste die von ihm unterbreitete Annahme eines hereditär belasteten und vom Schicksal für Hybris bestraften Genies den Folgediskurs, wie zu zeigen sein wird, erheblich, zumal es dem Bedrohungsszenario korrespondierte, dass dem folgenden Notat von Otto Binswanger, Leiter der Psychiatrischen Klinik Jena während Nietzsches Aufenthalt dortselbst (von Januar bis März 1889) entnehmbar ist: »A. Erblichkeit: Geisteskrankheiten bei 1. Vater / Talente bei: III Geschwistern. / B: Andere Ursachen: Syphilis […]. Diagnose: Paralys[is] progr[essiva].« (zit. n. Benders/Oettermann [Hg.] 2000: 739)
Kurz geredet: Seitdem galten insbesondere Nietzsches Schwester, primär wohl aus geschäftlichem Kalkül, sekundär aus moralischen Bedenken, drei unausgesprochene Axiome bezogen auf die Krankheit ihres Bruders als nicht verhandelbar 6: Es war keine Syphilis! Es war Angespielt wird hiermit auf den Leipziger Philosophieprofessor Max Heinze (1835– 1909), bis 1863 Lehrer (auch Nietzsches) in Schulpforta und 1874 für kurze Zeit Nietzsches Kollege in Basel. Auf ihn als auch seinen Informanten wird Türck noch in der letzten Fassung seines 1891er Textes verweisen. (vgl. Türck 141931: 392) 6 Aufschlussreich in dieser Frage: Ein erstmals 1997 im Original publizierter Brief aus Paraguay vom 23. März 1889, in welchem Nietzsches Schwester gegenüber Professor 5
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keine Erbkrankheit! Ergo: Es war auch keine Erbsyphilis! Im Lichte dieser drei Axiome – die aus Perspektive der Schwester selbstredend auch den Nächstverwandten zu vermitteln waren, – machen viele der im Folgenden darzustellenden Interventionen der Schwester Sinn: als Versuche, jenes von Hansson aufgehängte Damoklesschwert zu entsorgen.
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Hermann Türck (1891): Der »Entrüstete«
Türcks (1856–1933) Buch Nietzsches philosophische Irrwege bildet den Auftakt einer Publikationsfolge, die in dem Longseller Der geniale Mensch (1896; 31898; 141931) – mit Pathographien auch zu zahlreichen anderen Literaten – kulminiert und vom eben gegeben Ola-Hansson-Zitat seinen Ausgang nimmt (vgl. Türck 1891: 9 f.), erweitert um die Information, Nietzsche sei 1876 kopfleidend geworden, und zwar mit bemerkenswerten Folgen: »Haß […] gegen alles Menschliche, gegen Alles, was nur im entferntesten an menschlicher Gesellschaft an Menschenglück und Menschenliebe erinnert, ist die Signatur seines ganzen Denkens und Fühlens, wie sie sich in allen seinen Schriften seit dem unglücklichem Jahr 1876 ausspricht, dem Jahr, in welchem sein schweres Kopfleiden ausbrach und damit zugleich die ererbte Seelenstörung überhand nahm.« (Türck 1891: 25)
Jahre später erweiterte Türck diese vom Grundsätzlichen her auf Houston Stewart Chamberlain zurückgehende und von diesem erstmals 1896 publizierte ›Diagnose‹ 7 dahingehend, dass damals, in, wie es jetzt heißt, den »unglücklichen Jahren 1875 und 1876«, Nietzsches »auf eine selbstverschuldete, alle Organe, namentlich aber das Nervensystem tief schädigende infektiöse Krankheit zurückzuführendes Augen- und Kopfleiden ausbrach und damit zugleich auch einen Binwanger in Jena »zum ersten Mal den Nietzsches-Mythos entwickelt: das kerngesunde, durch keine Lustseuche […] entstellte ›Genie‹.« (Guthke 1997: 545) Dazu gehört die Fixierung der Guidelines ihrer in den nächsten Jahren verfassten zahllosen, von Fälschungen und Lügen durchzogenen Beiträge zur Nietzsche-Biographie resp. zur Krankengeschichte Nietzsches. 7 Ihm galt Nietzsches Richard Wagner in Bayreuth (1874) als »die schönste Schrift über Wagner, die es überhaupt gibt; geschrieben, kurz ehe die ersten Anzeichen des furchtbaren Leidens sich einstellen, das diesen herrlichen Verstand zertrümmern und ihn zum Hofnarren eines frivolen, skandalsüchtigen fin de siècle machen sollte.« (Chamberlain 1896: 88)
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
ererbten seelischen Defekt zu Tage treten ließ, der sich vorher nur in einer sehr excentrischen Denk – und Ausdrucksweise gezeigt hatte.« (Türck 31898: 323) Mehr Aufklärung – von der nicht ganz korrekten Satzstellung wollen wir hier absehen – wird nicht gegeben, so dass wir die Fragen an Türck, wohlgemerkt: einen Nicht-Mediziner, hier nur notieren wollen: Was meint ›selbstverschuldet‹ ? Welche ›infektiöse Krankheit‹ ? Und welcher ›ererbte Defekt‹ ? Eine Antwort auf die letztgenannte Frage sollte wohl der 1891 er Einstieg andeuten. Türck nämlich schrieb: »Alle Irren-Aerzte, sowie alle Diejenigen, die mit Trunk- und Morphiumsüchtigen längere Zeit in nähere Berührung gekommen sind, wissen, daß eine der schlimmen Folgen des unmäßigen und leidenschaftlichen Alkoholund Morphiumgenusses darin besteht, daß die betreffenden Individuen mit der Zeit mehr und mehr moralisch verkommen.« (ebd.: 5)
Indes: Dass hiermit Nietzsche gemeint ist, wird nicht recht deutlich. Zumal Türck als Nächstes auf Émile Zolas unmittelbar zuvor erschienenen Roman La bête humaine (1890) zu sprechen kommt. Türcks Interesse gilt allerdings nicht Zolas feinsinniger Kritik an bürgerlicher Doppelmoral. Seine Argumentationsstrategie geht vielmehr dahin, Nietzsche umstandslos dem mit dem vorgenannten Zitat umschriebenen Typus jenes einschlägig erblich belasteten Lokomotivführers namens Jacques Lantier zuzuschlagen. Dem folgt dann die Exekution insbesondere von Nietzsches Spätwerk (insbesondere Genealogie der Moral sowie Jenseits von Gut und Böse), aber nicht etwas mittels Textexegese, sondern per Skandalisierung von Nietzsches »neuer fixer Idee von der Verkehrung aller Moral in ihr Gegentheil«, stammend »aus der Zeit nach dem Ausbruch seines schweren Kopfleidens im Jahr 1876.« Türck weiter, wohlgemerkt: von Nietzsche redend: »Die Bestie im Menschen konnte sich freilich auch jetzt nicht in T h a t e n äußern, dazu war der Einfluß, den die besseren Triebe in ihm gewonnen, zu mächtig; dafür wurde nun aber zum Ersatz die Befriedigung der wilden Instinkte als h e r r l i c h e s I d e a l gepriesen, als etwas Wünschens- und Hoffenswerthes, als etwas Großes und Werthvolles, Vornehmes, Aristokratisches.« (Türck 1891: 12)
Wenige Zeilen darauf folgt der Knock-out aus der Perspektive des Normalempfindenden, also jener Türcks:
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»Uns schaudert die Haut, wenn wir von einem Lustmord lesen, von der unheimlichen Grausamkeit eines bestialischen Menschen, der ein Kind nur zum Vergnügen langsam mit ausgesuchten Qualen mordet und sich wollüstig an den Zuckungen des armen kleinen Opfers weidet. Friedrich Nietzsche aber sah etwas Großes und Herrliches darin, weil er selbst dazu den Trieb in sich fühlte, ohne ihm Folge leisten zu können […]. So wird für Nietzsche der Verbrecher zum Menschheitsideal.« (ebd.: 12 f.)
Türck offeriert in der Folge Sätze dieser Art in Fülle, eine einzige Kostprobe sei noch gegeben: »Wenn die Gesellschaft sich auflöst, wenn alles zu einer einzigen Zerstörung, zu einer einzigen Orgie wird, jauchzt der moralisch irrsinnige Nietzsche auf; er preist mit hohen Worten jenes herrliche Schauspiel, da die Gesellschaft der Menschen zugrundegeht und alles aufprasselt wie ein riesiges Feuerwerk.« (ebd.: 51)
Betrachtet man diese ihrerseits schon fast ins Pathologische weisende psychiatrisierende Gegnerschaft der ersten Stunde, wird man sich kaum wundern dürfen über Standardklagen über »das ärmliche Niveau des Dr. Hermann Türck« (Vedente 1892: 633) in links-nietzscheanischen Kreisen – in diesem Fall aus der Zeitschrift Die Gesellschaft – sowie den nicht minder psychiatrisierenden Charakter mancher der frühen Nietzscheverdikte aus christlicher Sicht, aber auch aus sozialwissenschaftlichem und pädagogischem Lager. Stellvertretend erwähnt seien hier nur (christliche?) Urteile der Art erwähnt: »Das Böse, die Macht der Verwirrung und Verirrung, wurde in ihm so stark, daß seine körperliche und geistige Gesundheit darunter zusammenbrach.« (Grupp 1895: 242)
Anderen galt als ausgemacht, dass Nietzsche »bald das Christentum, bald Paulus, bald Schiller, bald Wagner, bald Carlyle […] stellvertretend für seine Krankheit ans Kreuz schlägt.« (Bonus 1899: Sp. 571) Dritte schließlich waren allenfalls noch unsicher, ob Nietzsches »Wahnsinn ihn zu seiner Philosophie oder seine Philosophie ihn zum Wahnsinn geführt hat.« (Blau 1903: 100) Dies in Rechnung gestellt, überrascht nicht, dass das katholische Pädagoge Otto Willmann 1901 in einigem Gegensatz zu seinen sonstigen, eher vorsichtigen und jedenfalls doch durchaus sachkundigen Urteilen zu Nietzsche meinte, der rechte Gesichtspunkt zur Beurteilung dieses »enfant terrible der Modephilosophie« sei der »psychopathologische«, denn:
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»In Nietzsches Philosophieren wirkt die Geistesumnachtung vor, welcher er in seinen letzten Lebensjahren verfiel: Verstörung des Gemüthes und Geistes spricht aus jeder Zeile, die Nietzsche geschrieben hat; er irrte nicht bloß, sondern war irre.« (Willmann 1901: 171)
Und um die Bildungshistoriker und Sozialwissenschaftler nicht zu vergessen: Der sich zunächst durchaus als Nietzscheverehrer verstehende nachmalige Pädagogikstar Friedrich Paulsen (1846–1908) erklärte im Februar 1897 seinem Freund Ferdinand Tönnies (1855– 1936), den nachmaligen Begründer der Soziologie: »Es war doch von Anfang an eine pathologische Seite in seinem Denken.« (zit. n. Tönnies/Paulsen 1961: 321) Diese Beispiele lehren: In der Folge und zumal im Sog des erwähnten Bucherfolgs von Türck 8 gab es kaum noch ein Halten mehr: Das psychiatrisierende Deutungsmuster feierte in der Folge beachtliche Erfolge, half es doch, einen unbequemen Analytiker des Bürgerwie Christentums sowie des Deutschtums und in dieser Dreiheit einen gefährlichen Jugendverführer (vgl. Niemeyer 2019, 289 ff.: …) auf vergleichsweise bequeme Weise ad acta zu legen, Nietzsche, wie von Türck vorgemacht, als einen typischen ›Hereditarier‹, auszuweisen, von Türcks Kronzeugen, dem Psychiater Heinrich Schüle (1840– 1916), als »erblich belastetes Individuum« (Türck 1891: 69) übersetzt. In diesem Begriff, so will mir scheinen, wächst zusammen, was Türck am Exempel des Jacques Lantier aus Zolas La bête humaine zu exponieren trachtete, Nietzsche als einen »Fall von …« ausweisend. Das Problem dabei: Gesetzt, Nietzsche sei Syphilitiker, war Zola fraglos eine ganz ungeeignete Referenzfigur in Fragen wie diesen, sei es aus Prüderie, sei es aus Ignoranz. Die Folgen dessen werden wir noch besichtigen (s. IV/11): Zola gab dem um 1900 anhebenden Vererbungsdiskurs Auftrieb – so wie letztlich auch Türck: Nietzsches Progressive Paralyse wird von ihm erst gar nicht als solche – und insoweit als durch Syphilis verursachte – diskutiert, wohl auch, um das von Schüle entlehnte Attribut ›Hereditarier‹ nicht zu gefährden. Das Problem dabei: Ein derartiger Begriff, bei dem der Vererbungsgesichtspunkt so eindeutig über sozialwissenschaftlich aufzuklärende Aspekte dominiert, öffnet, wie zumal die fernere Geschichte zeigen sollte, einer eugenischen Lösung erst recht Tür und 8 Türcks Buch Der geniale Mensch, aus dem 1891er Aufsatz hervorgegangen, erschien 1931 in 14. Auflage mit einem Umfang von 429 Seiten, zumal in den USA erzielte es unter dem Titel The Man of Genius beachtliche Verkaufszahlen.
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Tor. Einer eugenischen Lösung also auch, jedenfalls was die NS-Zeit angeht und in Kapitel V zu diskutieren sein, für Nietzsche. So betrachtet haben wir nun doch etwas gelernt von Türck, etwas Schreckliches und Abschreckendes, womit die bald schon aufkommende Kritik an Türck als durchaus verharmlosend gelesen werden muss, inklusive der Türck-Kritik aus dem Lager von Nietzsches Schwester. »Türck erklärt Nietzsches Schriften rundweg als Entladung perverser, anderweitig in ihrer Freiheit gehemmter Mordinstinkte«, referierte gleichwohl und den wichtigsten, eben angedeuteten Kritikpunkt unterschreitend Raoul Richter ganz richtig, um, ebenso richtig, hinzuzusetzen: »Solche Ansichten wären an diesem ernsten Orte nicht der Erwähnung wert, wenn nicht ihre Vertreter angesehene Gelehrte wären, und ihre Bücher in mehreren Auflagen starken Absatz fänden.« (Richter 31909: 97) So dauerhaft starken Absatz übrigens, dass Türck alle Zeit der Welt hätte haben müssen – über vierzig Jahre –, irgendetwas Substantielles an seiner Nietzsche-Kritik von 1891 zu ändern oder neuere Forschung einzubeziehen. Er tat es nicht, abgesehen vielleicht davon, dass in späteren Auflagen Zola stillschweigend unter den Tisch fiel und, sich von selbst verstehend, der Tod Nietzsches nachgetragen werden musste, selbstredend nach altbewährtem Muster kommentiert, nämlich wie folgt: »Sein Haß gegen alle gesunden selbstlosen Regungen des Menschenherzens steigerte sich in demselben Maße, in dem die krankhaften Gefühle bei ihm überhandnahmen, bis schließlich 1889 eine völlige Verwirrtheit mit Tobsuchtsanfällen sich einstellte, auf die dann eine dauernde Verblödung gefolgt ist. Er starb 1900.« (Türck 141931: 393)
Sätze wie diese, aber das Vorstehende insgesamt schreien geradezu nach Nietzsche als Kritiker, deutlicher: legen die Idee nahe, er habe ihn, Türck, gemeint, als er in Jenseits von Gut und Böse schrieb: »[D]er entrüstete Mensch […] mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall.« (5: 45)
Dabei sei gerne eingeräumt: Die im Fall Türck im Jahr 1931 zu beobachtende Fortdauer des Ungeistes, dem er exakt vierzig Jahre zuvor Ausdruck gegeben hatte, rufen fast schon nach Mitleid für diesen ›Entrüsteten‹. Und: Selbst Richters, wie gesagt – und im Vergleich zu Nietzsche erst recht zu beobachten – gänzlich unzulängliche Kritik hat ihren Wert. Genauer besehen tut sich nämlich tatsächlich ein Ab-
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grund des Irrationalen im Herzen von Christen- 9 wie Bürgertum am Exempel des Türck-Buches und seines Erfolges auf. Umso wichtiger wäre es gewesen, diesen Abgrund durch eigene Tätigkeit nicht noch zu vergrößern. Dass dieser Rat bei DDR-Marxisten vom Kaliber Wolfgang Harich in den Wind gesprochen ist, 10 versteht sich vielleicht von selbst. Aber selbst Richter blieb in dieser Frage resonanzfrei, wie sich anhand der Besichtigung seiner eigenen editorischen Aktivität erweisen wird, der sinnvollerweise allerdings erst nähergetreten werden kann im Anschluss an die nächsten zwei Kapitel.
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Heinrich Köselitz via Maximilian Harden (1893): Kein »Erbübel!« Ersatzweise: Schlafmittelmissbrauch plus Überarbeitung
Harden publizierte in der von ihm begründeten und sehr erfolgreichen Zukunft am 1. April 1893 Neues von Friedrich Nietzsche des Inhalts, Besserung sei wohl nicht mehr zu erwarten, wenngleich gelte: »Die Geisteskrankheit Nietzsches ist von Herrn Ola Hansson u. a. irrtümlich auf eine erbliche Belastung zurückgeführt worden.« (Harden 1893: 308) Hauptentlastungszeuge: Peter Gast (d. i. Heinrich Köselitz), in der Vorrede zu seiner Zarathustra-Edition mit dem später auch von der Schwester (vgl. Förster-Nietzsche 1895: 10) gegebenen Hinweis auf (1.) Nietzsches Urgroßvater Gotthelf Engelbert Nietzsche (1714–1804), »Sohn eines polnischen Schlachtziz Nietzki«, der »noch mit 90 Jahren Galopp [ritt]«; sowie auf (2.) den natürlichen Tod des Vaters infolge eines Unfalls (Treppensturz); schließlich auf (3.) den Umstand eines möglichen Schlafmittelabusus (Choral) plus Überarbeitung. Köselitz: »In einer so häufigen […] Anwendung aber, wie sie Nietzsche für nötig befinden mochte, mußte das Mittel schließlich schädigend wirken.« (zit. n. Harden 1893: 309)
Türck, ursprünglich jüdischen Glaubens, konvertierte zum Christentum. Harich verfolgte ohne jede Sorge ob des Niveaus dieses Mit-Kombattanden 1982 von Ost-Berlin aus den – dann doch nicht realisierten – Plan, Türcks 1891er Text einem vierzehn Titel umfassenden Sammelband einzufügen, der »den Kampf gegen das Erbe Friedrich Nietzsches und gegen heutige Versuche, es wiederzubeleben, auf eine möglichst breite Grundlage stellen [soll].« (Harich 2019: 274)
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Thomas Mann (1897): Der Dichter deutet an: Syphilis
Manns (1875–1955) im Januar 1897 im Simplicissismus – in deren Redaktion Mann 1898 eintrat – veröffentlichte Novelle Der Tod gibt Kunde von dem überragenden Potential des damals 21-jährigen, durch den frühen Tod seines Vaters Erschütterten und dieses Thema in dieser Novelle thematisierend. (vgl. Krüll 1993: 125) Ähnlich wie in der Novelle Der Wille zum Glück (1896) sind, hier schon durch den Titel signalisiert, Nietzsche-Motive erkennbar. 11 Wichtiger im Blick auf Nietzsche ist aber fraglos der hier in Rede stehende Text, dessen Rang als Vorstudie zum Roman Doktor Faustus (1947) zwar für ein Detail behauptet wurde (vgl. Vaget 1990: 546), insgesamt aber umstritten ist (etwa Pütz 1977; Körber 2006: 57 ff.) und auch hier nicht behauptet werden soll. Außer Frage aber steht Manns Interesse für die Syphilisthematik in jenen Jahren 12 sowie der Umstand, dass der Autor von Italien aus – wo er diese Novelle während eines gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich verbrachten Aufenthalts konzipierte – lebhaft Anteil nahm an der sich zeitgleich in Naumburg (später in Weimar) abspielenden Tragödie um Nietzsche. Manns als Protokoll eines Sterbenden angelegter Text, eigentlich ein Tagebuch und als solches der Versuch, die subjektiven Theorien eines um sein Sterbedatum wissenden Grafen 13 nachvollziehbar zu machen, darf insoweit auch gelesen werden als Anspielung auf diese seinerzeit die europäische Kulturszene beschäftigende Tragödie. Anspielungen auf Nietzsche sind denn auch anhand zahlreicher Details erkennbar, angefangen – was die Praxis, nicht die Theorie 14 angeht, – bei dem Sterbedatum (»den zwölften Oktober meines vierDer Sache nach geht es um den literarischen Versuchs, den Tod des an einer mysteriösen Krankheit leidenden jugendlichen Helden als einen zu denken, der sich infolge des Veto des zunächst sich sperrig gebärdenden Brautvaters um fünf Jahre hinauszögern lässt, ehe er nach endlich erreichtem Liebesglück in der Hochzeichtsnacht schließlich eintreten kann. 12 Als Beleg kommt auch sein Kommentar von 1895 zum Fall Panizza (s. II.5) in Betracht. Denn Manns Gutheißung von Panizzas Verurteilung vom Standpunkt jener »Leute, die in der Kunst ein bißchen guten Geschmack noch immer verlangen« (GW XIII: 367), spricht ja nicht dagegen, sondern eher dafür, dass Mann eine geschmackvolle Erörterung des Themas Syphilis – wie in Der Tod – begrüßt hätte. 13 Dass dieser, wie Hans R. Vaget behauptete, »mit Blick auf Bourgets ›Dilettanten‹Gestalten und Huysmans’ Grafen Des Essentes (A Rebours) konzipiert« (Vaget 1990: 547) sei, scheint mir vorerst nur eine These zu sein. 14 Im Blick auf diese wird man die in der bisherigen Forschung herausgestellte An11
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zigsten Lebensjahrs«; GW VIII: 71) und die um es gebaute Mär. »Ich wußte mit neunzehn oder zwanzig Jahren, daß ich mit vierzig sterben müßte« (GW VIII: 73), lesen wir da, fast in Fortschreibung brieflicher Mitteilungen Nietzsche über Sorgen, die ihm wegen des frühen Todes seines Vaters (im 36. Lebensjahr) umtrieben. In Richtung Nietzsche weist des Weiteren die Anspielung auf eine zu erhöhende »BromDosis« des Grafen, »vielleicht, daß ich nun ein wenig mehr schlafen kann.« (GW VIII: 72) Die Vokabel »vielleicht« könnte andeuten, dass das Therapeutikum Brom nicht nur in die Richtung des von Nietzsches Schwester als kausal für ihres Bruders Zusammenbruch im Januar 1889 geltend gemachten Schlafmittelabusus zugehört, sondern in die Richtung weist, die dem in jenem Januar von Franz Overbeck in Nietzsches Turiner Zimmer gefundenen Brom zukommt: als AntiEpileptikum, eingesetzt gegen ein Begleitphänomen jenes Zusammenbruchs (s. IV.1). Nicht zu vergessen: Die Erinnerung des Grafen an sein »wirres buntes Leben« (GW VIII: 70) könnte auf Nietzsches Imperativ »gefährlich leben!« und die entsprechenden Fantasien vom Ausleben des bisher Unausgelebten in der Zeit unmittelbar vor der Lou-Affäre reflektieren. In Der Tod wird diese Denkfigur weiterentwickelt in Gestalt der den Grafen auf dem Sterbebett überwältigende Erinnerung an das »anmutige und flammend zärtliche Geschöpf unter dem Sammethimmel von Lissabon«, das ihm zwölf Jahre zuvor die jetzt bei ihm lebende Tochter »schenkte und starb, während ihr schmaler Arm um [s]einen Hals lag.« Eröffnet ist mit diesem Tod im Kindbett die Spurensuche endgültig in Richtung Syphilis, etwa in Gestalt der Suche nach diesbezüglich verräterischen Anzeichen im Antlitz der Tochter. »Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder sind sie und nachdenklicher.« Ertragreicher ist da schon der Umstand, dass dem ein striktes, an Asuncion gerichtetes Dementi des Vaters der Art folgt: »Weintest Du, weil ich ›krank‹ sei? Ach, was hat das damit zu tun! Was hat das mit dem zwölften Oktober zu tun! …« (GW VIII: 71)
Deutlich erkennbar, durch diese Zeilen hindurch und gesetzt, der ›zwölfte Oktober‹ könne als Zahl genommen werden für einen Fatalismus anderer Ordnung, geheftet an den frühen Tod von Nietzsches spielung auf die – etwa in Götzen-Dämmerung gelehrte – Lehre vom »Tod aus freien Stücken« (vgl. Vaget 1990: 547) zu erwähnen haben.
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Vater, der aus sich heraus auch den frühen Tod des Sohnes zu einem nicht vermeidbaren Ereignis macht: die Abwehr der Vorstellung, Nietzsches Tod sei in Wahrheit Spätfolge der Syphilis seines Vaters. Ein Szenario, das durch Henrik Ibsens Gespenster (1881) damals durchaus im Diskurs präsent war und, wie noch genauer zu zeigen sein wird (s. V.1/3), auf den Fall Nietzsche(s) anwendbar scheint.
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Heinrich Köselitz (1900): Der zweitwichtigste entsorgt den wichtigsten Zeugen
Zu dieser Geschichte gehört eine Vorgeschichte. Köselitz schien zunächst nach Nietzsches Turiner Zusammenbruch der ideale Herausgeber, auch, weil die Schwester noch in Paraguay gebunden war. Als bezüglich auf Nietzsche immer um Rat gefragter Korrektor erlaubte er sich kleinere Eingriffe in den Text. Die Folgen dessen offenbarte die im August 1893 in Druck gegangene Dritte Auflage von JGB, die vom Verlag als »endgültige Ausgabe mit den Aphorismen-Titeln« (zit. n. Hoffmann 1991: 718) beworben wurde. Denn die hier dargebotenen insgesamt 299 Aphorismen-Titel stammten nicht von Nietzsche, sondern von Köselitz. Im September 1893 fand diese – vergleichsweise harmlose – Vorgeschichte ihr Ende, als Förster-Nietzsche aus Paraguay zurückkehrte. Die Geschichte der Werkfälschungen gewann damit eine ganz neue Qualität, wie am ehesten Köselitz selbst hätte ahnen müssen eingedenk seines Spotts vom März 1891, es sei »zum Kranklachen zwei gottesfürchtige Weiber […] über die Veröffentlichbarkeit von Schriften eines der ausgemachtesten Antichristen und Atheisten zu Gericht sitzen zu sehen.« (zit. n. Hoffmann/Peter/Salfinger 1998: 329) Dem korrespondiert, dass er sich im August 1891 den ihm von Overbeck kolportierten Vorschlag Förster-Nietzsches, man solle sich »zu einer Umarbeitung des Zarathustra IV. für den Zweck einer Veröffentlichung verbinden« (ebd.: 339), mit den Worten abwies: »Dass sich eine Hand finden werde, die sich zur Verstümmelung dieses IV. Zarathustra herbeiliesse, glaubt sie wohl selbst nicht.« (ebd.: 340) Sieben Jahre später war es Köselitz selbst, der Förster-Nietzsche die Hand bot. Jedenfalls ließ er sich im Herbst 1899, wohl primär aus pekuniären Motiven, von dem überlebenden ›gottesfürchtigen (?) Weib‹ ins Nietzsche-Archiv nach Weimar locken mit dem Versprechen, sie werde abfällige Äußerungen Nietzsches in Briefen an Dritte über ihn unterdrücken und keine Einwände er48 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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heben, wenn er gleiches beabsichtige mit den ihn störenden Äußerungen Nietzsches (vgl. Janz 1972: 36 ff.). Im Ergebnis dessen war Köselitz ab 1900 im Nietzsche-Archiv als (neuer) Mitherausgeber tätig und machte sich in der Folge als »willenloses Werkzeug« (Hoffmann 1991: 45) mitschuldig an Förster-Nietzsches Fälschungen. Dies zeigt exemplarisch Köselitz’ zusammen mit Arthur Seidl besorgte Edition des Ersten Bandes der von Förster-Nietzsche verantworteten und 1909 abgeschlossenen Reihe Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe (1900). Sie ist für unser Thema vor allem wichtig durch die hier enthaltenen Briefe Nietzsches an seinen Arzt Otto Eiser. Es sind exakt drei Stück, zwei von Anfang 1880, einer von Anfang September 1882. Nietzsche wartet hier mit der Mitteilung auf, er werde demnächst bei ihm in Frankfurt/M. »Morgens gegen 8 Uhr« eintreffen, auf seiner Reise via Paris, wohin er zu »übersiedeln« gedenke – mit, wie Nietzsche seinem Arzt offenbar mündlich erläutern wollte, Lou von Salomé und Paul Rée, ein Plan, der sich auf dramatische Weise zerschlug. Wichtiger ist hier Nietzsches Nachsatz: »In der Hauptsache darf ich mich als Genesen und mindestens als Genesenden betrachten.« (6: 251) Von welcher ›Hauptsache‹ ist hier die Rede? Man wüsste gern mehr, kann es aber nicht, denn der Briefempfänger, der wohl wichtigste Zeuge in Sachen von Nietzsches Krankheit, ist, wie an den oben angegebenen Daten ablesbar, seit drei Jahren tot. Ein Tod nicht etwa in Betonschuhen, sondern auf, wie es scheinen will, natürliche Weise (um die Überschrift ein wenig auch als Trigger erkennbar werden zu lassen). Gleichwohl und um die den Kriminalisten interessierende Frage cui bono nicht zu vergessen: Selten wohl war ein Tod für Nietzsches Schwester günstiger als jener Eisers – nebst der zweiten noch der Erledigung harrenden Aufgabe: den der Entsorgung seiner geistigen Hinterlassenschaft, namentlich der Briefe Eisers an Nietzsche inklusive der Briefe Nietzsches an Eiser. Für diesen Job verpflichtete sie ihres Bruders vormaligen Adlatus. Schon gleich nach dem Turiner Zusammenbruch hatte sie ihn, wie Ulrich Sieg anhand bisher unbeachteter Briefe dartat, auf ihre Lesart desselben (»Das ganze Leiden ist nur Folge des Choral!«) einzuschwören versucht und aufgefordert, ritterlich für seinen kranken Freund einzutreten. Sieg: »Bei all dem spielte sie geschickt auf der Klaviatur des Akademikerhasses, für die der mittellose Komponist durchaus empfänglich war. Es seien ›gelehrte Freunde‹, die Nietzsches betreuenden Arzt in Jena, Professor Bins-
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wanger, ein ganz falsches Bild von den Ursachen seines Leidens vermittelt hätten.« (Sieg 2019: 146)
Als Frucht von derlei und später nachfolgender Gehirnwäsche – und diesen Aspekt ignoriert Sieg, wie ihm der Name Eiser ohnehin nur eine Zeile wert ist (ebd.: 79), – wird man den Umstand zu verrechnen haben, dass Köselitz in seinem Vorwort zu Gbr I das Vorhandensein von nur noch drei Briefen Eisers sowie das Fehlen zahlreicher Antwortbriefe Nietzsches wie folgt erklärte: »[E]in Schlosser sollte die u. a. Nietzsche’s Briefe enthaltende Schublade, deren Schloß ruinirt war, öffnen; die dabei angewandten Mittel (Hineinfahren mit einem glühenden Eisen usw.) waren so barbarisch, daß der größte Theil der Briefe versengt und zerfetzt zu Tage kam; Dr Eiser war über das in seiner Abwesenheit Geschehene außer sich.« (GBr I: V)
Diese haarsträubende, rasch als »unglaublich« (zit. n. Gilman 2009: 401) etikettierte Geschichte sollte kaschieren, dass Förster-Nietzsche höchstpersönlich die fraglichen Briefe ihres Bruders an seinen Arzt und dessen Antwortbriefe vernichtet hatte, aus Gründen, die naheliegen, aber nicht mehr nachweisbar sind: Sie enthielten vermutlich entscheidende Informationen über Nietzsches Syphilis und/oder über die Gedanken, die er sich darum machte. Zum perfiden Nachspiel dieses Krimis gehört Förster-Nietzsches Bemerkung von 1909 aus der Einleitung zu Gbr V: »Auch habe ich einigen Briefe verschenkt, besonders an Aerzte, die meines Bruders Krankheit damals studierten.« (Gbr V/1: X) Man will es nicht glauben: Nietzsches Schwester hat Briefe ihres Bruders verschenkt? Natürlich nicht, vielmehr geht es hier nur um Pose: Förster-Nietzsche konnte sich so im Rückblick auf Köselitz’ Verlustgeschichte in Bezug auf die Eiser-Briefe den Nimbus einer um den Verlust dieser Briefe vergleichbar verärgerten Nietzscheliebhaberin zulegen, die um kaum eine Frage dringlicher besorgt war wie um die der endlichen Klärung von Nietzsches Krankheit – und deren Goodwill von nachlässigen Ärzten, die das ihnen überlassene Material nicht zurückgaben, missbraucht worden sei.
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Elisabeth Förster-Nietzsche (1900/04): Nietzsches Schwester gibt die Richtung vor: »Es war ein Schlaganfall!«
Nach dem eben zu Maximilian Harden Gesagten überrascht nicht, dass Förster-Nietzsches hier zur Debatte stehender Aufsatz Die Krankheit Friedrich Nietzsches am 9. Januar 1900 in dessen Zukunft erscheinen konnte. Auch mit diesem Aufsatz sollte, ähnlich wie dies Heinrich Köselitz in seiner von Harden 1893 populär gemachten Auslegungstendenz versucht hatte, allererst, gegen Ola Hansson sowie Hermann Türck, der Annahme entgegentreten werden, »unser Vater sei kränklich und mit einem Hirnleiden behaftet gewesen.« (FörsterNietzsche 1900: 622) Dieses Argument wird uns noch im Zusammenhang von Nietzsches literarischer Thematisierung der Krankheit des Vaters (s. II.1/2) interessieren. Dies gilt auch für die Brieffälschungen, die Nietzsches Schwester in diesem Aufsatz mobilisierte (ebd.: 635 ff.), um das verspätete Erscheinen von Ecce homo – erst 1908 und dann in verfälschter Fassung – zu erklären. Ins Zentrum des hier Interessierenden gehört allerdings die in diese Fake News eingebaute Erklärung der Schwester für Nietzsches Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 (nach Nietzsches Tod erweitert um eine Erklärung auch für diesen). Sie war notwendig geworden, weil die bis dato, etwa auch von Köselitz 1893 favorisierten Diagnose »Überarbeitung« sowie, um gleichwohl leistungsfähig zu bleiben, »Choralmissbrauch«, nicht mehr trug. Mit Varianten dieser Diagnose war in den 1890 er Jahren noch so mancher NaumburgBesucher nach Hause geschickt worden. Am Ergreifendsten ist dabei wohl der Rapport, den der selbsternannte ›Naturarzt‹ Philo vom Walde (eigentl. Johannes Reinelt [1858–1906]; vgl. Reich 2004: 165) 1898 erstattete: »Frau Pastor Nietzsche sowohl als auch ihre Tochter sind stets überzeugte Anhängerinnen der hygienisch-diätetischen Heilweise (Naturheilkunde) gewesen und haben es mit tiefem Schmerz empfunden, daß der liebe Fritz gegen seine Schlaflosigkeit und die neuralgischen Schmerzen allerlei Medikamente gebrauchte, die seine Gehinnerven immer mehr ruinierten, bis er zuletzt am Chloralgebrauch zu Grunde ging.« (zit. n. Gilman 1981: 702)
Damit war nun, ab 1900, Schluss: Förster-Nietzsche nämlich schrieb jetzt und wiederholte dies weitgehend unverändert im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie von 1904 sowie in Der einsame
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Nietzsche von 1914, hier als Teil strategischen Agierens gegenüber ihrem jüdischen Mäzen Ernst Thiel (vgl. Niemeyer 2011: 38 f.): »Der […] Angriff ging von antisemitischer Seite aus: In einigen anonymen Schreiben wurde auf wahrhaft raffinierte Weise meinem Bruder der Glaube beizubringen gesucht, als ob mein Mann von Südamerika aus einen gegen den Zarathustra gerichteten Artikels geschickt hätte und als ob dieser nun mit seiner und sogar mit meiner Billigung in einem antisemitischen Blatt zum Abdruck gebracht werden solle. Der anonyme Briefschreiber wollte sich für einige judenfreundliche und antisemitenfeindliche Bemerkungen meines Bruders rächen; und um den Einsamen der Einsamsten zu zeigen, daß er selbst die Wenigen verloren habe, die seinem Herzen nahe standen, schrieb er ihm diese boshaften Erfindungen. Mein Bruder fühlte sich tötlich verletzt. Mit keinem Menschen konnte er sich in seiner Verlassenheit aussprechen; und diese Angriffe müssen sich wiederholt haben – schließlich brachen sie ihm das Herz. Erst nach dem Tode meines Mannes […] fand ich in seinen Papieren einen mir vorenthaltenen Antwortbrief meines Bruders, in dem er von diesem empörenden Angriffen spricht und in den leidenschaftlichsten Ausdrücken des Schmerzes meinen Mann anklagt, ihm seinen treusten angeborenen Jünger, seine Schwester, entwendet und verdorben zu haben. Er richtet die bittersten Anklagen gegen meinen Mann und fährt dann fort: ›Ich nehme Schlafmittel über Schlafmittel, um den Schmerz zu betäuben, und kann doch nicht schlafen. Heute will ich so viel nehmen, daß ich den Verstand verliere …‹« (Förster-Nietzsche 1900: 636)
– was ihm dann auch gelang, so darf man jedenfalls die Schwester nach dieser Mär, zusammengesetzt aus klug montierten Brieffälschungen 15, verstehen. Zumal sie fortfuhr, jedenfalls in der deutlich aufgemöbelten Variante dieser Mär von 1904: »Der ganze Brief klang wie der letzte Aufschrei seines gequälten Herzens, – der Bogen zersprang, der Held brach zusammen – ein Schlaganfall traf den Theuersten in den letzten Tagen des Jahres 1888 und lähmte für immer diesen unvergleichlichen Geist.« (Förster-Nietzsche 1904: 897)
Wie man sieht: Die Schlafmittel-Mär bleibt erhalten, wird aber ergänzt um den Hinweis auf ein »anderes Mittel«, das ihm ein Holländer mit Java-Vergangenheit geschenkt habe. Hierauf wird noch im Zusammenhang mit Paul Cohn zurückzukommen sein. Wichtig hier nur: Die 1900 aufs Gleis gesetzte Krankheitstheorie mit dem zentraZu denken ist an die Bemerkung aus Nietzsches Briefentwurf vom 20. Dezember 1882 an Paul Rée und Lou von Salomé: »Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, daß ich die Vernunft verliere« (6: 307) – einen Brief, den die Schwester natürlich unterschlage musste, wenn ihre 1900er Brieffälschung nicht auffliegen sollte.
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len Argument »Schlaganfall!« blieb substantiell unangetastet und begegnet einem auch, allerdings ohne Antisemitenmär, in der im September 1906 verfassten Einleitung zu Bd. X der ›Taschen-Ausgabe‹ (vgl. Förster-Nietzsche 1906: XXXVIII) sowie noch einmal acht Jahre später, diesmal mit Antisemitenmär, in Der einsame Nietzsche (1914) (vgl. Förster-Nietzsche 1914: 524). Das Problem dabei: Der Schlaganfall-Hypothese kommt, anders als die Schwester gehofft hatte, keine die Syphilisdiagnose ausschließende Relevanz zu. Pia Daniela Volz: »Das Auftreten derartiger apoplektiformer Insulte, die an und für sich für das Alter von 55 Jahren ungewöhnlich sind, gehören zum Krankheitsbild der Paralyse.« (Volz 1990: 305)
Bleibt die Frage nach dem Sinn der Antisemitenmär. Ins Auge sticht zumal bei der Urvariante derselben von 1900 der Publikationsort, der den Rückschluss erlaubt, Förster-Nietzsche habe darauf kalkuliert, ihre Erklärung zur Krankheit ihres Bruders werde eher goutiert, wenn sie eine anti-antisemitische Pointe aufweise. Und, nicht zu vergessen: Diese Pointe werde ihrem Bruder weitere Leser dieser Glaubensorientierung zuführen. Man erkennt schon an diesem Detail die für Förster-Nietzsche typische Durchdachtheit jedes einzelnen ihrer Argumentationsschritte – was Pleiten im Detail nicht ausschließt. Denn mit ihrer Andeutung von 1900, der anonyme Briefschreiber, ein Antisemit, habe »sich für einige judenfreundliche und antisemitenfeindliche Bemerkungen meines Bruders« respektive, wie 1904 präzisiert wird: »in Nietzsche’s letzten Schriften« (Förster-Nietzsche 1904: 896) rächen wollen und sei letztlich qua dadurch indizierter Aufregung Schuld am Turiner Zusammenbruch ihres Bruders vom Januar 1889, erlaubte es kritischen Lesern, diesen Antisemiten mit Juden aufgrund der beiden eigenen ressentimentgetragenen Vorgehensweise in Vergleich zu setzen – ein Unding aus antisemitischer Sicht. Dies indes war, so vermutlich Förster-Nietzsches Kalkül, in Kauf zu nehmen angesichts der scheinbaren Schlüssigkeit des Gesamtarguments. Sie verfeinerte es 1904 insofern, als sie Nietzsches Gegner nun unter der Rubrik »Feinde aus dem tückischen Zwergengeschlecht der Kleinen, die alles Hohe und Übermenschliche hassen« (ebd.) darbot – eine Variante nicht ohne Hintersinn, die unter der Hand bestätigte, was Nietzsche in Ecce homo schlicht in Abrede stellte: nämlich dass sein Wort von den »tückischen Zwergen« (I: 154) aus der Geburt der Tragödie anti53 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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semitisch konnotiert war, und zwar ganz im Geiste Richard Wagners. (vgl. Niemeyer 2013: 104 ff.) Den Preis für dieses ohnehin, solange Ecce homo noch nicht veröffentlich war, gegen Null gehende Risiko: Förster-Nietzsche konnte auf diese Weise den geistigen Erben ihres verblichenen Gatten Bernhard Förster aus der völkischen Bewegung 16 suggerieren, Nietzsche sei weiterhin einer von ihnen und gelte nach wie vor als Hassfigur der Juden respektive jener tückischen Zwerge. Freilich, wie Erich F. Podach resümierte: Sie konnte nicht ein einziges Original jener »anonymen Schreiben« aus dem Nachlass ihrer Bruders aufweisen (Podach 1930: 63), mehr als dies: der von ihr 1900 präsentierte Brief mit der Mitteilung Nietzsches, er werde »so viel nehmen, daß ich den Verstand verliere«, bezog sich in seiner ursprünglichen Fassung gar nicht auf Schlafmittel, sondern auf Opium, war nicht an Förster, sondern an Rée gerichtet – und ist nicht von 1888, sondern von 1882. (ebd.: 151) Kurz: Der ganze Vorgang entsprang schlicht ihrer Fantasie, deutlicher: war Effekt ihrer kriminellen Energie, die ihr riet, die Syphilisdiagnose mit allen Mitteln zugunsten der von ihr favorisierten Schlaganfalldiagnose ins Abseits zu rücken und allenfalls der Vokabel »atypische Paralyse« (FörsterNietzsche 1900: 639) ein gewisses Recht zuzugestehen. Entschlossener, und dies war ihre Variante hierzu vier Jahre später im Zuge ihres nun deutlich Fahrt aufnehmenden Feldzugs gegen die »e k e l h a f t e Ve r l e u m d u n g «, als die ihr die Syphilisdiagnose nun galt: »Die Ärzte nannten seine Krankheit ›eine atypische Form der Paralyse‹ d. h. eine Paralyse, die durchaus nicht die Kennzeichen dieser Krankheit trug – a l s o n i c h t P a r a l y s e w a r.« (Förster-Nietzsche 1904: 922)
Erkennbar nutzte die Schwester hier Otto Binswangers nachträglich angebrachten Jenaer Journalvermerk »Verlauf und Zeitdauer der Krankheit N.s gestatten deren Herleitung aus Lues nicht«, hinter dem sich ein veritabler Gelehrtenstreit verbirgt. So war Binswanger noch der (irrtümlichen) Annahme, dass nicht (richtigerweise) 100 %, sondern »höchstens 70 % von Paralysis-Fällen auf Lues zurückzuführen seien« (zit. n. Hoffmann/Peter/Salfinger 1998: 535), jenen von Nietzsche selbstredend eingerechnet. (vgl. auch Volz 1990: 298) Gravierender, weil auf eine eigenaktive Fälschung hinweisend: Förster-Nietzsche konnte keine Originale der von ihr behaupteten Zu ihnen gehörend, von Nietzsche viel zu spät (1884) korrigiert: Nietzsches Verleger (ab 1878) Ernst Schmeitzner (1851–1895?) (vgl. Reich 2004: 198 f.)
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Art nachweisen – schlimmer: Sie unterschlug reale Briefe oder Briefentwürfe ihres Bruders und ließ an ihre Stelle von ihr frei erfundene Briefe treten. Verloren ging auf diese Weise der folgende Passus aus dem Entwurf eines Briefes an sie in Paraguay »von verm. Ende Januar 1888«: »Thatsächlich empfinde ich zwischen uns nicht einmal bloß einen Gegensatz sondern bloß die vollkommene Fremdheit (– denn Gegensätzlichkeit wäre etwas ganz Artiges und Einfaches – ich liebe Gegensätzlichkeit.)« (8: 238)
Ersatzweise präsentierte sie 1900 einen von ihr auf den 10. Februar 1888 datierten, ihrer Phantasie entsprungenen Brief Nietzsches an sie mit den Zeilen: »Eine unerträgliche Spannung liegt auf mir, Tag und Nacht, hervorgebracht durch die Aufgabe, die mir gestellt ist, und die absolute Ungunst aller sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: hier steckt jedenfalls die Hauptnoth. Das Gefühl, allein zu sein, die allgemeine Undankbarkeit und selbst Schnödigkeit gegen mich.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1900: 631 f.)
Der Sinn der (Schreib-) Übung: Es waren nur noch elf Monate bis zum Turiner Zusammenbruch – höchste Zeit also, ein Überforderungsszenario zu kreieren, dass diesen wahrscheinlich machte, sprich: ihn als Folge eines (Schlaf-) Tabletten-Abusus ausdeutbar machte, vor allem das »Schlafmittel Chloralhydrat« (ebd.: 633) betreffend. Über dessen Gefahren, so ergänzte sie noch, sei er durch Ärzte falsch unterrichtet worden, sie hätten ihm »wiederholt versichert, »daß das Mittel unschädlich sei.« (ebd.: 634) Vier Jahre später (vgl. FörsterNietzsche 1904: 916 ff.) besserte sie diesen Punkt auf und erfand einen Brief, in dem ihr Nietzsche im September 1888 von Sils-Maria aus gestanden habe, er nähme, um besser arbeiten zu können, Chloral ein, aber dies sei »nicht so gefährlich« (GB V/2: 796) wie sie fürchte. Ihr Bemühen, Nietzsches Krankheit möglichst zu bagatellisieren, war allerdings schwer in Einklang zu bringen mit Briefen ihres Bruders, die auf ernsthafte und langandauernde Beschwerden hinwiesen. Aus diesem Grund schrieb sie sich selbst einen weiteren angeblichen Brief ihres Bruders, in der Erwartung, das Publikum werde ihm entnehmen, Nietzsche habe im Interesse der Weitergewährung seiner Baseler Pension viele seiner Briefe immer nur an »schlechten Tagen« (GB V/2: 475) geschrieben. Damit nicht genug: Förster-Nietzsche verfiel auf die – 1909 brieflich gegenüber Josef Hofmiller zum Ausdruck gebrachte – Idee, all diese Zeugnisse gleichsam über einen Leisten, 55 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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den des Krankheitsgewinns, zu schlagen: »Um es kurz zu sagen: seine Krankheit erkaufte ihm die persönliche Freiheit.« (zit. n. Hofmiller 1931: 103). Fassen wir zusammen: 1900, zu Beginn des Jahres, in dessen achten Monat Nietzsche starb, erschien Förster-Nietzsches Aufsatz Die Krankheit Friedrich Nietzsches, der die Guidelines aller nachfolgenden Fälschungen fixierte, insbesondere auch jene dann 1904 im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie zusammengetragenen im Blick auf Krankheit und Tod ihres Bruders. 1914, als Der einsame Nietzsche pünktlich zu Kriegsbeginn erschien, stand alles bereit, um die Ernte einzufahren, also, in Begriffen der Schwester: um den Antichristen Nietzsche dem Bürgertum als Kriegs- und Kaiserreichsphilosophen schmackhaft zu machen.
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Thomas Mann (1900): Der Dichter deutet an: Syphilis (Teil II)
Manns am 20. September 1900, also vier Wochen nach Nietzsches Tod im Simplicissimus veröffentlichte Novelle Der Weg zum Friedhof, vom Autor später als »kleine Groteske« (GW XI: 621) bezeichnet, geschrieben aus Erleichterung und als »Erholung« (GW XIII: 117) von der anstrengenden Arbeit an den Buddenbrooks (1901), wurde bisher kaum einmal im Kontext von Nietzsches Krankengeschichte diskutiert. Hans-Dieter Mennel rechnet sie mit guten Gründen der Vorgeschichte des ursprünglich Abwärts geheißenen Buddenbrook-Romans und dem darin sich dokumentierenden Interesses des Autors am »Dekadenzdiskurs der Zeit des Fin de Siécle« zu, »dessen wichtigster Vertreter im deutschen Sprachraum, Friedrich Nietzsche, zu Thomas Manns Kirchenvätern zählt.« (Mennel 2015: 61 f.) Aber von hier bis zu der Annahme, diese Novelle thematisiere nicht nur das damit benannte Theorieproblem, sondern auch Nietzsches praktisches, ist es noch ein weiter Weg. Auch Helmut Koopmann rechnet diese Novelle nicht der auf »Frühjahr oder Herbst 1904« (Koopmann 2012: 150) zu datierenden Vorgeschichte des Doktor Faustus (1947) zu, liest sie also nicht als Bestandteil der mit diesem Roman anschaulich gemachten literarischen Thematisierung von Nietzsches Syphilis. Tatsächlich scheint die pure Handlung weit entfernt zu sein von diesem Thema: Einen alten Mann auf dem Weg zum Friedhof entrüstet der Umstand, dass ein jungen Radfahrer diesen 56 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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gleichfalls nutzt, mit der Folge, dass er dieser Aufregung wegen zusammenbricht und von einem Krankenwagen, offenbar sterbend, abgeholt werden muss. Schauen wir uns, auf der Suche nach Spuren ad Nietzsches Syphilis, die Einzelheiten dieser Novelle einmal etwas genauer an. Weiterführend ist die Zeichnung der Figur des sich entrüstenden Alten namens Liebgott Piepsam. Auffällig an ihm – deswegen wurde diese Novelle bereits im Prolog erwähnt – ist die Nase, offenkundig die Nase eines Syphilitikers, wie dunkel angedeutet wird. Einerseits mittels der vieldeutig auslaufenden Beschreibung: »Diese Nase […] sah aus wie angesetzt, wie eine Faschingsnase, wie ein melancholischer Spaß. Aber es war nicht an dem …«
Andererseits durch den Satz: »Erstens trank er. Nun, davon wird noch die Rede sein.« (GW VIII: 188)
Denn dies bedeutet, dass der gleich nachfolgend aufgelistete Tod von Piebsams Frau (sowie des Neugeborenen) im Kindbett sowie der Tod zweier weiterer Kinder vom Erzähler nicht dem Suff des Vaters in Rechnung gestellt wird und deswegen auch nicht nur von einer Knollen- respektive Säufernase gesprochen werden kann, wie es in der Sekundärliteratur überwiegend geschieht. Deswegen übrigens auch die ins Ungefähre auslaufende Ursachenerklärung für den Tod der Kinder (»das eine an der Diphterie, das andere an nichts und wieder nichts, vielleicht an allgemeiner Unzulänglichkeit«). Denn dadurch bleibt Platz für später nachgelieferte Andeutungen auf Piepsams – weit über Alkoholabusus hinausgehendes – »Lasterleben« (ebd.: 195), was wiederum seine ihm schließlich den Tod bringende Entrüstung über den Radfahrer zu einer vom Typ Nietzsche machen könnte, wie wir sie oben am Fall des Hermann Türck erläuterten. Deren substantieller Kern ist, dass man dem anderen jene sexuelle Aktivität zum Vorwurf macht, derer man selbst, anders als in früheren Jahren, nicht mehr frönen kann. Für diese auf ein wichtiges Nietzsche-Motiv beziehbare Lesart spricht, dass Liebsams Aufreger (zum Tode), ein »Jüngling« mit »blondem Haar« und »blitzblauen« Augen, der daherkam »wie das Leben« (GW VIII: 191), fortan nur noch »das Leben« genannt wird. Unverkennbar ist hier Manns Anleihe bei Nietzsches Gestaltungskniff in Das andere Tanzlied aus Also sprach Zarathustra III, der ihm erlaubte, sein Liebesleid in Sachen Lou von Salomé aus einer persönlichen Lektion in eine höhere Botschaft – eben über res57 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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pektive für »das Leben« – zu transferieren. (vgl. Niemeyer 2007: 84 ff.) Liebsams Aufforderung auf dem Höhepunkt seiner Entrüstung: »Du steigst ab, du steigst sofort ab, du unwissender Geck!« (GW VIII: 195 f.) gilt, so betrachtet, »dem Leben« insgesamt, also, wie man vielleicht übersetzen darf: Sie gilt stellvertretend den für den Fall Nietzsche(s) Mitverantwortung Tragenden, denen der damals gerade einmal fünfundzwanzigjährige Autor namens seiner Generation Unwissenheit sowie Perpetuierung derselben über eben diese dunkle Seite des Lebens (und Liebens) vorhält. Die in Scham, Sexualverneinung und falsch verstandener Christengläubigkeit gründender Unwissenheit ob der Geschlechtskrankheit Syphilis ihren Höhepunkt erreicht. Dies als eine halbwegs triftige Deutung dieser Novelle vorausgesetzt, wird in etwa die Brisanz erkennbar, auf welche die folgende Mär, diesmal direkt aus Nietzsches Leben gegriffen, traf.
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Paul Deussen (1901): Die Bordellgeschichte betritt die Bühne
Die Tinte des von Nietzsches Schwester für ihren im Januar 1900 veröffentlichten Text Die Krankheit Friedrich Nietzsches sowie Thomas Manns Novelle Der Weg zum Friedhof vom September 1900 war kaum getrocknet, als am 15. Oktober 1900 in der Wiener Rundschau unter dem vom Verfasser im Nachgang nicht gebilligten spektakulären Titel Die Wahrheit über Friedrich Nietzsche ein Aufsatz erschien, der Wasser in den von der Schwester unmittelbar zuvor aufgetischten Wein zu kippen half. Verantwortlich dafür: Nietzsches Studienfreund Paul Deussen, dem als Philosophieprofessor und Gründer der Schopenhauer-Gesellschaft (1911) Seriosität abzusprechen ist, dem aber auch Neid auf Nietzsche nicht fremd war. (vgl. NLex2 [v. Rahden]: 78) Insofern möglicherweise doch nicht gänzlich in aller Unschuld, gab er in seinem aus jenem Aufsatz entwickelten Buch Erinnerungen an Friedrich Nietzsche (1901) die folgende, Jahre später in seiner Autobiographie Mein Leben (1914) noch einmal wiederholte Anekdote zum Besten: »Nietzsche war eines Tages, im Februar 1865, allein nach Köln gefahren, hatte sich dort von einem Dienstmann zu den Sehenswürdigkeiten geleiten lassen und forderte diesen zuletzt auf, ihn in ein Restaurant zu führen. Der aber bringt ihn in ein übel berüchtigtes Haus. ›Ich sah mich‹, so erzählte mir Nietzsche am andern Tage, ›plötzlich umgeben von einem halben Dutzend
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Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlag einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung, und ich gewann das Freie.‹«
Deussens gleich nachfolgende Erläuterung stellte auf das Ungesuchte und Atypische dieses Erlebnisses ab: »Nach diesem und allem, was ich von Nietzsche weiß, möchte ich glauben, daß auf ihn die Worte Anwendung finden […]: mulierem nunquam attigit« (Deussen 1901: 24), auf gut Deutsch, so übersetzte später Richard Blunck: »Er rührte nie ein Weib an.« (Blunck 1953: 109) Dies bestätigten in der Folge einige Studienfreunde Nietzsches, zumeist Leumundszeugnisse pro Nietzsche, im Januar 1910 publiziert und von Curt Wachsmuth (1837–1905) sowie Wilhelm Heinrich Roscher (1845–1921) stammend. (vgl. Vulpius 1923) Blunck indes, der von seiner geplanten mehrbändigen Nietzsche-Biographie nur diesen einen, Kindheit und Jugend thematisierenden Teil fertigstellen konnte, sprach sich gegen jene aus, die an dieser Anekdote zweifelten oder eine Erinnerungstäuschung Deussens meinten geltend machen zu können. »Wer […], wie wir, Deussen noch gut gekannt hat, kann dem nicht zustimmen. Deussen hatte noch 20 Jahre nach der Niederschrift dieses Berichtes ein fast untrügliches Gedächtnis von außerordentlichen Ausmaß, und sein Charakter läßt es ganz ausgeschlossen erscheinen, daß er die Geschichte erfunden hat.« (Blunck 1953: 109)
Auch Nietzsches Schwester kannte Deussen gut – und wagte es eben deswegen nicht, den von Blunck angedeuteten Weg der Kritik zu beschreiten. Ihre Lösung des Problems dauerte noch ein wenig, genauer gesagt und gleich zu zeigen: Bis zum Jahr 1912. Dass ihre Erzählvariante im Vergleich zu Deussens Original von 1901 nachhaltig wirkte, lässt sich allerdings nicht behaupten und zeigt der noch zu erläuternde Fall Thomas Mann: Deussens 1901er Köln-Anekdote, nicht die von Nietzsches Schwester ins Zentrum gerückte Königswinter-Anekdote motivierte ihn zu seinem Nietzsche respektive Syphilis-Roman Doktor Faustus (1947) und ließ, ganz allgemein, die Syphilisthematik im Zuge der Diskussion um Nietzsches Krankheit wieder ins Zentrum treten, diesmal mit der Konkretion, dass man nun nicht nur der einschlägigen Symptome des tertiären Stadiums, also der progressiven Paralyse, gewiss sein könne, sondern auch eines Ansteckungsortes: eben jenes Bordell in Köln oder später in Leipzig oder andernorts. 59 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Paul J. Möbius (1902): Syphilis plus Wahnsinn im Werk
Möbius’ (1853–1907) Buch Über das Pathologische bei Nietzsche (1902) respektive Nietzsche – so der Titel ab der 2., im Herbst 1904 mit einer Vorwort zur neuen Ausgabe, nun als Bd. V einer vom Verfasser edierten Reihe seiner Ausgewählten Werke – gilt als Klassiker der pathographischen Literatur über Nietzsche, stammend vom Erfinder des Terminus Pathographie (vgl. Dahlkvist 2012: 173). Aber: Dieses Buch gilt auch seit seinem Erscheinen als Aufreger par excellence, zusammen mit seinem Autor, einen promovierten Philosophen als auch promovierten sowie habilitierten Neurologen und Psychiater. Vor allem seiner ausgeprägten Frauenfeindlichkeit gilt er allerdings als wenig respektabel. Kerstin Decker beispielsweise heißt ihn in ihrer Elisabeth-Förster-Nietzsche-Biographie Die Schwester (2016) ein »vagabundierendes Unglück von einem Psychologen«, das »schon zuvor mit so wegweisenden Programmschriften wie Über den psychologischen Schwachsinn des Weibes aufgefallen [war].« (Decker 2016: 417) Auch Deckers Nachfolger in speziell diesem Biographiensegment, Ulrich Sieg, urteilt nur wenig freundlicher 17, desgleichen, nun in chronologisch absteigender Linie, Reto Winteler (mittels Spott 18), Helmut Koopmann, 19 Richard Schain (mittels vergiftetem Lob 20), bis zurück zu Nietzsches Schwester, die 1904 im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie ausführte: »Was soll man aber von der ›Gewissenhaftigkeit‹ des Herrn Dr. Möbius denken? der auf eine erfundene Behauptung oder Vermutung hin wagt, das Andenken des edelsten Menschen zu beschmutzen, indem er von einer luetischen Ansteckung im Jahre 1866 spricht und darauf seine Hypothesen aufbaut – obgleich er mit der geringsten Anstrengung die Wahrheit erfahren konnte, daß d a s e i n e e k e l h a f t e Ve r l e u m d u n g ist.« (FörsterNietzsche 1904: 922) »Es verstand sich von selbst, dass das Pamphlet nicht unwidersprochen bleiben konnte.« (Sieg 2019: 203) 18 »Dass Overbeck sich durch die Argumente eines solchen ›Sachverständigen‹ zum Umdenken bewegen lassen konnte, ist schwer nachzuvollziehen.« (Winteler 2014: 200) 19 Er hielt Möbius »vage Annahmen« (Koopmann 2012: 160) vor und lobte ersatzweise Christiane Koszka (2010) für das von ihr eingebrachte MELAS-Syndrom (ebd.: 158) – eine Diagnose indes, die inzwischen längst demontiert wurde (vgl. Schiffter 2013; Klopstock 2013), also für nichts weiter steht als für eine ›vage Annahme‹. 20 »Möbius is particulary informative about Nietzsche’s migraine headaches.« (Schain 2001: 81) 17
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Auffällig: Alle zuletzt Zitierten, also außer der Schwester auch Schain, Koopmann und Winteler, sind engagierte Gegner der Syphilisdiagnose, was die Frage nahelegt: Wird hier womöglich der Bote seiner störenden Botschaft halber erschlagen? Bei einer Antwort auf diese Frage ist vorab das Zugeständnis hilfreich, dass Möbius Antifeminist war und an mangelndem Selbstbewusstsein jedenfalls nicht litt, wie auch der Umstand zeigt, dass er aus Ärger über eine ausstehende, aber seiner Meinung nach sachlich gebotene Ruferteilung seine Habilitationsurkunde zurückgab. Schon das Vorwort zur Erstauflage hatte es in sich: Er sei aufgefordert worden, »etwas über die Krankheit Nietzsches zu schreiben«, ein sachverständiges Urteil könne allerdings »nicht die Pietät im Sinne der Familie zum Führer nehmen.« Dem folgt vieldeutiger Dank an Nietzsches Schwester, ihn, als er sie besuchte, »freundlich entgegengekommen« zu sein und »zu den nöthigen Nachforschungen ermächtigt« zu haben, ergänzt um den Satz: »Die Schwester hat uns zuerst gesagt, dass Nietzsche an progressiver Paralyse gelitten hat; weil diese eine exogene Krankheit ist, wird das Leiden zu einem von Aussen kommenden Unglücke, für das die Natur des Kranken nichts kann.« (Möbius 31909: VIII f.)
Der Nachsatz, geschickt die auf Möbius zurückgehende Unterscheidung zwischen exogen und endogen ins Spiel bringend, sollte Nietzsches Schwester beruhigen, ebenso wie das Referat ihrer im Januar 1900 in die Zukunft dargelegten Auffassungen: Möbius trug sie ohne jeden Verdacht vor, er habe es bei ihren Erzählungen mehrheitlich mit fälschungsbasierten Erfindungen zu tun. Entsprechend arglos übernahm er Förster-Nietzsches Wertung, ihr Bruder »sei in den letzten Zeit ›schon vielfach in den Beschlüssen unbeständig und verworren‹ gewesen« bzw. habe unmittelbar von dem Turiner Zusammenbruch »eine tiefe Kränkung erfahren« (ebd.: 177) – beides Eindrücke, die auf von der Schwester frei erfundenen Briefen beruhen. Insoweit hätte Förster-Nietzsche angesichts dieses gläubigen Weiterträgers ihrer Lügen eigentlich dankbar sein können. Warum sie es nicht war und Möbius am Ende gar gerichtlich zu belangen suchte (vgl. Fiebig 2018: 83), erklärt sich im Wesentlichen wohl aus der Aufregung, die ihr Möbius’ allererster Satz bereitete. Denn ihr Verständnis von Paralyse – »atypischer Paralyse«, wie hier zu erinnern ist – schloss ja gerade das aus, wessen Möbius gewiss war: nämlich dass der Paralyse, einer »exogenen Krankheit«, eine »Ein61 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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wirkung von aussen, dadurch, dass ein Gift in den Körper eindringt«, vorausgegangen sein muss. Dass dieses Gift syphilitischen Charakters ist, sagt Möbius zwar nicht, jedenfalls nicht expressis verbis. Auch erfordert sein Verständnis einer exogenen Verursachung nicht, Nietzsche als einen von vornherein gesunden Menschen zu denken, lässt also Platz für die Zusatzannahme, »dass Nietzsche auf Grund erblicher Annahme abnorm war, dass er an Migräne litt, und dass seine geistige Beschaffenheit disharmonisch war.« (Möbius 31909: 2) Kurz und aus Perspektive der Schwester bedacht: Auch dieses Damoklesschwert, erstmals, wie zu erinnern ist, geschmiedet von Ola Hansson (s. I.2/1), schwebte nach wie vor über ihr, nebst dem anderen, sich via Paul Deussen (s. I.2/8) nahelegenden, das dabei half, jenes von Möbius benannte ›Gift‹ von dessen Übertragungsort her genauer zu lokalisieren. Möbius agierte in beiden Hinsichten. In der erstgenannten nahm er Förster-Nietzsches gegen Hansson gerichtetes Statement aus der Zukunft (»wir stammen von väterlicher und mütterlicher Seite aus kerngesunden Familien«; Förster-Nietzsche 1900: 621) zum Ausgangspunkt eigener Recherchen und referierte beispielsweise, ein ihm bekannter Herr habe dem Vormund Nietzsches im Herbst 1867 von den literarischen Erfolgen Nietzsches erzählt und dieser habe erwidert, »diese Frühreife erfreue ihn nicht, denn er kenne die Familie zu genau und müsse fürchten, Nietzsche werde einmal im Irrenhaus enden« (Möbius 31909: 11) – Gerede ohne jeden Wert, das FörsterNietzsche nicht wirklich zu fürchten hatte, im Gegenteil: Es bzw. dessen Weitergabe beschädigte eher Möbius denn Nietzsche. Anders verhielt es sich da schon mit Möbius’ Bereitschaft, das ihm von der Schwester über den Tod des Vaters Erzählte weiterzutragen mit der von Förster-Nietzsche erhofften Pointe: Möbius bezweifelte nicht, dass in diesem Fall »eine grobe Herderkrankung des Gehirns bestanden hat, also eine Krankheit, bei der eine Vererbung unwahrscheinlich ist.« (ebd.: 15) In diesem Zusammenhang zitierte Möbius völlig unkritisch und über Seiten hinweg einen Brief der Schwester an ihn, eingeleitet mit ihrer Wendung, sie habe »noch einmal eifrig nachgedacht und dabei einige Notizen gefunden, die ich mir nach Erzählungen meiner Mutter und sonstiger Verwandter gemacht habe« (ebd.: 13) – Notizen, die sie 1912 selbst, in ihrem Buch Der einsame Nietzsche, in einer etwas weniger dramatischen Version erneut zum Abdruck brachte. Diese Version lautet in ihrer entscheidenden Pointe:
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»Ende August 1848 traf uns ein großes Unglück. Unser Vater begleitete eines Abends Freunde nach Hause. Bei seiner Rückkehr in das Pfarrhaus kam ihm an der Tür unser kleiner Hund zwischen die Füße, den er, seiner Kurzsichtigkeit wegen, nicht gesehen hatte. Er stolperte und stürzte rückwärts sieben steinerne Stufen auf das Pflaster des Hofes hinab. Er zog sich eine Gehirnerschütterung zu.« (Förster-Nietzsche 1912: 18)
Die fernere Entwicklung in Rechnung gestellt, hätte Nietzsches Schwester auf dem Stand des Jahres 1902 Möbius eigentlich dankbar sein müssen für sein so ausführliches Referat ihres Briefes in Sachen des Treppensturzes des Vaters und die an es angeschlossene Folgerung, es sei nicht anzunehmen, »dass die Krankheit des Vaters für Nietzsche von Bedeutung gewesen sei.« (Möbius 31909: 15) Denn damit hatte er eine von Nietzsches Schwester mit allen nur denkbaren Mitteln durchgesetzte Familienlegende heiliggesprochen, ohne zu merken, dass er von ihr systematisch belogen und betrogen worden war. Was Möbius nämlich nicht wusste bzw. damals, 1902, nicht wissen konnte: Dass sich in Nietzsches Schriften von dieser Treppengeschichte nichts findet – und eben deswegen erst von ihr, wie noch zu zeigen sein wird (s. 2/23), in die Quelle, in diesem Fall in Nietzsches Jugendschrift Aus meinem Leben (1858), hineinmontiert werden musste, bei Gelegenheit ihrer Erstedition dieses Textes im Jahren 1924. Dieses Beispiel offenbart das ganze Unheil bei Experimenten vom Typ ›Verwandteneditionen‹ : Im schlimmsten Fall, dem hier in Rede stehenden also, tragen sie Züge konjunkturrelevanter Beschäftigungsprojekte für arbeitslose Wissenschaftlerinnen (und Wissenschaftler), die erst das Büro aufräumen und die Quellen mühsam rekonstruieren müssen, ehe sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen können. Diese erstreckt sich dann durchaus, über Quellenkritik hinausgehend, auf den kriminologischen Bereich, zumal Förster-Nietzsche sich auch auf die Technik verstellter Rede verstand. Resa von Schirnhofer (1855–1948) etwa, die ihr berichtete, Nietzsche habe ihr nach einem Krankheitsanfall 1884 seine Angst eingestanden, er könne, wie sein Vater, wahnsinnig werden, erhielt von Förster-Nietzsche eine eindeutige Abfuhr, die sie in die Worte kleidete: »Sie aber wehrte sogleich erschreckt ab und sagte mit Betonung, daß ich diese Äußerung ihres Bruders ausgesprochen noch unter der Wirkung eines bösen Anfalls in ihrer Bedeutung missverstanden haben müsse. Keinesfalls aber könne er gesagt haben, daß sein Vater an einem Gehirnleiden gestorben sei, denn er starb an den Folgen eines schweren Unfalls.« (zit. n. Lohberger 1969: 444)
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Diese Anekdote macht vielleicht noch deutlicher, welche Bedeutung die Schwester der Treppengeschichte beimaß – und wie glücklich sie hätte sein können, dass Möbius ihr Glauben schenkte. In anderer Hinsicht lief die Sache nicht ganz so rund: Möbius war offenbar bereit, der von Paul Deussen ausgelegten Bordellfährte nachzugehen. Dabei machte er vergleichsweise wenig Umstände und versah Deussens »wunderliche« Anekdote mit dem Zusatz, man könne »unbedenklich zugeben, dass Nietzsche bis 1865 jede bedenkliche Berührung vermieden habe«, nicht aber, »dass es immer so geblieben sei«, im Gegenteil: »Nietzsche spricht ja selbst so oft von seiner gefährlichen Neugierde, und nun sollen wir glauben, dass sie vor der interessantesten Angelegenheit Halt gemacht habe. Die Lust hätte er überwinden können, die Wissbegierde nicht.« Der übernächste Satz brachte die Blase endgültig zum Platzen: »Wir sind aber nicht auf bloße Vermutungen angewiesen. Gewährsmänner, deren Namen nicht genannt werden soll, erklären, dass Nietzsche schon in Leipzig geschlechtlichen Verkehr gehabt habe, und dass er später von Zeit zu Zeit mit den Personen, die sich nun einmal den männlichen Bedürfnissen zur Verfügung stellen, Beziehungen gehabt habe.« (Möbius 31909: 50)
Belege werden nicht gegeben. Entsprechend leicht hatte es die Schwester, gegen diesen Passus von Möbius’ Buch anzugehen. Immerhin: Möbius hat an keiner Stelle seines Buches, auch nicht an der hier in Rede stehenden, die Vokabel Syphilis erwähnt, selbst dort nicht, wo er, ganz zum Schluss seines Buches, auf das Jahr 1866 als »die Zeit der Incubation« (ebd.: 188) verweist. Mehr als dies: Möbius referiert, nach Förster-Nietzsche (1895: 222 f.), knapp den Brief Nietzsches vom 4. August 1865 an Carl von Gersdorff (vgl. Möbius 31909: 67 f.), ändert damit aber nichts am Erstgeburtsrecht seines Berufskollegen Ernst Benda (s. 2/25), diesen Brief dreißig Jahre später als Indiz zu nehmen für die Folgen, die die von Paul Deussen berichtete 1865 er Bordellszene (oder eine durch sie inspirierte wenig später) gehabt haben könnte. Zu dieser fehlenden Aufmerksamkeit von Möbius passt auch sein beiläufiges Thematisieren von Nietzsches Interesse für »Ausländer« – genannt werden Stendhal, Flaubert, Dostojewski, Baudelaire –, das Möbius zwar erwähnt, vermutend, dass Nietzsche »in ihnen ganz richtig ›den Fond von Krankheit, von Unheilbarkeit‹« (ebd.: 60) erkannt habe. Dass aber bei drei der Genannten der Name der je spezifischen Krankheit auf ›Syphilis‹ lautete, wird nicht bedacht – womöglich, weil Möbius, wie sein andernorts 64 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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angesprochener Vergleich des Falles Nietzsche mit den »Lebensgeschichten der berühmten Leute, die an Paralyse gestorben sind (R. Schumann, Lenau und Andere)« (ebd.: 129), deutlich macht, die Vokabeln ›Paralyse‹ und ›Syphilis‹ als bedeutungsgleich galten. Dennoch: In Möbius’ fingierter Wechselrede, in deren Verlauf ihn sein Leser auffordert, endlich zu sagen, »ob Nietzsche an Neurasthenie, an Melancholie, an Zwangsvorstellungen oder an was sonst gelitten habe« (ebd.: 55), fehlen beide Vokabeln. Unscharf ist auch die Rede von dem »die Paralyse verursachenden Gift« (ebd.: 87), die sich kumuliert hin zu der »Annahme, bei Nietzsche sei eine ererbte Migräne durch die Wirkungen des Giftes verschlimmert worden.« (ebd.: 88) Bleibt, so Möbius’ selbstgesetzter, schon im Vorwort zur ersten Ausgabe seines Buches vom März 1902 betonter Auftrag, die Werke Nietzsches inklusive der Sekundärliteratur genau zu lesen (vgl. Möbius 31909: IX), um Antworten auf Fragen geben zu können wie: »Bestand die progressive Paralyse schon, als Nietzsche seine Schriften schrieb, wann hat sie begonnen, und inwiefern hat sie seine Aussagen beeinflusst?« (ebd.: 3) Fragen wie diese gehören nicht jenen zu, bezüglich derer ein Mediziner, zumal damals, als besonders gerüstet gelten darf – und dass Möbius sein Professionsideal vor allem jenem Fach abgewann, für welches er die venia legendi erworben hatte, zeigt sein im Herbst 1904 verfasstes Vorwort zur neuen Ausgabe seines 1902 er Buches, in welcher er sich gegen Raoul Richter verwahrte wegen dessen Skepsis über seinen Befund, den der skeptischer Möbius-Rezipient August Vetter folgendermaßen zusammenfasste: »Der erste Anfall [der progressiven Paralyse; d. Verf.] trat 1881 ein; ein stärkerer folgt 1882; mit ihm beginnt ein Ansteigen der Krankheitskurve bis 1884; das darauf einsetzende Nachlassen hält bis 1887 an, und der erneuten Verstärkung 1888 folgt im Januar 1889 der völlige Zusammenbruch. Demnach wäre die Konzeption der ewigen Wiederkunft sowie die Niederschrift des »Zarathustra«, insbesondere die des vierten Teils, im paralytischen Erregungszustand erfolgt; ›Jenseits von Gut und Böse‹, ›Zur Genealogie der Moral‹ und selbst ›Der Fall Wagner‹, ferner ein großer Teil des Materials zum Hauptwerk fielen in die Remissionszeit; die ›Götzendämmerung‹, die aus dem Jahr 1888 stammenden Teile der ›Antichrist‹ und ›Ecce homo‹ endlich müßten als völlig paralytische Erzeugnisse betrachtet werden.« (Vetter 1926: 39 f.)
Klingt heftig – und passt nicht wirklich zur Möbius-Kritik (etwa Amende 1907: 194 f.), die darauf abstellte, dass Möbius insbesondere in Sachen Zarathustra als Hermeneut versagte. In Verallgemeine65 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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rungsabsicht geredet: Ihm unverständliche und insofern seiner Meinung nach grundsätzlich unverstehbare Aphorismen und Lieder Zarathustras las Möbius als Indizien für den Wahnsinn des Verfassers respektive für dessen moralische Entartung – mit der dann unvermeidbaren Folge von Wertungen wie: »Gewissermassen ist es ein Trost, dass der hässlichste Zug im Bilde Nietzsches, seine gassenjungenhaften Schmähungen christlicher Lehren und Einrichtungen, ganz der Gehirnkrankheit Schuld gegeben werden kann.« (Möbius 31909: 125)
Dies war zwar dem Deutsch nach holperig, der Sache nach aber klar: Erst die Psychiatrisierung Nietzsches eröffnete einen Weg zur gefahrlosen Tradierung der durch die Pathologie unversehrten Bestandteile seines Werkes. 21 Gravierend ist vor allem Möbius’ Spott auf Zarathustra IV, speziell »das über alle Beschreibung widerliche Eselsfest« betreffend, ebenso wie die »vollkommen blödsinnig[en]« (Möbius 31909: 125) Verse Unter Töchtern der Wüste. Denn diese Verse – und dies hätte Möbius leicht erkennen können – gewinnen in der Linie von Paul Deussens (1901) Bordell-Anekdote ganz neuen und im Blick auf die Syphilisfrage durchaus einschlägigen Sinn, wie noch genauer in unserem Zarathustra-Kapitel zu zeigen sein wird. Möbius hingegen blieb fixiert auf Hohn und Spott der Marke, derlei Dichtung pflege zwar »angetrunkene Studenten zu erfreuen«, mehr als dies: er monierte widerwärtige »Lästerung[en]«, »wüste[s] Schimpfen«, Dass Möbius bei der Auslegung insbesondere des Zarathustra versagte, zeigt auch eine genauere Analyse jener Sätze, bei denen nach Möbius »gar kein Sinn zu entdecken ist« (Möbius 31909: 119). So schrieb Nietzsche (und Möbius spottet darüber in der genannten Weise): »Wie Manches heisst jetzt schon ärgste Bosheit, was doch nur zwölf Schuhe breit und drei Monate lang ist!« (IV: 185) Dies klingt in der Tat völlig sinnlos – aber auch nur, solange man nicht der von Nietzsche in diesem Zusammenhang eingearbeiteten Quelle nachgeht. Wenn man dies tut, stellt man fest, dass der Ausdruck ›zwölf Schuhe breit‹ Bezug nimmt auf eine mittelalterliche Rechtsbestimmung, der zufolge bei Haftantritt eine bestimmte, in diesem Fall durchaus komfortable Zellengröße zu verlangen sei. Ähnliches gilt für den zweiten rätselhaften Ausdruck (›drei Monate lang‹). Denn man musste der damaligen Rechtsprechung zufolge schon eine Strafe von mehr als drei Monaten in Aussicht haben, um ein Fall für das Schwurgericht (und nicht nur das Schöffengericht) zu sein (vgl. XIV: 307) und mithin berechtigten Anspruch erheben zu dürfen auf das Attribut ›ärgste Bosheit‹. Dabei sei gerne zugestanden, dass wir Heutigen als Erben fortgeschrittener Nietzscheforschung um diese Zusammenhänge wissen können, Möbius’ erwähntes Verdikt also letztlich nur für ein übereiltes Urteil Zeugnis gibt.
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schlüpfrigen »Wortsalat« und stellte die für ihn offenbar entscheidende Frage: »[W]ie konnte Nietzsche dieses erbärmliche Gefasel in sein Buch aufnehmen, da er doch nicht dauernd in dem Zustand war, in dem er es verfasst hat?«
Eine letztlich rhetorische Frage, die auf den Schluss des Lesers abstellt: weil er eben doch dauerhaft oder jedenfalls doch überwiegend in jenem Zustand war, der in jenen Passagen, die »in einem vorübergehenden Zustande paralytischer Erregung« (Möbius 31909: 126) niedergeschrieben worden seien, sich Ausdruck verschafft. Im Ergebnis seiner Studie ebnet Möbius Förster-Nietzsches »Schlaganfall«Hypothese ein: »Es wird sich wohl um eine gewisse Erregung als Vorläufer des paralytischen Anfalles gehandelt haben.« (ebd.: 187) Auch die extreme Dauer des ganzen Geschehens hält er für kein nicht durch Erklärung zu bewältigendes Hindernis, um auf progressive Paralyse, also Syphilis, hochrechnen zu können: »Rechnet man die Zeit der Incubation dazu, oder, bei anderer Auffassung der Migräne-Anfälle, die Zeit der nur körperlichen Störungen, so haben wir von 1866–1900 34 Jahre, von 1870–1900 30 Jahre« – keine Zahlen, die nicht erklärbar wären angesichts der fraglos lebensverlängernden Effekte von Nietzsches »kräftiger Körperbeschaffenheit, der Abwesenheit des Alkoholismus sowie der überaus sorgfältigen Pflege.« (ebd.: 188 f.) Die letzte Bemerkung war unverkennbar ein (weiterer) Diener in Richtung der Schwester. Dass er viel ausrichtete, lässt sich nicht sagen: »Der jämmerliche, wahrhaft dilettantische Versuch des Dr. Möbius hat nichts als Verwirrung gestiftet«, er fuße »auf u n b e w i e s e n e n H y p o t h e s e n und auf Nachrichten, die aus einem wahren Morast von Neid, Bosheit und Unwissenheit zu stammen scheinen« (Förster-Nietzsche 1904: 898), lautete ihr alles andere als schüchterner Einstieg zu diesem Thema im letzten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie, ehe sie dann zur Exekution in Betreffs der sie empörenden Hauptsache schritt, indem sie Möbius, wie einleitend schon angesprochen, einer »e k e l h a f t e Ve r l e u m d u n g « (ebd.: 922) zieh. Dieser Maßstabslosigkeit gab sie auch Ausdruck, wiederum der Ehre ihres Bruders wegen, im Kampf gegen dessen Basler Freund (und Ex-Kollegen) Franz Overbeck, den sie bis in dessen frühen Tod (1905) beschuldigte – den 1908 publizierten Dokumenten Overbecks zufolge (vgl. Bernoulli 1908, Bd. I: 430 ff.) zu Unrecht – Möbius bei dessen Besuch in Basel auf die Syphilis-Fährte gesetzt zu haben und 67 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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hinter dem – tatsächlich wohl von Nietzsche selbst stammenden – einschlägigen Eintrag in der Jenaer Krankenakte (1866 »zweimal specifisch inficiert« (zit. n. Volz 1990: 381) zu stecken. Mit vergleichbarer Unerbittlichkeit zog sie, auch gerichtlich, gegen Möbius sowie weitere Verfechter der Syphilisdiagnose und gläubige Möbius-Leser wie etwa den Arzt und Psychologen Willy Hellpach (1877–1955) zu Felde, wiederum in Hardens Zukunft (vom 13. August 1904) (vgl. Fiebig 2018: 83) und unter Assistenz williger Helfer wie den Theobald-Ziegler-Schüler Walter Jesinghaus, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit – in diesem Fall ad des Möbius-Gläubigen Adalbert Düringer (vgl. Jesinghaus 1907: 16) – bereit waren zu bekennen, »wir Anhänger Nietzsches« würden »die Behauptungen des Herrn Möbius […] als eine schimpfliche Schmähung scharf zurückweisen.« (ebd.: 76) Für Schlachten auf etwas höherem Niveau mobilisierte sie, wie im übernächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, willige Helfer wie Raoul Richter.
/10 Isabella von Ungern-Sternberg (1902): Kein Wahnsinn in der Schrift Isabella von Ungern-Sternbergs (1846–1915) Text Nietzsche im Spiegelbild seiner Schrift (1902) behauptete das »Schwinden der Zitterformen« in Handschriftenproben Nietzsches aus dem Jahr 1888 und deutet dies als Hinweis darauf, dass von einer Progressiven Paralyse nicht gesprochen werden könne – ein Argument, das Pia Daniela Volz vergleichsweise lässig entkräftete, nämlich damit, »daß Nietzsche vom Sommer 1888 ab ›Sönnecken’s Rundschriftfedern‹ verwendet hat, die ein ruhigeres Schriftbild ergaben«, um resümierend darauf hinzuweisen, »hinsichtlich der Annahme ›pathologischer‹ Schriftauffälligkeiten« sei »größte Vorsicht geboten.« (Volz 1990: 373) Dieser Befund ging, wenn auch eher implizit, nicht nur gegen UngernSternberg, sondern auch gegen ihre mutmaßliche Auftraggeberin, Nietzsches Schwester. Sie nämlich hatte im letzten Band ihrer Nietzsche-Biographie, in welcher sie Ungern-Sternberg als eine Urlaubsbekanntschaft ihres Bruders einführte 22, bedauert, dass die Nietzsche wegen Paralyse behandelnden Ärzte ihn nicht von früher her kann»Mein Bruder hatte sie als Isabella von der Pahlen auf einer Reise von Genf nach Genua kennen gelernt und erinnnert sich ihrer oft und gern.« (Förster-Nietzsche
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ten. Hätte man ihnen beispielsweise, so die Schwester weiter, »seine letzten Reinschriften oder Briefe vorgelegt, […] hätten [sie] sehen können, daß der Gedanke sowohl als die Schrift bis zu dem Schlaganfall, wenn auch phantastisch, doch vollkommen correkt war.« (Förster-Nietzsche 1904: 922)
/11 Raoul Richter (1903): Kein Wahnsinn in Nietzsches Werken Richters Buch Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk, aus Vorlesungen des Privatdozenten an der Universität Leipzig hervorgegangen und im Mai 1903 erstmals erschienen – die 1909 vorgelegte 2. Auflage bringt, abgesehen von Fußnoten, keine Veränderungen in den hier interessierenden Partien –, darf als eine der ersten Gesamtdarstellungen zu Nietzsche aus dem akademischen Raum gelten. Relevant ist sie in diesem Zusammenhang, weil der Verfasser, über den Salon seiner Mutter Cornelie Richter, einer Meyerbeer-Tochter, der (jüdischen) Prominenz und zugleich dem weiteren Freundeskreis um Nietzsches Schwester zugehörte und als einer ihrer willigsten Helfer zu gelten hat, wie vor allem die von ihm verantwortete, 1908 vorgelegte ›Bankiersausgabe‹ von Ecce homo zeigt. (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.) So gesehen überrascht nicht, dass auch seine hier allein interessierenden Ausführungen aus seiner Nietzsche-Vorlesung über das »P a t h o l o g i s c h e b e i N i e t z s c h e « (Richter 21909: 89) erkennen lassen, dass es dem Verfasser, fraglos auf Drängen Förster-Nietzsches, um eine Replik auf Möbius zu tun war, der einem hier unter der Maske des »einseitigen, von Philosophie, Prophetentum und Dichterseele nichts ahnenden Mediziners« (ebd.: 90) dargeboten wird. Der Grundtenor war damit gelegt: Richter sichtet nacheinander und beginnend mit Also sprach Zarathustra IV die von Möbius herausgestellten, als »im Zustand der paralytischen Erregung geschriebenen« (ebd.: 92) Werke schrittweise – und vermag nichts zu konstatieren, was nicht letztlich Geschmackssache sei und den Schluss erlaube, es handele sich »um grobe Verstöße des Irrenhäuslers« oder fände sich nicht auch bei »Nichtparalytikern«, etwa »in der Literatur der Romantik des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.« (ebd.: 93) Eine Ausnahme lässt Richter gelten: »Erst im Herbst 1904: 930) Das Dokument dazu hat Sander L. Gilman (1981: 302 ff.) zugänglich gemacht.
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1888 ist der Ausfall der Hemmungen ein derartiger, daß man die Vorzeichen der Krankheit sich darin ankündigen fühlt«, wenngleich zu bezweifeln sei, dass »selbst die anstößigsten Stellen, etwa im ›Ecce homo‹, einen gewissenhaften Arzt dazu berechtigt hätten, die Diagnose auf Paralyse zur damaligen Zeit zu stellen«, woraus folge, dass man vom Wissen um die später ausgebrochene Geisteskrankheit »nach rückwärts« prophezeit, verallgemeinernd geredet, so Richters Pointe, im Original in Sperrdruck gehalten: »[ W ] i r h a b e n k e i n R e c h t , i r g e n d e i n e s v o n N i e t z s c h e s z u m D r u c k b e s t i m m t e n We r k e n a l s d a s We r k e i n e s b e r e i t s G e i s t e s k r a n k e n a n z u s e h e n .« (ebd.: 94 f.)
Soweit Richters Buch in der hier interessierenden Hauptsache. Die eben erwähnte Pointe stachelte Möbius zu der Replik an, er könne sich nicht »mit einem Privatdocenten der Philosophie in Erörterungen über die Diagnose der Paralyse einlassen« (Möbius 31909: IX), eine Erwägung, mit der Richter bei der Neuauflage seines Buches leichtes Spiel hatte: Da Möbius’ Diagnose »sich unverantwortlich wenig auf specifisch-medizinische Befunde, dagegen umso mehr auf eine Kritik der philosophischen Anschauungen Nietzsches stützt, so wäre es ein Leichtes, die persönliche Spitze gegen ihn selbst zu kehren« (Richter 21909: 91), ließ er drohend verlauten, auf diese Weise geschickt umgehend, dass er die Schlüsselfrage noch nicht einmal gestellt hatte: War Nietzsche Syphilitiker – oder war er es nicht? Und wenn ja: seit wann? Richter zufolge sind dies, wie er in einer auf Hermann Türck bezüglichen Fußnote festhält, irrelevante Fragen, sei doch die von Türck geteilte und von Möbius lancierte Annahme, »daß eine frühere Lues der Grund der späteren Erkrankung gewesen sei«, eine »für uns gänzlich gleichgültige Hypothese.« (ebd.: 97) ›Für uns‹ darf man wohl übersetzen mit: ›für Nietzsches Schwester und mich‹.
/12 Adelbert Düringer (1906/07): Der Entrüstete (Teil II) Düringers (1855–1924) Text Nietzsches Philosophie und das heutige Christentum (1907) ist, ähnlich wie sein Vorgänger Nietzsches Philosophie vom Standpunkt des modernen Rechts (1906), der Prämisse verpflichtet, Nietzsches Geistesprodukte seien und wirkten wie »eine Krankheit« (Düringer 1907: VIII). Nietzsche sei in vielen seiner Äu70 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ßerungen nichts weiter gewesen als ein »überspannter, krankhafter Schwärmer« (ebd.: 42), ein »Phantast« und »Gehirnkranker« (ebd.: 43), der schon 1881 – im Zusammenhang des Wiederkunftsgedankens – nicht mehr imstande gewesen sei, »normal zu denken.« (ebd.: 48) Düringers Qualifikation im Blick auf Urteile wie diese: Er war Reichsgerichtsrat und zeitweise DNVP-Abgeordneten sowie später (bis 1918) badischer Justizminister. Texte wie diese – Pamphlete, die der Profilierung des Vorwurfs, Nietzsche sei ein »Jugendverführer«, dienen sollten (vgl. Niemeyer 1998b), – trafen in der Folge auf empörte Ablehnung aus liberalen Kreisen (vgl. Meyer 1907; 1913: 600; Jesinghaus 1907) sowie vehemente Zustimmung aus konservativer respektive christlicher Sicht (vgl. Pfenningsdorf 1908; Kiefl 1912). Ablehnung wie Zustimmung begründeten sich nicht zuletzt auch aus der klaren und fast hemdsärmeligen Sprache, also aus der »Unteroffiziersschneidigkeit« (Meyer 1907: Sp. 649), mit der sich Düringer, in unverkennbarer Nachahmung seines Vorbildes Paul J. Möbius, als unversöhnlicher Nietzschegegner zu profilieren suchte und namentlich die These zu beglaubigen sich anschickte, dass »die Philosophie Nietzsches zahlreiche Existenzen moralisch ruiniert und unsäglich viel Familienunglück mitzuverantworten hat.« (Düringer 1907: 53)
/13 Wilhelm Carl Becker (1908): Der Entrüstete (Teil III) Beckers Buch Der Nietzschekultus mit dem unmissverständlichen Untertitel Ein Kapitel aus der Geschichte der Verirrungen des menschlichen Geistes steht erkennbar in der von Adalbert Düringer fortgeführten und von Hermann Türck begründeten Tradition einer von einem tiefgreifenden Ideologieverdacht geprägten Nietzschelektüre, dies noch bereichert um die Kenntnis einer insgesamt fatalen Wirkungsgeschichte. Entsprechend identifiziert Becker bei seiner Textexegese, ähnlich wie vor ihm schon Möbius, in Nietzsches Schriften bevorzugt »höheren Blödsinn« (Becker 1908: 11) respektive »Faseleien« (ebd.: 14), des Weiteren »alberne und abgeschmackte Theorien« wie die vom Übermenschen, »für dessen Entstehung, Gedeihen und Wohlfahrt und ›Sichausleben‹ die ganze übrige Menschheit sich opfern muß.« (ebd.: 16) Erklärte Möbius insbesondere Also sprach Zarathustra IV und hier insbesondere das – auf Deussens Bordellanekdote bezügliche – Lied Unter Töchtern der Wüste dem Geist eines Trunkenen entsprungen, so bevorzugte Becker das Wort von 71 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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einem »delirierenden Wirrkopf, der sich als Philosoph aufspielt.« (ebd.: 72) Zwar will Becker nicht ausschließen, dass sich, etwa in Menschliches, Allzumenschliches, »neben dem Wust von ›Narrenschmierrat‹ auch manche treffenden, geistvollen Aussprüche vorfinden«, hält aber summierend fest: »Durch seinen Größenwahn und das Verworrene, Sprunghafte seines Denkens geriet letzteres auf Abwege, die auf das Gebiet alberner und absurder Faseleien und schließlich in die Nacht des völligen Wahnsinns führten.« (ebd.: 21)
Skandalös war für Becker vor allem Nietzsches Spätwerk. Es wurde ihm Anlass zu bilanzierenden Sätzen wie den folgenden: »Ist es nicht ganz selbstverständlich, daß es […] den ›höheren Menschen‹ […] ›nicht billig sein kann‹, sich nach einer ›Sklavenmoral‹ richten zu müssen, welche sie hindert, ihren ›Willen zur Macht‹ geltend zu machen […] und nach dem für sie, als ›freie Geister‹, maßgebenden Grundsatz: ›Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‹ […] die Schwächeren zu unterdrücken, auszubeuten und für die Erreichung ihrer ichsüchtigen Zwecke rücksichts- und mitleidlos hinzuopfern, – zu rauben, zu morden, zu notzüchtigen und wozu sonst der ›Instinkt‹ sie treibt, und wie sonst noch ›das Herz es will!‹« (Becker 1908: 35 f.)
Wie man sieht: Argumente sind gar nicht mehr erforderlich, es genügt Argumentersatz qua Abfolge prominent gewordener Schlagworte Nietzsches, die als selbsterklärend postuliert werden und jene Attitüde beglaubigen sollen, die man dem Naumburger Pastorensohn im Rahmen einer sich inzwischen seit immerhin bald fünfzehn Jahren formierenden bürgerlich-christlichen Anti-Nietzsche-Szene als verallgemeinerbares Merkmal attestiert: eine Verbrechermoral. Um Beispiele, wo diese besonders auf Resonanz träfe, war Becker nicht verlegen: »Bekanntlich wurden im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts eine ganze Reihe von deutschen Kolonialbeamten in Afrika, welche die von Nietzsche als das ›klassische Ideal‹ der Moral gepriesene ›Herrenmoral‹ für ihr Wollen und Handeln maßgebend gemacht hatten, – wegen der von ihnen verübten Brutalitäten und Mißbrauch ihrer Amtsgewalt ihres Amtes entsetzt und mehrere derselben ins Zuchthaus gesteckt.« (ebd.: 7)
Als Beispiel nennt Becker einen Kolonialbeamten namens Schröder, der damals »zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde« 23 und dem 23
Welchen Fall Becker hier vor Augen hatte, war nicht zu ermitteln. Dass die deut-
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man einen Verteidiger von Nietzsche-Format gewünscht hätte. Er nämlich hätte »das schöne Schreckliche« dieser Taten so hervorzuheben gewusst, »daß der ästhetische Sinn der Richter sich dagegen gesträubt hätte, den prächtigen Nietzscheschen ›Uebermenschen‹, der die Anschauungen Nietzsches […] so konsequent zur Richtschnur seines Wollens und Handelns gemacht hatte – ins Zuchthaus zu schicken.« (ebd.: 32) Die Absicht hinter dieser wie jener Mär: Nietzsche sei ein gewissenloser, insbesondere die Jugend verführender Autor mit »das Recht mißachtender, inhumaner und borniert reaktionärer Gesinnung« (ebd.: 10) gewesen, dazu ein ausgemachter Frauenfeind: »Weiber notzüchtigen, die Widerstrebenden mit der von Nietzsche dem ›Uebermenschen‹, wenn er ›zu Frauen geht‹, als ›nicht zu vergessend‹ empfohlenen ›Peitsche‹ zur Unterwerfung unter seinen Willen zwingen« (ebd.: 33) – dies, so darf man diesen endlosen Sermon vielleicht abkürzen, war, so Becker, ganz nach Nietzsches Geschmack. Speziell mit der Vokabel ›Größenwahn‹, auch mit der von Lombroso 24 entlehnten Vokabel ›Graphomane‹, waren neue Etikettierungen im Spiel, ohne dass Becker von dem geringsten Interesse umgetrieben worden wäre, eine Anamnese vorzulegen und/oder die älteren Versuche zu einer solchen zu widerlegen oder auch nur zu diskutieren. 25
/14 Raoul Richter (1908): Kein Wahnsinn in Ecce homo, zumal nicht solcher in puncto ›Polengerücht‹ Richters Vorwort zu Ecce homo (1908) ist gleichsam das A zum B, will sagen: Wer, wie Richter, sich dermaßen exponierte als Streiter gegen Möbius und dabei die These riskierte, dass selbst die ›anstößigsten Stellen‹ aus Ecce homo einen Pathologieverdacht nicht rechtfertigen würden (s. IV.2/11), muss zur Not für die Extinktion derselsche Kolonialgeschichte hier einige Namen zu bieten hat, beginnend mit Carl Peters (1856–1918), steht allerdings außer Frage. (vgl. Grill 2019; Niemeyer 2020a) 24 Becker erläutert hierzu in einer Fußnote: »›Graphomanen‹ nennt Professor Lombroso diejenigen Halbwahnsinnigen, die schriftstellerischen Drang empfinden.« (ebd.: 10) 25 Dazu rechnet jedenfalls nicht, was Becker mit großer Begeisterung und über Seiten hinweg (ebd.: 88 ff.) tut: nämlich sich über Nietzsches Schwester wegen ihrer Verharmlosung von Nietzsches Frauenfeindlichkeit lustig zu machen.
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ben Sorge tragen. So auch hier: Die 1908, zwanzig Jahre nach der Niederschrift, endlich auf den Markt gebrachte Erstausgabe des Ecce homo ist, wie Mazzino Montinari 1972 herausstellte, gänzlich bereinigt um den Abschnitt Warum ich so weise bin 3 in der Version letzter Hand. Ersatzweise wird auf eine Vorfassung zurückgegriffen, desorientierend insbesondere in puncto ›Polengerücht‹. Es war erstmals 1895 von Nietzsches Schwester unter Bezug auf eine Äußerung ihres Bruders aus dem Jahre 1883 in Umlauf gebracht worden (vgl. FörsterNietzsche 1895: 10 f.) und besagt, Nietzsche sei polnischer Abkunft und auch noch stolz darauf gewesen – ein Skandal, wie schon Cosima Wagner 1897 fand, als sie (erfolglos) versuchte, ihren Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain auf die Idee zu bringen, aus Nietzsches angeblich slawischen Ursprung eine Erklärung dafür zu entwickeln, warum es nichts sei mit Nietzsches Philosophie. (vgl. Brömsel 2018: 56) Einige Jahre später, 1903, war es dann der völkische Nietzscheverächter Arthur Drews (1865–1935), der sich unter Berufung auf das ›Polengerücht‹, seinen eigenen Reim zu machen suchte auf die eigentlichen Abgründe von Nietzsches »Deutschenverachtung« (zit. n. Krummel 1998: 164). Dies in Rechnung gestellt, überrascht die Vorsicht nicht, mit der es Nietzsches Schwester in der Folge handhabte – etwa mittels der hier in Rede stehenden 1908 er Variante von Ecce homo: Er werde auf Reisen oft als Pole angeredet, und tatsächlich seien seine Vorfahren »polnische Edelleute«, er habe »von daher viele Rasseninstinkte im Leibe, wer weiß? Zuletzt gar noch das liberum verto.« (Nietzsche 1908: 268) So bekam man es in der Folge immer wieder zu lesen, selbst noch 1955 bei Karl Schlechta (vgl. SA II: 1073 f.) oder 1961 bei Erich F. Podach (1961: 219). Beide Editoren respektive Editionen verunklarten, dass Nietzsche in diesem Abschnitt ein veritables Bekenntnis anti-antislavistischen Charakters abgegeben, also dem zweitwichtigsten völkischen Ideologem neben dem Antisemitismus, eben dem Antislavismus (vgl. Niemeyer 2013a: 120 ff.), eine Grabrede gehalten hatte. In der Umkehrung gesprochen: Wäre schon 1908 sowie 1955 als auch 1961 Ecce homo nach der Ausgabe letzter Hand gedruckt worden, hätte man jeweils lesen können, als Pole sei er zwar, gemessen am aktuellen Polen, ein »ungeheurer Atavismus«. Dies klingt harmlos, aber man muss hier bedenken, was Nietzsche dabei voraussetze: nämlich dass er den Polen, »diese vornehmste Rasse, die es auf Erden gab«, in ihrer vor Jahrhunderten noch präsenten »instinktreinen« Form verkörpere – ein Satz, über den man noch lachen und den man als typisch größenwahnsinnig ad 74 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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acta legen könnte, würde nicht als Beleg für diese Instinktreinheit der Satz folgen, er »würde dem jungen deutschen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein.« (VI: 268) Nochmals in Übersetzung geredet: Der frisch inaugurierte Kaiser Wilhelm II., damals der Stolz der deutschen Nation, verkam aus Nietzsches Sicht, deutlicher: aus der Sicht einer sich als Ikone des Slavischen seiner Idee nach Feiernden, zur Lachnummer. Mehr an Provokation jenseits des »Gott ist tot!« war damals schlechterdings nicht vorstellbar – kaum überraschend also, dass Nietzsches Schwester zwanzig Jahre brauchte, um eine Lösung für dieses Problem zu finden und ihr dann nicht Besseres einfiel als: Nicht edieren, jedenfalls nicht so! Nicht ediert wurde 1908 auch der folgende Satz aus jenem Abschnitt: »Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann – in meinen höchsten Augenblicken, … denn da fehlt jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren … Die physiologische Contiguität ermöglicht eine solche disharmonia praestabilita … Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ›ewige Wiederkunft‹, mein eigentlich a b g r ü n d l i c h e r Gedanke, immer Mutter und Schwester sind.« (VI: 268)
Ersatzweise präsentiert werden, in der zusammengestoppelten Variante von Warum ich so weise bin 3, Harmlosigkeiten wie die folgende: »Es ist nicht unmöglich, daß […] meine Urgroßmutter unter dem Namen ›Muthgen‹ im Tagebuch des jungen Nietzsche vorkommt.« (zit. n. Richter 1908: 45)
Man muss nicht lange drum herumreden: Hätte Möbius um die vorgenannte Passage gewusst oder auch nur irgendeiner seiner Nachfolger im pathographischen Segment unter Einschluss von Karl Jaspers und allen anderen von Fach, wäre unweigerlich eine Debatte über die Rechtsgründe für Nietzsches maßlosen Zorn auf Mutter wie Schwester ausgebrochen. Mindestens aber wäre, und dies war wohl speziell Raoul Richters Sorge gewesen, seine hier als Kapitelüberschrift benutzte Kernthese nicht mehr haltbar gewesen. Eben deswegen musste auch dieser Passus unbedingt unterschlagen bzw. ersetzt werden, allen Problemen zum Trotz. Denn tatsächlich findet sich der zitierte Abschnitt auf einem von Nietzsche in gleichsam letzter Minute dem Verleger nachgereichten Manuskriptblatt, das zwar 1892 von Nietz75 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sches Schwester und/oder Mutter verbrannt worden war, aber erhalten blieb, weil sich Heinrich Köselitz eine Abschrift angefertigt hatte, die er, als er aus dem Lager Overbecks in das Lager Förster-Nietzsches überlief, gleichsam als sein Einstiegsgeschenk mitbrachte nach Weimar. Indes war nicht ganz sicher, ob nicht noch weitere Abschriften existierten, so dass der Herausgeber Richter in seinem Vorwort zu Ecce homo die folgende Lösung fand: »Eine laut Aussage von Frau Förster-Nietzsche nach Paraguay gesandtes, in der Kopie noch erhaltenes Blatt, das einen Einführungsvermerk für das Ecce trug, mit Invektiven gegen den Schwager und die Freunde, ist, als dem echten Nietzsche nicht zugehörig, von der Veröffentlichung ausgeschlossen worden. Es handelt sich wohl um einen jener heftigen Ergüsse, wie sie auch sonst im Försterschen Nachlasse gefunden und zum Teil vernichtet wurden, mit bereits hemmungslosen Ausfällen gegen Bismarck, den Kaiser, u. a. m. […]. Schon der Umstand allein, daß ein Nachtrag für das Ecce statt an den Verlag in Leipzig nach Südamerika dirigiert wurde, zeigt, daß wir es vermutlich mit einem Blatt aus den ersten Tagen des Zusammenbruchs zu tun haben. Möglicherweise ist auch ein ähnlicher dem Verlag zugesandter nicht mehr vorhandener Zettel für das Ecce bestimmt gewesen.« (Richter 1908: 24)
Wie man hier sieht: Richter trug keineswegs, wie unlängst Antonio & Jordi Morillas betonten, »keine Verantwortung« (Morillas / Morillas 2018: 414) für derlei Zensur. Vielmehr war er mit allen Wassern gewaschen, antizipierte klug alle nur möglichen Eventualitäten – und versagte als Wissenschaftler spätestens dort vollständig, wo er ungeprüft der Paraguay-Spur der Schwester Glauben schenkte, eine Spur, die sie, wie gesehen, schon 1900 öffentlich erprobt hatte im Zusammenhang mit der von ihr in der Zukunft unterbreiteten Erklärung für den Turiner Zusammenbruch ihres Bruders im Januar 1889. Hier übrigens schon hatte sie die Hintergründe ihrer Zurückhaltung in Sachen der Edition von Ecce homo mittels eines von ihr frei erfundenen Briefes erläutert, den ihr Nietzsche angeblich Anfang Oktober 1888 von Turin aus nach Paraguay geschickt habe und in dem es hieß: »Ich schreibe in diesem goldenen Herbst […] einen Rückblick auf mein Leben, nur für mich selbst, Niemand soll es lesen mit Ausnahme eines gewissen guten Lamas, wenn es übers Meer kommt, den Bruder zu besuchen.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1900: 635)
Noch deutlich ist die Variante dieses Briefes, die sie vier Jahre später präsentierte und die nun den erläuternden Zusatz, wiederum angeblich O-Ton Nietzsche, bringt; 76 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Es ist nichts für Deutsche … Ich will das Manuskript vergraben und verstecken, es mag verschimmeln und wenn wir allesamt schimmeln, mag es seine Auferstehung feiern.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1904: 485)
Die Absicht ist klar, war doch ihre bisherige Nichtveröffentlichung von Ecce homo motiviert gewesen durch ein sie alarmierendes Schreiben Nietzsches an den dänischen Nietzscheentdecker Georg Brandes mit der Bemerkung: »Errathen Sie, wer in ›Ecce homo‹ am schlimmsten wegkommt? Als die zweideutigste Art Mensch, als die im Verhältniß zum Christenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte? Die Herrn Deutschen!« (8: 482)
Förster-Nietzsche, der an ›Deutschsprechung‹ Nietzsches gelegen war, trug in der Folge dafür Sorge, dass der zweite Satz dieses Passus’ in den von ihr beeinflussbaren Briefeditionen unterdrückt wurde. Fehlte nur noch die Unterdrückung des ganzen Ecce homo – weswegen sie den eben zitierten Brief Nietzsches erfand. Einige Jahre später – in einem Brief an Walther Krug vom Mai 1906 – zeigte sie sich in dieser Frage wegen des anhaltenden öffentlichen Interesses an diesem Werk etwas flexibler und stellte, da ihr Bruder »offenbar nur eine gewisse Frist im Auge gehabt« habe (zit. n. Pernet 1990: 516), eine Veröffentlichung des Ecce homo zu Nietzsches 10. Todestag in Aussicht. Am Ende kam es dann doch noch etwas schneller, eben 1908, zu jener von Richter besorgten, infolge von Vorbestellungen schon vor Erscheinen vergriffenen bibliophilen ›Bankiersausgabe‹. Mittels dieser konnte sie dem Käufer suggerieren, er könne sich als einer der wenigen Bevorzugten glücklich schätzen, sie jedenfalls habe im Interesse der neugierigen Nachwelt ein großes Opfer auf sich genommen und dem Willen ihres Bruders – einen von ihr frei erfundenen Willen – zuwidergehandelt. Und zu all dem reichte Raoul Richter ihr die Hand. Zwar hatte er sich, wie die von Mazzino Montinari (1972: 150 ff.) in Auszügen bekannt gemachten einschlägigen Briefe und Briefkonzepte belegen, redlich Mühe gegeben, des Originals jenes angeblichen Nietzsche- Briefes vom Oktober 1888 habhaft zu werden. In letzter Linie vertraute er allerdings Nietzsches Schwester, die ihn im Juli 1908 wissen ließ, sie habe unvorsichtigerweise ausgerechnet das Original dieses Briefes im Frühjahr 1898 dem Nietzsche-Verehrer Johannes Reinelt (alias Philo vom Walde) mitgegeben, der es nicht zurückgebracht habe und leider zwischenzeitlich verstorben sei. Dies schrieb sie wohl wissend, dass allenfalls eine »Urabschrift« des von Richter erbetenen Originals existierte mit dem Vermerk, dass das 77 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Original »von unserer lieben Mutter« verbrannt worden sei. (vgl. Podach 1961: 163) Und da niemand damals, 1908, um die einleitend ausführlich wiedergebebene anstößige Stelle wissen konnte – sie wurde erst im Rahmen der Colli/Montinari-Ausgabe erstmals bekannt –, blieb Richter die Möglichkeit, gegen Ende seines Vortrages ganz keck verlauten zu lassen: »Kein Zweifel, daß die Autobiographie als Ganzes und im einzelnen anders lauten würde, wenn die Katastrophe der geistigen Umnachtung gar nicht oder doch nicht so bald hereingebrochen wäre. Es hieße Nietzsche einen üblen Dienst erweisen und müßte das Lächeln eines jeden Mediziners erregen, wenn der hierdurch bedingte Einschlag verschwiegen oder verschleiert werden sollte.« (Richter 1908: 29)
Respekt: Auch den Trick, von Untaten offen zu reden, dann würden sie einem am wenigsten zugetraut, hatte dieser gelehrige Schüler schon von seiner Chefin gelehrt. Zusammenfassend gilt: Nietzsches Schwester hat sich nicht über die Verfügung Nietzsches, Ecce homo nicht zu veröffentlichen, hinweggesetzt, im Gegenteil: Sie hat diese Verfügung frei erfunden – und die real existierende Verfügung Nietzsches, Ecce homo mit all den von ihm noch in buchstäblich letzter Minute angeordneten Veränderungen so rasch als möglich zu veröffentlichen, schlicht ignoriert. Und Richter deckte all dies und disqualifizierte sich damit als Wissenschaftler, wenngleich er sich als Förster-Nietzsches williger Helfer qualifizierte und für höhere Aufgaben anempfahl, die allerdings wegen seines frühen Todes – wie Brunold Springer (1926: 182) vermutete: infolge von Syphilis – ausblieben. Dass niemand in der Nietzscheforschung bis auf den heutigen Tag dieser von Springer gewiesenen Spur nachging, ist bedauerlich, hätte sich doch daraus womöglich ein Richter mit Nietzsche in Vergleich setzendes persönliches Motiv herleiten lassen für Richters von Thomas Mittmann (2006: 117) als auffällig notierten Versuch, eine Nähe herstellen zu wollen zwischen seinem Idol (Nietzsche) und den rassenhygienischen Positionen etwa eines Ludwig Woltmann (etwa in Richter 1906: 174). (vgl. Niemeyer 2011: 23)
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/15 Carl Albrecht Bernoulli (1908): Subtext eines Prozesses: Nietzsches Schwester ist verrückt! Montinaris in den Nietzsche-Studien veröffentlichter Aufsatz Die geschwärzten Stellen in C. A. Bernoulli: Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft (1977) hob es nachdrücklich ins Bewusstsein der damals anhebenden Nietzscheforschung: Den Umstand, dass Köselitz im Sommer 1908 nach einem enervierenden Prozess (Einzelheiten bei Fiebig 2018: 179 ff.) gerichtlich Erfolg gehabt hatte mit seiner von der Schwester unterstützen Klage, »sämtliche Stellen aus seinen Briefen, die Bernoulli hatte abdrucken lassen, vor dem Erscheinen zu schwärzen.« (Montinari 1977: 300) Der Zufallsfund eines nicht-geschwärzten Exemplars dieses imposanten Zweibänders versetzte Montinari nun, siebzig Jahre später, in die Lage, die untersagten Abschnitte öffentlich zugänglich zu machen. Dies wiederum hilft uns heute, noch einmal über dreißig Jahre darauf, im Folgenden bevorzugt die auf Nietzsches Krankheit bezüglichen Passagen des 1908 er Zweibänders vorzustellen. Die Absicht dabei: Es gilt, den Beweggründen der Kläger auf die Spur zu kommen, etwa in Richtung der in der Überschrift erwähnten These. Ihr eignet zugleich als unausgesprochener Subtext die Annahme, dass Bernoulli – anders als der Umstand, dass er verklagt wurde, vermuten lässt –, keineswegs ungeheure Sensationen verkündet hatte. Es genügte offenbar, dass er mit damals ungedruckten Quellen argumentierte – eine Vorgehensweise, die Förster-Nietzsche exklusiv für sich in Anspruch nahm und der sie also per Gerichtsbeschluss einen Riegel vorzuschieben gedachte. Köselitz’ Motiv war, wie mir scheint, etwas schlichterer Art: Er wollte – dies war auch bei von ihm bewirkten Auslassungen in Nietzsches Briefen an ihn auffällig – nicht von und über sich lesen, was keinen guten Eindruck machte, etwa, dass er sich eine Zeitlang immer wieder aufs Neue »als Langbehns leidenschaftlicher Parteigänger« (zit. n. Montinari 1977: 307) bekannte. Dieser letzte Punkt indes interessiert hier nicht (vgl. allerdings Niemeyer 2014), im Gegensatz zum erstgenannten. So könnte das Interesse der Schwester, nicht zu viel über den Wahnsinn ihres Bruders verlauten zu lassen, die Schwärzung des folgenden Abschnitts aus einem Brief von Köselitz an Overbeck vom 29. Oktober 1892 erklären:
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»In betreff seines Glaubens an das Bedrohtsein vom Wahnsinn habe ich vieles mit Nietzsche selbst erlebt, vielleicht Intimeres, als selbst Sie, verehrter Herr Professor. Zuweilen war es so toll, daß man hätte selbst den Verstand verlieren können.« (zit. n. Montinari 1977: 304)
Köselitz hatte auch Beruhigendes zu bieten, tradierte beispielsweise gegenüber Overbeck am 21. November 1889 den Satz Nietzsches an die Adresse Julius Langbehns: »Ich glaube, Sie bringen mich wieder auf den Damm!« (ebd.: 307) – was Nietzsches Schwester wohl aus profanen Gründen der Eifersucht nicht gerne hörte und folglich nicht unters Volk gebracht wissen wollte. Jedenfalls fällt durchaus auf, dass das gesamte die Langbehn-Episode betreffende mehrseitige Kapitel der Schwärzung zum Opfer fiel, weil es mit Zitaten aus Köselitz-Briefen unterlegt war. Ähnliches gilt für den Abschnitt über Ola Hansson und dessen mutmaßlicher Informanten Max Heinze, eine Streichung, die der Schwester wohl gelegen kam, weil sie auf gute Zusammenarbeit mit Heinze im Nietzsche-Archiv angewiesen war. Und natürlich kam auch Köselitz’ Klage über seine Ablösung als Herausgeber in Wegfall oder sein aufschlussreicher Klageruf aus seinem Brief an Overbeck vom 17. November 1893: »Wer will denn dieses Weib diesen Nietzsche verstehen?« (ebd.: 324), den wir im Zusammenhang des Türck-Kapitels bereits als berechtigten Protest gegen ihre Veröffentlichung von Nietzsches Bildungsvorträgen – gleichsam als Türck-Prophylaxe – dechiffriert haben. Und schließlich noch: Ja, es versteht sich eigentlich von selbst, dass zu den zu schwärzenden Stellen auch jene gehörten, in denen Köselitz, in einem Brief an Overbeck vom 12. April 1894, bösen Zungen Raum gibt, die sich dahingehend ausließen, dass, »nachdem es mit der Kolonie in Paraguay nichts gewesen […] sei«, jetzt Nietzsche und der über ihn erwartbare buchhändlerische Erfolg »herhalten« (ebd.: 324) müsse. Dreieinhalb Jahre später notierte Köselitz über seine spätere Chefin, wiederum an die Adresse Overbecks gerichtet: »Wie es scheint, duldet Frau Dr. Förster nur Junggesellen um sich, um welche die leise Möglichkeit einer Liaison mit ihr schwebt.« Und am 22. März 1899 ergänzte er: »Eine öffentliche Kontroverse mit Frau Dr. Förster wäre nur verlockend, wenn die Gegnerin belehrbar wäre.« (ebd.: 325) Am 15. November 1899 erfährt Overbeck dann von Köselitz’ überraschendem Eintritt in Förster-Nietzsches Dienste – und diese 1908 aus Bernoullis Buch, dass dieser deswegen das Lästern
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über sie nicht einstellte, vielmehr sie gegenüber Overbeck unter dem Datum des 4. August 1900 mit den Worten porträtiert: »Sie tut keinen Schritt mehr in die Stadt: sie fährt nur noch in der Equipage, mit Kutscher und Diener mit Livree auf den Bock. Sie ist die reine Hofdame geworden; als unterhaltliches Wesen in aristiokratischen Kreisen und Hofkreisen viel begehrt.« (ebd.: 326)
Spätestens hiermit war wohl, aus ihrer Perspektive betrachtet, das Maß voll – wohingegen sich uns die Zusatzfrage stellt: Erklärt sich die Unterlassungsklage gegen Eugen Diederichs als des BernoulliVerlegers möglicherweise auch damit, dass die Leser nicht nur nicht über Nietzsches Krankheit, sondern auch über die ihre nicht besser informiert sein sollten als von ihr bestimmt?
/16 Heinrich Köselitz (1909): Der wichtigste Zeuge entdeckt, dass auch er betrogen wurde Dass Köselitz den 1900 angesetzten Kelch seiner Mittäterschaft in betreffs von Förster-Nietzsches Fälschungen bis auf den Grund zu leeren geneigt war, zeigt der Umstand, dass er 1908 auf von ihm erwirkten und von der Schwester angeregtem Gerichtsbeschluss hin für die Schwärzung der von ihm stammenden Briefpassagen in der Nietzsche/Overbeck-Doppelbiographie Carl Albrecht Bernoullis (1908) sorgte. Auch hat er die Fortdauer von Werkfälschungen in Neuauflagen von (Teil-) Editionen zu verantworten, die offiziell von seinen Vorgängern veranlasst worden waren. Zu denken ist etwa an Fritz Koegel, den Förster-Nietzsche im Frühjahr 1894 als Archivar engagiert hatte – 1897 entließ sie ihn wegen seiner Bedenken gegen ihre Editionstätigkeit, – und der, fraglos auf ihre Veranlassung hin, bei der im November 1894 erschienenen Erstausgabe von AC vier größtenteils auch bei Neuauflagen fortgelassene und erst seit 1956 (in der SA) nachlesbare Stellen unterschlug, darunter die von Dostojewski angeregte, komplex angelegte (vgl. Sommer 2000: 287 f.; Stellino 2007), auf Jesus gemünzte, von Förster-Nietzsche aber als beleidigend empfundene Vokabel »Idiot« (VI: 200) sowie das Adjektiv im Ausdruck »junger Fürst« (VI: 211), das FörsterNietzsche störte, weil sie im Interesse der von ihr propagierten Kaiserreichstreue Nietzsches verschleiern wollte, dass ihr Bruder hier in
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äußerst kritischer Weise gegen Wilhelm II. Stellung bezogen hatte. (vgl. XIV: 435) Schon diese Beispiele gehen in Richtung der systematischen Unterdrückung pathologieverdächtiger Passagen in Nietzsches Werk und passen insoweit zu der eingangs erwähnten Unterschlagung respektive Vernichtung der Eiser-Korrespondenz, die ihr Nachspiel acht Jahre später (1908) findet bei Gelegenheit des Erscheinens von GBr IV: Köselitz unterschlug nun auch jene Passagen aus Briefen Nietzsches an ihn, die auf dessen Briefwechsel mit seinem Arzt Otto Eiser hinweisen, darunter den folgenden, erstmals von Colli/Montinari als Teil von Nietzsches Brief an Heinrich Köselitz vom 21. April 1883 (Nr. 405) präsentierten Abschnitt: »Wagner ist reich an bösen Einfällen; aber was sagen Sie dazu, daß er Briefe darüber gewechselt hat (sogar mit meinen Ärzten) um seine Ü b e r z e u g u n g auszudrücken, meine veränderte Denkweise [seit MA; d. Verf.] sei die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie. – Meine neuen Schriften werden an den Universitäten als Beweise meines allgemeinen ›Verfalls‹ ausgelegt; man hat eben etwas zuviel von meiner Krankheit gehört.« (6: 365)
Und, natürlich auch dies: In der im April 1909 verfassten Einleitung zu GBr V erklärte Nietzsches Schwester das Fehlen von Originalbriefen Nietzsches (an sie und ihre Mutter) aus dem Zeitraum 1886–88 – ein Umstand, der schlicht damit zu tun hat, dass Nietzsche zumindest der Schwester zu dieser Zeit kaum noch schrieb –, mit jenem 1900 erstmals von Köselitz erprobten Argument. Nur ist es diesmal kein übereifriger Schlosser, der Schuld trug, sondern sie selbst mit unbedachten Schenkungen sowie, dies vor allem, ein während ihres Besuches in Deutschland 1891/92 verübter Einbruch in ihrem Haus in Paraguay, bei dem nicht nur Silber sondern auch Briefe Nietzsches gestohlen worden seien und dem mithin die Verantwortung dafür zukäme, dass oftmals nicht nach dem Original gedruckt werden konnte, sondern nur nach (genauen) Abschriften, die »von den entwendeten und verschenkten Briefen zum größten Theil […] vorhanden [waren].« (GBr V/1: X) Dass wir es hier mit einer geradezu abenteuerlichen, rein zweckgerichteten Konstruktion zu tun haben, die der Schwester half, Skeptikern zu erklären, dass sie leider nicht nach Originalen drucken könne, sondern nur nach – klugerweise vor dem Diebstahl gefertigten Abschriften, tatsächlich: nach den von ihr erstellten Fälschungen –, bedarf wohl keiner näheren Begründung (vgl. 82 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Müller-Buck 1998: 333) und zeigt auch ein Brief Förster-Nietzsches an Fritz Koegel vom Februar 1894, in welchem gleichfalls von diesem angeblichen Einbruch, aber nur von zwei oder drei minder wichtigen gestohlenen Briefen Nietzsches die Rede ist, an deren Inhalt sie sich im Übrigen nicht genau erinnern könne (vgl. Janz 1972: 68 f.). Daraus folgt: Erst später, im Zuge der Kompilation von GBr V, muss FörsterNietzsche die Idee gekommen sein, dass sie den Gedanken der »Abschriften« stark machen müsse, weil sich auf diese Weise verbergen ließ, dass sie die ganz wenigen Originalbriefe Nietzsches an sie aus dieser Zeit in der Regel als für sie beleidigend vernichtet oder manipuliert hatte und an diese Stelle jene auf angeblichen Abschriften zurückgehende Fälschungen treten ließ. Immerhin: Irgendwann wurde es Köselitz zuviel. So wurde er im April 1909 bei einem Archivbesuch darauf aufmerksam, dass (auch) er einer Fälschung der Schwester aufgesessen war. Es ging um den folgenden (angeblichen) Satz Nietzsches: »Unser neuer Kaiser aber gefällt mir immer mehr: […]. Der Wille zur Macht als Prinzip wäre ihm schon verständlich.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1904: 890) Dieser Satz, den die Schwester noch 1909 im Rahmen der Gbr als Quelle präsentierte (vgl. GBr V/2: 801), musste eine Fälschung sein, wie Köselitz bei jenem Archivbesuch erkannte, als er die von FörsterNietzsche benutzte Vorlage für diese Brieffälschung überprüfte und entdeckte, dass es »fraglos ›schwer verständlich‹ statt ›schon verständlich‹ heissen müsse.« (XIV: 743) Im Übrigen konnte diese Vorlage allein schon deswegen nichts mit dem ›neuen Kaiser‹ Wilhelm II. zu tun haben, weil sie der Zeit vor dessen Inthronisation entstammte, als Nietzsche im Entwurf einer Vorrede für das damals noch geplante Buch Der Wille zur Macht geschrieben hatte: »Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört denen, welchen Denken Ve r g n ü g e n macht, nichts weiter […]. Die Deutschen von Heute sind keine Denker mehr: […]. Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen sch(we)r verständlich …« (XII: 450) Man sieht: Der ›Wille zur Macht‹ ist von Nietzsche als anspruchsvolle Denkfigur konzipiert worden, nicht aber als schlichte Handlungsanweisung – und Förster-Nietzsche schaffte es 1904 mit einem vergleichsweise simplen Trick, eben diese Intention Nietzsches komplett umzukehren. Für Köselitz indes war die Sache damit durch: Im Juni 1909 schied er aus dem Nietzsche-Archiv aus – und fand immerhin die Größe, seinen Freund Ernst Holzer brieflich zu entgegnen:
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»In ihrer letzten Karte sagten sie: die Briefe (V) zeigen Nietzsches e n g e Beziehung zur Schwester über allen Zweifel erhaben. Jajajajaja! Die enge Beziehung machte aber viel Überwindung nöthig. Wie krampfhaft diese Überwindung war, wurde erst sichtbar kurz vor Ausbruch des Wahnsinns: nämlich als Nietzsche das große Ecce-Nachtrags-Folioblatt über Mutter und Schwester an Naumann sendete. D a redete der von seiner Gutspielerei endlich angeekelte Nietzsche frank und frei, und Vernichtenderes ist noch nie über Menschen gesagt worden wie auf diesem Blatt.« (zit. n. Montinari 1972: 151)
Ungeachtet der sich hier andeutenden späten Reue (vgl. auch Fiebig 2018: 191 f.) bleibt festzuhalten, dass Köselitz sich bis zu seinem Tod (1918) nie wieder öffentlich zu Nietzsche äußerte, auch nicht zu dem Verrat, den er an Nietzsche begannen hat durch Teilhabe an dem von Förster-Nietzsche zu verantwortenden Fälschungskomplott.
/17 Carl Albrecht Bernoulli (1910): Die Bordellgeschichte (oder etwas derart) findet einen unerwarteten Alibi-Zeugen: Paul Rée Bernoulli übt in Raschers Jahrbuch scharfe Kritik an Förster-Nietzsches Edition von GBr V (1908) und verweist darauf, Nietzsche habe in regelmäßigen Abständen im Winter 1876/77 eine junge Sorrentinerin empfangen, die Besuche hätte mit Rücksicht auf Malwida von Meysenbug Paul Rée auf seine Kappe genommen. (vgl. Bernoulli 1910: 257; Vorberg 1933: 29)
/18 Theodor Fritsch (1911/1915): Das ›Polengerücht‹ wird völkisch aufbereitet Fritsch’ (1852–1933) Aufsatz Nietzsche und die Jugend (1911), im rechtsradikalen, vom Autor selbst herausgegeben Hammer, reagiert mit seinem zentralen Argument auf das durch die Erstpublikation von Ecce homo (1908) publik gewordene ›Polengerücht‹, deutlicher: bringt es à la Arthur Drews gegen Nietzsche in Stellung, geißelt ihn als »frechen Polen« und »undeutsche Natur«, um anzufügen, erkennbar im Sog Türcks sowie Möbius’:
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»Nehme man diesem Spukgeist den unverdienten Nimbus, nenne man ihn beim richtigen Namen – Niemand begibt sich gern in die Gesellschaft ansteckend Kranker und Wahnsinniger.« (Fritsch 1911: 115)
Um diesen Zorn in seiner Spezifik zu verstehen, muss man die Vorgeschichte einbeziehen: Gut ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Fritsch, dieser Hitlervorläufer und völkische Siedlungsideologe (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 114 ff.), Nietzsche auf Anregung eines Gesinnungsgenossen, nämlich Nietzsches Schwager Bernhard Förster, als Autor für die von ihm herausgegebene und verlegte Antisemitische Correspondenz zu keilen versucht – ein grober Fehler, wie die briefliche Abfuhr belegt, die er sich dafür von Nietzsche einhandelte. Nietzsches Schwester unterschlug diese Briefe systematisch und über Jahrzehnte hinweg, weil das Bekanntwerden dieser Briefe ihrem Bemühen um ›Deutschsprechung‹ ihres Bruders konterkariert hätte. (vgl. Niemeyer 2019: 249 ff.) Fritsch hingegen konnte diese Abfuhr nicht vergessen und sann auf Rache, wobei ihm das durch die Publikation von Ecce homo (1908) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte ›Polengerücht‹, wie eben gesehen, gute Dienste leistete. Vier Jahre später war die Sache Nietzsches indes noch immer nicht ausgestanden, im Gegenteil – so dass sich Fritsch unter seinem Pseudonym F. Roderich-Stoltheim zu einer erneuten Intervention entschloss, diesmal mittels der Aufsatzes Nietzsches’s Macht-Philosophie und der Deutschenhaß (1915), in welchem die pathologisierende Argumentationsführung präzisiert wurde in Richtung der Überlegung, dass Nietzsche – die Vokabel ›Syphilis‹ ging auch Fritsch nicht über die Lippen – »Hysteriker und Neurastheniker« sei und insoweit eher »undeutsch«. Mehr als dies: »Dieses unstäte Springen von einem Extrem in das andere, dieses beständige Sich-selbst-Widerlegen, diese Neigung, jeden Gedankengang bis zur Übergipflung zuzuspitzen […], jenes Vorwiegen abstrakter Klügeleien, die in ihrer Überkritik schließlich immer zersetzend wirken, zum Nihilismus führen, sind Züge des slavischen Naturells, dem deutschen Wesen durchaus fremd.« (Roderich-Stoltheim 1915: 3)
Dies klingt noch harmlos, aber man täusche sich nicht: Was Fritsch hier aufbietet, erkennbar unter Weiterführung jener ›Polenfährte‹, ist ein gefährliches Zugleich von Antislavismus, Antiintellektualismus und Antisemitismus, das nur zwanzig Jahre später der Bücherwie Menschenverbrennungen mitten in Europa den Weg bahnen wird. Beendet werden sollte auf diese Weise jene Zeit des Verfalls, 85 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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die mit Nietzsche begonnen und in der Nietzsche-Begeisterung der linksintellektuellen Jugend in den 1890 er Jahren ihr Zeichen gefunden habe. Deswegen auch redete Fritsch, wenn er von der »Nietzsche-Krankheit« sprach, nicht eigentlich von jener Nietzsches, sondern von der ›Krankheit‹ seiner verheerende Wirkung. Deswegen sei es höchste Zeit, Nietzsche als etwas zu sehen, »das überwunden werden muß.« (ebd.)
/19 Carl Gustav Jung (1912): Nietzsche warnte vor sich als Syphilitiker Jung (1875–1962), der Deussens Bordellgeschichte gegenüber Sigmund Freud beglaubigte (vgl. Nunberg / Federn 1977: 27), interpretierte 1912 eine von Bernoulli wiedergegebene Anekdote, der zufolge Nietzsche in seiner Baseler Zeit einer Tischdame einen Traum erzählte, in dessen Verlauf seine Hand plötzlich eine gläserne durchsichtige Haut bekommen habe und von einer dicken Kröte in Beschlag genommen worden sei, die er dann, einem unwiderstehlichen Zwang folgend, verschluckte, mit den Worten: »Er befand sich damals in einem Alter, wo andere junge Leute längst ans Heiraten denken. Er saß neben einer jungen Frau und erzählte ihr, daß mit seinem durchsichtigen Gliede etwas Schreckliches und Ekelhaftes passiert sei, das er auch ganz in seinem Körper habe aufnehmen müssen. Man weiß, welche Krankheit Nietzsches Leben ein vorzeitiges Ende bereitet hat. Eben gerade das hatte er seiner Dame mitzuteilen.« (Jung 1912: 48)
Reto Winteler, Antipode der Syphilisdiagnose, hält diese Interpretation und jene, die sich auf sie zustimmend beziehen (etwa Niemeyer 2011: 30), für »fragwürdig«, hält ihnen vor, »an der philosophischen Aufgabe Nietzsches« vorbei zu interpretieren. (Winteler 2014: 134) Dieser Einwand gibt ein treffliches Beispiel für das, was zu Beginn von Kapitel II in Sachen des ›Betrügers‹ Nietzsche erläutert werden wird und nun ad Winteler dahingehend übersetzt werden kann, dass Nietzsches ›Betrug‹, zu suggerieren, er rede auch dort von einer ›philosophischen Aufgabe‹, wo tatsächlich nur seine persönliche Not zur Debatte steht, unentdeckt bleibt, nebst der eigentlichen Geschichte jenseits der von Jung kolportierten. Denn Bernoullis Anekdote – dies war der eigentliche Grund, warum sich Jung für sie interessierte – verweist, was ihre literarische Ausgestaltung angeht, auf 86 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
Zarathustras Rede Vom Gesicht und Räthsel, wo ein junger Hirte einer schwarzen schweren Schlange, die ihm »aus dem Munde hieng« (IV: 201), den Kopf abbeißt (vgl. Niemeyer 2007: 66 ff.) – eine Geschichte, auf die allein deswegen zurückzukommen sein wird, weil aus ihr die von Winteler in Abrede gestellte Syphilisdiagnose Zufuhr erhält.
/20 Elisabeth Förster-Nietzsche (1912): Die Bordellgeschichte wird entsorgt, die neue Krankheitsmär lautet auf »Cholera« Förster-Nietzsches Buch Der junge Nietzsche (1912) interessiert hier vor allem wegen der Neufassung ihrer 1895, im ersten Band ihrer großen Nietzsche-Biographie, vorgelegten Darlegung der Kindheitsals auch Studentenjahre Nietzsches. Beginnen wir mit dem die Jahre der Kindheit (1844–1858) behandelnden Abschnitt. Kontinuierendes Motiv bezogen auf den frühverstorbenen Vater: Nietzsche sei »dem Gedanken, daß alles Tüchtige und Ungewöhnliche in seinem Wesen und Denken, das ihn von anderen unterschied, Erbschaft von unserm frühverstorbenen Vater wäre, […] sein ganzes Leben hindurch treu geblieben.« (Förster-Nietzsche 1912: 68) Von anderer als dieser primär kognitiven Mitgift ist nicht die Rede, zumal nicht von jener Mit-Gift, die Nietzsche in Ecce homo aufruft, wenn er, mit Seitenblick auf seinen Vater, die Vokabel »schlechtes Blut« (VI: 268) in Betracht zieht. Warum Förster-Nietzsche hiervon schweigt bzw. schweigen kann? Ganz einfach: Sie hat, wie bereits dargestellt, zusammen mit Raoul Richter exakt diesen Passus vier Jahre zuvor beim Erstdruck dieser Autobiographie ihres Bruders unter den Tisch fallen lassen. Kommen wir zur auffälligsten Veränderung: Dem 1895, ähnlich wie 1912, über Seiten sich hinziehenden Zitaten aus Nietzsches Aus meinem Leben (1858) wird 1912 folgender Abschnitt vorangestellt: »Ihr [gemeint ist die Mutter; d. Verf.] jüngstes wunderschönes Kind, unser Brüderchen Joseph, erkrankte wenige Tage nach seinem zweiten Geburtstag infolge des Durchbruchs mehrerer Zähne, die sich alle auf einmal durchdrängten. Er starb plötzlich, wie der Arzt konstatierte, an Zahnkrämpfen.« (Förster-Nietzsche 1912: 20)
Was verbirgt sich als Erkenntnisinteresse hinter dieser Korrektur? Schauen wir ganz genau hin: Nach »Zahnkrämpfen« folgt übergangs87 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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los: »Sehr merkwürdig war der Traum meine Bruders Fritz, den er in seinem vierzehnten Jahr niederschrieb …« – ein Traum also, den der Leser bitte nicht ernstnehmen möge, etwa dahingehend, es ergäbe sich aus ihm ein Hinweis in Sachen der Frage, woran Joseph Nietzsche (1848–1850) gestorben sei, denn: Er starb an Zahnkrämpfen, basta! Dieser Einschub war, aus Sicht des Schwester, notwendig geworden, weil dieser »sehr merkwürdige« Traum Nietzsches in der Tat einige wichtige Fragen aufwirft. Dies gilt vor allem für die folgenden Zeilen: »In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbniß. Da ich hinsah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleide entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kind im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die Oeffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschwall und ich erwache.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1895: 20)
Wie man sieht und der Fettdruck ausweisen soll, der die Veränderungen gegenüber dem Original (vgl. BAW 1: 6) anzeigt: Förster-Nietzsche zitiert bis zu dieser Stelle sehr genau, abgesehen vom Folgesatz, der bei ihr lautet: »Am Morgen erzähle ich es meiner lieben Mutter; bald darauf wird Josephchen plötzlich unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in Wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen, die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1895: 20)
Der Vergleich mit dem damals noch nicht verfügbaren BAW-Original 26 enthüllt: Auf allein Förster-Nietzsches Kappe geht der Zusatz, Nietzsche habe damals diesen Traum seiner Mutter erzählt, »bald darauf« sei der Bruder gestorben – ein Zusatz, der offenbar die Mutter mit ins Boot dieser Lügengeschichte holen sollte und ihre Rolle beim Tod des Drittgeborenen zu einer etwas zwielichtigen werden ließ. 1912 wurde speziell dieser Teil der Mär wortwörtlich so wiederholt (vgl. Förster-Nietzsche 1912: 21), nun aber, wie gesagt, ergänzt um die Geschichte mit den Zahnkrämpfen, die der Schwester offenbar deswegen so gut in das Narrativ passte, weil sie dem Ausdruck Im Original heißt es: »Denn Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in Wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt.« (BAW 1: 6)
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»bekommt die Krämpfe« aus Nietzsches 1858 er Mär Aus meinem Leben korrespondierte und jeden Verdacht in Bann zu schlagen versprach, es stünden ganz andere Krämpfe zur Debatte, etwa epileptische. Zu beachten ist, bezogen auf diesen Punkt, dass Förster-Nietzsches primärer Aufreger Paul J. Möbius in seinem Buch von 1902 von Epilepsie gesprochen hatte, unter Berufung auf Friedrich Gutjahr (1857–1940), den Hausarzt (etwa ab 1894; vgl. Reich 2004: 82) der Familie Nietzsche, der sich seinerseits auf Mitteilungen von Nietzsches Mutter bezog, ihr Mann habe »schon jahrelang vor dem Unfalle ›seine Zustände‹ gehabt, d. h. er sei von Zeit zu Zeit im Stuhle zurückgesunken, habe nicht gesprochen, starr vor sich hingesehen, und hinterher habe er von dem ganzen Zufalle nichts gewusst.« (Möbius 21909: 14) Sowie, und auch dies ist wichtig und war vermutlich Nietzsches Schwester bekannt: In der Jenaer Krankenakte wird unter dem Datum des 5. September 1889 Nietzsches Behauptung notiert, er habe »bis zum 17. Jahr an epileptischen Zuständen ohne Bewußtseinsverlust gelitten« (zit. n. Volz 1990: 404) 27 – Grund genug (nebst anderen) für Nietzsches Schwester auch diese Quelle zu entsorgen, gleichsam nach Art des Hauses: »Professor Binswanger habe ihr 1914 den Verlust von Nietzsches Krankenakte als ›wahrscheinlich gestohlen‹ mitgeteilt und ihr versichert, er werde jeden Versuch einer unberechtigten Veröffentlichung juristisch unterbinden«, notierte hierzu Pia Daniela Volz (1990: 390) mit deutlicher Skepsis und ironischem Seitenblick auf Förster-Nietzsches Empörung darüber, dass Erich F. Podach 1929 erstmals Auszüge aus dieser Akte nach einer 1899 verfertigten Abschrift öffentlich präsentierte. Dass Epilepsie und Progressive Paralyse gleichsam als Geschwister auftreten können, wie der Fall Jules de Goncourt offenbart (s. III/9), sei hier nur der Vollständigkeit halber angeführt. Zurück zu dem 1912 er Coup der Schwester im engeren Sinne, also zu ihrer Lesart von Nietzsches 1850 er Traum am Vorabend des Todes seines Brüderchens. Denn an sich war die Idee der Erweiterung von Nietzsches Ausdruck »die Krämpfe« zu »Zahnkrämpfe« recht Vor diesem Hintergrund ist die folgende Stelle in einem Brief Nietzsches vom März 1882 aus Genua an seinen ihm damals noch innig vertrauten Freund Paul Rée durchaus auffällig: »Gestern badete ich am Meere, genau an jener berühmten Stelle wo – – – denken Sie im vorigen Sommer einer meiner nächsten Verwandten von einem solchen Anfall im Bade überrascht wurde und weil zufällig Niemand in der Nähe war ertrank.« (6: 185)
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gut durchdacht, um Hanssons »Erbübel«-Gespenst zu vertreiben. Zumal im Verwandtenkreis erfreute sich diese Lesart großer Zustimmung, wie sich anhand der Franziska-Nietzsche-Biographie von deren Cousin Adalbert Oehler erweist und der hier nachlesbare Befund belegt: »[E]r [Joseph Nietzsche, d. Verf.] fällt einem damals bei Kindern häufigen Leiden, schweren Krämpfen während des Zahnens, zum Opfer.« (Oehler 1940: 43)
So, in etwa, hatte es auch schon die hier porträtierte Tante, Nietzsches Mutter, über ein halbes Jahrhundert zuvor Franz Overbeck brieflich wissen lassen. Gegen Binswangers Kalkül auf Gehirnschlag als Todesursache im Fall von Joseph Nietzsche machte sie geltend, offenkundig instruiert durch ihre Tochter, dass es um Zahnkrämpfe gehe, die ihr »kleiner 1 3/4 alter Knabe« »schon 7 Wochen vor Durchbruch eines Spitzzahns vorher einmal hatte.« (zit. n. Podach 1937: 48) Indes: Was man dieser alten Dame vielleicht noch durchgehen lassen mag, nicht aber ihrer Tochter 1912 oder ihrem Cousin 1940, ist die Ignoranz gegenüber ärztlichem Grundwissen jener Zeit. Ein Beispiel: Einem seit Juni 1875 in Nietzsches Besitz befindlichen (vgl. Campioni et al. 2003: 144 f.) Gesundheitsratgeber, den wir im Prolog bereits beizogen, konnte, wer wollte, den Hinweis entnehmen: »Daß Kinder i n F o l g e d e s Z a h n e n s s t e r b e n oder überhaupt nur ernstlich krank werden können, kann nur von alten Weibern und von solchen Aerzten behauptet werden, die keine Kenntniß vom kindlichen Organismus und seinen Krankheiten haben.« (Bock 81870: 766)
Merkwürdiger noch: Dass es dieser Hinweis selbst einhundertfünfzig Jahre später noch nicht bis nach London geschafft hat. Jedenfalls lesen wir in der 2018 in den USA erschienen Nietzsche-Biographie von Sue Prideaux, ihre einleitende Bemerkung »Bevor wir diesen Bereich der Spekulation endgültig hinter uns lassen …« gleichsam konterkarierend: »Joseph litt an Angällen, bevor er infolge eines schweren Schlaganfalls starb.« (Prideaux 2018 [2020]: 33) Dies wirkt wie abgeschrieben vom Anti-Syphilis-Propagandisten Richard Schain, der 2001 meinte, als markiere Adalbert Oehlers Biographie Nietzsches Mutter (1940) die Benchmark in puncto Nietzscheforschung und als verharre das zahnärztlich Wissen in den USA auf dem Stand von vor 1870: »Joseph died at 22 months of age after manifesting seizures (Krämpfe) and a terminal ›stroke‹.« Dem folgte, übergangslos: 90 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Not much can be said about the relationship of his illness to the problems of the rest of the family but it is another piece of evidence that the Nietzsche family was indeed affected by a predisposition to neurological disorders.« (Schain 2001: 3)
Der erste Satzteil scheint mir, mindestens dies doch, grammatikalisch inkorrekt, insofern bis hin zu Schain schon eine Menge gesagt worden ist zur Beziehung der Krankheit des Joseph Nietzsche und jener seines Vaters – nur dass Schain auch darum nicht weiß oder wissen will. So ist beispielsweise in einer vor Abschluss der Arbeit an seiner Publikation in einer anderen (vgl. Niemeyer 1998: 79 ff.) der Tod des kleinen Brüderchens im Zuge der Neuinterpretation des von FörsterNietzsche sowohl 1895 als auch 1912 aufgegriffenen NietzscheTraums aus dem Jahre 1850 zum Gegenstand einer Debatte darüber geworden, ob Nietzsche diesen Tod seinem syphilitischen Vater in Rechnung gestellt hat. Hierauf wird noch ausführlich zurückzukommen sein. Hier indes soll es noch gehen um einen anderen, in der Kapitelüberschrift bereits aufgerufenen Aspekt der 1912 er Intervention Förster-Nietzsches: Ihre Entsorgung der Bordellgeschichte nebst Präsentation eines neuen Gegners, dem sich ihr Bruder 1866, statt der Syphilis, zu erwehren hatte: der Cholera. Den ersten Part dieses Jobs erledigte die Schwester mit einer Raffinesse, die ihres gleichen sucht: So erwähnt sie die von Paul Deussen auf Februar 1865 datierte Bordellgeschichte mit keiner Silbe. Stattessen wird sie, wenn man so sagen darf, vorverlegt, auf Oktober 1864, deutlicher: Sie wird überdeckt durch Erinnerungen an »einen entfernten Verwandten Deussens mit Namen Ernst Schnabel« (Förster-Nietzsche 1912: 142), den Nietzsche seiner Mutter wie Schwester brieflich am 27. September 1864 als »jungen, äußerst liebenswürdigen Kaufmann« vorstellte, ergänzt um den Hinweis: »er ist Deussens bekannter und begünstigter Nebenbuhler.« Das zwischen beiden strittige Liebesobjekt verbirgt sich offenbar hinter der zweiten der in diesem Brief Genannten, »Johanna und Marie […], nette Mädchen, indeß nicht meine Art, etwas geschmacklos in ihrer Kleidung, allerdings unter der Obhut einer alten, sehr pietistischen Dame«, über welche Nietzsche noch – und dies in einem auch an seine Mutter adressierten Brief – den Zusatzspott offeriert, er habe sich von ihr in einen Disput über religiöse Dinge verwickeln lassen, habe sich auch sehr gut gehalten, sei aber schließlich von ihr wegen seiner Ansichten »bemitleidet« (2: 4 f.) worden. Der
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zweite und letzte Hinweis auf Schnabel in Nietzsches Korrespondenz findet sich Ende April/Anfang Mai 1868 in einem auch von Deussen (1901: 45 f.) präsentierten Brief Nietzsches an Deussen, »die angenehme Nachricht von Ernst Schnabels Verheirathung« (offenbar mit jener Marie) betreffend und endend mit: »Wenn Du ihm auch in meinem Namen einmal Glück wünschen willst, so machst Du mir eine besondre Freude« (2: 271) – nicht nur eine Floskel, wie es scheinen; vor allem aber ein bitter nötiger und leider nicht in Erfüllung gegangener Wunsch, wie die ganze Geschichte zeigt, die Deussen 1901 unterbreitete. Ihr zufolge scheint Schnabel, sein »nächster Freund« und Cousin, ein rechter Luftikus gewesen zu sein, der 1874, also nur sechs Jahre nach seiner Eheschließung, am »gelben Fieber« 28 in Havanna gestorben, nachdem er nach dort gleich nach dem Tod seiner Frau ausgewandert sei. Deren Tod dieses von ihm »Mariechen« geheißenen »seelenguten Mädchens« (Deussen 1901: 16) – mit Geburtsnamen Maria Stürmer –, betrauerte er lautstark, nicht ohne Grund. Denn er hatte, wie ja schon von Nietzsche in seinem 1864 er Brief erzählt, heftig, aber erfolglos um sie geworben – und musste dann mit ansehen, wie Schnabel sie unglücklich machte. O-Ton Deussen: »Leichtsinnig, wie der war, gründete er mit einem anderen ein Geschäft in Barmen, heiratete sein und mein Mariechen und lebte einige Jahre herrlich und in Freuden. Das Geschäft ging zurück und mußte aufgelöst werden; der Kummer nagte an Mariechen, sie gebar ihrem Gatten ein Söhnchen und starb.« (ebd.: 16 f.)
Aber es kam noch schlimmer: Bald nach dem Tod des Vaters auf Kuba starb auch der von ihm bei den Großeltern gelassene Sohn, so dass sich »über dieser ganzen Liebestragödie das Grab geschlossen hat.« (ebd.: 17) Also eine Lovestory, mit Deussen in der Rolle des um seinen Freund, vor allem aber um dessen Frau Trauernden, mehr als dies: eine Tragödie, verursacht durch Syphilis? Wir wissen es nicht, ahnen es nur, ausgehend von dem Befunden, dass die im Fall Schnabel, Deussens Bericht zufolge, als todesursächlich angenommene Gelbsucht, etwa auch jene leichte Nietzsches nach seiner Ruhrinfektion 1870, dem »syphilitischen SeIn Nachschlagewerken aus jener Zeit konnte man zu diesem Lemma lesen: »[A]n den Küsten der Tropenländer, besonders Westindiens, endemische Krankheit, welche besonders Eingewanderte befällt und in wenigen Tagen unter thyphösen Erscheinungen, Bluterbrechen und Gelbsucht verläuft. Die Sterblichkeit 40–50 %. Behandlung aussichtslos.« (Meyers 21878: 721)
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kundärstadium« (Schiffter 2013: 62) zugerechnet wird. Was wir des Weiteren annehmen dürfen: Förster-Nietzsches sehr ausführliches 1912 er Referat dieser von ihr noch 1895 komplett ignorierten Story muss Sinn machen – möglicherweise den, zu suggerieren, die von Deussen auf Februar 1865 datierte Bordellgeschichte passe viel eher auf Schnabel denn auf Nietzsche, vielleicht habe er, Deussen, ja die Namen verwechselt. So habe Schnabel, erzählte Deussen 1901 des Weiteren und referierte die Schwester nun, 1912, lang und breit, auf einer 1864 er Rheinreise abends in den Gassen Königswinters mit Nietzsche als Beteiligtem, »um den Mädchen, die wir hinter den Fenstern vermuteten, Ovationen darzubringen« und »allerlei lose Reden [zu führen] von einem armen rheinischen Jungen, der um ein Unterkommen für die Nacht bitte«, und auch »Nietzsche flötete und girrte; sein’s Liebchen, sein’s Liebchen«, ehe dann folgte, in Deussens Bericht: »Gleichsam als Sühne für dieses, übrigens vereinzelte Vorkommnis geschah es, daß wir am nächsten Tag im Klavierzimmer des Berliner Hofes eine Flasche Wein bestellten und durch das wundervolle Phantasieren Nietzsches unsere Seelen läuterten.« (ebd.: 18)
Nochmals sei es betont: Nietzsches Schwester referierte diesen Abschnitt in Der junge Nietzsche ausführlich (vgl. Förster-Nietzsche 1912: 142 ff.), verlor aber nicht ein Wort über die von Deussen vier Seiten später präsentierte Bordellanekdote vom Februar 1865. Warum? Nun, eine Vermutung wäre: Da einige Ingredienzien dieser Anekdote, etwa das Klavierspiel Nietzsches, schon in jener auf Oktober 1864 bezüglichen Königswinter-Szene enthalten waren, allerdings mit einer sehr viel fragwürdigeren Hauptperson wie Schnabel im Zentrum, hoffte Nietzsches Schwester mittels ihrer 1912 er Mär denjenigen, die nur von ungefähr um die Deussen-Mär wussten, zu suggerieren, sie habe sich nicht auf Februar 1865 (Köln), sondern auf Oktober 1864 (Königswinter) bezogen – und also nicht wirklich ihren Bruder als Hauptperson, sondern den 1874 an einer Tropenkrankheit verstorbenen Luftikus und mutmaßlichen Syphilitiker Ernst Schnabel. Abgesichert wird das Ganze mittels der wenige Seiten später dargebotenen, auf die Leipziger Jahre bezogenen Cholera-Mär, eingeleitet mit den Worten, im Sommer 1866 habe sich in Leipzig ein »unheimlicher Gast« eingestellt, vor dem es ihren Bruder ordentlich gruselte, wörtlich: 93 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Mein Bruder hat von der Cholera eine schauerliche Erinnerung behalten; er behauptete, zweimal von der Seuche ergriffen worden zu sein.« (FörsterNietzsche 1912: 186)
Eine Rechnung, zu der ich nun gerne den Wirt geben würde: Nietzsches Schwester kalkulierte erkennbar darauf, dass die Choleramär auf Glauben traf 29 und ein jeder den Schluss ziehen würde von diesem »zweimal« zu jenem auf das Jahr 1866 bezogenen Eintrag »zweimal specifisch inficiert« (zit. n. Volz 1990: 381) aus der Jenaer Krankenakte – und ihr ab jetzt glaubte, Nietzsche habe nicht etwa die Syphilis gemeint, sondern seine zweimalige Cholera-Infektion in Leipzig 1866. »Das Wort ›Lues‹«, so vermerkt hierzu eine interne Aufzeichnung des von Nietzsches Schwester kontrollierten Nietzsche-Archivs, »mit der ursprünglichen Bedeutung ›Seuche‹, ›Epidemie‹, ist erst seit wenigen Jahrzehnten, halb euphemistisch, für ›Syphilis‹ in Gebrauch. Es bleibt fraglich, ob Nietzsche diese moderne Sinnverschiebung des Wortes gekannt hat.« (zit. n. Volz 1990: 369) Freilich, und dies meine ich mit ›Wirt geben‹ : Es ist noch weitaus fraglicher, dass die Mär der Schwester stimmt, inklusive des Zusatzes: »Eine Nacht, die er im gleichen Haus mit einer Choleraleiche zubrachte, ist ihm besonders unheimlich im Gedächtnis geblieben.« (Förster-Nietzsche 1912: 186)
Es ist vor allem Joachim Köhlers Verdienst (s. V.2/54), diese Mär nach allen Regeln der Kunst seziert und damit demontiert zu haben. (vgl. Köhler 1989: 89 ff.) Kein Wunder, dass die Geschichte mit der Cholera denn auch zügig in der Versenkung verschwand – mit Ausnahme von Nachzüglern wie Günter Schulte, die diese Geschichte offenbar weit weniger Bauchschmerzen machte als die Vorstellung, Nietzsche habe zur Heterosexualität geneigt. Auch die Josephs- respektive Zahnungsmär fand, wie am Exempel Richard Schain zu zeigen sein wird, noch 2001 ihre Anhänger – korrespondierend dazu, dass selbst die Urheberin all dessen aktuell keineswegs in, wie es angemessen wäre,
Begünstigend dabei: Dass die Cholera im 19. Jahrhundert mehrmals pandemisch in Erscheinung trat, »am heftigsten wütete sie 1854 […] in vielen deutschen Städten.« (zit. n. Fröschen 1999: 121) Zwar hatte Robert Koch 1883 den Erreger entdeckt, allerdings haperte es mit dem Therapeutium, so dass einer weiteren Pandemie im August 1892 in Europa 160.000 Menschen der Cholera zum Opfer fielen (ebd.) – Daten, die Nietzsches Schwester für ihre zeitgleich anhebende Kampagne gegen die auf ihren Bruder bezügliche Syphilisdiagnose zu nutzen verstand.
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Lehrbüchern für angehende Kriminalkommissar*innen ihre Heimat findet, sondern in Biographien mit kaum verhüllter Rehabilitierungsabsicht für diese »bestgeschmähte Frau« (Decker 2016: Rückumschlag). Was für eine skandalöse Vokabel angesichts des im Vorhergehenden Vorgetragenen und des nun noch Folgenden!
/21 Elisabeth Förster-Nietzsche (1914) oder: Die Mär vom Haschisch in ersten Umrissen, ergänzt um jene des 1891 auf dem Weg der Besserung sich befindenden Nietzsche, zu lesen als eine posthum gegen die Mutter gerichtete In den Kapiteln 27 (Die Erkrankung) sowie 28 (Krankheit und Tod) ihres Buches Der einsame Nietzsches (1914) wiederholt Nietzsches Schwester ihre erstmals 1900 vorgetragene und, wie gesehen, 1904 als auch 1906 wiederholte Erklärung zu Nietzsches Krankheit, bringt aber auch die Antisemitenmär von 1900 und 1904 wieder zur Aufführung (vgl. Förster-Nietzsche 1914: 524), ergänzt um dunkle Andeutungen über »Spuren geistiger Erregung und Verwirrung« im unmittelbaren Vorfeld des Turiner Zusammenbruchs. Die Schwester in diesem Zusammenhang, wortwörtlich: »Die Vorstellung, daß er, verursachte durch jene später geschilderten Mittel, zeitweise ohne völlige Besinnung allein in den Straßen Turins herumgegangen ist, vielleicht die Beute von allerhand Gesindel, das sich an ihn drängte, zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke.« (Förster-Nietzsche 1914: 535)
Worauf die Schwester hiermit hinauswollte, wurde erst siebzehn Jahre später vollends klar: Ihr ging es eine Art Blankoscheck im Blick auf eine Zeit, wo Argumente wie Schlafmittelabusus nicht mehr als ausreichend empfunden wurden und weitere Erklärungsversuche verlangt waren, die sich denn auch wenige Seiten später in Der einsame Nietzsche andeuten in Gestalt des Hinweises auf ein »javanisches Mittel« und der gleich nachfolgenden Anekdote: »Am Anfang seiner Erkrankung pflegte er nämlich unserer Mutter öfters geheimnisvoll zu sagen, ›daß er 20 Tropfen genommen habe‹ – er sagte nicht wovon – ›und daß ihn dann der Geist hinweggeführt hätte.‹ Vielleicht hat er sich bei seiner Kurzsichtigkeit in der Tat vergriffen, und darauf wäre dann jener furchtbare Schlaganfall zurückzuführen.« (ebd.: 536)
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Dem folgt unmittelbar ein Hinweis auf »Herrn Dr. Paul Cohn in Berlin«, der »sorgfältige Nachforschungen und Untersuchungen angestellt [hat], welcher Art wohl dieses javanische Beruhigungsmittel gewesen sein könnte« und von dem nur zu hoffen sei, »daß er diese Untersuchungen, wenn sie abgeschlossen sind, veröffentlicht« (ebd.: 537) – kein frommer, allerdings erst 1931 erfüllter Wunsch, wie wir noch sehen werden. Ansonsten bringt Der einsame Nietzsche Neues insofern, als ihr Nietzsche »am 22. Februar 1891 nach Berlin einen kleinen Brief« geschrieben habe mit der Einleitung »Mein liebes Lama. Komm bald wieder!« und dem Vierzeiler: »Ein Bruder und eine Schwester / Nichts Treueres auf der Welt / Kein Goldkettlein hält fester / Als Eins zum Andern hält.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1914: 541)
Interessant ist vor allem der Zusatzhinweis, der Reichstagsabgeordnete Dr. Pachnicke – gemeint ist Hermann Pachnicke (1857–1935), – habe sie damals »um das Original dieses rührenden Briefes« gebeten, sie habe sich nicht davon trennen können, und später sei er ihr »dann entwendet worden.« (ebd.) Gewiss: Einem Brief der Schwester an Mutter wie Bruder vom 29. 1. 1891 darf entnommen werden, dass sie sich mit Pachnicke in Berlin getroffen hatte. (vgl. Krummel 2006: 26) Der (angebliche) Brief Nietzsches, um den es hier geht, ist drei Wochen später geschrieben worden, so dass man angesichts der Argumentationsstrategie der Schwester in vergleichbaren Fällen annehmen darf, dass die ganze Geschichte unter Fake News fällt. Und in der Tat: Schon der Zeuge Pachnicke ist, nicht nur des realen Berliner Januartreffens wegen, klug gewählt. Denn als junger Mensch war Pachnicke ein geradezu schwärmerischer Nietzscheverehrer gewesen. Dafür gibt ein Exemplar seiner mit gedruckter Widmung versehenen Dissertation von 1882, erhalten in Nietzsches persönlicher Bibliothek (vgl. Campioni et al. 2003: 430), Zeugnis. Drei Jahre zuvor hatte Pachnicke den elf Jahre Älteren, ermutigt durch einen legendär gewordenen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches 30, mit Sätzen behelligt wie: »Habe ich sie verstanden,
»Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.« (II: 266) Diesen Aphorismus kann man übrigens (auch) als Klage Nietzsches darüber deuten, keinen guten, sondern einen Syphilitiker als Vater gehabt zu haben. Dies hier gesetzt und andernorts erläutert (vgl. Niemeyer 2016: 128 ff.), wird man folgern dürfen, dass
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mein Vater, mein väterlicher Freund? Seien Sie mir Das, begleiten Sie meine Entwicklung mit einem gütigen Blick.« (KGB II 6/2: 1104) Würde man diesen schwärmerischen Pachnicke schockgefroren transferieren – so offenbar das Kalkül von Nietzsches Schwester 1913/14 –, könnte man ihm unbesehen ein Interesse für eine Trouvaille wie jenen Brief Nietzsches vom 22. Februar 1891 zutrauen. Aus der gesetzten Kondition ergibt sich schon das Problem: Pachnicke hatte sich (ob zu seinem Vor- oder Nachteil, bleibe dahingestellt) weiterentwickelt, war längst ein gewiefter Realpolitiker geworden – und dies so sehr, so vermutlich Förster-Nietzsches weiteres Kalkül zum Zeitpunkt 1913/ 14, dass er ihrer kleinen harmlosen Anekdote, wäre sie ihm zu Ohren gekommen, wohl kaum widersprochen hätte. Zumal sie diesen Widerspruch vermutlich als Zeugnis für sein schlechtes Gedächtnis verbucht hätte – keine geringe Gefahr damals für einen im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Mitfünfziger. Weitere Auffälligkeit: Dieser Brief Nietzsches vom 22. Februar 1891 fand in keine der vorliegenden Briefsammlungen Eingang und ist auch von Förster-Nietzsche nie wieder erwähnt worden. Entsprechend spielt er auch in der Nietzscheforschung kaum eine Rolle – abgesehen von der im Prolog bereits angesprochenen biographisch interessierten à la Sander L. Gilman: Ihm war aufgefallen, dass Nietzsches Mutter, anders als später die Schwester nach deren Tod (1897) und also frei von der Sorge, sie könne noch widersprechen, nicht verhehlt hatte, dass sie jenen Brief ihrem Sohn diktiert hatte. Entsprechend äußerte sie sich in einem Brief an Overbeck vom 29. Juni 1891 (vgl. Podach 1937: 131), von dem ausgehend sich Gilman auf die Suche nach der Diktatvorlage machte – und jenen von Pachnicke als »rührend« qualifizierten Vierzeilen als vom Literaturnobelpreisträger (1910) Paul Heyse (1830–1914) stammend identifizierte (vgl. Gilman 1981: 325 f.), mehr als dies: Auch die von Nietzsches Schwester in Der einsame Nietzsche als »ergreifende Worte«, die Nietzsche damals in der Irrenanstalt Jena, »unter den verschiedensten Mißständen« dortselbst leidend, einem Herren aufzeichnende, »der ihn um ein Autograph bat« (Förster-Nietzsche 1912: 528), erweisen sich, wie Gilman (1981: 326) herausstellte, keineswegs, wie die Vokabel ›Autograph‹ nahelegt, als Spontanschöpfungen eines angeblich keineswegs vollständig Erloschenen. Vielmehr zitierte die Schwester, ziemlich Förster-Nietzsche diese Deutungsoption komplett fernlag, sonst hätte sie von diesem Beispiel abgesehen.
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plump diesmal, und gleichwohl von Erich F. Podach (1929) nicht entdeckt, keinen anderen als Nietzsche selbst, Stand 1881. 31 Ziehen wir ein Zwischenresümee: Beide Beispiele, sowohl diese Anekdote Förster-Nietzsches um den Autographensammler als auch jene subtil durchgearbeitete um den Brief Nietzsches vom 22. Februar 1891, sollen der Schwester dabei helfen, die Erkrankung ihres Bruders zu verharmlosen. Insbesondere jener Brief mit dem Vierzeiler wirkt beinahe wie ein Kassiber aus dem Jenseits, den der Briefschreiber, der gut zwei Jahre zuvor, in Turin, in geistige Umnachtung versunken war, der Schwester aus seiner häuslichen Naumburger Pflege zukommen lässt, des Inhalts: »Komm’ bald wieder«, ergänzt um den Subtext: »Und hol’ mich hieraus!«, denn: »Es besteht noch Hoffnung auf Besserung, wenn nicht gar auf Heilung!« Dieser Subtext ging also posthum gegen die Mutter, der Förster-Nietzsche schon zu ihren Lebzeiten immer mal wieder ankreidete, nicht genug für den Bruder zu tun, ihm zu wenig Anregungen zu geben. Das Perfide dabei: Nietzsches Schwester schreckte nicht davor zurück, für diese Zwecke ein von der Mutter erstelltes Dokument zu verwenden. So hatte sie am 24. Februar 1891 in einem am 28. Februar an Franz Overbeck weitergeleiteten, von Erich F. Podach (1937) erstmals publik gemachten Notat über ein halbwegs gehobenes Frage-und-Antwortspiel mit Nietzsche über Émile Zola berichtet. (s. III/11) Erst dieses Notat dürfte die Schwester später auf die Idee gebracht haben, jenen gleichfalls als Zeugnis für eine Besserung lesbar zu machenden Brief ihres Bruder an sie vom 22. Februar 1891, also aus eben jener Zeit, geltend zu machen.
/22 Walther Vulpius (1923): Es war Syphilis, erworben im Dienst fürs Vaterland Walther Vulpius (1860–1944) erstmals von Sander Gilman (1981) veröffentlichte Niederschrift Nietzsches Krankheit (1923) bringt Anschauungen eines im November 1899 von Nietzsches letztem Hausarzt wegen Nietzsches Augenerkrankungen beigezogenen Weimarer Sanitätsrats. Er darf dem eben zitierten Angriff von Nietzsches Schwester auf Paul J. Möbius zufolge jenen »Ärzten und Freunden« zugerechnet werden, Nietzsche »gekannt und behandelt zu haben« »Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mitteilen, bei der sie sich des Jammerns enthält und sich wie unter Cypressen schweigend ergeht.« (III: 330)
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(Förster-Nietzsche 1904: 898) und auf die nicht zurückgegriffen zu haben sie Möbius vorwarf. Vulpius macht denn auch kein Hehl daraus, von Nietzsches Schwester »mit der Abfassung einer Besprechung der Krankengeschichte ihres Bruders und der daran sich knüpfenden unerquicklichen Controverse« (Vulpius 1923: 719) betraut worden zu sein. ›Unerquicklich‹ darf man getrost übersetzen mit ›Möbius‹, mit dem Vulpius allerdings weit sachlicher als die Schwester verfuhr. Unerbittlich ist er allerdings in puncto der DeussenAnekdote in Sachen von Nietzsches Bordellbesuch vom Februar 1865, die er für unglaubwürdig hält. Vulpius Alternativerklärung, da an der Diagnose ›progressive Paralyse‹ festzuhalten sei; Nietzsche müsse sich das »verursachende Gift« anderweitig eingehandelt haben, wie er vermute: per indirekter Übertragung während Nietzsches Sanitätsdienst im deutsch-französischen Krieg, wobei »besonders der abschließende Transport von Ruhr- und Diphteriekranken unter den ungünstigsten hygienischen Bedingungen in Betracht« komme (ebd.: 721). Diese Erklärung korrigierte, vermutlich in Absprache mit Nietzsches Schwester, deren Darstellung aus Die Krankheit Friedrich Nietzsches (1900), ihr Bruder habe sich bei dieser Gelegenheit »eine Ansteckung an Ruhr und Diphteritis« (Förster-Nietzsche 1900: 624) zugezogen – von Lues (Syphilis) war noch nicht die Rede. Auch hatte Nietzsches Schwester seinerzeit ausdrücklich noch hinzugefügt: »Ich sage also nicht […], daß von dem Gift jener Krankheiten, der Diphteritis und der rothen Ruhr, Etwas in ihm zurückgeblieben sei, sondern ich sage, daß die Arzneimittel, die er seitdem anwandte, seine Gesundheit und seinen guten Magen ruiniert haben und dadurch das Gleichgewicht zwischen der Nahrungszufuhr und dem Verbrauch der Nerven- und Geisteskraft zerstört wurde.« (ebd.: 624)
Nun also, dank Vulpius, ist es doch das Gift, auch noch jenes einer viel schrecklicheren, aber eben nicht, wie die Deussen-Anekdote nahelegte, durch Nietzsches Schuld in seinen Körper aufgenommen Krankheit. Aber diese Korrektur war dem Stand der Forschung geschuldet und wohl in Kauf zu nehmen, solle, so Vulpius mit überraschender Naivität respektive Bekenntnisfreude, »uns« das Andenken Nietzsches nicht nur »fleckenlos« erscheinen, sondern »sein Bild als das eines tragischen Opfers im Dienste für das Vaterland« (Vulpius 1923: 728) überdauern. Kurz geredet: Die ›Nietzscheforschung‹, die – deswegen die Parenthese – Nietzsches Schwester gegenüber willfährige allemal, hatte gelernt, die Krankheit Nietzsches als Gewinn zu ver99 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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buchen und war damit endgültig im Lager der von Nietzsche verachteten ›monumentalen‹ Historiographieschreibung angekommen. Umso fataler, wenn dies Nietzscheinterpreten – wie etwa Günter Schulte – nicht zu erkennen vermögen.
/23 Elisabeth Förster-Nietzsche (1924): Die Bordellanekdote wird von den Quellen her entsorgt, des Gleichen der »Erbübel«Verdacht Das von Förster-Nietzsche edierte Buch Der werdende Nietzsche (1924) interessiert hier vor allem aus kriminologischen Gründen, also wegen der mit ihm mittels Fälschungen aller Art intendierten großflächigen Umschrift der Jugendschriften Nietzsches. Eine Kostprobe zu diesem Themenkomplex, bezogen auf Nietzsches wichtige Aufsätze Fatum und Geschichte (1862) sowie Willensfreiheit und Fatum (1862), hatte die Schwester schon dreißig Jahre zuvor im Anhang des ersten Bandes ihrer großen Nietzsche-Biographie gegeben. (vgl. Förster-Nietzsche 1895: 309 ff.) 1923 waren diese beiden Aufsätze erneut ediert worden, als Teil einer unter dem Titel Friedrich Nietzsche: Jugendschriften auch separat verfügbaren Sammlung von Arbeiten aus dem Zeitraum 1858 bis 1868 (auch als Band I der Musarion-Ausgabe verfügbar, versehen mit einem Vorwort der Schwester und einem Nachbericht Max Oehlers). Die Absicht der hier in Rede stehenden, sich auf die autobiographischen Aufzeichnungen Nietzsches konzentrierenden Edition ist eine andere: Es gilt, so die mutmaßliche Absicht der Schwester, die »Erbübel«-Hypothese von den Quellen her zu entsorgen sowie die 1912 in Der einsame Nietzsche exemplarisch vorgetragene Umschrift der Bordellanekdote Deussens nun auch von den Quellen her abzusichern. Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Förster-Nietzsche präsentierte in Der werdende Nietzsche erstmals (in quelleneditorischer Absicht) und an prominenten Ort, gleich zu Beginn, Nietzsches Jugendschrift Aus meinem Leben (1858), die Erinnerungen ihres Bruders an den Tod des Vaters betreffend. Doch Obacht: Die Wiedergabe dieses Dokuments ist inkorrekt, verglichen mit der gut ein Jahrzehnt später im Rahmen der von Hans Joachim Mette edierten Historisch-kritischen Gesamtausgabe. Der entscheidende Unterschied: Förster-Nietzsche fügte 1924 die Vokabel »infolge eines Sturzes« ein in den Satz Nietzsches: »Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Va100 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ter gemüthsiikrank« (BAW 1: 4) – und ersetzte die letztgenannte Vokabel durch den Ausdruck »sehr krank« (zit. n. Förster-Nietzsche 1924: 11) 32 Mit diesem kleinen, subtilen Eingriff war die von Ola Hansson in die Welt gesetzte »Erbübel«-These außer Kraft gesetzt – ein Fehler, der, wie angedeutet, spätestens hätte auffallen müssen, als 1933 die BAW erschien und die korrekte Fassung von Nietzsches Aus meinem Leben vorlag. Freilich, so lautete offenbar das Kalkül der Schwester: Eine Korrektur ihrer Korrektur, die ihre Zeit brauchte und die es im Interesse der Sache auszusetzen galt. Warum sie nicht wissen, allenfalls ahnen konnte: 1933 begann im Zuge der nun einsetzenden umfassenden Nazifizierung Nietzsches das Interesse an derlei Fragen rapide gegen Null zu gehen. Der zweite Punkt ist kaum weniger brisant: Die 1912 von Förster-Nietzsche unterbreitete Schnabel-Mär wird in Der werdende Nietzsche per selektivem Deussen-Referat fast wortwörtlich wiederholt (vgl. Förster-Nietzsche 1924: 244 ff.). Und komplementär dazu wird sorgfältig darauf geachtet, nur Briefe aus dem damit im Zentrum stehenden Zeitraum Herbst 1864 zu zitieren und den im Sinne der Bordellanekdote Deussens brisanten Zeitraum Februar 1865 lieber ganz aus dem Fokus zu nehmen bzw. zu verharmlosen. Hierzu gehört ein von Förster-Nietzsche erstmals 1909 (in Gbr. V/1: 94 f.) präsentierter und nun erneut aufgerufener Brief Nietzsche an Mutter und Schwester von Mitte Februar 1865 aus Bonn, in dem es gleich im zweiten Satz heißt: »Das, was seit einigen Wochen alle Köpfe in den Rheinlanden beunruhigt hat, ist der große kölnische Karneval, an dem ich mich aber durchaus nicht beteiligt habe, und zwar aus allen möglichen Gründen, jedenfalls zum größten Erstaunen meiner Bekannten und Freunde.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1924: 274)
Muss man hier wirklich noch hinzufügen, dass dieser Brief komplett der Fantasie der Schwester entspringt und dass ihre Absicht, wie schon 1909, dahin ging, gegen Deussens auf Köln bezügliche Bordellanekdote einen Zeugen der Verteidigung anzubieten, wie er sonst in keinem Buche steht: Nietzsche? Wohl nicht. Hierzu gehört der Hinweis, dass Förster-Nietzsche das von ihrem Bruder hinterlassene Originalmanuskript an der maßgeblichen Stelle angebrannt hatte, um die für sie anstößige, aber noch ansatzweise entzifferbare Vorsilbe »gemüths-« zu tilgen und Platz für ihre Legende zu schaffen, hier hätten ursprünglich die Worten »infolge eines Sturzes« gestanden (vgl. Hödl 1994: 297).
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Und auch dies versteht sich dann wohl von selbst: Der Brief Nietzsches vom 4. August 1865 aus Bonn an seinen Freund Carl v. Gersdorff, in welchem Nietzsche darüber berichtet, dass er an einigen Festen teilgenommen habe, aber in den letzten Wochen wegen Krankheit im Bett liegen müsse wegen eines heftigen Rheumatismus, »der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne« und der ihm gegenwärtig »die stechendsten Kopfschmerzen« (2: 76) verursache, wird in Der werdende Nietzsche nicht mit einer Zeile erwähnt. Ersatzweise zitiert Förster-Nietzsches aus einem am nächsten Tag abgegangenen Brief Nietzsches an sie und ihre Mutter Erfreuliches über eine Einladung nach Berlin – lässt aber, anders als noch 1909, den entscheidenden Abschnitt fort: jenen, in welchem Nietzsche, ähnlich wie einen Tag zuvor gegenüber Gersdorff, darüber klagt, dass er »jetzt so viele und häufige Schmerzen« (2: 78) habe. Ganz klar: Diese Klage passt nun, 1924, nicht zu der Mär eines allein der Wissenschaft verpflichteten ›heiligen‹ Bruders – und gerät eben deswegen in Wegfall, zumal sie den Keim enthält zu einer nur ein Jahr später von Ernst Benda vorgetragenen Ableitung, wonach die Bordellanekdote eben doch Hand und Fuß haben müsse – wie an ihren Krankheitsfolgen ablesbar.
/24 Karl Kynast (1925): Das ›Polengerücht‹ wird völkisch aufbereitet (Teil II) Kynasts (1885–?) Aufsatz Der Fall Nietzsche im Lichte rassenkundlicher Betrachtung (1925), erschienen in Die Sonne. Monatsschrift für nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung, Weimar, steht für einen sich bei Theodor Fritsch (s. IV.2/18) andeutenden Paradigmenwechsel auf dem Felde pathographischer Betrachtungen über Nietzsche. Kern des neuen, völkischen Paradigmas: Der auf Houston Stewart Chamberlain zurückgehende und exemplarisch von Arthur Dinter (1876–1948) in seinem ›Zeitroman‹ Die Sünde wider das Blut (1918) exemplifizierte Imperativ: »Rasse ist alles! [D]enn Volk und Vaterland geht […] unrettbar zugrunde, wenn die Rasse durch Mischung mit artfremdem Blut verdirbt.« (Dinter 61919: 430 f.) (vgl. Niemeyer 2019a: 286 ff.) Kynasts unausgesprochene Variante: Der Einzelne ist nichts, die Rasse alles – also ist auch Nietzsche zunächst einmal nichts und erst dann, vielleicht, Alles, wenn sein rassenkundlicher Befund bedenkenfrei bleibt. So, in etwa, ein promovierter ka102 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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tholischer Volksschullehrer, der 1933 dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) beitreten sollte (vgl. Harten/Neirich/Schwerendt 2006: 423) und 1925, zeitgleich zu Hitlers Arbeit an Mein Kampf, den Verdacht vortrug, »[d]er Ruf, den Nietzsche heute noch vielfach genießt«, stünde »in keinem Verhältnis zu der Bedeutung seiner Lehren.« (Kynast 1925: 533) Verantwortlich dafür, diesem Verdacht noch nicht Bahn gebrochen zu haben: Der Rassenkundler Hans F(riedrich) K(arl) Günther (1891–1968), später einer von Hitlers willigsten Helfern, der auch nach 1945 keinerlei Unrechtsbewusstsein zeigte (vgl. Wistrich 1983: 132 f.), im Gegenteil. In seiner Rassenkunde des deutschen Volkes (1922) – Gesamtauflage bis 1943: 270.000 Exemplare (ebd.: 132) – habe er Nietzsche, so Kynast (1925: 533), noch »allzu glimpflich« beurteilt. So betrachtet steht also durch Kynast ein ›nicht glimpfliches‹ Urteil über Nietzsche ins Haus. Dessen Ausgangspunkt: Das ›Polengerücht‹ aus Ecce homo (s. IV.2/14) sowie das durch es motivierte Nachdenken über Nietzsches Physiognomie. Unser Volksschullehrer ist auch in dieser Frage alles andere als schüchtern: »Das alles würde gut damit zusammenstimmen, daß mir Nietzsche sowohl seinem Gesichtsausdrucke nach (besonders seines ungütig stechenden und verhaltene, flackernde Glut verratenden Auges wegen) wie auf Grund seiner Schriften, wo sich ›Bosheit‹ und ›Grausamkeit‹ an allen Ecken ein Stelldichein gewähren, von jeher wie ein moderner Dschengis-Chan erscheinen wollte.« (ebd.: 534)
Des Weiteren ist Nietzsche für Kynast der typische »Mischling«, der – hier folgt er Günther – »innerlich Haltlose, Brüchige, zuletzt Zusammenbrechende«, der nur deswegen so heftig gegen die décadence anging, »weil er den Feind im eigenen Innern spürte.« (ebd.) Während den jungen Nietzsche noch, als Erbe seiner »nordischen Blutmitgift«, Wagners Genius anzog, offenbarte der Bruch mit diesem, dass sich in Nietzsches Seele ein Wandel vollzog: »die nordischen Bluterbtheile drängten zur Oberfläche.« (ebd.: 535) Um die Sache hier abzukürzen: Ab da an ging’s bergab, Nietzsche entwickelte den »Ressentiment-Blick des Mongolenmischlings« (ebd.), mit ihm begann das »Mischlingszeitalter« (ebd.: 536) – und Deutschland wurde zur »Beute unnordischen, widergermanischen Geistes« mit bitteren Folgen: »Jetzt herrscht in ihm die ›Bosheit‹, die Gier zum Golde, die Lüsternheit des Fauns; nicht Siegfried, sondern Alberich befiehlt fortan.« (ebd.: 539) Sowie, unmittelbar bevor der Autor schließlich doch 103 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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noch auf Zarathustras Lied Unter Töchtern der Wüste (s. V.2/4) und damit indirekt auf Deussens Bordellgeschichte (s. IV.2/8) zu sprechen kommt: »Fahren wir fort auf dieser Bahn, so werden wir in ein paar Hundert Jahren nicht mehr ›deutsche Frauen‹, sondern nur noch deutsche Freudenmädchen haben, – ein Ziel, das niemand inniger ersehnt als der Jude.« (ebd.: 528)
Fürwahr: Dieser katholische Volksschullehrer hätte die Klippschule Theodor Fritsch’ fraglos mit »Hervorragend« bestanden. Indes: Es gibt keinen Grund, an dieser Stelle lauthals zu lachen – beschrieb Kynast doch letztlich nichts weiter als die Beweggründe jener, die acht Jahre später daran gingen, Deutschland wieder in Besitz zu nehmen. Dass sie dies mit geistiger Unterstützung Nietzsches taten, dürfte Kynast schockiert haben. Ihm ermangelte es zumindest in diesem Punkt der Fantasie. Und was Nietzsches Krankheit und die Syphilisfrage angeht: Warum noch, so vermutlich Kynasts Denke, lange um Details dieser Art streiten, wenn der rassenkundliche Blick zeigt, dass es ohnehin nichts ist mit diesem selbsternannten ›Polen‹ – der folgerichtig den Weg derer gehen wird, deren Weiterleben dem Erhalt der Substanz des Erbguts des deutschen Volkes eher abträglich wäre: den der Euthanasie. Dass diese Pointe Hitler folgte, der zeitgleich in Landsberg an Plänen zur Vernichtung aller ihm nicht genehmen Rassen arbeitete, darf man getrost für unwahrscheinlich erklären. Dieses Thema steht im Übrigen auf einen anderen, erst nach 1933 genauer zu beschreibenden Blatt. Auf ihm auch wird zu verzeichnen sein, ob die Nazis wirklich bereit waren, dem ›nordischen‹ Wagner den Eintritt in ihre Walhalla zu erlauben, dem ›slavischen‹ Nietzsche aber nicht. Hier wollen wir uns mit dem Befund begnügen, dass Kynast unerledigt gebliebene Probleme aus dem Jahr 1891 wieder aufnimmt, genauer: den von Houston Stewart Chamberlain (1896) entfalteten und auch bei Hermann Türck zu findenden Gedanken, dass Nietzsches Krankheit 1875/76 ausbrach und in der Abwendung von Wagner ihren Grund hatte. Dass Zusammenhänge wie diese in Erörterungen des Nietzsche/Wagner-Problems unter dem Leitmotiv der Krankheit – etwa bei Gregory Moore (2008) – gar keine Rolle mehr spielen, kann man insoweit nur bedauern.
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/25 Ernst Benda (1925): Die Bordellgeschichte tritt wieder auf und wird mit der Syphilisdiagnose verknüpft Bendas in der Monatsschrift für Neurologie und Neurologie erschienener Aufsatz Nietzsche’s Krankheit rekonstruiert das Krankheitserleben Nietzsches anhand einschlägiger Briefe und lenkt im Rahmen dessen die Aufmerksamkeit auf eine »sonst unbeachtet gebliebene Briefnotiz« (Benda 1925: 66), enthalten in einem Brief Nietzsches vom 4. August 1865 aus Bonn an seinen Freund Carl v. Gersdorff, der uns noch ausführlich interessieren wird. Hier nur soviel: Nietzsche, kurz vor seinem Wechsel in den neuen Studienort stehend, berichtet hier darüber, dass er an einigen Festen teilgenommen habe, aber in den letzten Wochen wegen Krankheit im Bett liegen müsse. Die Krankheitssymptome beschrieb Nietzsche als heftigen Rheumatismus, »der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne« und der ihm gegenwärtig »die stechendsten Kopfschmerzen« (2: 76) verursache. Benda hielt diese Symptome für verräterisch genug, um Rheumatismus oder Migräne (à la Möbius) auszuschließen und auf »Meningitis« zu erkennen und eine im Juli 1865 erfolgte luetische Ansteckung in der Linie von Deussens Bordellgeschichte in Betracht zu ziehen. (vgl. Benda 1925: 79 f.)
/26 Brunold Springer (1926): Nietzsche war Syphilitiker, wie viele andere Geniale auch Springers (1871–1931) Buch Die genialen Syphilitiker, erschienen im Verlag Die Neue Generation seiner Lebensgefährtin, der Feministin und Nietzscheverehrerin Helene Stöcker (1869–1943), entstammt der Feder eines (jüdischen) Rechtsanwalts und steht unter dem John Stuart Mill entlehnten Motto, dass die Krankheiten der Welt und des Körpers nicht geheilt werden könnten, »ohne daß man offen von ihnen spricht.« (zit. n. Springer 1926: Vorsatz) Entsprechend outet Springer recht unerschrocken (und nicht immer ganz berechtigt) eine Vielzahl auch in diesem Buch Interessierende als Syphilitiker – etwa Raoul Richter –, vor allem aber Nietzsche, übrigens mit einem gewissen Verständnis für die Schwester, die sich »bis heute gegen die Stacheln dieser Tatsache sträubt« und unter Anerkennung des Umstandes, dass »für uns alle, die unter dem blendenden Licht Nietzsches aufgewachsen sind, […] es eine schmerzliche Scham [ist], an seine 105 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Paralyse zu glauben.« (Springer 1926: 182) Gleichwohl: Schon das erwähnte Motto, aber auch das zur Krankengeschichte Ausgeführte lässt keinen Zweifel daran, dass Springer diesen Preis zu erbringen im Interesse der Aufklärung (auch über Nietzsche) für alternativlos hält.
/27 Kurt Hildebrandt (1926): Schwester fälschte nicht – dennoch Syphilis möglich Hildebrandts zuerst in einen Beiheft der Monatsschrift für Neurologie und Neurologie erschienene Studie Gesundheit und Krankheit in Nietzsches Leben und Werk (1926) bringt ausführlich und durchaus eloquent einen Gesamtüberblick zum Thema und erklärt gleich zu Beginn fehlende Sektionsbefunde oder den fehlenden WassermannTest als nicht gravierenden Mangel angesichts des Umstandes, dass dem Fachmann der Umstand, »daß ein Paralyse oder eine Lues-Psychose bestanden hat« (Hildebrandt 1926: 3), nicht fraglich sein könne. In rückblickender Bewertung des Autors aus dem Jahr 1936 wollte er die Haltlosigkeit der Thesen von Paul J. Möbius nachweisen und der Frage nachgehen, wann sich erstmals »in den uns erhaltenen Dokumenten die ersten Spuren der Paralyse zeigen.« (Hildebrandt 1936/ 37: 223). Die hier kursivierte Bemerkung ist entscheidend und entwertet, so die Quellenfrage nicht gestellt wird, das ganze Argument, das im Wesentlichen von der Absicht getragen ist – wiederum in nachträglicher Bewertung aus der NS-Zeit –, Stellen, insbesondere aus Ecce homo, unter Pathologieverdacht zu rücken, »die peinlich und geschmacklos, ja als Verrat am Deutschtum wirken.« (ebd.) Hildebrandt, dem George-Kreis entstammend, nach 1933 zu Hitler findend und noch 1965 die Judenverfolgungen zu einer »propagandistisch überhitzten Leidenschaft« (zit. n. Karlauf 2007: 757) erklärend, fand in Erich F. Podach einen recht prominenten Fürsprecher, weil er »Nietzsches Werke als Kulturgüter« gegen die »charlatanhaften Übergriffe von Möbius und Genossen auf Grund […] seiner Nietzschekenntnis abgewehrt hat.« (Podach 1930: 30) Worin dieser Kritiker dem Mediziner und Philosophen Hildebrandt indes nicht zu folgen vermochte, ist der Umstand, dass er »gleichzeitig Anleihen bei der unbewiesenen Paralyse-Diagnose [macht].« (ebd.: 31)
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/28 Erich F. Podach (1930): Schwester fälschte, dennoch wohl eher keine Syphilis – wohl aber eine etwas schwer zu deutende Geschichte vom Pferd (in Turin) Podachs Buch Nietzsches Zusammenbruch. Beiträge zu einer Biographie auf Grund unveröffentlichter Dokumente (1930) erhebt nach dem weitgehenden zutreffenden Referat seines Kritikers Paul Cohn gegen die Schwester den Vorwurf, »aus dem Trieb nach einer ›ihr genehmen Erklärung der Krankheit des Bruders‹ einer ›Kette von Selbsttäuschungen zum Opfer gefallen zu sein‹.« Außerdem kritisiert Podach, dass »›das javanische Beruhigungsmittel‹, das die Schwester als mitverantwortlich für die Krankheit anführte, ›erst in der Zeit des Kampfes gegen die Paralyse-Hypothese von Möbius auftauche‹.« Des Weiteren moniert Podach, dass die von der Schwester als finale Aufreger Nietzsches geltend gemachten »›anonymen Antisemiten-Briefe […] nicht auffindbar gewesen zu sein [scheinen]‹.« Schließlich, so weiterhin O-Ton Cohn über Podach: »Bezüglich der bekannten, Nietzsche in tiefster Seele aufwühlenden Lou-Erlebnisses sagt er, daß die Schwester den Bruder aus Eifersucht von Lou Salomé abgebracht und damit die katastrophale seelische Erschütterung des Jahres 1882 wesentlich mitverschuldet habe«, mehr als dies: »daß das Verhältnis zur Schwester für Nietzsche überhaupt eine Quelle dauernder Qual gewesen sei.« (Cohn 1931: 14) Summarisch gesprochen ist dies eine ganz hervorragende Paraphrase des von Podach Vorgetragenen, an welcher lediglich irritiert, was an ihr, entsprechend Cohns Intention, als Podach-Kritik will gelten können. So gesehen wollen wir uns Ludwig Marcuse anschließen, der Podachs Buch als Beleg nahm für seine These, dass die Schwester »das stärkste Hindernis ist auf dem Weg zu einem objektiven Bild vom Zusammenbruch.« (zit. n. Krummel 1998: 331) Im Einzelnen wies Podach, wie Cohns Paraphrase schon andeutet, auf zahlreiche Brieffälschungen der Schwester im Zusammenhang ihrer 1900 er Krankheitsmär hin (vgl. Podach 1930: 59 ff.) und machte erstmals einige ›Wahnsinnsbriefe‹ Nietzsches vom Januar 1889 zugänglich (ebd.: 76 ff.), ebenso Einträge aus dem Basler Krankenakte sowie dem Jenaer Krankenjournal. (ebd.: 100 ff.) In der Hauptsache allerdings, der Syphilisdiagnose, blieb Podach skeptisch, sowohl was Nietzsches Vater angeht (ebd.: 157), als auch, was Nietzsche betrifft: »Für die Angabe«, so zitiert er Kurt Hildebrandt, »Nietzsche habe sich 1866 mit Lues infiziert, fehlt jede Spur eines Beweises.« (ebd.: 159) 107 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Wichtig und folgenreich, wenn auch empirisch ungesichert: Podach brachte die sogleich von seinem Kritiker Paul Cohn (1931: 13) aufgegriffene Mär unters Volk, Nietzsche habe den eigentlichen Anlass zum Einschreiten Dritter gegeben, als er am 3. Januar 1889 beim Verlassen seines Hauses gesehen, »daß auf der piazzo Carlo Alberto am Droschkenstand ein müder alter Gaul von einem brutalen Kutscher gepeinigt wird.« Podach weiter, als sei er dabei gewesen: »Mitleid übermannt ihn. Schluchzend und schützend wirft er sich um den Hals des gemarterten Tieres. Er bricht zusammen.« (Podach 1930: 82)
Setzt man einmal den Wahrheitsgehalt dieser von Anacleto Verrechia (1978 [1986]: 259 ff.) ins Zentrum gerückten, in der älteren (vgl. Niemeyer 1998: 237 f.) wie neueren (vgl. Kaufmann 2019: 410 ff.) Nietzscheforschung mit einiger Skepsis betrachteten, gleichwohl von Rüdiger Safranski (2000: 330) bis Sue Prideaux (2018 [2020]: 423 f.) immer wieder gläubig referierten Anekdote voraus, scheint sie für sich wenig Sinn zu machen und insoweit nur als Dokument für den anhebenden Wahn-Sinn Nietzsches in Betracht zu kommen. Etwas anders steht die Sache, wenn man einbezieht, dass Nietzsche einige Monate zuvor, als wolle er der Turiner Szene auf dem Reißbrett vorgreifen, Reinhart v. Seydlitz (1850–1931) schrieb: »Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mit Diderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem eigenen Pferde abschlägt. Das Pferd, die arme geschundne Creatur, blickt sich um, dankbar, s e h r dankbar.« (8: 314)
Man sieht hier: Die Fiktion entspricht noch nicht ganz dem, was sich später ereignete. Vor allem fehlt die Legitimation für den schützenden, helfenden oder jedenfalls doch mitleidsvollen Eingriff eines Dritten. Denn das Pferd erlebt die zynisch gemeinte Handlung des Kutschers durchaus als wohltuend. Deswegen wohl auch spricht Nietzsche von einer »moralité larmoyante«, von einer Moral also, die, von christlichen Werten getragen und durch menschliches Empfinden vermittelt, mitunter das Leiden der Kreatur zu Unrecht unterstellt. Der geistig gesunde Nietzsche, so könnte man folgern, wollte diese Antinomie verdeutlichen, im Gegensatz zu dem, der Monate später das Reißbrett verlässt und, all seiner Kritik an der Mitleidsmoral zuwiderhandelnd, dem geschundenen Tier helfend zur Seite springt. Denn dieser Nietzsche bezeugt jenseits aller Theorie die in 108 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ihm gründende unterschwellige Sehnsucht nach jener Mitleidsmoral, der er zu geistig gesunden Zeiten theoretisch jedes Recht absprach, obwohl er ihr praktisch doch immer wieder bedurfte und nun für immer bedürfen wird. 33 Um diesem Nietzsche ein Denkmal zu setzen, schreckte Nietzsches Schwester nicht davor zurück, zumindest doch in diesem Punkt im Windschatten des hier in Rede stehenden »Machwerks« (Förster-Nietzsche 1931: 123) segelnd, eine weitere Mär in Umlauf zu bringen, der zufolge Nietzsche in Turin 1888 einem verletzten Hund die Pfote verbunden haben soll. Auf die Funktion dieser Mär wird gleich noch einzugehen sein.
Fast noch bedrückender – aber hier nur am Rande von Interesse – sind die Bezüge der Turiner Szene zu Dostojewskis Roman Schuld und Sühne. Dabei sind auch hier Unwägbarkeiten gegeben. So ist es nach wie vor nicht ganz sicher, ob Nietzsche diesen Roman, auf den er in zwei Briefen vom Mai 1887 (8: 75) sowie Oktober 1888 (8: 451) kurz anzuspielen scheint, tatsächlich auch gelesen hatte. Sicher ist nur, dass Nietzsches so skandalträchtiges Umarmen des geplagten Pferdes in Turin, wenn es denn tatsächlich wenige Wochen später stattgefunden haben sollte, an jener Schlüsselszene des Romans erinnert, in der Dostojewskis negativer Held Raskolnikow einem prügelnden Kutscher in die Parade fährt. Bemerkenswert ist dabei die Frage, die dieser Kutscher unmittelbar zuvor aus der ihn zum Teil anfeuernden Menge gestellt bekam: »›Ja, bist du denn kein Christ, du Teufel?‹« (Dostojewski 1990: 76) Denn dies klingt so, als habe Raskolnikow mit seinem Eingreifen den rhetorischen Gehalt dieser Frage demonstrieren und sich insoweit als eine Art advocatus dei in Szene setzen wollen. Dabei ist zu bedenken, dass Raskolnikow gar nicht an Gott glaubt und Dostojewski dieses Geschehen deswegen als kindheitsbezogenen Traum konstellieren mußte. Dieses Gestaltungsmittel nutzt Dostojewski, um den inneren Kampf abzubilden, der sich in Raskolnikow abspielt, ist er es doch, der in eben dieser Zeit mit dem von ihm dann auch realisierten Gedanken spielt, gleichsam seinen »alten Gaul« zu erschlagen, nämlich eine alte, im moralischen Sinn nutzlose, weil korrupte Wucherin. Bemerkenswert sind dabei die von Raskolnikow benannten Motive für diese Tat. Denn seine Aussage, er wolle auf diese Weise die These vom Tod Gottes und des von ihm herrührenden Tötungsverbots testen und zugleich die Idee einer höheren Form des Menschentums erproben, klingt so, als dränge hier einer danach, einen halbverdauten Nietzscheianismus in die Praxis umzusetzen, was angesichts des Erscheinungstermins des Romans (1866) natürlich nur als gedankliches Konstrukt zu lesen ist. Denkt man freilich in diesen Bezügen, scheint Schuld und Sühne das Dilemma der Rezeption des nietzscheianischen Oeuvre, die Turiner Kutscheranekdote vom Januar 1889 hingegen das Drama der Person Nietzsches zu enthüllen. Die Pointe dieses Dramas gilt einem Menschen, der bis in den anhebenden Wahn hinein die Sehnsucht spürte nach unverrückter Geltung jenes an die Gottesidee gebundenen Kinderglaubens an das Gute, den systematisch zu dekonstruieren Nietzsche Lebensziel und Verpflichtung war. 33
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/29 Paul Cohn (1931): Förster-Nietzsches willigster Helfer: Haschisch wäre eine Option, wenngleich … Cohns Schrift Um Nietzsches Untergang wirkt wie eine Auftragsarbeit für Nietzches Schwester, der Cohn, wie er betont (Cohn 1931: 16), schon 1908 gehuldigt hatte (vgl. Cohn 1908; zum Kontext: Fiebig 2018: 169 f.), des Weiteren 1910, ohne dass der Nietzschebiograph Horst Althaus (1985: 585) hierbei irgendetwas beanstandenswert fand. Indes, und die Vokabel »Auftragsarbeit« deutet es ja bereits an: Cohn war, aus welchen Gründen auch immer, nicht wirklich frei, sich vor Vereinnahmung zu schützen, wie schon die auf ihn bezügliche Passage in Förster-Nietzsches Buch Der einsame Nietzsche (1914) deutlich macht. Ein »Herr Dr. Paul Cohn in Berlin« habe »sorgfältige Nachforschungen und Untersuchungen angestellt«, welcher Art das von Nietzsche Schwester hier erwähnte und von ihrem Bruder genommene »javanische Beruhigungsmittel« gewesen sein könne, erfuhr man damals auch diesem Buch, ergänzt um die Hoffnung, »daß er diese Untersuchungen, wenn sie abgeschlossen sind, veröffentlicht.« (Förster-Nietzsche 1914: 537) Siebzehn Jahre später – so zeigt Um Nietzsches Untergang – ist es so weit. Peinlich insoweit, dass Cohn, ein jüdischer Arzt, gleichwohl den Eindruck zu erwecken suchte, er habe der Schwester einfach so seine Arbeit geschickt und diese habe ihm dann »die unverdiente Ehre [erwiesen], ihm einen ergänzenden Beitrag zu seinen Ausführungen zu liefern« (Cohn 1931: Vorwort), auf den gleich einzugehen ist. Kaum weniger peinlich: Robert C. Holubs Versuch, diese Zusammenarbeit und den »appendix with letters she wrote to Cohn« als Beleg zu nehmen für seine These, dass Nietzsches Schwester »was not an anti-Semite herself.« (Holub 2016: 22) Denn Holub verliert kein Wort über den Charakter dieser Briefe: Sie sind, wie wir gleich noch sehen werden, durchgängig verlogen und geben dadurch einen Hinweis auf ihr Cohn-Bild: Er war ihr kaum mehr als ein nützlicher Idiot, was man durchaus als anti-semitisch geißeln darf, ganz unabhängig davon, dass sie Cohn nach 1933 brieflich ob der nun anhebenden Judenverfolgung, die gerade ihm gegenüber ob seiner »deutsch. Gesinnung« (zit. n. Reuter 2008: 43) ungerecht sei, zu beruhigen suchte. 34 Recherchen der Projektarchivarin Miriam Haardt von der Stiftung Neue Synagoge Berlin erlauben den Rückschluss, Paul Cohn, mit vollem Namen Dr. Paul Victor Cohn, geb. am 22. 10. 1872 in Breslau und auf Liste 147 Deutscher Reichsanzeiger
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Was Cohn Anlass gab für seine blinde Förster-Nietzsche-Verehrung, muss hier außerhalb der Betrachtung bleiben. Fakt ist, dass sie es wohl war, die ihn im Eifer des Gefechts den Blick verlieren ließ für das Unausgegorene seiner Argumente sowie das Dysfunktionale seines Vorgehens. Ein Beispiel: Cohns Podach-Kritik, in, wie eben gesehen, eine aufwändige Paraphrase der Kritik Podachs an FörsterNietzsche eingebaut, wird nicht wirklich in dem, was ihr definierendes Merkmal ist, deutlich, was auch die Zwischenbemerkung des Verfassers erklären könnte: »Auf die Wiedergabe der weiteren gegen die Schwester gerichteten Verdächtigungen soll verzichtet werden.« Korsettiert wird dieser letztlich sehr kluge Beschluss durch eine Art Schlachtruf gegen den seit 22 Jahren geführten »Verleumdungszug« (Cohn 1931: 15) geltungssüchtiger Skribenten gegen Nietzsches Schwester – kein wirklich kluger Einstieg, wie die gegen Ende des thematisch einschlägigen Abschnitts seiner Buches vorgetragene Erläuterung andeutet: »Diese Arbeit, der das ›Polemisch‹ nur ein notwendiger Umweg war, wünscht als Ganzes […] als eine Ergänzung zu noch strittigen Nietzschefragen, und nicht als eine Polemik aufgefaßt zu werden.« (ebd.: 56) Versuchen wir also, diesem Wunsch des Verfassers Folge zu leisten. Cohns organisierendes Argument lautet, dass, da im Fall Nietzsche »eine spezifische Infektion«, die als »alleinige Ursache« der Paralyse zu gelten habe, von Nietzches Schwester »energisch abgelehnt [wurde]«, »mit anderen Ursachen« (ebd.: 25 f.) gerechnet werden müsse – eine Argumentation, deren Crux auf der Hand liegt: Der Vorbehalt der Schwester wird als konstant und unverrückbar gesetzt, alles andere hingegen als variabel. Damit wird zugleich als gleichsam alternativlos behauptet, dass es »andere Ursachen« geben müsse – nicht-syphilitische selbstredend, um den wichtigsten, für Nietzsche Schwester entscheidenden Punkt zu nennen. Dies meint zugleich, dass sie in anderen Hinsichten Abstriche machen musste. »Gemütserregungen allein«, so Cohn erläuternd, als rede er direkt mit ihr, kämen nicht in Betracht, »um den Zerfall der Nervensubstanz im Gehirn Nietzsches, wie er bei der schweren organischen Krankheit vorhanden sein mußte, zu erklären.« (ebd.: 26) Was blieb? Cohn: Endogene Gifte, etwa eine Stoffwechselstörung, schieden aus, desgleichen, aus der Gruppe der exogenen Gifte, die Lues, ebenso der und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 272 vom 20. 11. 1939 als ausgebürgert verzeichnet (E-Mail von Frau Haardt an den Verf. v. 16. Juni 2020), habe den Holocaust überlebt.
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Alkohol – blieb: »ein Zusammenwirken von Chloralhydrat und Haschisch.« (ebd.: 27) Wie leicht erkennbar: Haschisch war Cohns Zauberwort und zugleich die Kröte, die Nietzsches Schwester schlucken müsste – und schlucken konnte eingedenk ihres von Cohn in Erinnerung gebrachten Passus aus ihrer großen Nietzsche-Biographie, in welchem sie einen Holländer ins Spiel gebracht hatte, den Nietzsche im Sommer 1884 kennengelernt habe und »der ihm aus langer eigener Erfahrung ein javanisches Mittel anempfahl.« (ebd.: 30) Weiter mit O-Ton Förster-Nietzsche: »Es war eine dunkle Flüssigkeit, eine Art starker Alkohol. Mein Bruder sagte mir aber, daß er damit sehr vorsichtig wäre, denn ein Mal habe er in das Glas Wasser ein paar Tropfen zu viel genommen und sei davon absolut betrunken geworden. Er habe sich auf den Teppich hingeworfen und immer lachen müssen (er sagte ›grinsen‹).« (Förster-Nietzsche 1904: 919)
So weit, so lustig, denn auch hier ist alles Kalkül, die allerletzte Vokabel beispielsweise, die Nietzsches Schwester benötigte, um das in späten 1888 er Briefen von Nietzsche berichtete Grimassieren als unerwünschte Nebenfolge dieses Mittel deutbar zu machen und von dem Verdacht zu entlasten, es handele sich um ein Paralyse-Indiz. (vgl. Volz 1990: 172) Auch die Java-Geschichte hat sich nie wirklich aufklären lassen (ebd.: 164 ff.), half der Schwester aber, einen neuen Akzent in der Schlafmittel-Debatte zu setzen. Bis hin zu der von Cohn mit ihrer Unterstützung in die Welt gesetzten Mär, auch Haschischabusus komme in Betracht, da Cannabis (Stichwort »grinsen«) »Heiterkeit und fortwährende Lachlust« (Cohn 1931: 34) erzeuge – eine in einschlägig interessierten Kreisen bis auf den heutigen Tag (etwa Bennett 2018) auf Anklang treffende Auffassung, für die Cohn neben Charles Baudelaire 35 einen wichtigen Kronzeugen mobilisieren konnte: Nietzsche, deutlicher: sein Wort aus Ecce homo: »Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence, – Gift, ich bestreite es nicht …« (VI: 289)
35 Aus dessen Les Paradis artificielle (1860; dt.: Die künstlichen Paradiese) wird seitenlang zitiert (vgl. Cohn 1931: 35 ff.), mit dem Fazit: »Wer diese Schilderung liest und nicht an Nietzsches letzte Zeit denkt, der muß ein schlechtes Gedächtnis oder kein starkes Interesse an Nietzsche haben.« (ebd.: 38)
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Als eindeutiges Bekenntnis kann dieser Satz indes nicht gelten, wie schon Pia Daniela Volz (1990: 168 f.) betonte, die auch auf die Bedeutung eines auf Baudelaire hinweisenden Nachlassnotats vom Oktober 1888 hinwies 36 und Nietzsches Gebrauch von Schlaf- und Schmerzmitteln (Kapitelüberschrift) umfassend rekonstruierte, ohne dabei einen wirklich Abusus etwa auch von Chloralhydrat oder – damals gleichfalls als Schlafmittel in Gebrauch befindlich – von Cannabis, Cocain oder Morphium feststellen zu können. Der Fairness halber sei hinzugefügt, dass auch Cohn Haschisch nicht »als direkt Paralyse veranlassendes Gift« in Betracht zog, sondern nur als ein »das Gehirn schwer schädigendes Gift«; zusätzlich räumte er ein, dass »eine schwere Haschisch-Vergiftung den plötzlichen A u s b r u c h einer schlummernde Gehirnkrankheit provoziert haben [könnte].« (Cohn 1931: 41) Die Syphilisoption blieb also weiterhin im Spiel, ungeachtet aller Solidarisierung Cohns mit Förster-Nietzsche.
/30 Elisabeth Förster-Nietzsche (1931): Vom Winde verweht – ein wichtiger Brief, den ein bisher unbekannter Kronzeuge, »Don Enrico«, beinahe gerettet hätte, wenn nicht Nietzsche auf einmal … Paul Cohns eben behandelter Schrift als Anhang beigegeben, transportiert der hier in Rede stehende Text Förster-Nietzsches mit dem Titel Die Zeit von Nietzsches Krankheit bis zu seinem Tod die Botschaft, sie sei durch Cohns Buch ermutigt worden, die in ihrem Buch Der einsame Nietzsche (1914) angedeutete Rolle Nietzsches in Turin als Beute von »allerhand Gesindel« (Förster-Nietzsche 1914: 525) auszubauen. Dieser ihrer neuen, erstmals Cohn im August 1930 brieflich übermittelten, von Anacleto Verrechia (1978 [1986]: 249 ff.) gründlich demontierten Mär zufolge sei es so gewesen, dass ihr Bruder sich im Frühling und Herbst 1888 mehrmals mit einem italienischen Bekannten ihres Gatten getroffen habe, wobei dieser durch jenen in langen, italienisch gehaltenen Briefen, vorwiegend Fragen der Kolonisation behandelnd, in Kenntnis gesetzt worden sei – Briefe, die allerdings nicht mehr verfügbar seien, sondern »nach dem Tod »Ein solcher ›Unfreier‹ hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein – er hat Wagnersche Musik nöthig …« (XIII: 601)
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meines Mannes in andere Hände übergegangen sind.« (FörsterNietzsche 1931: 121) Glücklicherweise aber habe sie davon ihrer Mutter aus Paraguay berichtet, könne also auf diese Aufzeichnungen zurückgreifen etc. pp., kurz und im Rückgriff auf das von der Schwester zu jener Zeit seit bald vierzig Jahren praktizierte Fälschungshandwerk gesprochen: Ihre hier in Rede stehenden Briefe an Cohn von August (Brief 1), Oktober (Briefe 2 und 3) sowie November (Brief 4) 1930 sind mit äußerster Vorsicht zu betrachten, stehen, wie für ihre Brieffälschungen insgesamt nachweisbar (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 57 ff.), für eine raffinierte Mischung aus Zitiertem, Authentischem und Erfundenem. So auch hier, ad Brief Nr. 2 gesprochen: Ja, es gab tatsächlich im Mai 1888 an der Turiner Universität einen Professor namens Pasquale de Ercolo (1831–1917) – nicht, wie die Schwester schreibt, »d’Ercole« (Förster-Nietzsche 1931: 124) –, und dieser hat tatsächlich, einem Brief Nietzsches vom 26. Mai 1888 zufolge (8: 322), den Besucher aus Deutschland in Turin besucht. Aber der ganze Rest ist Fiktion, angefangen von der Darstellung der Schwester, dieser habe einen an der Universitätsbibliothek in Turin beschäftigten Deutsch-Italiener, dessen Name ihr »nicht mehr genau erinnerlich« (Förster-Nietzsche 1931: 125) sei und den sie und ihr Gatte immer nur »Don Enrico« nannten, um Dolmetscherdienste im Hinblick auf weitere Treffen gebeten. Frei erfunden sind insoweit, wie man recht sicher vermuten darf, alle von Don Enrico nach Paraguay berichteten Anekdoten, etwa jene gleichwohl hin und wieder 37 als seriöse Quelle präsentierte vom verletzten Hündchen, dem Nietzsche geholfen habe und dass zum Dank eines Tages das bei dieser Gelegenheit beschmutzte Taschentuch ihres Bruders »gewaschen und geplättet« (ebd.: 126 f.) im Maule zurücktrug. Vor allem aber, und dies ist der Punkt, auf den Förster-Nietzsche mit dieser Fälschung abzielte: Frei erfunden ist Don Enricos in Brief 3 im Zentrum stehender Bericht, Nietzsche habe ihm gegenüber sein »eigenes Erstaunen« ausgesprochen, »was er in der letzten Zeit alles geschaffen hätte, deshalb wäre er nun auch so heiter, das wäre nur mit Hilfe des Mittels seines guten holländischen Freundes möglich gewesen« (ebd.: 144) – eine Szene, die Förster-Nietzsche benötigte, um ihre alte, dreißig Jahre zuvor erstmals unterbreitete Mär vom geistiErstaunlicherweise selbst in einem von der Stiftung Weimarer Klassik zusammengestellten, ansonsten sehr verlässlichen und hilfreichen Ausstellungskatalog. (vgl. Bender / Oettermann (Hg.) (2000): 722 f.)
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gen Zusammenbruch ihres Bruders infolge von Schlafmittel-Abusus etwas aufzumöbeln, unter Beiziehung eines weiteren Nietzsche empörenden Briefes, den der Wind Nietzsche auf offener Straße entrissen habe und den Don Enrico habe aufheben wollen, dies aber nicht zu Ende führend, weil Nietzsche verschwunden war etc. pp. – kurz: Dieser, so Förster-Nietzsche an Paul Cohn im Oktober 1930, »entsetzliche Brief«, unterzeichnet von einem »Siegfried Wagner« und voller »boshaftester Lügen und Fälschungen« (ebd.: 147), habe ihrem Bruder den Rest gegeben. Zusammenfassend geredet: Dieser angeblich Ende September 1888 in Turin gleichsam vom Winde verwehte Brief vertritt im Rahmen dieser allerneuesten und zugleich allerletzten Mär Förster-Nietzsche zum Turiner Zusammenbruch ihres Bruder die Funktion jener antisemitischen Briefe aus ihrer 1900 er Mär, nur dass nun die Variable »Schlafmittel« neu besetzt ist durch die Variable »Mittel des holländischen Freundes«, die, wie gesehen, durch Paul Cohn übersetzt wurde in Richtung Haschisch. Dies also ist schon die ganze Pointe dieses 1931 publizierten Auftritts von Nietzsches Schwester, über die – gemeint ist die Pointe – man eigentlich schallend lachen müsste, wäre die Sache nicht so furchtbar traurig.
/31 Heinrich Möller (1931): Nietzsche bestätigte die Bordellgeschichte gegenüber Heinrich Köselitz Möller (1876–1958), Musikschriftsteller und Pädagoge 38, steht im Zentrum zweier in Das Tage-Buch veröffentlichter Leserbriefe des Inhalts, Heinrich Köselitz habe ihm, damals zeichnenden als »stud. phil.« auf seinen Brief vom 29. März 1900, die Frage betreffend, ob »Nietzsche’s Geistesstörung vielleicht Folge einer infektiösen Erkrankung sei«, bei einem Besuch in Weimar kurze Zeit darauf versichert, »daß Nietzsche sich tatsächlich syphilitisch infiziert hat, als er in
In Thomas Manns Erzählung Unordnung und frühes Leid (1925) hat Möller, unter seinem Namen auftretend, einen kurzen Auftritt als »Wandervogel-Typ, der bürgerliche Festkleider offenbar weder besitzt noch besitzen will« (Mann, Bd. VIII: 637) und auf den sich gleichwohl »Unruhe, Neid und Beschämung« des Hausherren richten ob seines Sohnes Bert, »der nichts weiß und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen.« (ebd.: 643) Möller als Auskunftsquelle über die Syphilis des eigentlichen ›Hanswurst‹ (= Nietzsche) sei trotz seines anti-bürgerlichen Wandervogel-Habitus gleichwohl vertrauenswürdig, sollte dies womöglich heißen.
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einer schwachen Stunde einmal ein Bordell besuchte.« (zit. n. Krummel / Krummel 1994: 322 f.; vgl. auch Vorberg 1933: 34)
/32 Hellmut Walther Brann (1931): Die Bordellgeschichte zieht ihre Spuren über Leipzig (1866) bis hin nach Nürnberg (1876) Branns 39 (1903–1978) Buch Nietzsche und die Frauen (1931) ist für unser Thema wichtig vor allem wegen der hier zu besichtigenden Wiederaufnahme der Bordellgeschichte vom Februar 1865. Deusens seinerzeitige Darstellung, Nietzsche habe lächelnd berichtet über »ein halbes Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze«, die ihn »erwartungsvoll ansahen« (Deussen 1901: 24), lässt Brann auf das Lied Unter Töchtern der Wüste aus Zarathustra IV, insbesondere auf die Zeilen: »Ihres allerliebsten, allerzierlichsten, / Fächer- und Flatterund Flitterröckchens.« (IV: 383) Branns Folgerung: Es handele sich bei diesem Lied um des Autors »Generalbeichte in eroticis« (Brann 1931: 132) unter Bezug auf einschlägige Abenteuer aus studentischer Zeit, auf die Deussen angespielt habe. Die Konsequenz daraus wird im Nachwort »Keuschheit« und Paralyse gezogen. Brann hält nach der Vorlage der Nietzsche-Anamnesen für die Zeit ab Januar 1889 (vgl. Podach 1930) die Syphilisdiagnose für gesichert, tadelt das »törichte Eingreifen der Frau FörsterNietzsche« (Brann 1931: 203) und versucht, des Infektionsortes näher zu kommen, ausgehend von Paul Deussens auf Februar 1865 datierten Bordellgeschichte, die 1866 – nach der Jenaer Krankengeschichte – einen ersten Verkehr zur Folge gehabt habe, aber auch, »einer auf Peter Gast zurückgehenden Mitteilung zufolge« (ebd.: 208), einen zweiten Verkehr zehn Jahre später, also 1876 in Nürnberg, wo Nietzsche sich bei einer Zwischenübernachtung auf dem Weg zu den Bayreuther Festspielen erneut angesteckt habe. Nicht nur dies, sondern auch Branns Zusatzannahme hat es in sich: »Außerdem aber scheint Nietzsche in beiden Fällen die Infektion – aus inneren Sühnegründen – bewußt herbeigeführt zu haben.« (ebd.) Mit diesen recht voraussetzungsreichen (Zusatz-) Annahmen war neue Brisanz in einem Spiel, das an sich sehr viel eher der Beruhigung bedurfte hätte. Die Kritik vom Typ, Brann habe Nietzsche »in plumpe Der Autor, SPD-Mitglied, emigrierte 1933 nach Paris und wanderte 1941 in die USA aus.
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sexualpathologische Schemata« (zit. n. Krummel 1998: 399) gepresst, ließ denn auch nicht lange auf sich warten, im Gegenzug zum Lob, Brann habe »das Märchen von Nietzsches Unerotik […] endgültig erledigt.« (ebd.: 405) Erwähnt sei noch Alice Salomon (1872–1948) 40 mit der über die hier interessierenden Thematik hinausweisenden Beobachtung aus ihrer in der Vossischen Zeitung erschienenen Brann-Rezension, Nietzsches »Vergötterung des Weibchentyps« sei als Reaktionsbildung zu verstehen auf »ein Schicksal, das ihm in der Wirklichkeit sein stolzes Frauenideal vorenthielt.« (Salomon 1931)
/33 Josef Hofmiller (1931): Nietzsches Schwester und ihre allerletzte Ausflucht: Die Simulationsthese Hofmillers (1872–1933) Aufsatz Nietzsches (1931) zieht die Bilanz eines der frühesten Nietzsche-Kenner (vgl. etwa Hofmiller 1902). Insoweit ist er von Beginn an in – dem Außenstehenden nicht unbedingt zugängliche – Spezialprobleme der Nietzscheforschung verhakt, angefangen vom Wiederkunftsgedanken, den Hofmiller, schon wegen der von Nietzsche vielfach aufgerufenen Mystifizierung – etwa nach Art der ›Sils-Maria-Vision‹ vom August 1881 (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 107) als pathologieverdächtig verbucht, also vom Typ her einem »Wachtraum« respektive einer »Fieberpsychose« (Hofmiller 1931: 75) zurechnet. Dieses Argument wird sogleich gegen Alfred Baeumlers Diktum aufgeboten, Nietzsche sei »vor allem kein K r a n k e r «, sowie: Es fehlten »alle Vorzeichen für den geheimnisvollen Zusammenbruch am Ende seines Lebens.« (zit. n. Hofmiller 1931: 79) Damit steht das Programm fest: Hofmiller sammelt in der Folge, zumeist kritisch gegen den damals von Nietzsches Schwester dominierten Mainstream, weitere Indizien für Pathologisches bei Nietzsche, beginnend mit dessen schon von Otto Hamann (1923: 147) als auffällig herausgestelltem Lob auf die Inspiration aus Ecce homo: Man müsse, so Nietzsche hier, ausgehend von seiner Erfahrung von Inspiration, »Jahrtausende zurückgehen […], um Jemanden zu finden, der mir sagen darf: Es ist auch die meine« (VI: 340) – ein Satz, der zu mancherlei euphorischer Wertung Anlass gab (etwa Schmidt / Spreckelsen 1999: 99 f.), der aber im Kontext gelesen, äußerst bedenkDiese legendäre Begründerin von Sozialarbeit als Frauenberuf wurde 1937 von den Nazis als Jüdin ausgewiesen und starb vereinsamt in New York.
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lich ist 41, wichtiger, hier: ein Satz, den Hofmiller recht lässig karikiert. Er nämlich fügt hinzu, man müsse nicht »Jahrtausende« zurückgehen, noch nicht einmal ein Jahr, fände vielmehr eine ähnliche Euphorie im nämlichen Jahr (1888) beim österreichischen Komponisten Hugo Wolf (1860–1903) – einem Syphilitiker, wie man bei Ernst Bäumler (1976: 284 ff.) nachlesen kann, der auch die 1888 er WolfAnekdote referiert, auf die Hofmiller sich bezieht. Dass Nietzsche der Syphilis erlag, stellte Hofmiller also nicht in Abrede. Seine Aufmerksamkeit galt eher der Schwester, deren Axiom: »[I]rrsinnig durfte Nietzsche nicht gewesen sein« (Hofmiller 1931: 83) ihm als widersinnig galt und schwer vereinbar mit den Fakten – die Förster-Nietzsche allerdings kräftig manipulierte, ohne dass Hofmiller dies immer erkannte. So zitierte er gläubig aus von ihr frei erfundenen Briefen ihres Bruders an sie von Anfang 1882, die dartun sollten, was sie ihm brieflich am 6. 9. 1909 auch noch einmal gesondert versicherte: »[ S ] e i n e K r a n k h e i t e r k a u f t e i h m d i e p e r s ö n l i c h e F r e i h e i t . Nur als K r a n k e r konnte er seinen Abschied von Basel nehmen, nur dem K r a n k e n gaben die Basler die Pension.« (zit. n. Hofmiller 1931: 103)
Heißt: Die später, zu DDR-Zeiten, von Wolfgang Harich und noch später von Lutz Gentsch sowie aktuell von Reto Winteler ventilierte These, Nietzsche sei gar nicht wirklich krank gewesen und habe nur simuliert, ist eine These aus dem Ungeist der Förster-Nietzsche und wird selbst von Hofmiller noch referiert, wenn auch letztlich nicht geglaubt. Hilfreich waren ihm dabei die von Erich F. Podach unter
41 Hierzu nur soviel: Noch zwei Jahre zuvor, in Jenseits von Gut und Böse, hatte Nietzsche, ganz Aufklärer, die Vokabel ›Inspiration‹ für nichts weiter erklärt als für ein »von den Mystikern jeden Rangs« (V: 19) strapaziertes Vorurteil, das eines Philosophen gänzlich unwürdig sei (oder sein müsse). Angefangen hatte es mit diesem Nietzsche – Nietzsches Nietzsche – im Nachgang zur Heilung vom Geniekult Wagners: »Die ›Erkenntnisse mit Einem Schlage‹, die ›Intuitionen‹ sind keine Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so wenig eine Hallucination Wahrhheiti ishti.« (IX: 180) Die acht Jahre später, in Ecce homo, favorisierte Begriffsverwendung ist, verglichen damit, bar jeder Vernunft und gibt insoweit einen Hinweis auf die sukzessive Selbstauflöung von Nietzsches Nietzsche vor den Augen des Lesers zugunsten eines Nietzsche, an den dieser glauben soll – ein Vorgang, dessen Pointe man natürlich mit Heinz Schlaffer (2007: 131) anprangern kann, den man allerdings vorher in dem, was ihn bedingt und ausgelöst hat, erst einmal verstehen sollte – wie andernorts (Niemeyer 2013: 102 ff.) versucht.
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dem Titel Nietzsches Zusammenbruch (1930) veröffentlichten Dokumente. (s. IV.2/28)
/34 Reinhard Goering (1933): Syphilisfrage ist zweitrangig Goerings (1887–1936) in Die Literatur erschienener Aufsatz Der »kranke« Nietzsche bemüht sich um ein wenig Entspannung angesichts der längst zum Politikum gewordenen Frage, ob Nietzsche krank war und wenn ja: Warum? Das zentrale Argument des Expressionisten und Arztes mit Monte-Verità-Vergangenheit, also lebensreformerischen Anspruch: »Es heißt beinahe der Lächerlichkeit verfallen, noch länger über seine [Nietzsches; d. Verf.] ›Krankheit‹ zu reden. In Kürze sei folgendes darüber gewagt: Ob er Lues hatte, ist so gleichgültig, daß wir ruhig zugeben können, er hat sie zehnmal gehabt und alles übrige dazu. Damit wird gar nichts gesagt.« (Goering 1933: 249)
Oder vielleicht doch? Unser Dichter schreckte nämlich nicht davor zurück, eher umgekehrt zu fragen, also etwa wie folgt: »Man hat ihm immer diese ›Infektion‹ zum Vorwurf gemacht. Kann man nicht den Spieß umkehren und sie aufs Konto der Weiblichkeit seiner Zeit setzen? Aufs Konto der falschen Erziehung der Mädchen; der blöden, ebenso hochmütigen wie bornierten traditionellen Bewertung des Mannes von seiten der anerkannten Erzieherinnen und Erzieher?« (ebd.: 250)
Kaum weniger ketzerisch war Goerings Bemerkung: »Wenn man von Nietzsches Wahnsinn um die Jahre 1880 bis 1890 mit Betonung spricht, muß man auch fragen, wer um jene Zeit denn nicht beinahe wahnsinnig geworden ist!« (ebd.: 250 f.)
Dies an der Schwelle einer neuen Zeit gefragt, die dem Wahnsinn fast schon zur Staatstugend erhob, hatte schon etwas – etwas überaus Beklemmendes allemal, wenn man des Autors’ Leben bedenkt. 42
Mit zehn Jahren war Goering elternlos, nachdem sein Vater den Freitod gewählt hatte und seine Mutter in geistige Umnachtung gefallen war. Nach unstetem Leben mit mehreren Ehen sowie Anstaltsaufenthalten und auffälligen Eintritt in die NSDAP mit gleich nachfolgenden Parteiausschluss nahm er sich seinerseits das Leben.
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/35 Gaston Vorberg (1933): Es war Syphilis, plus Psychopathie nach Art des ›Polengerüchts‹ Vorbergs Schrift Über Friedrich Nietzsches Krankheit und Zusammenbruch markiert gleich im Vorwort den eigentlichen Antipoden: Alfred Baeumler, dessen Unbedenklichkeitserklärung für (spätere) Zwecke der NS-Indienststellung (»Er – Nietzsche – war vor allem kein Kranker. Es fehlen alle Vorzeichen für den geheimnisvollen Zusammenbruch am Ende seines Lebens«; zit. n. Vorberg 1933: 3) er für falsch erklärt. Dagegen hält er die Sypilisdiagnose, ergänzt um den Hinweis, dass man Nietzsche als Psychopathen charakterisieren könne, wie ein von Vorberg (ebd.: 29) zitierter und von ihm nicht als Fälschung erkannter Brief Nietzsches an seine Schwester vom 22. Januar 1875 belegt. Der von Vorberg angeführte Passus 43 klingt zwar schön und passt zu Nietzsche, belegt aber, strenggenommen, weniger die psychopathologische Veranlagung des Bruder denn die seiner (verlogenen) Schwester. Auch das von Vorberg des Weiteren als psychopathologisch rubrizierte ›Polengerücht‹ ist mit der Rubrizierung als »dem Psychopathen eigene Selbstüberhebung« (ebd.: 25 f.) unter Wert verkauft. Am Ende dieser Reihe steht, Vorberg zufolge, Nietzsches ›Wahnsinnsbrief‹ vom 5. Januar 1889 an Jakob Burckhardt mit der Botschaft, er persönlich wäre »sehr viel lieber Basler Professor als Gott«, habe aber seinen »Privat-Egoismus« nicht so weit treiben können, »um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen.« (8: 577 f.) Als psychopathisch verdächtig gilt Vorberg auch der von Wagner an Otto Eiser 1877 übermittelte Masturbationsverdacht. Das von C. A. Bernoulli in Umlauf gebrachte Gerücht, Nietzsche habe im Sorrentiner Winter 1876/77 mehrmals eine Prostituierte empfangen, wird von Vorberg den durch Masturbation erreichbaren Entladungen zugerechnet und damit der Psychopathie subsumiert (ebd.: 29), ebenso wie »Zerwürfnisse mit den Angehörigen«, wenngleich Vorberg einräumt, dass Nietzsches Protest gegen die Einmischung seiner Schwester im Verlauf der Lou-Affäre »verständlich« sei »auch ohne eine psychopathische Anlage dafür verantwortlich zu machen.« (ebd.: 30) Im Ergebnis gesteht Vorberg allerdings zu, dass die Psychopathie wohl »den Ausbruch des Leidens« begünstigt habe, allerdings gelte: »Gerade wir Einsamen bedürfen Liebe, brauchen Genossen, vor denen wir wie von uns selbst offen und einfach sein dürfen, in deren Gegenwart der Kampf des Verschweigens und Verstellens aufhört.« (zit. n. Vorberg 1933: 29)
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
»[D]ie e i n z i g e w i r k l i c h e U r s a c h e der Paralyse […] ist die S y p h i l i s .« (ebd.: 34)
/36 Hans Goebel (1935): »Schizophrenie!« – diagnostiziert eín Lutheraner in durchaus eigensüchtiger Absicht Goebels in der Neuen kirchlichen Zeitschrift Luthertum erschienener Aufsatz Nietzsche und das Dritte Reich (1935), ein Auszug aus der Monographie Nietzsche heute. Lebensfragen des deutschen Volkstums und der evangelischen Kirche (1935), repräsentieren die Sorge um den Lebensraum der christlichen Kirche, gesetzt, Nietzsche, der »sich vom Schicksal berufen hielt das Christentum zu verdrängen« (Goebel 1935: 206), käme zur Herrschaft. Die Argumentation ist vom Beginn an klug austariert: Nietzsches »Überindividualismus« steht gegen die von Hitler beschworene »Volksgemeinschaft« – und damit Hitler, »der so Großes schon geschaffen hat«, fern von Nietzsches »Hybris«, fern erst recht vom »guten Europäer« Nietzsche, der als »Advokat der Juden« der »Rassenmischung« (ebd.: 207 f.) das Wort geredet habe und für dessen Weltanschauung summarisch gelte, sie habe »mit der des Dritten Reichs nichts gemein, auch wenn einige Worte anklingen.« (ebd.: 213) Sinn der Übung und der Lektion erster Teil, in Begriffen der Nietzsche zugeschriebenen »Ichsucht« (ebd.: 206) formuliert: Ich, Goebel, der dies erkenne, bin im Prinzip ein besserer Nazi als der von euch Nazis zu Unrecht gefeierte Nietzsche. Der Lektion zweiter Teil ist ein psychopathographischer, ausgehend von der Beobachtung, dass aus allen Schriften Nietzsches hervorgehe, »daß er im Banne einer übermächtigen D ä m o n i e war« – ein Gesichtspunkt, der erst deutlicher geworden sei, »nachdem sehr viel unbekanntes Material über ihn veröffentlich worden ist.« (ebd.: 214) Goebel denkt hierbei an Josef Hofmiller sowie Erich F. Podach sowie, kritisch, wenn auch nur implizit 44, an Nietzsches Schwester
Anders in der Buchfassung, wo sowohl die Schwester als auch die Syphilis beim Namen genannt werden und es zur Hauptsache heißt: »Die Infektion (Ansteckung) konnte aus den Äußerungen Nietzsches zeitlich nachgewiesen werden. Aber Frau Förster-Nietzsche sah in der Feststellung der Paralyse eine moralische Verurteilung ihres Bruders und suchte auf andere Weise dessen Erkrankung zu erklären.« (Goebel 1935a: 73 f.)
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und ihr Nietzsche-Archiv: Letzteren gilt Goebels Wort vom »dichten Schleier […], den man absichtlich über das Ende des Philosophen gelegt hatte«, Ersteren hingegen, also Hofmiller und Podach, gebühre Dank dafür, dass dieser Schleier nun »gehoben worden [ist]« und also gesagt werden könne: »Als Nietzsche sah, daß seine verschiedenen Schriften die beabsichtigten Wirkungen nicht hatten […], schritt er selbst zur Tat«, zunächst durch »kürzere Schriften«, etwa Der Antichrist, zu lesen als »Manifest des Gewaltigen, der nun die Macht ergreift und das verfluchte Christentum abschafft«, danach dadurch, dass er selbst in Turin Ende 1888 als Gottschöpfer die Macht ergreift und »auf Zetteln seine Befehle überall hin [sendet], besonders an seine Freunde und an hohe Persönlichkeiten und beispielsweise befiehlt, »daß Kaiser Wilhelm und alle Antisemiten erschossen werden.« Kurz und auf Nietzsches Ende nach zehn Jahren einer fast schlagartig einsetzenden Verblödung hin bedacht: »Seine Dämonie hat ihn vernichtet« (Goebel 1935: 214) – wobei Goebel durchaus bereit ist, diese eher theologische Diagnose in eine psychiatrische wie »Schizophrenie« zu übersetzen und, ungeachtet des von Ernst Benda (1925: 79) gegebenen Hinweises, dass die Raschheit der Verblödung gegen die Schizophreniediagnose spreche, zu befinden: »Mit der Feststellung der Schizophrenie ist eine Hauptfrage des Nietzscheproblems beantwortet: Die Zwiespältigkeit, die Vielspältigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Meinungen, die Mischung von klaren Urteilen mit fixen Ideen. Auch der Wechsel in der Selbstbeurteilung kommt daher.« (Goebel 1935: 214 f.)
Was bei dieser Diagnose als offenbar störend unter den Tisch fällt, ist, im Vergleich zur Buchfassung, die Syphilisdiagnose, die unterdrückt zu haben der Schwester, die hier namentlich genannt wird, zum Vorwurf gemacht wird, mit erstaunlich klaren Worten (ebd.: Goebel 1935a: 73 f.), die in der Aufsatzfassung fehlen, anders als die auch in der Buchfassung (ebd.: 73) präsente kleine Bosheit, ausgerechnet Hitlers Ideengeber Dietrich Eckart (1868–1923) zu zitieren mit seinem 1912er Wort von Nietzsches als »geborenen Gemütskranken«, um zu resümieren: »Aus der Ideenwelt eines seit langem unheilbar Geisteskranken kann man keine großen Leitgedanken für die Zukunft des deutschen Volkes machen […]. Nietzsche ist wahrlich kein Prophet und Wegbereiter des Dritten Reiches.« (Goebel 1935: 216)
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Als Ersatz für diese Funktion denkt Goebel »an jene Linie, die von M a r t i n L u t h e r ausgeht« (ebd.: 217), deutlicher und mit der Buchversion geredet: »Das Zeichen der Entscheidung, vor der und in der wir jetzt in Deutschland stehen, heißt: ›N i e t z s c h e o d e r L u t h e r ‹.« (Goebel 1935a: 59)
Dass Goebel damit den Nazis Luther als ihre neue Ikone anbot, ist nicht gar so abwegig, wie man auf den ersten Blick vielleicht meinen könnte. (s. II.1), sprengt aber den Rahmen des in diesem Kapitel zu Berichtenden. Wichtig ist hier nur, dass der Namen Goebel für die wohl denkbar schärfste – und in dieser Schärfe danach kaum noch mögliche – Kritik an der Nazifizierung Nietzsches am Vorabend seiner am 11. November 1935 zum Ausdruck gebrachten Heiligsprechung als unangreifbarer Nazi-Ikone steht, und zwar, und dies macht die Sache brisant für alle ihre (zukünftigen) Kritiker: ausgerechnet am Grabe Elisabeth Förster-Nietzsches.
/37 Karl Jaspers (1936): Vom Reden als Schweigen unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft Jaspers (1883–1969) Buch Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936) ist für unsere Thematik wichtig wegen des ausführlichen Kapitels über Nietzsches Krankheit – wichtig vor allem, weil Jaspers Philosoph als auch Psychiater war und unter den Philosophen als einer der bedeutendsten Nietzscheinterpreten gilt. Volker Gerhardt befand über diesen letztmals 1981 vorgelegten, von ihm als »einzigartig« qualifizierten Longseller dieses »großen Philosophen«, im Blick auf die hier interessierende Thematik gar, Jaspers »souveräne, auf allen verfügbaren medizinischen Daten beruhende Deutung […] über Nietzsches Krankheit« sei »von unverminderter Aktualität.« (Gerhardt, Verlagswerbung de Gruyter) Dieses Urteil gilt es im Folgenden zu prüfen. Jaspers Einstieg in die Thematik erfolgt über die von Paul J. Möbius 1902 aufgeworfene Frage nach dem pathologischen Gehalt der Werke Nietzsches. Jaspers setzt als Initialdatum auf den 26. Dezember 1888, also auf den auf diesen Tag (unsicher) datierten Brief Nietzsches an Franz Overbeck, in welchem Nietzsche verkündet, er arbeite »an einem Promemoria für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga.« (8: 551) Im Jahr 1936 ausgerechnet dieses 123 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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deutschtumskritische Zeugnis ins Zentrum zu rücken, war brisant, aber auch nicht unklug, sofern es, wie hier, mit Pathologieverdacht überzogen wird – eine gängige Strategie der Nietzscheverehrer unter den Nazis, der auch die überaus giftige Jaspers-Replik Kurt Hildebrandts zuzurechnen ist 45, deren Vorstufe wir schon kennenlernen durften und deren Endstufe in dem Satz zutage tritt: »[D]a Nietzsche überall das Chaos voraussieht, kann er nur vom großen Einzelnen das Heil erwarten […], vom Heros, der die Gemeinschaft von neuem erschafft« (Hildebrandt 1936/37: 293) – eine kaum verhüllte Eloge also auf Hitler als den von Nietzsche ersehnten Heros und praktischen Umsetzer seines Denksystems. So gesehen ist es durchaus verständlich, dass Jaspers in seinem 1936 er Buch jeden Hinweis auf Hildebrandt oder auch nur auf dessen schon 1926 zutage getretenen Argumentationshintergrund vermied und lediglich vermerkte: »Nach einem Wahn in den Werken vor dieser Zeit zu suchen, hat sich als ergebnislos erwiesen.« (Jaspers 1936: 77) Auch in der Frage, um welche Krankheit es sich handelte, gesetzt insofern, dass sie »plötzlich« begonnen habe, was nur bei einer Psychose der Fall sei, blieb Jaspers vorsichtig: »Es handelt sich um eine organische Hirnerkrankung, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um die progressive Paralyse, jedenfalls um eine durch zufällige äußere Ursachen, sei es durch Infektion, sei es […] durch Mißbrauch von Giften entstandenen Zerstörungsprozeß, nicht um eine in Nietzsches Konstitution und Wesen begründete und als solche vererbliche Krankheit.« (Jaspers 1936: 77)
In Übersetzung geredet und dreißig Jahre zurückgeschaut: Möbius’ exogener Aspekt bleibt im Spiel, auch die Syphilisdiagnose (»Infektion«), aber auch Nietzsches Schwester (»Mißbrauch von Giften«) kann sich, posthum, anerkannt wähnen. Mit anderen Worten: Viel weiter war man nicht, zumal schon Raoul Richter 1903, wie gesehen, Jaspers Hinweis vorweggenommen hatte, dass Nietzsches »Ende in Geisteskrankheit rückwärts seinen Schatten wirft und […] für man-
Im Einzelnen monierte dieser inzwischen bei der NSDAP gelandete Arzt- wie Philosophiekollege in den Kant-Studien, es sei »merkwürdig«, dass Jaspers die »Hemmungslosigkeit« Nietzsches in Ecce homo etwa am von Nietzsche hier zu besichtigenden »Verrat am Deutschtum« nicht beanstande, »während er dagegen eine Hemmungslosigkeit im Zarathustra-Stadium anmerkt, wo es sich aber in Wahrheit nicht um psychiatriche Diagnosen. Sondern um ein subjektives Geschmacksurteil handelt.« (Hildebrandt 1936/37: 223)
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chen die Auffassung nahe[legte], diese lange Zeit hindurch seien die Vorboten der späteren Krankheit schon sichtbar.« (ebd.) In diesem Stil – man mag ihn, wie Gerhardt, »souverän« heißen, muss dies aber nicht, – geht es weiter. Freilich: Jaspers durch ein »im übrigen« eingeleitetes Referat, »man« habe »einen schweren in Arme und Zähne ziehenden ›Rheumatismus‹ von 1865 für eine durch Infektion bedingte Meningitis gehalten« (Jaspers 1936: 84 f.), klingt schon dermaßen distanziert, dass man nicht erst fragen muss, was der Autor von dieser Theorie in Sachen von Nietzsches »Infektion« (selbstredend Syphilis, eine Vokabel, die auch Jaspers meidet) hält: nichts. Davon ist auch derjenige betroffen, der sich hinter jenem »man« verbirgt: nämlich, wie zu erinnern ist, Clemens Ernst Benda. 46 Benda war es, der jenen von Jaspers gemeinten Passus aus einem Brief Nietzsches an Carl von Gersdorff vom 4. August 1865 zum Ausgangspunkt für seine 1925 vorgetragene Ableitung genommen hatte, »eine luetische Ansteckung [bei Nietzsche; d. Verf.] sei im Juli 1865 erfolgt.« (Krummel 1998: 172) Mehr als dies: Jaspers argumentierte an dieser Stelle rein positionell, und zwar wie folgt: »Nach dem Prinzip, soweit wie möglich Krankheitserscheinungen aus einer einzigen Ursache abzuleiten, würde das Bild entstehen, daß von 1866 an alle Erkrankungen Stadien auf dem Wege sein, dessen Ende die Paralyse wurde. Jedoch ist das ganz fraglich. Für eine philosophisch relevante Auffassung Nietzsches kommen medizinischen Kategorien nur in Frage, wenn sie zweifelsfrei sind: diese Diagnosen sind es nicht, mit Ausnahme dessen, daß die abschließende Geisteskrankheit fast gewiß eine Paralyse war.« (Jaspers 1936: 85)
Was will uns diese Überlegung zumal nach dem 1960 von Jaspers Freund und Kollegen Kurt Kolle 47 nachgetragenen, seit 1913 feststehenden Satz »Paralyse ist Syphilis« (Kolle 41966: 38) sagen? Womöglich nichts weiter, als dass Jaspers 1936 in einem in Nazi-Deutschland erschienen Buch keine rechte Lust verspürte, die allseits zu besichtigende Verherrlichung Nietzsches durch zu aufwändige Diskussion
Benda war, wie Jaspers Frau, jüdischen Glaubens und deswegen 1935 in die USA emigriert, so dass es zumal für Jaspers in seiner schwierigen Situation opportun gewesen sein dürfte, ihn nicht oder nur in einer dem Literaturnachweis dienenden Fußnote (ebd.: 76) zu erwähnen. 47 Der ihm 1957 ohne Erläuterungen bescheinigte, in seinem 1936er Buch »eine sachlich richtige, formal glänzende Darstellung der Krankheit, der Nietzsche schließlich erlegen ist« (Kolle 1957: 451), gegeben zu haben. 46
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der Krankengeschichte dieser Nazi-Ikone zum absehbar eigenen Schaden zu verkomplizieren. Dieser zeitbedingte Hintergrund erklärt womöglich auch Jaspers Verzicht auf eine Abrechnung mit der Schwester, zumindest mit deren Krankheitstheorien sowie den zu deren Stützung aufgebotenen Fälschungen. Nichts indes für diese Zeit, nichts zumal nach FörsterNietzsches Tod (1935) und die durch Hitlers Anwesenheit bei der Trauerfeier für unangreifbar erklärte, ebenso wie deren Bruder, über den es bei dieser Gelegenheit hieß, das »nationalsozialistische Deutschland werde das gewaltige geistige Erbe des großen Philosophen für alle Zeiten schützen und sich zu ihm bekennen.« (zit. n. Krummel 1998: 547) Dieses machtvolle Bekenntnis vom 11. November 1935 im Hinterkopf, ebenso wie den im April 1934 in der von Alfred Rosenberg (1893–1946) herausgegebenen Nationalsozialistischen Monatsheften publizierten Schwur auf Nietzsche durch Alfred Baeumler (1887–1968) (vgl. NLex2 [Piecha]: 40 f.) in seinem Aufsatz Nietzsche und der Nationalsozialismus 48, wird man nur allzu gut verstehen können, dass Jaspers in seinem 1936 er Buch die salomonische Lösung bevorzugte, der Sammeltätigkeit der Schwester Referenz zu erweisen, insofern man ihr »die Kenntnis des ganzen Nietzsche aus den Dokumenten« verdanke, was »erst die zukünftige Publikation in vollem Umfang an den Tag bringen könne« (Jaspers 1936: 66) – ein, wie mir scheinen will, raffinierter, verborgen subversiver Satz, insofern ihm der Subtext eingelegt zu sein scheint, dass erst ›zukünftige Publikation‹, also eine erst nach der NS-Zeit, die von der Schwester unterschlagene ›Kenntnis des ganzen Nietzsche‹ an den Tag bringen könne. Zuzugestehen ist auch, dass Jaspers 1936 nie und nimmer Partei für Franz Overbeck hätte ergreifen können. Das Maximum war eine wiederum salomonische Lösung wie die folgende: »Das in seiner Weise großartige, idealisiert Bild der Schwester ist so wenig das wahre wie das realere, zerrissene, bewegte und fragwürdige Overbecks. Beiden ist man dankbar, zumal in bezug auf das Tatsächliche.« (ebd.: 28)
Raffiniert, auch diesmal: Der Nachsatz, der anzudeuten scheint, dass erst in der Post-NS-Zeit das genaue Maß der Dankbarkeit gegenüber beiden im Blick auf das dann erst mögliche Tatsachenwissen um Nietzsche bestimmt werden könne. »Wenn wir die deutsche Jugend unter dem Zeichen des Hakenkreuzes marschieren sehen […] [u]nd wenn wir dieser Jugend zurufen: Heil Hitler! – so grüßen wird mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche.« (Baeumler 1934: 298)
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So gesehen: Jaspers Buch von 1936, auch seine Ausführungen zu Nietzsches Krankheit und zur Nietzscheforschung, sind im Zeitkontext zu lesen, deutlicher: können vor dem Hintergrund der offiziell betriebenen Nazifizierung Nietzsches als Ergebnis eines Ritts auf des Messers Schneide durch einen seiner jüdischen Gattin wegen jederzeit von Verfolgung und Tod Bedrohten entschuldigt werden. 49 Verständlich machen lassen sich die im Vorhergehenden angesprochenen Monita also durchaus, zumal Walter Kaufmann (1957: 418 f.) mit einigem Recht auf den Abschnitt »Nietzsche will keine Gläubigen« (Jaspers 1936: 19 f.) sowie Bemerkungen aus dem Schlussabschnitt verweist, die durchaus als subtile Kritik an Nietzsches Nazifizierung gelesen werden dürfen. 50 Nicht zu verstehen ist hingegen, dass, wie das einleitend angeführte Urteil Volker Gerhardts offenbart, allein schon die Erwähnung auch nur eines der gegen Jaspers im Vorhergehenden als auch im rezeptionsgeschichtlichen Verlauf erhobenen Bedenken offenbar Mühe macht, übrigens auch dem von Gerhardt unbedingt Gefeierten: Sein Buch von 1936, so schreibt er im Vorwort zur zweiten und dritten Auflage von 1946 und 1949 und so ist es unverändert in der 4. Auflage von 1981 nachzulesen, habe »gegen die Nationalsozialisten die Denkweise dessen aufrufen [wollen], den sie zu ihrem Philosophen erklärt hatten.« (zit. n. Krummel 1998: 588) Dies, so wird man einräumen dürfen, ist ihm, wie im Vorhergehenden gezeigt, mit einiger Raffinesse, gelungen – beantwortet aber noch nicht die Frage, warum bei der Neuauflage nicht, wenigstens in nachträglich angebrachten Fußnoten, jene Stellen markiert worden sind – einige wurden eben genannt – die als Rettungsringe gedeutet werden dürfen, deren Funktion es war, das Erscheinen dieses Buches in Zeiten totalitärer Herrschaft zu ermöglichen. Dies hätte am Ende womöglich die komplette Neufassung dieses Buches erfordert, mit der Folge, dass selbst jene Kritik verstummt wäre, die seinerzeit aus dem Exil heraus, am Schärfsten wohl von Max Horkheimer (1895–1973), an Jaspers und dem von ihm fertiggebrachten »Kunststück«, Nietzsche »darDes Ehepaars Abtransport ins KZ war bereits, wie Jaspers in seiner Philosophischen Autobiographie erzählte, für den 14. April 1945 terminiert worden und fiel nur aus, weil die Amerikaner zwei Wochen vorher Heidelberg besetzt hatten. (vgl. Jaspers 1957: 49) 50 Kaufmann denkt an Jaspers Bemerkung, der »mißverstandene Nietzsche« könne benutzt werden »von allen Mächten, die gerade er bekämpfte«, also etwa von »der Gewaltsamkeit, die den Gedankens des Willens zur Macht zur Rangordnung verwechselt mit der Rechtfertigung jeder Brutalität« (Jaspers 1936: 391). 49
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zustellen, ohne anzustossen« (Horkheimer 1937: 408), geübt worden ist, unter Einbringung dessen – etwa anti-antisemitischen oder deutschtumsfeindlichen Bekenntnissen Nietzsches –, was »J. nicht sagen [durfte].« (ebd.: 411) Dass auch derlei Ergänzungen Horkheimers Kritik an Jaspers Gegenstand nicht beendet hätte, steht auf einem anderen, vom nächsten Herren beschriebenen Blatt.
/38 Heinrich Härtle (1937): Nazifizierung durch Entpsychiatrisierung Härtles (1909–1986) als NSDAP-Schulungsbrief publizierter Text Friedrich Nietzsche. Der unerbittliche Werter des neunzehnten Jahrhunderts (1937) kondensiert die Ergebnisse der im gleichen Jahr erschienen Härtle-Monographie Nietzsche und der Nationalsozialismus. Deren Intention, wie andernorts (vgl. Niemeyer 2019: 326 ff.) ausführlich gezeigt: Nazifizierung Nietzsches qua selektiver Quellenpräsentation und tendenziöser Quellendeutung durch einen auch nach 1945 noch gänzlich unbelehrbaren fanatischen Nazi und Rosenberg- wie Baeumler-Vertrauten. Dessen Intention hier, in diesem Aufsatz: die Bagatellisierung von Nietzsches Krankheit. Gleich einleitend heißt es: Die Ursachen des Turiner Zusammenbruchs und damit des nachfolgenden elfjährigen Siechtums sowie Todes seien »nicht restlos« geklärt – erwähnt werden vor allem die von der Schwester geltend gemachten Erklärungen plus »Schizophrenie oder mehrere Ursachen zusammen« –, doch »für jeden sachlichen Forscher« stünde außer Frage, »daß vor dem Ende des Jahres 1888 aus einem Werke kein Beweis einer geistigen Erkrankung zu erbringen ist.« Unmittelbar darauf folgt, im Original in Sperrdruck gehalten: »Wer Nietzsches Gedanken heute noch als krankhaft verleumdet, ist ein Lügner und vergeht sich an höchsten Leistungen des menschlichen Geistes und an einem der Größten unseres Volkes.« (Härtle 1937a: 291)
Dass dies nicht nur so dahingesagt war, sondern einer Warnung an andere Nietzscheinterpreten gleichkam hätte, wer wollte, am 27. 11. 1936 aus dem Völkischen Beobachter erfahren, hier in der von »Sturmhauptführer Heinrich Härtle« unterzeichneten und im Original gleichfalls in Sperrdruck gedruckten Variante:
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»Wer sich an einem großen Deutschen vergeht, besudelt das Deutschtum, wer sich an einem geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus vergreift, versündigt sich am Nationalsozialismus!« (Härtle 1936: 5)
Adressiert war diese Satz als gleichsam letzte Warnung in Richtung des Wagnerianers Curt von Westernhagen. Er hatte in seiner Schrift Nietzsche – Juden – Antijuden (1936) Propaganda zu Gunsten des Antisemiten Wagner und zu Lasten des Anti-Antisemiten Nietzsche machen wollen – Spielchen, die sich die NSDAP, so Härtles Botschaft, nicht mehr bieten lassen würde. Ab diesem Tag respektive dem in der Monographie nachgereichten Behauptung, »d a ß ü b e r h a u p t n u r ein überzeugter Nationalsozialist Nietzsche ganz e r f a s s e n k a n n « (Härtle 1937: 6), war unabhängige Nietzscheforschung für unmöglich erklärt und Nietzsche gleichsam offiziell NS-Staatsphilosoph. Dies meint auch, dass an diesem Moment auch die Debatte um Nietzsches Krankheit entsprechend kanalisiert wurde entsprechend der Guidelines, die Härtle in jenem Schulungsbrief umriss, wie gesagt: unter Berufung auf die diesbezüglichen Darlegung aus seiner Monographie. (ebd.: 18 ff.) Dazu gehörte in Härtles Sicht, einen »anmaßenden Bildungsspießer« wie Möbius, der um 1900 »ein ganzes Buch hindurch Nietzsches Werke als Produkte eines Verrückten erklärte«, als ungeeignet zu erklären zur Nietzscheinterpretation, würde ihnen doch »nicht nur das Unter-Normale, sondern auch das Über-Normale als krankhaft« (Härtle 1937a: 292) gelten. Der Trick dabei: Als ›Über-Normaler‹ war Nietzsche fortan gleichsam unter Artenschutz gestellt – und das Verstehen geriet zur Kunst, und zwar unter Berufung auf einen von Härtle (allerdings ohne Fragezeichen) zitierten, diese Auslegungstendenz einbeziehenden Satz aus Jenseits von Gut und Böse: »[I]ch tue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden.« (V: 45) Der Trick hierbei, diesmal erst auf den zweiten Blick erkennbar: Ob Härtle und damit die Nazis Nietzsche richtig verstanden oder nicht, war ab diesem Moment ein Anathema, interessant allenfalls für ›anmaßende Bildungsspießer‹.
/39 Erich F. Podach (1937): Nietzsche beglaubigte die Bordellgeschichte – und niemand, auch Podach nicht, hat es gemerkt Podachs in Wien im Gedenken an den 100. Geburtstag von Franz Overbeck publizierte – leider nicht kommentierte – Edition Der kran129 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ke Nietzsche. Briefe seiner Mutter an Franz Overbeck (1937) präsentierte erstmals die bis dato in Basel verwahrten »wichtigsten nichtärztlichen Berichte über den kranken Nietzsche seit der Aufnahme in die Jenaer Klinik Januar 1889 bis zum Tode seiner Mutter Ostern 1897.« (Podach 1937: VII) Die Berichte geben tiefe Einblicke in die Einzelheiten der häuslichen Pflege Nietzsches unter Obhut der Mutter in Naumburg. (vgl. Niemeyer 1998: 26 ff.) Amüsant, am Rande: Unter dem Datum 16. Dezember 1889 erfährt Overbeck von Nietzsches Mutter, Nietzsche habe von 1870 in Metz erzählt, »wie krank er darauf in Erlangen gelegen habe, vorher hier als Artillerist und wo ihn der große Hallesche Chirurg Volkmann, der jetzt auch bei Binswanger war und gestorben ist, kuriert hat.« (zit. n. Podach 1937: 53) Denn Franziska Nietzsche registriert offenbar gar nicht, dass Nietzsches 1868 er Arzt Richard von Volkmann-Leander, der zumal als Literat als zu Unrecht vergessen gilt (hierzu: Schochow / Steger 2015), gleichfalls in Jena als Syphilitiker in Behandlung war (vgl. Vorberg 1933: 19) und dort am 28. November 1889 einer Lungenentzündung erlag. Wichtiger und erstmals von Pia Daniela Volz herausgestellt: Der Brief der Mutter an Overbeck vom 19. Januar 1889, in welchem sie über ihre abenteuerliche Rückreise im Zug von Basel via Jena mit ihrem erkrankten Sohn berichtet und ausführt: »[Nietzsche] sagte dann auch, daß es schlimm gewesen wäre und er sei im Irrenhaus gewesen, doch würde es sich wieder machen, er sei ja noch jung, erst 22 Jahre.« (zit. n. Podach 1937: 4) 51
In Übersetzung geredet: Er, Nietzsche, sei so jung wie vor seiner Syphilisinfektion – eine Fiktion vom Typ des der Psychoanalyse durchaus nicht unbekannten ›Ungeschehenmachens‹. Sowie, dies natürlich auch: eine Fiktion, die als Beleg gelesen werden darf dafür, dass damals, als er 22 Jahre alt war – also 1866, das Jahr, das nur gut zwei Wochen zuvor in der Basler Irrenanstalt als dasjenige seiner zweifachen syphilitischen Infektion festgehalten worden war – etwas geschehen sein musste, das die Syphilisinfektion Nietzsches erklärt.
Über – allerdings nicht erhebliche – Lesartendifferenzen aufgrund der schwer entzifferbaren Handschrift der Mutter berichtet ein Corrigenda zum entsprechenden Band der KGW.
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/40 Georges Bataille (1939): Entnazifizierung durch Normalisierung Batailles (1897–1962) Text Nietzsches Wahnsinn, im Juni 1939 in einer französischen Zeitschrift erschienen, ist der letzte einer Folge von vier Aufsätzen, deren erster, im Januar 1937 erschienen, unter der Kapitelüberschrift Elisabeth Judas-Förster als Solidaritätserklärung mit Erich F. Podachs (1930) Kritik an Nietzsches Schwester gedeutet werden darf (vgl. Bataille 1937: 141 ff.), freigesetzt durch Batailles Kenntnis der von ihr unterdrückten Briefe Nietzsches an Theodor Fritsch durch eine französische Edition. (vgl. Nicholas 1936; vgl. auch Niemeyer 2011: 64) Seitdem steht Batailles Bemühen um Nietzsches im Zeichen der Wiedergutmachung, zu verstehen als entschlossenes Bemühen um Entnazifizierung Nietzsches, ähnlich wie jenes von Albert Camus. (vgl. Le Rider 1997: 103 f.) Ein Mittel dabei ist, im hier in Rede stehenden Aufsatz vom Juni 1939, die Normalisierung von Nietzsches angeblichem Wahnsinn nach dem Muster: »Und von dem, der nicht nach den Regeln der Sprache spricht, versichern die vernünftigen Menschen, die wir sein sollen, daß er wahnsinnig ist.« (Bataille 1937: 207) Sowie: »Der Wahnsinn darf nicht aus der menschlichen Ganzheit verstoßen werden, die ohne den Wahnsinnigen nicht vollkommen wäre. Indem Nietzsche wahnsinnig wurde – an unserer Statt –, machte er diese Ganzheit möglich.« (ebd.: 210) Zusammenfassend geurteilt: Ein charmanter Versuch am Vorabend des II. Weltkrieges – mehr allerdings nicht.
/41 Lutz Gelpke (1941): Der »echte« Nietzsche war Mr. Hyde, nicht Dr. Jekyll Gelpkes Versuch einer Ehrenrettung Friedrich Nietzsches durch einen früheren Schüler (1941) steht für einen rührenden Versuch aus der Schweiz heraus, Nietzsche dem Strudel zu entziehen, in welche er (und die Welt) durch seine bedenkenlose Nazifizierung geraten ist. Es gelte, so der Verfasser aus eigenem Erleben, zwei Nietzsche zu unterscheiden: den »zweifellos genialen Künstler, Denker, Dichter und Gefühlsmensch« bis hin zu Basler Zeiten; und den später immer mehr von Delirien und maniakalischen Wutausbrüchen bis zu seinem endgültigen geistigen Tode (1889) heimgesuchten, beklagenswerten Nietzsche Nummer zwei.« (Gelpke 1941: 37) Die Folgerung: »Da131 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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durch, daß man auch seine Wahnsinns-Prophetien für echt und maßgebend genommen hat, ist ihm, dem feinfühligen Ästheten ein großes Unrecht geschehen und der Welt ein unübersehbarer Schaden.« (ebd.: 38) Die ›Lösung‹, eher unausgesprochen: Man hätte nicht alles von Dr. Jekyll publizieren dürfen.
/42 Wilhelm Lange-Eichbaum (1945/46): Entnazifierung durch Repsychiatrisierung Lange-Eichbaums (1875–1949) Buch Nietzsche. Krankheit und Wirkung (1946) ist wichtig vor allem wegen des hier nachlesbaren Vortrags Nietzsche als psychiatrisches Problem (1945). In der Nietzscheforschung wird dieser promovierte Arzt und Philosoph kaum beachtet, gilt in seiner eigenen Zunft als Außenseiter, wurde, als promovierter Arzt wie Philosoph ohnehin schon vergleichbar mit Möbius (s. IV.2/9), nie mit einem Lehrstuhl bedacht, und zwar trotz seiner unermüdlicher Arbeit an seinem mehrfach aufgelegten Standardwerk Genie, Irrsinn und Ruhm (1927), das nach seinem Tod von Wolfgang Ritter neu aufgeteilt und besorgt wurde mit dem Ergebnis einer imposanten zwölfbändigen einschlägigen Reihe mit Pathographien genialer Künstler, Wissenschaftler und Politiker. In der Nietzscheszene wurde er offenbar als störend erlebt, im Fall Erich F. Podach wohl vor allem, weil er dessen Dogma ins Wanken brachte: »Nietzsche war s e i t d e m Tu r i n e r Z u s a m m e n b r u c h g e i s t e s k r a n k – k e i n e n e i n z i g e n Ta g f r ü h e r. « (zit. n. Krummel III: 315) Auch Jochen Schmidt, über den Geniebegriff Kenner LangeEichbaums (vgl. Schmidt 1985: 256), zählt diesen Namen im Zuge seines Morgenröthe-Kommentars zwar her (Schmidt 2015: 94), nutzt ihn aber nicht für die Erläuterung von Person wie Werk. Was Nietzsche angeht, hat die Nietzscheforschung Lange-Eichbaum vor allem jenen 1945 er Vortrag zu danken. Das im April 1946 verfasste Vorwort zur Buchfassung macht deutlich, wie verzweifelt der Verfasser sich angesichts der NS-Verbrechen einen Reim zu machen versuchte auf das Zugleich des »stillen, feinen, geistvollen Gelehrten, mitleidig und zartfühlend«, der ihm Nietzsche noch 1887 zu sein schien, als ihn noch niemand kannte, sowie jenen Nietzsche, der in Der Wille zur Macht davon künde, »den ›herrschenden Naturen sei alles erlaubt‹ – sogar die ›Wollust des Zerstörens‹ müsse den späteren Gesetzgeber erfüllen.« (Lange-Eichbaum 1946: 5) Um es vor132 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
wegzunehmen: Eine Erklärung für diesen fürwahr erstaunlichen Zwist zwischen Person und (Spät-)Werk wird von Lange-Eichbaum in diesem kurz vor seinem Tod verfassten Text lediglich angedeutet. Zu diesem Zweck stellt er ein »Schema der luetischen Erkrankungen Nietzsches« (ebd.: 37 f.) auf, durch welches er dazu anregen will, den für Februar 1880 postulierten »Beginn der Paralyse (Euphorie, Expansion)« ebenso für werkanalytische Überlegungen zu nutzen wie das für Ende 1887 postulierte »Ende der Remission«. Entscheidender für die Sicherung der Grunddiagnose ist aber die in diesem Schema für Mitte Juni 1865 gesetzte »Luetische Infektion. Primärstadium«, insofern damit das aus der Basler Akte herrührende Infektionsjahr 1866 auf »1865« korrigiert wird, und zwar basierend auf einem seit 1900 durch die Gbr. bekannten und 1925 durch den Pathographen Ernst Benda ins Spiel gebrachten, noch ausführlich (s. V.1/3) zu diskutierenden Brief Nietzsches aus Bonn an seinen Freund Carl v. Gersdorff vom 4. August 1865. Lange-Eichbaum hielt die hier geschilderten Symptome für verräterisch genug, um Rheumatismus oder Migräne (à la Möbius) auszuschließen und Bendas Diagnose »Meningitis« zu erweitern in Richtung einer »Frühluischen Meningitis«, wobei auch »eine sog. Syphilitische Neurasthenie [neben] hergelaufen sein [könnte], mit den Anzeichen ›reizbarer Schwäche‹, Kopfschmerzen, Blutarmut und Erschöpfung.« (Lange-Eichbaum 1947: 16 f.) Diesem Primärstadium folgte die 1873 einsetzende, bis 1885 nachweisbare »[T]ertiäre Hirnsyphilis (basale meningitische Form)«, den Ende 1887 einsetzenden zweiten Schub und den im März 1890 erreichten »Endzustand mit Dauerdefekt und Verblödung« und mit der endgültigen Diagnose: »Schizophrenieartige und expansive Form der stationären Paralyse.« (ebd.: 37 f.) Außerdem gab er davon Kunde, dass ihm nach seiner ersten Veröffentlichung unter diesem Titel von 1930 (vgl. Krummel 1998: 362) – einer Rezension von Ernst F. Podachs Buch Nietzsches Zusammenbruch (1930), – ein Berliner Nervenarzt mitgeteilt habe, »daß Nietzsche sich als Student in einem Leipziger Bordell mit Lues angesteckt hätte und daß er von zwei Leipziger Ärzten antisyphilitisch behandelt worden wäre.« (Lange-Eichbaum 1947: 16) Dies sind sicherlich, da nicht von Dritten bestätigt, Angaben ohne Wert. Gesetzt indes, sie seien wahr, liegt wohl die Zusatzannahme Richard Bluncks nahe, »daß die behandelnden Ärzte Nietzsche über den bösartigen Charakter seiner Krankheit und ihre späteren Folgen nicht aufgeklärt haben.« (Blunck 1953: 160 f.)
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/43 Thomas Mann (1947): Die Bordellgeschichte betritt die ganz große Bühne Manns Roman Doktor Faustus (1947), im engen Zusammenhang zu sehen mit seinem Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrungen (1947), transformiert die dort vertretene Position zu Nietzsches Krankheit in große Literatur. Ausgangspunkt hier, in diesem Essay: Nietzsches Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889, die Frage nach dessen Ursache – und die Forderung, der »Wahrheit als Ganzes« die Ehre zu geben und »nicht aus geistiger Prüderie irgendeinen Gesichtspunkt [zu] verleugnen, unter dem sie [= Nietzsches Krankheit] gesehen werden kann.« Deswegen auch fällt gleich nachfolgend ein Lob Manns selbst auf Möbius (s. IV.2/99) ab: »Der Mann sagt, auf seine Weise, die unbestreitbare Wahrheit.« (GW IX: 678) Nicht zu vergessen die Hauptsache: Mann expertisierte sich für diesen Roman ausführlich in puncto Syphilis, etwa durch Lektüre von Wilhelm Gennerich (1921), auch mittels einschlägiger Zuarbeit durch den mit ihm befreundeten Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897–1955), wie Pia Daniela Volz herausstellte (vgl. Volz 1990: 200), die auch Gumperts für Mann verfertigtes Kurzreferat zu den Stadien der syphilitischen Infektion zugänglich machte. (ebd.: 369 f.) Schließlich und entscheidend: Mann arbeitete in seinen Roman Deussens Bordellgeschichte ein sowie – dies bleibt implizit – deren Transformation durch Brann 52 unter Bezug auf das Lied Unter Töchtern der Wüste aus Zarathustra IV. s. V.2/4) Mann in seinem 1947 er NietzscheEssay, entschlossen: »Die ›Erscheinungen in Flitter und Gaze‹ von damals haben sichtlich zu den wonnigen Wüstentöchtern Modell gestanden, und von diesen ist es nicht weit mehr, es sind nur noch vier Jahre, bis zur Basler Klinik, wo der Kranke zu Protokoll gibt, er habe sich zweimal in früheren Jahren spezifisch infiziert. Die Jenaer Krankengeschichte nennt für das erste dieser Mißgeschicke das Jahr 1866. Ein Jahr also, nachdem er aus jenem Kölner Hause geflohen, kehrt er, ohne diabolische Führung diesmal, an einen solchen Ort zurück und zieht sich – einige 53 sagen: absichtlich, als Selbstbestrafung – zu, was Mann verzeichnete Branns Buch als eines seiner vorbereitenden Lektüren zum Doktor Faustus. 53 ›Einige‹ meint vor allem: Brann, dessen Nichtnennung hier, gesetzt, Mann lehne diese Zusatzannahme ab, als Schutzmaßnahme zu verstehen ist. Zumal Branns Spekulation über einen dritten Vorfall 1876 in Nürnberg dürfte Mann nur mit Bedenken zur Kenntnis genommen haben. 52
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
sein Leben zerrütten, aber auch ungeheuer steigern wird –, ja, wovon auch teils glückliche, teils fatale Reizwirkungen auf eine ganze Epoche ausgehen sollen.« (GW IX: 679)
Damit ist das Szenario zu Doktor Faustus fixiert, zu besichtigen in Kap. XVI und hier verlegt nach Leipzig, Herbst 1905, in Leverkühns erstem dortigen Semester und ergänzt um eine gewisse Esmeralda »mit großem Mund, Stumpfnase und Mandelaugen« (Mann 1947: 191), derentwegen Leverkühn einen zweiten Gang wagt in jenes Deussens Überlieferung nachgebildete Bordell und sich, trotz ihrer Warnung, ansteckt, kurz: »Es war dafür gesorgt, daß er sie nicht vergaß.« (ebd.: 206) Hinzuzurechnen sind einige Details, die Mann aus der einschlägigen Sekundärliteratur bezogen haben dürfte, etwa aus Podach (1937), darunter eine Fantasie über Leverkühns begonnene, dann aber aus skurrilen Gründen – der eine Arzt stirbt, der andere wird verhaftet – abgebrochene Behandlung sowie den Umstand betreffend, dass Nietzsches geistiger Zusammenbruch aus der Sicht der Mutter für Gottesstrafe zeugte, aber auch, was ihre Person angeht, für Erlösung. Diesen Rückschluss erlaubt der Umstand, dass Mann in diesem Roman den Erzähler angesichts des komplementären Geschehens um seinen nach dem Bild Nietzsches gezeichneten Romanhelden Adrian Leverkühn sagen lässt, nachdem dieser, an Syphilis erkrankt nach einem Bordellbesuch, sich in häuslicher Pflege wiederfindet: »Einer Mutter ist der Ikarusflug des Helden-Sohnes, das steile Mannesabenteuer des ihrer Hut Entwachsenen, im Grunde eine so sündliche wie unverständliche Verwirrung, aus der sie auch immer das entfremdet-geistesstrenge ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!‹ mit heimlicher Kränkung vernimmt, und den Gestürzten, Vernichteten, das ›arme, liebe Kind‹, nimmt sie, alles verzeihend, in ihren Schoß zurück, nicht anders meinend, als daß er besser getan hätte, sich nie daraus zu lösen.« (GW VI: 671)
Auch Nietzsches Mutter dürfte, so Manns offenkundige Hintergrundannahme, dürfte den geistigen Zusammenbruch ihres Sohnes »nicht ohne Genugtuung, nicht ohne Zufriedenheit« (ebd.:) registriert haben. Denn nun konnte sie ihm, bar aller Sorgen um das, was da noch aus seiner Feder fließen möge, die bisher vorenthaltene Unbedingtheit ihrer Mutterliebe zurückgeben und ihr diesbezügliches Schuldgefühl kompensieren. Die letzte Szene des Romans gilt dem Helden, »1939, nach den Besiedlung Polens, ein Jahr vor seinem Tode«, den Mann auf den 135 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
25. August 1940 terminiert. An exakt diesen Tag gemahnt denn auch das allerletzte Porträt Leverkühns: »Tief lagen die Augen in den Höhlen, die Brauen waren buschiger geworden, und darunter hervor richtete das Phantom einen unsäglich ernsten, bis zur Drohung forschenden Blick auf mich, der mich erbeben ließ […].« (GW VI: 675)
Eine Allegorie auf (Nazi-)Deutschland, das damals »die Wangen hektisch gerötet […] auf der Höhe wüster Triumphe [taumelte], im Begriffe, die Welt zu gewinnen«; heute, 1944/45, hingegen »stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem anderen ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung.« (ebd.: 676) So also, so bedeutungsschwer, endet sie, die Mär des Adrian Leverkühn, der, wie sein Nachname schon andeuten soll, Nietzsches Imperativ »gefährlich leben« ein wenig zu streng befolgt hat – wie Nietzsche im Bordell 1866, aber eben auch: wie Deutschland im Banne Hitlers respektive Italien im Banne Mussolinis. Man muss diese Botschaft Thomas Manns nicht notwendig mögen, und ihr ist, wie in Kapitel V noch zu diskutieren, ein bedenklicher Konstruktionsfehler eingegeben, insofern einer wie Leverkühn angesichts der Euthanasiepolitik in Deutschland das Jahr 1940 wohl kaum lebend erreicht hätte (vgl. V.) – große Literatur ist Doktor Faustus trotzdem.
/44 Gottfried Benn (1950): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (Teil II) Benns Aufsatz Nietzsche nach 50 Jahren ist für unser Thema wichtig wegen dreier seitdem vielfach – ob nun um diese Wiederholung wissend oder nicht – wiederholter Feststellungen: Der ersten, von, aber auch schon vor Benn – zu denken ist etwa an Reinhard Goering – getätigten, wonach der Frage nach Nietzsches Krankheit keinerlei Relevanz zukomme, insofern Nietzsches Werk, wäre Nietzsche 1890 einem Herzanfall erlegen oder an einer Blutvergiftung gestorben, »unverändert bestehen [bliebe].« Der zweiten, wonach diese Krankheit von solchen in den Vordergrund gerückt werde, »die es vermeiden möchten, der ganzen Erscheinung und ihren Konsequenzen voll ins Auge zu sehen.« (Benn 1950: 487) Sowie der dritten: »[D]ie meisten Luetiker«, so Benn, seine Autorität als Arzt einbringend, litten »weniger unter ihrer Krankheit […] als vielmehr unter dem Bewußt136 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sein dieser Erkrankung«, und dieses Bewusstsein sei »so wesensbestimmend, daß es sehr wohl auf Produktion und innere Entwicklung Einfluß haben kann.« Man ist hier versucht zu kommentieren: Wie Nietzsche in Morgenröthe 54 schon sagte (s. V.2/2) – würde, bei Benn, nicht folgen: »Nichts von alledem findet sich in Nietzsches Schriften oder Briefen […]. Mir scheint also das Problem dieses Leidens für Nietzsches Erscheinung nicht wesentlich zu sein.« (Benn 1950: 488)
Dieser Satz scheint mir unrichtig, wie en détail noch gezeigt werden soll. Ebenso unrichtig scheint mir Benns neuerdings von Sebastian Kaufmann (2019: 416 f.) in Augenschein genommene Ablehnung der Syphilisdiagnose. 54
/45 Karl Schlechta (1958): Der Fall Nietzsche(s) als Fall der Schwester Schlechtas Enthüllungen in Sachen der Fälscherin Elisabeth FörsterNietzsche brachte Der Spiegel 5, 29. Januar 1958, S. 32–37 unters deutsche (Lese-) Volk. Brillant geschrieben, hochinformativ, in einer Titelgeschichte – was mich fast auf die Idee bringt, der Nietzscheverächter Rudolf Augstein habe mit seiner ein gutes Vierteljahrhundert später erschienenen Titelgeschichte voller demagogischer Bilder – Nietzsche als Denker und Hitler als Täter auf dem Titelblatt – und alberner Witzeleien nicht nur eine Retourkutsche auf Nietzsche im Sinn gehabt, sondern auch eine solche auf seinen vormaligen persönlichen Referenten, den Autor der 1958 er Mär (Walter Busse). Wichtiger aber als dieser Aspekt ist die Frage: Betrafen Schlechtas Aufklärungen über die Schwester auch die von ihr zu verantwortenden Fälschungen im Bereich von Nietzsches Krankheit, über die ja im Vorhergehenden schon einiges berichtet wurde? Die Antwort, bei der es naheliegt, statt des Referats (Busse) das Original (Schlechta) zu konsultieren, ist eindeutig: Es war Schlechta, der, misstrauisch ge-
Etwa mittels des brieflich gegenüber Friedrich Wilhelm Oelze vorgetragenen ›Argumemts‹, Nietzsche sei geistig zusammengebrochen, »weil er sich plötzlich so sehr seines Zarathustra schämte, seines züchterichen Optimismus, seiner Verwirklichungshoffnungen im Soziologischen und Psychologischen.« (zit. n. Kaufmann 2019: 417)
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worden durch ihren abschlägigen Bescheid auf seine Bitte als Archivmitarbeiter »um die Aushändigung aller noch in ihrem Besitz befindlichen Briefe« (SA III: 1410), sofort nach ihrem Tod (1935) die Unterlagen sichtete und ihre Fälschungen in der Briefausgabe Gbr. entdeckte und systematisierte im Blick auf die dabei mutmaßlich verfolgten Zwecke, nämlich »einmal, Lou von Salomé und Paul Rée, das Ehepaar Overbeck, ja sogar auch die Mutter im weiten Zusammenhang mit der ›Lou-Affäre‹ suspekt zu machen und die Intrigen der Schwester als wohlmeinende Aktionen erscheinen zu lassen; zum andern, der Schwester eine besondere Vertrauensstellung bei ihrem Bruder zu sichern.« (SA III: 1412) Dass alle Fälschungen der Schwester jeweils einem dieser Zwecke zugeordnet werden können, die Kategorien also der Ergänzung bedürfen, sei eingeräumt, auch, dass Schlechta keineswegs alle Fälschungen der Schwester oder anderer (etwa jene von Köselitz) erkannt hätte, ebenso, dass er, immerhin fünfzig Jahre nach der ›Bankiersausgabe‹, noch immer keine authentische Fassung letzter Hand von Ecce homo vorzulegen vermochte. Immerhin aber entzauberte er die NS-Trouvaille schlechthin, die von Förster-Nietzsche kompilierte kanonische Fassung von Der Wille zur Macht (1906). Wenn auch Schlechtas ersatzweise dargebotene Kompilation Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre noch keine befriedigende Lösung darstellte: Schlechtas diesbezügliche Intervention, auch sein Hinweis: »Was Nietzsche zu sagen hatte, ehe ihn der Wahnsinn empfing, das hat er vernehmlich gesagt« (SA III: 1433), nicht zuletzt sein Programmsatz: »Wenn ich […] erst mit ›Menschliches, Allzumenschliches‹ beginne, so ist mir das Recht dazu von Nietzsche selbst gegeben« (SA IIII: 1434) – das sind, wie mir scheinen will, bleibende, nicht nur für die 1950 er Jahre relevante Aspekte, an die der Spiegel verdienstvollerweise erinnerte.
/46 Erich F. Podach (1963): Der Fall Nietzsche(s) als Fall der Schwester (Teil II) Podachs Buch Ein Blick in Nietzsches Notizbücher (1963) wirkt auf den ersten Blick, jedenfalls für den Experten, wie ein Kriminologielehrbuch neuer Art. Ein Beispiel: Podach benötigt gut acht Druckseiten allein zur zusammenfassenden Wiedergabe der von Oehler (ersichtlich auf Veranlassung von Förster-Nietzsche) unterdrückten Stellen aus Nietzsches Briefen an Overbeck. (vgl. Podach 1963: 138 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
184 ff.) Dass dabei in erster Linie alle verräterischen Spuren verwischt wurden in Sachen der Nietzsche in existentieller Weise berührenden ›Lou-Affäre‹ des Jahres 1882 (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 221 ff.), ist angesichts des von Förster-Nietzsche gerade in dieser Angelegenheit betriebenen jahrelangen Aufwandes in betreffs der Darbietung gänzlich unhaltbarer Legenden (vgl. etwa Förster-Nietzsche 1904: 397 ff.) kaum überraschend. Wichtiger ist die Gesamttendenz der Fälschungen: Weggelassen wurden von Oehler alle freundlichen Äußerungen Nietzsches über Juden und alle unfreundlichen über Nietzsches antisemitischen Verleger Schmeitzner, Nietzsches Schwester wie Mutter, Nietzsches Schwager, dessen Paraguayprojekt sowie einzelne Heroen der völkischen Bewegung. Ein Beispiel: Die interessierte Öffentlichkeit erfuhr erst durch diese Ausgabe, dass Nietzsche Overbeck am 6. März 1883 geschrieben hatte: »Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen; ich bin i m m e r krank geworden, wenn ich mit ihnen zusammen war.« (6: 339)
Beides sprach, aus Perspektive der Schwester, gegen die Aufnahme dieses Briefes in die Edition Oehler/Bernoulli (1916): Die Vokabel »krank«, hier im psychodynamischen respektive psychosomatischen Sinne zu verstehen; und der Umstand, dass speziell dieser Passus als Vorstufe gelesen werden darf zur gleichgerichteten Klage in Ecce homo, Warum ich so weise bin 3 – ein Abschnitt, dessen Entfernung Raoul Richter, wie bereits dargestellt, 1908 anlässlich der ›Bankiersausgabe‹ von Nietzsches Autobiographie abgesegnet hatte. Einige weitere Beispiele: Erst nun, durch Podach, wurde Nietzsches – halb spöttische, halb ernste – Bemerkung aus einem Brief an Overbeck vom 3. Februar 1888 erstmals publik: »[M]eine Angehörigen gehören zu den größten Grundbesitzern in Paraguay; der Einfluß Dr. Försters ist, wie ich ganz indirekt und zufällig erfahren habe, derartig gewachsen, daß eine Anwartschaft auf die nächste Präsidentschaft der Republik durchaus nicht außer der Wahrscheinlichkeit liegt. Daß e r und i c h eine Anstrengung sonder Gleichen zu machen haben, um uns nicht direkt a l s F e i n d e zu behandeln, kannst Du errathen …« (8: 243)
An beidem war der Schwester offenbar nicht gelegen: An dem Eindruck, sie habe womöglich ihren Start in Paraguay zu euphorisch geschildert – was vor dem Hintergrund der nur ein Jahr später Furore machenden Gerüchte um den Tod ihres Gatten keinen guten Ein139 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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druck machte. Sowie an der Vokabel ›Feind‹ – wo sie doch im Nachgang alles dafür tat, ihren Bruder den völkischen Kreisen als eine Art Gesinnungsgenosse seines Schwagers zu verkaufen. Dieser Absicht wegen unterschlug sie auch – dies allerdings deckte vor Podach schon Schlechta auf (vgl. SA III: 1345) –, dass Nietzsche Overbeck Weihnachten 1888 hatte wissen lassen, seine Schwester habe ihm zu seinem 44. Geburtstag »mit äußerstem Hohne« geschrieben, er »wolle wohl auch anfangen, ›berühmt‹ zu werden«, was in der Tat eine »süße Sache« sei, zumal angesichts des »Gesindels«, das er sich ausgesucht hätte, nämlich »Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Brandes« (8: 549) – eine Peinlichkeit für Nietzsches Schwester, die sich damals um jüdische Sponsoren wie Ernst Thiel bemühte, auch um Brandes.
/47 S. F. Oduev (1971): Keine Entnazifizierung durch Repsychiatrisierung Oduevs 1971 in Moskau erschienenes und 1977 in deutscher Übersetzung unter der Herausgeberschaft von Hans-Martin Gerlach und Günter Rieske in Ost-Berlin erschienenes Buch Auf den Spuren Zarathustras erreicht im Abschnitt III/9 unter der Überschrift Die ›Entnazifizierung‹ Nietzsches seinen ideologischen Höhepunkt. Abgerechnet wird hier, unter der Headline »apologetische NietzscheLiteratur« nach 1945 (Oduev 1977: 231), auch mit Wilhelm LangeEichbaums Buch Nietzsche. Krankheit und Wirkung und der sich in ihm aussprechenden Absicht der Entnazifierung Nietzsche durch Repsychiatrisierung respektive mittels Pathologieverdacht für die besonders NS-affinen Passagen seines Werkes. Oduev räumt zwar ein, dass Lange-Eichbaum »nicht ohne Grund« gegen die »in der philosophischen Literatur und der Fachliteratur« – Namen werden nicht genannt, auch nicht jener der Schwester – verbreitete These rebellierte, Nietzsches Wahnsinn sei vor allem »der Überanstrengung seiner Geisteskräfte« geschuldet. Auch referiert er Lange-Eichbaums Auffassung, Nietzsches Wahnsinn zeuge für »das Endstadium der progressiven Paralyse eines Syphilitikers […], was in der Regel aus Furcht, die Bedeutung des Philosophen zu schmälern, verschwiegen oder vertuscht wurde.« Dieser Erklärung misst er allerdings keinerlei Erklärung für die Werkdeutung zu. Allerdings weiß er eine entsprechende Bemerkung Lange-Eichbaums über die von ihm auf die Jahre 140 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
1884 bis 1887 datierte paralytische Remission für eine spöttische Bemerkung wie die folgende zu nutzen: »So betrachtet, war die Krankheit für Nietzsche kein Unglück, sondern eine Wohltat, denn solange die Paralyse unter dem Bilde einer milden Hypomanie verlief, hatte sie euphorisierende Wirkung.« (ebd.: 238)
Womit wir hier zu tun habe, ist die schon von Förster-Nietzsche erprobte These des sekundären Krankheitsgewinns, die einem später auch bei Wolfgang Harich, Lutz Gentsch sowie Reto Winteler begegnen wird. In der Sache indes verstand Oduev wenig Spaß: LangeEichbaums Versuch der Entnazifizierung Nietzsches subsumiert er vergleichbaren Bemühungen nach 1945 – etwa den quellenkritischen, gegen Förster-Nietzsche gerichteten Karl Schlechtas –, »den Namen Nietzsche zu rehabilitieren, indem man die Fäden zerriß, die ihn mit dem geschlagenen Faschismus verbanden« (ebd.: 231), deutlicher: »die Philosophie Nietzsches von der Ideologie des Faschismus zu trennen« (ebd.: 250)
/48 Mazzino Montinari (1972): Das ›Polengerücht‹ und seine Relevanz für die Syphilisdiagnose Montinaris in Band 1 der damals neu gegründeten Nietzsche-Studien veröffentlichter Aufsatz Ein neuer Abschnitt in Nietzsches ›Ecce homo‹ (1972) signalisierte den Hardlinern unter den marxistischen Nietzscheverächtern, dass es vermutlich doch keine so gute Idee gewesen war, Montinari, wie er später so anschaulich erzählte (vgl. Montinari 1980: 19 f.), im April 1961 nach Weimar zu lassen mit der Folge einer neuen, zusammen mit Giorgio Colli erstellten Gesamtausgabe (= KGW/KSA, KGB/KSB), die dann ab Herbst 1967 bei Walter de Gruyter erschien. Vertrauensbildend hatte bei den DDRBehörden offenbar gewirkt, dass Montinari als auch Colli der KPI nahestanden – keine Garantie indes, wie Montinaris hier in Rede stehender erster wichtiger Beitrag zeigt. Sein Einstiegspunkt: Dass zwar »längst bekannt« sei, wie sehr »die Ereignisse in den letzten Turiner Wochen Nietzsches […] bis zur Unkenntlichkeit verwischt und entstellt worden [sind] durch Fälschung und Vernichtung von Briefen, ja durch regelrechte plumpe Erfindungen der Schwester in ihrer Biographie und in anderen Schriften«, dass aber »das ganze Ausmaß der schwesterlichen Mystifikation« (Montinari 1972: 124) erst nach Vor141 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
liegen des Briefwechsels sowie weiterer Dokumente bestimmbar werde. Ein eindrucksvolles Bekenntnis zum biographischen Forschungsansatz, wie man vielleicht noch hinzufügen darf. Konkret ging es Montinari um die seit Sommer 1969 durch einen Fund im Peter-Gast-Nachlass verfügbare und in die KGW aufgenommene, 1908 von Raoul Richter unterdrückte authentische Fassung des Abschnitt Warum ich so weise bin 3, insbesondere um den Satz: »Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.« (VI: 122)
Im Lichte dieses Zitats gelesen ist das ›Polengerücht‹, das den Antisemitenchef Theodor Fritsch auf die Palme gebracht hatte und auf die Idee, Nietzsche, da von slavischer Rasse, als einen sich von selbst verstehenden pathologischen Fall abzubuchen, weitaus brisanter, jedenfalls aus völkischer Lesart: Nietzsche, so scheint es nun, rubriziert seine polnische Herkunft unter ›gutes Blut‹, mit Montinari geredet: »Das Rätsel der Verwandtschaft mit der ›erbärmlichen Creatur‹ glaubte nun Nietzsche an der Schwelle des Wahnsinns zu lösen, indem er es als eine Rassenfrage behandelte.« (Montinari 1972: 138)
Ob die Vokabel ›Rassenfrage‹ klug gewählt ist, darf man allerdings bezweifeln angesichts dessen, worüber Nietzsche mit Rückblick auf seinen Vater klagt: über dessen Erbgut.
/49 Volker Gerhardt (1978): Die Syphilisfrage als quantifizierbare Gerhardts Aufsatz Dogmatismus bei Kant? bezeugt den mutigen Versuch des späteren bedeutenden Nietzscheforschers, seinem (psychologischen) Lehrers Suitbert Ertel beizustehen bei dem Versuch, das auf Milton Rokeach zurückgehende Dogmatismus-Konstrukt auf Stilmerkmale von Texten anzuwenden – ein Projekt vom, wie man vielleicht sagen darf, Typ ›empirisch gesicherte Linksideologie-Bekämpfung‹, das zumal im Lager der damals aufkommenden Kritischen Psychologie um Klaus Holzkamp für Aufruhr sorgte. Irritierend war indes der auf »einer persönlichen Mitteilung Ertels« beruhende Bericht Gerhardts über eine (noch nicht veröffentlichte) Längsschnittstudie Ertels zu Nietzsche (sowie Hölderlin, van Gogh und Strindberg), der zufolge »[b]is zum jeweiligen Ausbruch der 142 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
›akuten Psychose‹ […] ein starker Anstieg des D+-Wertes 55 zu verzeichnen« (Gerhardt 1978: 61) sei. Denn dieser Befund ist, was Nietzsche angeht, nicht überraschend, scheint vielmehr, mit Seitenblick auf die Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht sowie Ecce homo und Nachlasspassagen und Briefe jener Zeit geredet (vgl. Niemeyer 2017: 286 ff.), nicht nur durch Zählen, sondern, viel einfacher, durch Lesen und Zusammenhangsanalyse evident (eine Überlegung, die zugleich die oben verwendete Vokabel ›obskur‹ zu erläutern vermag, die man übrigens gerne auf beides beziehen mag: auf Ertel, aber auch auf seinen damaligen Verteidiger). Spannender als dies und damit kommen wir auf den uns hier interessierenden springenden Punkt: Gleich zu Beginn seines Artikels wählt Gerhardt zwecks Erläuterung der Notwendigkeit von Ertels anti-dogmatischer Intervention, »den Überzeugungen durch Wissen den jeweiligen Nährboden [zu] entziehen«, ausgerechnet die Syphilis, deutlicher: Gerhardt erwähnt, als Gegenspieler der (diesbezüglichen) Aufklärung und bemerkenswert sachkundig bezüglich des Ursprungs dieser Geschlechtskrankheit, den Teufel als potentiellen Gegenspieler, dem es an Geschick nicht mangeln werde, schließlich sei er »seit fast fünfhundert Jahren mit jenem französischen Infekt vertraut, der ihm eine vergleichbare, wenn auch erlesenere Klientel zuführte.« Dem folgt nahtlos: »Der Fortschritt ist allerdings, daß man die Syphilis nur hinter vorgehaltener Hand ansprechen konnte, von der Überzeugung aber darf man offen reden.« (Gerhardt 1978: 52)
Meine Variante hierzu, unter Absehung vom Teufel bzw. diesen nur in Menschengestalt zulassend: Schaffen wir doch in Zukunft als Nietzscheforscher der Überzeugung Platz, endlich auch über die Syphilis Nietzsches offen zu reden – zumal sie es ja offenbar ist, die den von Ertel gemessenen Dogmatismus, besser vielleicht: den Fanatismus des späten Nietzsche befriedigend erklärt. Dies indes erforderte wohl ein eigenes Buch, das vorliegende beispielsweise.
Gemeint ist hier durch Auszählung gemessene hohe Ladung mit – von Ertel – des Dogmatismus verdächtigten Vokabeln wie »muss« oder »kann nur« in untersuchten Texten.
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/50 Rudolf Augstein (1981): Beide waren krank, aber gleichwohl schuldig, Nietzsche, der Denker, aber auch Hitler, der Täter Augsteins legendäre Spiegel-Titelstory vom Juni 1981 mit dem Titel: Wiederkehr eines Philosophen. Täter Hitler, Denker Nietzsche – im Heft heißt es nur ganz brav: Ein Nietzsche für Grüne und Alternative? –, ist natürlich primär nicht, wie die Überschrift nahelegen soll, eine Antwort auf den vier Jahre zuvor in Ost-Berlin erschienen Oduev-Titel. Obgleich der Einstieg heftig ist, fast nach Klage klingt von Oduev-Format über eine in Deutschland fast gelungene und jedenfalls nicht zu begrüßende Entnazifizierung. Augstein nämlich meint: »Der krasse Widerspruch in der Aufnahme Nietzsche seit 1945 […] sticht ins Auge: Er wird gerühmt wie kein zweiter, siedelt manchmal schon über Darwin, Marx und Freud, wird aber für das, was er als sein Eigentliches hielt, für Herrenmenschen- und Eroberertum, für Verachtung und Ausrottung unwerten Lebens, für kruden Machtegoismus und barbarische Kriegsschwärmerei nicht mehr in Anspruch genommen.« (Augstein 1981: 156)
Was hier vor allem ins Auge sticht, ist die Selbstgefälligkeit, mit der Augstein hier das Wissen um Nietzsches ›Eigentliches‹ in Anspruch nimmt, als habe es die von Schlechta losgetretene Debatte um eben diese Frage nie gegeben. Damit war die Sache Nietzsches weitgehend erledigt, womöglich – und hier kommen Augsteins ›Grüne und Alternative‹ ins Spiel – gegen Peter Sloterdijk, der in jenem Sommer 1981 im Vorwort zu seiner Kritik der zynischen Vernunft geradezu demonstrativ trotzig und offenlassend, ob er hier ad pluralis modestiae rede, niedergeschrieben hatte: »Wir spüren eine zweite Aktualität Nietzsches, nachdem die erste, die faschistische Nietzschewelle verebbt ist.« (Sloterdijk 1983: 9) Augstein, ob nun um dieses Vorwort wissend oder nicht, sah dies erkennbar anders, wurde zu seiner Headline Täter Hitler – Denker Nietzsche vermutlich angeregt durch die Überschrift Von Nietzsche zu Hitler (1966), unter welcher die Fischer Bücherei im September 1966 relevante Auszüge aus Georg Lukács (1885–1971) Die Zerstörung der Vernunft (1962) unters west-deutsche Publikum gebracht hatte. Entsprechend überrascht nicht, dass auch Augstein (1981: 170), wie zuvor Lukács (1966: 62 f.), Anstoß nahm an Nietzsches in der Genealogie der Moral geübten Kritik an jenen »frohlockende[n] Ungeheuer[n]«, die »einer scheusslichen Abfolge von Mord, Nieder144 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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brennung, Schändung, Folterung« (III: 275) fähig seien. Entsprechend entschlossen rückte er dasjenige ins Abseits, was er für Nietzsches »Eigentliches« hielt: »Herrenmenschen- und Eroberertum«, »Verachtung und Ausrottung unwerten Lebens«, »krude[r] Machtegoismus und barbarische Kriegsschwärmerei«. Die Pointe lautete, dass Deutschland eine »Nietzsche-Renaissance« nur dann bevorstünde, »wenn die Vernunft zertrümmert, wenn der heilige Irrationalismus gepriesen wird.« Damit lag Augstein wiederum ganz auf LukácsLinie – bis hin zu seinem Hitler/Nietzsche-Vergleich, der seinen Tiefpunkt erreichte mit der Feststellung: »Bei beiden war der Drang zu einem regelmäßigen Sexualleben schwach, falls überhaupt ausgebildet.« (Augstein 1981: 166)
Sowie, im Blick auf den Satz: »Es ist eine herrschende Rasse nötig, mit unbedingter Gewalt«, den Nietzsche noch Monate, bevor die Sinne sich verwirren, in die Maschine gehämmert habe: »War es der Wahnsinn des Ex-Gefreiten Nietzsche, so war auch der ExGefreite Hitler mit seinen Stukas, Panzern und Gasöfen wahnsinnig.« (ebd.: 177)
In der Summe geredet und auf die Wirkung von derlei Gerede hin bedacht: Nach Augstein (auch zeitlich gemeint) galt verbreitet zumal in der Linken: Beide, Hitler wie Nietzsche, waren verrückt – aber gleichwohl waren und sind beide schuldig.
/51 Louis Corman (1982): Es war eine schizophrene Psychose Cormans (1901–1995) Studie Nietzsche. Psychologue des profondeurs (1982) hebt ausführlichst Nietzsches Rang als Psychologe, auch als Freud-Vorläufer, hervor, um, ganz am Ende, in einer Note B, auch von Nietzsches Wahnsinn zu handeln. Der Autor, seiner wissenschaftlichen Orientierung nach vor allem als Testpsychologe ausgewiesen, erklärt eine schizophrene Psychose für wahrscheinlicher als eine Progressive Paralyse, zumal dieser anders als jener ernsthafte Defizite in den Bereichen Gedächtnis und Verstehen hätten vorausgehen müssen. Dies allerdings sei im Fall Nietzsche nicht zu konstatieren, an einem Beispiel geredet: »Ecce homo, écrit juste avant le déclenchement de sa folie […], est écrit dans une prose dont la perfection ne permet en rien de supposer un affaiblissement des facultés 145 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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mentales.« (Corman 1982: 409 f.) Dieser Einwand, von Richard Schain (2001: 91) im Zuge seines Feldzuges gegen die Syphilisdiagnose zustimmend aufgenommen, verliert deutlich an Gehalt, wenn man die von Nietzsches Schwester im Verein mit Raoul Richter 1908 unterschlagenen Passagen dieses Werkes einbezieht. Im Übrigen ließ Corman alle weiteren der im Vorhergehenden vorgetragenen Argumente pro Syphilisiagnose außer Betracht.
/52 Günther Schulte (1982): Die Bordellgeschichte wird, als heteronormative, entsorgt Schultes (1937–2017) Studie »Ich impfe euch mit dem Wahnsinn« steht Deussens Bordellgeschichte (s. IV.2/8) und der in ihr angelegten Syphilisspur eher skeptisch gegenüber. Gründe hierfür sind ein von Schulte als Indiz für geringes (heterosexuelles) Interesse gedeuteter Brief Nietzsches an Erwin Rohde sowie eine von Sander L. Gilman (1981) zugänglich gemachte, auf Sommersemester 1876 zu datierende Anekdote des Nietzsche-Studenten Ludwig von Scheffler (1907), die Schulte dahingehend deutet, dass Nietzsche »der Magie des Männermundes nicht verschlossen schien.« (Schulte 1982: 20) Im Ergebnis vermutet Schulte, dass Nietzsches im Jenaer Krankenjournal fixierte Behauptung einer 1866 erfolgten zweifachen spezifischen Infektion einem »Männlichkeitswahn« geschuldet sei und es sich bei der Infektion »wahrscheinlich um Cholera [handelt]« (ebd.: 21), wie schon von Förster-Nietzsche vermutet. Ebenso fragwürdig wie diese – um die Interessenhaltung der Schwester in speziell dieser Frage (s. IV.2/20) unbesorgte – Erklärung ist Schultes nachfolgende Solidarisierung mit Walter Vulpius in Gestalt der Annahme: »Wenn Nietzsches spätere Paralyse überhaupt syphilitischer Natur war, dann hat er sich wahrscheinlich ohne sexuellen Kontakt während seiner Sanitäterzeit beim Frankreich-Feldzug […] eine ›luetische Mischinfektion‹ zugezogen, die ihm als solche erst bekannt wurde, als man nach dem Zusammenbruch ›progressive Paralyse auf luetischer Grundlage diagnostizierte.‹ (ebd.: 21)
Die vielen Kautelen inklusive des fehlenden Blicks für Vulpius als willigen Helfer Förster-Nietzsches deuten es bereits an: Zu Ende gedacht ist das Ganze nicht, zumal Schulte in der Linie dieses Argu-
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ments seinerseits zu einem willigen Helfer der Schwester zu mutieren droht.
/53 Wolfgang Harich (1987): Nietzsche hat nur simuliert Harichs (1923–1995) Aufsatz Revision des marxistischen Nietzschebildes? (1987), erschienen in der DDR-Zeitschrift Sinn und Form, treibt die im Kommunismus nach 1945 gängige Verachtung Nietzsches als Wegbereiter des Faschismus – so der Titel einer aktuellen Textsammlung dieses marxistischen Ideologen (vgl. Harich 2019) – auf einem neuen Tiefpunkt, einerseits mithilfe einer von Georg Lukács übernommenen Zitatfälschung (vgl. Niemeyer 1998: 342 f.), andererseits mithilfe von aus S. F. Oduev weiterentwickelten Zynismen wie dem folgenden: »Ob Nietzsche wirklich oft krank war oder, als Hysteriker, sich nur einbildete, es zu sein, oder ob er schlicht simuliert hat […] bleibe dahingestellt. Wenn er aber simuliert hat, sei der Nutzen, den er daraus zog, ihm gegönnt.« (Harich 1987: 1039)
Selten so gelacht. Auch darüber, dass dieser Satz, schon fünf Jahre zuvor brieflich gegenüber einem Vertreter das Akademie-Verlags zum Ausdruck gebracht (vgl. Harich 2019: 457), nur die allerletzte Ausflucht der Schwester kopiert, also letztlich adelt. 56
/54 Joachim Köhler (1989): Die Syphilisdiagnose als werkanalytisch entschlüsselte Köhlers (* 1952) Buch Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsches und seine verschlüsselte Botschaft steht, inhaltlich als auch stilistisch, für einen Höhepunkt der biographieorientierten Nietzscheforschung, kritisch beäugt vom (damaligen) Mainstream und deswegen nicht Dass Sinn und Form in über vierzig Jahren nichts hinzugelernt hat, zeigen 2020 hier veröffentlichte Briefe Harichs an Stephan Hermlin voller Invektiven gegen einen gefälligst der DDR-Zensur zu unterwerfenden Nietzsche, die korsettiert werden von einer skandalösen »Reinwaschung« (Widmann 2020: 14) Harichs durch seinen gedankenlosen und zusammenhangsblinden Fürsprecher Andreas Heyer. (vgl. Harich 2020) – Für den Hinweis auf diesen Vorgang danke ich meinem Freund und Tenniskameraden Udo Krüger.
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recht zur Wirkung gelangend, sondern eher mit spitzen Fingern angefasst. Ein Stück weit verantwortlich dafür: Köhlers an Nietzsches Diktum von der ›fröhlichen Wissenschaft‹ geschulte Unerschrockenheit, zum Ausdruck gelangend schon in originellen Überschriften wie Ein Gespenst in den Zeiten der Cholera, was dem Mainstream damals wohl etwas zu unseriös klang. Zu Unrecht: Was Köhler beispielsweise gerade in diesem Abschnitt bietet, ist eine geradezu genial-hintersinnigen Sezierung der – wie gesehen: noch von Günter Schulte gläubig beigezogenen – Choleramär der Schwester (s. IV.2/20). (vgl. Köhler 1989: 89 ff.) Kaum weniger gekonnt: Köhlers unter dem Titel Der Rufmord dargebotene Sezierung des Versuchs von Richard Wagner, auf der Suche nach einem Grund für Nietzsches Wagnerüberwindung dessen Krankengeschichte ins Spiel zu bringen, gleichsam über Bande und im direkten Austausch mit dem Wagnerianer Otto Eiser, den Nietzsche im Herbst 1877 konsultierte, nicht ahnend, dass dieser mit Wagner über Nietzsches (angebliche) Sexualdevianz korrespondierte. Wir erinnern uns: Dass wir Heutigen so wenig darüber wissen, liegt auch an der von Heinrich Köselitz verbrämten (s. IV.2/5) Vernichtung des überwiegenden Teils dieser Korrespondenz durch Nietzsches Schwester. Dank Köhler wissen wir nun ein wenig mehr über die Hintergründe dieser Intrige und können den Spieß umdrehen, also über Kunstfehler Eisers und die subjektiven Theorien Nietzsches zu diesen nachdenken. Einverstanden: Nicht alle der krankheitsbezogenen Erwägungen Köhlers – und nur um diese ist es uns hier zu tun – überzeugen so sehr wie diese. Dies gilt namentlich dort, wo Köhler, in Weiterführung von Günther Schulte, Nietzsches Philosophie unter den Vorzeichen »der verdrängten Weiblichkeit des Mannes« (Schulte) respektive der maskierten Homosexualität zu deuten versucht. Dabei geht er, wie Schulte, von der Anekdote Ludwig von Schefflers (1907) aus, ohne zureichend zu beachten, dass man Nietzsches abweisende Reaktion auf Schefflers Ablehnung seines Vorschlags einer gemeinsamen Italienreise mit dem Argument, dafür sei »völligste Sympathie« erforderlich (Köhler 1989: 229), auch banal erklären kann, nämlich mit Enttäuschung. In anderen Hinsichten freilich traf Köhler wichtige Punkte, etwa im Blick auf Nietzsches Träume bezogen auf den Tod seines Brüderchens und deren Niederschlag im Zarathustra (ebd.: 529 ff.). Insbesondere Paul Deussen, auch seiner Bordellgeschichte, steht Köhler zwar skeptisch gegenüber, macht gegen sie ähnliche Vorbehalte wie Günther Schulte geltend (»So sehr er Frauen 148 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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schätzte und gelegentlich um sie warb – er begehrte sie nicht«; ebd.: 112). Allerdings spürt er den literarischen Nachbildungen dieser Bordellszene bei Thomas Mann ebenso nach wie in Gestalt des Zarathustra-Liedes Unter Töchtern der Wüste vermutet gar gegen die auf Verharmlosung abstellende Schwester die Verarbeitung von Anregungen Guy de Maupassants (ebd.: 587), sieht des Weiteren Bezüge zum Don Juan des Lord Byron, der sich »verlarvt unter Mädchenkleidern« (ebd.: 588) in einen Harem einschlich, kurz und zusammenfassend gesprochen: Köhler war es, der einen systematischen Blick entwickelte für die krankheitsbezogenen Verfälschungen der Schwester und zusätzlich der Syphilisdiagnose und ihrer Sicherung qua Werkinterpretation wichtigen Auftrieb gab. Dies wird im werkanalytischen Kapitel II noch genauer zu zeigen sein.
/55 Pia Daniela Volz (1990): Alles spricht für Syphilis – und für ein Standardwerk! An Volz’ Dissertation Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung erstaunt vor allem der vergleichsweise kleine Verlag – was, wer mag, auch als weiteres Zeichen lesen kann für den geringen Stellenwert, den der Mainstream der (deutschsprachigen) Nietzscheforschung Fragen wie diesen (damals) zuwies. Dem Erfolg der Autorin tat dies keinen Abbruch: Volz, seit ihrer Eheschließung unter dem Familiennamen Schmücker publizierend, gehört bis auf den heutigen Tag zu der immer wieder allererst angefragten Beiträgerin, sollte es, in Handbüchern oder Lexika etwa, um Nietzsches Krankheit gehen. Ihre Stärke ist die Gründlichkeit und Genauigkeit in der Materialaufbereitung unter Einschluss der Bewertung des bis dato vorliegenden Forschungsstandes, was ihren Befund in der hier interessierenden Hauptsache besonders gewichtig macht. Er lautet: »Die globale Schädigung aller höheren zerebralen Funktionen läßt sich m. E. am ehesten durch die Diagnose erklären, die bei Nietzsche bereits 1889 während des Aufenthalts in der Basler psychiatrischen Klinik gestellt worden war, nämlich durch eine progressive Paralyse, die – was man seinerzeit noch nicht mit Sicherheit wußte – in jedem Fall direkte Folge einer syphilitischen Infektion ist. Andere diagnostische Hypothesen wie etwa zerebrovaskuläre Demenz nach Apoplex, Schizophrenie, Epilepsie, Borrelieninfektion (Lyme disease) oder chronischer Medikamentenmißbrauch sind
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dagegen mit der Symptomatik, die sich den vorliegenden Dokumenten entnehmen läßt, nicht oder nur zum Teil in Einklang zu bringen.« (Volz 1990: 298)
Der erste Satz ärgerte jene Nietzscheforscher, die sich mit der Vorstellung, ihr Idol sei den Spätfolgen eines womöglich einmaligen unbedachten Sexualaktes mit einer Dirne erlegen, schwertaten. Der zweite Satz ärgerte so manch einen Mediziner, wohl auch, wie wir noch sehen werden, Richard Schain, der sich durch ihn angestachelt sah, für sein Spezialgebiet den Gegenbeweis anzutreten. Die Hürde auf dem Weg dahin hatte Volz mit ihrem Hinweis auf die ›vorliegenden Dokumente‹ errichtet. Schauen wir uns also diesen 200-seitigen Dokumentenanhang (mehrheitlich bis dato »ungedruckte Quellen«) ihrer Dissertation einmal etwas genauer an. Für die Syphilisdiagnose wichtig sind Einträge aus der Irrenanstalt Jena (vom 19. bis 21. Januar 1889) wie »Narbe rechts vom frenulum« (zit. n. Volz 1990: 393) 57, aber auch Hinweise zu den angeblichen ›Wahnsinnsbriefen‹ Nietzsches, denen Volz wohltuend sachlich nachging. So monierte sie beispielsweise, dass Friedrich Würzbach 1942 zu Unrecht den an Lou von Salomé in Tautenburg 1882 adressierten Aufschrieb Nietzsches »Zu Bett / Heftigster / Anfall / Ich verachte das Leben« (6: 245) als »Zettel aus den Tagen der geistigen Umnachtung« (zit. n. Volz 1990: 371) rubriziert hatte. Bemerkenswert ist an diesem Dokumentenanhang auch die Auflistung der von Nietzsche erprobten Therapien sowie der ihm verordneten Rezepte als auch der von ihm konsultierten Ärzte, nicht zu vergessen: die über dreißig Bände übergreifende Liste der von Nietzsche konsultierten medizinischen Lektüre aus seiner persönlichen Bibliothek, angefangen von A wie Airy’s Naturheilkunde (1873) und endend mit Josef Wiels Tisch für Magenkranke (1875) (ebd.: 318 ff.). Schon dies zeigt: Nietzsche hat sich aufwändig expertisiert, im Blick auf seine lange und vielfältig angelegte Krankengeschichte, an der uns allerdings, im Gegensatz zu Volz, nur ein Aspekt interessiert: eben die Syphilis, weswegen wir uns im Folgenden auf sie konzentrieren wollen bzw. auf das, was im Blick auf sie an Volz’ Dissertation Ein Hinweis, der nach Lehrbüchern aus jener Zeit, etwa auch in dem in Nietzsches Besitz befindlichen Compendium der Praktischen Medicin (71881), hier zitiert nach der 10. Auflage von 1891, dahingehend gedeutet worden wäre, dass an dem mit diesem Term bezeichneten Geschlechtsteil auf Syphilis hinweisende »initiale Veränderungen« (Kunze 101891: 114) zu verzeichnen seien. 57
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interessant und einschlägig relevant ist, gliederungstechnisch als der letzte von neun Punkten 58 unter Nietzsches Krankheiten vor dem Zusammenbruch 1889 gelistet und überschrieben mit: Die syphilitische Infektion. Als Zeitraum der mutmaßlichen Infektion fasst Volz, im Einvernehmen mit Deussens Bordellgeschichte (s. IV.2/8), die Leipziger Jahre 1865–1867 ins Auge und notiert in diesem Zusammenhang als wichtige Beobachtung: »Leider haben sich ausgerechnet gerade aus diesem Zeitraum […] keine Arzt- oder Apothekenrechnungen erhalten, so daß sich hieraus keinerlei Anhaltspunkt ergibt. Nun findet sich allerdings unter den ›Aufzeichnungen aus der Studentenzeit‹ [NA 71/222] ein Notizbuch, auf dessen vorderer Deckel-Innenseite in krakeliger Schrift verschiedene Adressen vermerkt sind. Fraglos zu entziffern ist ›Brandenburgerstr. 39‹ / ›Leipzig‹ / ›Dr. Rausch‹ [Mp VI II].« (Volz 1990: 190 f.)
Der hier gewiesenen Fährte, hinführend möglicherweise zu einem Arzt, der den jungen Studenten Nietzsche damals, nach einem Bordellbesuch, einschlägig beraten oder behandelt hat, ist seitdem meines Wissens niemand nachgegangen, obwohl die auf das Jahr 1866 als Jahr der Ansteckung hinweisenden Zeichen erheblich sind, etwa auch basierend auf dem 1937 durch Erich F. Podach publik gemachten Bemerkung Nietzsches gegenüber seiner Mutter im Zug von Basel nach Jena (Januar 1889): »Ich bin 22 Jahre alt.« (ebd.: 193) Als alternativen oder zusätzlichen Ansteckungsort nahm Volz Bonn 1865 ins Visier, basierend auf Nietzsches Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre – ein Themenkomplex, den wir an einem dafür besser geeigneten Ort noch diskutieren werden. Hier wollen wir uns beschränken auf Nietzsches Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 und die sich in seinem unmittelbaren Vorfeld häufenden Anzeichen für eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe. Volz listet sie weitgehend vollständig auf unter Einbezug der von Anacleto Verrecchia (1986: 274 f.) zusammengetragenen Hinweise für eine wohl schon Mitte bis Ende Dezember 1888 erfolgte und von Nietzsches Vermieter Davide Fino aus Beunruhigung über Nietzsches fremdartiges Verhalten veranlasste »Behandlung durch den Psychiater Carlo Turina, der am 9. 1. 1889 vier Visiten in Rechnung stellte.« (Volz 1990: 203) Das Thema dieser Nach: erbliche Belastung (1.), psycho-somatische Zusammenhäng (2.), ›Gehirnleiden‹ (3.), Augenkrankheiten (4.), Magen-Darmleiden (5.), Sonstiges (6.), Gebrauch von Schlaf- und Schmerzmittel (7.) sowie Versuche mit Homöopathie (8.)
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Visiten lässt sich nicht genau bestimmen, Aufzeichnungen des Turiner Arztes, der in der Anstalt St. Maurizio Canavese tätig ist, haben sich nicht erhalten (ebd.). Die Jenaer Krankenakte, noch 1931 von Nietzsches Schwester als »wahrscheinlich gestohlen« ausgewiesen, um den im August 1929 von Erich F. Podach besorgten Vorabdruck aus ihr zu diskreditieren (vgl. Volz 1990: 390), bringt das im Prolog herausgestellte ›NasenNotat‹, das, wie dort gezeigt, Volz nach nochmaliger Durchsicht zu »Turnübungen« verbesserte, allerdings den tieferen Sinn derselben übersehend. Den zweitwichtigsten Hinweis auf Syphilis übersah sie nicht: Ihm – so zitierte sie den Naumburger Arzt Oscar Gutjahr aus einem Brief an Heinrich Köselitz vom 29. September 1904 – sei schon zu Nietzsches Lebzeiten »von glaubwürdiger Seite gesagt [worden], daß bei dem Patienten schon in Basel eine C h o r i o d i t i s (Aderhautentzündung) l u e t i c a festgestellt worden sei.« (zit. n. Volz 1990: 354) Dieser Hinweis war es also, den die Jenaer Kollegen aufnahmen, wie der erwähnte Jenaer Krankenjournaleintrag zeigt, wohl unter Einbezug der auf die Jahre 1864 bis 1866 orientierenden Hinweise des Pat. Nietzsche – Jahre also der mutmaßlichen sypilitischen Infektion. Wichtig dabei, und auch dies dokumentiert Volz: Dass schon Otto Eiser im Herbst 1877 – wie er die Schwester am 3. Oktober 1877 wissen ließ – bei Nietzsche im Augenspiegel beider Augen »die Produkte einer chronischen Entzündung der Aderhaut und der Netzhaut (Chorioretinitis)« (ebd.: 339) festgestellt hatte. Des Weiteren wird von Volz der Brief Eisers an Richard Wagner vom 26. Oktober 1877 dokumentiert, etwa der Passus, dass Nietzsche »[b]ei Erörterung seiner geschlechtlichen Zustände versicherte […], daß er nie syphilitisch gewesen sei«, aber auch – und dies damals (1990) erstmals nach dem Original zitiert –, dass Nietzsche sich zum Heiraten »entschieden geneigt« (ebd.: 346) gezeigt habe. In Betreffs des »ursächlichen Moments« von Nietzsches Augenleiden resümierte Eiser, dass »das spezifische der Syphilis […] ausgeschlossen« (ebd.: 347) sei – eine Pointe, deren Krux auf der Hand liegt: Indem Eiser die Aussage Nietzsches, die Aussage also eines heiratswilligen Patienten, unbedacht für bare Münze nahm, haben wir es bei dieser seiner auf Syphilis abzielenden Ausschlussdiagnose mit kaum mehr zu tun als mit einem Kunstfehler. Hier wollen wir uns mit dem Befund begnügen, dass Volz alle für einen Schluss wie diesen bereitstehenden Texte verfügbar gemacht hat. Meint: In der Summe des breit aufgearbeiteten Materials steht diese Dissertation bis auf den heutigen Tag einzig dar, 152 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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markiert also die Benchmark, anhand derer alles, was nach ihr kam, sich messen lassen muss, dies auch im Blick auf Volz’ Konklusion, der zufolge die auf Syphilis abstellende Basler Diagnose (»Paralysis progressiva«) triftig ist oder zumindest dies doch: nicht ausgeschlossen werden kann. (vgl. auch Henriques 2018: 3428)
/56 Irvin D. Yalom (1992): Die Nebensache, aus erzählerischem Egoismus zur Hauptsache erklärt Yaloms Roman When Nietzsche Wept (1992; dt.: Und Nietzsche weinte [1994]) prägt, auch wegen der sehr erfolgreichen Romanverfilmung von 2007, bis auf den heutigen Tag den Frage- und Wissenshintergrund der meisten sich für Nietzsche und seine Krankheit interessierenden Laien weltweit. Seriöse Antworten scheinen vom Verfasser als Professor für Psychiatrie an der Universität Stanford erwartbar. Yalom bestreitet denn auch keineswegs, dass »der geistige Zusammenbruch 1889 in die schwere Demenz der progressiven Paralyse mündete (der er 1900 erlag, möglicherweise als Spätfolge einer Syphilis).« Allerdings fügte er hinzu, es gelte »allgemein als gesichert, daß seinen früheren Leiden andere Ursachen zugrunde lagen«, wahrscheinlich eine »extrem schwere Migräne.« (Yalom 1992: 441 f.) Diese ›Diagnose‹ erlaubt es unserem Psychiater, nun als Romancier agierend, Nietzsche in der Fiktion auf der Suche nach Heilung durch die sich damals formierende Szene einer Art Psychoanalyse avant la lettre zu treiben, um diesen an seinem Fall anschaulich zu machen – eine an sich recht schöne Idee zumal für bildungshungrige Leser. Das Problem: Diese Idee schlägt zum Schaden Nietzsches aus. Denn wer Yalom gelesen oder den Film gesehen hat, weiß am Ende vielleicht einiges Interessante über Lou von Salomé, Josef Breuer oder Sigmund Freud zu erzählen, unterliegt aber in puncto Nietzsche dem banalisierenden Missverständnis, ihm sei vielleicht doch, wäre die psychoanalytische Therapie 1882 nur schon hinreichend entwickelt gewesen als talking cure wie erst einige Jahre nach seinem Tod, zu helfen gewesen. Was komplett ausgeblendet wird: Die ganze Tragik Nietzsches, die nur deutlich wird, wenn man die Nebensache ›Migräne‹ nicht zur Hauptsache erklärt, sondern dieser selbst, also der Syphilis, mit all ihren verheerenden Folgen für Nietzsche als Person als auch als Philosophen, tapfer ins Auge schaut.
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/57 Lutz Gentsch (1995): Nietzsche, der Simulant (Teil II) Gentsch’ Buch Wahnsinn oder Philosophie – Friedrich Nietzsche? Eine meistens methodologische Analyse (1997) wartet mit der These auf, der vom Turiner Zusammenbruch gekennzeichneten Lebensphase Nietzsches sei Vernunftgeltung zuzusprechen, im Gegensatz zum Mainstream, dem das Werk Nietzsches als »verrückt und ›wüst‹« gelte, womit die Nietzsche-Exegese respektive die Philosophie in den Rang einer »medizinischen Hilfswissenschaft« gerate und zum »journalistischen Dilletantismus (sic!)« (Gentsch 1995: 496) gegenüber Nietzsches Werk degeneriere. Kaum weniger lautstark die – allerdings schon von Wolfgang Harich verfochtene Zusatzannahme, Nietzsche sei entsprechend seiner in Morgenröthe 14 angedeuteten These absichtlich in den Wahnsinn geflohen und habe mit ihm eine in der Logik seiner Philosophie folgerichtige neue Phase seiner Biographie eröffnet, aus der es für ihn wegen seines nun plötzlich verkaufsträchtigen Oeuvre kein Zurück mehr gab, jedenfalls nicht »ohne den Preis des erneuten Mißerfolges und damit erst recht um den Preis fehlender Zärtlichkeit.« (ebd.: 485)
/58 Johannes Wilkes (2000): Nichts Genaues weiß man (ich) nicht Wilkes im Deutschen Ärzteblatt erschienener Artikel Nietzsches Krankheit: Genie und Wahnsinn gehört zu den Texten, mit denen auf ein hochgebildetes Publikum setzende Fachmagazine hin und wieder selbiges ein wenig mittels der Künste eines etwas breiter aufgestellten Kollegen über den Zaun des Fachidiotentums blicken lassen – in diesem Fall ohne Fortune: Kaum etwas von dem im Vorhergehenden Berichteten pro Syphilisdiagnose scheint bekannt. Und dass ganz am Ende Paul J. Möbius’ Schlusssatz von 1902 (»Seid misstrauisch, denn dieser Mann [Nietzsche; der Verf.] ist ein Gehirnkranker) als »gefährlich und wissenschaftlich nicht korrekt« (ebd.) kritisiert wird, ist nun wahrlich keine neue Nachricht.
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
/59 Klaus Goch (2000): Nietzsches Vater war krank – aber bitte: Keine Psychologie! Gochs Biographie Nietzsches Vater oder Die Katastrophe des deutschen Protestantismus handelt nur ganz am Rande von Nietzsches Krankheit, ist aber gleichwohl für unser Thema von Interesse, vor allem der Krankheit des Vaters Carl Ludwig Nietzsche (1813–1849) wegen. Überhaupt sind Parallelen in den Lebensläufen beider frappierend, beginnend damit, dass auch Carl Ludwigs Vater, ein Pastor, über zwanzig Jahre älter als die Mutter, früh (1826) starb und der als fleißig und strebsam wahrgenommene Sohn zumal in seiner Pubertät seitens der nun allein erziehenden Mutter einem ausgefeilten Regime ›Schwarzer Pädagogik‹ unterzogen wurde. (vgl. Goch 2000: 135) Anekdoten nach Art von Deussens Bordellgeschichte sind zwar nicht überliefert, wohl aber Hinweise auf von der Mutter konsequent verfolgtes onanistisches Gebaren des Siebzehnjährigen sowie »Krankheitsberichte«, etwa über »ganz ungewöhnlich starke Kopfschmerzen« oder über »Schleimabsonderung mit Atemnot« (ebd.: 151) sowie über eine »starke Verkrümmung der Wirbelsäule« (ebd.: 152) und »rätselhafte Muskeltraktionen« mit der Folge eines Sturzes mit »Verletzungen an der Stirn und an der rechten Körperseite.« Nicht zu vergessen, im Juni 1832: Die Klage des Sohnes in einem Brief an die Mutter, dass er von »Rheuma in der linken Schulter u. Achsel« (ebd.: 159) geplagt werde. Rheuma: Diese Vokabel lässt aufhorchen im Blick auf den Sohn, ganz zu schweigen vom Ende, das Goch in einen engen Zusammenhang mit der 1848 er Revolution bringt, auch mit dem diesbezüglichen Versagen König Friedrich Wilhelms IV. (1795–1861), der – wie noch genauer zu zeigen sein wird (s. V.1/1) – Ikone der inzwischen in Röcken b. Lützen mit eigener Pfarre lebenden jungen Familie Carl Ludwig Nietzsches. Der Vater, so Goch, sei ob des unentschlossenen Agierens des Königs gegenüber den Revolutionären in eine »Nervenkrise« samt »depressiver Stimmungen« sowie »den nur allzu bekannten Kopfschmerzanfällen« (ebd.: 376) geraten, mit der Folge seines allerletzten Briefes (vom 7. September 1848) an einen Freund des Inhalts, es sei so schlimm geworden (»Erbrechen, Kopfscherzen und dgl.«), dass er an fremde Hilfe haben denken müssen. (ebd.: 377) Der Rest ist bekannt bzw. wurde, wie im Vorhergehenden gezeigt, seit Paul J. Möbius und vor allem seit Elisabeth FörsterNietzsche – etwa in Der einsame Nietzsche (vgl. s. IV.2/20) – immer 155 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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wieder durch die Diskursnetze gejagt: Nietzsches Vater erlag den Folgen eines Treppensturzes respektive eines Gehirnleidens – so letztlich auch Goch, der allerdings in einer Fußnote es für »bemerkenswert« erklärt, »mit welcher (manipulativen) Intensität« Nietzsches Schwester versucht habe, »eine ›Krankheitslegende‹ zu konstruieren um jenen ›Treppensturz.‹« (ebd.: 384) Neu indes war diese Kritik damals nicht, hilfreich schon gar nicht, zumal dem der an dieser Biographie zu ihrem eigenen Schaden zu besichtigende Leitsatz nachfolgt: »[K]eine Psychologie, kein aparter Ausblick auf kindliche Traumatisierungen des Philosophen Friedrich Nietzsche« (ebd.: 393), oder noch deftiger im Präludium: Kein »die Philosophie überwältigender Schwundstufen- oder Vulgärfreudianismus.« (ebd.: 1) Gegen wen Goch sich hier verwahrte, bleibt unklar.
/60 Richard Schain (2001): Syphilis als Legende – und zum Ersatz eine neue: Schizophrenie! Schains The Legend of Nietzsche’s Syphilis bringt mittendrin ein Lob auf Pia Daniela Volz (1990) als »invaluable source of information for anyone interested in this subject, especially those who cannot journey to Weimar to gain access to the original sources.« (Schain 2001: 91) Diesen Satz des Neurologen und Psychiaters (vorm. University of Nebraska) wird man wohl kaum anders deuten können als im Sinne eines Eingeständnisses dahingehend, im Vertrauen auf die Sekundärliteratur habe er auf eigenständige Recherche vor Ort und im Blick insbesondere auf ›ungedruckte Quellen‹ verzichtet – an sich noch nicht einmal ein sonderlich großes Problem, hätte Schain doch wenigstens Volz’ Prämisse geteilt: nämlich dass über Förster-Nietzsches Krankheits- und Erkrankungstheorien nicht ernsthaft gestritten werden muss. Anders Schain: Zu Förster-Nietzsches mehrfacher Diagnose »stroke (Schlaganfall)« merkt er lediglich an: »It is not clear whether these episodes were strokes in the modern sense of the term.« (Schain 2001: 65) Viel mehr zu sagen, etwa, dass »apoplektiformer Insulte […] zum Krankheitsbild der Paralyse [gehören]« (Volz 1990: 305), scheint Schain der von ihm gemiedenen Vokabel ›Paralyse‹ wegen nicht opportun. Dies könnte auch erklären, dass ihm zum Tod von Nietzsches Bruder im Alter von noch nicht einmal zwei Jahren nicht mehr einfällt als: »This brother, Joseph, died at 22 months of age after manifesting seizures (Krämpfe) and a terminal 156 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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›stroke‹.« Dem folgt, übergangslos: »Not much can be said about the relationship of his illness to the problems of the rest of the family but it is another piece of evidence that the Nietzsche family was indeed affected by a predisposition to neurological disorders.« (Schain 2001: 3) Der erste Satzteil scheint mir, mindestens dies doch, grammatikalisch inkorrekt, insofern bis hin zu Schain schon eine Menge gesagt wurde zur Beziehung der Krankheit des Joseph Nietzsche mit, beispielsweise, jener seines Vaters – nur dass Schain auch darum nicht weiß oder wissen will. Auch Volz argumentiert in dieser Frage zurückhaltend, bringt gegen die Diagnose der Mutter (»Zahnkrämpfe«), als Todesursache eine »fieberhafte Infektion« (Volz 1990: 36) ein, was aber Schain nicht entlastet: Nach Volz und noch vor Abschluss seiner Publikation ist in durchgängig von ihm ignorierten Publikationen (etwa Niemeyer 1998: 79 ff.) der Tod des kleinen Brüderchens, ausgehend von aufschlussreichen Träumen Nietzsches, zum Gegenstand einer Debatte darüber geworden, ob Nietzsche diesen Tod als einen vom Typ »Syphilis congenita« (vgl. Kunze 71881: 426 f.) gelesen und also als Neugeborenen-Syphilis seinem syphilitischen Vater in Rechnung gestellt hat. Schauen wir uns, von diesen beiden gleich an den Beginn gesetzten zwei Fragezeichnen ausgehend, Schains Buch nun etwas genauer an. Wichtig und bereits im Prolog herausgestellt: Der Titel The Legend of Nietzsches’s Syphilis meint mindestens auch, dass wir es mit einer Streitschrift zu tun haben, insofern Schain eine Diagnose wie Syphilis meint ins Reich der Legende verweisen zu können – eine Vorentschiedenheit, der die Gefahr innewohnt, widersprechende Befunde zu ignorieren (wie das so geht bei Buchtiteln, mit denen vor allem Verlegerinteressen bedient werden sollen). Dieses Zwecks zuliebe, so will es scheinen, hat Schain die von Volz vergleichsweise breit dokumentierte Jenaer Krankengeschichte (vgl. Volz 1990: 390– 442) weitgehend ignoriert, zumal den, wie gezeigt, auf Syphilis sowie Nietzsches Wissen um seinige hindeutenden Eintrag »Macht Turnübungen, hält oft stundenlang seine Nase fest.« (ebd.: 401) Seines Erzählzwecks halber, so meine zweite Vermutung, hat Schain einen wegen der Anrufung des Hanswurst-Motivs auffälligen Brief Nietzsches an Henrich Köselitz vom 25. November 1888 59, den Gaston Textprobe: »[I]ch mache so viele dumme Possen mit mir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, daß ich mitunter eine halbe Stunde auf offner Straße g r i n s e , ich weiß kein andres Wort …« (8: 489)
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Vorberg als typisch las »bei Psychopathen wie auch bei Schizophrenen und Paralytikern« (Vorberg 1933: 28) und den Wilhelm LangeEichbaum als »ein Zeichen der offenkundig ausgebrochenen Paralyse mit ihren ins Läppische gehenden Affektlabilitäten« (Volz 1990: 172) gedeutet hatte, lediglich gelesen als ein Zeugnis für »clowning and exaggerations« (Schain 2001: 42), wie es zeitgleich in Ecce homo zu beobachten sei. Darin kommt er einigermaßen mit Paul Cohn (1931: 32 f.) überein, einen weiteren, eng mit Nietzsches Schwester kooperierenden Antipoden der Syphilisdiagnose, der allerdings jenes Grimassieren in die Nähe rückte zum Grinsen Nietzsches, das er wiederum als Anzeichen lass für Nietzsches Haschischkonsum. Trotzdem: Auch Cohns Hypothese hätte Schain, seriöse Arbeit vorausgesetzt, erwähnen müssen. Nicht zu vergessen, als meine dritte Vermutung und diesmal als Frage formuliert: Hat Schain die Verordnung von Brom durch den Turiner Arzt Carlo Turina Ende 1888/Anfang 1889 (vgl. Volz 1990: 203) nur deswegen diesem Zusammenhang zugeordnet (»The physician prescribed bromides for sedation indicating overstimulation was thougt to be at least part of the problem«; Schain 2001: 42), weil ihm eine Lesart des Turiner Geschehens (als epileptischer Anfall mit para-paralytischem Bedeutungshof) nichts ins Konzept passte? Eine rhetorische Frage, wie angedeutet und im Verfolg weiterer Auffälligkeiten deutlicher werden wird. Dazu gehört auch die von Schain via Volz’ Dokumentation (vgl. Volz 1990: 340 ff.) rezipierte Untersuchung Nietzsches durch Otto Eiser im Herbst 1877 unter Einschluss der Pointe, Eiser habe Nietzsches Beteuerung, nie syphilitisch gewesen zu sein, als »valid statement« (Schain 2001: 23) akzeptiert und, folgerichtig, ausgeschlossen, »that Nietzsche’s chorioretininitis was a manifestation of his syphilis.« (ebd.: 95) Dass der Naumburger Arzt Oscar Guthjahr dies anders sah, wie schon von Schains zentraler Konsulationsadresse in Sachen Nietzsche-Biographie, Ronald Hayman mit den Worten »Der Irrtum war typisch für die Zeit« (1980: 455) beanstandet, wird von Schain nicht beachtet, auch nicht von seinem Fürsprecher Reto Winteler (2014: 133). Beide erwägen nicht, dass wegen der problematischen Quellenlage in dieser speziellen Frage 60 nur sehr unsicher geurteilt werden kann und die Kritik an Eiser sich nicht darauf beschränken lässt, seinerzeit mit Richard Wagner über seine Untersuchungsergebnisse in Sachen Nietz60
Schain erwähnt nicht, dass Förster-Nietzsche 1900, bei der erstmaligen Präsenta-
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sche korrespondiert zu haben, ein Schritt, der, so Schain, heutzutage »would be considered an absolute breach of medial confindentiality.« (Schain 2001: 22) Einen nicht eben unwichtigeren weiteren Vorwurf blendet Schain aus: Eiser hätte Nietzsches Verneinung der Syphilisfrage gerade vor dem Hintergrund des im gleichen Atemzug geäußerten Verheiratungswunsches des Patienten nie und nimmer auf sich beruhen lassen dürfen. Dies zeigt die Rückbesinnung auf den von Schain ignorierten, von Volz (1990: 29 f.) indes aufgerufenen französischen Dermatologen und Syphilisspezialisten Alfred Fournier und dessen Vorträgen Ehe und Syphilis (1882), die, wie noch zu zeigen sein wird (vgl. V.) Messlatte markieren Dass Schain die Tendenz zeigt, zu ignorieren, was ihn stört, und zu präferieren, was ihm nützt, offenbart auch sein Umgang mit dem Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum, insbesondere mit dessen Schrift Nietzsche. Krankheit und Wirkung (1947). Volz hatte dieses Büchlein sowie den von Lange-Eichbaum grundgelegten und von Wolfram Kurth weiterbearbeiteten 7-Bänder Genie, Irrsinn, Ruhm (1986) noch fallweise als wichtige Auskunftsquelle beigezogen und unspezifische Rückmeldungen über eine angebliche Syphilisbehandlung in Leipzig 1868 auf Lange-Eichbaums Publikation Nietzsche als psychiatrisches Problem (1930) mit noch ungeklärten Archivfunden in Verbindung gebracht (vgl. Volz 1990: 190 f.), also, nach Art der Wissenschaft, unter further research is needed abgelegt. Schain hingegen bevorzugt in puncto von Nietzsches Syphilis offenkundig eher den Stempel further research is not needed nor wanted, am Exempel Lange-Eichbaum geredet: Schain bevorzugt Spott nach dem Motto, dass damals, 1946, als jene vorgenannte Schrift erschien, die Lange-Eichbaums Hamburger Vortrag vom März 1945 unter dem Titel Nietzsche als psychiatrisches Problem enthielt, sich Lange-Eichbaums »homeland […] just emerged from the long nightmare of 1933–1945. Concealment and vagueness were probably a part of German life during this period.« Die Pointe: Lange-Eichbaum »may be forgiven for having published this story in 1946«, gleichwohl gelte: »One can conjecture at length on the subject but there is no reliable information and the tales does not belong in serious discussions of
tion der Eiser-Briefe, Heinrich Köselitz erklären ließ, die meisten dieser Briefe seien versehentlich durch einen unvorsichtigen Tischler vernichtet worden.
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Nietzsche’s medical history.« (Schain 2001: 15) 61 Hier wird zum ersten Mal greifbar, was Schain mit dem Titel seines Buches meinen könnte: Die Legende von Nietzsches Syphilis ist, seiner Lesart zufolge, eine aus dem Geist des Faschismusdesasters und soll dartun, dass die NS-Ikone Nietzsche tatsächlich ein ziemlich armes Würstchen war, dessen dunkle respektive nazifizierbare Seite nicht wirklich ernstgenommen werden muss, weil sie als durch die – von den Nazis nicht umsonst verschwiegene – Syphilis und deren Nebenfolgen kontaminiert zu gelten hat. Dies klingt auf den ersten Blick schlüssig, weist aber, auf den zweiten Blick, einige Denkfehler auf. Deren wichtigster: Gesetzt – und dies Setzung zu heißen, ist, aus heutiger Sicht, eine Untertreibung – Nietzsche sei, schon von seiner Schwester und deren Ehe mit dem von Schain auf unerträgliche Weise bagatellisierten Hitlervorläufer Bernhard Förster (»an advocate of traditional German virtues free of Jewish influences«; Schain 2001: 120) her, also über Jahrzehnte hinweg systematisch nazifiziert worden, wie andernorts ausführlich und mit Folgen für die Edition von Nietzsches Briefen und Werken durch seine Schwester gezeigt (vgl. Niemeyer 2017: 331 ff.), spricht nichts dagegen, diese Nazifizierung nach 1945 durch Entnazifizierung, also mittels einer nun doch wenigstens korrekten NietzscheEdition, rückgängig zu machen. Dies gilt selbstredend auch für jene Bereiche, die die Syphilisfrage betreffen, wobei, selbstredend, endgültig vernichtete Korrespondenz, etwa jene des Dr. Eiser, verloren bleibt. Da sich Schain zu keinem dieser Punkte sachkundig äußert, wird nicht recht erkennbar, was genau er Lange-Eichbaum vorwirft. Sollte der Vorwurf auf Entnazifizierung Nietzsches qua Krankschreibung lauten, etwa durch selektive Quellenauswertung, wäre es angesichts von Schains durchaus eigenwilliger Vorgehensweise nicht weit bis zum umgekehrten Vorwurf: dem der Aufbereitung Nietzsches als Nazi-affines Gespenst qua Gesundschreibung, was als Titel eingedenk von Förster-Nietzsches Vorläuferschaft in dieser Frage den Titel The Legend of Nietzsche’s Non-Syphilis, Part II nahelegte. Zurück also, nach diesem ziemlich grausigen Intermezzo, zur Sache, zur Frage also, was sich hinter den angeblichen Leipziger Ärztebesuchen des Jahres 1868, ob sie nun erfolgten oder nicht, gleichsam als Urgeschichte verbarg: nämlich die 1901 von Nietzsches Schain nimmt auf oben bereits als problematisch qualifizierte Gerüchte Bezug, denen Lange-Eichbaum Raum gab.
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Freund Paul Deussen unters Leservolk gebrachte und später von Thomas Mann in Doktor Faustus (1947) aufgegriffene Bordellanekdote. Mehr als dies: Nietzsche hat darüber beziehungsweise über die unerwünschten gesundheitlichen Nebenfolgen eines mutmaßlich weiteren Bordellbesuchs in Köln am seinem Freund Carl von Gersdorff am 4. August 1865 Bericht erstattet, was, wie gesehen, Ernst Benda 1925 aufgriff. Vor diesem Hintergrund fällt durchaus auf, was Schain zu Benda zu erzählen weiß: nämlich nichts auf jenen Brief Nietzsche an Gersdorff vom August 1865 Bezügliches, sondern einiges Allgemeine zu Nietzsches Syphilis aus diesem sowie einem späteren Arbeit (von 1965) des Gemeinten, entstanden im US-Exil (Benda war jüdischer Herkunft und emigrierte 1935 der Nazis wegen in die USA). Im Ergebnis spricht sich Schain wegen einiger nicht interessierender Einwände gegen Benda aus. Auf entschieden mehr Sympathie trifft bei ihm Louis Corman, dessen Diagnose wir an gegebener Stelle auf sich beruhen lassen konnten, was auch für Schains Solidarisierung mit ihr (Schain 2001: 91) gilt. Ähnliches gilt für Schains argumentativ nicht wirklich schlüssig begründete Absetzung von Benda, insbesondere dessen Deutung von Nietzsches Brief an Gersdorff vom August 1865 betreffend. Vergleichbar nachlässig verfährt Schain mit Paul Deussens Bordellanekdote und ihrer Einverwandlung durch Thomas Mann. Speziell diese Nachlässigkeit hat einen Namen: Curt Paul Janz, insofern auf diesen allseits gerühmten Nietzsche-Biographen die auch für Schain erkennbar inspirierende reservierte Einschätzung dieses Vorgangs zurückgeht, die in den Vorhalt ausläuft: »Alle diese ›Probleme‹ sind nur aufgetaucht auf der Jagd der neueren Biographen nach dem Ursprung einer luetischen Infektion als der Basis für die um die Wende 1888 auf 1889 bei Nietzsche ausgebrochenen paralytischen Erkrankungen.« (Janz 1978, Bd. I: 138)
Wie gesagt: So ähnlich auch Schain, der sich durch Janz offenbar auch ermutigt sah, erst gar kein genaueres Augenmerk zu richten auf – so Janz, nicht ganz genau zitierend – »das Zarathustra-Lied ›Die Wüste wächst‹« und die Frage, ob sich in ihm »Erinnerungen an diese Bordellszene« (ebd.: 138) finden ließen (eine Frage, die uns noch beschäftigen wird). Schain, von Janz aus gleichsam aufs Ganze gehend: »Nietzsche […] never mentioned anything in either his letters or his notebooks about a diagnosis of or treatment for syphilis« – um im nächsten Argumentationsschritt den von Benda als auffällig empfun161 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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denen Brief Nietzsches an Gersdorff vom August 1865 unbesehen und dem Beispiel von Janz folgend diesem Generalbefund zu subsumieren. »Pain occured in his arms, neck, back, and finally culminated in severe headaches. These lasted for some weeks forcing him to remain in bed«, so paraphrasiert Schain die zentrale Passage jenes Briefes, um flugs als Diagnose hinzuzufügen, was hier in Erscheinung trete sei »a repeat of the ›rheumatism‹ which he had suffered in Pforta« – eine Schlussweise, die Benda schon 1925 untersagte, aber Schains Idol Janz 1978 erlaubte, dem denn auch Schains allerletzter Satz in dieser Angelegenheit zugedacht ist: »Janz suggests that Nietzsche always exhibited bodily smptoms when he was at a crossrods in his life, in this case, the significant impending move from Bonn to Leipzig.« (Schain 2001: 13) Kommen wir zu einem Fazit: Genau genommen besiegelt Richard Schain nur den Unwillen eines so breit anerkannten Nietzschebiographen wie Curt Paul Janz, der Syhilisdiagnose im Fall Nietzsche genauer nachzugehen – so genau und gründlich etwa, wie dies vor ihm Pia Daniela Volz tat. Kein Grund also, ihm, Schain noch mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden als bisher geschehen; zumal sein Alternativvorschlag – Schizophrenie – wohl nicht ganz ernst gemeint ist. Gewiss: Fast alle einschlägigen Risikofaktoren scheinen präsent, mit Schain geredet: »He was unmarried, he lived alone, he had no friends in his immediate surroundings, he lived in an unfamiliar environment, and possessed an inadequate grasp of the spoken language.« Aber schon beim Aufschreiben dieser Sätze hätte Schain auffallen müssen, dass diese ›Riskofaktoren‹ für Millionen gelten und der folgende Satz maximal dem Entertainment dient: »Like […] Dr. Jekyll who could no longer escape from Mr. Hyde, perhaps Nietzsche lost the ability to return to his old condition in which he had struggled so hard to maintain himself.« (Schain 2001: 103) Was ist anhand von Sätzchen wie diesem zu besichtigen? Meine Vermutung wäre: Die Bruchlandung eines vom Tiger zum Bettvorleger Mutierten, der am Ende gar nicht mehr weiß, warum er sein Buch überhaupt geschrieben hat und sich nicht mit Charles Andlers von ihm zitierten (ebd.: 104) Ratschlag aus Nietzsche, sa vie et sa pensée (1920–31) beschied, den kranken Nietzsche (ab Januar 1889) einfach den Psychiatern zu überlassen. Zumal man sich, und dies nun wieder ist O-Ton Schain, ja durchaus fragen könne, »whether it makes any difference if Nietzsche suffered with general paresis, chronic schizophrenia, or some type of unique dissimulatory state.« (ebd.: 104) Man sieht: Diesem Autor ist 162 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ganz am Ende gar seine Forschungsfrage abhandengekommen – wahr, aber trotzdem traurig und Grund genug für Sander L. Gilmans im Prolog bereits aufgerufenes Fazit: »You should still turn to Volz […] if you are at all interested in this question.« (Gilman 2002: 733/3).
/61 Timo Hoyer (2002): Keine Psychologie, kein Verzeihen Hoyers Dissertation Nietzsche und die Pädagogik ist hier von Interesse wegen der Pointe, Nietzsches »Spätwerkphilosophie« offenbare die Konturen eines »vernichtungsfreudigen« Denkens, »für das universale ethische Prinzipien und christlich fundierte Werte ihre Bedeutung und ihre Überzeugungskraft komplett eingebüßt haben.« (Hoyer 2002: 642) Damit sieht sich Nietzsche wieder auf jenes Maß zurechtgestutzt, das man unmittelbar nach 1945 in deutschen Sprachraum für ihn vorrätig hielt und das nach 1933 seine Nazifizierung – etwa jene durch Heinrich Härtle – erleichterte, übrigens unter Nachahmung der damals schon gängigen Strategien: dem der – so Hoyer – Weigerung, »biografische (und historische) Hintergründe […] in texthermeneutischer Absicht als Erklärungsgrundlagen heranzuziehen.« (ebd.: 26) Die Folgen dieser eher verkündeten (»Ich bin nicht bereit …«; ebd.) denn begründeten Entscheidung sind erheblich. Denn zum einen wird auf diese Weise wenig mehr zum Ausdruck gebracht als der Wille zum Diskursabbruch im Blick auf jene, die ja doch immerhin Gründe für ihr davon abweichendes Vorgehen vorgetragen haben (vgl. etwa Niemeyer 1998: XV ff.). Und zum anderen verbleibt auf Hoyers Habenseite in Sachen Methodologie auf diese Weise letztlich nichts weiter als ein etwas dürres Plädoyer für eine »immanente Lesart« der Texte Nietzsches, dessen »Lebensgeschichte« Hoyer dem Leser zwar in Gestalt einer »erziehungswissenschaftlichen Gesamtbetrachtung« respektive »Dokumentation« (Hoyer 2002: 26) darbietet, aber ohne dass ein Rückschluss erfolgt vom einen aufs andere – ein klarer Rückschritt also im Blick auf den damaligen Stand der Nietzscheforschung. Denn diese hatte um 2000, in ihrer Gesamtheit gelesen, wahrlich mehr zu bieten hat als jenen Nietzsche, den Hoyer offeriert und der dem Leser von Hoyers Buch am Ende kaum anders in Erinnerung bleiben dürfte als in Gestalt eines textverarbeitenden und -produzierenden Monstrums, das irgendwann irgendwo mit oder auch ohne irgendwen gelebt habe und dessen nicht zum Abschluss gebrachte Schriften irgendwann irgend163 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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wo von irgendwem ediert wurden – und an welchem eigentlich nur gut sei, dass es nicht mehr lebe (wenngleich selbst Nietzsches Tod, Hoyers Darstellung zum Maßstab genommen, nicht als gewiss angenommen werden darf). Die Folgen dieser Nietzsches Intentionen wie Hoffnungen großflächig ignorierenden methodologischen Vorentscheidung lassen sich allerorten studieren, etwa wenn Hoyer meint urteilen zu können, die »bösen Worte« Nietzsches über seine Mutter im Ecce homo – gemeint sind offenbar die von Nietzsches Schwester, in Zusammenarbeit mit Raoul Richter, unterschlagenen Passagen – seien »ganz und gar untypisch für das Mutter-Sohn-Verhältnis«, um erläuternd nachzutragen, dass Nietzsche dies ja schließlich »kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch« (ebd.: 110) niedergeschrieben habe. Mit diesem Zusatz wird die Fälschungspolitik der Schwester gerade in Sachen von Passagen wie diesen nachträglich geadelt. Summarisch geredet: Hoyer hat keinerlei Blick dafür, dass Nietzsches Philosophieren über Krankheit, Tod und Glaubenszweifel Themen des Biographischen variiert. Was dann allein noch bleibt, ist die systematische Skandalisierung von Äußerungen Nietzsches zu den Themenbereichen ›Vererbung und Rasse‹ (ebd.: 627 ff.) sowie ›Eugenik und Euthanasie‹ (ebd.: 634 ff.). Diese Herangehensweise an Nietzsche offenbart spätestens dort seine Unhaltbarkeit, wo Hoyer einlegt gegen das Projekt Nietzsche verstehen (vgl. Niemeyer 2011), garniert mit dem Argument, Verstehenshilfen vertrügen sich nicht mit dem von Kant herleitbaren Dogma, dass sich ein jeder jederzeit seines Verstandes ohne Leitung eines anderen befleißigen müsse (vgl. Hoyer 2012) – ein leicht durchschaubarer Versuch der Verabschiedung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit generell.
/62 Domenico Losurdo (2002/09): Keine Psychologie, kein Verzeihen! (Teil II) Bei Losurdos (1941–2018) 2-bändiger Studie Nietzsche, der aristokratische Rebell (2009) handelt es sich um die (aktualisierte) deutsche Übersetzung eines 2002 in Italien erschienenen Buches, das seinerzeit für einige Begeisterung auch in deutschen Feuilletons sorgte. Zu nennen sind beispielsweise Kurt Flasch, aber auch Ernst Nolte, der Losurdo in die Nähe von Standardwerken vom Format Charles Andler und Carl Paul Janz rückte – eigentlich erstaunlich, zumal der Au164 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
tor, »einer der profiliertesten Linksintellektuellen Italiens« (Nolte), erklärt, es sei »unfruchtbar« und zeuge für »Verstümmelung« und »Reduktionismus«, die »verschiedenen […] Aspekte der Persönlichkeit und Entwicklungsgeschichte Nietzsches auf der Grundlage einer psychologischen Interpretation verstehen zu wollen.« (Losurdo 2009: 822) Das Ergebnis ist danach, am Beispiel von im Zusammenhang der Syphilisthematik besonders – auch im Vorhergehenden – interessierenden Texten Nietzsches gesprochen: Losurdo meldet, formal in gleichsam seitenverkehrter Nachahmung der Strategie Förster-Nietzsches in Sachen sie störender anti-deutscher Passagen aus Ecce homo, einen Pathologievorbehalt an für Zitate, die nicht dem Nietzschebild korrespondieren, zu welchen er den Leser hinführen will, am hier in Rede stehenden Beispiel gesprochen: die nicht auf Bellizismus, sondern auf Pazifismus hinweisen und »auf den ersten Blick beruhigend und sogar verführerisch klingen.« (ebd.: 599) Damit scheint mir die Arbeitsweise Losurdos hinreichend umschrieben, auch in ihren negativen Folgen, bewirkt durch Verzicht auf »psychologische Interpretation« (Losurdo 2009: 990): Textexegese findet nicht mehr statt, Ziel ist der Skandal um jeden Preis. Fehler sind dann unvermeidbar, und so auch hier. Nur ein Beispiel: Alles könne man »der Schwester Nietzsches als Biographin und Herausgeberin nachsagen, nur nicht, dass sie der einige Jahrzehnte später erfolgten nationalsozialistischen Auslegung einen Dienst erwiesen habe!« (ebd.: 708) Was für ein Satz, was für eine Logik! Die nur noch getoppt wird durch jene des Maurizio Ferraris, Hitler habe zu jener Zeit, zu der Förster-Nietzsche ihren Bruder angeblich zu nazifizieren begonnen habe (1901), noch »kurze Hosen« getragen (Ferraris 2016: 40). Überlegungen wie diese breit zu treten, scheint mir indes nicht fair. Versuchen wir es also mit der Gegenthese, gerichtet auch gegen die Losurdo-Nachahmerin Kerstin Decker (2016): Förster-Nietzsche – und der Umstand, dass Losurdo als auch Ferraris sowie Decker um die meisten ihrer Fälschungen nicht zu wissen scheint, kann kein Gegenargument sein, – ließ als Biographin und Herausgeberin über Jahrzehnte hinweg nichts unversucht, um Nietzsche der nationalsozialistischen (vormals völkischen) Bewegung schmackhaft zu machen. Dazu gehörte auch ihre im Vorhergehenden an vielen Beispielen erläuterte Verfälschung der Krankengeschichte inklusive ihrer Entsorgung der Bordellgeschichte. Losurdo verliert hierzu kein Wort, und zwar aus, wie man vermuten darf, komplementären Motiven verglichen mit jenen der Nazis: Jene konnten, wie am Beispiel Heinrich 165 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
Härtle gezeigt, keinen ›verrückten‹ Nietzsche gebrauchen wegen der dadurch erschwerten Nazifizierung desselben. Und »Linksintellektuelle« können, wie schon an den Fällen S. F. Oduev und Wolfgang Harich gezeigt, keinen ›verrückten‹ Nietzsche gebrauchen, weil dies seine Abweisung als Nazi-analogen Denker erschweren würde.
/63 Leonard Sax (2003): Es war Krebs Sax’ Aufsatz What was the cause of Nietzsche’s dementia, erschienen im Journal of Medical Biography, endet mit dem Befund: »When examined closely, every aspect of the syphilis hypothesis fails.« (Sax 2003: 53) Ein erstaunliches Urteil, wenn man bedenkt, dass Sax, von Haus aus Psychologe mit einigen kulturwissenschaftlich wichtigen Beiträgen zur Genderforschung und jedenfalls alles andere als ein Nietzscheforscher, weder Paul Deussens Bordellgeschichte und ihren Weiterungen, etwa bei Thomas Mann oder der auf Februar 1889 datierten Mitschrift der Mutter (Stichwort: »22 Jahre«), nachgegangen ist noch Ernst Bendas Verknüpfung derselben mit dem 1865 er Klagebrief Nietzsches an Carl von Gersdorff oder dem ›Nasen-Notat‹ (Prolog). Des Weiteren findet sich bei Sax nicht ein einziger Hinweis auf Joachim Köhler oder Pia Daniela Volz oder die vielen Spuren in Nietzsches Werken und Briefen, die auf eine intensive Beschäftigung mit der Syphilis bzw. mit seiner Syphilis hindeuten, sei es in Gestalt von Träumen in den Frühen Schriften bezogen auf den Tod seines Vaters sowie seines Bruders – ein Thema, das Sax nicht mit einer Zeile anspricht –, sei es in Gestalt der in den Zarathustra eingegangenen Träume. In Sachen der von ihm favorisierten Altenativerklärung (Krebs) wandelt Sax auf – wie von ihm auch zugestanden – alten Bahnen, jenen Kurt Hildebrandts, lässt allerdings die Einwände außer Betracht, die gegen diesen zu erheben sind. Summarisch gesprochen wirkt dies wenig vertrauenerweckend, zumal Sax einer längst schon in Frage stehende Mär, jene vom Pferd in Turin, ungebührlich viel Raum gibt und seine nicht wirklich berechtigte Kritik an Wilhelm Lange-Eichbaum wie abgeschrieben wirkt aus Richard Schain. Unter dem Strich: Dies sind keine guten Voraussetzungen, um eine Ausschlussdiagnose in puncto Syphilis riskieren zu können.
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
/64 Deborah Hayden (2003): Nietzsche war Syphilitiker, wie so viel Geniale (Teil II) Haydens Studie Pox. Genius, Madness, and the Mysteries of Syphilis kommt von Fragestellung und Ansatz her dem hier verfolgten Anliegen recht nahe. Von den im Vorhergehenden behandelten und noch zu behandelnden Arbeiten erinnert Haydens Ansatz an Ernst Bäumlers (1976) sowie Brunold Springers, auch an die germanistische Dissertation Anja Schonlaus. Ähnlich wie im vorliegenden Buch sowie vergleichbar mit Schonlau rückt auch Hayden Nietzsches Syphilis in den Kontext derjenigen anderer, wie – um die auch im vorliegenden Buch Interessierenden herauszustellen – Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant sowie Oscar Wilde, und zwar gleichfalls mit kritischer Intention gegenüber dem (jeweiligen) Mainstream, wie die Bemerkung aus dem Epilog deutlich macht: »So many biographers have ignored the theme of syphilis and health in general as if it were irrelevant, or in order to avoid sullying a memory […], or because of the indelicacy of veneral disease […].« (Hayden 2003: 318) Insoweit überrascht nicht, dass das Urteil über Nietzsche Syphilis und deren Nicht-Thematisierung weitgehend auf eine Zustimmung zu Pia Daniela Volz hinausläuft und Volz’ Kontrahent Richard Schain lediglich gelistet wird. Besonders lesenswert und wichtig für das vorliegende Buch: Haydens Analysen zu Baudelaire (s. III/7), Flaubert (s. III/8) und Maupassant (s. III/12), allerdings ohne Berücksichtigung der jeweiligen Lesarten Nietzsches. Erhellend auch der Abschnitt zu Hitler.
/65 Anja Schonlau (2005): Nietzsche war Syphilitiker, wie so viel Geniale (Teil III) Schonlaus germanistische Dissertation Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880–2000) erinnert am ehesten an die vorgenannte Studie sowie jener von Jean Goens (1995) als auch derjenigen von Brunold Springer: Wie für diese drei ist auch für Schonlau Nietzsche nur ein Thema unter vielen, ein Syphilitiker unter vielen, wie – um nur einen besonders prominenten Namen zu nennen – Guy de Maupassant (s. III/12). Dies meint: Dessen als auch Nietzsches Syphilis steht für Schonlau nicht in Frage, sondern zur Diskussion, und zwar ansatzweise auch im entsprechend sensibilisier167 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ten Rückblick auf das Werk. Wichtig ist auch Schonlaus über den Leitfaden Syphilis organisierte Durchsicht zentraler Nietzschebiographien (1897 bis 2000, leider unvollständig) mit sehr klugen Anmerkungen im Detail sowie für Nietzsches Schwester recht desaströsem Befund: Sie war, daran erlaubt Schonlau keinen Zweifel, die treibende Kraft im Chor der Abwiegler (vgl. Schonlau 2005: 155 f.)
/66 Christiane Koszka (2009/10): Es war MELAS Koszkas 2010 auch in den Nietzsche-Studien erschienener Aufsatz MELAS (Mitochondriale Enzephalomyopathie, Laktazidose und Schlaganfall-ähnliche Episoden). Eine neue Diagnose von Nietzsches Krankheit ist ein rein fachmedizinisch-augenärztlicher und wurde ohne jedes tiefere Wissen um Nietzsche und damit die in diesem Buch ausführlich zur Darlegung gebrachten vielfältigen Sachverhalte geschrieben. Insoweit steht er, wie im Prolog angedeutet, für eine Fragwürdigkeit in wissenschaftsethischer und -soziologischer Hinsicht und weist damit auf Fragestellungen hin, die zu richten sind an die Adresse der sich diesem Text gegenüber öffnenden Publikationsorgane, zu denen, was die englischsprachige Fassung von 2009 angeht, auch das Journal of Medical Biography. Immerhin fiel, was die Edition in den Nietzsche-Studien angeht, das Urteil zweier Fachleute vernichtend aus (s. 70, 71), und zwar so sehr, dass die Autorin, eine Wiener Augenärztin, auf eine Gegenreplik verzichtete.
/67 Malcolm Bull (2011): Keine Psychologie, kein Verzeihen (Teil III) Bulls Anti-Nietzsche steht in der vom Verfasser, einem in Oxford lehrenden Kunsthistoriker, freudig aufgerufenen Tradition des Domenico Losurdo und anderer neuerer Nietzschehasser und macht folgerichtig wenig Federlesens mit (politisch korrekten) Urteilen der Art: »His [Nietzsches; d. Verf.] plan for new forms of slavery is a reponse to its recent abolition in the United States, and includes realistic suggestions for its implementation.« (Bull 2011: 29) Desgleichen, ad personam: »Nietzsche was an amoral, irrationalist, antiegalitarian who had no respect for basic human rights.« (ebd.: 30) Unter diesem Leitmotiv offeriert Bull in der Folge eine harsche Kritik 168 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
einzelner Aussagen Nietzsches, in weit überwiegender Mehrheit solche aus der von W. Kaufmann und R. J. Hollingdale besorgten Edition The Will to Power, basierend auf Förster-Nietzsches Edition Der Wille zur Macht (1906). Die Präferenz für diese Textgrundlage soll erkennbar Empörungsgesten forcieren aus der Perspektive des seiner moralischen Empfindungen Gewissen. Was indes so gut wie komplett fehlt, ist ein Seitenblick auf den Stand der Nietzscheforschung und das hier an sich wohlfeil, etwa qua Nietzsche-Lexikon (2009/2011), zu ergatternde Gegenargument bezogen auf speziell diese Edition, wonach Nietzsche seine über fünf Jahre hinweg gesammelten Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht schließlich ad acta legte und nicht zur Veröffentlichung bestimmte. (vgl. NieLex2 [Niemeyer]: 427 ff.) Diesen Willen des Autors – wenn schon nicht zur Macht, sondern zum Werk – muss man, auch dies aus Gründen politischer, noch drängender aber: aus wissenschaftlicher Korrektheit respektieren, darf ihn jedenfalls nicht ignorieren, wie für seine politisch rechte Schwester nachweisbar, desgleichen für einen sich offenbar politisch links einordnenden Leser namens Bull. Dem das fragwürdige Agieren von Nietzsches Schwester nicht eine Zeile wert ist, ebenso wenig wie die zahllosen Briefe und Briefentwürfe Nietzsches des Jahre 1888, die der Sorge Nietzsches um die Wiederkehr seines ihm als Wagnerianer eigenen Fanatismus gewidmet sind.
/68 Helmut Koopmann (2012): Die Bordellgeschichte wird entsorgt (Teil III) Koopmanns Aufsatz Syphilis. Wie ein Wort Nietzsche zu einer Krankheit verhalf, an der er nicht litt, und Thomas Mann zu einem Romanstoff, den er sonst kaum gegeben hätte überrascht zunächst einmal durch die Dezidiertheit, mit der, zumindest per Titel, die Syphilisdiagnose verneint wird. Zumal hier nicht ein Mediziner redet, sondern ein Germanist – allerdings ein ausgezeichneter, vor allem als Thomas-Mann-Forscher auffällig gewordener. Was den Zusatz erfordert, dass im Folgenden nur Koopmanns Argumente zu Nietzsche interessieren. Die Frage lautet dabei, warum Koopmann das Risiko einging, sich eben dieser Dezidiertheit wegen zu blamieren, im Vergleich etwa zu der durchaus denkbaren und auf der letzten Seite seines Textes verwendete Alternativformulierung, er, Koopmann, halte die Syphilisdiagnose im Fall Nietzsches »mit größter Wahrschein169 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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lichkeit« (Koopmann 2012: 175) für nicht hinreichend begründet. Um in medias res zu gehen: Welches sind die Gründe, die Koopmann zu der Annahme bewegen, Nietzsche habe nicht an Syphilis gelitten? Die Antwort fällt enttäuschend aus, insofern Koopmann letztlich nichts weiter aufzulisten vermag – etwa den »langen Überlebenszeitraum […] nach gestellter Diagnose« – als dasjenige, was immer schon gegen die Syphilisdiagnose vorgetragen und bequem mittels des Arguments vom ›atypischen Verlauf‹ ins Abseits gedrängt werden konnte (und weiterhin kann). Entscheidend aber ist, dass Koopmann sich mit seinem Argument, der Umstand, »dass Nietzsche bereits als Kind alle Symptome ausbildete, die dann zum Ausbruch seiner Krankheit führten und manifest wurden«, sei nur dann plausibel, wenn man annähme, »dass Nietzsches Vater Syphilitiker gewesen sei und das Kind sich früh bei ihm infiziert habe«, keineswegs so zum Lachen ist, wie Koopmann mittels seines selbstgewiss vorgetragenen »Dafür gibt es aber nicht den geringsten Beweis« (Koopmann 2012: 157) suggeriert, im Gegenteil: In der Nietzscheforschung (etwa Niemeyer 1998: 79 ff.) wird genau diese lachhafte Hypothese längst schon sehr ernsthaft diskutiert, aber selbstredend nicht mit dem Interesse, eines Beweises für die Syphilis auch von Nietzsches Vater habhaft werden zu wollen, sondern orientiert an der Überlegung, dass Nietzsches subjektive Krankheitstheorien in diese Richtung weisen. Kaum akzeptabel ist auch Koopmanns Rekonstruktion der von Thomas Mann in Doktor Faustus (1947) aufgegriffenen Bordellanekdote Paul Deussens. Ein Bordellerlebnis, »das keines war«, heißt es dazu apodiktisch bei Koopmann, sowie: »Deussen […] kann sich nur auf Nietzsches eigenen Bericht stützen. Alles andere sind vage Andeutungen.« (Koopmann 2012: 160) So locker hat, wie hier zu erinnern ist, noch nicht einmal Nietzsches Schwester die Sache genommen – und eben deswegen die Aufmerksamkeit auf einen der damals dabei mutmaßlich Beteiligten gelenkt, Ernst Schnabel nämlich. FörsterNietzsche freilich war für Koopmann vermutlich eine Quelle unter Niveau. Und dass man bei Fragen wie diesen über den Tellerrand (in diesem Fall: Deussen) schauen muss, versteht sich wohl von selbst und zeigt der von Koopmann gleichfalls missachtete Name Clemens Ernst Benda und mithin das Jahr 1925: Seitdem gibt es nicht nur ›vage Andeutungen‹, sondern einen von Benda geltend gemachten sehr aufschlussreichen Brief Nietzsches an Carl von Gersdorff. Koopmann erwähnt weder diesen Brief noch Bendas Auslegung desselben noch das von Hellmut Walter Brann ins Spiel gebrachte und von Thomas 170 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Mann adaptierte Zarathustra-Lied Unter Töchtern der Wüste und die Diskussion um es (s. II.2/4) – nicht sehr vertrauenerweckend, sondern eher dem Typus dogmatisierender Kritikimmunisierung zugehörig, die eines jedenfalls nicht zu leisten vermag: Erkenntnisfortschritt. Was Koopmann ansonsten noch gegen die Syphilisdiagnose anzuführen weiß, ist entweder – dies gilt etwa für das von Christiane Koszka eingebrachte MELAS-Syndrom – inzwischen widerlegt, etwa durch Thomas Klopstock sowie Roland Schiffter. Oder aber es ist ohne jede Relevanz, wie etwa Koopmanns Berufung auf Heinrich Köselitz in Sachen der die Syphilisdiagnose abweisende Urteile (vgl. Koopmann 2012: 159) – ohne dass beachtet wird, dass Köselitz sich schon 1900, nachdem er ins Lager der Schwester übergelaufen war, durch Mitwirkung an der Unterschlagung der Eiser-Korrespondenz kompromittiert hatte und seit Heinrich Möller – dem Thomas Mann allerdings ein von Skepsis getragenes Denkmal setzte – als (verschwiegener) Kronzeuge gelten muss. Kaum weniger fragwürdig: Koopmanns Hinweis auf Sigrid Montinaris »freundliche Mitteilung«, ihr verstorbener Gatte, einer der beiden Herausgeber der neuen Kritischen Nietzsche-Ausgabe, sei der »festen Überzeugung« gewesen, »dass Nietzsches Erkrankung nicht syphilitischen Ursprungs gewesen sei.« (ebd.: 159) Das ist Wissenschaft qua Autorität, nicht qua Autorisierung durch das bessere Argument.
/69 Tobias Dahlkvist (2012/14): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (Teil III) Dahlkvists Aufsatz Genie, Entartung, Wahnsinn will Nietzsche gemäß seiner Nachlassnotiz vom Frühjahr 1888 (»Die m o d e r n e n P e s s i m i s t e n als décadents«; XIII: 395) auf der auf »wahnsinnige Genies im Sinne der romantischen Tradition« abzielenden, zeitgenössisch dominierenden Zurechnungsart herausnehmen zugunsten der neuen, ganz »der Medizin seiner Zeit« entsprechenden, auf die Figur des ›décadent‹ abstellenden Betrachtung des Denkens und Schaffens als »Entartungssymptom« (Dahlkvist 2012: 176 f.). Das Problem: Dahlkvist übersieht, erstens, dass bei immerhin vier von sechs Namen (»Schopenhauer Leopardi Baudelaire Mainländer Goncourt Dostoiewsky«) in jener Nachlassnotiz die Syphilis, zumindest als Verdacht, in Betracht kommt, nämlich bei Schopenhauer, Leopardi, 171 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
Baudelaire und Goncourt. Selbst wenn die Syphilisdiagnose im Fall Leopardi unsicher sein mag und selbst wenn nur hochwahrscheinlich ist, dass Nietzsche hier Jules de Goncourt, den Syphilitiker, meinte, nicht aber seinen Bruder Edmond, den Nichtsyphilitiker (der Kommentarband der KSA bietet hier keine Hilfe), gibt es doch keinen nachvollziehbaren Grund, diesen Punkt, so wie Dahlkvist dies tut, außer Acht zu lassen. Dies gilt umso mehr, als einiges für die Annahme spricht, Nietzsche habe im Fall von Edmond de Goncourts Roman La Faustin die décadence-Hypothese nur deswegen stark gemacht, um von der diesen Roman durchziehenden und auf den Syphilistod von Jules de Goncourt anspielenden Syphilisthematik ablenken zu können. (s. III/9) Dahlkvist hat keinerlei Blick für diese Thematik, und er erklärt auch nicht, was eigentlich der Vorteil der von Nietzsche präferierten Zurechnungsart in Richtung der Theorie der Dekadenz für diesen selbst war. Deutlicher: Dahlkvist schließt sich offenkundig Nietzsches in jenem Nachlassnot angedeuteter Auffassung an, diese Theorie erlaube den Verzicht auf den »geschmacklosen Versuch«, die ›modernen Pessimisten‹ »unter die Geisteskranken zu subsumiren« (XIII: 395). Sicherlich: Gesetzt, Nietzsche antizipiere hier sein zehn Monate später Realität werdendes Schicksal, kann man für diese insofern gleichsam sprachregulative Korrektur in allerletzter Minute ein gewisses Verständnis aufbringen. Allerdings ist auch hier ein Aber angebracht: Als ›décadent‹ gelesen – dies hätte Nietzsche fraglos aus Paul Bourget (1852–1935) Theorie der Dekadenz lernen können –, bestand für Nietzsche die Gefahr, nach seinem geistigen Zusammenbruch als eine Art quantitée négligable gelesen zu werden bezogen auf eine als Organismus gelesene »Gesellschaft, welche eine zu große Anzahl der Individuen hervorbringt, die für die Arbeit des gemeinsamen Lebens ungeeignet sind.« (Bourget 1883/1993: 170) Wenn diese Einsicht – und Bourget lässt keinen Zweifel daran – Kern (s)einer Theorie der Dekadenz sein soll, bleibt nur zu sagen, dass Nietzsche über diesen Kern bereits 1880 verfügte, als er sich, erkennbar wieder im Sog einer damals, ein Jahr nach seiner krankheitsbedingten Aufgabe seiner Basler Professur, wieder einmal aktuellen Verunsicherung über seinen Krankheitszustand, notierte: »Die Gesellschaft muß ihrer so sicher werden, daß sie eine leidliche Summe Verbrechen ertragen kann, ohne im Ganzen dadurch gestört zu werden«,
was man wohl variieren darf in Richtung des Subtextes:
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
›…, dass sie mich, einen womöglich bald unheilbar Kranken, ertragen kann.‹
Mit dem gleich nachfolgenden Satz, wonach die »moralische Beurtheilung der Menschen […] eine Art Rache-nehmen« (IX: 65) sei, hat sich Nietzsche, wohl wieder infolge des Nachdenkens über sich selbst als Krankheitsfall, das zweite Schwert geschmiedet, das er, Dahlkvist zufolge, im Frühjahr 1888 aktivieren wird, um gegen die ›geschmacklose‹ Zurechnung der Abweichenden unter die Geisteskranken und für deren Subsumtion unter die ›décadents‹ zu streiten – dies, wie wir nun resümieren müssen, in der Absicht, das eigentliche Geheimnis hinter speziell seiner eigenen Dekadenz nicht zum Thema machen zu müssen: die Syphilis. Und, nicht zu vergessen: um Platz zu schaffen für die von den Verfechtern der ›décadene‹-Hypothese ersehnte Option, dass es nicht nur den gemeinen Wahnsinn gäbe, sondern auch den komplizierten, den der ihrer Zeit weit vorauseilenden Erkunder des Neuen. Dem korrespondiert, jedenfalls vom Ergebnis her, Dahlqvists zwei Jahre später vorgelegter Handbuchartikel Nietzsche and medicine (2014). Auffällig an ihm: Es werden zahlreiche Diagnosen oder jedenfalls doch Problembereichen wie »migraine«, »indigestions«, »at times […] approached full blindness« genannt. Erwähnt wird auch Nietzsches auf seinen Vater bezügliche Sorge wegen einer »hereditary neurological condition.« (Dahlkvist 2014: 138) Ansonsten aber verliert der Autor hier wie schon in seiner Studie von 2012 nicht ein Wort über die Syphilis. Dazu passt Dahlkvists Pointe, »that Ecce homo, to my mind, was Nietzsche’s Essais.« (ebd.: 153) Gemeint ist hiermit Michel Eyquem de Montaignes (1533–1592) vielgelobtes und wunderbar gelassenes Hauptwerk, das Nietzsche als Heilmittel gegen den Pessimismus zu schätzen wusste. (vgl. NLex2 [Vivarelli]: 249) Der Vergleich zwischen Nietzsche und Montaigne liegt also nahe, trifft aber nur einen Nebenaspekt, nicht die Hauptsache: Nietzsche wollte mit seinen an Montaigne erinnernden Passagen aus EH schlicht beglaubigen, was ihm seit MA als zentraler Programmsatz seiner antimetaphysischen Forschungsprogrammatik galt: »Wir müssen wieder g u t e N a c h b a r n d e r n ä c h s t e n D i n g e werden« (II: 550 f.) – ein Satz, wie wir nun erst sehen können, dessen Geist Nietzsche zuwiderhandelte, insofern er sein ›nächstes Ding‹ Syphilis unerwähnt ließ bzw. hinter der gelassenen Attitüde à la Montaigne verbarg. Ergo: Indem Dahlkvist dies nicht erkennt, missachtet er den 173 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
Subtext der vermeintlich anti-metaphysischen Rede Nietzsches aus EH und gibt der »décadence«-Hypothese neuen Auftrieb.
/70, 71 Roland Schiffter & Thomas Kopstock (2013): Es war kein MELAS Schiffters Buchkapitel Friedrich Nietzsche (vgl. Schiffter 2013: 46 ff.) mit der ihm eingefügten Kritik an Christina Koszka, separat auch in den Nietzsche-Studien veröffentlicht (vgl. Schiffter 2013a), zusammen mit jener ihm ähnlichen von Thomas Klopstock (2013), bezeugt das (seltene) Interesse eines arrivierten Neurologen für das von Paul J. Möbius beackerte Genre der Pathographie. An Möbius erinnern auch die zahlreichen pejoativen Vokabeln im werkanalytischen Bereich bezogen auf »pathologische Passagen« in Ecce homo: »absonderlich«, »abnorm«, »verquast«, »unverständlich«, »krankheitstypisch«, »paranoid«, »verstiegen«, »verworren«, »widersprüchlich« dominieren im adjektivischen Bereich, und im substantivischen Vokabeln wie: »Selbstüberhöhung«, »Größenideen«, »Größenwahn«, »Euphorie«, »Hass« sowie »Verwirrtheit« – dies alles auf nur zwei Seiten und korsettiert von wiederum an Möbius erinnernde rhetorische, jedenfalls hochsuggestiver Fragen wie: »Was, bitte schön, soll mit diesem Satzungetüm gesagt sein?« (Schiffter 2013: 68) Gerade weil derlei pejorativer Umgang mit Nietzsche, wie das Beispiel Möbius lehrt, nicht für eine Ausnahme steht und auch bei Jutta Georg-Lauer (2013) auffällig ist (vgl. Niemeyer 2016a), wird man hier von einem intuitiv womöglich einleuchtenden, wissenschaftlich betrachtet aber inakzeptablen, nicht Nietzsche adäquaten und, summarisch betrachtet, nicht weiterführenden Umgang mit Nietzsche Texten zu sprechen haben, der einem renommierten Neurologen wie Schiffter genausowenig zur Ehre gereicht wie Zitationsgewohnheiten vom Typ »siehe Internet – Google 2013« (ebd.: 77). Was die Hauptfrage angeht, Nietzsches Syphilis – ein anderes Interessensgebiet dieses Neurologen ist Heinrich Heine (vgl. Schiffter 2006) –, hält Schiffter, der sein Wissen über Nietzsches Krankheit im Wesentlichen aus dem Standardwerk von Pia Daniela Volz bezieht, die Spätphase Nietzsches ab 1888 für derart »charakteristisch für eine progressive Paralyse, also Syphilis, dass die Rekonstruktion der Frühphase fast entbehrlich ist.« (Schiffter 2013: 62) Indes: Das aus dieser Spätphase stammende Nasen-Notat vom Sommer 1889 174 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
wird von Schiffter, wie im Prolog gezeigt, unterkomplex thematisiert. Und in Sachen der ›Frühphase‹ ignoriert Schiffter die Bordellgeschichte Deussens und deren ferneres Schicksal, etwa ihre Entsorgung durch Nietzsches Schwester, ihre syphilisdiagnostische Einverwandlung durrch Enst Benda oder ihre literarische Ausgestaltung durch Thomas Mann. Schlimmer: Diese Bordellgeschichte wird letzlich für unwichtig erklärt mittels des spekulativen und im Kern forschungsnegierenden Beschlusses: »Er [Nietzsche; d. Verf.] hat wohl lebenslang nichts davon gewusst, [sich, wie behauptet, 1864/65 oder 1865–67 mit Syphilis angesteckt zu haben; d. Verf.] und es ist bei der Datenlage müßig, hier weiter zu spekulieren.« (ebd.: 61)
Vergleichbar harsch wird, wie im Prolog bereits angedeutet, Christiane Koszkas These abgewiesen, Nietzsche habe an dem seltenen erblichen MELAS-Syndrom gelitten. Schiffter subsumiert diese These den auch im Fall des Syphilitikers Heinrich Heine zu beobachtenden Versuchen, eine »diagnostische Wende« (ebd.) zu Lasten der als anrüchig geltenden Syphilisdiagnose herbeizuschaffen. Seriös, so will mir scheinen, geht anders.
/72 Reto Winteler (2014): Nietzsche hat nur simuliert (Teil III) Wintelers Studie Friedrich Nietzsche, der erste tragische Philosoph. Eine Entdeckung (2014) wird von ihrem Untertitel her erst ganz verständlich, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass Winteler als »[s]eine ›Entdeckung‹« (Winteler 2014: 212) gerne die Diagnose zur Anerkennung gebracht haben möchte, Nietzsche sei weder plötzlich noch schleichend und schon gar nicht als Ergebnis einer Syphilis wahnsinnig geworden, sondern habe, »den Wahnsinn als […] M i t t e l « (ebd.: 213) ergriffen – deutlicher und im an dieser Stelle durchbrechenden pathetischen Duktus: »Um es endlich ganz deutlich zu sagen, worauf ich (worauf es …) hier hinaus will: Nietzsches Wahnsinn ist nicht etwas, das plötzlich über ihn hereingebrochen wäre und sich schleichend in ihm vorbereitet hat: Nietzsche ist wissentlich-willentlich in diesen Wahnsinn gegangen.« (ebd.: 211)
Um an dieser Stelle vergleichbar deutlich zu antworten: Wintelers Entdeckerfreude an dieser Stelle in allen Ehren – den Fakten nach ist
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I · Nietzsches Syphilis
sie allerdings dem Glück des Unwissenden vergleichbar. Winteler ist nämlich schlicht entgangen, dass es sich hier um eine ganz alte Mär handelt, zurückgehend, zu in etwa gleichen Teilen, auf Franz Overbeck sowie Heinrich Köselitz – hier unter Verweis auf einen analogen Verdacht Bettina von Arnims gegenüber Hölderlin und freigesetzt durch dessen ihn, Köselitz, an Nietzsches Verhalten in der Irrenanstalt erinnerndes Gebaren gegenüber Gästen. (vgl. Podach 1930: 135 f.) Später, zu DDR-Zeiten, erfreute sich eine damit durchaus vergleichbare Mär einer gewissen Anerkennung bei veritablen Nietzscheverächtern (vgl. Niemeyer 1998: 71), und zwar inklusive aller auch von Winteler (2014: 212) aus Nietzsches Morgenröthe hergeleiteten Rechtfertigungen, den Umstand betreffend, dass, Nietzsche zufolge, überlegenen Geistern ihres Erfolges wegen »Nichts übrig [bleibt], als sich wahnsinnig zu stellen oder zu machen.« (III: 27) Zu denken ist hierbei vor allem an den Fall Lutz Gentsch. Der dort erhobene Vorwurf gegen diesen gilt denn auch ohne Abstriche in Beug auf dessen (unwissenden) Plagiator: Wie Gentsch liest nun auch Winteler Nietzsches eben angeührten Satz aus Morgenröthe als Teil eines Masterplans, den Nietzsche mit seinem geistigen Zusammenbruch vom Januar 1889 in Wirksamkeit gesetzt habe, um diesem Plan dann elf Jahre lang die Treue zu halten (eine Idee, die im fiktionalen Raum erlaubt ist, in wissenschaftlichen Texten aber nichts zu suchen hat). Kaum weniger glücklich verhält es sich mit Wintelers Zentralthese, die »akademische Philosophie« möge Nietzsche doch endlich als einen »Philosophen e i g e n e r A r t « (Winteler 2014: 9) ernst nehmen, eben als »tragischen Philosophen« (eine Selbstcharakterisierung, die Nietzsche in seinen drei Monate vor seinem geistigen Zusammenbruch verfassten Erläuterungen zur Geburt der Tragödie aus Ecce homo einführt). Im Interesse des Erfolgs dieser seiner Lesart läuft Winteler im Verlauf seiner Studie geradezu Sturm gegen die – in Kreisen ›akademischer Philosophen‹ nicht wohlgelittene – Syphilisdiagnose, allerdings ohne der wichtigsten für sie sprechenden Argumente überhaupt nur Erwähnung zu tun. Vergebens sucht man nach Hinweisen auf Paul Deussens Bordellmär von 1865 und deren Fortbildung durch Thomas Mann sowie durch Zarathustra in Unter Töchtern der Wüste. Auch das Schopenhauer-Erlebnis und die darauf bezüglichen Briefe Nietzsches bleiben unerwähnt, ebenso wie in diesem Kontext wichtige und noch von Richard Schain, wie gesehen, erwähnte wichtige Namen wie Clemens Benda oder Wilhelm LangeEichbaum. Und was das von Winteler aufgerufene »zentrale Indiz« 176 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
angeht, bleibt viel Lärm um Nichts: Winteler sieht Nietzsches Angabe während seines Aufenthalts in der Basler Klinik vom 17. bis 17. Januar 1889, er habe sich »›zweimal specifisch inficiert‹« allen Ernstes durch Nietzsches 1877er Erklärung gegenüber Otto Eiser für widerlegt, er sei »›nie syphilitisch gewesen‹« (zit. n. Winteler 2014: 133), in Übersetzung geredet: Winteler folgt auch in dieser Frage Richard Schain und stützt so sowohl Eisers Kunstfehler als auch Förster-Nietzsches Vernichtung der Eiser-Korrespondenz, mehr als dies: ignoriert, wie Schain, wesentlich zentralere Indizien für die Syphilisdiagnose, etwa die Einträge im Jenaer Krankenjournal, darunter das ›Nasen-Notat‹. Damit aber nicht genug: Selbst Wintelers vergleichsweise eigenständige Annahme, wonach Nietzsche kein »besonderes Interesse« an der Syphilis gezeigt habe, insofern er sich ja über sie »anhand der in seinem Besitz befindlichen Bücher hätte informieren können« (Winteler 2014: 133), ist unhaltbar, insofern diesem Schluss keine Prüfung dieser Bücher zugrunde liegt und unbeachtet bleibt, dass fehlende Annotationen keinen sicheren Rückschluss auf nicht stattgehabte Lektüre erlauben. Als sehr wahrscheinlich haben wir beispielsweise im Prolog im Zusammenhang des Jenaer Nasen-Eintrags von 1891 Nietzsches Jahre zuvor stattgehabte Lektüre des in seinem Besitz befindlichen Compendium der praktischen Medicin gehalten, das im Index das Stichwort »Nasensyphilis« ausweist. (vgl. Kunze 71881: 419) Was Winteler ansonsten noch zugunsten seiner Lesart vorzutragen vermag, ist Richard Schain (2001), den er unter seinem Satz, dass »vieles« (Winteler 2014: 134) gegen die Syphilisdiagnose spreche, subsumiert und gegen Pia Daniela Volz’ (2004: 179) Vorwurf in Schutz nimmt, er, Schain, könne seinerseits seine Alternativdiagnose (Schizophrenie) nicht plausibilisieren. Hier wie dort verläuft diese Inschutznahme allerdings nicht argumentativ, sondern qua Argumentersatz, also per endloser Schain-Zitate. Nicht eines der von Volz vorgetragenen oder im Abschnitt zu Schain angeführten Argumente gegen Schain wird von Winteler erkannt respektive anerkannt. Ersatzweise – dies ist Wintelers zweiter Schritt nach seinem Bekenntnis zu Schain – läuft er Sturm gegen die vom Verfasser übrigens schon lange und nicht erst in dem von Winteler kritisierten Text (Niemeyer 2011: 22 ff.) verfochtene »Behauptung, am syphilitischen Ursprung von Nietzsches (Geistes-)Krankheit sei nicht zu zweifeln.« (Winteler 2014: 134) Im Einzelnen führt er gegen diese Behauptung aus, Nietzsche habe im Zuge der »Abklärung seiner Krankheit(en) […] die 177 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Syphilis offenbar nie auch nur in Betracht gezogen«; Nietzsche zeige kein »besonderes Interesse an dieser damals weit verbreiteten heimtückischen Krankheit.« (ebd.: 133) Beide Feststellungen sind, wie oben schon angedeutet, falsch, was wegen des bereits gegebenen Hinweises auf die seit 1998 der Rezeption Wintelers harrenden Argumente in Sachen von Nietzsches ›subjektiven Krankheitstheorien‹ (vgl. Niemeyer 1998: 68 ff.) nicht extensiv widerlegt muss, sondern mittels der hier wie dort formulierten und am Material untermauerten Gegenthese, die wie folgt lautet: Die Primärliteratur, namentlich der Nachlass des späten Nietzsche, bezeugt ein ganz außergewöhnliches Interesse Nietzsches an diesem Themenkomplex, das ganz offenbar zusammengehalten wird von der diesbezüglichen Erkrankungsfurcht Nietzsches, wenn nicht gar: des Wissens um seine Krankheit, zutage tretend in jenem einleitend erwähnten Eintrag aus dem Jenaer Krankenjournal vom Sommer 1891 (Stichwort: Nase). Als besonderes Problem des hier zu diskutierenden Autors ist abschließend herauszustellen, dass Nietzsche sich ausgerechnet im Nachgang zu jener Stelle aus EH, GT 3, an welcher sich Nietzsche, Reto Winteler (2014) zufolge, als der »erste t r a g i s c h e P h i l o s o p h « (VI: 312) ausweist, eine »neue Partei des Lebens« heraufbeschwören, welche »die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen.« (VI: 313) Nietzsche skizziert hier, wie noch im werkinterpretatorischen Teil genauer darzustellen sein wird (s. V.2/5), ein auf einhundert Jahre (also bis 1988) hin kalkuliertes Programm vom Typ ›Erbgesundheitslehre‹ respektive ›Euthanasie light‹, das sich im Wesentlichen aus Sorge vor jener Krankheit erklärt, die Winteler als auf den Fall Nietzsche nicht zutreffend wortreich in Abrede stellt: Syphilis. Genau genommen haben wir es also mit einer Art Doppelskandal zu tun: dem ›einfachen‹ in Gestalt skandalöser, weil NS-affiner Äußerungen Nietzsches insbesondere in EH, GT 4 – aber auch mit einer Art Metaskandal derart, dass Winteler bei seinem Buhlen um der Philosophen Gunst pro Nietzsche diesen Skandal und das ihn bedingende Motiv, eben Nietzsches Syphilis, ausblendet.
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Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
/73 Martin Poltrum (2016): Nichts Genaues weiß man (ich) nicht (Teil II) Poltrum thematisiert in seinem Handbuchartikel Philosophie als Arzneimittel im Dienste des wachsenden und kämpfenden Lebens auch Nietzsches Reflexionen über Gesundheit, Krankheit und Genesung, ohne dass die Syphilis Nietzsches, die diesen Reflexionen ihre Dramatik gab, angesprochen wird. »An welchen Störungen Nietzsche genau litt«, meint der Autor, wie zur Entschuldigung, »bleibt ein Stück weit ungeklärt. Die Literatur und Krankengeschichte zum Fall Nietzsche ist immens und die Anzahl der unterschiedlichsten Diagnosen, die er im Laufe der Jahre posthum umgehängt bekommen hat, ist ebenfalls sehr groß.« (Poltrum 2016: 367) Dieser Kapitulationserklärung aus der Feder eines Dozenten der Sigmund Freud Privat Universität Wien folgt noch die Forderung nach Erforschung von Nietzsches »subjektiven Krankheitstheorien« (ebd.), leider unter Vernachlässigung des Umstandes, dass dies seit gut zwanzig Jahren (vgl. Niemeyer 1998: 68 ff.) geschieht.
/74 Werner Stegmaier (2016): Die Syphilisfrage ist zweitrangig (Teil IV) Stegmaier thematisiert in seinem Artikel Über Gesundheit und Krankheit im außermoralischen Sinn Nietzsches diesbezügliche Reflexionen, ohne dass die Syphilis Nietzsches, die diesen Reflexionen ihre Dramatik gab, angesprochen wird, geschweige denn die Krankengeschichte Nietzsches insgesamt. Geradezu demonstrativ negierend heißt es hierzu in einer Fußnote zu einem eher theoretischen Artikel von Pia Daniela Schnücker (= Volz) zur Salutogenese (vgl. Schmücker 2012), in welchem dies gleichwohl geschah: »Im Übrigen stellt sie noch einmal Nietzsches Leidensgeschichte dar« (Stegmaier 2016: 47) – ein Satz, der ganz so klingt, als sei dies eigentlich überflüssig gewesen und der, darüber hinaus, dem anti-biographischen Apriori korrespondiert, der für Stegmaiers Zugang zu Nietzsche typisch ist (vgl. Niemeyer 2017: 69 ff.), aber fundamental Nietzsches Projekt einer »Psychologie des Philosophen« widerspricht. (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 316 ff.) Insoweit überrascht wenig, dass Stegmaier, wie schon im Prolog gezeigt, eine zureichende Begründung dieses Apriori nicht gelingen will, so dass nicht die Geltung, sondern 179 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
nur die Funktion desselben als Teil der Zwecke Stegmaiers außer Frage steht: Nietzsches medizinspezifische Aussagen sollen offenbar als auf Augenhöhe mit anderen – insbesondere Michel Foucault – befindlich konzipiert und von den ihnen anhaftenden Eierschalen ihrer Entstehung befreit zur Geltung gebracht und auf diese Weise in eine gleichsam »außermoralische« Sphäre entrückt werden. An sich eine löbliche Absicht im Dienst des Prinzips ad rem – nur, wie gesagt: sie ist nicht mit Nietzsche vereinbar und findet sich denn auch nicht, um nur zwei Beispiele aus diesem spezifischen Diskursumfeld zu nennen, bei Thomas A. Long oder Diana Aurenque. 62 Im Übrigen führt das anti-biographische Apriori nicht wirklich weiter, wie am hier in Rede stehenden Text gezeigt werden kann: Stegmaier versucht, speziell Nietzsches medinzinethische Überlegungen dem von Foucault geprägten, »Schauder erregenden Begriff der ›Bio-Politik‹« zuzurechnen, also auch der dunklen Seite derselben jenseits von Seuchenbekämpfung oder Impfkampagnen, die »in staatlich organisierte Eugenik […] ausufern kann.« (Stegmaier 2016: 54) Das Problem ist nur: Die von Nietzsche in Sachen Eugenik gesetzten Akzente – etwa in Ecce homo – waren, so Stegmaier, in allerdings nicht spezifizierter Wertung, von »schonungsloser Direktheit« (ebd.: 55), was durchaus die Frage aufwirft: Warum eigentlich? Und auf diese Frage kann Stegmaier schlicht deswegen keine Antwort geben, weil er nicht über die Einzelheiten von Nietzsches Krankheit und damit seine Syphilis reden will – obgleich dies ganz im Sinne seiner eigenen diesbezüglichen, an sich perfekt auf Nietzsche passenden Überlegung wäre: »Von Kranken lassen sich nicht nur mehr, sondern auch schärfere und tiefere Fragen an die Gesundheit erwarten als von Gesunden.« (ebd.: 47) So gesehen bleibt nur der Befund: Stegmaiers Beitrag steht für den nicht hinreichend durchdachten und vor allem nicht zu Ende gedachten Versuch, die vermeintlich profane Rede über Nietzsches Syphilis durch eine angeblich höherwertige zu ersetzen.
»Nietzsche’s life cannot be separated from his thought« (Long 1990: 113), lesen wir da beispielsweise, oder: [D]ie Einbeziehung seiner Pathographie [jener von Volz (1990) zu Nietzsche; d. Verf.] zugunsten der Klärung seiner medizinischen Metaphorik [ist] eine legitime Herangehensweise.« (Aurenque 2018: 73)
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180 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
/75 Jochen Schmidt (2016): Der Entrüstete (Teil IV) Schmidts Buch Der Wille zur Macht thematisiert nur am Rande das mit dieser Vokabel belegbare Theorieprojekt Nietzsches und zielt vor allem auf eine kritisch-bilanzierende Gesamtdarstellung. Nietzsches Krankheit kommt nur am Rande vor. Allerdings bezeugen zahllose pejorative Vokabeln, dass der Autor, Inspirator des Heidelberger Nietzsche-Kommentars, nur wenige Bedenken kennt, Nietzsche als Autor zu pathologisieren und das eingangs angegebene Versprechen, die »Auseinandersetzung mit Nietzsches gesamtem Werk« werde »strikt quellenbezogen und historisch kontextualisiert« geführt (Schmidt 2016: V). Tatsächlich zeigt die genauere Ausführung, dass wir es eher mit einer ›Streitschrift‹ denn mit einer – Zurückhaltung im Urteil erfordernden – wissenschaftlichen Abhandlung im engeren Sinne zu tun haben. So schreibt Schmidt gegen Ende seines Buches über Nietzsche als eine Art Resümee: »Als Frührentner von der wohlwollenden Basler Behörde mit auskömmlichen Mitteln ausgestattet, verlegte sich der in seinem Elfenbeinturm von Krieg und Heldentum Träumende aufs Schwadronieren vom ›Willen zur Macht.‹« (ebd.: 131) Mit Verlaub: Man muss Nietzsche nicht lieben als Nietzschekommentator – man sollte aber zumindest so viel Anstand haben, nicht auch noch zu spotten angesichts der vielfältig überlieferten Klagen des seit 1879 aus dem Koffer lebenden, wohnsitzlosen, kränkelnden Nietzsche, darunter der folgenden aus einem Brief aus Nizza von Anfang Dezember 1885: »Fast sieben Jahre Einsamkeit und, zum allergrößten Theil, ein wahres H u n d e l e b e n , weil es an allem m i r Nothwendigen fehlte!« (7: 116) So also sah sie aus: Die – wie Nietzsche noch zehn Monate später, wiederum aus Nizza, klagte – »Hundeexistenz«, das »jämmerliche und unwürdige Dasein« (7: 275) dieses angeblich so ›wohlwollend‹ und ›auskömmlich‹ ausgestatteten ›Frührentners‹, der im Übrigen einen beträchtlichen Teil seiner keineswegs üppigen Einnahmen mangels Verlagsinteresses für die Drucklegung der meisten seiner (so gut wie unverkäuflichen) Schriften verwenden musste (und nicht [um nun ausnahmsweise auch einmal etwas polemisch zu werden], wie Schmidt mit seiner Anti-Nietzsche-Streitschrift, das Glück hatte, hochkarätig gesponsert zu werden). Derlei indes – Schmidts Position, aber auch der Protest dagegen – mag, wie gesagt, Geschmackssache sein. Dies gilt auch für Schmidts Schlusssatz, es sei eine »Tatsache, dass Nietzsche als Fälscher agierte und trotz seines Originalitäts-Anspruchs in wesentlichen Bereichen 181 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
Kompilator und Plagiator war«, und zwar dies auch in Sachen seines angeblichen Prosa-Hauptwerks, insofern, so Schmidt gelte, »dass Nietzsche […] gerade mit seinem ›Willen zur Macht‹ nur die zeitgenössischen Tendenzen des Imperialismus und einer biologistisch und rassistisch deformierten Welterklärung aufnahm.« (Schmidt 2016: 137) Auch Nietzsche Hauptgedanke sei nur Plagiat, soll dies wohl heißen. Dem korrespondiert, dass Schmidt Zarathustras Rede Vom Krieg und Kriegsvolke als Ganze seinem Kriegsverherrlichungsvorwurf subsumiert, ohne sich um längst vorgetragene Gegengründe zu speziell dieser Deutung (etwa Niemeyer 2007: 24 ff.) zu kümmern. Die Pointe kann dann kaum überraschen und wird wenige Seiten später dargeboten: »[W]eil sein [Nietzsches; d. Verf.] ganzes Werk auf Kampf und Krieg fixiert ist, erwägt er nicht die Möglichkeit der Koexistenz oder des Miteinanders, des Interessen-Ausgleichs, des Vertrags oder gar der Versöhnung.« (Schmidt 2016: 14)
Dies klingt vielleicht für den Außenstehenden überzeugend, nicht aber für den Kenner, der kaum übersehen kann, dass Schmidt alles, was seiner Lesart zuwiderläuft, einfach unterschlägt. (vgl. Niemeyer 2017a: 258 ff.) Summarisch geredet: Wessen wir in Unsauberkeiten dieser Art begegnen, ist die gleichsam schockgefrorene Wiederkehr des von Hermann Türck eingeführten Typus des Entrüsteten, diesmal, erstaunlich genug, bei einem renommierten Germanisten dieses Kalibers, dessen Sprache sich gegen Ende dieses Buches in HalbstarkenJargon auflöst vom Typ: »Immer mehr geriet Nietzsche ins Schwadronieren über Alles und Jedes, auf einen großmäuligen und größenwahnsinnigen […] Ego-Trip, in halluzinatorisch aufgeblähte Repetitionen, Redundanzen und Variationen, mit denen er früher von ihm selbst schon Gesagtes zusammenrührte und verquirlte« (Schmidt 2016: 130)
Unheimlich, wie hier ›Größenwahn‹ und andere psycho-pathologisierende Attribute (wie »halluzinatorisch«) auf dem Stand des Jahres 2016 ein wohlfeil verfügbares Reservoir pejativer Rede ergeben, die das Wissen um Syphilis oder was auch immer gar nicht mehr erfordert, weil dies nur dem erzieherischen Auftrag der Warnung vor diesem Verführer Hemmnisse entgegenstellte – eine Position, die nach 125 Jahren Warnung vor Nietzsche, von Hermann Türck an gerechnet, nicht gerade als innovativ verrechnet zu werden verdient. 182 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – ein Literaturbericht
/76 Bernhard H. F. Taureck (2019): Keine Psychologie, kein Verzeihen (Teil III) Taurecks Aufsatz Nietzsche, ein philosophischer Extremist? ist richtig gelesen, wenn man das Frage- durch ein Ausrufezeichen ersetzt. Denn dass Nietzsche ein solcher ist, bekommt man von diesem Autor seit nun über dreißig Jahren immer wieder neu erzählt. Exemplarisch hierfür ist sein Buch Nietzsche und der Faschismus (1989), ein Kompendium analog jenem Heinrich Härtles (1937), nur dass Taureck verachtet, was Härtle, als Nazi, begeistert bejaht. Auf Einzelheiten scheint es, so womöglich Taurecks Kalkül, dieser hehren Absicht wegen nicht anzukommen, weswegen er in jenem Buch »einen Konsens zur Rasseneugenik einschließlich mörderischer Konsequenzen« (Taureck 1989: 35) auch dort wittert, wo Nietzsche lediglich seine im Zarathustra ausgesprochene Forderung nach einem »neuen Adel, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹« (IV: 254) paraphrasiert – eine Formulierung übrigens, die Nazis vom Schlage Härtle durchaus kritisch auf sich selbst hätten beziehen können (und eben deswegen verschwiegen). Die hier exemplarisch für vergleichbare Monita (vgl. Niemeyer 2019: 239 f.) erläuterte Arbeitsweise Taurecks ist auch im hier in Rede stehenden Text die maßgebliche, an einem Beispiel geredet: Unter der Kapitelüberschrift Das vierte Element: Die massenweise Vernichtung von Menschenleben offeriert Taureck, bevorzugt aus Der Wille zur Macht (1906) zitierend und diese Kompilation Förster-Nietzsches ohne jedes Zögern im Literaturverzeichnis unter »Nietzsche, F.« listend, ein Zitatenpotpourri, das ihm problemlos die endlose Wiederholung längst schon bekannter Nietzscheverrisse erlaubt, etwa im Blick auf den folgenden, von Taureck (2019: 85) zitierten Passus aus Nietzsches Nachlass vom Frühjahr 1884: »– jene ungeheure E n e r g i e d e r G r ö ß e zu gewinnen, um, durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und n i c h t z u G r u n d e zu gehen an dem Leid, das man s c h a f f t , und dessen Gleichen noch nicht da war!« (XI: 98)
Ohne jede Frage: Dieser Satz, weiterentwickelt aus Aph. 325 (W a s z u r G r ö s s e g e h ö r t ) von Die Fröhliche Wissenschaft (1882), auf den noch zurückzukommen sein wird (s. V.2/4), ist nicht zu retten, 183 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
für ihn gilt, was schon Josef Ackermann (1989: 124) für FW 325 monierte: so ähnlich redete sechzig Jahre später Himmler 63, aber auch der KZ-Arzt Irmfried Eberl, beide womöglich im Nachgang zu Förster-Nietzsches Edition Der Wille zur Macht (1906), wo das von Taureck herausgestellte Zitat – und diesen Hinweis blieb er schuldig – als Teil von § 964 besondere Popularität gewann. Nur: Was gab Nietzsche eigentlich Anlass zu derlei Rede? Diese Frage, so wie Taureck, nicht zu stellen, entspricht vollständig dem Geist der Old School der Nietzscheforschung, der durch diesen Text Taurecks auf dem Stand des Jahres 2019 exemplarisch veranschaulicht wird – und den die hier verfochtene New School unter Geltendmachung der Syphilisthematik entgegenzutreten beabsichtigt, auch am Beispiel des hier in Rede stehenden Textstücks. Wichtig dabei: Taureck weiß andernorts (vgl. Taureck 1999: 203 ff.) durchaus, übrigens sehr sachlich und korrekt, über die Syphilisthematik zu berichten – allerdings kostenfrei und folgenlos, will sagen: der Schluss von diesem A auf jenes B zu ziehen weigert sich Taureck, in dieser Hinsicht am ehesten vergleichbar mit Timo Hoyer, Domenico Losurdo sowie Jochen Schmidt, deren Wahlspruch lautet: »Keine Psychologie, kein Verzeihen!« Damit aber kommen wir respektive die Nietzscheforschung keinen Schritt weiter – Taureck für sich indes schon, wie sein mit Adieu à Nietzsche wohl treffend überschriebener Brief zu Nietzsches 175. Geburtstag demonstriert, der (erneut) in den Vorwurf ausläuft, Nietzsche habe »Millionen Menschen die Daseinsberechtigung [entzogen] und ein Erfordernis zu deren Massenmord formuliert.« (Taureck 2019a: 264)
/77 N.N. (2020): Der Tag X ist da!
Exemplarisch hierfür der folgende Passus aus seiner Posener Rede vom Oktober 1943 »Dies [die Judenvernichtung; der Verf.] durchgehalten zu haben und dabei […] anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.« (zit. n. Wistrich 1983: 167)
63
184 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Fazit
Fazit Die Reise durch 125 Jahren Rezeptionsgeschichte am Exempel von 77 Texten mag hier ein Ende finden – nun, wo unter Rückerinnerung an das eingangs Gesagte klar sein dürfte, warum Nr. 80 unbelegt ist und bleibt: weil ich zu eigenen Texten nichts sagen möchte – und dies ohnehin langweilen würde, zumal es kaum mehr sein könnte als eine Inhaltsangabe des vorliegenden Buches. Langweilen aber will ich auf keinen Fall, weswegen es mir an dieser Stelle geboten scheint herauszustellen, dass in diesem doch sehr stark von Männer okkupierten Themenfeld die meinem Dafürhalten zufolge drei wichtigsten und besten Beiträge, wie schon im Prolog erwähnt, von Frauen stammen: Pia Daniela Volz (Nr. 55), Deborah Hayden (Nr. 64), Anja Schonlau (Nr. 65) – und wer hier nach gender correctness verlangt, kann gerne noch nach Nr. 77 greifen. Wer an dieser Stelle zumindest doch ein wenig müde lächelt, dem sei der Hinweis gegeben, dass sich der hin und wieder im Vorhergehenden dukumentierende Witz, etwa in Gestalt einiger Überschriften, viel dem auf Nietzsche zurückgehenden Ideal »fröhlicher Wissenschaft« und dem daraus ableitbaren Anspruch des Autors verdankt, die zentralen Intentionen der jeweils Diskutierenden auf den mitunter recht deftig formulierten Punkt zu bringen, auch in der Absicht, Redundantem habhaft zu werden. Auffällig ist dabei, wie sehr die Diskussion um Nietzsches Krankheit über Jahre hinweg von Heinrich Köselitz (Nr. 3, Nr. 5, Nr. 15) im Wechselspiel mit Nietzsches Schwester (Nr. 6, Nr. 20, Nr. 21, Nr. 23, Nr. 30) bestimmt wurde, hinzugerechnet deren Helferin Isabella von Ungern-Sternberg (Nr. 10) sowie Helfer wie Raoul Richter (Nr. 11, Nr. 14), Walter Vulpius (Nr. 22) und Paul Cohn (Nr. 29). Erstaunlich dabei, um beim letzten Beispiel zu bleiben, die Gutgläubigkeit (Cohns), erschreckend indes und kriminologisch aufschlussreich: die erstaunliche Energie und Fantasie der Schwester: Es kann nicht sein, was nicht sein darf – nach diesem Muster funktionieren fast alle ihre systematisch die Themen Syphilis sowie Bordell ins Abseits drängenden Beiträge zum Thema. Hervorhebenswert auch, weil fast an ein Suchtverhalten gemahnend: wie beharrlich und langandauernd sie durch immer neue Fälschungen ihre krankheitsbezogenen Erklärungen nachbesserte, wenn sie sich nicht mehr halten ließen, wie viele Register sie zu ziehen vermochte – und, daraus folgend: wie aufwändig es ist, ihr auf die Schliche zu kommen. Spurensuche also in des Wortes bester Bedeu185 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
I · Nietzsches Syphilis
tung, die aber unentbehrlich ist, will man nicht Verdikten zum Opfer fallen nach Art der gegen Nr. 58, Nr. 67 sowie Nr. 76 erhobenen: Verdikte, die schlicht auf Faulheit der jeweils sich am Diskurs Beteiligenden hinweisen. Vergleichbar unangenehm: Das Gebaren jener, denen ein kranker Nietzsche, ob nun Syphilitiker oder nicht, schlicht nicht ins Konzept passt – angefangen von Nazis wie Heinrich Härtle (Nr. 38) und endend, gleichsam spiegelverkehrt: bei Anti-Nazis wie S. F. Oduev (Nr. 47), Wolfgang Harich (Nr. 53) sowie Malcolm Bull (Nr. 67). Hinzuzurechnen sind jene Nietzscheforscher, denen ein anti-biographisches oder -psychologisches Apriori eigen ist und die zusätzlich das Interesse an Vermeidung einer Art Entnazifizierung Nietzsches zu einen scheint sowie jenes an psychologiefreier Empörung über kontextfrei gelesene und wortwörtlich genommene, insoweit fraglos schockierende Einzelzitate mit Euthanasie- und NS-Nähe – eine Haltung, welche die Fälle Timo Hoyer (Nr. 61), Domenico Losurdo (Nr. 62), Jochen Schmidt (Nr. 75) sowie Bernhard H. F. Taureck (Nr. 76) zu erklären und jene Psychologieferne zu verdoppeln scheint, die vor über einhundert Jahren gängig war und im Typus des »Entrüsteten« zutage tritt, repräsentiert durch das Wolfgang-Harich-Idol Hermann Türck (Nr. 2) sowie dessen Nachahmer, wie namentlich Adelbert Düringer (Nr. 12) sowie Wilhelm Carl Becker (Nr. 13). Erstaunlich dabei ist die einleitend angesprochen Redundanz: Im schlimmsten Fall kennen wir nun von nicht eben wenigen Klärungsversuchen mehrere Varianten, auch die Grundtendenz ist deutlich geworden: Fachlich-sachliche Erklärungen lassen sich an einer Hand abzählen. In weit überwiegender Mehrheit hingegen dominieren Vorannahmen das Weitere, zumeist unausgesprochene. Dies meint zugleich auch: Die im Vorhergehenden skizzierten Entrüsteten gilt es für die Zukunft grundlegend hinter sich zu lassen, schließlich auch jene, die durch interessengeleitete Datenaufbereitung für den ganz großen Protest neben dem Mainstream meinten sorgen zu müssen, wie etwa Richard Schain (Nr. 60). Oder die, wie Christina Koszka (Nr. 66), für ein aktuell von ihnen favorisiertes Krankheitsbild einen prominenten Paten suchten. Unterm Strich bleiben nicht mehr gar so viele übrig, denen es offenbar nur oder jedenfalls doch vorwiegend um die Sache ging und um Erkenntnisfortschritt: Ernst Benda (Nr. 25), Karl Jaspers (Nr. 37), Wilhelm Lange-Eichbaum (Nr. 42), Joachim Köhler (Nr. 54), Roland Schiffter (Nr. 70) sowie, natürlich, Pia Daniela Volz (Nr. 55). Auffällig dabei: Sie alle eint, die Syphilis186 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Fazit
diagnose verfochten oder jedenfalls doch nicht ausgeschlossen zu haben, sie können also, in Anknüpfung an den Sprachgebrauch im Prolog gesprochen, dem Tag X, sofern noch unter den Lebenden, beruhigt ins Auge sehen. Für sie und insoweit für die Syphilisdiagnose spricht, in, was die Bedeutung angeht, absteigender Linie gesprochen und zugleich als Hinweis auf das zu verstehen, was in Nr. 77 stehen dürfte: 1. Das erstmals 1931 (Nr. 31) publizierte »Täterbekenntnis« Nietzsches. 2. Das erstmals 1930 (Nr. 30) publizierte ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889. 3. Die erstmals 1937 (Nr. 39) publizierte Äußerung Nietzsches vom 19. Januar 1889, er sei »22 Jahre« alt, die es erlaubt, die in Basel wie Jena diagnostizierte Syphilis mit Deussens erstmals 1901 (Nr. 8) publizierter Bordellgeschichte zu verknüpfen, ebenso wie – was erstmals 1925 (Nr. 26) geschah – mit dem Brief Nietzsches an Gersdorff von 1865. Diese drei durchweg von Nietzsche stammenden Hinweise sind, jenseits der medizinischen Befunde, die zentralen Bausteine der Syphilisdiagnose. Sie – und damit die Feierlichkeiten am Tag X – gilt es nun zusätzlich zu sichern mittels einer gründlichen Werkanalyse. Sie lässt sich methodologisch mittels des folgenden Satzes aus der 1886 er Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches (1878) orientieren: »Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt.« (II: 13) Wohlan: Mein Ehrgeiz ist, die Zugehörigkeit zu dieser Schule zu demonstrieren – und sei es am Exempel des Schulengründers.
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Kapitel II Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum Daß das Täuschen nicht in meiner A b s i c h t liegt, zugegeben! Aber feiner zugesehn: ich thue auch nichts dazu, meine Nächsten aufzuklären, darüber, d a ß sie sich über mich täuschen […]. Die ganz Großen und Mächtigen w a r e n bisher Betrüger: ihre Aufgabe wollte es von ihnen. (Friedrich Nietzsche, August-September 1885)
Im hier als Motto vorangestellten Zitat ist die Selbstbeschreibung Nietzsches als »Betrüger« auffällig. Im Verein mit der gegen Ende des letzten Kapitels vorgenommenen Selbstzuordnung des Verfassers des vorliegenden Buches zur 1878 von Nietzsche eröffneten »Schule des Verdachts« stellt sich die Frage, ob dieser Verdacht nicht in der Vokabel »Betrüger« einen ersten Anhalt hat. Nicht zu vergessen die andere Frage: Wie ist das Wort »Aufgabe«, deretwegen Nietzsche, wie er aussagt, hin und wieder, wie ein Betrüger, »täuschen« müsse, genau zu übersetzen? Welches war Nietzsches »Aufgabe«, seine, wie man vielleicht auch setzen darf, »Sendung«? Eine Frage, auf die Rüdiger Safranski zur Antwort gab: »Mit Nietzsches Denken kommt man nirgendwo an, es gibt kein Ergebnis, kein Resultat. Es gibt bei ihm nur den Willen zum unabschließbaren Abenteuer des Denkens.« (Safranski 2000: 365)
Dieses Resümee widerspricht nicht nur Nietzsches Selbstauslegung als jemand, der von einer »Aufgabe« umgetrieben war. Es widerspricht auch der in Kenntnis von Nietzsches Schrifttum vergleichsweise leicht zu sichernden These, dass Nietzsche von seiner in Also sprach Zarathustra dominierenden (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 432 ff.), vielgestaltig verkündeten Botschaft vom Tod Gottes (vgl. NLex2 [Havemann]: 145) und von der deswegen erforderlichen Neuauslegung des Menschen als eines die Geltungsgründe seines Handelns in eigene Verantwortung nehmenden Übermenschen (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 383 ff.) überzeugt war und diese seine Lehre sich in Zarathustras Satz verdichtet: 189 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
»Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.« (IV: 20)
Ein perfekter Satz, der, wie mir scheinen will und scheinen wollte in einem von Safranski zwar zitierten (mit der falschen Jahresangabe »1988«), aber wohl nicht gelesenen Buch von 1998, in welchem ausführlich erläutert wurde (vgl. Niemeyer 1998: 352 ff.), warum dieser Satz die »Aufgabe« Nietzsches auf den Punkt bringt und um welche »Botschaft« es sich also in seinem Fall handelt: Um die des überfälligen anti-christlichen Projekts des Herstellens von Respekt für das ›Nicht-Gleiche‹, das ›Anders-Fühlen‹, zu Lasten der nivellierenden Macht des »Geistes der Schwere« (vgl. NLex2 [Hödl]: 128), die im christlichen Glauben ihre Heimat findet – und ihr wohlverdientes Ende durch den Tod Gottes und damit des Unglaubwürdigwerdens der Gottesvorstellung. So die Kurzfassung dieser von Nietzsche in Zarathustra’s Vorrede 5 unterbreiteten Lektion als Nietzsches »Aufgabe« – womit wir zum Stichwort »Betrüger« wechseln können. Denn der Verbreitung dieser Lektion wäre fraglos nicht gedient gewesen, wenn sich damals, 1883, herumgesprochen hätte, dass ihr Verfechter eigentlich unfreiwillig ins Irrenhaus gemusst hätte (und schließlich, 1889, ja auch musste). Entsprechend können wir folgern: Dieses Zwecks wegen sprach Nietzsche jeden diesbezüglichen »Betrug« heilig, und sei es nur, so wie dann 1888 in Ecce homo zu besichtigen (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.), mittels der hier populär gemachten Nachricht, alles sei gut und nichts am Autor krankheitsverdächtig – ein Punkt dieser Autobiographie, der uns im Folgenden noch beschäftigen wird. Von hier aus bleibt noch die Frage zu klären, wie man Nietzsches »Schrifttum«, dem wir uns laut Überschrift nun zuwenden wollen, eigentlich zu lesen hat. Zumal es ja in äußerst divergenten Sprachformen dargeboten wird, die nicht immer – erinnert sei an Paul J. Möbius – auf Verständnis trafen, am hiermit angesprochenen Beispiel geredet: Wer der Dichtung Also sprach Zarathustra gewachsen sein will, muss wissen, dass er sich auf eine verquere, versponnene Erzählung gefasst zu machen hat, auf verfremdete Zitate (insbesondere aus der Bibel), Wortspiele und Wortverschiebungen, auf parodistische Einlagen und schwer zu deutende Rätsel, Träume, Symbole und Metaphern, auf zahllose Tiere, auf Handlungsträger, die meist unter Masken auftreten und in der Regel eine Sprache benutzen, die damals ungewohnt war und fremdartig, kurz: Nietzsche selbst war es, 190 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
der Ende August 1883 in einem offenbar nicht abgesandten Brief an Heinrich Köselitz zugestand: »Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittene darin, das nur mir verständlich ist, – manche Seiten kamen mir fast b l u t r ü n s t i g vor.« (6: 443)
Wer dieses Hinweises entbehrte oder ihn nicht ernstnahm, unterlag der Gefahr, das ihm dann notwendig Unverständliche als grundsätzlich unverstehbar ad acta zu legen (wie am eben erwähnten Fall Möbius beobachtbar). Umgekehrt: Wer jenem Hinweis Nietzsches Folge leistet, hat damit anerkannt, dass es gilt, die diese Dichtung charakterisierende Kunstsprache qua Übersetzung zu decodieren, um ihres Subtextes habhaft zu werden. Wie dies gehen könnte im Blick auf das Thema des vorliegenden Buches, wird gegen Ende dieses Kapitels zu zeigen sein. Selbstredend ist damit keine Methodologie benannt, die für sämtliche Texte Nietzsches gleichermaßen gilt. Der umgekehrte »Verdacht« scheint aber nicht abwegig: Alle methodologischen Vorkehrungen Nietzsches aus späterer Zeit, die auf das ›Nicht-darüberreden-dürfen‹ hinauslaufen – etwa sein schon im Prolog problematisierter Satz aus Ecce homo: »Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften« (VI: 298) –, können der Möglichkeit nach kontaminiert sein durch das Interesse des »Betrügers« Nietzsche an Konsolidierung eben dieses ›Nicht-darüber-reden-wollen‹-Motivs. Profan geredet: Bei Nietzsche, dem »Betrüger« im Interesse seiner »Aufgabe«, muss man mit allem rechnen, gilt es, jederzeit auf der Hut zu sein – ähnlich übrigens wie im Fall seiner Schwester. Mit einem – allerdings entscheidenden – Unterschied: Nietzsche als bedeutender Denker hatte eine Aufgabe, und zwar eine in seinem Gesamtwerk zu besichtigende – anders als seine Schwester. Sie bildete sich nach dem Turiner Zusammenbruch ihres Bruders ein, eine solche zu haben – den, Nietzsche, wie in Kapitel I an zahllosen Beispielen gezeigt, allen Gegenevidenzen zum Trotz »keusch« respektive »deutsch« respektive »heilig« zu sprechen bei gleichzeitigem systematischen Austausch der Botschaft Nietzsches durch jene ihres verstorbenen Gatten. (vgl. Niemeyer 2019: 263) Belassen wir es vorerst bei diesem Hinweisen und wenden uns dem Ausdruck »Schrifttum« in der Überschrift zu. Er ist im Wesentlichen eine Konzession im Blick auf den Umstand, dass im Folgenden nicht nur die Werke Nietzsches interessieren, sondern auch Briefe, 191 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
nicht zu vergessen: (Jugend-) Schriften, übrigens weit vor der Zeit, zu der sich Nietzsche mutmaßlich infiziert hat (1865/66, nach der Bordellanekdote Paul Deussens). Deswegen auch die Ausflucht »und Verwandte(s)«, die deutlich machen soll, dass Nietzsche Verwandte schon sehr früh argwöhnisch beäugte, namentlich seinen Vater, dessen früher Tod ihn schockierte, ebenso wie der diesem bald nachfolgende auch noch seines kleinen Bruders. Im Folgenden werden einige Dokumente für diese Sorge aus den Jahren 1858 und 1861 diskutiert, insbesondere mit Augenmerk auf die sich in ihnen offenbarende gedankliche Suchbewegung Nietzsches, orientiert etwa an Fragen wie: Warum ausgerechnet mein Vater? Warum mein Bruder? Was folgt aus beider Tod für mich, was für meine Stellung in der Welt und zu Gott? Syphilis als persönliches Problem ist hier natürlich noch nicht Thema, abgesehen von den gedanklichen Suchbewegungen Pubertierender. Griffiger wird dieses Thema ab 1865/66, wie an einer weiteren Text Nietzsches, die Leipziger Jahre 1865 bis 1867 behandelnd, deutlich gemacht werden soll, im ersten Block zu den ›Frühen Schriften‹ (1.). Dem folgen, mit analoger Intention, Abschnitte zu Nietzsches Werken (und Briefen) (2.) sowie ein Nachwort insbesondere zu ›Der Wille zur Macht‹. Am Ende steht ein zusammenfassendes Urteil über Nietzsches Thematisierung der respektive seiner Syphilis, das die Eingangsthese dieses Buches bestätigen wird: Nietzsche hatte Syphilis, auf welchem Weg auch immer zugezogen; und er wusste darum und erörterte dieses Thema und die Sorgen, die er sich um es machte, vielfältig und in der Summe mit schockierenden Schlussfolgerungen, ohne dass die Nietzscheforschung weltweit dem bis auf den heutigen Tag ausreichend Rechnung trug.
1. Frühe Schriften Mit dem Ausdruck ›Frühe Schriften‹ werden in der Nietzscheforschung »jene Schriften bezeichnet, die in den ersten fünf Bänden der […] Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches enthalten sind. Sie beginnen mit Aufzeichnungen der Kindheit (1854) und reichen bis 1869 (= BAW).« (NLex2 [Figl]: 118) Die BAW, nach der in der Folge zitiert wird, erschien zwischen 1933 und 1940, eine Auswahl als Band I der Musarion-Ausgabe 1922/23. Wichtiger und folgenreicher war aber eine Auswahl der im Folgenden besonders interessierenden autobiographischen Aufzeichnungen der späteren 192 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Frühe Schriften
BAW, die 1924 von Nietzsches Schwester unter dem Titel Der werdende Nietzsche ediert wurde und uns im Vorhergehenden, auch wegen ihrer zahllosen Fälschungen, schon beschäftigt hat. Hier, in diesem Abschnitt, wird es, was diese Edition angeht, um vergleichbare Fälschungen der Schwester gehen bezogen auf ausgewählte Texte der BAW. Dominierend dabei und für unsere Fragestellung besonders wichtig: Reflexionen des Sohnes über den Tod des Vaters Carl Ludwig Nietzsche (1813–1849) in seinen frühen literarischen Versuchen aus der Zeit unmittelbar vor seinem Wechsel vom Gymnasium in Naumburg auf einen Freiplatz an der ›Fürstenschule‹ Schulpforta (am 6. Oktober 1858, bis zum 29. September 1864) bis hin zu seiner Studienzeit (ab Wintersemester 1864/65 in Bonn, ab Wintersemester 1865/66 in Leipzig, endend letztlich mit dem Kennenlernen Richard Wagners im November 1868 in Leipzig bzw. dem Ruf nach Basel am 12. Februar 1869). Die These dabei: In der Figur Wagners kommt, mit der Gefahr der Vaterübertragung (vgl. NieLex2 [Niemeyer]: 390 ff.), ein Vatersuchmotiv zum Abschluss, das seinen Ursprung hat in der Trauer über den Tod des leiblichen Vaters – eine Trauer, die schon dem nun zu besprechenden ersten Text als Subtext durchzieht.
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Nietzsches Aufsatz Barmherzigkeit (1858) – ein Vatersuchmotiv, von seinem Ursprung her betrachtet und weiterverfolgt bis hin zu Ecce homo
Um im Folgenden mit der Deutung dieses kleinen Aufsatzes ganz verständlich zu sein, bedarf es einer wichtigen Erläuterung im Blick auf König Friedrich Wilhelm IV., dem Nietzsches Vater seine Pfarre und Nietzsche seinen Vornamen verdankt. Umso schockierender, was man am 23. Oktober 1857 über den König zu lesen bekam: Er habe »infolge eines beginnenden Gehirnleidens« (Meyer 21878: 690) die Regierungsgeschäfte seinem Bruder, dem Prinzen von Preußen, übergeben müssen. Im Haus Nietzsche wusste man, was sich darob gehörte: »Auch wurde der Tag [Nietzsches Geburtstag am 15. Oktober 1857; d. Verf.] wegen Krankheit unsers lieben Königs auch so stiller gefeiert« (1: 12), ließ Nietzsche am 1. November 1857 via Pobles verlauten. Um die fernere Entwicklung 64 konnte Nietzsche natürlich nicht wissen, als er, am 12. Februar 1858, den hier in Rede stehenden 64
Am 7. Oktober 1858 verfassungsgemäße Übergabe der Amtsgeschäfte vom König
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
kleinen Aufsatz niederschrieb, erst recht nicht um die selbst noch neunzig Jahre später im Brockhaus als »Gesichtsrose« (Bd. 6, 171968: 614) ummäntelte eigentliche Ursache dieser Krankheit des Königs: Syphilis. Ob er, der damals Dreizehnjährige, aber möglicherweise darum ahnte, dass die Krankheit seines Vaters jener des Königs auffällig nahe kam? Und sich deswegen probeweise eine ganz andere Erblinie fingierte? Schauen wir uns, mit dieser Idee im Hinterkopf, diesen unscheinbaren kleinen Aufsatz einmal etwas genauer an. Das Skript scheint dem Genre des Abenteuerromans entnommen: Ein Graf tritt auf, »ein hoher edler Mann […] mit ernsten Blicke« (BAW 1: 411) – was manchen Interpreten an Nietzsches Vater denken ließ. (etwa Schmidt 1991: 562 ff.) Als solcher zeichnet er sich schon in der ersten Szene durch eine besonders – was den Titel erklärt – ›barmherzige‹ Denkungsart aus: Er nimmt einen verwaisten Fischerjungen zu sich, der »sich vor allem durch Lebendigkeit des Geistes« (BAW 1: 412) auszeichnet – ein Attribut, wie sich unschwer folgern lässt, das Nietzsche sich selbst auch zugerechnet haben dürfte. Dieser Fischerjunge, so dann das Happy End, erbt nach dem Tod des Grafen dessen Titel und Vermögen, als Dank für seine Treue auch in revolutionsgeschwängerter Zeit. Dass in diese Erbschaft in symbolischer Form auch die Tugenden des verstorbenen Grafen (= Vaters) einfließen, darf man dabei wohl unterstellen. Vom Grafen respektive Vater als ›Dämon‹ zu reden, scheint indes keinen Sinn zu machen, und ganz zu schweigen ist von einer bildhaften Auseinandersetzung Nietzsches mit der Frage nach dem Geheimnis der Krankheit des Vaters. Allerdings sind noch weitere Lesarten der merkwürdigen kleinen Geschichte zulässig und bedenkenswert. In einer von ihnen hat man im Fischerjungen in erster Linie Nietzsches Vater zu sehen, in der Rolle des Grafen hingegen den Herzog Joseph von Sachsen-Altenburg. Diesem diente Nietzsches Vater vor seiner Eheschließung (1843) in gleichfalls revolutionsgeschwängerter Zeit Jahre lange als Prinzessinnen-Erzieher in Altenburg. Dabei legte er offenbar den Beweis dafür ab, dass er »kein Aufrührer, kein Rebell ist, sondern ein zutiefst gehorsamer Untertan, mit allem Nachdruck bestrebt, die gegebene, als gottgewollt deklarierte Ordnung geistlich abzusichern und zu legitimieren.« (Goch 1994: 106) Der Sinn der Grafen-Geschichte des pubertierenden Nietzsche wäre vor dem Hintergrund an den Bruder, ab November 1860 »hoffnungslos darniederliegend« (Meyer 21878: 690).
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dieser Lesart klar: Nietzsche zelebriert den Vater als denjenigen, der den Grafen rettet und dem er nachzufolgen sich vornimmt, in der Hoffnung, seinerseits den dem Vater bei dessen Anstellung bei Hofe vorenthaltenen Ruhm zu erwerben. Eher unwahrscheinlich ist, dass Nietzsche auch auf den herkömmlichen Weg anspielen wollte, auf dem man Titel und Vermögen erbt: den einer Eheschließung. In diesem Zusammenhang ist es immerhin der Erwähnung wert, dass Nietzsches Vater jenen Brief, mit dem er um die Hand seiner zukünftigen Frau Franziska Oehler anhielt, mit der Formel meinte ausstatten zu müssen, »daß Fräulein Franziska seiner früheren Schülerin Prinzessin Elisabeth so ähnlich sei« (zit. n. Goch 1994: 52) – eine in den Augen von Nietzsches Vater vermutlich harmlose, in den Augen des Psychoanalytikers hingegen verräterische Wendung. Brisanter noch scheint eine Lesart, die im Fischerjungen in erster Linie Nietzsche selbst zu sehen sucht, und zwar dies nun mit der Botschaft, dass Nietzsche sich allzu gern seinerseits der Revolution mit Macht und mit Erfolg entgegengeworfen hätte. Man sollte die eigentliche Pointe dieser Botschaft nicht unterschätzen. Denn schließlich war die 1848 er Revolution im familialen Umfeld Nietzsches als einer der entscheidenden Sargnägel des Vaters ausgemacht worden. Gern kolportierte man denn auch, dass der Vater, nachdem er von den Berliner Vorgängen aus der Zeitung erfahren hatte, in Tränen ausbrach, sich stundenlang in sein Arbeitszimmer zurückzog und »den Seinen [verbot], jemals über die Sache wieder mit ihm zu sprechen.« (Janz 1978, Bd. I: 44) Tatsächlich scheint zumindest der zeitliche Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Vaters im Spätsommer 1848 und der Demütigung von König Friedrich Wilhelm IV. im Zuge der Berliner Märzrevolution, wie Klaus Goch (2000: 372 ff.) darlegte, ein durchaus auffälliger zu sein. Als wolle sich Nietzsche der damit nahegelegten Krankheitstheorie anschließen und seine Mutmaßungen in Richtung anderer Krankheitsursachen leugnen, scheint die kleine Erzählung im Kern also zum Ausdruck bringen zu wollen, dass ein mannhaftes Niederschlagen dieser Revolution auch den weiteren Folgen, wie sie sich dann in der Krankheit des Vaters offenbarten, vorzubeugen vermocht hätte. Allerdings wird Nietzsches Vater auf diese Weise immer noch nicht als ›Dämon‹ ausweisbar oder als jemand, den es aus dem Horizont der kindlichen Idole zu entfernen gilt. Eher schon tritt dieser Gedanke in der Fluchtlinie der Setzung Nietzsches als eines kleinen Fischerjungen hervor. Denn dann hat 195 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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man im kitschigen Bild des Grafen, ganz im Gegensatz zur ersten Deutung, weniger das Abbild des Vaters zu sehen denn das Motiv der Suche nach ihm. Die Quasi-Adoption des verwaisten Fischerjungen durch den Grafen stünde mithin nicht für Notaufnahme, sondern für die Heimkehr dessen, der durch seine Tugenden ohnehin zu demonstrieren scheint, er sei in Wahrheit höherer Abstammung und nur durch Fügung des Schicksals in der Fischerfamilie (= Nietzsches Elternhaus) aufgezogen worden. Nietzsche hatte ausreichend Anlass für eine derartige Projektion: Am Königsgeburtstag zur Welt gekommen und vom Vater auf den Namen des Königs Friedrich Wilhelm IV. getauft (vgl. Bohley 1980), war er mit dem »Sendungsgefühl eines Königs- und Gotteskindes« aufgewachsen: »An seinem Geburtstag wurden die Glocken geläutet, und die Kinder bekamen schulfrei. Als er größer wurde, trank man auf sein und des Königs Wohl. In keiner seiner biographischen Aufzeichnungen vergißt er das Zusammentreffen der Daten.« (Ross 1980: 18) Ähnliches gilt für viele Gratulanten – endend mit Wilhelm Pinders etwas süffisanter Bemerkung in seinem Schreiben zu Nietzsches siebzehnten Geburtstag, dass dieser nun, nach dem Tod des Königs, »nicht mehr im ganzen Lande gefeiert wird« (KGB I 1: 372) und beginnend mit dem in Kindersprache abgefassten Hinweis eines Freundes des Vaters zu Nietzsches siebten Geburtstag: »Ein König kannst Du freilich nicht werden, wars ja doch auch Dein guter seliger Vater nicht: aber ein treuer frommer Seelenhirt in einer Christengemeinde wie er es war, magst Du werden, dann kannst Du auch beglücken wie ein König.« (KGB I 1: 305) Diese moralisierende Pointe dürfte Nietzsche weniger interessiert haben als die ihr unterliegende Annahme einer Gleichsetzbarkeit seines Vaters mit dem König – sowie der Gleichsetzbarkeit der königlichen Krankheit mit der seines Vaters: »Es war eine Gehirnentzündung, in ihren Symptomen der Krankheit des höchst seligen Königs ungemein gleich« (BAW 1: 280), notierte sich Nietzsche beispielsweise 1861 in einer Vorstufe zu Mein Lebenslauf. Dies also war das eigentliche Interesse Nietzsches: Die Frage nämlich, ob die – den König 1858 zur Abdankung nötigende – Geisteskrankheit den Schluss erlaube, sein Vater sei keiner gewöhnlichen, sondern einer gleichsam ›königlichen‹ Krankheit erlegen; und die daran anschließbare, freilich höchst ambivalente Frage nach dem Königlichen in ihm selbst – eine Frage, deren finale Antwort im Januar 1889 gegeben wird: Nietzsche stellt sich den Ärzten in der Jenaer Irrenanstalt als Friedrich Wilhelm IV. vor. (vgl. Bäumler 1989: 255) Wenige Monate zuvor, in einem von seiner 196 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Schwester unterschlagenen Zusatz zu Ecce homo, hatte sich Nietzsche im Zuge seiner vielfältigen »Absatzbewegungen und Verwandtschaftskonstruktionen« (Hödl 2009: 554) ersatzweise als Sohn Cäsars oder Alexanders fingiert (VI: 269) Diese hatte er sieben Jahre zuvor, zusammen mit den zwei anderen (Mohammed und Napoleon) der insgesamt vier »Thatendurstigsten aller Zeiten« (III: 320), als Epileptiker geoutet – was, im Zusammenhang gelesen, so klingt, als habe Nietzsche sich in Gestalt der Epilepsie eine Erblinie konstruiert, die ihn (und seinen Vater und Friedrich Wilhelm IV. gleich noch dazu), anders als die Syphilis, außer Verantwortung setzte.
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Nietzsches Lied vom Tod in Aus meinem Leben (1858) im Vergleich zu jenem in Mein Lebenslauf (1861)
Geschrieben zwischen dem 18. August und dem 1. September 1858, gibt Nietzsche hier einen Abriss seines bisherigen Lebens. Im Zentrum dabei, nicht überraschend bei seinem Bildungsprogramm (vgl. Hödl 2009: 166) und gleich im zweiten Satz aufgerufen: Der Vater, eingeführt unter der Chiffre »Das vollendete Bild eines Landgeistlichen.« Dass Nietzsche hier, allein seines Alters zum Zeitpunkt des Todes seines Vater wegen, kaum aufgrund eigener Erfahrungen urteilen kann, sondern der Kolportage folgt (vgl. Niemeyer 1998: 58 ff.), stellt der Folgesatz klar: »Mit Geist und Gemüth begabt, mit allen Tugenden eines Christen geschmückt, lebte er ein stilles, einfaches, aber glückliches Leben und wurde von allen, die ihn kannten, geachtet und geliebt.« (BAW 1: 1)
Drei Jahre später wird dieses Porträt deutlich aufpoliert, und zwar namentlich mittels solcher Superlative wie: »der zärtlichste Gatte«, »der liebevollste Vater« (BAW 1: 282). Die Konsistenz dieses insoweit auf Vaterkonstruktion abstellenden Strebens ist auf den ersten Blick beeindruckend. So beteuert Nietzsche noch im Jahr 1884 mehr oder weniger ungefragt gegenüber Overbeck, dass sein Vater von allen, die ihn gekannt hätten, »mehr zu den ›Engeln‹ als zu den ›Menschen‹ gerechnet« (6: 530) worden sei. Dass diese Lesart Dritter auch eine Last sein könne, macht ein Glückwunsch zu Nietzsches achtem Geburtstag klar: Aufgerufen wird hier die Großmutter, »welche in Dir […] Deinen guten so früh heimgegangenen Vater liebt« (KGB I 1: 310) – eine Formulierung, die nicht gerade klarer macht, ob Nietzsche 197 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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auch um seiner selbst willen geliebt wurde. Dem ›Engel‹, der auf ihm lastete, konnte sich Nietzsches jedenfalls kaum entziehen. Dies verrät auch das Schreiben seines Vetters und Vormundes Bernhard Daechsel, der Nietzsche 1861 zur Konfirmation, in Rückerinnerung an Nietzsches Vater, »die Freundlichkeit seines Herzens und die Heiterkeit seines Gemüthes« als väterliches »Erbtheil« (KGB I 1: 350) zur geflissentlichen Beachtung anempfahl. Ähnlich sahen die Sache viele – sich brieflich analog äußernde (vgl. Schmidt 1993: 532 f.) – Gratulanten. Wo aber, so gab Johann Figl angesichts von derlei Brauchtum zu bedenken, der tote Vater immer wieder neu als Sitteninstanz heraufbeschworen und insoweit »vom Toten nicht realitätsangemessen Abschied genommen wird, erscheint er als Gespenst – wie in Nietzsches Leben.« (Figl 1995: 34) Dies klingt fast wie eine Überleitung zum nächsten Problemkomplex, den Nietzsche in seinem Text Aus meinem Leben erörtert: Den Tod des Vaters. Nietzsche: »Im September 1848 wurde plötzlich mein geliebter Vatehhr gemüthsiikrank.« (BAW 1: 4)
Spannend und womöglich jenem Gespenst in Rechnung zu stellen: Noch gut zehn Jahre zuvor, in Der einsame Nietzsche, hatte Nietzsches Schwester die Worte »infolge eines Sturzes« vor »sehr krank« (statt »gemüthsiikrank«) eingefügt (vgl. Förster-Nietzsche 1924: 10) – ein Sturz, wohlgemerkt, von dem sich bei Nietzsche 1858 nichts findet. Also, wie man vermuten darf, eine Fälschung – auf deren strategisches Motiv Nietzsche 1878 angezielt hatte mittels seines genialen kleinen Aphorismus: »Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.« (II: 266) Indes: Wenn der ›gute Vater‹ der Schwester darin gründet, dass ihm kein »Erbübel« anhaftete, so dass ihn nur ein im doppelten Sinn dummer Sturz zur Strecke bringen konnte – worin gründet dann der ›böse Vater‹ des Bruders? Eine Antwort könnte lauten: Der ›böse Vater‹ gründet in dem, was nun, in Aus meinem Leben, folgt: die Mär vom schrecklichen Tod des kleinen Brüderchens. O-Ton Nietzsche, dreizehnjährig: »Unsere Familie war ihres Oberhaupts beraubt, alle Freude schwand aus unseren Herzen und tiefe Trauer herrschte in uns. Aber kaum waren die Wunden ein wenig geheilt, so wurden sie von Neuem schmerzlich aufgerissen. – In der damaligen Zeit träumte mir einst, ich hörte in der Kirche Orgelton wie beim Begräbniß. Da ich sah, was die Ursache wäre, erhob sich plötzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er
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eilt in die Kirche und kommt in kurzen mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhügel öffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder die Oeffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschwall und ich erwache. – Denn Tag nach dieser Nacht wird plötzlich Josephchen unwohl, bekommt die Krämpfe und stirbt in Wenig Stunden. Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollständig in Erfüllung gegangen. Die kleine Leiche wurde auch noch in die Arme des Vaters gelegt.« (BAW 1: 6)
Wie man sieht, zumal im Blick auf den letzten, 1895 erstmals von der Schwester präsentierten und 1912 von ihr mittels der Zahngeschichte entschärften Fassung: Ein Lied vom Tod wie aus einem Gruselbuch, bei dem man nicht recht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Dies gilt auch für die Variante, die Nietzsche drei Jahre später, im Mai 1861 in Mein Lebenslauf, präsentierte. Spannend beim Vergleich beider Fassungen: Dass Nietzsche noch 1858 davon sprach, den »Vater im Sterbekleid« (BAW 1: 6) – und nicht etwa nur, wie es 1861 heißen wird, eine »weiße Gestalt« (BAW 1: 282) gesehen zu haben. Ein weiterer Unterschied: Nietzsche hatte 1858 von »einem kleinen Kinde« (BAW 1: 6) berichtet, meinte aber 1861 nur noch, etwas gesehen zu haben, das er »nicht deutlich erkannte« (BAW 1: 282). Die Differenz mag marginal sein und sich aus der zwischenzeitlich verblassenden Erinnerung erklären. Es kann sich aber auch um eine motivierte Erinnerungsfälschung handeln. Hierfür spricht, dass Nietzsche die sich aus ihr ergebende Anonymisierung zweier Handlungsträger durchaus zu seinem Vorteil zu nutzen weiß: Er belegt die entstandenen zwei Leerstellen neu – und besetzt eine der zu vergebenden Rollen mit sich selbst. Kaum anders nämlich lässt sich der Umstand interpretieren, dass ihm in der Darstellung von 1861 sein Bruder Joseph zu einem »lebhaften und begabten Kind« (BAW 1: 282) gerät – eine Umschreibung, die ganz unpassend ist für einen Säugling, die aber sehr wohl auf das kindheitsbezogene Selbstbild, das Nietzsche von sich hatte, zutreffen könnte. Der Vorteil dieser Konstruktion wird nicht sogleich deutlich, springt aber ins Auge, wenn man bedenkt, dass Nietzsche vier Monate zuvor, im Januar 1861, Anlass hatte, das Rätselraten über seinen Vater mit einem Rätselraten über sich selbst zu verknüpfen: »Wenn ich nur wüßte, woher das ganze herrühre« (1: 143), schreibt der Sechzehnjährige angesichts wochenlanger Kopfschmerzen an seine Mutter, als müsse diese eine Antwort wissen. Nietzsches Antwort in Mein Lebenslauf, gelesen im Vergleich zum in Aus meinem Leben niedergelegten Lebenslauf drei Jahre vor jenen Kopfschmerzen, scheint jedenfalls klar: Die angesprochene, 199 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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1861 er Anonymisierung des Vaters durch jene »weiße Gestalt« hatte offenbar den Zweck, den durch die 1858 er Version erzeugten Eindruck zu tilgen, Nietzsche wolle seinen Vater als todbringend für den neu eingesetzten ersten Handlungsträger, eben für sich selbst, fingieren. Diese Tilgung sollte wiederum verdecken, dass dieser Fiktion der Nietzsche vom Mai 1861 sehr viel dringlicher als jener von 1858 bedurfte, weil er nun an sich selbst jene ersten Krankheitssymptome meinte ausgemacht zu haben, die, seiner subjektiven Krankheitstheorie zufolge, auf die Krämpfe des Bruders vorwegwiesen und Hochrechnungen in Richtung des väterlichen Krankheitsbildes nahelegten. Die hier verfochtene Lesart bezogen auf beide Geschichten kann problemlos gegen bisher vorliegende alternative Deutungen oder Annahmen verteidigt werden. Zu den Annahmen gehört jene, der zufolge Nietzsches Vater auf dem Höhepunkt der ödipalen Rivalität mit dem Sohn starb, Nietzsche also dessen Tod unter dem Vorzeichen einer Wunscherfüllung gelesen haben könnte, die er durch Idealisierung abgelten wollte (vgl. Kjaer 1990: 160 ff.; Schmidt 1991: 853 ff.) – keine gänzlich abwegige Annahme, die indes nicht den Kern des hier interessierenden Problems respektive der beiden in Rede stehenden Geschichten trifft. Dies stellt sich schon etwas anders dar bei dem Deutungsversuch des Theologen und Kulturwissenschaftler Christoph Türcke, vorgetragen bei einer Gedenkrede in Röcken zu Nietzsches Todestag am 28. August 2016. Abgesehen sei dabei von Fragwürdigkeiten im Detail. 65 Denn diese erklären nicht jene der Deutung: Türcke hält dafür, der 1850 er Traum Nietzsches sei eher »vom Wunsch beseelt, der Vater möge wiederkehren, als davon, das Brüderchen möge verschwinden«, bis hin zum ultimativen, hierzu nicht wirklichen passenden Satz: »So wurde ihm Schuld etwas ganz Furchtbares, was auf infame Weise niederdrückt, ohne daß man etwas dafür kann.« (Türcke 2016: 103) In Übersetzung geredet: Türcke erSo erfahren wir von diesem gelernten Theologen: »Vierzehn war Nietzsche, als er dies seinen ersten autobiographischen Aufzeichnungen anvertraute. Daß er später nie mehr darauf zurückkam, wird …« (Türcke 2016: 100) – leider falsch, was sich wohl damit erklärt, dass sich Türcke, via Curt Paul Janz (1978a: 47), auf den als Quelle verwiesen wird, auf die (insgesamt dritten) autobiographischen Aufzeichnungen Nietzsches mit dem Titel Mein Lebenslauf (1861) bezieht und dabei denn auch gleich den Rechenfehler seine Quelle übernimmt, den er um einen eigenen ergänzt: Nietzsche war nicht 14, sondern 16 Jahre alt, als er 1861 über einen Traum berichtete, den er elf (nicht acht, so Türcke 2016: 99) Jahre zuvor im Januar 1850 gehabt haben will. 65
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schlägt hier, vom Ehrgeiz getrieben, das Ganze der Philosophie Nietzsches zu charakterisieren, qua Traummetaphysik den Auftrag, durch Rückerinnerung an die im Vorhergehenden dargelegte 1912 er Traumdeutungsarbeit der Schwester die Spur aufzunehmen, die uns im Folgenden erlaubt, diesen Traum von 1850, ob nun in der Variante von 1858 oder von 1861, dem Thema Syphilis einzufügen. Dazu nur noch einige wenige Stichpunkte, die uns zu der These hinführen sollen, Nietzsche sei im Verlauf seiner ferneren Entwicklung und nach Auflösung einiger weiterer Rätsel, die jedem Heranwachsenden in puncto Sexualthematik auferlegt sind, der Annahme nahetreten, der Tod seines kleinen Brüderchens sei Ergebnis eines Drehbuchs, das sich vom Grundmuster her in der 1878 erschienenen 2. Auflage von Meyers Hand-Lexikon des Allgemeinen Wissens skizziert findet, wo es auf Seite 1894 zum Lemma Syphilis heißt: »… übertragbar beim Beischlaf […] auf einer Wunde (erworbene S.), oder auf das Kind von Seiten des Mannes bei der Zeugung, von Seiten der Frau während der Schwangerschaft und des Stillens […]. Die angeborne S. zeigt sich in […] bald nach der Geburt, führt häufig zum Tod der Kinder, kann aber auch bis ins späte Alter bestehen.«
Ohne hiermit sagen zu wollen, Nietzsche habe speziell diesen Eintrag gelesen: Sämtliche hier angeführte Informationen hätten für Nietzsche von Belang sein können, zumal bei seinem vielfältigen Nachdenken über Josephs Tod. Scheinbar hart im Kontrast hierzu steht Nietzsche Selbstzurechnung von Grandezza als Vatererbe in Ecce homo, etwa: »Ich habe nie die Kunst verstanden, gegen mich einzunehmen« (VI: 269), ergänzt um: »der Begriff ›Vergeltung‹« sei ihm »so unzugänglich wie der Begriff ›gleiche Rechte‹«, ein Urteil, das unter dem resümierenden Oberbegriff läuft: »[I]ch [bin] bloss mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach seinem allzufrühen Tode.« (VI: 271)
Dies klingt auf den ersten Blick nach einer interessanten Identifikation – auf den zweiten Blick aber wie aus dem Gruselkabinett, zumal wenn man Klaus Gochs Biographie Nietzsches Vater (2000) bedenkt, die in manchen Partien so wirkt, als sei Nietzsche eben dies: sein Vater noch einmal. Eben dies zu sein, heißt, zumal in der Logik des in Also sprach Zarathustra vorgetragenen – und wie zu zeigen sein wird: dort verabschiedeten – Wiederkunftsgedankens: Nietzsche steht in Gefahr, auch des Vaters »allzufrühen Tod« zu wiederholen. 201 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Dies war, eine Kardinalsangst Nietzsches, wie vielfältig bezeugt, etwa 1875, als Nietzsche erstmals brieflich (5: 77) seiner Sorge Ausdruck gab, an einem »ernsthaften Gehirnleiden« erkrankt zu sein, anfügend: »Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirnentzündung, es ist möglich, dass es bei mir noch schneller geht.« (5: 132)
Wichtiger, hier: Dass Nietzsche dieser Sorge auch in Ecce homo Ausdruck gab, wenige Seiten, nachdem er statuiert hatte, er sei ›bloss mein Vater noch einmal‹, und zwar unter Anspielung auf eine »s c h l i m m e Erbschaft von Seiten meines Vaters.« (VI: 326) Entscheidend ist der letztgenannte Ausdruck, der die Anschlussfrage erzwingt, worin die ›Erbschaft‹ des Vaters, Nietzsches nunmehriger Auffassung zufolge, genau besteht und worauf die Sperrung des Adjektivs ›schlimm‹ hinweisen soll – Fragen, die Nietzsche aufwirft, als gelte es, dem im zweiten Motto zu diesem Kapitel aufgerufenen Satz, er tue nichts dafür, seine Nächsten darüber aufzuklären, dass sie sich über ihn täuschten, zu illustrieren. Und tatsächlich: Viele Nietzscheforscher haben Fragen wie diesen nur wenig Aufmerksamkeit zugewandt, wie sich anhand von Biographen aller Couleur offenbart, die gewohnt scheinen, Fragen wie diese im Interesse des neugierigen Lesers beherzt anzugehen. Ivo Frenzel (2000: 10) und Sabine Appel (2011: 21) beispielsweise erklärten den Tod des Vaters, ganz im Ungeist von Nietzsches Schwester, zur Folge eines Treppensturzes. Und Kerstin Decker profilierte sich mit Diener in Richtung Schwester, diese habe doch gegenüber einem auf ein Erbübel spekulierenden anti-feministischen Psychiater »in aller wünschenswerten Klarheit dargelegt […], wie kerngesund alle Oehlers und Nietzsches immer gewesen waren, und auch ihr Vater habe ›die weiche Stelle im Gehirn‹ nur bekommen, weil er von der Treppe fiel.« (Decker 2016: 418) Ob dieser Satz ernst gemeint war? Wir wollen es im Interesse der Autorin nicht hoffen – und nur in aller Kürze in Erinnerung rufen, dass alles mit dem Befund aus Schulpforta über den damals 16-jährigen begann, sein Vater sei »jung an Gehirnerweichung« und der Sohn in der Zeit gezeugt worden, »wo der Vater schon krank war«, um fortzufahren: »Noch sind keine schweren Zeichen sichtbar, wohl aber Rücksicht auf die Antecedentien nötig.« (zit. n. Janz 1978, Bd. I: 128 f.) Auch für Otto Binswanger, der Nietzsche 1889 in der Jenaer Irrenanstalt behandelte, war, wie Pia Daniela Volz herausstellte, »wahrscheinlich die ›Hirnerweichung‹ des Vaters, im engeren Sinne 202 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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als ›Paralyse‹ aufgefaßt, Grund genug, einen engen Zusammenhang zwischen Erkrankung von Vater und Sohn im mittleren Lebensalter anzunehmen« (Volz 1990: 36) – was im Übrigen auch Nietzsche tat, wie gesehen. Vor diesem Hintergrund irritiert, dass in der Forschung, selbst in der die Syphilisdiagnose in Sachen Nietzsche akzeptierenden, der Vater aus dieser Rechnung herausgehalten wird, auch beispielsweise von Gaston Vorberg, der Joseph an »Gehirnkrämpfen« (statt »Zahnkrämpfen«) sterben lässt, diese »Meningitis und Encephalitis (Hirnhaut- und Hirnentzündung)« zurechnend und also »keinen ausschließlich syphilitischen Erkrankungen«, so dass ihm kein Schluss erlaubt scheint »auf eine etwaige Ansteckung des Vaters.« (Vorberg 1933: 35) Dem mag schon sein, aus Expertensicht – nur ist damit die Frage nach Nietzsches Sicht nicht erledigt. Immerhin: Das Nietzsche-Zeitgenossenlexikon notierte gut siebzig Jahre nach Vorberg als Todesursache: »vermutlich Syphilis im Endstadium.« (Reich 2004: 135) Und das noch einmal fünf Jahre darauf vorgelegte Nietzsche-Lexikon verzeichnete irgendetwas dazwischen, insofern die Formulierung, hier zitiert nach der 2. Auflage von 2011, lautet: »1849 stirbt N.s Vater an einer 1845/46 als ›Gehirnerweichung‹ diagnostizierten Krankheit« (NLex2 [Marsal]: 267), was den Schluss erlaubt, heutzutage nenne man derlei »Demenz syphilitischen Ursprungs« (NLex2 [Schmücker]: 185). Ein Zusatz, der in Richtung Reich geht, aber wohl eher nicht in Richtung Marsals oder Lange-Eichbaums, und schon gar nicht in Richtung Helmut Koopmann, der, wie gesehen, (s. I.2/71), des Beweises entbehrte dafür, »dass Nietzsches Vater Syphilitiker gewesen sei und das Kind sich früh bei ihm infizierte habe«. (Koopmann 2012: 157) »Dafür gibt es aber nicht den geringsten Beweis.« (Koopmann 2012: 157)
›Beweis‹ – um diesen nach Überwindung des naiven Empirismus unstatthaften Ausdruck gleich aus dem Verkehr zu ziehen – vielleicht nicht, wohl aber wichtige Indizien im Blick auf die subjektiven Krankheitstheorien Nietzsches. Unter ihnen eine, die auf Henrik Ibsens Gespenster (1881) abstellt. Im Zentrum steht in ihr die Heimkehr eines rätselhaft erkrankten Studiosus (Oswald), der, von seinem Pariser Arzt aufgeschreckt (»Die Sünden der Väter werden an den Kindern heimgesucht«), sich (übrigens zu Unrecht) sicher ist, dass die väterliche Spur als ›sauber‹ gelten darf. Die Kehrseite dieser Medaille: Oswald muss eigenes Verschulden anerkennen und klagt darob: »Wenn es wenigstens ererbt gewesen wäre …« (Ibsen 1881: 54 f.) Freilich: 203 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Selbst Ibsen, dieser wohl »rücksichtsloseste Entlarver ›bürgerlicher Lebenslüge‹«, wagte seinerzeit nicht, »[d]ie Krankheit mit Namen zu nennen« (Bäumler 1976: 138) – was vielleicht erklären könnte, dass selbst Lou von Salomé, also die 1882 ihrerseits von »schmutzigen Gespenstern« (IV: 143) – wie Nietzsches Schwester (und Mutter) – heimgesuchte große Liebe Nietzsches, in ihrem Buch Henrik Ibsens Frauen-Gestalten (1892) dieses Stück Ibsens gleichsam in aller Unschuld besprach (vgl. Andreas-Salomé 1892/1906: 52 f.), sich also weder dieses Aspektes gewahr wurde noch auch nur der Parallelen zum (Krankheits-)Fall Nietzsche insgesamt. Dabei liegen sie auf der Hand: In der Logik jener Szene gedacht, könnte Nietzsche – der dieses Stück wohl nicht kannte und Ibsen als ›Moral-Illusionisten‹ (XIII: 495) ablehnte (vgl. Detering 2000: 78; Sträßner 2003) – seinen Vater als einen Krankheitsüberträger in diesem Sinn in Betracht gezogen haben. Auf diese Weise konnte er das Wissen um jene Verantwortung betäuben, derer sich Ibsens Oswald ebenso auszusetzen hatte wie Nietzsche, und zwar, wie im Vorhergehenden darzulegen versucht: seit 1865. Gewiss: Dies ist nur eine Hypothese – die indes auf eines bauen darf: auf Zeitzeugenerinnerungen vom Typ oral history. So berichtete der Schriftsteller Paul Lanzky (1852– nach 1940) von einer persönlichen Begegnung mit Nietzsche aus der Zeit der Entstehung des Zarathustra, Nietzsche habe sich »vom Vater her erblich belastet« gefühlt und manchmal geäußert, er wisse, dass er »einmal sein Gehirn verlieren würde.« (zit. n. Gilman 1981: 524) In diesen Zusammenhang gehört auch die Erinnerung Resa von Schirnhofers 66 an Nietzsches Verhalten unmittelbar nach einem anderthalbtägigen Krankheitsanfall im Sommer 1884: »Dann frug er mich plötzlich, seine großen dunklen Augen angstvoll auf mich gerichtet in seiner weichen Stimme mit beunruhigender EindringlichDiese hatte Nietzsche auf Vermittlung Malwida von Meyenbug erstmals im April 1884 in Nizza besucht, ein Ereignis, dass Nietzsche später gegenüber Malwida mit Worten kommentierte, die deutlich auf den Tautenburger Sommer 1882 anspielen, also an die dortige Begegnung mit Lou von Salomé erinnern (vgl. Niemeyer 1998: 45 ff.) und Resa zumindest insoweit in die Lou-Nachfolge rücken: Die Begegnung sei »heiter und nützlich« verlaufen, »zumal keine störende eingebildete Gans zugegen war – Pardon! ich meinte meine Schwester«. (6: 500) Wenige Monate später, nach einem Besuch Resa von Schirnhofers in Sils-Maria, bei dem sich das hier in Rede stehende ereignete, war Nietzsche erneut angetan: Resa, so erfuhr Overbeck, sei »ein drolliges Geschöpf, das mich lachen macht und sich gut an mich gewöhnt.« (6: 521)
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Frühe Schriften
keit: ›Glauben Sie nicht, daß dieser Zustand ein Symptom beginnenden Wahnsinns sei? Mein Vater starb an einem Gehirnleiden.‹« (zit. n. Lohberger 1969: 443 f.)
Diese ergreifende Szene steht fast am Ende einer Reihenbildung, die mit Nietzsches Kopfschmerzen von 1861 und der durch sie aktualisierten Umarbeitung der 1858 er Erinnerung an seinen Traum über die Antizipation des Todes von Bruder Josef im Jahre 1850 eröffnet worden war und Anfang 1889 in der Jenaer Irrenanstalt enden sollte. Dem seinerzeitigen Oberarzt Dr. Ziehen jedenfalls will Nietzsche, wie dessen Mutter im Februar 1889 besorgt an Overbeck berichtete, gesagt haben, dass sein Vater an Gehirnerweichung gestorben sei – eine Information, der gegenüber die Mutter einen in ihrer Situation wohl verständlichen und für die späteren Nietzsche-Legenden typischen Beschluss fasst: »So etwas darf ich gar nicht denken.« (zit. n. Podach 1937: 12) Woran dabei im Einzelnen nicht zu denken war, bleibt unklar, soll aber im Folgenden sukzessive freigelegt werden, im Folgenden anhand des drittwichtigsten Textes aus dem Konvolut der Frühen Schriften Nietzsches nächst den beiden bisher behandelten.
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Nietzsches Leierlied von seiner Krankheit im Text Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre (1867) im Vergleich zu jenen aus zeitgleichen Briefen, etwa einem vom 4. August 1865 an Carl von Gersdorff
Vorab, zunächst nur zum hier in Rede stehenden Nietzsche-Text von 1867: Thematisiert wird in ihm in autobiographischer Absicht die Zeit zwischen dem 17. Oktober 1865 und dem 10. August 1867 – also ausdrücklich nicht jene Zeit (August 1865), in welcher Nietzsche jenen Brief verfasst hat, und schon gar nicht die Zeit (Februar 1865), in welche, Paul Deussens Erinnerungen von 1901 zufolge, die im Vorhergehenden vielbeschworene Bordellgeschichte fällt. Beides zusammen war wohl Grund genug für Nietzsches Schwester, diesen 1935 in die BAW aufgenommenen Rückblick unbesorgt in ihrer Edition Der werdende Nietzsche (1924) zu präsentieren – ein Fehler indes, wie sich bei genauerem Zusehen zeigt. Denn Nietzsches erwähnt hier zwar nicht die Bordellgeschichte, wohl aber, wie der kritisch-medizinische Blick eines Ernst Benda nur ein Jahr nach Förster-Nietzsches 205 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Edition vom Ansatz her erkannte, deren mutmaßliche Folgen, zutage tretend etwa in dem von Benda (1925: 67) als auffällig herausgestellten Satz: »Ich lernte damals mit Behagen schwarz sehen, nachdem es mir selber, wider meine Schuld, wie mir schien, schwarz gegangen war.« (BAW 3: 293)
Was Nietzsche hier genau meint, scheint sich mittels der folgenden, vieldiskutierten Anekdote klarstellen zu lassen, die seit Michael Landmann (1951) unter dem Titel Nietzsches Schopenhauer-Erlebnis figuriert (vgl. Niemeyer 1998: 113 ff.) und in der neueren Nietzscheforschung wieder eine gewisse Beachtung findet (vgl. etwa Brock 2015: 59 ff.; Morgenstern 2016: 85 f. Brusotti 2018: 197 f.), allerdings unter Ausblendung der hier interessierenden, biografisch wie psychologisch aufschlussreichen Zusammenhänge. Der Vorwurf der Ausblendung zielt auch auf Jakob Dellinger (2016: 297), der zwar die Parallele zwischen Nietzsches Entdeckung Schopenhauers im Jahr 1865 sowie seiner Entdeckung Fedor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) im Jahr 1887 anspricht, aber die hierauf bezügliche Sekundärliteratur ignoriert – und damit übersieht, was längst schon (vgl. Niemeyer 1998: 313 f.) erkannt und problematisiert wurde: Nämlich dass der »Instinkt der Verwandtschaft« (8: 27), den Nietzsche in Brief Nr. 804 an Franz Overbeck im Fall Dostojewski meinte feststellen zu dürfen, vor allem im Blick auf dessen Roman Die Dämonen (1873) sich als triftig erweist und, beispielsweise, von Albert Camus in des Romanhelden Satz auf den (existentialistischen) Punkt gebracht wurde: »Das Attribut meiner Göttlichkeit ist die Unabhängigkeit.« (zit. n. Camus 1942a: 89) Das hier in Rede stehende Zitat Nietzsches aus Brief Nr. 804 bezieht sich allerdings nicht auf Die Dämonen, sondern auf eine zweiteilige, unter dem Titel L’esprit Souterrain angebotene Novellensammlung, die Nietzsche 1887 zufällig in einer Buchhandlung in Nizza entdeckt haben will – vergleichbar zufällig, wie er nicht vergisst hinzuzusetzen, wie er als Einundzwanzigjähriger auf Schopenhauer und als Fünfunddreißigjähriger auf Stendhal stieß. (8: 27 f.) Spannend wird das Ganze, wenn man sich, nach Art eines Buchhandlungskunden, die Einleitungssätze dieser auf deutsch Aufzeichnungen aus dem Untergrund (1864) geheißenen Erzählung anschaut, die Nietzsche vermutlich, wenn auch in einer stark gekürzten französischen Übersetzung (vgl. Miller 1978: 130 f.; Morillas/Morillas 2016: 276 f.), in jener Buchhandlung in Händen gehalten haben will. Sie nämlich lauten: 206 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Frühe Schriften
»Ich bin ein kranker Mensch […]. Übrigens habe ich mir von meiner ganzen Krankheit noch nie auch nur die geringste Vorstellung machen können und weiß nicht einmal mit Sicherheit, was in mir nun eigentlich krank ist. Ich lasse mich nicht kurieren, habe das noch nie getan, obschon ich vor den Ärzten und der Medizin alle Achtung habe. […] Ich lebe schon lange so, – an die zwanzig Jahre. Jetzt bin ich vierzig. Früher war ich Beamter, jetzt bin ich es nicht mehr.« (Dostojewski 1864: 432)
Muss man es hier wirklich noch ausführen? Nietzsche war zu dieser Zeit 42 Jahre alt, er war seit gut fünfzehn Jahren mehr oder weniger stark krank, ohne sich wirklich kurieren zu lassen, er war seit fast zehn Jahren ohne Amt – Gründe genug also, sich durch den mutmaßlichen Epileptiker (vgl. Lange-Eichbaum/Kurth1987: 117) Dostojewski porträtiert zu wähnen, ebenso übrigens wie durch dessen wenig später folgenden Roman Schuld und Sühne (1866), der, die Turiner Pferdeszene inspiriert haben könnte, gesetzt, diese habe sich so ähnlich zugetragen und: Nietzsche hätte diesen Roman gelesen – was seine Empörung über Karl Bleibtreus (vgl. Morillas/Morillas 2016: 280 f.) wahrscheinlich macht. (8: 75) Bleiben wir also bei dieser Setzung, muss auffallen, dass Raskolnikow in diesem Roman auftritt wie ein Nietzsche-Double: Zwar genial veranlagt, aber ungesellig und sich über seine Kommilitonen erhebend, der, als (Ex-) Student, seinen Zweifel, ob es Gott gäbe, bis zur letzten Konsequenz, bis zur Tötung vermeintlich lebensunwerten Lebens, steigert und in Auseinandersetzung mit denen, die ihm helfen wollen, seine Mitleidsskepsis zu kultivieren beginnt. Auch die fiktiven biographischen details erinnern in mitunter irritierender Weise an das im Fall Nietzsche präsente Urbild: Ebenso wie Nietzsche hatte Raskolnikow einen kleinen Bruder, der mit sechs Monaten starb; ebenso wie Nietzsche sah sich Raskolnikow umsorgt von Mutter wie Schwester, die indes an seinen Handlungsmotiven weniger Anteil nahmen denn an der Frage, wie und ob es wohl gelänge, ihn zum christlichen Glauben zurückzuführen – Themen, die Nietzsche ein Jahr nach Erscheinen dieses Romans umtrieben, kurz: Wovon wir nun reden wollen, ist, philologisch etwas abgesicherter, Nietzsches mit einem Dostojewski-Erlebnis in Parallele zu setzendes Schopenhauer-Erlebnis. Die hier verfochtene Interpretation nimmt ihren Ausgang von dem Umstand, dass es in Nietzsches 1867 er Darstellung gleich zu Beginn heißt, ein Dämon habe ihm die Worte »Nimm Dir dieses Buch mit nach Hause« (BAW 3: 298) zugeflüstert, als er im Herbst 1865 in
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
einem Leipziger Antiquariat Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung zufällig entdeckte. Dann folgt: »Zu Hause warf ich mich mit meinem erworbenen Schatze in die Sophaecke und begann jenen energischen düsteren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt Leben und eigen Gemüth in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interessenlose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfniß nach Selbsterkenntniß, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwungs sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermüthigen Tagebuchblätter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer düsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter, ungerecht und zügellos in dem gegen mich gerichteten Haß. Auch leibliche Peinigungen fehlten nicht. So zwang ich mich 14 Tage hintereinander immer erst um 2 Uhr Nachts zu Bett zu gehen und es genau um 6 Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner und wer weiß bis zu welchem Grade von Thorheit ich vorgeschritten wäre wenn nicht die Lockungen des Lebens, der Eitelkeit und der Zwang zu regelmäßigen Studien dagegen gewirkt hätten.« (BAW 3: 298)
Am Ende dieser seiner hier überaus anschaulich geschilderten existentiellen Krise erfahren Mutter und Schwester in einem Brief (Nr. 486) vom 5. November 1865 von Nietzsche aus Leipzig, »daß wir die Sklaven des Lebens sind, je mehr wir es genießen wollen«; Nietzsche fügte dieser seiner Diagnose das Plädoyer an für eine Lebensform, die sich in Übereinstimmung befindet mit »den strengen Forderungen des ursprünglichen Christenthums, nicht des jetzigen, süßlichen, verschwommenen« (2: 95) – ein Lob auf die Askese also, das dem späten Nietzsche von der Theorie her so fern liegen wird wie nur irgendetwas. Ist es aber, andererseits, dem Nietzsche vom Februar 1865 angemessen – dem Nietzsche also, der an den gesundheitlichen Folgen eines wenig später wiederholten und diesmal ›erfolgreichen‹ Bordellbesuchts laboriert? Diese Frage liegt manch einem aus der Nietzscheforschung so fern wie nur etwas. Ersatzweise konzentriert man sich auf die Frage, ob diese Darstellung glaubwürdig ist angesichts der sich häufenden Indizien für eine frühere, etwa über Vorlesungen vermittelte Schopenhauer-Kenntnis Nietzsches. (vgl. Figl 1984: 114 ff.) Wenig beachtet wird auch, dass Nietzsche das Wort »Nimm Dir dieses Buch 208 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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mit nach Hause« einem Dämon in den Mund legt, mehr als dies, wie Werner Ross erkannte: sich auch in den Confessiones des Augustinus (354–430) finden, hier allerdings nicht von einem Dämon gesprochen, sondern von einem Kind. Ross ließ auch die Pointe nicht außer Acht. Augustinus nämlich schlug, in Bekehrungs-Absicht, infolge dieses Ausrufs ausgerechnet jene Stelle des Römerbriefs auf, in der Paulus die Gläubigen ermahnt, »vom Saufen und Fressen und Huren und Streiten abzulassen.« (Ross 1980: 157) In der Linie dieser Parallele liegt die Frage nahe, ob auch Nietzsche in eben jenem Herbst 1865 einer durch vergleichbare Handlungsanlässe motivierten Bekehrung bedürftig war, die er durch seine Schopenhauer-Lektüre stillen wollte. Die Antwort scheint umstandslos möglich, wenn wir, wie in der Kapitelüberschrift angekündigt, Nietzsches Brief (Nr. 476) vom 4. August 1865 aus Bonn an Carl von Gersdorff in Göttingen einbeziehen. Auch hier vorab ein quellenkritischer Hinweis: Dieser Brief wurde erstmals 1895 von Förster-Nietzsche und dann erneut 1900 in der Gbr. als Brief Nr. 2 präsentiert, ohne den geringsten Eingriff in den Text. Dies kann nur bedeuten, dass er von Nietzsches Schwester nicht als bedenklich eingestuft wurde – dies übrigens auch nicht vom Briefempfänger, damals einer der besten Freunde Nietzsches. Jedenfalls ist dessen erstmals 1934 veröffentlichte Antwort auf diesen Brief (vom 9. August 1865) gänzlich unauffällig und beschränkt sich in Sachen der von Nietzsche angesprochenen Unpässlichkeit auf Genesungswünsche wegen – so erläutert der Kommentator Karl Schlechta – Nietzsches in diesem Brief beklagten »heftigem Rheumatismus« (Schlechta 1934: 141). Womöglich erklärt sich zumindest die Zurückhaltung der Vorgenannten inklusive jener von Nietzsches Schwester banal, nämlich mit dem Umstand, dass Paul Deussens Bordellgeschichte noch nicht publiziert war. Denn im Lichte derselben gewinnt Brief Nr. 476, wie nun sukzessive zu zeigen sein wird, eine erhebliche Brisanz. Dies gilt etwa für den Abschnitt nach jenem, in welchen Nietzsche Gersdorff die eigentlichen Gründe verrät, im Herbst von Bonn nach Leipzig zu wechseln: »Ich gehe nun zwar nicht nach Leipzig, um dort nur Philologie zu treiben, sondern ich will mich wesentlich in der Musik ausbilden«, wie er ohnehin gegen seinen Neujahrsvorsatz, weder zu dichten noch zu komponieren, verstoßen habe, indem er »wieder ein Lied gemacht habe.« Dem folgt, als gelte es, diese ›Sünde wider den Geist des reinen Philologen‹ gleich wieder vergessen zu machen: 209 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
»Mein lieber Freund, wie schaal und langweilig sind alle diese Notizen. Ebenso nüchtern zähle ich einige Feste auf, an denen ich schöne und glückliche Augenblicke – und das Glück zählt nach Augenblicken – genossen habe. So nenne ich in erster Reihe das Kölner Musikfest.« (2: 75 f.)
Auch dies, selbst die demonstrative Bagatellisierung eines Geschehens, das angeblich mit Glücksgefühlen verbunden war, wäre nicht der Erwähnung wert, folgte nicht wenige Zeilen die Geschichte mit dem angeblichen Rheumatismus, in Nietzsches Worten: »Ich bin die letzten Wochn immer krank gewesen und habe viel zu Bett gelegen, sogar in jenen glühenden Tagen; mein Leiden ist ein heftiger Rheumatismus der aus den Armen in den Hals kroch, von da in die Backe und in die Zähne und gegenwärtig mir täglich die stechendsten Kopfschmerzen verursacht. Ich bin durch diese fortwährenden Schmerzen sehr abgemattet und meistens ganz apathisch gegen Außendinge.« (2: 76)
Der Rückschluss fällt nicht schwer: Was Nietzsche hier beschreibt, ähnelt verdächtig jenen Plagen, von denen er auch noch Monate später in Leipzig heimgesucht wird, im Zusammenhang seiner ›Schopenhauer-Entdeckung‹. Aber, und auch dies muss beachtet werden: Schon zwei Monate vor dem Gersdorff-Brief, am 11. Juni 1865, hatte Nietzsche in einem Brief (Nr. 469) an die Schwester darüber geklagt, er leide, »beiläufig bemerkt, seit den letzten Ferien an starkem Rheumatismus in dem linken Arm« (2: 62), eine Klage, die in einem weiteren Brief (Nr. 475) an Mutter wie Schwester vom 10. Juli 1866 erneuert wird: »Ich leide heftig an Rheumatismus.« (2: 74) Pia Daniela Volz, allerdings in diesem Zusammenhang nicht auf Brief Nr. 476 rekurrierend, sondern darauf, dass »Nietzsche selbst […] Dr. Eiser gegenüber einmal von ›Tripper-Ansteckungen während der Studentenzeit‹ gesprochen [hat]«, will denn auch nicht ausschließen, »daß als Verursachung der rheumatoiden Beschwerden des Sommers 1865 durchaus eine venerische Infektion in Frage kommt.« (Volz 1990: 302) Allerdings weist sie gleich im nächsten Satz darauf hin, dass Rheumatismus ausweislich des Krankenbuchs von Schulpforta gleichsam ein altes Thema ist – was wiederum erklären könnte, dass sowohl die Verwandten-Briefe Nr. 469 als auch Nr. 475 ohne Antwort blieben oder diese jedenfalls nicht überliefert sind. Denn Schwester wie Mutter dachten womöglich, es handele sich beim vom Filius Geschilderten um die Wiederkehr eines alten Problems. So wurde in jenem Krankenbuch »Rheumatismus« zum ersten Mal für März 1859 notiert, dann wieder, als »Rheumatischer Hals- und Kopfschmerz«, 210 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Frühe Schriften
für Ende Januar 1861, schließlich ähnlich für den November 1961, dann nochmals für November 1862, zusammen mit den zwischendurch immer wieder notierten »Congestionen nach dem Kopf« sowie »Katarrh« – Anlass genug für die Ärzte in Schulpforta für ihren im vorhergehenden schon kurz angesprochenen Zwischenbefund »Nietzsche […] ist ein vollsaftiger, gedrungener Mensch mit einem auffallend stieren Blick, kurzsichtig und oft von wanderndem Kopfweh geplagt. Sein Vater starb jung an Gehirnerweichung und war im hohen Alter gezeugt; der Sohn in der Zeit wo der Vater schon krank war. Noch sind keine schweren Zeichen sichtbar, wohl aber Rücksicht auf die Antecedentien nötig.« (zit. n. Janz 1978, Bd. I: 128 f.)
Damit gewinnt die Rheumatismus-Spur, zumal jene von 1865, an Brisanz. Denn an sich hat diese Autoimmunkrankheit mit der infektiösen Geschlechtskrankheit Syphilis so gut wie nichts zu tun – was man a) allerdings erst heute weiß und b) seinerzeit in Nietzsches Kopf unheilvoll zusammengewachsen sein könnte. Mit der Folge der subjektiven Krankheitstheorie Nietzsches, wonach sein Rheumatismus und die ›Gehirnerweichung‹ seines Vaters im Zusammenhang gesehen und im Duo als Syphilisindiz gelesen werden könnten. Dass dies nicht gänzlich abwegig war, zeigt Guy de Maupassants erleichtert zur Kenntnis gegebene Mitteilung an seinen väterlichen Freund Gustave Flaubert nach einem Arztbesuch: »Die Wissenschaft glaubt nun, daß in meinem Fall nichts Syphilitisches vorliegt, sondern daß ich einen konstitutionellen Rheumatismus habe, der zuerst den Magen und das Herz angegriffen hat und schließlich die Haut.« (Flaubert /Maupassant 1997: 105)
Leider falsch, wie der weitere Verlauf der Krankengeschichte des Syphilitikers Maupassant – durchaus mit jener Nietzsches vergleichbar – zeigt, ähnlich wie der Fall seines Berufs- wie Leidenskollegen Alphonse Daudet, seit 1867 verheiratet mit der Autorin Julia Allard (1847–1940): Auch er klagte, etwa gegenüber Edmond de Goncourt im Februar 1882, heftig über »Rheumaschmerzen« (JGG 7: 75). Vier Monate später, nachdem ihm Madame Daudet aus einem Tagebuch vorgelesen hat, »das sie seit drei Jahren führt«, resümiert Edmond, der zwölf Jahre zuvor den Syphilistod seines Bruders Jules hautnah miterlebte, erschüttert:
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
»Was für ein Märtyrer, dieser junge Daudet, der Märtyrer des Rheumatismus. Ständige Schmerzen, Schmerzen, die er nur mit Morphium betäubt.« (JGG 7: 115)
Gleichwohl: Bis zu seinem Tod (1896) sah sich Edmond umgetrieben von der Sorge um seinen Freund, in dessen Haus er stirbt – nicht zu Unrecht: Eineinhalb Jahre später, am 16. Dezember 1897, stirbt auch Daudet, an Syphilis. (vgl. Hayden 2003: 312 f.) Insoweit bleibt die Frage, ob nicht Daudets Rheumatismus ebenso wie jener Maupassants als auch derjenige Nietzsches weitaus ernster zu nehmen ist als für alle drei Fälle beobachtbar, zusätzlich: ob womöglich auch Nietzsche, ähnlich wie Maupassant und angetrieben von einer ähnlichen Erwartung, 1865 einen Arzt aufsuchte – eine Frage, die nicht ganz einfach ist angesichts der nach wie vor recht desaströsen Dokumentenlage in Sache der Ärztebesuche Nietzsches sowie der von ihm verwendeten zahlreichen (Eigen-) Rezepte. (vgl. Volz 1990: 19) Einer systematischen Auswertung harren auch noch die »von ihm gelesenen medizinischen Bücher« (ebd.) respektive Lexika. Spekulation muss also vorerst bleiben, ob Nietzsche in Meyers Hand-Lexikon des Allgemeinen Wissens den Eintrag zum Stichwort Rheumatismus gelesen hat: »meist nach Erkältung«, aber auch: »betrifft meist Menschen in den jüngeren Jahren; im Gefolge oft Herz- u. Gehirnerkrankungen« (Meyers 21878: 1623) – Erläuterungen, die, vergleichbar argumentierende Ratgeber in französischer Sprache vorausgesetzt, womöglich Maupassants Arzt veranlasst haben könnten, den Syphilisverdacht seines Patienten aufs etwas ruhigere Gleis zu schieben (wie dies Nietzsche im Zuge seiner Selbstdiagnose getan haben könnte). Indes, die vielen Kautelen deuten es schon an: Dieser Fährte sei hier zunächst nicht weiter gefolgt. Ersatzweise lautet meine Frage als Nicht-Mediziner an die Kollegen aus dieser Fakultät, warum sie, zumal in letzter Zeit, schuldig blieben, was ihres Amtes ist, anhand einiger Namen erläutert und als Aussagesatz reformuliert und in thetische Form gebracht: Keiner der Mediziner, die sich in jüngerer Zeit in puncto Nietzsche zu Ausschlussdiagnosen in Sachen Syphilis gefielen und, nicht eben selten, ersatzweise ihr eigenes Forschungsgebiet als kausal relevant in Spiel brachten – wie etwa Richard Schain oder Christiane Koszka –, hatten bei dieser Rechnung Brief Nr. 476 oder die Briefe Nr. 469 oder 475 und damit den Sachverhalt, auf den sie sich beziehen, auf dem Schirm. Anders verhält es sich da schon, 212 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
wie gesehen, mit Ernst Benda, der 1925 Brief Nr. 476 ins Zentrum seiner Annahme rückte, »eine luetische Ansteckung [bei Nietzsche; d. Verf.] sei im Juli 1865 erfolgt.« (Krummel 1998b: 172) Ähnliches tat, wie gesehen, nach ihm Wilhelm Lange-Eichbaum – was die ins Allgemeine gehende Frage nach der Relevanz von Nietzsches Briefen erlaubt. Entsprechend liegt es im nächsten Arbeitsschritt nahe, dieser Textform systematisch und in chronologischer Ordnung auf der Suche nach weiteren, syphilisbezüglichen Einlassungen Nietzsches nachzuspüren, wobei uns auch hier der Auftrag eine Hilfe sein wird, den Nietzsche-Code zu knacken.
2. Werke (und Briefe) Eine erste, gleichsam methodologische Vorbemerkung: Nietzsches Werke können nicht wirklich verstanden werden ohne Kenntnis der Briefe, was letztlich auch, wie eben gesehen, für die ›Frühen Schriften‹ gilt. Dem scheint entgegenzustehen, dass die (internationale) Nietzscheforschung fast schon traditionell Distanz übt gegenüber Nietzsches Briefen (sowie Briefen an ihn) als Erkenntnisquellen. Jedenfalls ist auffällig, dass fremdsprachige Briefeditionen eher zu Raritäten gehören und nur selten auf dem neuesten Stand sind. Ursächlich hierfür ist auch die Auffassung, wonach Nietzsches Briefe, so Werner Stegmaier 2011 in einer weitverbreiteten Nietzsche-Einführung, zwar als »Form philosophischer Schriftstellerei« anzuerkennen seien; allerdings sage Nietzsche in ihnen »wenig über sein Denken, weil er bald sah, wie wenig er selbst von seinen eigenen Freunden verstanden wurde.« (Stegmaier 2011: 113) Das Letztere stimmt zwar, nicht aber die Folgerung und vor allem nicht der erste Satz, im Gegenteil: Bestimmte Erläuterungen über Nietzsches Denken finden sich nur in Briefen. Dies gilt zumal dann, wenn sie, wie in Nietzsches Brief Brief Nr. 584 der KSB 67) beobachtbar, mittels Klauseln wie »unter uns« als gefälligst privatim zu haltende Einschätzungen markiert werden. Dies gilt etwa für den folgenden Satz Nietzsches aus diesem Brief: »Es ist schwer zu erkennen, wer ich bin: warten wir 100 Jahre ab: vielleicht giebt es bis dahin irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgräbt.« (7: 27) 67
Chronologische Zählweise der KSB (= Kritische Studienausgabe Briefe).
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Dies ist ein ganz wichtiges Notat, dessen erster Teil die (leider rar gesäten) Psychologen respektive Psychopathographen unter den Nietzscheforschern ausdrücklich ermuntert, ›Herrn F. N.‹ auszugraben. Der zweite Teil sollte jenen zu denken geben, die Za IV einer diesbezüglich abweisenden Geste Nietzsches aus Ecce homo zufolge aus zukünftigen Editionsvorhaben auszuschließen gedenken, wie bei Rüdiger Schmidt-Grépaly (2013) und den von ihm vorgelegten Plan zu Bd. 11 der Edition Friedrich Nietzsche – Werke letzter Hand zu beobachten. 68 Hier nämlich, bezüglich dieser fragwürdigen Editionsentscheidung, hätte fraglos die Lektüre von Brief Nr. 974 vom 8. Januar 1888 an Georg Brandes disziplinierend gewirkt infolge der hier nachlesbaren Bemerkung, Za IV komme als »Geheimthür […] zu ›mir‹« (8: 228) in Betracht. Kaum weniger wichtig: Brief Nr. 460 mit Nietzsches einleitend dieses Kapitels bereits erwähnter Bemerkung bezüglich Za II, in diesem Werk sei »unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittene darin, das nur mir verständlich ist.« (6: 443) Nietzsche hat sich nirgends sonst so klar wie hier zum (auch) privatsprachlichen Charakter seiner zentralen Dichtung bekannt, die man folglich nur erschöpfend wird auslegen können, wenn man über das – sich nicht eben selten via Brief erhellende – Privateste Nietzsches weiß. Genau dies ist auch der Hintergrund für Nietzsches Klage vom 10. Februar 1888 (Briefentwurf Nr. 988) an Carl Spitteler (1845–1924) wegen dessen Sammelrezension wichtiger Werke, ihn, womöglich in ironischer Absicht, in dritter Person ansprechend: »Er redet und sieht Nichts als Aesthetica: m e i n e P r o b l e m e werden geradezu verschwiegen – ich selbst eingerechnet. Es ist nicht ein einziger wesentlicher Punkt genannt, der mich charakterisiert […]. Ein letztes Fragezeichen: warum ist mein ›Jenseits‹ verschwiegen? Ich weiß sehr wohl, daß dasselbe als v e r b o t e n e s Buch gilt – aber trotzalledem enthält es den Schlüssel zu mir, w e n n es einen giebt.« (8: 246 f.)
Wieder also ein ›Schlüssel‹, könnte man hier ergänzen unter Rückblick auf Brief Nr. 974, aber auch auf Brief Nr. 985 vom 4. Februar 1888 an Spittelers Freund Josef Viktor Widmann (1842–1911). Denn wenn Nietzsche hier betont, dass sich Spitteler in seiner Rezension »fast ganz auf das Formale« beschränkt und »die eigentliche Geschichte hinter den Gedanken, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Seit Jahren angekündigt im (ursprünglich) von Karl Lagerfeld subventionierten Verlag L.S.D. im Steidl Verlag Göttingen.
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Werke (und Briefe)
Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Ve r h ä n g n i ß hin einfach bei Seite« gesetzt habe, sei an sich nicht zu tadeln, verrate vielmehr »wirkliche delicatezza« (8: 244), wird man wohl nicht fehlgreifen, dies unter Verweis auf Brief Nr. 988 als ironisch ad acta zu legen, also zu folgern: Was Nietzsche hier, scheinbar distanziert, umreißt, ist exakt dasjenige, was er von einer zureichenden Nietzsche-Philologie erwartete: Eben diesen Blick für ›die eigentliche Geschichte hinter den Gedanken, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Ve r h ä n g n i ß hin‹. Das Fazit kann nicht fraglich sein: Werner Stegmaiers einleitend referierte Beiseitesetzung von Nietzsches Briefen als werkinterpretatorisch relevante Erkenntnisquellen ist wenig überzeugend und brächte die Nietzscheforschung, wäre dies die Auffassung aller, um wichtige Erkenntnisfortschritte. Wer hier für Abhilfe sorgen will – so meine zweite methodologische Vorbemerkung –, muss um die Überlieferungsgeschichte der Briefe wissen, insbesondere um die erstmals von Karl Schlechta aufgedeckten, vor allem von Nietzsches Schwester zu verantwortenden zahllosen Brieffälschungen in der 1900 gestarteten und 1909 mit dem 5. Band abgeschlossenen Briefedition Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe (= Gbr.). (vgl. Niemeyer 2017: 333 ff.) Welche Folgen die Nichtbeachtung dieser Fälschungen hat, sei an einem andernorts (vgl. Niemeyer 2019: 138 f.) ausführlicher erläuterten Beispiel gezeigt: In Brief Nr. 1011 aus Nizza an seine Schwester in Paraguay vom 31. März 1888 berichtete Nietzsche ihr von »düsteren Wochen«, wo er »wie ein verdrossener Bär in der Höhle saß«, ehe dann etwas Positives folgt, etwa: »Auch erleichtert es mich, meine ›Litteratur‹ abgethan zu haben: ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen. Man schreibt keine Meisterwerke im Zustand der décadence: das gienge gegen die Naturgeschichte!« (8: 282)
Auffällig an diesem Brief ist zunächst einmal seine Editionsgeschichte, deutlicher: seine Nicht-Edition durch die Briefempfängerin in dem dafür an sich dafür prädestinierten Band V Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester (1909) der Gbr. Warum FörsterNietzsche so agierte und ersatzweise, als Nr. 486 ihrer Zählweise, eine angeblich an diesem Tag abgegangene, von A bis Z von ihr stammende Fälschung darbot, darunter ein Satz, den der Nietzsche-Verächter Bertrand Russell in offenkundiger Unkenntnis der Hintergründe die215 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ser Edition nach 1945 als von Nietzsche stammend beanstandete, 69 wird deutlicher, wenn man Nietzsches eben zitierten Satz in – für Nietzsches Schwester natürlich sofort evidenten – Klartext übersetzt, und zwar in etwa wie folgt: »Meine ›Litteratur‹ abgethan« meinte eigentlich: »Mein Plan, liebe Schwester, seit Jahren von mir gesammelte Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht irgendwann als Buch erscheinen zu lassen, ist aufgegeben!«
Und der nachfolgende Passus (»ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen«) ist zu übersetzen mit: »Liebe Schwester, in der Summe ihrer relativen Primitivität gehen mir diese im Zeitraum von fünf Jahren sukzessive erstellten Aufzeichnungen inzwischen gegen den Geschmack.«
Kurz geredet, und dies erklärt Förster-Nietzsches Fälschungspolitik in diesem Punkt: Sie erkannte das diesem Subtext unterliegende Leitmotiv, welches auf ein Publikationsverbot in Sachen von Nietzsches angeblichem ›Prosa-Hauptwerk‹ hinauslief und dem sie entschlossen zuwiderhandelte, eben, wie gesehen, durch Briefunterschlagung bzw. durch Präsentation von Ersatzbrief Nr. 486. Beide Maßnahmen sind solche vom Typ ›korsettierender Theorie- respektive Editionspolitik‹ und sollten im Nachgang absichern, dass drei Jahre zuvor, 1906, in ›kanonischer‹ Form, Der Wille zur Macht erschienen war und niemand den Verdacht hegte, es handele sich hierbei um die von Nietzsche am 31. März 1888 ad acta gelegte ›abgetane Litteratur‹. Dies vorausgesetzt, muss die Nicht-Beachtung dieser Nicht-Edition durch den Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell – man könnte noch ergänzen: auch durch den Förster-Nietzsche-Biographen Ulrich Sieg (2019; zur Kritik: Niemeyer 2019b), – auffallen. Auch überrascht der nämliche Fehler bei Rüdiger Schmidt-Grépaly (2018). Kommen wir zu einem Zwischenfazit: Das Vorstehende klärt meinem Eindruck nach ausreichend, warum die Kenntnis der Briefe Nietzsches für die Werkinterpretation wichtig ist und was es dabei Russells (1992: 702) Empörung machte sich – ohne dass er oder der Verlag in den vielen Jahren der Neuauflage dieses seines Grundlagentextes, der Philosophie des Abendlandes, erkannte(n), dass er hiermit einer Fälschung aufsaß, – an dem Term ›Rasse‹ in dem von Förster-Nietzsche ihrem Bruder in den Mund gelegten Satzteil fest: »Wie stark fühle ich mich bei Allem, was Du sagst und thust, daß wir derselben Rasse angehören.« (Gbr. V/II: 770)
69
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vorab zu beachten gilt. Wichtig dabei, und dies macht der Fall Russell deutlich: Dass dabei nur die 1986 aufs Gleis gesetzte, von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgte Kritische Gesamtausgabe (KSB bzw. KGB) in Betracht kommt, in (quellen-) kritischer Absicht und im Wissen um die komplizierte, von Nietzsches Schwester mit hoher krimineller Energie aufgeladene Überlieferungsgeschichte. Dazu abschließend für diesen Teil der methodologischen Vorbemerkungen noch ein letztes Beispiel, das wir oben ausführlich angesprochen haben im Zusammenhang mit Förster-Nietzsches willigem Helfer Heinrich Köselitz und dem wir dort nachgewiesen haben, 1900, in seinem Vorwort zu Bd. I der GBr., das Vorhandensein von nur noch drei Briefen Nietzsches an den Arzt Dr. Otto Eiser mit einer grandiosen Lüge verbrämt zu haben. Des Weiteren wurde im anschließenden Kapitel über Nietzsche Schwester in Erinnerung gerufen, dass sie in der Einleitung zu Gbr V behauptete, sie habe »einige Briefe verschenkt, besonders an Aerzte, die meines Bruders Krankheit damals studierten.« (Gbr V/1: X) Summarisch gesprochen: Um Nietzsches Schwester herum organisierte sich ab 1900 ein Komplott, dessen Absicht (auch) dahinging, die brieflichen Quellen zu unterschlagen oder sie systematisch zu verunreinigen, die einen seriösen Rückschluss auf Nietzsches Krankheit hätten erlauben können. Damit zu unserer zweiten methodologischen Vorüberlegung, in die praktischerweise mithilfe zweier Briefe eingeleitet werden soll. Der erste, Brief Nr. 356, ist vom 1. April 1874 und an Carl von Gersdorff, der aus ihm von seinem Freund Nietzsche das Folgende erfährt: »Könntest Du wissen, wie verzagt und melancholisch ich i m G r u n d e von mir selbst, als producirendem Wesen, denke! Ich suche weiter nichts als etwas Freiheit, etwas wirkliche Luft des Lebens und wehre mich, empöre mich gegen das viele, unsäglich viele Unfreie, was mir anhaftet. Von einem wirklichen Produciren kann aber gar nicht geredet werden, so lange man noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem Leiden und Lastgefühl des Befangenseins heraus ist: werde ich’s je erreichen?« (4: 214)
In andernorts (vgl. Niemeyer 1998: 124 ff.) ausführlich begründeter Übersetzung geredet: Nietzsche als ein an seiner ihm wichtigen eigenen Produktion interessierter Denker rüttelt hier heftig an den Fesseln, die ihm Richard Wagner respektive er sich selbst qua Vaterübertragung erstmals im November 1868 und nachfolgend ab Frühjahr 1869 anlegte. Der zweite hier interessierende Brief Nr. 365 geht gut
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sieben Wochen später, am 20. Mai 1874 ab, ein Geburtstagsgruß, gerichtet an Richard Wagner. Nietzsche schreibt: »Es ist ein unvergleichliches Glück für einen, welcher auf dunklen und fremden Wegen tappt und stolpert, allmählich in die Helle geführt zu werden, wie sie es mit mir gemacht haben; weshalb ich sie gar nicht anders als meinen Vater verehren darf. So feiere ich Ihren Geburtstag auch zu Feier meiner Geburt […].« (4: 228)
Auch hier kann die Erläuterung unter Verweis auf die genannte Vorarbeit knapp gehalten werden: Ersichtlich hat Nietzsches Rütteln an seinen Fesseln nur wenig Früchte getragen und sich die Vaterübertragung noch als zu stark erwiesen. Noch bedarf es eines harten Kampfes, ehe Nietzsche gut zweieinhalb Jahre später, am 27. September 1876 in Brief Nr. 556 – seinen letzten an Wagner – mit den Worten Vollzug melden kann: »Der Herbst, nach d i e s e m Sommer, ist für mich, und wohl nicht für mich allein, m e h r Herbst als ein früherer. Hinter dem grossen Ereignisse liegt ein Streifen schwärzester Melancholie, aus dem man sich gewiß nicht schnell genug nach Italien oder ins Schaffen oder in beides retten kann.« (5: 190)
»Nach Italien retten« meint hier Sorrent, wo Nietzsche auf Einladung Malwida von Meysenbugs endlich mit seinem ihm eigenen Schaffen beginnen und seine Aphorismen zu Menschliches, Allzumenschliches (1878) vervollständigen kann. Mit dieser Schrift, einer kunstvoll als solche drappierten Anti-Wagner-Streitschrift, beginnt, so später Karl Schlechta, »das eigentliche Werk« (Schlechta 1957: 90), mit Mazzino Montinari geredet: »der ›echte‹, zu sich selbst […] zurückgekommene Nietzsche, also der antimythische, antiromanische, antiwagnersche Nietzsche« (Montinari 1982: 56) – der Nietzsche also, um den es auch im Folgenden allein gehen wird. Dies meint zugleich: Für die Zwecke einer Analyse der subjektiven Krankheitstheorien Nietzsches analog der vorgenannten (für Nietzsches ›Frühe Schriften‹) wirklich ergiebig sind nur die Werke ab 1878. Durchaus erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die eigentlichen, auf die eigene Syphilis – und nicht nur jene mögliche seines Vaters – hindeutenden Beunruhigungen Nietzsche ab Herbst 1865 zu schaffen hätten machen müssen, wie exemplarisch sein im Vorhergehenden analysierter Brief an Carl von Gersdorff belegt. Und letztlich dann doch wieder nicht erstaunlich, wenn man unterstellt, dass ihn in dieser Zeit sein Studium und namentlich sein ›Doktorvater‹ 218 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Ritschl auf Trab hielten und ab November 1868 das Thema Richard Wagner, deutlicher: die schlagartige und so von ihm fraglos nicht erwartete Vaterübertragung auf diesen, wie eben exemplarisch gezeigt anhand der Briefe Nr. 356 sowie 365. Der Beginn dieser insoweit durchaus verhängnisvollen Affäre tritt überaus anschaulich zutage in Brief Nr. 599/2 vom 9. November 1868, gerichtet an Erwin Rohde, in welchem Nietzsche über geschlagene sieben Seiten hinweg begeistert über sein Kennenlernen Wagners berichtet, etwa das Folgende: »Vor und nach Tisch spielte Wagner und zwar alle wichtigen Stellen der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitierte und dabei sehr ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft dieser privatesten Art ganz heiter macht.« (2: 340)
Kurz: Nietzsche, bis dato ein Wagnerskeptiker, verfiel Wagner 1868, ließ sich, wie er später, 1880, erkannte, »ein Stück Gehirn« ausschneiden, um, wie ein Huhn, »halbtrunken und schwankend die Reflexbewegungen der Anbetung aus[zu]führen.« (IX: 159) Folgen zeitigte dies in Nietzsches Erstling GT und den nachfolgenden vier Unzeitgemäßen Betrachtungen sowie in den von Nietzsche nicht zur Veröffentlichung bestimmten Bildungsvorträgen von 1872. Nietzsche hat in diesen Schriften, ohne dies hier im Detail belegen zu können (vgl. allerdings Niemeyer 2011: 75 ff.), sich selbst und seine eigenen, praktischen wie theoretischen Probleme völlig aus dem Blick verloren und nur noch Augen für Wagner und dessen Anliegen – mit der Folge, dass ihm bei Relektüre aus der Perspektive eines endlich zu sich Gekommenen der Schrecken überkam, so wie im Frühjahr 1880 bei Erstellung der Vorrede zur unvollendet gebliebenen Skizze L’Ombra di Venezia, deren allererster Satz lautet: »Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus: Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind – häßliche Abzeichen, um derentwegen ich diese Schriften zu Ende zu lesen nicht ausgehalten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas weniger bekannt gewesen.« (IX: 47)
Die Anschlussfrage, in der Nietzscheforschung gerne umgangen (zuletzt von Neymeyr, 2020: 27 f.) ist hier zwingend: Warum soll man als
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an Nietzsche Interessierter diese Schriften lesen, wenn dies Nietzsche selbst im zeitnahen Rückblick nicht mehr für geboten hielt? Die Frage wird umso dringender, als Nietzsche noch acht Jahre später, in Ecce homo, über die Zeit vor Entstehung von Menschliches, Allzumenschliches (1878), also: über die Jahre seit Beginn seiner Wagnerverehrung 1868, die seiner Verehrung für den Altphilologen Ritschl gleich auf dem Fuß folgte, befand: »Zehn Jahre hinter mir, wo ganz eigentlich die E r n ä h r u n g des Geistes bei mir stillgestanden hatte, wo ich nichts Brauchbares hinzugelernt hatte, wo ich unsinnig Viel über einem Krimskrams verstaubter Gelehrsamkeit vergessen hatte. Antike Metriker mit Akribie und schlechten Augen durchkriechen – dahin war es mit mir gekommen! – Ich sah mit Erbarmen mich ganz mager, ganz abgehungert: die R e a l i t ä t e n fehlten geradezu innerhalb meines Wissens und die ›Idealitäten‹ taugten den Teufel was! – Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften.« (VI: 325)
Nur der Deutlichkeit halber: »Von da ab« meint: von Menschliches, Allzumenschliches an – sowie, und auch dies als Interpretationshilfe meinerseits: dass Nietzsche von da ab nichts anderes trieb als »Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften«, ist zwar ein wenig übertrieben. Und dennoch ist der Satz dahingehend erweiterbar, dass Nietzsche fortan Medizin auch in Gestalt seiner subjektiven, auf sein eigenes Leiden bezüglicher Krankheitstheorien interessierte, inklusive der Frage, ob seine Wagnerverehrung nicht möglicherweise Zeugnis gäbe für eine ›Krankheit‹ ganz besonderer Art. Diesen Rückschluss erlaubt jedenfalls der Umstand, dass Nietzsche im gleich nachfolgenden Passus zu erkennen gibt, dass seine Wagner-Begeisterung letztlich Folge seiner »instinktwidrig gewählten Thätigkeit« gewesen sei, nämlich jener als Altphilologe à la Ritschl. Und dass er soweit einem für Wagners Siegeszug in puncto seiner Person ausschlaggebenden »Bedürfnis nach einer B e t ä u b u n g des Öde- und Hungergefühls durch eine narkotische Kunst« (VI: 325) unterlag, aber nicht auf Dauer, denn, und dies ist nun wirklich eine erstaunliche Wendung des Arguments: Nietzsche versteht es, dieser seiner Selbstdarstellung zufolge als Geburtshelfer bei diesem seinen Akt der Resubjektivierung gegen Ritschl als auch gegen Wagner »jene s c h l i m m e Erbschaft von Seiten meines Vaters« aufzurufen, und zwar diesmal im durchaus trivialen Sinne, also außerhalb der Bezüge, die mit seinen Jahrzehnte zurückliegenden (Alp-) Träumen über den 220 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Tod seines kleinen Brüderchens aufgerufen werden und nur dahingehend zu verstehen, dass ihm die vom Vater als »Vorbestimmung zu einem frühen Tode« ererbte Krankheit seine Wagnerüberwindung erleichtert habe: Sie »l ö s t e m i c h l a n g s a m h e r a u s : sie ersparte mir jeden Bruch, jeden gewaltthätigen und anstößigen Schritt«, ausführlicher und in erkennbarer Anspielung auf Nietzsches Situation im Winter 1877/78 kurz vor seiner Frühpensionierung gesprochen: »Die Krankheit […] g e b o t mir Vergessen; sie beschenkte mich mit der N ö t h i g u n g zum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein … Aber das heisst ja denken! … […] Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständigen HörenM ü s s e n auf andre Selbste […] erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, – aber endlich r e d e t e e s w i e d e r. Nie habe ich so viel Glück an mir gehabt, als in den kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens: man hat nur die ›Morgenröthe‹ oder etwa den ›Wanderer und seinen Schatten‹ sich anzusehn, um zu begreifen, was diese ›Rückkehr zu m i r ‹ war: eine höchste Art von G e n e s u n g selbst!« (VI: 326)
Folgen wir also diesem Lesetipp, angetrieben von der kritischen Frage, was Nietzsche in diesen ›mittleren‹ seiner Werke nun, wo er den Kopf wieder für seine Fragen und Probleme frei hatte und nicht lediglich nur den ›fanatischen‹ Positionen Wagners huldigte, über seine Krankheit und die darauf bezüglichen subjektiven Krankheitstheorien verlauten lässt.
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Menschliches, Allzumenschliches I u. II (1878–1880)
Diese im Mai 1878 erschienene Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches (in diesem Kapitel: MA) steht zusammen mit den zwei Nachträgen Vermischte Meinungen und Sprüche (1879; in diesem Kapitel: VM) und Der Wanderer und sein Schatten (1880; in diesem Kapitel: WS) – zusammen: Menschliches, Allzumenschliches II (= MA II) – für einen »radikalen stilistischen und inhaltlichen Wandel in Nietzsches Schaffen.« (Schaberg 2002: 83 f.) Stilistisch meint: Nietzsche entdeckt den Aphorismus als die sowohl seinem Anliegen als auch seinen Lebensumständen gegenüber angemessene Redeform. Inhaltlich meint: Nietzsche liest, wie eben angedeutet, Wagner und die Basler Professur als seinen »Fehlgriff«, als Hinweis auf eine »Gesammt-Abirrung [s]eines Instinkts«, und er entdeckt, »dass es die höchste Zeit war, mich auf m i c h zurückzubesinnen.« 221 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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(VI: 324). Sowie: Nietzsche nimmt eine Thematik wichtig, die ihn bisher eher am Rande interessierte und über die seine Bemerkung Auskunft gibt, der »gelehrtere Ausdruck« für sein »Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches« laute: »die psychologische Beobachtung.« (II: 57) Ein allererster Ertrag derselben: Nietzsche bringt in Vorwegnahme Freuds (GW VIII: 420), das Stichwort »Sublimirung« (II: 23) ein und lobt in MA 2 eine noch zu entwickelnde »historische Philosophie«, in deren Logik sich sowohl »im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft« als auch »in der Einsamkeit an uns« noch zeigen werde, dass auch auf dem Gebiete der Kultur und Gesellschaft, ähnlich wie in der Chemie, »die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind.« (II: 24) Es gehört wenig Fantasie dazu, sich unter jenen ›verachteten Stoffen‹ auch die Bordellgeschichte Deussens (s. IV.2/8) vorzustellen und also anzunehmen, Nietzsche sei es auch um die Frage gegangen, ob nicht auch dieser seiner höchstpersönlichen Not ein höherer Sinn abgewonnen werden könne. Zu beachten bleibt dabei: Wenn man die Terminologie aus MA 1 zum Maßstab nimmt, liegt es nahe, nicht nur eine anti-metaphysische ›historische Philosophie‹, sondern auch eine entsprechend ausgerichtete Pädagogik zu fordern und ihr abzuverlangen, sie müsse anderes elaborieren als die Vorstellung einer Art Wunder-Erziehung. Ähnlich – so Nietzsche in dem mit dieser Überschrift versehenen Aphorismus MA 242 – »wie die Heilkunst erst erblühen konnte, als der Glaube an Wunder-Curen aufhörte«, wird das Interesse an der Erziehung »erst von dem Augenblick an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgiebt.« (II: 202) Dies war nichts anderes als eine Kampfansage an die Adresse jeder theologisch unterlegten Erziehungsmetaphysik, die selbsterlebte eingeschlossen, ebenso wie jene, der Lord Byron zum Opfer fiel. Aber mehr als dies: Im gleich nachfolgenden Aphorismus MA 243 offeriert Nietzsche unter dem Titel D i e Z u k u n f t d e s A r z t e s eine Art Ratgeber gleichsam aus Patientensicht – ein Arzt also, der nicht nur »die besten neuesten Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die Diagnostiker berühmt sind«; sondern ein Arzt, der sich (auch) auf dasjenige versteht, was in neueren Professionalisierungsmodellen (vgl. Niemeyer 2019: 400 ff.) unter fallbezogenen, kasuistischen, hermeneutischen Kompetenzen subsumiert wird, in Nietzsches Worten: 222 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»[E]r muss […] eine Beredsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den Wurmfrass aller Kranken) verscheucht […], die Freiheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen […]: so ausgerüstet ist er dann im Stande, der ganzen Gesellschaft ein Wohltäter zu werden, durch Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistigleiblichen Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so erst wird er aus einem ›Medicinmann‹ ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun, hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen.« (II: 203 f.)
Dies wirkt fast wie aufgeschrieben aus der Perspektive eines Syphilispatienten (»Unterleib«), der nachsucht um fachlichen Rat, ob und unter welchen Umständen er heiraten darf (der Arzt als »Ehestifter und Eheverhinderer«) und adressiert an Nietzsches Arzt an Otto Eiser, den Nietzsche im Herbst 1877 in Fragen wie diesen konsultiert hatte und der bei dieser Gelegenheit, so darf man MA 243 deuten, in all den hier genannten Punkten versagt hat. Wie sehr, offenbart auch Brief Nr. 656, den Nietzsche am 28. August 1877 Erwin Rohde geschrieben hat ob der Nachricht Dritter, Rohdes junge Frau sei »ein höchst liebliches« Wesen: Er, Nietzsche, habe darob »Thränen vergossen« und wisse »keinen haltbaren Grund dafür anzugeben«, ehe folgt: »Wir wollen einmal die Psychologen fragen; die bringen am Ende heraus, es sei der Neid, dass ich Dir Dein Glück nicht gönne« (5: 277) – eine Erwägung, welche die Stimmung bezeichnet, in der Nietzsche wenig später Eiser konsultierte und auf die dieser offenbar, das Psychologische nicht als Teil seines ärztlichen Habitus verbuchend, denkbar schlecht vorbereitet war. Wichtiger, im Blick auf unser Thema: Vergleicht man MA 243 mit Nietzsches zehn Jahre später dargebotenen M o r a l f ü r Ä r z t e aus Götzen-Dämmerung (vgl. Prolog), wird augenfällig, dass Nietzsche 1877/78 noch gänzlich frei war von dem 1888 zutage tretenden Zynismus – nicht lange übrigens, wie der folgende Satz aus MA 376 offenbart, in welchem Nietzsche unter dem Titel Vo n d e r F r e u n d e n in verklausulierter Form den Gründen für die Abwendung von seinem ›Freund‹ Wagner nachgeht:
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
»Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind, wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen?« (II: 263)
Diese Bemerkung, rekapituliert unter dem Titel Ve r l e u m d u n g in WS 264, hat für einige Aufregung in der Nietzsche- wie Wagnerforschung gesorgt. (vgl. Niemeyer 1998: 211 ff.) Was die Fakten betrifft, steht außer Frage, dass Nietzsche vom 3. bis 7. Okober 1877 vom Arzt und Wagnerianer Dr. Otto Eiser und einem befreundeten Augenarzt in Frankfurt am Main untersucht worden war. Schlimm an der Befunderhebung: Dass Eiser über das Ergebnis auch Richard Wagner Kunde gab, unter Einschluss der Mitteilung, dass Nietzsche ihm bei »Erörterung seiner geschlechtlichen Zustände versicherte, […] daß er nie syphilitisch gewesen sei«, allerdings »von Tripper-Ansteckungen während seiner Studentenzeit« berichtete sowie davon, »daß er jüngst in Italien auf ärztliches Anraten mehrmals den Coitus ausgeübt haben will« (zit. n. Gregor-Dellin 1980/84: 683) – mit, wie man wohl annehmen muss, potentiell syphilisinfizierten Prostituierten (ein Gebaren, das man bei einem Syphilophoben nicht unbedingt erwarten würde, wie zuzugestehen ist, es sei denn – verwiesen sei auf den Fall Maupassant (s. III/12) –, er sei bereits infiziert und wisse darum). Und obgleich Eiser trotz seines ungewöhnlichen Untersuchungsansatzes – der Experte fragt den Laien – Nietzsche, was die Syphilisfrage angeht, Glauben schenkte, ebenso wie zuletzt und kurioserweise, da Nicht-Mediziner, Reto Winteler (2014: 133), blieben Restzweifel. So wusste Eiser beispielsweise schlicht nicht, wie er die von ihm und seinem Kollegen im Fall Nietzsche diagnostizierten »gravierenden Veränderungen des Augenhintergrundes« ohne Syphilisdiagnose erklären respektive behandeln könne (Gregor-Dellin 1980/84: 684) – kein Wunder, gilt doch dieses bei Nietzsche erstmals 1875 diagnostizierte und schließlich 25 Jahre lang bestehende Augenentzündung auch aus heutiger Sicht als »mögliches Indiz für eine chronische syphilitische Infektion.« (Schmücker 2009: 202) Was man Otto Eiser allerdings als wirkliches Versäumnis anlasten muss, ist der Umstand, dass ihm Zweifel in Sachen der Glaubwürdigkeit seines Patienten Nietzsche offenbar fremd waren, und dies zumal eingedenk des Umstandes, dass Nietzsche sich zum Heiraten »entschieden geneigt« gezeigt habe, was bei einem »›eingefleischten Onanisten‹«, so Eiser in Rückerinnerung an Wagners These, »befremden müßte« (Gregor-Dellin 1980/84: 683). Aber, schlimmer und direkt in 224 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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den in Rede stehenden Satz aus MA 376 einfließend: Eiser hat Nietzsche offenbar von jenem Brief Wagners Kenntnis gegeben, wie die von Sander L. Gilman erstmals 1981 veröffentlichte Niederschrift eines ehemaligen Baseler Studenten Nietzsches, Eugen Kretzer mit Namen, die dieser im Jahre 1913 für sich angefertigt hatte, abzuleiten erlaubt. Hier nämlich lesen wir: »›Warum Nietzsche von Wagner abfiel‹, meinte Eiser einst: – ›ich weiss es allein, denn in meinem Hause, in meiner Stube hat sich dieser Abfall vollzogen, als ich Nietzsche jenen Brief [Wagners; d. Verf.] in wohlmeinendster Absicht mitteilte. Ein Ausbruch von Raserei war die Folge. Nietzsche war ausser sich: – die Worte sind nicht wiederzugeben, die er für Wagner fand. – Seitdem war der Bruch besiegelt.‹ Das müsste im Herbst 1877 geschehen sein.« (zit. n. Gilman 1981: 345)
So weit, so klar – würde in der Nietzscheforschung nicht noch bis in die jüngste Zeit hinein dieses Notats als »wertlos« (Winteler 2011: 261) ad acta gelegt und/oder Funken geschlagen aus einem erstmals 1980 veröffentlichten Brief Nietzsches an Malwida von Meysenbug, verfasst am 21. Februar 1883, also kurz nach Wagners Tod. Hier, in Brief Nr. 382, heißt es an entscheidender Stelle: »Whagneri hat mich auf eine t ö d t l i c h e Weise beleidigt – ich will es Ihnen doch sagen! – sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich empfunden.« (6: 335)
Die einschlägig interessierte Nietzscheforschung meinte hierzu die These vertreten zu dürfen, dass Nietzsches Abwendung von Wagner eben hierin ihren Grund habe und »[j]ede psychologisierende […] Deutung von Nietzsches Bruch mit Wagner […] am Kern der Sache vorbei [interpretiert]« (Montinari 1985: 20; zuletzt: Winteler 2011) Wer so argumentiert, hat schlicht keinen Begriff für Nietzsche merkwürdiges Zögern in diesem Brief und die gleich nachfolgende entschlossene Wendung (»ich will es Ihnen doch sagen!«). Beides spricht eher dafür, dass Nietzsche aus Pietät gegenüber Malwida als einer zutiefst trauernden Wagnerianerin nichts weiter als eine Nebelkerze zündete, die ihr half, sich den Bruch zwischen Nietzsche und Wagner mittels einer ihr vertrauten Denkfigur zu erklären – für den Preis, dass dadurch der eigentliche Hintersinn der Vokabel ›tödliche Beleidigung‹ respektive, so der Sprachgebrauch in MA 376, ›tödliche Verletzung‹, verloren ging, Nietzsche also in Malwidas Augen, sollte sie diesen Brief wörtlich nehmen, als hypersensibel wahrgenommen wurde. 225 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Eben deswegen ist es ja auch der nur einen Tag später verfasste Brief Nr. 384 so wichtig. Adressat ist diesmal Franz Overbeck, dem Nietzsche in der Hauptsache Klartext anbietet mittels der Formulierung: »Wa g n e r war bei weitem der v o l l s t e Mensch, den ich kennen lernte, und in d i e s e m Sinne habe ich seit sechs Jahren eine große Entbehrung gelitten. Aber es giebt etwas zwischen uns Beiden wie eine tödtliche Beleidigung; und es hätte furchtbar kommen können, wenn er noch länger gelebt haben würde.« (6: 337)
Der Folgerung, dass das Wort vom ›vollsten Menschen‹ »doch wohl« ausschließe, dass Nietzsche Wagner »im nächsten Satz einer Verletzung seiner persönlichen Ehre zeihen will« (Borchmeyer / Salaquarda 1994a: 1347), steht eine Deutung entgegen, die am fett gesetzten Wörtchen »aber« ansetzt, dessen auffällige Hervorhebung offenbar sagen soll: Ich, Nietzsche, hätte die Entbehrung infolge der Trennung von Wagner als schmerzlicher empfunden, wenn Wagner mich nicht tödlich beleidigt hätte – wann: vor »sechs Jahren«, also 1877: das Jahr des Geschehens in Eisers Praxis … Eben dies also, so ließe sich folgern, macht Nietzsche Wagner zum allerletzten Vorwurf – und kaschierte dies aus Takt in seinem ein Tag zuvor verfassten Brief an Malwida von Meysenbug mit der Folge, dass seriöse Forscher lange Zeit meinten, es sei tatsächlich Wagners Rückkehr zum Christentum gewesen, die Nietzsche so empörte. Dem ist nicht so: Was Nietzsche final gegen Wagner aufbrachte und seinen Bruch mit ihm im Herbst 1877 zu einem unumkehrbaren machte, war dessen Indiskretion in puncto von Nietzsches Syphilis. Spannend dabei, im Rückblick auf MA 367, Nietzsches Wendung »was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen« (II: 263), der zu entnehmen ist, dass Wagner an sich richtig lag. Ergo: Die »tödliche Beleidigung« (oder »Verletzung«), derer sich Wagner in Nietzsches Wahrnehmung schuldig gemacht hatte, begründet sich nicht aus unzulässigen Verdächtigungen, sondern aus dem Bekanntmachen des verborgen zu Haltenden. Aber man kann noch einen Schritt weitergehend. Denn auf Nietzsche 1877 er Kenntnis der Intervention Wagners gegenüber Eiser scheint auch der Satz aus dem Nachlass Frühling – Sommer 1878 hinzuweisen: »Verwundet hat mich der mich erweckt.« (VIII: 507) Er steht zwar zusammenhanglos da, klingt aber so, als erkenne Nietzsche nun erst die tragische Seite jenes von ihm noch im Mai 1869 als Initiationsritus in die Welt Wagners begrüßten Siegfried226 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Motivs. (vgl. Niemeyer 1998: 126 ff.) Auch andere Nachlasspassagen aus dieser Zeit lassen sich dieser Deutung einfügen, wie etwa die folgende Vorstufe aus dem Nachlass Sommer 1878: »Der weiss noch nichts von der Bosheit, der nicht erlebt hat, wie die niederträchtigste Verleumdung und der giftigste Neid sich als Mitleid geberden.« (VIII: 528) Deutlicher noch ist der als Fortentwicklung aus diesem Passus zu lesende Aphorismus VM 68: »Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert muthig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.« (II: 406)
Erneut fällt der Name Wagner in diesem Zusammenhang nicht, aber dass er es war, der, zumal in seinem Brief an Eiser, um Nietzsche Ruf nicht hinreichend besorgt gewesen war, steht außer Frage und wird indirekt selbst durch Mazzino Montinari (1985: 20) zugestanden. Diesem Themenkreis gehört auch VM 278 zu. Aufgegriffen wird mit ihm, wie es scheinen will, das Stichwort »Ehestifter und Ehevermittler« aus MA 243, diesmal dessen dunkler Seite nach, die unter der (zynischen) Überschrift Z u r Ve r b e s s e r u n g d e r W e l t debattiert wird, und zwar wie folgt: »Wenn man den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung verwehrte, so könnte man die Erde in einen Garten des Glücks verzaubern. – Dieser Satz gehört in eine practische Philosophie für das weibliche Geschlecht.« (II: 496)
Zu bedenken ist hier, dass Nietzsche nur ein Jahr zuvor seine im Alter von nur 24 Jahren so hoffnungsvoll gestartete Universitätskarriere nach nur zehn Jahren krankheitshalber beenden musste und zu jener Zeit, wie gesehen (s. IV.1), zu jener Zeit in Briefen heftig klagte über seine gesundheitlichen Probleme. Nietzsche erweckte, was VM 278 angeht, zwar nicht den Eindruck, dass er sich selbst diesen ›Schwarzgalligen‹ zurechnet, suggerierte vielmehr, er bezöge sich auf ein zeitdiagnostisches Urteil Dritter, das im dazugehörenden Nachlass wie folgt referiert wird: »Geht durch die großen Städte und fragt euch, ob dies Volk sich fortpflanzen soll!« (IX: 189) Aber dieser Suggestion zu folgen und VM 278 nur als Zeugnis für (Nietzsches) Elitebewusstsein zu lesen und nicht auf die für es geltend gemachten Motive sowie, und dies vor allem, auf die darin verborgene tiefe Verzweiflung Nietzsches hin zu befragen, hieße, die Vordergründe Nietzsches mit
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seinen Hintergründen identisch zu setzen. Insoweit spricht einiges dafür, VM 278 als Vorschein späterer Zeugungsverhinderungsstrategien, namentlich jener aus Ecce homo, zu deuten sowie VM 408 diesem Themenkreis zuzuordnen. Nietzsche gedenkt hier, im scheinbar nur auf Philosphisches abstellenden Plauderton (»Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein«; II: 533), der eigenen Hadesfahrten, um am Ende zur Begeisterung von Albert Camus (1942a: 71) zu skandieren: »A u f d i e e w i g e L e b e n d i g k e i t aber kommt es an: was ist am ›ewigen Leben‹ und überhaupt am Leben gelegen!« (II: 534) Freilich: Zieht man Nietzsche hier die Maske ab und schließt eingedenk seines Hinweises, bei seinem Besuch in der Unterwelt »des eignen Blutes nicht geschont« (II: 534) zu haben, liegt ein Endreim nahe, der weniger auf Sisyphos denn auf Syphilis lautet. Grundlegender in Fragen dessen, was in puncto Sexualität zu ändern sei, argumentiert Nietzsche in WS 5. Was Not tue, sei die Widerrufung der der Metaphysik eigenen Geringschätzung »aller nächsten Dinge«, wie »zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren«, bei gleichzeitiger übertriebener Hochschätzung der vermeintlich »›wichtigsten Dinge‹« – eine Heuchelei sondergleichen mit der Folge, dass man die »nächsten Dinge […] nicht zum Object des stätigen unbefangenen und a l l g e m e i n e n Nachdenkens und Umbildens macht« und »die Gewohnheit und die Frivolität über die Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene Jugend leichten Sieg haben.« (II: 541) So, wie dereinst, 1865/66, die »Frivolität« über den »unbedachtsamen« Nietzsche, über dessen »unerfahrene Jugend« leichten Sieg hatte? Man weiß es nicht, ahnt es nur – ebenso, dass Nietzsche gleich nachfolgend, in WS 6, eben dieser Gründe wegen den aufklärerischen Gedanken zur Anerkennung gebracht wissen will, dass der Sexualität ein Eigenrecht zukomme, weniger unverblümt geredet und also mit Nietzsche: »[ I ] m K l e i n s t e n u n d A l l t ä g l i c h s t e n u n w i s s e n d zu sein und keine scharfen Augen haben – das ist es, was die Erde für so Viele zu einer ›Wiese des Unheils‹ macht.« (II: 542)
Hervorstechend ist hier die Vokabel ›Wiese des Unheils‹, die beides unter sich vereint: das Verlockende, Bunte, Glücksverheißende, aber eben auch das verborgene Gift in all dieser Pracht, deretwegen es gilt, mit ›scharfen Augen‹ sehend zu werden, und dies geht nur mittels Überwindung der in WS 5 gegeißelten (priesterlichen) Lüge, »welche 228 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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von der Kindererzeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet.« (II: 541) Bis es so weit ist, weiß WS 7 mit Epikur – so auch der Titel – Z w e i Tr o s t m i t t e l , »um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht […]: erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns Nichts an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.«
Wohlgemerkt: Nietzsche redet hier von Trostmitteln für »Unglückliche, Uebelthäter, Hypochonder, Sterbende« (II: 544) – und nichts gibt uns Anlass, zumal nicht Nietzsches zu eben jener Zeit brieflich von ihm selbst vielfach beklagter Krankheitszustand, daran zu zweifeln, dass Nietzsche einer dieser Leidensgruppen zurechenbar ist und also von seinem eigenen damaligen ›Nachgrübeln‹ Kunde gibt. Nietzsches Fazit, konzentriert auf den engeren Kreis des uns in dieser Arbeit interessierenden Themenaspekts, wird in WS 37 dargeboten: »Es stand bei euch uns steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu nehmen und dermaassen vorzubeugen, dass sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. – Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln.« (II: 569)
Interessant ist vor allem der Satz »Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen«, der kaum einen Zweifel darüber erlaubt, dass Nietzsche hier von seinen eigenen ›Versehen‹ redet und von seinem Umgang mit ihnen – wie auch in WS 40, handelnd von der Bedeutung des Vergessens, oder in WS 46, wo Nietzsche für »Kloaken der Seele« plädiert. Ein neuer, anti-christlicher Akzent wird in WS 78 angeschlagen unter dem Titel D e r G l a u b e a n d i e Krankheit, als Krankheit: »Erst das Christenthum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt; erst das Christenthum hat die Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen aufbot, ist nun allmählich bis in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht der G l a u b e a n d i e K r a n k h e i t , welchen es gelehrt und verbreitet hat« (II: 587)
– ein Glaube, wie man hier umstandslos ergänzen darf, den auch Nietzsche zu überwinden hatte, indem er lernen musste, (s)ein Agieren, das ihm (und Anderen) die Syphilis einhandelte, nicht als sündhaftes zu rubrizieren. Was darob blieb, war das profane Mitleid mit 229 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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dem Syphilitiker nach dem Muster von WS 268, den wir bereits im Prolog erwähnt haben. Wohlgemerkt: Nietzsche bot diesen die gängigen Symptome von Syphilitikern listenden Aphorismus unter dem Titel M i t l e i d e n m i t d e r J u g e n d dar und tat durch seine Interpretation alles dafür, dazutun, dass speziell sein Jammer keinerlei Eigenbezug aufwiese und allein damit zu tun habe, dass die »Menschheits-Mission […] in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muss« (II: 668) – eine, wie wir nun wohl und resümierend sagen dürfen, weitere Nebelkerze des unheilbar an Syphilis Erkrankten. Zeit und Ort für eine Zwischenbilanz: Mit MA – sowie nachfolgend VM und WS – beginnt eine neue Phase in Nietzsches Schaffen. Inhaltlich gesehen zentral ist der Durchbruch zugunsten einer im Geist der Aufklärung vorgetragenen anti-metaphysischen und mithin gleichermaßen kultur-, religions- wie auch moralskeptisch angelegten ›historischen‹ Philosophie (sowie Pädagogik, Psychologie und Medizin), die mit den von Wagner oder Schopenhauer und den daran geknüpften Vorstellungskomplexen und Programmatiken nur noch rückversichernd und im (ideologie-) kritischen Gestus dessen umgeht, der, im Rückblick auf das Frühwerk gesprochen, einen Paradigmenwechsel beabsichtigt und ihn als notwendig sowie unhintergehbar zu beglaubigen sucht, dies auch, wie zuletzt deutlich geworden ist, aus Gründen seiner Krankheit, deren Hauptproblem immer deutlicher zu Tage tritt: Es geht um Syphilis.
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Morgenröthe (1881)
Mit Morgenröthe (im Folgenden: M) setzte Nietzsche den Paradigmenwechsel fort, der mit Menschliches, Allzumenschliches begonnen hatte. Der Untertitel Gedanken über die moralischen Vorurteile gewinnt sein Recht vor allem aus M 9, aus dem wir erfahren: »Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müsste.« (III: 24)
Dass Nietzsche dabei auch an sich dachte, liegt auf der Hand. Denn schließlich war er es, der, gegen viele Widerstände im privaten Umfeld, hinter der ihm anerzogenen zweiten Natur des Philologen seine erste Natur (die des freigeistigen Philosophen) erst mühsam freizule230 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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gen hatte. (vgl. Niemeyer 1998: 91 ff.) Entsprechend dreht er den Spieß nun um: Wohlwissend, dass er durch seine »Freigeisterei« insbesondere seine »Nächsten« »in Zweifel, Kummer und Schlimmeres« geworfen hatte, fordert er in M 146, »entferntere Zwecke unter Umständen a u c h d u r c h d a s L e i d d e s A n d e r e n zu fördern.« (III: 137) Diese vom (Heidelberger) Kommentator Jochen Schmidt scharf getadelte Passage 70 ist gänzlich unverdächtig und zu lesen als eine im Interesse der Entdeckung des Neuen unvermeidbare Umkehr des in der (geisteswissenschaftlichen) Pädagogik seit Schleiermacher anerkannten Generationenverhältnisses. Dass dies dem pädagogischen Mainstream verdächtig war, ist einzuräumen. Dies gilt umso mehr, als Nietzsches Kampf für das Neue und Innovative grundlegende Bürgertums- und Christentumskritik erfordert. Eher en passant geschieht dies dort, wo Nietzsche, ohne einen Namen zu nennen, Wagners – für ihn im Parsifal sinnfällig gewordene – Rückkehr zum Christentum in M 56 mit dem spöttischen Kommentar versieht, dass das Alter nun einmal »schwach und vergesslich mache.« (III: 58) Im vermeintlich ›guten‹, christlichen Menschen ist also, so müssen wir Nietzsche verstehen, nichts weiter zu besichtigen als die zur Tugend aufgewertete Schwäche, die sich wiederum anheischig macht, das ›Starke‹ als das ›Böse‹ ins Abseits zu setzen nach dem Tenor aus M 76: »Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – grossen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen«
Zögernd hört man hier als Subtext die Frage heraus: »Auch meine Leidenschaften? Hat das Christentum auch dasjenige, was mich 1865/66 in meine aktuelle Notlage als mit 35 Jahren krankheitsbedingt frühpensionierte Professor brachte, ›böse und tückisch‹ betrachtet?«
Zumal dem folgt: »Muss man denn Etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinn zu schlagen hat, immer b ö s e heißen!«
Argumentleitende Vokabeln sind hier die vom Philosophen, der »im Bewusstsein seiner Superiorität« auch schon »die Sklaverei bejahte.« (Schmidt 2015: 226)
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Eine rhetorische Frage, wie die freigeistige Zwischenüberlegung andeutet: »An sich ist den geschlechtlichen […] Empfindungen gemeinsam, dass hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohlthut – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltung nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern!«
Nietzsche meinte dies selbstredend anklagend, nicht fordernd, wie der Folgesatz deutlich macht: »Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang genommen: der ›Teufel‹ Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, Dank der Munkelei und Geheimnisthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, dass die L i e b e s g e s c h i c h t e das einzige wirkliche Interesse wurde, das a l l e n Kreisen gemein ist.« (III: 73 f.)
Heißt zugleich auch: Der Kirche ist, wider Willen, der große Gleichmacher der Menschen in ihrer Not, deutlicher: ihrer Sexualnot. Meiner Not, meiner Sexualnot, und damit zugleich auch: die Kirche ist schuld an meinem, wohlgemerkt: Nietzsches Gang ins Bordell. Vor diesem Hintergrund schlägt M 54 gleichsam zur Therapieseite in puncto dieser dunklen Seite von Nietzsches Sexualnot aus, lesen wir doch: »Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, m e h r von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist Etwas! Und es ist nicht Wenig! Versteht ihr nun unsere Aufgabe?« (III: 57)
Die Frage ist nicht rhetorisch und kann es auch nicht sein, weil niemand weiß und wohl auch nicht wissen soll, dass es statt »unsere Aufgabe« eigentlich »meine Aufgabe« heißen muss – gesetzt, Nietzsche rede hier von seiner Krankheit und von seiner auf diese bezüglichen Fantasie, wie etwa auch in JGB 264 oder in GM III 15. In Übersetzung geredet: M 54 dokumentiert, wie sehr Nietzsche persönlich der Beruhigung in Sachen seiner subjektiven Krankheitstheorien, die Ursache seiner Leiden betreffend, bedürftig war. Immerhin: Was die Frage der Behandlung angeht, war Fantasie durchaus erwünscht. Dies zeigt M 52: In Weiterführung von MA 243 (D i e Z u k u n f t d e s A r z t e s ) stellt Nietzsche, beachtet zuletzt von 232 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Céline Denat (2020: 32 ff.), begleitet aber auch vom Spott Jochen Schmidts 71, »die unerhörte Quacksalberei an den Pranger […], mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheit zu behandeln gewöhnt ist.« (III: 56) Beachtung, auch dies im Blick auf Nietzsches eigene Krankheit, verdient des Weiteren Nietzsches in M 202 vorgetragene Überlegung, dass man in »rohen Zuständen der Cultur« das »dämonische Wesen« immer nur auf dem Grunde der Kranken gesichtet habe, und zwar geleitet von der Vorstellung, dass sich hier ein Wesen Bahn bräche, welches sich dem Kranken »in Folge einer Schuld einverleibt« (III: 178) habe. Diese vor-aufklärerische Moritat möchte Nietzsche durch jene ersetzt wissen, bei der man das Dämonische auf dem Grunde der vermeintlich Schuldigen zu identifizieren in der Lage sei. Das Dämonische gerät hiermit zur Leerstelle für einen erst noch zu dechiffrierenden psychodynamischen Sachverhalt, der das Verhalten desjenigen, der durch sein Tun eine Schuld auf sich geladen hat, zu erklären vermag. Bemerkenswert ist dabei, dass erst diese aufklärerische Variante (»Jeder ›Schuldige‹ ist ein Kranker«) der vor-aufklärerischen Urfassung (»Jeder Kranke ist ein Schuldiger«) Nietzsche den Umgang mit seinem eigenen und einem ihm höchst nahestehenden ›Dämon‹, seinem Vater, erlaubt haben dürfte. In beiden Fällen nämlich war die Krankheit möglicherweise Folge einer Schuld, die sich mit Nietzsches Theoriekonstruktion doch zugleich auch wiederum ein Stück weit als eine – nun allerdings psychologisch informative, im jeden Fall zur Exkulpation geeignete – Krankheit fassen ließ. Dieser Hintergrund würde auch Nietzsches Plädoyer gegen das »Aufwiegenwollen der Schuld durch die Strafe« (III: 177) verständlich machen. Denn mit diesem Votum und der diesem Zusammenhang zugehörenden Hoffnung, dass eines Tages »Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück […] Heilkunst und Heilwissenschaft« (III: 178) verwandeln möge, ist zugleich gesetzt, dass man den modernen Dämon des Schuldigen, im Gegensatz zum vormodernen Dämon des Kranken, mittels moderner ›Heilwissenschaft‹ (Psychologie) dechif»[A]us allen weiteren Aussagen, auch aus N.s späteren Schriften[, wird] deutlich, dass er sich als ›philosophischer Arzt‹ eher auf das Schneiden und Brennen versteht, indem er das Christentum und seine Moral radikal attackiert.« (Schmidt 2015: 33 f.) Aussagen dieser Art unterschreiten bei Weitem das Niveau, das, beispielsweise, Reinhard Gasser in seiner Studie Nietzsche und Freud (1997) – bei Schmidt noch nicht einmal gelistet – in dieser spezifischen Frage (etwa Gasser 1997: 557 ff.) vorgelegt hatte.
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frieren und mittels moderner ›Heilkunst‹ (Psychotherapie) kultivieren müsse, wenn man sich denn des Menschseins würdig erweisen wolle – Visionen, die sich bis auf Ausblicke in Richtung »stiller Vereine Solcher« steigern, »welche sich unter einander verpflichtet haben, auf die Hülfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übelthätern zu verzichten«, mehr als dies: »[N]och hat kein Denken den Muth gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann.« (III: 178)
Einer derer, die von einer derartigen Gesellschaft profitieren würde, als deren ›Parasit‹ : Nietzsche, der Syphilitiker – eine Überlegung, die uns zeigt, wie weit weg dieser Nietzsche von jenem ist, der sieben Jahre später, in GD: Streifzüge eines Unzeitgemässen 36, den Kranken als »Parasiten der Gesellschaft« (VI: 134) beschimpfen wird. Immerhin: Der Nietzsche der Morgenröthe entdeckt, als Effekt seiner eigenen Leidensgeschichte, in M 114, von Marco Brusotti meisterhaft analysiert, »Selbsterkenntnis […] und Erkenntnis überhaupt mit der physischen Erkrankung in Zusammenhang« (Brusotti 2018: 117), entdeckt die dunkle Seite des Mitleids, etwa in M 133, und er stellt, des Weiteren, in M 97, den Altruismus in Frage. Schließlich verweist er in M 115 als neue Tugend auf die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis, um in M 119 die Vermutung zu unterbreiten, dass »all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist.« (III: 113) Und schließlich folgt in M 120, unter dem Titel Z u r B e r u h i g u n g d e s S k e p t i k e r s , den der Zweifel umtreibe, ob er wisse, was er tue, und wissen könne, was er tun soll: »Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: d u w i r s t g e t h a n ! In jedem Augenblick! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.« (III: 115)
Es liegt nahe, hier zurückzufragen: »So wie Nietzsche 1865/66 im Bordell ›getan wurde‹ ?« Und es bietet sich an weiterzufragen, ob Nietzsche nicht auch dort von sich redet und von jener Erfahrung, wo er, in M 126, ausführt: »Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht.«
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Dass die aus dem Nachsatz filterbare Ausrede nicht von Bestand sein wird, stellt der Zusatz klar, die Behauptung, die Wiedererinnerung stünde nicht in unserer Macht, bezeichne nur eine »Lücke unseres Wissens um unsere Macht.« (III: 117) Folgerichtig postuliert Nietzsche in M 128 unter dem Titel D e r Tr a u m u n d d i e Ve r a n t w o r t l i c h k e i t , wiederum in Vorwegnahme Freuds: »Nichts ist m e h r euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr e u e r Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, – in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber!« (III: 117)
Es gehört angesichts der im Vorhergehenden dargestellten Träume Nietzsches zum Tod seines Brüderchens wenig Fantasie dazu, sich Nietzsche als intensiv Träumenden vorzustellen, der zumindest von der Theorie her (etwa nach M 128) weit davon entfernt war, Träume für Schäume zu erklären. Was die Praxis angeht, wollen wir es hier zunächst mit der Andeutung belassen, dass Nietzsche allerdings in einem wichtigen und für unser Thema einschlägigen Fall als Traumdeuter komplett versagte.
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Die fröhliche Wissenschaft (1882)
Nietzsches Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft (in diesem Kapitel: FW) vom August 1882 will, der Vorrede zur zweiten Ausgabe vom Herbst 1886 zufolge (die damit auch für das nun nachgereichte fünfte Buch mit dem Titel Wir Furchtlosen gilt), als Abschiednahme von der »jener Zeit schweren Siechthums« verstanden werden, »deren Gewinn auch heute noch nicht für mich ausgeschöpft ist« (III: 349) – ein mutiger Satz, weil er mittels der ihm innewohnenden Überzeugung von der »großen Bedeutung des Leidens« (Benda 1965: 148; vgl. auch Schmücker 2012) allen Gegenevidenzen zum Trotz den »Gewinn« betont, den »Krankheitsgewinn«, um etwas deutlicher und also mit Freud zu reden. Nebenertrag: Nietzsche kann, entschlossener als je zuvor, nicht nur seine, sondern Philosophie überhaupt als »Kunst der Transfiguration« definieren, dem Satz folgend: »Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine denkenden Frösche […] – wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich
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ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben.« (III: 349)
Eigentlich, unter der Setzung des Tages X, eine ganz nette Idee, wie der Syphilitiker Nietzsche hiermit seinen Krankheitsgewinn ausdehnt und Überlegenheit beanspruchen kann jenen gegenüber, die, da gesund, nichts zu ›transfigurieren‹ haben. Behalten wir deswegen besser nur die Nietzsche zwischen 1882 und 1886 antreibende Hoffnung im Sinn, die Zeit seines ›schweren Siechtums‹ stünde für ein Stück Vergangenheit – und fragen, von hier aus, was uns Nietzsche in FW über sich und seine Krankheit und die Theorie dazu mitzuteilen weiß. Viel kann es nicht sein eingedenk des Umstandes, dass Nietzsche in FW 324 selbstgewiss verkündet: »Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerter und geheimnisvoller – von jedem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei!« (III: 552)
Denn nur einen Aphorismus weiter ist die Luft wieder raus aus diesem ›grossen Befreier‹, erweist sich FW 324 mit dem Hohen Lied auf das Leben als ›Experiment des Erkennenden‹ als einer vom Typ ›Mutmacher‹, dessen Antipode in FW 325 als allerneueste Weisheit in lässiger Pose kundgibt: »Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es schwache Frauen und selbst Sclaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehen, wenn man grosses Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört – das ist gross, das gehört zur Grösse.« (III: 553)
Wovon redet Nietzsche hier bei diesem Satz, der an Himmler und die SS gemahnt? Welches Leid, vor allem: wessen Leid ist hier gemeint? Nietzsches wohl nicht – womöglich aber jenes jener, die an seinem Leiden und jenem Vergleichbarer schuld sind und die deswegen »grosses Leid« zu verantworten und also zu befürchten haben. Belassen wir es vorerst bei diesen Überlegungen, um einen Zwischenbefund zu sichern: ›Fröhlich‹ im landläufigen Verständnis oder auch nur im Sinne von FW 327 72 ist wenig an dieser Aphorismensamm-
Gegeben wird hier der Rat, beim Denken nicht die »gute Laune« (III: 555) zu verlieren – etwas wenig für eine Denkfigur, die mehr sein will als ein Knallbonbon.
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lung – Kunststück eigentlich, wenn man sie, wie hier, unter der Maßgabe analysiert, was ihr für unser Thema, Nietzsche Syphilis, entnommen werden kann. Eine erste wichtige theoretische Wegbahnung hierzu bringt FW 115 unter der Überschrift D i e v i e r I r r t h ü m e r. Dass der Mensch – um nur diesen Punkt zu nennen – »sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur [fühlte]« (III: 474), darf durchaus gelesen werden als Ergebnis einer Eigenerfahrung Nietzsches im Blick auf das Tier- und Naturhafte in ihm, die ihn lehrte, in Zukunft etwas genauer hinzuschauen, auch auf sich selbst, wie es FW 319 unter dem Titel A l s I n t e r p r e t e n u n s e r e r E r l e b n i s s e mit den Worten gebietet: »[W]ir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein.« (III: 550 f.)
Interessant ist hier die in diesem so kontextualisierten Gedanken Nietzsches verborgene Umdeutung jener Bordellerfahrung in ein Experiment, deutlicher und mit FW 324: der Umdeutung des Lebens »in ein Experiment des Erkennenden« (III: 552), mit Nietzsche selbst als »Versuchs-Thier«, ausgestattet mit dem Auftrag der konsequenten Selbstbeobachtung, der letztlich auf das Projekt einer Hermeneutik des Erlebens hinausläuft, und zwar in sehr grundlegender Weise, wie FW 335 unter dem Titel H o c h d i e P h y s i k ! klarstellt. Dies zeigt vor allem die sowohl biographisch aufschlussreiche, aber auch an einen beliebigen Dritten adressierte Bemerkung: »D a s s du aber diess und jenes Urtheil als Sprache des Gewissens hörst, also, d a s s du Etwas als recht empfindest, kann seine Ursache darin haben, dass du nie über dich nachgedacht hast und blindlings annahmst, was dir als r e c h t von Kindheit an bezeichnet worden ist.« (III: 561)
»Nie über dich nachgedacht« ist hier die entscheidende Wendung, zumal als Forderung, dies doch bitte in Zukunft im Sinne von FW 319 zu tun. Alles Weitere ist damit präjudiziert: Nietzsches (1.) Bannspruch gegen Kant, der »noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntniss gegangen [ist]« (III: 562); Nietzsches (2.) gleichfalls gegen Kant geltend gemachte Einsicht, »dass alle Vorschriften des Handelns sich nur auf die gröbliche Aussenseite beziehen« (III: 563) – und eben deswegen, so könnte man vielleicht noch erläutern, in
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jener Bordellszene sich als wirkungslos erwiesen haben; sowie (3.) Nietzsches Folgerung: »B e s c h r ä n k e n wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die S c h ö p f u n g n e u e r e i g e n e r G ü t e rt a f e l n : – über den ›moralischen Wert unserer Handlungen‹ aber wollen wir nicht mehr grübeln.« (III: 563)
Man darf hier durchaus als Subtext anbieten: »Über den ›moralischen Wert meiner Handlung‹, Deussens Bordellgeschichte betreffend, will ich, Nietzsche, nicht mehr grübeln.« Damit liegt es nahe, einen Zusammenhang herzustellen zu FW 276, dessen entscheidender Satz lautet: »Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen […]. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen.« (III: 521)
Nietzsche ist später von vielen seiner Interpreten für dieses Hohe Lied auf die Schicksalsliebe (= Amor fati) gescholten worden – so, als rede er nun nichts anderem mehr das Wort als einer aus seiner eigenen Befindlichkeit heraus erklärbaren Lebensweisheitsdoktrin, welche auf Gestaltung von Welt und auf Kritik verzichtet. Wer so kritisiert, hat offenbar nur unzureichend Nietzsche in seiner Dramatik als eines unter seiner Krankheit, aber auch seinen subjektiven Krankheitstheorien schwer Leidenden verstanden: Es gehört unendliche Kraft dazu, permanent gegen seine Krankheit in den Krieg zu ziehen – und es ist insoweit nur allzu verständlich, dass es auch der Phasen der Regeneration bedarf. Im Übrigen ist Nietzsche bei dieser Art Schulterzucken ja nicht stehen geblieben, sondern hat in seiner im Herbst 1886 verfassten Vorrede zur Neuausgabe von FW unmissverständlich herausgestellt: »Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg […], erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspiriert hat.« (III: 348)
Dies klingt durchaus fast so, als mache sich Nietzsche über sein eigenes, aus seiner Krankheit resultierendes Plädoyer für eben jene Amor fati lustig, ebenso wie über die damit im Zusammenhang stehende Freude über die ewige Wiederkunft des Gleichen. Zurück zu FW 335: Nietzsche feiert in ihm nicht nur die Notwendigkeit des Über-sich-Nachdenkens, sondern auch jene, die dem Spott Dritter standhalten, dies durchaus mit Seitenblick auf die Re238 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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aktionen seiner Mutter als auch Schwester auf seine von Gerüchten aller Art überlagerten Beziehung mit der damals 21-jährige Generalstochter Lou von Salomé, in die Nietzsche sich während der Arbeit an FW heftig verliebt hatte: »Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Anderen ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wieder den Geschmack gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, – den Vielen also, den Allermeisten!« (III: 563)
Der Ekel gilt hier Nietzsches Schwester wie Mutter, an deren Widerstand und Intrigen Nietzsche große Lovestory des Jahres 1882 zerbrach – auch zerbrach, muss man fairerweise sagen, denn entscheidend war wohl, dass Nietzsches Verliebtheit durchaus einseitigen Charakter hatte und Lou ihrerseits sich zeitgleich zu Nietzsches damals bestem Freund Paul Rée hingezogen fühlte. (vgl. Niemeyer 2019a: 170 ff.) Dahinter verborgen, um diesen Ekel verständlich zu machen: Nietzsche Kalkül auf Lou als Beispiel für jenen von Nietzsche ersehnten neuen Menschen, dessen die Zeit unter allen Umständen bedürfe. Sowie, wie man vermuten darf: Nietzsches Kalkül, wie jene, denen seine Leidenschaft für Lou schon dermaßen große Bauchschmerzen machten, wohl auf jene Bordellerfahrung von 1865/66 reagiert hätten. Von der, dies war Nietzsche nun, nach der Lou-Affäre, klar, niemand etwas wissen durfte. Zumal nicht seine Mutter, die Pastorenwitwe, die ihm schon Lous wegen, allein basierend auf Gerüchten, die um diese femme fatale kreisten, ein Wort nachgeworfen hatte, dass er ihr nie vergessen sollte und das eben deswegen in allen von der Schwester kontrollierten Briefeditionen fehlt und um das Nietzsche Overbeck in Brief Nr. 373 vom 10. Februar 1883 mittels der Worte unterrichtete: »[I]ch habe eine solche vielfache Last qualvoller und gräßlicher Erinnerungen zu tragen! So ist es mir zum Beispiel noch nicht Eine Stunde aus dem Gedächtnisse weggeblieben, daß mich meine Mutter eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat.« (6: 326)
Dieser Satz erlaubt, die Bordellgeschichte trotz des Umstandes, dass bei ihr ›wahre Liebe‹ im Sinne des romantischen Liebesideals nicht in Betracht zu ziehen ist, zumal von ihren Folgen her mit der ›Lou239 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Affäre‹ in Vergleich zu setzen, also beide unter »qualvolle und gräßliche Erinnerungen« zu rubrizieren – denen entsprechend mit vergleichbaren Mitteln zu begegnen war, jedenfalls in Zukunft. Dies wiederum könnte die folgende Pointe aus FW 335 – um die Besprechung dieses wichtigen Aphorismus zum Abschluss zu bringen – erklären bzw. als ein für beide Fälle relevantes Passe-Partout erweisen, gedacht als ein Grundaxiom des neuen, sich nicht in den Imperativen der ›Naumburger Tugend‹ verfangenden Menschen, den, wie es oben hieß, »Allermeisten«: »Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen P h y s i k e r sein, um in jenem Sinne S c h ö p f e r sein zu können.« (III: 563)
Wohlgemerkt: Das Wort ›Physik‹ ist hier wie auch schon im Titel dieses Aphorismus als Gegenbegriff zum Wort ›Metaphysik‹ gemeint – und zielt insoweit auf die Notwendigkeit, zum Wissen zu kommen in Fragen des Könnens, auch in Bezug auf Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung (vgl. auch Schacht 2005: 287; Borsche 2012: 477), und dies anstatt einer ›metaphysischen‹ Rede über das Sollen. Nicht gemeint ist hingegen das, was man als Schulfach kennt – und was man sich dahingehend ausdeuten könnte, Nietzsche wolle als ›Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Notwendigen in der Welt‹ im naturwissenschaftlichen Sinne reüssieren. Gewiss: Darum zu wissen, ist notwendig, aber nicht hinreichend, um, als ›Schöpfer‹, dem vermeintlich nicht Notwendigen seinen Rang zuzuweisen, etwa – so das Thema in FW 76 – die »Welt des Irrsinnigen« zu rehabilitieren. Sie, so Nietzsche, unterscheide sich von der Welt der »Freunde ›des gesunden Menschenverstandes‹« allenfalls sukzessive; nicht zwischen Wahrheit und Irrsinn sei folglich zu trennen, sondern zwischen differenten Graden in der »Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens« (III: 431), im Fall der Nicht-Irrsinnigen also: des Glaubens an die Wahrheit. Ziel auch dieser Intervention ist – diesmal durch Irritation der »Gläubigen des grossen Gesammtglaubens« an Wahrheit, an Gewissheit, an Vernunft etc. –, Platz zu schaffen für »die Ausnahme und die Gefahr« (III: 432) und mithin für das Neue und dessen Entdeckung bzw. Entdeckbarkeit sowie, so darf man vielleicht noch ergänzen: für jene, Nietzsche eingeschlossen, die sexualdeviantem Agieren nicht widerstehen können und für die Nietzsche in FW 289 einen Musterfreispruch in Aussicht stellt der Art: »Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll 240 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (III: 529) Auch hier fällt der Subtext zu diesem an sich sehr wichtigen Aphorismus (s. II.1) nicht schwer: »Auch der (einmalige?) Bordellgänger Nietzsche soll vertrauen dürfen auf eine ihn in seinem devianten Handeln verstehbar machenden Ansatz«, hat er doch womöglich nur, ähnlich wie Adrian Leverkühn sowie jene vornehmlich französische Literaten aus dem Kreis ›Wir Anderen‹, sich gehalten an den Imperativ »g e f ä h r l i c h l e b e n ! « (III: 526) aus FW 283. Für eine gesonderte Thematik steht der eingangs beiläufig angesprochene Wiederkunftsgedanke aus FW 341: Nietzsche fragt hier, angeblich angeregt von der durch ihn absichtsvoll in mystisches Dunkel gehüllten berühmt-berüchtigten »Sils-Maria-Vision«, die er im August 1881 gehabt haben will, »6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen!« (IX: 494), einen fiktiven Leser, nachdem er ihn gebeten hat sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn er sein Leben, wie er es jetzt lebe und wie er es bisher gelebt habe, »noch einmal und noch unzählige Male« in genau derselben Weise wiederholen müsse, danach, ob dies nicht auch eine Chance sei, denn: »Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts m e h r z u v e r l a n g e n , als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?« (III: 570)
Mit dieser Frage endet dieser Aphorismus. Der Sinn scheint klar: Es ging Nietzsche keineswegs darum, dass alles wiederkehre oder wiederkehren möge – eine Vorstellung, der einiger Schrecken innewohnt, wie der ohne jeden Hintergedanken an Nietzsche konzipierte US- Spielfilm Groundhog Day (1993; dt.: Und täglich grüsst das Murmeltier) mit Bill Murray in der Hauptrolle anschaulich zu machen vermochte. Nietzsches Frage war vielmehr kritischer Natur – kritisch auch jenen gegenüber, deren Lebensführung Zeugnis dafür gab, dass diese sich besser nicht jeden Tag in genau dieser Weise wiederholen möge; und damit war Nietzsches Frage eben auch selbstkritisch, wenn wir einmal voraussetzen dürfen, dass die Wiederholung der Bordellerfahrung fraglos nicht von Nietzsche intendiert war. So betrachtet kann der Wiederkunftsgedanke auch gefasst werden als ethische Formel zur Beglaubigung eines vollkommenen Lebens (und Handelns). Dabei erwartete Nietzsche diese Beglaubigung, anders als Kant, nicht von Anderen oder, präziser und mithin in Anlehnung an Kants Rede vom kategorischen Imperativ gesprochen: im Blick auf die 241 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Maximen derer, auf die sich die Anderen im Sinne einer höheren Gesetzgebungsverfahrens geeinigt haben oder auf die hin sie sich jedenfalls doch aller Vernunft nach zu einigen hätten. Sondern Nietzsche erwartete diese Beglaubigung vom Handlungsträger selbst und als Effekt einer kritischen Selbstreflexion, etwa nach dem Muster der in FW 335 zusammengetragenen Hinweise.
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Also sprach Zarathustra I-IV (1883–85)
Nietzsches Dichtung Also sprach Zarathustra (in diesem Kapitel: Za) gilt als Nietzsches Hauptwerk. Für Nietzsche war es »das erste Buch aller Jahrtausende, die Bibel der Zukunft« (8: 492), geeignet, »die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften« (6: 485) zu spalten. Das Problem, Nietzsche zutiefst verstörend: Nur wenig kauften dieses Werk, dessen vierten Teil Nietzsche nur an ausgewählte Adressaten verschicken ließ – um ihn schließlich doch wieder zurückzufordern. Mitverantwortlich für den von Nietzsche heftig beklagten (erneuten) Misserfolg: Nietzsche selbst, der seinen ohnehin spärlich gesäten Lesern mit Za einen erneuten Paradigmenwechsel zugemutet hatte, zumindest im Stilistischen: »Es ist eine ›Dichtung‹« (6: 327), hatte er früh – am 13. Februar 1883 – warnend verlauten lassen, lieber für sich behaltend, dass der Leser, wie erstmals bei Paul J. Möbius beobachtbar (s. I.2/9), notwendig scheitern musste bei dem Versuch, diesem Experiment mit bis dato eher ungewöhnlichen Formen der Ästhetik höheren Sinn abzugewinnen. Ein Beispiel: Was konnte der zeitgenössische Leser schon groß wissen von Nietzsches Lou-Erlebnis (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 221 ff.) des Jahres 1882, das sich im Zarathustra vielfältig niederschlägt, bis in die Zweitverwertung von für Lou gedachten Liebesbriefen hinein? Fremd musste ihm 73 auch Das Nachtlied (Za II) bleiben, das kaum mehr ist als eine Nachdichtung des Nietzsche dereinst berührenden Liebeserlebens in der Absicht, sich »das Ausbleiben von Lou v. Salomés Gegenliebe rational zu erklären.« (Niemeyer 2007: 46) Auch die dunklen Seiten dieser Liebestragödie mit kaum verhüllter Kritik an seinen »Nahen und Nächsten« als »Eiterbeulen« (IV: 143 f.) spiegeln sich literarisch wider, etwa in Nicht nur ihm. Vielmehr lässt sich diesbezügliche Arglosigkeit bis in die allerneueste Zarathustra-Interpretation, jene von Heinrich Meier, beobachten. (vgl. Meier 2017: 67 f.)
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Das Grablied (Za II), was allerdings, um Heinrich Meiers (vgl. Meier 2017: 72 f.) zu gedenken, erkannt sein will. Freilich: Hinweise wie diese sind nur sekundär relevant und beleuchten das selbsttherapeutisch Relevante an dieser Dichtung, führen aber noch nicht recht weiter in Sachen der hier beabsichtigten Dekodierung der auf Syphilis und Nietzsches Wissen um sie bzw. Sorge ihretwegen hinweisenden Spuren in der Zarathustra-Dichtung. Anders schon verhält es sich da mit Zarathustras Rede Von alten und jungen Weiblein (aus Za I). Denn Sprüche wie: »Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Desshalb will er das Weib, als das gefährlichste Spielzeug« (IV: 85) klingen allzu sehr nach Bordelljargon, als dass man darüber hinwegsehen könnte, ähnlich wie die einem »alten Weiblein« in den Mund gelegte »kleine Weisheit«: »Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!« (IV: 86) Auch die Rede Vom Gesindel (aus Za II) darf wohl diesem Themenkomplex zugerechnet werden und ist mit Heinrich Meiers Auslegung, Zarathustra spreche hier »zu Vornehmen und zukünftig Erkennenden, die sich von der Vorstellung des Reinen […] leiten lassen […], vom Ekel« (Meier 2017: 60), sicherlich unterkomplex ausgelegt. Schon der erste Satz hat es in sich, wurde womöglich angeregt durch die qua Lou von Salomé freigesetzte Hoffnung Nietzsches, körperliche Liebe gehöre doch noch nicht zu den endgültig abzuhakenden Erlebnissen: »Das Leben ist ein Born der Lust, aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen vergiftet.«
Der erste Satzteil schließt eigentlich aus, dass es nur ums Trinken zu tun ist und das Gift also auch ein venerisches, im »Brunnen« der Frau, kurz: in deren Vulva verborgenes sein kann, gleichsam als unerwünschtes Andenken des (Vorgänger-) Gesindels, über das es denn auch wenige Zeilen später heißt: »Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lüsternheit; und als sie ihre schmutzigen Träume Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Träume.«
So betrachtet verliert die gleich nachfolgende Phantasie Zarathustras, den »Fuss dem Gesindel in den Rachen [zu] setzen und also seinen Schlund [zu] stopfen« (IV: 124), das ihr an sich anhaftende Unangemessene – gesetzt jedenfalls, Nietzsche als Autor dieser Zeilen habe beim Schreiben derselben sein eigentliches Hemmnis, mit Lou zu verkehren, vor Augen gehabt, also die Syphilis, die ›seinen‹ im Sinne von 243 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Paul Deussens Bordellgeschichte 1865 oder 1866 frequentierten »Brunnen« zuvor vergiftet hatte. Dass es darum geht, zumindest aber doch um Nietzsches Nachdenken über vergangenes Unheil, schließt der Beginn der kurz darauf dargebotenen Bemerkung »Sondern ich fragte einst und erstickte fast an meiner Frage« nicht aus, genauso wenig wie die Frage selbst: »Sind vergiftete Brunnen nöthig und stinkende Feuer und beschmutzte Träume und Maden im Lebensbrode?« Diese Frage ist dermaßen abschreckend gebaut, dass sie als rhetorische zu gelten hat und in diesem definierenden Merkmal auch für die unmittelbar zuvor gestellte Hauptfrage gilt: »[H]at das Leben auch das Gesindel n ö t h i g ?« IV: 125)
Man muss genau beachten, was hier passiert: Indem Nietzsche respektive Zarathustra diese Frage zu einer rhetorischen erklärt, hat er den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen – ein angebliches Highlight der Lehre Nietzsches – auf beiläufige Weise entsorgt. Vorentsorgt, wie wir im Vorgriff auf das gleich zu Das Zeichen (Za IV) Nachzutragende ergänzen müssen. Insoweit liegt es nahe, auch den drei Jahre später in Ecce homo mittels des von Nietzsches Schwester und Raoul Richter unterschlagenen Satz in Erinnerung zu bringen: »[I]ch bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ›ewige Wiederkunft‹, mein eigentlich a b g r ü n d l i c h e r Gedanke, immer Mutter und Schwester sind.« (VI: 268)
Oder, um den Zusammenhang zwischen diesem und jenem Passus herauszustellen: »Hat das Leben auch das Gesindel in Gestalt meiner Mutter wie Schwester n ö t h i g ?«
Wohlgemerkt: Auch diese Frage ist, dafür birgt schon der angeführte Aussagesatz aus Ecce homo, rhetorisch gemeint, und dass sie dies zu Recht ist, zeigt sich in der Line von Nachlassnotat 25[343] von Frühjahr 1884: »Wenn ein inferiorer Mensch s e i n e alberne Existenz, sein viehisch-dummes Glück als Z i e l fasst, so indignirt er den Betrachter; und wenn er gar andere Menschen zum Zwecke s e i n e s Wohlbefindens unterdrückt und aussaugt, so sollte man so eine giftige Fliege todtschlagen.« (XI: 101)
Spannend an dieser Stelle: Förster-Nietzsche brachte diesen Passus sowie einen abschließenden, kaum weniger aggressiven in Wegfall, 244 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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als sie daran ging, § 872 WM zu konstellieren. Warum? Um Nietzsche zu schützen, meinte hierzu Domenico Losurdo (2009: 708), übersah aber leider die Vokabel »giftige Fliege« und mithin den Umstand, dass Nietzsche mit dem hier porträtierten »inferioren Menschen« niemand anderen als sie meinte, diesmal in Fortführung einer Überlegung aus dem Abschnitt Von den Fliegen des Marktes (aus Za I): Vom Menschen als »Giftwurm« ist da, des Weiteren und durchgängig pejorativ, die Rede, vom »Schmeichler«, vom »Winsler«, vom »Feigen«, vom »Kleinen«, und dies mit dem Ergebnis des warnenden Hinweises, das sich hinter Lob nichts weiter verberge als »Zudringlichkeit«, und Liebenswürdigkeit für nicht mehr Zeugnis gäbe als für die »Klugheit der Feigen«, wie ohnehin gälte, dass das Kalkül dieser Art Menschen aufs Scheitern gehe und tugendhaftes Verhalten nicht auf Anerkennung rechnen dürfe nach dem Muster: »Sie bestrafen dich für alle deine Tugenden. Sie verzeihen dir von Grund aus nur – deine Fehlgriffe.« Dieses bittere Bonmot veranlasst Zarathustra zu dem Ratschlag: »Also hüte dich vor den Kleinen!« – denn, so könnte man zur Erläuterung nachtragen, »ihre enge Seele denkt: ›Schuld ist alles grosse Dasein.‹« (IV: 67) An wen bei dieser Ressentimentanalyse in erster Linie zu denken ist, verrät eine der letzten Bemerkungen: »Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist du deinen Nächsten: denn sie sind deiner unwerth. Also hassen sie dich und möchten gerne an deinem Blute saugen.« (IV: 68)
Die »Nächsten« Nietzsches waren seine Mutter wie Schwester – und wie er über diese dachte, offenbarte Nietzsche seinem Baseler Freund und Kollegen Franz Overbeck am 6. März 1883 in Brief Nr. 386): »Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen; ich bin i m m e r krank geworden, wenn ich mit ihnen zusammen war.« (6: 338 f.)
Dies ist eine interessante Wendung des Ausgangsproblems: Nicht – erinnert sei an Vom Gesindel – der vergiftete »Brunnen« ist es, von dem die (ansteckende) Krankheit ausgeht. Vielmehr sind es Nietzsches Nächste und deren abweisende Reaktion auf sein Begehren Lous, das ihn krank macht, mit einem wunderbaren, den Anschluss an das Brunnen-Motiv aus Vom Gesindel suchenden Bild aus Von der Fliegen des Marktes gesprochen: »Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen: lange müssen sie warten, bis sie wissen, w a s in ihre Tiefe fiel.« (IV: 66)
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Sehr viel konkreter wird Nietzsche respektive Zarathustra nicht, auch nicht in Das andere Tanzlied (aus Za III), dessen Botschaft – um hier vorerst von der Weiterung derselben in Das Nachtwandler-Lied (aus Za IV) abzusehen – dahin geht, dass die Tugend des Weibes geschützt wird durch die Konstrukte, die der Mann für es in Vorrat hält. Jedenfalls solange er dem christlich verstandenen Konzept von Liebe verpflichtet bleibt, so wie dies für Nietzsche gesagt werden darf (vgl. Niemeyer 1998: 38 ff.). Fällt dieser Wertkanon aber weg oder tritt er erst gar nicht in Geltung, scheint alles möglich. Nietzsche beispielsweise – diese Vermutung über den Hintersinn von Zarathustras Rede darf hier angeschlossen werden, – hätte damals, im Sommer 1882, nur den amoralischen Mut aufbringen müssen, Lous Worte nicht als ›böse‹ zu verdammen und ihr zu glauben, etwa im Sinne der tiefen Wahrheit über sich, um die er doch eigentlich wusste und die sich beispielsweise in den Worten verbirgt: »Vielleicht ist sie böse und falsch und in allem ein Frauenzimmer; aber wenn sie von sich selber schlecht spricht, da gerade verführt sie am meisten.« (IV: 141)
Ein typisches Männerding: Dass er der Hure bedarf, um so recht in Schwung zu kommen – und damit gefährlich lebt am Rand des Vesuvs namens Syphilis. Auch deswegen schilt Nietzsche mittels seines Sprechers Zarathustra seine »wilde Weisheit« als ›böse‹, zumal sie ihn letztlich auch noch die andere Wahrheit sagt: »›Du willst, du begehrst, du liebst, darum allein l o b s t du das Leben!‹« Diese Wahrheit kann Nietzsche nicht akzeptieren, weil er dann den Schutz verlöre im Blick auf eine Zeit, zu der nichts mehr lebt – noch nicht einmal mehr Gott –, was er wollen, begehren und lieben kann. Darum entscheidet er sich für die andere, resignative Wahrheit: »Von Grund aus liebe ich nur das Leben – und, wahrlich, am meisten dann, wenn ich es hasse!« (IV: 140) Immerhin: Wenn schon nicht praktisch, so jedenfalls doch theoretisch geht es ein wenig weiter bei Nietzsche mit der Rede Von der Keuschheit (aus Za I), dessen wichtigster Part hier in Gänze hingesetzt sei: »Rathe ich euch zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei Einigen eine Tugend, aber bei Vielen beinhahe ein Laster. // Diese enthalten sich wohl: aber die Hündin Sinnlichkeit blickt mit Neid aus Allem, was sie thun. // Noch in die Höhen ihrer Tugend und bis in den kalten Geist hinein folgt ihnen diess Gethier und sein Unfrieden. // Und wie artig weiss die Hündin
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Sinnlichkeit um ein Stück Geist zu betteln, wenn ihr ein Stück Fleisch versagt wird! // Ihr liebt Trauerspiele und Alles, was das Herz zerbricht? Aber ich bin misstrauisch gegen eure Hündin. // Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern nach Leidenden. Hat sich nicht eure Wollust verkleidet und heisst sich Mitleiden? // Und auch dieses Gleichniss gebe ich euch: nicht Wenige, die ihren Teufel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue.« (IV: 69 f.)
Die Nietzscheforschung, sich ansonsten über dieses wie jenes die Finger fast wundschreibend, geht über Reden wie diese erstaunlich desinteressiert hinweg oder nur fokussiert (etwa Stephan 2014: 98) auf den Term ›Keuschheit‹ unter Beiseitesezung des theologiekritischen Zugangs. Anders Eugen Drewermann, der sich vor über dreißig Jahren sicher war, dass es nicht länger möglich sei, das von Nietzsche hier beschriebene »katholische Keuschheitsideal«, angefüllt mit »Tabus und Verdrängungen aller Art«, weiterhin »als Ganzhingabe, als freien Selbstverzicht und als christusförmiges Tugendleben zu etikettieren« (Drewermann 1989: 520) – leider, wie wir heute, Tausende von Missbrauchsfällen in (nicht nur) katholischen Einrichtungen später, feststellen müssen, eine etwas zu tollkühne Annahme des seinerzeit vom Klerus unbarmherzig verfolgten Kritikers von Nietzsche-II-Format, der auch die diese Überlegungen weiterführende Rede Von den Priestern (aus Za II; vgl. auch Niemeyer 2007: 41 ff.) einbezog: Was wir hier vorfinden – und dies hat Drewermann (1989: 91 ff.) erkennbar zu seinem eigenen Ansatz, dem Psychogramm der Kleriker, inspiriert –, ist eine scharfe, offenbar den frischen Eindruck einer RomReise Nietzsches wiedergebende (6: 419) Abrechnung mit dem Katholizismus. Von Kirchen als »süssduftenden Höhlen« ist da die Rede, vom »verfälschte[n] Licht« und »verdumpfte[r] Luft« (IV: 118), kurz, im Blick auf Zarathustras (und Nietzsches) Pointe: »Es jammert mich dieser Priester. Sie gehen mir auch wider den Geschmack; aber das ist mir das Geringste, seit ich unter Menschen bin. // Aber ich leide und litt mit ihnen: Gefangene sind es mir und Abgezeichnete. Der, welchen sie Erlöser nennen, schlug sie in Banden: – in Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!« (IV: 117)
Programmatisch wichtig ist das Fazit in Sachen dieser wie jener Kritik, vorgetragen in der oben bereits (s. III.1) als zentral gesetzten Rede Von den Verächtern des Leibes (aus Za I), insonderheit die jedem Sexerfahrenem ohne weiteres verständliche Setzung »Leib bin ich ganz und gar und Nichts ausserdem« betreffend, der die Einsicht nachfolgt: 247 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Ich sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.« (IV: 38)
So wie jedes Menschen Leib im Bordell nicht ›Ich‹ sagt, wohl aber ›Ich‹ tut, darf man hier wohl, unter Konzentration auf Nietzsches Subtext, ergänzen. Die neue, nicht den Leib verachtende Ethik umreißt die Rede Von den drei Bösen (aus Za III), ausgehend von einer Kritik christlicher Tugendimperative. Im Zentrum der »drei bestverfluchten Dinge« aus christlicher Sicht (Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht) die Wollust, die allerdings nur, so Zarathustra, »für die Welken« ein »süsslich Gift« sei. Für die »Löwen-Willigen« hingegen handele es sich hingegen um »die grosse Herzstärkung«, vor allem aber gelte: »[F]ür die freien Herzen [ist Wollust; d. Verf.] unschuldig und frei, das Garten-Glück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwang an das Jetzt.« (IV: 237)
Dieses Lob auf die Wollust als ein an ihren Folgen zeitgleich Zugrundegehenden einfach so dahinzusetzen, hatte schon etwas, zumindest etwas Mutiges, zumal dem folgte: »Vielem nämlich ist Ehe verheissen und mehr als Ehe, – / – Vielem, das fremder ist als Mann und Weib: – und wer begriff es ganz, w i e f r e m d sich Mann und Weib sind!« (IV: 237)
Denn ›Mann‹ und ›Weib‹ sind sich dort wohl am fremdesten, wo beide oder auch nur einer von beiden sich für gleichgeschlechtliche Liebe entscheiden – eine Überlegung, die fast Anlass geben könnte, Nietzsche nicht nur als Propagandist dieser Liebe, sondern auch als Anhänger eines Trauscheins für gleichgeschlechtliche Paare zu outen. So betrachtet will es einem durchaus einleuchten, dass Zarathustra ausgerechnet an dieser Stelle es für geboten hielt, »Zäune« um seine »Gedanken« und auch um seine »Worte« zu errichten, damit »mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!« (IV: 237) Ob er indes wirklich in allen Hinsichten so fürsorglich war und ob mithin nur vom Missbrauch der Gedanken Zarathustras zu reden ist, darf füglich bezweifelt werden. Gewiss: Es gibt den Slogan »Gelobt sei, was hart macht!«, der sich kaum anders verstehen lässt als im Sinne eines Hinweises auf die Notwendigkeit der unbeirrten Erforschung »aller Dinge Grund […] und Hintergrund« (IV: 194). Aber es gibt eben auch den durchaus nicht sinnidentischen Auftrag »w e r d e t h a r t ! « (IV: 268), und zwar dahingehend, dass die »Tafeln« etwa der 248 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Frommen«, der »Welt-Verleumder« (IV: 257) oder der »Welt-Müden« und »Prediger des Todes« (IV: 258) zerbrochen werden müssen, mehr als dies, was die ohnehin schon vertrackte Sache noch diskussionsbedürftiger macht (vgl. Loeb 2004: 132): Zarathustra fordert auch dazu auf, die Menschen selbst, etwa »d i e G u t e n u n d G e r e c h t e n « (IV: 267), zu zerbrechen. Dies klingt nicht gut, zumal wenn man die Rede Von den Predigern des Todes (aus Za I) einbezieht. Zu ihrer Vorgeschichte gehört Nietzsches Krankengeschichte und beispielsweise der Umstand, dass er 1879 unter dem Einfluss des gesundheitlich bedingten Niedergangs seiner Lebensfreude gegen die ›Überflüssigen‹ zu Felde zog und sich gegen das Fortpflanzungsrecht von »Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen« (II: 496) verwahrte. Zarathustra nimmt dieses Thema auf, und zwar als Teil einer Art Typenlehre eben jener ›Prediger‹, wobei sein besonderes Augenmerk den »Schwindsüchtigen der Seele« gilt: »[K]aum sind sie geboren, so fangen sie schon an zu sterben und sehnen sich nach Lehren der Müdigkeit und Entsagung.« (IV: 55) Dies scheint mit Seitenblick auf Wagner gesprochen zu sein (vgl. Borchmeyer/Salaquarda 1994: 1355). Die nachfolgende Charakterisierung hingegen gemahnt eher an Nietzsches Mutter eingedenk ihrer vielen Klagebriefe an den Sohn darüber, wie sehr sie sich nach baldiger Wiedervereinigung im Jenseits mit ihrem früh verstorbenen Mann sehnt (vgl. Niemeyer 1998: 9 ff.): »Eingehüllt in dicke Schwermuth und begierig auf die kleinen Zufälle, welche den Tod bringen: so warten sie und beissen die Zähne auf einander.« (IV: 56)
Zarathustras Hauptanliegen weist eindeutig in die Richtung praktischer Konsequenzen im Blick auf derlei Varianten des ›letzten Menschen‹ respektive der (vermeintlich) ›Guten‹. Dies zeigt sich schon an dem wahren Paukenschlag, mit dem diese Rede beginnt: »Es giebt Prediger des Todes: und die Erde ist voll von solchen, denen Abkehr gepredigt werden muss vom Leben. / Voll ist die Erde von Überflüssigen, verdorben ist das Leben durch die Viel-zu-Vielen. Möge man sie mit dem ›ewigen Leben‹ aus diesem Leben weglocken!« (IV: 55)
Dies mochte zwar auf den ersten Blick noch als paradoxe Intervention lesbar sein mit Blick auf die Lebensverleugnung, die der Jenseitsorientierung des Christen anhaftet. Aber der weitere Argumentgang macht deutlich, dass es Zarathustra nicht allein um diese geht, setzt er doch ausdrücklich hinzu: 249 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seit ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes? / Ihr Alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde, – ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiss ist Flucht und Wille, sich selber zu vergessen.« (IV: 56)
Zumindest mit dem Nachsatz erweist sich Zarathustra als großer Psychologe, wobei es nicht unerlaubt scheint, hier Nietzsche beschrieben zu sehen, der mit seiner Arbeit an eben dieser Dichtung das Vergessen sucht angesichts der Lebenskrise, in die ihn zeitgleich die Lou-Affäre gestürzt hat, über die er Overbeck am 25. Dezember 1882 in Brief Nr. 365 Bericht erstattet, folgernd: »Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem – Kothe G o l d zu machen, so bin ich verloren.« (6: 312) Man muss genau hinschauen, was hier passiert (vgl. auch Volz 1995): • Im Brief beschreibt Nietzsche, welche Funktion das damals noch in Planung befindliche Werk angesichts der Lou-Affäre erfüllen soll. • Im Werk hingegen kritisiert Nietzsche mithilfe seines ›Sprechers‹ Zarathustra eben dieses »Alchemisten-Kunststück« unter den Vorzeichen der (Selbst-) »Flucht« und des »Willens, sich selber zu vergessen«. Diese Kritik entspricht zwar ganz dem Sinn des ersten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches. Das Problem ist nur, dass Zarathustra bei dieser psychologischen Lektion nicht stehen bleibt, sondern folgert: »Überall ertönt die Stimme Derer, welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss. / Oder das ›ewige Leben‹ : das gilt mir gleich, – wofern sie nur schnell dahinfahren!« (IV: 57)
Der letzte Satz klingt fast so, als schäme sich Zarathustra für den ersten Satz. Davon bleibt unberührt, dass sich hier ein erneuter Paradigmenwechsel andeutet, diesmal weg von der ab 1878 analytisch dominierenden Psychologe hin zur Biologie – wie auch in der Rede Vom freien Tode (gleichfalls aus Za I) auffällig: Zentral an ihr ist die These: »Wahrlich, zu früh starb jener Hebräer, den die Prediger des langsamen Todes ehren: und Vielen ward es seitdem zum Verhängniss, dass er zu früh starb.« Um wen es geht, wird rasch klar – »der Hebräer Jesus« –, und warum es des Tadels bedarf, dass er zu früh starb, auch: »er selbst hätte seine Lehre widerrufen, wäre er bis zu 250 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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meinem Alter gekommen!« (IV: 95) Das war geradezu tollkühn argumentiert und meinte nichts anderes, als dass Gottes Sohn persönlich den Tod Gottes erklärt und die Lehre vom Übermenschen verkündet hätte – wenn man ihm nur mehr Zeit gelassen hätte, etwa jene zehn Jahre, die Zarathustra, so das Ausgangsszenario dieser Dichtung, für die Restitution seiner Vernunft benötigte. Vergleichbar tollkühn ist es, dass Zarathustra in eben dieser Rede zeigen will, was für die Auslegung des Todes folgt, wenn man den Tod Gottes als Herr über Leben und Tod in Rechnung stellt. Zarathustra jedenfalls lässt keck verlauten: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil i c h will.« (IV: 94)
Zunächst nur theoretisch geredet: So muss wohl jemand reden, der den infolge des Todes Gottes zur Disposition stehenden Verantwortungsbereich des Übermenschen als dem neuen Herrn über Leben und Tod durchmessen will. Aber: Redet so möglicherweise auch jemand, der, wie Nietzsche persönlich zu jener Zeit, den ›freien Tod‹ als Option für sich ins Kalkül zieht, der Lou-Affäre wegen, aber womöglich auch seiner Syphilisdiagnose halber, die durch jene Affäre und die durch sie virulent werdende Panik, im Fall der Fälle gar nicht ehetauglich gesprochen zu werden? Ganz ausschließen können wir jedenfalls nicht, dass dies der geheime Hintersinn für Zarathustras auch auf Wagner beziehbare 74 Aufforderung ist: »Stirb zur rechten Zeit« und die ihr nachfolgende Erläuterung: »[W]er nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rathe ich den Überflüssigen.« (IV: 93) Deutlicher und nochmals gefragt: Geht es nur um diese persönliche Tragik Nietzsches? Oder ist eine Deutung am Platz, die Zarathustra und damit Nietzsche schuldig spricht des fatalen Gedankens einer Trennbarkeit der Menschen in notwendige und ›überflüssige‹, den Lebenssinn verfehlende, um nicht zu sagen: ›lebensunwerte‹ Menschen? Oder wäre dies zu einseitig aus post-nationalsozialistischer Perspektive gedeutet und zu unbesorgt um Nietzsches Hölderlin-Lektüre (vgl. Vivarelli 1989: 530), auch Diesen Rückschluss erlaubt die Feststellung Nietzsches nach Wagners Tod, dieser habe es nicht verstanden, »zur rechten Zeit zu sterben« – eine Art Drohung, wie der auf Nietzsches Wissen um Wagners Verrat gegenüber Otto Eiser hindeutende Folgesatz verdeutlicht: »Hätte er noch länger gelebt, oh was hätte noch zwischen uns entstehen können! Ich habe furchtbare Pfeile auf meinen Bogen.« (6: 335)
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um die Leitbilder der stoischen Philosophie, denen Nietzsche sich verpflichtet fühlte (vgl. Vivarelli 2001: 80)? Einen Weg zur Antwort weist die Rede Der Wahrsager (aus Za II). Der hier favorisierte (vgl. auch Niemeyer 2019a: 114 ff.) Interpretationsversuch nimmt seinen Ausgangspunkt von Dieter Thomäs sehr instruktivem Beitrag zur Vergleichbarkeit von Baudelaires Flaneur und Nietzsches Wanderer und der Bedeutung beider Figuren für ein Philosophieverständnis, das sich nicht dem »Kult der geschlossenen Form« beugt, »sondern als Gratwanderung zwischen Form und Leben […], als Experimentieren mit Sichtweisen und Lesarten« (Thomä 2018: 155) anzulegen sei. Diese kluge und wichtige Beobachtung wird leider etwas um die ihr eigene Brisanz gebracht im Blick auf die spezifischen ›Experimente‹ beider in puncto des von Thomä via Nietzsche zitierten »Aufsuchens alles Fremden und Fragwürdigem im Dasein« (VI: 155), insofern Thomä gleich einleitend bei der Aufzählung der Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Baudelaire zwar auch des Umstandes gedenkt, dass »[e]ine Krankheit […] schließlich beide um den Verstand [bringt]« (Thomä 2018: 137), leider aber nicht erwähnt, um welche Krankheit es sich genau handelt. Dadurch enträt Thomä beispielsweise zentraler Optionen für eine angemessene Nietzsche- respektive Zarathustra-Deutung. Ein Beispiel: Es gibt gute Gründe für die Annahme, das Gedicht Les Métamorphoses du Vampire aus Baudelaires 1857 er Gedichtsammlung habe Zarathustras Rede Der Wahrsager inspiriert. Den Ausgangspunkt dieser Lesart markiert der Umstand, dass in Baudelaires Gedicht ein »Kinderlachen« eine zentrale Rolle spielt, als ultimativ verführendes Zeichen einer Dirne, die sich indes nach mit Bissen vollzogenem Liebesakt 75 als »Schlauch« erweist, »mit verklebten Flanken, ganz von Eiter angefüllt!« (SW/B 4: 31) und das insofern den Alptraum eines Syphilitikers respektive Syphilophoben namens Baudelaire repräsentieren könnte. Dies vorausgesetzt, des Weiteren, dass Nietzsche speziell dieses Gedicht kannte 76, scheint mir durchaus Dieses Bild referiert auf den damals durchaus verbreiteten Vampirismus als Syphilis-Topos (vgl. Schonlau 2005: 199) – ein Zusammenhang, den Andreas Urs Sommer (2016: 198 f.) bei seiner ansonsten sehr gründlichen Übersicht zum Vampirismus bei Nietzsche übersehen hat, und dies selbst im Zusammenhang seiner Sichtung von einschlägigen Baudelaire-Anleihen Nietzsches (XIII: 83 f.) 76 Nietzsches persönliche Bibliothek (Campioni et al. 2003: 131 ff.) verzeichnet die von Theophile Gautier besorgte, 1882 erschienene Nouvelle edition als Band I der Oeuvres complètes mit zahlreichen Lesespuren Nietzsches. Das hier in Rede stehende 75
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auffällig, dass auch in Der Wahrsager gleichfalls ›Kinderlachen‹, mehr als dies: »tausendfältiges Kindsgelächter« (IV: 175) eine Rolle spielt, als Teil eines fürwahr überaus komplex verschachtelten Traumgeschehens. Wichtig dabei und zentral für eine angemessene Deutung, gleichwohl bei neueren Interpretationsversuchen (etwa Ôhasi 2012; Taton 2014; Kerkmann 2017: 258 ff.; Meier 2017: 89 ff.) ignoriert: Nietzsche nimmt in dieser Erzählung Motive aus einem Traum auf, den er im Sommer 1877 gehabt haben will und über den er damals seinem Freund Reinhart v. Seydlitz berichtete, der 1900 darüber das Folgende zu Protokoll gab: »Nietzsche erzählte lachend, er habe im Traum einen endlosen Bergpfad hinauf steigen müssen; ganz oben, unter der Spitze des Berges, habe er an einer Höhle vorbei gehen wollen, als aus der finstern Tiefe ihm eine Stimme zurief: ›Alpa, Alpa – wer trägt seine Asche zu Berge?‹« (XIV: 306)
In der insoweit als Traumdichtung anzusprechenden Rede Der Wahrsager begegnet einem dieser Traumrest in der Szene nach einem tiefen, mehrere Tage und Nächte währenden Schlaf Zarathustras. Als er wach wird, berichtet er seinen Jüngern von einem schrecklichen Traum, den er gehabt habe und den er sie zu deuten bittet. Inhalt des Traums ist, dass Zarathustra allem Leben »abgesagt« habe und »zum Nacht- und Grabwächter […] auf der einsamen Berg-Burg des Todes« (IV: 173) geworden sei, um eines Nachts, geweckt durch ein dreifaches Klopfen, zum Tor zu gehen und zu rufen: »Alpa! Alpa! Wer trägt seine Asche zu Berge!« Neu – im Vergleich zur 1877 er Traumnacherzählung Nietzsches – ist die Pointe, die Zarathustra nachträgt: Ein »brausender Wind« habe ihm einen »schwarzen Sarg« zugeworfen, der zerbarst und »tausendfältiges Gelächter« ausspie, mehr als dies: »Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und kindergrossen Schmetterlingen lachte und höhnte und brauste es wider mich.« (IV: 174)
Von Baudelaire ausgehend, will es fast scheinen, als variiere Nietzsche hier als Autor des Zarathustra das Thema Metamorphose, nun über den eigentlichen Liebesakt mit einer Dirne hinausweisend, konzentriert auf die neun Monate zutage tretenden (unerwünschten) Folgen. Damit gewinnt der 1877 er Traumrest neue Bedeutung, insofern er auf den Beginn aller Handlungen mit derartigem Ausgang, Gedicht Baudelaires gehört allerdings offenbar nicht zu den nachweislich von Nietzsche gelesenen (vgl. Krause 2017: 405).
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also den Zeugungsakt, anzuspielen scheint. Denn zentral an diesem Traumrest ist das Bild eines »einen endlosen Bergpfad« hinaufsteigenden Nietzsche, kurz und psychoanalytisch gesprochen: das Steigemotiv mit nachfolgender Atemlosigkeit, was, mit dem frühen Freud der Traumdeutung (1900) geredet, als »symbolische Darstellung des Geschlechtsaktes« (GW II/III: 360) respektive als »Koitussymbol« (GW VIII: 106) gelesen werden darf, also auf geschlechtliche Vereinigung abstellt und damit auch auf Zeugung. Welche ›Tagesreste‹ aber kommen in Betracht, die im Sommer 1877 Nietzsche zu derartigen Träumen hätten veranlasst haben können? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht schwer, eingedenk der damals in Aussicht stehenden es Sprechstunde Nietzsche bei Otto Eiser im Oktober 1877. Die Ausgangsfrage war damals durch die im Wagnerkreis vielfach diskutierte Frage gegeben, was es genau mit Nietzsches Ehelosigkeit, der eines doch immerhin ziemlich in die Jahre gekommenen Junggesellen, auf sich habe. Anfragen wie diese unterlagen dem damals gängigen ärztlichen Verständnis zufolge noch dem zumal von Alfred Fournier (1832–1914) verfochtenen Dogma: »We r s y p h i l i t i s c h g e w e s e n i s t , m u s s J u n g g e s e l l e b l e i b e n .« (Fournier 1881: 11) Nietzsche war damals Junggeselle und vier Jahre zuvor in einer einschlägigen Sprechstunde bei seinem Arzt gewesen – eine Sprechstunde, auf deren Zwecke hin Fournier seine auch in den USA gehaltenen Vorträge konzipiert hatte. (vgl. Goens 1995: 132 f.) Was, so könnte man hier also fragen, hat Nietzsche, im Herbst 1877, zu hören bekommen? Etwa auch etwas derart, dass, so Fournier, Unehrlichkeit in Sachen der vom Arzt dringlich zu stellenden Frage nach dem sexuellen Vorleben sich nicht auszahle? Fournier jedenfalls stellte die Folgen derselben drastisch aus, am Beispiel eines Heiratswilligen, der wahrheitswidrig versichert hatte, alles sei bei ihm in Ordnung – mit der Folge eines neun Monate später sich offenbarenden »dreifachen Mißgeschicks: Ansteckung der jungen, eben angetrauten Frau, Erzeugung eines syphilitischen Kindes und Infizierung einer Amme.« (ebd.: 9) Kurz: Nietzsche musste damit rechnen, von Dr. Eiser nach seinem Vorleben gefragt zu werden, deutlicher: nach der möglichen tödlichen Fracht, die er in sich barg und die sich als gefährlich erwies im Blick auf die damals in der Regel als keusch gesetzte ins Auge gefasste Braut, aber auch im Blick auf die zu erwartenden und im gegebenen Fall erbsyphilitisch bedrohten Nachkommen sowie ggfs. des Personals, etwa einer Amme. Details bezüglich dieses Sprechstundenbesuchs interessieren an dieser Stelle 254 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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nicht, wir beschränken uns auf den Zwischenbefund, in Gestalt einer zweigeteilten These: Erstens: Nietzsches Traum vom Sommer 1877 könnte sich aus der Sorge vor jenem Sprechstundenverlauf herleiten. Zweitens: Die Wiederaufnahme des Traumrestes und die Nachbearbeitung desselben in Der Wahrsager könnte sich erklären mit dem Tod Wagners im Februar 1883, also kurz bevor Zarathustra II im Juli 1883 zu Papier gebracht wurde, insofern dieser Tod, wie gezeigt, die Rückerinnerung Nietzsches an jene Sprechstunde freigesetzt hat. Was man Eiser im Blick auf diese anlasten muss, ist der Umstand, dass ihm Zweifel in Sachen der Glaubwürdigkeit seines prominenten Patienten offenbar fremd waren, und dies trotz des Umstandes, dass Nietzsche sich zum Heiraten »entschieden geneigt« gezeigt habe, was bei einem »›eingefleischten Onanisten‹«, so Eiser in Rückerinnerung an Wagners These, »befremden müßte« (zit. n. Volz 1990: 346) – eine Nebenspur die Eiser jene von Fournier gewiesene Hauptspur vergessen lässt, niemals einem Heiratswilligen einfach so zu trauen. Schauen wir uns, von dieser Erwägung ausgehend, den Schluss von Der Wahrsager etwas genauer an. Die zentrale Botschaft wird hier durch den Jünger transportiert, den Zarathustra »am meisten lieb hatte« (IV: 174) und der schlicht für ausgemacht hält, dass dieser Traum Zarathustras Leben deute, denn: »Bist du nicht selber der Wind mit schrillem Pfeifen, der den Burgen des Todes die Thore aufreißt? / Bist du nicht selber der Sarg voll bunter Bosheiten und Engelsfratzen des Lebens?« (IV: 175)
Dies klingt hart – rückt aber die Perspektive wieder zurecht: Zarathustra muss dem Leben die ›Engelsfratze‹ zeigen, er muss als Kritiker seine ›Bosheiten‹ unter das Volk bringen, wenn er die Metamorphose des vermeintlichen, tatsächlich aber untoten Lebens hin zu einem wirklichen, vollen Leben bewirken will. Insoweit liest Zarathustras Lieblingsjünger den Traum als Spiegel für die zwar schreckliche, gleichwohl aber notwendige Aufgabe Zarathustras – und schöpft daraus eine neue, aufmunternde Botschaft: »Nun wird immer Kindes-Lachen aus Särgen quellen; nun wird immer siegreich ein starker Wind kommen aller Todesmüdigkeit: dessen bist du uns selber Bürge und Wahrsager!« (IV: 175)
Dies klingt noch immer unkonkret – dies aber nur, solange man Zarathustras Rede Der Wahrsager nicht im Zusammenhang liest mit den vorgenannten beiden Von den Predigern des Todes sowie Vom 255 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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freien Tode, in welchen jene Todesmüdigkeit präludiert wird, die auch in der Rede Vom Gesicht und Räthsel (aus Za III) dominiert. Zarathustras hier im Zentrum stehende Rätsel-Erzählung mit dem Titel »das Gesicht des Einsamsten« (IV: 197) 77 hat zum Inhalt, dass er »jüngst durch leichenfarbene Dämmerung« aufwärts ging, »dem Geiste zum Trotz, der ihn abwärts zog, abgrundwärts zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde«, schlimmer noch: »Aufwärts: – obwohl er auf mir sass, halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm; lähmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn träufelnd.« Gesetzt, was hier gesetzt wird: nämlich dass Nietzsche sich zu jener Zeit seiner Syphilisinfektion und der ihr innewohnenden ›Krankheit zum Tode‹ inne war, darf man das Ganze fast lesen als Krankheitsnebenwirkungsprotokoll – und mutmaßen, dass Nietzsche kein Interesse daran haben konnte, diese Spur aufzudecken und den Hintergrund der Warnung vor Hybris, die Zarathustra, dieser »Stein der Weisheit«, in das Bild kleidet, dass er sich selber zu hoch warf und nun verurteilt sei »zur eigenen Steinigung«, denn: »weit warfst du ja den Stein – aber auf d i c h wird er zurückfallen!« (IV: 198) Dieser Art Selbsttherapie gehören krankheitsbezogene Mutmacherformeln vom Typ »Gelobt sei, was hart macht!« (IV: 194), gerichtet auch gegen den Wiederkunftsgedanken als eines solchen, den ein Kranker im Gegensatz zu einem Gesunden nicht ertragen könne. Als Szenario zum Test dieser These kreiiert Zarathustra einen Torweg, an dem zwei Wege zusammenkommen, die »noch Niemand zu Ende [gieng]«, was im Übrigen jeweils eine »Ewigkeit« (IV: 199) dauern würde, und er versucht hier den ›Zwerg‹ zu zerbrechen, indem er einer Lehre das Wort redet, »stark genug« – so Nietzsche in einem Nachlassvermerk vom Frühjahr 1884 – »um z ü c h t e n d zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden.« (XI: 69) ›Weltmüde‹ meint hier beide: Nietzsche, den Syphilitiker, aber auch den ›Zwerg‹, seinen Antipoden und Repräsentanten des ›Geistes der Schwere‹. Dieser ›Zwerg‹, gezeichnet, wie es scheinen will, nach dem Bild von Nietzsches ›Doktorvater‹ Friedrich Wilhelm Ritschl (vgl. Niemeyer 1998: 92 ff.), gibt sich indes noch ganz selbstsicher, als sei er der Urheber der auf Kreisförmigkeit abstellenden Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen: »›Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Dies war auch der Titel, den Nietzsche ursprünglich für die gesamte Rede vorgesehen hatte (vgl. XIV: 308).
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Kreis.‹« (IV: 200) Plötzlich aber ist er nicht mehr da, ebenso wie der Torweg. Zeit und Raum beginnen sich aufzuheben, und Zarathustra realisiert, wie einsam es plötzlich um ihn ist, auf der Höhe dieses seines Wissens: »Zwischen wilden Klippen stand ich mit Einem Male, allein, öde, im ödesten Mondscheine.«
Diese Klage – man muss es an sich nicht gesondert betonen – verrät etwas von der Verzweiflung des zu Tode Erkrankten eingerechnet Nietzsche und klingt zugleich nach jener Larmoyanz, die für Nietzsche typisch ist in Briefen an Freunde während des Schreibens des Zarathustra. Aber: Auf der gleichsam hellen Seite dieser Verzweiflung rührt sich noch ein kaum verhüllter Bindungswunsch, etwa der hoffnungsstarke Folgesatz: »A b e r d a l a g e i n M e n s c h !« Was allerdings liegt dort tatsächlich? Zarathustra wird angelockt durch einen heulenden Hund, der eine Erinnerung an »fernste Kindheit« (IV: 202) bei ihm freisetzt, deutlicher und mit Wiebrecht Ries (2012: 96 f.) gefolgert: an den Traum Nietzsches (als Vierzehnjährigen) über den Tod seines kleinen Brüderchens. Entsprechend liegt es nahe, in jenem schließlich als Hirten identifizierten dort Liegenden Nietzsche selbst auszumachen, offenbar befangen in einem epileptischen Anfall als Beleitphänomen des der Syphilis des Vaters geschuldeten und auch für Nietzsches Bruder sich als toxisch erweisenden vergifteten Erbes. Denn wir lesen: »Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng.«
Zarathustra vermutet, die Schlange sei dem Hirten im Schlafe in den Schlund gekrochen – »da biss sie sich fest.« (IV: 201) Und er macht daraus sofort ein Gleichnis, indem er seinen Zuhörern zwei Fragen stellt: »We r ist der Hirte, dem also die Schlange in den Schlund kroch? We r ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?« (IV: 202)
Eine (mögliche) Antwort haben wir schon angedeutet: Der Name des Hirten lautet auf Nietzsche, sein Vorname auf Friedrich oder Joseph. Eine andere, weniger konkretistische Antwort rückt die gerollte ›Schlange‹ ins Zentrum, betont, dass sie »traditionell als Symbol der ewigen Wiederkunft« gilt, entrollt aber und gestreckt »beisst sie den 257 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Hirten in den Rachen, also in den Teil des Leibes, aus dem das Reden kommt. Der Hirte, der christliche Seelenhüter (pastor), wird von einer entrollten, einer nicht wiederkünftig gedachten Zeit angegriffen, einer Zeit der Geschichte oder des linearen Verlaufs, die wie das Christentum selbst auf das Jenseits und dessen Zeitlosigkeit hin orientiert ist.« (Naumann 2001: 50) Von hier aus betrachtet lässt sich die von Zarathustra gestellte Frage, wer der ›Hirte‹ sei und wer der ›Mensch‹, dahingehend beantworten, dass es sich um uns alle handelt. Jedenfalls sofern wir nicht der christlichen Jenseitsorientierung entsagen und im Nachgang zu Zarathustras Ratschlag »Beiss zu! Beiss zu!« (IV: 201) den Mut aufbringen, den Kopf der ›Schlange‹ abzubeißen, namens – so könnte man nun vielleicht noch hinzusetzen, unter Einbau der erstgenannten Antwort – aller Syphilitiker dieser Welt, die mit ihrer Geschlechtskrankheit den Preis entrichten für ein wider alle Vernunft leib- wie liebesfeindliches Christentum. Von hier aus wird nun auch der Mollton nachvollziehbar, in welchem Das Nachtwandler-Lied (aus Za IV) gehalten ist. Es wird in der Nietzscheforschung verbreitet als »befremdlich« (Stegmaier 2016a: 425) wahrgenommen oder gar dem Genre der »Phantastik« (Zittel 2015: 148) zugerechnet, jedenfalls nicht im Lichte des Deutungsversuchs gelesen, den Joachim Köhler (1989: 598 ff.) vor nun immerhin schon über dreißig Jahren vorgelegt hat. Und schon gar nicht wird es mit Nietzsches Syphilis in Verbindung gebracht, obgleich das Textangebot dadurch erheblich an ihm üblicherweise attribuierter Schwerverständlichkeit verlöre. Wichtige Verständnishilfen ergibt auch eine kontextuelle Interpretation (vgl. Niemeyer 2007: 84 ff.), etwa ausgehend von Das andere Tanzlied (aus Za III) und der schon in ihm gegebenen düsteren Mahnung: »Oh Mensch! Gieb Acht!« (IV: 285) Wie ernst es Nietzsche mit dieser Warnung war, zeigt die folgende Klage Nietzsches aus Brief Nr. 533 an Franz Overbeck vom 14. September 1884. Nietzsche schreibt: »Welch sonderbares Schicksal, 40 Jahre alt werden und a l l e seine wesentlichsten Dinge, theoretische wie praktische, als Geheimnisse mit sich noch herumschleppen!« (6: 531)
Dieser Schluss stützt sich auf das gänzliche Unverständnis Heinrich von Steins (1857–1887), 1879/80 als Erzieher Siegfried Wagners Nietzsches Nachfolger in Wagners Gunst. (vgl. Reich 2004: 210 f.) Stein, so Nietzsche im Rückblick auf dessen Besuch in Sils-Maria, sei von Das andere Tanzlied »aufs Tiefste ergriffen« gewesen, habe 258 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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es auch »auswendig gelernt« (6: 531) – aber ihm mangelte offenkundig jegliches Verständnisses für den Inhalt. Insonderheit das Verständnis für die folgenden Zeilen, auch bekannt (und zweitverwertet) als »Zarathustra’s Rundgesang« (IV: 403) und bestehend aus den folgenden Versen, die jeweils durch eine vorangestellte, die Glockenschläge von Eins bis Zwölf symbolisierende Zahl getrennt sind (was hier nur unvollständig nachgebildet werden kann und soll): »Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? ›Ich schlief, ich schlief –, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh –, Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit –. – will tiefe, tiefe Ewigkeit!« (IV: 285 f.)
Nietzsche, seinen Tadel an dem von ihm an sich sehr geschätzten Freiherren weiterführend und den Kern dieses Liedes ansprechend: »Wer nämlich bei den Heiterkeiten des Zarathustra’s nicht Thränen vergießen muß, der gilt mir als noch ganz fern von meiner Welt, von mir.« (6: 531)
Warum Stein des Inhalts wegen hätte weinen statt bewundern sollen, stellt die von Resa von Schirnhofer überlieferte Reaktion auf ihre Nietzsche offenbar nicht befriedigende Lesung des nämlichen Liedes angesichts ihres Besuchs in Nizza vom April 1884 klar. Nietzsche, so Schirnhofer in ihren Erinnerungen, habe ihre Lesung »mit feierlich veränderter Stimme«, um sich nach der letzten Zeile (»Zwölf!«) zu erheben und zu verabschieden, »und als wir bei der Türe standen, veränderten sich plötzlich seine Züge« und gewannen einen »starren Ausdruck« (zit. n. Lohberger 1969: 484). Eine durchaus nachvollziehbare Reaktion, wenn man bedenkt, dass Das Nachtwandler-Lied die düstere Mahnung »O h M e n s c h , g i e b A c h t ! « (IV: 404) aus Das andere Tanzlied wieder aufnimmt – und damit endgültig transparent macht. Das Leitmotiv dabei: »Wer soll der Erde Herr sein?« (IV: 299) – eine Frage, die klar beantwortet wird: »Die Reinsten sollen der Erde Herrn sein, die Unerkanntesten, Stärksten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag.«
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Und die anderen, die Nicht-Mitternachts-Seelen? Ihnen droht Ungemach, wie die Zeilen offenbaren: »Es quillt heimlich ein Geruch herauf, – / – ein Duft und Geruch der Ewigkeit […] / – von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, welches singt: die Welt ist tief u n d t i e f e r a l s d e r Ta g g e d a c h t ! « (IV: 400)
Es wäre wohl noch zurückhaltend geurteilt, wenn man dies einen beklemmenden Denkansatz hieße, einen Denkansatz, der charakterisiert ist durch ein Zugleich von nach-christlichem Wiederauferstehungsphantasma und Neuschöpfungsmythos in einer Ordnung der Dinge ohne Gott und mithin ohne das fünfte der Zehn Gebote, das ›Tötungsverbot‹. Insofern: Ja, was Zarathustra hier offeriert, kann durchaus als Durchbruch der Thematik einer zukünftig zu sichernden »Erdregierung« (Stegmaier 2016a: 442) verbucht werden. Nur muss, wer dies so sieht, wohl erst noch lernen, diesen Durchbruch kausal im Biographischen zu verorten – wie dies Joachim Köhler angedeutet hat: Für ihn klingt die Erinnerung durch »an den Vater am Klavier« (Köhler 1989: 601) angesichts von Zeilen wie: »Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton, deinen trunkenen UnkenTon! – wie lange her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit her, von den Teichen der Liebe! / Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss dir in’s Herz, Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväterschmerz, deine Rede wurde reif, –« (IV: 399)
Reif wozu? Der Fortgang der Rede duldet keinen Zweifel, wir kennen ihn bereits (»Ihr höheren Menschen, riecht ihr’s nicht? Es quillt heimlich ein Geruch herauf […] – von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke«) – und können nun folgern, dass sie ganz fern sind, jene »Teiche der Liebe«, die Köhler problemlos als »Fischteiche« (Köhler 1989: 601) rund um das Pfarrhaus in Röcken identifizierte, damit andeutend, dass Nietzsche à la Zarathustra anspielt auf eine Tragödie, die eben hier, im heimeligen Hort des immerhin schon seit Urväterzeiten wirksamen lokalen Protestantismus, ihren Ausgang nahm und im Sohn, lebens- wie liebesfeindlich erzogen und jedenfalls ohne jede (sexuelle) Aufklärung, aufbricht: in seiner Syphilis. Damit können wir nahtlos übergehen zur Rede Unter Töchtern der Wüste (gleichfalls aus Za IV). An ihr ist vor allem der zweite Teil auffällig, ein vom Wanderer und Schatten »mit einer Art Gebrüll« (IV: 380) – wie dem eines Löwen, eines »moralischen Brüllaffen« (IV: 381) – gesungenes Lied halb-pornographischen Charakters mit Zeilen
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wie: »Da sitze ich nun, / in dieser kleinen Oasis, Einer Dattel gleich, Braun, durchsüsst, goldschwürig, lüstern / Nach einem runden Mädchenmunde« (IV: 382), aber auch mit Durchsagen wie: »Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen, / So sitze ich hier, ihr / Allerliebsten Freundinnen« (IV: 383) – Sätze, die beunruhigen müssen, nachdem Zarathustra über immerhin drei Teile seines Buches hinweg den Eindruck erweckt, nichts müsse nach dem Tod Gottes jedem einzelnen Menschen dringlicher sein als die Lehre vom Übermenschen in Gestalt des überzeugend begründeten Regimes über sich selbst, also auch über seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und nun sitzt ein Häufchen Elend unter Töchtern der Wüste und gibt einen Satz von sich, der, gesprochen auf einer Couch in Wien in der Berggasse 19, fraglos für große Unruhe sorgen würde wegen der sich in ihm, in entstellter Form, bekundenden suizidalen Tendenzen. Wobei es naheliegt, das Lied Unter Töchtern der Wüste als Nietzsches »Generalbeichte in eroticis« (Brann 1931: 132) zu lesen, exemplarisch: die Vokabel »Flitter« im Ausdruck »Ihres allerliebsten, allerzierlichsten Flatter- und Flitterröckchens« (IV: 383) als Indiz zu nehmen für die Triftigkeit von Paul Deussens Bordellgeschichte. Selbige wird, neben Thomas Mann, auch von Albert Camus, dem zweiten wichtigen Nietzscheinterpreten der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht in Zweifel gezogen, im Gegenteil: In seinem mit dem Nobelpreis belohnten Roman La chute (1956; dt.: Der Fall), der die Themen Zarathustras zeitgemäß der Reihe nach durchdekliniert, verlegt er Nietzsches Wüste mitsamt »windgeschütteler Palmen« (Camus 1956: 15) kurzerhand ins Amsterdamer Rotlichtmilieu. Erwähnt sei schließlich, was die späteren, unmittelbaren Deutungsbemühungen angeht, Joachim Köhler (1989: 589), der die Textzeile »Da fiel ich hinein« (IV: 381) im Sinne von »Da bin ich auf sie hereingefallen« deutete und dabei (ebenfalls) an Nietzsche als syphilisgeschädigten Freier dachte. (vgl. Niemeyer 2007: 116 ff.) Nicht ausgeschlossen scheint mir auch, einen Bezug zu sehen zu Nietzsches nicht erwidertem Begehren im Fall seiner großen Liebe Lou von Salomé. »Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen, so sitze ich hier« würde dann bedeuten: Nun, wo mir, Friedrich Nietzsche, die große Liebe meines Lebens durch Mutter wie Schwester verleidet wurde, bin ich wieder allein und bleibe zukünftig allein. Auslegungstendenzen wie diesen suchte Nietzsches Schwester vorzubeugen, indem sie behauptete (vgl. Förster-Nietzsche 1904: 538), ihr Bruder habe im Herbst 1884 mit ihr zusammen in Zürich 261 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Ferdinand Freiligraths Gedichte erstanden und sei aus Übermut auf die Idee verfallen, den Stil des damaligen Erfolgsdichters zu parodieren – eine Nebelkerze. 78 Die im Übrigen dem den Liedtitel zitierende Schlusssatz »D i e W ü s t e w ä c h s t : w e h d e m , d e r W ü s t e n b i r g t ! « (IV: 385) ins Dunkle hüllt. Denn er meint durchaus mehr als nur die Wüste »als Zustand im Ich« (Kaiser 1986: 211) – wie die Variante dieser Schlusszeilen zeigt, die Nietzsche einige Monate später in den Dionysos-Dithyramben darbieten wird und die wir am gegebenen Ort besichtigen und mit dem Befund interpretieren werden, Nietzsche habe jene Wüste im Kopf gehabt, welche sich der unbedachten Wollust verdankt, als Effekt einer Geschlechtskrankheit, an welcher er litt. Unheimlich dabei und nicht selten bei der Zarathustra-Interpretation übersehen, naturgemäß natürlich von jenen, die Za IV als Appendix werten und ad acta meinen legen zu dürfen, wie konsequent Nietzsche die Lektion aus seinem »beschädigten Leben« in eine Mär für alle transferiert, ist die allerletzte Rede namens Das Zeichen. Sie als ›verkitschtes Ende‹ zu tadeln, bei welchem Zarathustra »auf seine Kinder wartet« (Zittel 2000: 159), steht für eine arge Banalisierung, bei der unbeachtet bleibt, dass Zarathustra sich hier als Kind kommen sieht und insoweit seine gelungene Selbsterziehung zum Übermenschen beglaubigt. (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 437) Aber wichtiger im hier interessierenden Zusammenhang ist die andere Seite dieser Medaille: Die über Seiten hinweg mit dem Versprechen herbeigelockten »höheren Menschen«, ihnen werde jetzt Zarathustras Wohlwollen zuteil und der Titel ›Übermensch‹ verliehen, werden schlicht davongejagt, begleitet vom Bannruf Zarathustras: »›M i t l e i d e n ! D a s M i t l e i d e n m i t d e m h ö h e r e n M e n s c h e n ! schrie er auf, und sein Antlitz verwandelte sich in Erz. Wohlan! D a s – hatte seine Zeit!‹« (IV: 408)
Nietzsches Bibliothek verzeichnet zwar nicht die von der Schwester genannte 38., wohl aber die 1883 erschienen 43. Auflage (vgl. Campioni et al. 2003: 233) dieser Edition. Speziell in den Fokus rückt dabei Freiligraths Gedicht Unter den Palmen (vgl. Miller 1973: 167), das allerdings mit Zarathustras Lied Unter Töchtern der Wüste thematisch nichts zu tun hat, anders als die, wie wir oben schon gesehen haben, in diesem Band enthaltenen Musset-Übertragungen Freiligraths, die allerdings – im Widerspruch zu Förster-Nietzsches Auslegungstendenz – durchaus erotischen Charakters sind.
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›Das‹ meint eigentlich ›er‹, nämlich den Wiederkunftsgedanken, dem das Mitleid für alles und jede respektive jeden eingeschrieben ist. Heißt: Die zentrale Begründungsidee des ganzen Za, zum ersten Mal in FW 341 eingeführt, ist mit Das Zeichen nicht mehr. Ihre für einen Kranken wie Nietzsche fraglos schreckliche und schon für einen Gesunden schwer verdauliche Vorstellung, alles kehre wieder und der heutige Tag gleiche dem gestrigen wie ein Ei dem anderen, hat ihr den sukzessiven Garaus eingetragen, nebst des in Vom Gesindel (Za II) vorgetragenen Zweifels ob des Sinns der ewigen Wiederkehr von Nietzsches Schwester wie Mutter: Zarathustras Gejammer in Der Genesende (aus Za III): »›Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch‹ – so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen.« (IV: 274)
Die Vergangenheitsform zeigt es an und der Titel dieser Rede gleichfalls: Zarathustra respektive Nietzsche, in Za IV genesen, jagt, wie gesehen, den Wiederkunftsgedanken und die ihm Ausgelieferten oder Verfallenen davon. Und mit ihm Lesarten wie jene, mit Za IV seien die mit Zarathustra »verbundenen Umwertungsversuche, Vermittlungsversuche und Lehrerfahrungen […] als endlos ausgewiesen.« (Müller 2020: 77) Das Gegenteil scheint mir triftig und insoweit die Vokabel »endlich« nahezuliegen: Zarathustra respektive Nietzsche ersetzt mit Das Zeichen die Vorstellung der Zyklizität der Zeit durch den Gedanken des Fortschritts und der schließlich erreichbaren Vollkommenheit – eigentlich eine attraktive Idee, drohte in ihrer Linie nicht das Ende für alle Nicht-Vollkommenen, mit Das Nachtwandler-Lied gesprochen: für alle »Nicht-Mitternachts-Seelen«. Und eben dies ist der Fall und erklärt die Euthanasie-Nähe von Nietzsches Zarathustra-Programm. Um dessen Problematik Nietzsche durchaus wusste, wie sein oben schon beigezogener Briefentwurf Nr. 584 von Mitte März 1885 an Heinrich von Stein andeutet, insbesondere die Bemerkung: »Im Übrigen – unter uns gesprochen – habe ich G r ü n d e vorsichtig zu sein und Schritt für Schritt zu thun. Schon diesen 4ten Zharathustrai habe ich nicht mehr der Öffentlichkeit anvertraut.« (7: 27)
Daraus folgt mitnichten eine Rechtfertigung für alle jene, die, wie es die Planungen für Band 11 der von Rüdiger Schmidt-Grépaly verantworteten Edition Friedrich Nietzsche – Werke Letzter Hand vor263 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
sehen, Za IV aus zukünftigen Editionsprojekten ausschließen wollen, im Gegenteil: Die von Heinrich Meier (2017: 162) zusammengestellten Argumente, Za IV mit Nietzsche für unverzichtbar zu erklären, sind überzeugend – was nicht ausschließt, dass Nietzsche gute Gründe für seine in Nr. 584 ausgedrückte Vorsicht hatte. Meint zugleich: Sollten wir Heutigen diesen Gründen durch unsere Editionspraxis Absolution erteilen, wäre die Verdunkelungspraxis Nietzsches heiliggesprochen und der Hinweis missachtet, den Nietzsche im nämlichen Brief genau einen Satz vor dem zitierten gibt: »Es ist schwer zu erkennen, wer ich bin: warten wir 100 Jahre ab: vielleicht gibt es bis dahin irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgräbt.« (7: 27)
Diesem Satz lässt sich unmittelbar ein auf das Verstehen Nietzsches abstellender Auftrag entnehmen, der diametral der Botschaft Enrico Müllers aus seinem Nietzsche-Lexikon zuwiderläuft, wonach die Dichtung Also sprach Zarathustra als »inszenierte Gabestruktur […] eine alternativ Zugangsart zum Verstehen insgesamt zu empfehlen [scheint]«, konkreter: »das Verstehen nicht mehr als Gewinn einer festgestellten, begrenzten und übersetzbaren Bedeutung [inszeniert], sondern als Bewegung im Bedeutungsüberfluss.« (Müller 2020: 77) Klingt irgendwie schick und in jedem Fall postmodern – hilft aber nicht wirklich weiter, zumal dem Einsteiger nicht, dem eher anzuempfehlen wäre, zusätzlich zum im Vorhergehenden Unterbreiteten das im (Original-) Nietzsche-Lexikon von 2011 zum Lemma Zarathustra Vorfindbare (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 432 ff.) nachzulesen.
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Jenseits von Gut und Böse (1886)
Im August 1886 erschien Jenseits von Gut und Böse (in diesem Kapitel: JGB). Der Sache nach bringt dieses Buch in insgesamt neun Hauptstücken systematisierende Gedanken, die auf zumeist sehr originelle Art weiterführen, was auch in den vorhergehenden Aphorismensammlungen der Freigeistepoche sowie im Zarathustra Thema war. Ein Beispiel gibt schon JGB 2: Nietzsche nimmt hier das antimetaphysische Programm aus Aph. 1 Menschliches, Allzumenschliches wieder auf und identifiziert die für seine Durchführung notwendigen »neue[n] Philosophen« (V: 17) als im Gegensatz zu Kant 264 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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stehend, dem in JGB 5 ein fulminanter Prozess gemacht wird, stellvertretend für seine Gattung, ehe in JGB 6 die Pointe mitgeteilt wird: »Ich glaube […] nicht, dass ein ›Trieb zur Erkenntniss‹ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat.« (V: 20)
Die Folgerung aus dem hiermit grundgelegten Projekt einer »P s y c h o l o g i e d e r P h i l o s o p h e n « (XIII: 285) wird, nach dem in JGB 16 – am Exempel René Descartes – geführten Prozess gegen den Glauben, »dass es ›unmittelbare Gewissheiten‹ gebe, zum Beispiel ›ich denke‹« (V: 29), in JGB 17 auf den Punkt gebracht: »Es denkt: aber dass dies ›es‹ gerade jenes alte berühmte ›Ich‹ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ›unmittelbare Gewissheit‹.« (V: 31) Die Ernte dieser Präparation fährt Nietzsche, wie gesehen (s. II.1), in JGB 23 ein, wenn er die Psychologie tadelt, »sich nicht in die Tiefe gewagt« (V: 38) zu haben. Das Problem ist nur: Wagt sich Nietzsche selbst eigentlich in die respektive seine ›Tiefe‹ ? Der Anfang von JGB 26 erlaubt daran erste Zweifel: »Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten e r l ö s t ist.« (V: 43)
Dies klingt so, als gelte es, einem neuen Programmsatz des ›auserlesenen Menschen‹ Nietzsche Referenz zu erweisen nach Art des – so die Vermutung von Andreas Urs Sommer (2016: 230) – Solipsismus oder »theoretischen Egoismus« à la Schopenhauer. Dass die Sache dann doch nicht so heiß gekocht wird wie damit gedacht, zeigt das Ende dieses Aphorismus: Nietzsche kritisiert, wohl mit Seitenblick auf den in JGB 218 aufgerufenen »braven Bürger von Rouen« (V: 153) Gustave Flaubert (s. III/8) 79, denjenigen, der »überall […] immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn w i l l « – und konstatiert zu dessen Lasten ein Glaubwürdigkeitsproblem, denn: »Niemand l ü g t so viel als der Entrüstete« (V: 45), will sagen: Es ist der Entrüstete selbst, der untergründig begehrt, was er, vordergründig, vehement geißelt – ein wichtiger Hinweis, der uns in Kapitel I half, ein wenig Struktur in den Literaturbe-
Hier, wie Andreas Urs Sommer (2016: 612 f.) vermutete, unter dem Einfluss der Flaubert-Kritik Henry Houssayes (1848–1911) in dessen Aufsatzsammlung Les hommes et les idées (1886).
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richt zu Nietzsches Syphilis zu bringen, ausgehend vom ›Entrüsteten‹ Hermann Türck und endend beim ›Entrüsteten‹ Jochen Schmidt. Was die Intention von JGB 26 angeht, ist zu beachten, dass ihm ein psychologischer Forschungsauftrag innewohnt, der letztlich in eigener Sache vorgetragen zu sein scheint. Denn der Sache nach erlaubt das Textangebot auch, die Entrüstung zu hinterfragen, auf die Nietzsches in der Linie von Deussens Bordellgeschichte zu supponierendes eigenes sexualdeviantes Verhalten in der Lesart der ›braven Bürger von Naumburg‹ getroffen wäre. Dass es indes mit der derlei Aufklärungswillen nicht weit her ist, zeigt der gleich nachfolgende Aphorismus JGB 27: Nietzsche eröffnet ihn nur deshalb mit einem unverständlichen Satz, um die These, er tue »eben Alles, um schwer verstanden zu werden« (VI: 45), anschaulich werden zu lassen – eine Überlegung, die dort, offenbar mit von Nietzsche erwünschtem Effekt, folgenreich wird, wo, wie in der Nietzscheforschung nicht eben selten zu beobachten (vgl. Niemeyer 2011: 19 f.), das Nichtverstehenwollen Nietzsches zu einer von Nietzsche geforderten Tugend verklärt wird. Für diese Lesart scheint auch JGB 40 zu sprechen, der eröffnet wird mit dem vielbeachteten Satz »Alles, was tief ist, liebt die Maske« – dem übrigens sogleich ein überaus koketter Vergleich mit dem biblischen Bilderverbot angefügt wird (vgl. Müller 2013: 250) nach dem Muster: »die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss.« (V: 57) Schon dieser Zusatz sollte skeptisch stimmen, zumal diese Blasphemie ja offenbar nur ablenken soll von den durchaus profanen Motiven Nietzsches: Ihm geht es, genau besehen, um kaum mehr als um ein Schweigegebot bezogen auf seine eigene Krankengeschichte. Dies mag etwas weit hergeholt sein, nur: Dass es exakt darum geht, lässt schon der im weiteren Fortgang von JGB 40 aufgebotene, übrigens für Nietzscheverhältnisse ausgesprochen schlecht gebaute Satz vermuten: »Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen [lies: verbergen] hätte …«, zumal im Verein mit der nach vielen hier nicht interessierenden Wendungen dargebotenen Fortführung: »Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Verwandten nicht wissen dürfen: seine Lebensgefahr verbirgt sich in ihren Augen und ebenso seine wieder eroberte Lebens-Sicherheit.« (V: 58)
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Was für ein Satzungetüm! Und wie (gewollt?) unscharf! Sind »zarte Entscheidungen« – um nur dies anzusprechen – solche in puncto ›zartes Geschlecht‹ ? Und was hat es mit jenen ominösen »Wegen« auf sich, um die »seine Nächsten und Verwandten« nicht wissen dürfen? Welche »Lebensgefahr« und »wieder eroberte Lebens-Sicherheit« ist gemeint? Ist etwa an Heilung gedacht in Sachen Syphilis, derer sich Nietzsche zu jener Zeit sicher wähnt? Wir wissen es nicht, können es aber auch nicht ausschließen – und damit eben auch: Wir können nicht mehr einfach so Nietzsches Pointe »Jeder tiefe Geist braucht eine Maske« (V: 58) als gehaltvolle theoretische Einsicht gelten lassen und tradieren, wir müssen vielmehr den Subtext in Betracht ziehen: »Ich, Nietzsche, brauche meiner Krankheit wegen eine Maske«, vielleicht noch verbunden mit dem Zusatz: »… wie sie seinerzeit, nicht zuletzt der Syphilis und deren wenig attraktiver Folgen für die Physiognomie der von ihr Betroffenen, in Venedig und anderswo in Gebrauch kam.« Subtexte dieser Art scheinen mir auch deswegen berechtigt, weil Nietzsche das von ihm mit JGB 40 Intendierte auch mittels der Variante vorträgt: »Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mitteilung, w i l l es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt.« (V: 58)
Denn was hier passiert, ist nichts anderes als die großflächige Negation von Aufklärung an sich im Interesse, jene über Nietzsche und seine Krankheit unmöglich zu machen – und komplettiert durch frivole Witzchen nach Art von JGB 68: »›Das habe ich gethan‹ sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtniss nach.« (V: 86)
Muss man hier, bei diesem, genau besehen (vgl. Sommer 2016: 393), auf die Zeit der Lou-Affäre (s. X: 82) zurückgehenden Aphorismus vom Typ Freud 80 wirklich noch ergänzen: So, wie Nietzsches Gedächtnis 1882 nachgab und dem Stolz die Negation durchgehen ließ, es habe keine gänzlich entgrenzte Verliebtheit Nietzsches in Lou gegeben. Oder, 1865/66 im Blick auf Deussens Bordellgeschichte: Es Wie Reinhard Gasser (1997: 40 ff.) subtil rekonstruierte, war es dieser Aphorimus, der Nietzsche das Herz Freuds öffnete, wegen Nietzsches Vorgriff auf dasjenge, was Freud ›Verdrängung‹ hieß. (vgl. Niemeyer 1998: 292)
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habe Dinge dieser Art nicht gegeben, sprich: die darauf bezügliche Maske könne auf Anerkennung rechnen. Was dann übrigens auch den subtilen Spott in JGB 196 erklären könnte vom Typ: »Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu e r s c h l i e s e n – solche die wir nie sehen werden.« (V: 117)
Der Spott wird erkennbar, wenn man hier statt »wir« »ihr« setzt – und bedenkt, dass es Nietzsche war, der die im ersten Satzteil markierte Aufgabe durch JGB 40 erschwerte, wenn nicht gar, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, verunmöglichte. Geradezu triumphierend ruft Nietzsche denn auch »als direkte Kontrafaktur zu Matthäus 5, 4« (Sommer 2016: 611) in JGB 217 aus: »Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten ›fertig‹.« (V: 153)
»Fertig«? Wohl eher nicht: Kein Vergessen ist, wie wir von Freud wissen, vor »Wiederkehr des Verdrängten« geschützt, und so auch hier: Jenem ›freien Geist‹ Nietzsche als Verfasser von JGB fällt mitunter ein anderer, ein tief melancholischer Nietzsche in die Parade, ausgehend wohl von JGB 213 und dem hier mit großen Worten ausgebreiteten Philosophenideal. So schreibt Nietzsche hier, recht unvermutet und sich damit, wie wir gleich sehen werden, eine Falle bauend: »Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher gesagt, man muss für sie g e z ü c h t e t sein: ein Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen – hat man nur Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das ›Geblüt‹ entscheidet auch hier. Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein […], die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke […], die Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf blickt, selten liebt …« (V: 148 f.)
Beim Lesen noch spürbar: wie sich Nietzsche hier sukzessive in einen Rausch des Vornehmen hineinschreibt, offenbar – und damit kommt das Wort »Falle« ins Spiel – gar nicht merkend, dass er diesem Ideal, beim selbstkritischen Blick auf seine Vorfahren, recht fernsteht. Dies wird Seiten später, in JGB 264, deutlich, wo wir lesen: »Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch n i c h t die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvorderen im Leibe habe«, ehe dann, unter dem Code »Dies ist das Problem der Rasse«, als Beispiel folgt, im ansons-
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ten eher übergründlichen JGB-Kommentar von Andreas Urs Sommer (2016) leider nicht beachtet: »Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei […] dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut.« (V: 219)
»Verderbtes Blut« als Folge von »Winkel-Neid« oder »Sich-Rechtgeberei«? Wohl eher unwahrscheinlich – ganz sicher aber zu erwarten als Effekt »widriger Unenthaltsamkeit«, weniger vornehm geredet: von sexueller Haltlosigkeit an einem Ort, wo, wie etwa in einem Bordell, mit »verderbtem Blut« und mit dadurch bedingter Infizierung mit Syphilis gerechnet werden muss. Ist es dies also, was uns Nietzsche hier, in Weiterführung der unausgesprochenen Botschaft aus seinem juvenilen Alptraum über den Tod seines kleinen Bruders, sagen will: Dass er dem ›verderbten Blut‹ seines Vaters erlag, das auch in ihm wirke so sicher wie das Amen in der Kirche? Man weiß es nicht, ahnt nur, dass dies der eigentliche Hintergrund ist für die resignative Botschaft aus JGB 264, wonach »[i]n unsrem sehr volksthümlichen, will sagen pöbelhaften Zeitalter« Erziehung und Bildung kaum mehr als die Kunst sein könne, »über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen.« (V: 219) Und auch dies wird nun zunehmend klar: Der eigentliche Hintergrund für die in M 54 gestellte Aufgabe (»unsere Aufgabe«), die »Phantasie des Kranken [zu] beruhigen« (III: 57), aber auch das in GM III 15 gesetzte, als Teil dieser Aufgabe zu begreifende Stoppzeichen in Sachen von derlei Phantasien durch den dem asketischen Priester in den Mund gelegten Satz: »[ D ] u s e l b s t b i s t a n d i r a l l e i n s c h u l d ! « (V: 375) Nicht minder düster: JGB 270 mit der Botschaft, dass der »geistige schweigende Hochmuth des Leidenden, dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des ›Eingeweihten‹, des beinahe Geopferten […] alle Formen von Verkleidung nöthig [findet], um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen […] zu schützen.« (V: 225) Denn damit wird klar, wer von jenem gegen Ende dieses Aphorismus wiederholten Erkenntnisverbot aus JGB 40 zugunsten bloßer »Ehrfurcht ›vor der Maske‹« (V: 226) profitieren soll: kein anderer als Nietzsche. Nicht zu vergessen: Von Nietzsches Philosophenideal aus JGB 213 nebst des in JGB 211 gegebenen großspurigen Ausblicks auf »[ d ] i e e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n « als »B e 269 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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f e h l e n d e u n d G e s e t z g e b e r « (V: 145) bleibt herzlich wenig übrig, abgesehen von düsteren Andeutungen, wie etwa jene aus JGB 268: »Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s G e m e i n e ! – zu kreuzen.« (V: 222)
Dass es Nietzsche dabei nicht eigentlich um die Kreuzung von Rassen zu tun war, sondern um den Fortbestand einer auf Ununterscheidbarkeit setzenden Form der Weltauslegung, wird klar, wenn man JGB 260 hinzuzieht. Nietzsche unterscheidet hier zwischen Herren- und Sklavenmoral und nimmt an, dass beide Moralen einen je eigenen Typus Mensch voraussetzen und/oder erzeugen. Jener der Sklavenmoral ist mit den vorgenannten Attributen beschreibbar. Die Herrenmoral hingegen verknüpft Nietzsche mit dem Typus des ›vornehmen Menschen‹, dem seine Sympathie gehört, dabei an die alt-griechische Aristokratie denkend – und, wenn man so sagen darf: an sich selbst, wie JGB 284 deutlich macht, insofern es hier heißt: »Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre ›Gründe‹ sehn darf […]. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch – ›in Gesellschaft‹ – unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann – gemein‹.« (V: 231 f.)
Was Nietzsche hier beschreibt und unter der Kategorie ›vornehme Seele‹ rubriziert haben möchte, ist letztlich nichts weiter als seine eigene Lebensweisheitsdoktrin als einsam wandernder Philosoph im Oberengadin. Dabei wusste Nietzsche durchaus um die andere, die dunkle Seite (und Lesart) seines Einsiedlertums, wie JGB 289 belegt. Entsprechend verunsichert – und verunsichernd – endet dieses Buch, wie der Schlussaphorismus JGB 296 klarstellt, in welchem die Selbstdistanzierung gegenüber den vorgetragenen, nun als »boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen« attribuierter Gedanken dominiert nebst Melancholie vom Typ: »Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle!« (V: 239)
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Es ist die sich hier andeutende anti-dogmatische Verunsicherung, mit der dieses Buch endet. Eigentlich ein gutes Zeichen für einen Autor, der deutlich am Rubikon steht und mithin vor der Frage, ob er sich, aus Enttäuschung über das Bestehende sowie fehlende Resonanz, in einen fanatischen Menschenverbesserer wandeln soll – oder jedenfalls doch in einen Verbesserer seiner Freunde, wie der »Nachgesang« Aus hohen Bergen andeutet. 81
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Zur Genealogie der Moral (1887)
Die Bedeutung der in der Nietzscheforschung vielbeachteten Streitschrift Zur Genealogie der Moral (in diesem Kapitel: GM) vom November 1887 für unsere Thematik tritt erstmals deutlich in GM I 11 in Gestalt des Frage-/Antwort-Spiels hervor: »[W]er [ist] eigentlich ›böse‹ […], im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet: e b e n der ›Gute‹ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment.« (V: 274)
Das Gesagte nochmals umgedeutet und transformiert in ein Frage-/ Antwort-Spiel höherer Ordnung: Ist es erlaubt, Nietzsches Problem, die Syphilis, als ein Problem zu deuten, das in Analogie zum labeling approach recht eigentlich erst erzeugt wird durch jene ›Menschen des Ressentiment‹, die das in dem von Deussen angedeuteten Bordellbesuch Nietzsches zum Ausdruck kommende ›Vornehme‹, ›Mächtige‹, ›Herrschende‹ an Nietzsche nicht anerkennen wollten, es schlicht als ›böse‹ geißelten? Eine, wie zuzugestehen ist, vielleicht etwas verquere Transformation der Überlegung Nietzsches. Aber eine, wie man einräumen muss, für Nietzsche hilfreiche und insbesondere in GM III 14 folgenreiche. Denn Nietzsche eröffnet diesen für unsere Thematik zentralen Textabschnitt mittels der These: Geboren, wie Andreas Urs Sommer mutmaßt, »aus der Enttäuschung, den jungen Heinrich von Stein Wagner nicht abspenstig gemacht zu haben.« (Sommer 2016: 812) Anders Claus Zittel, der auf ein »Minidrama« schließt, »ersonnen, um eine im Nachgesang imaginierte Figur mit Hirngespinsten zu unterhalten.« (Zittel 2014: 230) Auf Erwin Rohde zielen offenbar die Zeilen: »Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn’ ich’s doch? –/ Nur Freunds-Gespenster! / Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, / Das sieht mich an und spricht: ›wir w a r e n ’s doch?‹ – / – Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch!« (V: 242)
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
»Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist […], um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die G l ü c k s f ä l l e des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten.« (V: 367)
Kein Zweifel: Nietzsche rechnet sich, unter der Setzung, die eben unterbreiteten Deutung von GM I 11 sei triftig, diesen ›Glücksfällen‹, diesen Wohlgeratenen also, zu – und sieht sich gefährdet von der ›Kranken-Luft‹ der Anderen, deutlicher: seiner Nächsten. Dass es um exakt diese geht, zeigt die im weiteren Verlauf dieses fünfseitigen Abschnitts dargebotene Fortsetzung: »Man blicke in die Hintergründe jeder Familie […]: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden, – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele […]. Das sind alles Menschen des Ressentiment« (V: 370).
»Jede Familie« meint: auch die Nietzsches & Co. in Naumburg, womit zugleich gesagt ist: auch sie sind »Menschen des Ressentiment«, wie problemlos jeder bestätigen kann, der um Nietzsches Mutter weiß und um ihre zumeist besorgten und in der Regel tadelnden Briefe an den Sohn. Dass es primär um diese Familie geht, stellt GM III 15 klar, wo Nietzsche erneut den selbstkritischen Blick auf seine Vorfahren aus JGB 264 aufruft, diesmal in Gestalt einer Variante, in welcher er als ein um Aufklärung bemühter Leidender auftritt: »Die Leidenden […] durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eigenen Gifte der Bosheit sich zu berauschen – sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht.« (V: 374 f.)
Spannend die letzte, wie leicht erkennbar eklatant unvollständige Aufzählung: Der »Vater« fehlt, deutlicher: »Nietzsches Vater«, in Übersetzung geredet: Der Umstand, dass Nietzsche hier seinen Vater, der ihm zumindest in der hier erörterten Frage »der dunklen fragwürdigen Geschichten« am nächsten stand, nicht auflistet, ist schon fast ein Eingeständnis, dass hier von keinem anderem als eben von diesem die Rede ist. Das Ideal bei all dem wird in GM II 2 aufgerufen: Es ist das »s o u v e r a i n e I n d i v i d u u m , das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum.« (V: 293) Dieses Ideals wegen müsse der 272 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
Mensch bei all dem, was er an Unterwerfung seitens Dritter zu erleiden hat, zugleich doch auch, so das Thema in GM II 16, zu einer eigenen »Kriegserklärung« gegen seine »Thierseele« bereit sein, wenn er denn wolle, dass man in ihm noch nicht das »Ziel« der Menschheitsgeschichte sehe, sondern eine »Brücke« oder ein »grosses Versprechen.« (V: 323 f.) Im Blick auf den unausgesprochenen Subtext bietet sich hier die Frage an: Inkludiert dies auch, unausgesprochen, Selbstkritik derart, dass auch er, Nietzsche, im Interesse der Einlösung dieses Versprechens seinerzeit im Bordell seiner »Tierseele« den Krieg hätte erklären müssen – nicht, wie die »Menschen des Ressentiment«, mit moralischer Intention, sondern im Interesse der Hervorbringung jenes »souveränen Individuums«, auch Übermensch geheißen? Sowie: Meint dies auch, im Rückblick auf GM II 1 gesprochen, dass auch Nietzsche persönlich eine Art »aktive Vergesslichkeit« setzen darf gegen das in ihm bisher Akkumulierte, darunter die Bordellgeschichte, »damit wieder Platz wird für Neues, vor allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen« (V: 291)? Sicherer als dies ist, dass Nietzsche in GM III 14 – wir haben diesen wichtigen Abschnitt bisher vor allem als familiengenealogisch aufschlussreichen betrachtet, – aus Angst vor einer gleichsam gegenläufigen Evolution radikale Maßnahmen, auch fragwürdige Parolen in der Linie des gelegentlich beschworenen »Pathos der Distanz« erwägt wie: »[D]as Höhere s o l l sich nicht zum Werkzeug des Niedrigeren herabwürdigen.« Am Beispiel: »Oder wäre es etwa ihre [der Gesunden; d. Verf.] Aufgabe, Krankenwärter oder Ärzte zu sein?«
Eine Frage vom Typ Nebelkerze, die vergessen machen soll, dass derjenige, der so fragt, krank ist und nur gut ein Jahr später dauerhaft der Krankenwärter und Ärzte benötigen wird. Zu diesem Stichwort (Nebelkerze) passt auch die weitergehende Forderung: »Fort mit dieser schändlichen Verweichlichung des Gefühls! Dass die Kranken n i c h t die Gesunden krank machen – und dies wäre eine solche Verweichlichung – das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein: – dazu gehört aber vor allen Dingen, dass die Gesunden von den Kranken a b g e t r e n n t bleiben, behütet selbst vor dem Anblick der Kranken, dass sie sich nicht mit den Kranken verwechseln.« (V: 371)
Nochmals, zurückgefragt: Wovon redet Nietzsche hier eigentlich? In der ihm eigenen Hellsicht vom Corona-Virus? Oder, da wohl nie273 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
mand vor dem Anblick dieser Kranken behütet werden muss: Redet er von der Lepra, der Pest, der Cholera? Und wenn ja: Warum? Weil er nicht von der Syphilis, von seiner Syphilis, reden will? Beinahe – die Vokabel ›Nebelkerze‹ sollte dies andeuten – sieht es so aus. Damit verliert alles an Wert, was noch folgt, etwa GM III 15, wo Nietzsche mit dem »asketischen Priester« abrechnet, diesmal in dessen Rolle »als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde« (V: 372), dem als solchem an gezielter Hinwendung zu eigener Schuld und Verantwortung zum »Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung« (V: 375) gelegen sei. In diesem Tenor geht es weiter, etwa in GM III 20, wo der Priester als Experte in Sachen Nutzung des Schuldgefühls präsentiert wird. Oder in GM III 21, wo zahlreiche Beispiele in Sachen fragwürdiger »priesterliche[r] Medikation« (V: 391) den Befund: »ohne alle Übertreibung das e i g e n t l i c h e Ve r h ä n g n i s s in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen« (V: 392), stützen sollen, ergänzt um das Zugeständnis, dass dem der »spezifisch-germanische Einfluss gleichzusetzen wäre«, etwa in Gestalt der »Alkohol-Vergiftung Europa’s, welche streng mit dem politischen und Rassen-Übergewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (– wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster 82 ein).« (V: 392) Und schließlich in GM III 22, wo das Neue Testament und seine Wirkung – etwa die Sehnsucht nach ewigem Leben auch für die »kleinen Leute« (V: 394) – als Beleg dafür genommen wird, dass der asketische Priester »auch den G e s c h m a c k verdorben [hat] in artibus et litteris.« (V: 393) Schließlich folgt, in GM III 26, der große Rundumschlag, mit bemerkenswerter Aggressivität, etwa wie: »Hundert Mal schlimmer sind die Beschaulichen –: ich wüsste Nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein ›objektiver‹ Lehnstuhl, solch ein duftender Gemeint ist selbstredend die im Folgesatz denn auch expressis verbis genannte Syphilis, was aber, so Andreas Urs Sommer, zu »biographischen Spekulationen« keinen Anlass gäbe, da »das Argument […] ein kultur-, kein individualdiagnostisches [ist].« (Sommer 2019: 552) Wer so argumentiert, muss gewahr sein, womöglich begrifflos auf eine weitere Nebelkerze Nietzsches hereinzufallen. Viel wichtiger, meiner Wahrnehmung nach: Nietzsches Rubrizierung der Syphilis in GM III 21 als Vermächtnis trunkener und haltloser Germanen gibt einen zusätzlichen Begriff von der unausgesprochenen Selbstverachtung Nietzsches wegen seiner eigenen Syphilis – und beugt der bei Eduardo Nasser (2020) sich andeutenden (verharmlosenden) Rubrizierung Nietzsches unter Alkoholgegner an und für sich, und nicht speziell dieses Lasters (als Folge) wegen, vor.
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Werke (und Briefe)
Genüssling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Befalls verräth, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, w o in diesem Fall die Parze die grausame Scheere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat!« (V: 406)
Wenige Zeilen später folgt, kaum minder aggressiv: »[W]ozu gab mir die Natur den Fuss? … Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen: zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchenthums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz!« (V: 407)
Bedarf es wirklich zuviel Fantasie, in derlei Sound die Sorge dessen herauszuhören, der genau weiß, welche »Schere« seiner in nicht allzu ferner Zukunft harrt?
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Götzen-Dämmerung (1889)
Nietzsches Buch Götzen-Dämmerung (in diesem Kapitel: GD) kam im Januar 1889, unmittelbar nach dem geistigen Zusammenbruch seines Verfassers, in den Buchhandel und traf dieser Umstände wegen auf besondere Aufmerksamkeit. Der Text, im September 1888 aus – ursprünglich für Der Wille zur Macht gedachten – Nachlassaufzeichnungen kondensiert, die Nietzsche auch für Der Antichrist nutzte, galt Nietzsche als »vollkommene Gesammt-Einführung in meine Philosophie« (8: 414). Von gewisse Bedeutung für unser Thema sind einige der 44 einleitend dargebotenen Sprüche und Pfeile, etwa der zweite (»Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich w e i s s …«), insofern man ihn als Eingeständnis Nietzsches lesen könnte, dass er um seine Syphilis weiß, aber nicht den Mut hat, darüber offen zu reden. Deswegen denn auch der als Nr. 5 dargebotene Schluss: »Ich will, ein für Alle Mal, Vieles nicht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntniss Grenzen.« (VI: 59)
Ein Satz, als persönliche Lektion akzeptabel, durchaus auch witzig in der brieflichen Variante »Wenn ich nur den Muth hätte, Alles zu d e n k e n , was ich weiß« (8: 21) – als theoretischer Satz jedoch inhomogen, wenn man bedenkt, dass Nietzsche gleich in seinem ersten Aphorismus zur Sache (in Das Problem des Sokrates 1) jenem Wei275 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
sesten der Weisen, eben Sokrates, Grenzen zieht, weil er Bestimmtes nicht wissen wollte. Bleiben wird also vorerst jenem Aufklärer Nietzsche treu, insbesondere der Unerschrockenheit, mit der er in Moral als Widernatur 3 die Vokabel »Vergeistigung« – etwa der Begierde – zwecks Charakterisierung eines Vorgangs bemüht, den er noch in MA 1 noch »Sublimirung« (II: 23) geheißen hatte und den er nun neu unter die Lupe nimmt: als Chance für den Menschen, Sinnlichkeit in Liebe zu ›vergeistigen‹ ; aber auch als Option für den Kreativen, der seinen Feind, auch den ›inneren‹, als produktives Moment begreifen muss, denn: »Man ist nur f r u c h t b a r um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein.« (VI: 84) Kritisch ist, von hier ausgehend, der Befund in Sachen Kirche: Sie betreibe, so in Moral als Widernatur 1, eine Kur des »C a s t r a t i s m u s «, habe also »zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt« (VI: 83), kurz, so das zusammenfassende Argument in Moral als Widernatur 6: »Die Moral, insofern sie v e r u r t h e i l t [ … ] , ist […] eine D e g e n e r i r t e n - I d i o s y n k r a s i e , die unsäglich viel Schaden gestiftet hat! … Wir Anderen, wir Immoralisten, haben unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, G u t h e i s s e n .« (VI: 87)
Wie man sich erinnern wird: So ähnlich hat Nietzsche schon in GM I 11 argumentiert, so dass man vermuten darf: auch diesmal aus ähnlichen Gründen – dem des zumindest doch theoretischen ›Gutheißens‹ des Immoralismus seines mutmaßlichen Bordellbesuchs. Die praktischen Folgen desselben gelangen erst sehr viel später zur Sprache, in Streifzüge eines Unzeitgemässen 36, unter dem Titel M o r a l f ü r Ä r z t e . Hier lesen wir, wortwörtlich: »Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das R e c h t zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis E k e l vor ihrem Patienten.« (VI: 134)
Man muss nicht lange drum herumreden und sollte auch nicht, wie bei Patrick Wotling (2020: 373) zu beobachten, die Vorgeschichte dieser Pointe von Der Fall Wagner bis hin zu Streifzüge eines Unzeitge276 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
mässen 33 sehr gründlich rekonstruieren, sie selbst aber mitzuteilen sich scheuen: Dies ist ein unverzeihlicher, ganz schrecklicher Satz, an sich, aber auch, wenn man so sagen darf, für sich, für Nietzsche, jedenfalls in seiner Situation zur Zeit des Erscheinens dieses Buches im Januar 1889: Wie einer der hier beschriebenen Kranken in der Irrenanstalt sitzend und womöglich mit dem letzten ihm noch verbliebenen Verstand darauf vertrauend, dass niemand der ihn behandelnden Ärzte dieses Buch gelesen hatte und der hier geforderten ›Moral‹ im Blick auf ihn Folge leistete – noch nicht Folge leistete, wie man wohl ergänzen muss im Blick auf den Folgesatz zum eben zitierten: »Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des a u f s t e i g e n d e n Lebens, das rücksichtloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des e n t a r t e n d e n Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben …« (VI: 134)
Dass Letzteres bei Kranken – und man darf hier ergänzen: bei derart Kranken wie Nietzsche nach dem Januar 1889 – in Frage steht und der Suizid insoweit geboten sei, klingt an in der wenige Zeilen später dargebotenen Formulierung: »Wenn man sich a b s c h a f f t , thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben … Die Gesellschaft, was sage ich! das L e b e n selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgendwelches ›Leben‹ in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend –, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem E i n w a n d befreit …« (VI: 135)
»Irgend welches ›Leben‹« und auch alles andere – ganz klar geurteilt und gegen alle jene Nietzscheverehrer, die Stellen wie diese meinen verharmlosen zu dürfen: Dies war, wie in Kapitel I bereits betont, Nazijargon avant la lettre, ob nun, wie Andreas Urs Sommer (2012: 498) unter Verweis auf Bettina Wahrig-Schmidt (1988: 451) meint, durch Charles Féré (1887: 151) belehrt oder nicht. Dabei sei gerne zugestanden, im Nachgang zu einem Hinweis von Andreas Urs Sommer (2012: 49): Nietzsches Aufforderung, nie zu »vergessen, dass es [das Christenthum] die Schwäche des Sterbenden zu GewissensNothzucht […] gemissbraucht hat!« (VI: 135), ist durchaus berechtigt und stellt letztlich nichts weiter dar als die Paraphrase einer entsprechenden Überlegung aus William Edward Hartpole Lecky’s Sittengeschichte Europas, Erster Band (1879) (vgl. Lecky 1879: 189 ff.), die Nietzsche sorgfältig studierte. 277 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Freilich: Auch diese Erwägung bietet wenig Trost, zumal Nietzsche an dieser Stelle letztlich auch von sich selbst als ›Parasit‹ redet sowie davon, dass auch seine Zeugung des »verderbten Blutes« seines Vaters wegen am besten unterblieben wäre. Auch hilft es nicht wirklich, dass sich Nietzsche gleich nachfolgend, in Streifzüge eines Unzeitgemässen 37, gegen jene verwahrte, die so weit gingen, den Sinn seines Werkes dahingehend zu ›verstehen‹, »dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte.« (VI: 136) Es sei ihm, so erläutert er des Weiteren, um die Infragestellung der modernen Selbstzufriedenheit gegangen, im Vergleich zur Renaissance als der »letzte[n] g r o s s e n [ n ] Zeit«, in welcher die Tugenden nicht – wie zu Nietzsches Zeiten – »bedingt« gewesen seien, »h e r a u s g e f o r d e r t durch unsre Schwäche« (VI: 138) Weil dem so sei, könnten sie nicht als wirkliche Tugenden anerkannt werden, im Gegensatz etwa zum Streben nach Freiheit, das Nietzsche in Streifzüge eines Unzeitgemässen 38 hoch hält, weil sich in ihm der »Wille zur Selbstverantwortlichkeit« ausspreche und damit zugleich auch der Hohn und Spott auf jenes »Wohlbefinden«, von dem »Krämer, Christen, Kühe, Weiber und andre Demokraten träumen.« (VI: 139 f.) Nietzsche hat hier an sich einen wichtigen Punkt angesprochen: Selbstherrschaft muss Volksherrschaft vorangehen. Und doch dominierte in der Rezeption (vgl. etwa Oduev 1977: 95 f.) das provokative Moment, blieb also der Eindruck, dass Nietzsche sich hiermit endgültig als Anti-Feminist und Anti-Demokrat unmöglich gemacht hatte, zumal GD mit dem Zarathustra-Zitat ausklingt: »D i e s e n e u e Ta f e l , o h m e i n e B r ü d e r, s t e l l e i c h ü b e r e u c h : w e r d e t h a r t ! « (VI: 161)
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Der Antichrist (1888)
Nietzsches Buch Der Antichrist (in diesem Kapitel: AC) mit dem unmittelbar vor dem geistigen Zusammenbruch des Verfassers verfügten neuen Untertitel Fluch auf das Christenthum (statt Umwerthung aller Werthe), von Nietzsche Ende November 1888 als druckfertig deklariert, wirkt deutlich wie jenem Imperativ »werdet hart!« verpflichtet, wie auch schon das Vorwort anzusprechen scheint mittels der Pose:
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»Man muss rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten.« (VI: 167)
Tatsächlich ist der gleich zu Anfang dargebotene anti-christliche Katechismus nur schwer auszuhalten. Der Sache nach setzt er die in GD angedeutete M o r a l f ü r Ä r z t e fort. Zu beachten ist (vgl. Sommer 2013: 37), dass Nietzsche nicht vor einer Verschärfung in gleichsam letzter Minute zurückschreckte. So ersetzte er den in einer Vorstufe zu AC 1 noch vorgesehenen Ausdruck »der Gesellschaft« im Satzteil: »Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz der Gesellschaft« (XIII: 192) durch den Terminus »u n s r e r Menschenliebe« (VI: 170). Nietzsche verschob damit eine ohnehin schon schlimme Aussage ins Zynische – oder, um einen durchaus unpassenden Scherz Nietzsches aus EH (VI: 306) aufzugreifen: ins Medi-Zynische. Über die Vorgeschichte dieses Ausdrucks findet sich einiges bei Florian Häubi (2020), die Gründe für diese Verschärfung bleiben aber vorerst im Dunkeln. Vielleicht hat sich Nietzsche seiner Ankündigung aus GM erinnert, er werde in seinem Buch WM – ein Projekt, in dessen Nachfolge AC zu sehen ist – einige Themen »gründlicher und härter« (V: 408) anfassen. So betrachtet darf es fast als Selbstdementi gelesen werden, wenn Nietzsche gegen Ende, im AC 54, den »Fanatiker« (VI: 237) als schwach geißelt. Dieses Vorgehen erinnert an den Anti-Dogmatiker aus der Vorrede zu JGB, der in der Folge immer wieder mit Ironie und Witz brillierte. Davon freilich kann in AC kaum noch die Rede sein. Stattdessen dominiert ein aggressiver Klageton, wie etwa in AC 38: »Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie – die M e n s c h e n - Ve r a c h t u n g . Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnissvoll gleichzeitig bin.« (VI: 209)
Im Hintergrund dieser fraglos auch für den Psychiater aufschlussreichen Zeilen wirkt der Zorn über die Fortdauer eines längst schon entlarvten falschen Zaubers namens Christentum mitsamt der Empörung über die – in AC 6, als »décadence« auf den (neuen) Begriff gebrachten – »Ve r d o r b e n h e i t des Menschen« (VI: 172), insonderheit in Gestalt des Priesters, eingerechnet, so die Ergänzung in AC 10, mit einiger Analogie zu Heinrich Heine (vgl. Sommer 2013: 66), jene Philosophen, »die durch Theologen-Blut verderbt« sind. (VI: 176) Nietzsches Gegenprogramm, nach AC 14: 279 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
»Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ›Geist‹, von der ›Gottheit‹ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt.« (VI: 180)
Auch dass der ›Böse‹ seiner ›Sonne‹ (sprich: einer Erklärung) bedürfe – wie in FW 289 erstmals gefordert –, wird nun erneut (in AC 16) angesprochen, ebenso wie der Wiederkunftsgedanke, denn, so der Kern der Christentumskritik in AC 43: »Wenn man das Schwergewicht des Lebens n i c h t in’s Leben, sondern in’s ›Jenseits‹ verlegt – in’s N i c h t s –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen.« (VI: 217)
Nietzsche ist berühmt-berüchtigt für diese Diagnose und das ihr entsprechende positive Gegenbild, ebenso wie für die dem angeschlossene Psychologie des Glaubens (etwa in AC 51) mit dem das Begriffsdual ›Mensch des Ressentiment‹/›vornehmer Mensch‹ letztlich wieder aufgreifenden Befund: »Das Christenthum war ein Sieg, eine v o r n e h m e r e Gesinnung gieng an ihm zu Grunde, – das Christenthum war bisher das grösste Unglück der Menschheit.« (V: 231)
Darf man hier fortfahren mit: Und das Christentum trug, via Leibfeindlichkeit, zu meinem (Nietzsches) größten Unglück bei? Vermutlich schon, zumal dann Nietzsches Clou etwas leichter erkennbar wird: Gesetzt, es stünde, wie Nietzsche des Weiteren in AC 51 behauptet, niemandem frei, Christ zu sein, insofern man »krank genug dazu sein [muss]«, erlaubt Nietzsches Antichristentum den Schluss, er, also Nietzsche, sei gesund – dies natürlich nicht im profanen Sinn einer Abwesenheit einer Krankheit wie etwa der Geschlechtskrankheit Syphilis. Sondern, wie Nietzsche bedeutungsschwer anfügt, im Sinne derer, die, wie »Wir Anderen«, den »M u t h zur Gesundheit u n d auch zur Verachtung haben.« Damit greift die Pointe: »[W]ie dürfen w i r « – »Wir Anderen« wohlgemerkt, also, wie noch zu zeigen sein wird (s. III): jenes sich um Literaten wie Maupassant et al. sammelnde Kollektivsubjekt von Libertins (und Syphilitikern!), nun »vornehme Menschen« geheißen, – »eine Religion verachten, die den Leib missverstehen lehrte!« (VI: 231) Diese Volte ist fraglos überraschend und nicht frei von Zynismus, insofern die Nicht-Verachtung der so zu verstehenden Religion ja für neuen Nachschub im mit »Wir Anderen« bezeichneten Lager sorgte. Und doch ist diese Volte folgerichtig und erlaubt im Übrigen, die Etikettierungen neu 280 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
zu verteilen: Gesund ist der eigentlich kranke Nietzsche, krank hingegen das leibfeindliche Christentum, das ihn, nebst zahllosen Anderen, blind und unaufgeklärt in sein persönliches Verhängnis tappen ließ. Nietzsches Schlussfolgerung hat es in sich: »Die christliche Bewegung, als eine europäische Bewegung, ist von vornherein eine Gesammt-Bewegung der Ausschuss- und Abfalls-Elemente aller Art: – diese will mit dem Christenthum zur Macht. Sie drückt n i c h t den Niedergang einer Rasse aus, sie ist eine Aggregat-Bildung sich zusammendrängender und sich suchender Décadence-Formen von Überall.« (VI: 231)
Ab diesem Satz ist Décadence, strenggenommen, nicht mehr verfügbar als Begriffsdach, mittels dessen sich Nietzsche zeitgleich, wie seine Goncourt-Deutung zeigt (s. III/9), ein Nest bauen wollte zwecks Beheimatung unauffälliger Syphilitiker wie ihn (und Jules de Goncourt). Vielmehr ist Décadence nichts weiter als ein anderes Wort für Christentum.
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Ecce homo (1888/89)
Nietzsches im Oktober/November 1888 verfasste Autobiographie Ecce homo (im Folgenden: EH) stand früh, schon bei Erstlesern wie Heinrich Köselitz und Franz Overbeck, unter Pathologieverdacht, unter gezielt gestreutem seitens der Schwester, die dieses Werk, wie gezeigt, erst zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen und nur unvollständig edieren ließ. Aber es steht unter Ideologieverdacht auch aus gleichsam professioneller Perspektive, der noch im Kommentar Giorgio Collis (VI: 452 ff.) nachwirkt. Hier, im vorliegenden Buch, interessieren pejorative Attribute wie diese nicht, zumal ihnen gemeinsam ist, das eigentlich Problematische an diesem Buch zu übersehen: Nietzsche, am Rande des Wahnsinns stehend und vage darum ahnend, sucht durch seine Erzählweise geradezu krampfhaft zu suggerieren, alles – so Nietzsche in Briefentwurf Nr. 1196 vom 17. Dezember 1888 – sei prima mit der Person (»vielleicht der stärkste Geist, der heute lebt«; 8: 533) und dessen Werk inklusive der in Planung befindlichen. (vgl. Niemeyer 2013: 106 ff.) Wie dieses Beispiel anzeigen soll: Auch hier, in diesem Buch, geht es allein um das Verstehen Nietzsches, im Speziellen um die Frage, ob uns EH näheren Aufschluss gibt über Nietzsches subjektive Krankheitstheorien bezüglich 281 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
seiner Syphilis unter Einschluss umfassender Programmatiken im Blick auf diese Geschlechtskrankheit als ein die Gesellschaft insgesamt betreffendes Grundproblem. Schon der auch im Zentrum von Hans Gerald Hödls (2009: 536 ff.) Aufklärungsversuch stehende Abschnitt Warum ich so weise bin 1 ist unter diesem Aspekt zu lesen. »Mein Vater starb mit sechsunddreissig Jahren: er war zart, liebenswürdig und morbid […] – eher eine gütige Erinnerung an das Leben, als das Leben selbst«, lesen wir da, sowie: »Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das meine abwärts: im sechsunddreißigsten Lebensjahr kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität« – was nicht wirklich gut klingt und auf briefliche Klagen dieser Art rekurriert, die, wie gezeigt (s. I.2/4), Thomas Manns Novelle Der Tod (1897) inspiriert haben könnten. Umso wichtiger der gleich zu Anfang dargebotene Trost: »[I]ch bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt«, schreibt Nietzsche hier und erklärt mit dieser »doppelten Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, décadent zugleich und A n f a n g […], jene Freiheit von Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet.« (VI: 264) »Vielleicht« ist gut – und vermutlich Folge des schlechten Gedächtnisses, besser: Effekt von dessen Gralshütern, die dem Schreibenden zugeflüstert haben, dass er doch unmöglich vergessen haben könne, was er im späteren Verlauf von EH über »die neue Partei des Lebens« (VI: 313) geschrieben habe und was mit allem zu tun habe – nur nichts mit »Freiheit von Partei«. Wir kommen gleich darauf zurück und halten vorerst nur fest: Schon am Eingang von EH zündet Nietzsche eine gigantische Nebelkerze, die verbergen soll, dass die Vitalität der Mutter tatsächlich zu Nietzsches Ärgernissen gehörte, viel mehr aber noch: der frühe Tod des Vaters. Mit derlei Nebelkerzen geht es in Warum ich so weise bin 2 weiter, mit einer Einschränkung: Dass Nietzsche, wie er hier behauptet und wie Scarlett Marton (2020) unlängst herausgestellt hat (vgl. auch Denat 2020: 47 ff.), aus seinem »Willen zur Gesundheit, zum L e b e n «, seine Philosophie machte (VI: 267), steht für eine wichtige und triftige Selbstbeobachtung, die uns hilft, den antichristlichen und darin lebensphilosphischen Grundzug seiner Philosophie in ihren Begründungsmotiven zu erkennenen. Anders schon verhält es sich mit der Konkretion: 282 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
»Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, d a s s m a n i m G r u n d e g e s u n d i s t .« (VI: 266)
Sätze wie diese haben etwas Rührendes, vergleichbar dem Rufen eines verängstigten Kindes im zunehmend dunkler werdenden Wald, was zugleich heißt: Wir wollen sie Nietzsche als ihm damals selbsttherapeutisch wichtige durchgehen lassen, ebenso wie die um ihn herum gruppierte Theorie: »Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist […], dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die r e c h t e n Mittel wählte: während der décadent an sich immer die nachtheiligen Mittel wählt.« (VI: 266)
Dieser Satz ist nicht – um den einleitend angesprochenen Einwand gegen Ecce homo aufzunehmen – »pathologisch«, im Gegenteil: Er ist streng durchkomponiert und auf seine Wirkung hin bedacht, will also etwas als gedankenreich verkaufen – mit Erfolg, wie man, mit Seitenblick etwa auf Thomas A. Long (1990: 119) hinzusetzen muss –, was, profaner, dafür aber tatsachennäher lauten müsste auf: »Ich, Nietzsche, bin kein décadent, sondern Syphilitiker, und der einzige Gegensatz zu diesem ist der Nicht-Syphilitiker. Alles andere ist Unsinn, beispielsweise, dass ich instinktiv die ›rechten Mittel‹ gewählt hätte.«
Dass Letzterem nicht so war, zeigt Briefentwurf Nr. 583 Nietzsches an seine Schwester von Mitte März 1885, in welchem es unmissverständlich heißt: »Leider bin ich sehr viel krank 83, und dann hasse ich die Menschen, welche ich kennengelernt habe, unsäglich, mich eingerechnet.« (7: 25)
Auch diese Bemerkung passt nicht zur Heilungsmär aus dem hier in Rede stehenden Abschnitt von Ecce homo – wohl aber zu dem Umstand, dass Nietzsche zeitgleich im Nachlass, insbesondere in für Der Wille zur Macht geplanten Passagen, mit Euthanasie-nahen Passagen lebhaft Kunde für diesen seinen Fremd- wie Selbsthass gab. Förster-Nietzsche brachte 1909 bei der Erstedition an dieser Stelle: »… bin ich oft krank und nehme das alte Mittel« (Gbr. V/2: 597) – eine Brieffälschung nicht ohne Hintersinn, die ihre auf das ›alte Mittel‹ (Choral) abstellende Erkrankungstheorie (s. I.2/4) absichern soll. Um weitere Eingriffe in speziell diesen Brief (Nr. 400, im Zusammenhang der Komplettfälschung Nr. 401) zu erläutern, fehlt hier der Platz. (vgl. zum Thema Brieffälschungen: NLex2 [Niemeyer]: 57 ff.)
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Der einzige Satz aus Nr. 7/583 mit Bezug auf Ecce homo ist der Folgende: »Es gehört zu den Räthseln, über die ich einige Male nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind.« (7: 24)
Nietzsches Schwester arrangierte diesen Satz 1909 derart geschickt neu, dass beim Leser der Eindruck entstehen musste, Nietzsche habe die Differenz zwischen sich und ihr am Umstand festgemacht, dass sie der Institution Ehe aufgeschlossen gegenüberstand. Mehr musste sie nicht tun, weil die ein Jahr zuvor von ihr wie Raoul Richter verantwortete Erstedition von Ecce homo, wie wir bereits wissen, jenen Abschnitt ohnehin nicht enthielt (vgl. Sommer 2013: 369 ff.), der als Fortschreibung jenes Briefes gedeutet werden darf: den Abschnitt Warum ich so weise bin 3 in der von Nietzsche zum Druck bestimmten Variante. Das 1885 an seine Schwester adressierte Rätsel, »wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind« (7: 24), begegnet einem hier in Gestalt der verschärften und auf die Mutter ausgedehnten Variante: »Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche […], so finde ich immer meine Mutter wie Schwester, – mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit.« (VI: 268)
Den zweiten Satzteil mag, wer will – Nietzsches Schwester wollte offenbar – pathologisch heißen, was aber nichts daran ändert, dass die Überlegung selbst in ihrer Urform zu dieser Zeit in etwa dreieinhalb Jahre auf dem Buckel hat. Was aber ist der rationale Kern dieser Erwägung, was ihr Vorteil für Nietzsche auf dem Stand Herbst 1888? Der eine Vorteil liegt auf der Hand und wird mit dem Schluss von Warum ich so weise bin 3 deutlich angesprochen. Nietzsche schreibt: »Alle herrschenden Begriff über Verwandtschafts-Grade sind ein physiologischer Widersinn, der nicht überboten werden kann […]. Man ist a m w e n i g s t e n mit seinen Eltern verwandt: es wäre das äusserste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein.« (VI: 268 f.)
Beides ist hier zu beobachten: Die (1.) Negierung von Aufklärungsbedarf (wegen der Leugnung von Verwandtschaft); sowie die (2.) Lust am Neuen, Voraussetzungslosen im Modus kindlich-spielerischer Identitätskonstruktion, wie Nietzsches Folgeüberlegung lehrt:
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»Die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart, gehäuft werden müssen. Die g r o s s e n Individuen sind die ältesten: ich verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein – o d e r Alexander, dieser leibhafte Dionysos …« (VI: 269)
Mit der Benennung dieser scheinbar imposanten Ersatzväter bei gleichzeitiger Entfernung des leiblichen Vaters aus dem Horizont des wieder zum Kind regredierenden Nietzsche hat sich dieser, so will es scheinen, des Alpdrucks entledigt, den ihm die auch in Ecce homo noch virulente Sorge um die »s c h l i m m e Erbschaft von Seiten meines Vaters« (VI: 326) eingab. Auffällig ist dabei, dass sich Nietzsches ausgerechnet solche Ersatzväter herausgreift, die er in Morgenröthe als »Epileptiker« (III: 320) geoutet hatte. Denn dies könnte ein Indiz für die Neigung Nietzsches sein, sich ersatzweise einer Erbdisposition zuzuwenden, die zu einem Krankheitsbild führt, das verbreitet als Gottesstrafe gedeutet wurde, nicht aber so anrüchig ist wie die Syphilis. Gesonderte Beachtung bedarf noch die den Abschnitt Warum ich so weise bin 3 eröffnende Bemerkung: »Ich betrachte es als ein großes Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: die Bauern, vor denen er predigte […] sagten, so müsse wohl ein Engel aussehn. – Und hiermit berühre ich die Frage der Rasse. Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches.« (VI: 267 f.)
Die 1908 von Raoul Richter präsentierte Erstfassung von Ecce homo hatte diesen Abschnitt gar nicht – mit der Folge, dass dreierlei bis hin zur 1969 erfolgten Erstpräsentation des Originals in der Nietzscheforschung gar nicht erst in Betracht gezogen werden konnte: • Das dem zweiten Satz einleitende Demonstrativpronomen »hiermit« erlaubt den Rückschluss, dass Nietzsches erste Äußerung über seinen Vater als Äußerung über dessen Rasse gelesen werden muss. • Dies gesetzt, folgt daraus, dass Nietzsche seinem Vater »schlechtes Blut« attestierte, als Merkmal seiner (deutschen) Rasse – ein Merkmal, das er, Nietzsche, als »polnischer Edelmann pur sang« jedenfalls nicht aufweise. • Gesetzt, die Vokabel »schlechtes Blut« stünde für eine syphilitische Infektion, folgt daraus, dass Nietzsche seinem Vater letzt-
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lich zum Vorwurf macht, seine Infektion ihm weitergeben zu haben. Zusammenfassend geredet: Nietzsche wollte offenbar um sich herum seiner von ihm supponierten polnischen Herkunft wegen eine Schutzmauer bauen, die ihm half, sich als nicht-syphilitisch oder nur durch ›deutsche‹ Blutvergiftung (seitens seines Vaters) syphilitisch geworden zu konzipieren, mehr als dies: die ihm die kühne These erlaubte, er habe als Teil der polnischen als der »vornehmsten Rasse, die es auf Erden gab«, also gleichsam geblütsbedingt und insoweit naturgemäß »gegen Alles, was heute noblesse heißt, ein souveränes Gefühl von Distinktion«, am Beispiel gesprochen: »[I]ch würde dem jungen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein.« (VI: 268)
Man sieht: Diesem wohlfeil – beginnend mit Nietzsches Schwester und kulminierend bei Werner Stegmaier (2011: 72) – als pathologisch ad acta gelegten Satz unterliegt ein streng durchgearbeitetes Kalkül, das auf Nachdenklichkeit jener zielt, die sich über diese Kaiserschelte ebenso empören wie über Nietzsches Syphilis, ohne zu erkennen, dass der polnischen Wurzeln Nietzsches und der ihr zuzurechnenden außergewöhnlichen Vornehmheit wegen erstere folgerichtig ist und das Letztere unwahrscheinlich. Gesonderte Beachtung verdient noch die erneut auf Nietzsches polnische Herkunft als Vornehmheitsressource anspielende Bemerkung: »Es gibt einen einzigen Fall, wo ich meines Gleichen anerkenne – ich bekenne es mit tiefer Dankbarkeit. Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur; und damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, dass Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war … Der Rest ist Schweigen …« (VI: 268)
Wagnerianer (etwa Eger 1988: 219) waren begeistert und lasen das Zitat als kaum verhülltes Geständnis Nietzsches in Sachen des eigentlichen Motivs für seinen Bruch mit Wagner (Eifersucht), übersahen dabei allerdings den schon von Mazzino Montinari (1972: 142) herausgestellten Umstand, dass Nietzsche noch in einer Vorstufe den Satz vorgesehen hatte: »Frau Cosima Wagner ist bei weitem die vornehmste Natur, die es giebt und, im Verhältniß zu mir, habe ich ihre Ehe mit Wagner immer nur als Ehebruch interpretirt … der Fall Tristan.« (XIV: 473)
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Die Variante ist aufschlussreich im Blick auf die Gründe für jene wohlmöglich Paul Bourget (vgl. Sommer 2013: 375) entlehnte Hamlet-Anspielung (»Der Rest ist Schweigen«) in der dann in Druck gegebenen Variante: Schweigen wollte Nietzsche in ihr und in gleichsam letzter Minute vom »Fall Tristan«, also von Wagners Tristan und Isolde als einem Stück, das als ein ödipal strukturiertes Drama gelesen werden darf, in Übersetzung geredet: Schweigen wollte Nietzsche in Ecce homo von dem Umstand, dass Nietzsche in seiner Wagnerära offenbar seinerseits einer ödipalen Verstrickung unterlag, in deren Verlauf er Cosima Wagner der von Marie Baumgartner und Malwida von Meysenbug bis hin zu Louise Ott reichenden Reihenbildung einfügte. (vgl. Niemeyer 1998: 143 ff.) Mit wahrer Liebe also hat dies genau so wenig zu tun wie das angeblich »untrügliche« (Brann 1931: 105) Beweisstück in Sachen von Nietzsches Cosima-Liebe, nämlich Nietzsches Schlusswort aus einem Brief an Cosima vom Januar 1889: »A r i a d n e , i c h l i e b e D i c h ! D i o n y s o s . « (zit. n. Montinari 1977: 302) Diese Formulierung, erstmals von Nietzsche Schwester im Frühjahr 1891 durch Cosima zu Gehör gebracht – und fortan von ihr mit allen Mitteln als nicht gesagt aus der Welt geschafft (vgl. Podach 1963: 115 ff.) –, steht keineswegs für eine unter dem Einfluss des anhebenden Wahns nun jede Hemmung überspringende Liebeserklärung. Viel eher gibt sie einer Erinnerung Ausdruck an in Tribschen gespielte Spielchen und bestätigt der Sache nach die am Tristan-Motiv gewonnene Deutung: Nietzsche begehrte Cosima nicht als Frau, sondern weil sie die Frau von Nietzsches Ersatzvater Wagner war. Dazu muss man wissen, dass diese vieldeutige griechische Sage (vgl. NLex2 [Reschke]: 30 f.) schon in Tribschen Thema war. So soll beispielsweise Cosimas Ex-Mann Hans von Bülow nach der Erinnerung von Nietzsches Schwester (vgl. Förster-Nietzsche (1935: 56 ff.) zu folgender Übersetzung dieses – wie Tristan und Isolde gleichfalls – ödipal strukturierten Dramas angeregt haben: Die Königstochter Ariadne (= Cosima) wird von Theseus (= Wagner), den sie liebt und dem sie aus dem Labyrinth herausgeholfen hatte, auf der Insel Naxos (= Tribschen) zurückgelassen, wo sie dann von dem ihr ursprünglich versprochenen jungen Gott Dionysos (= Nietzsche) gefunden (und gefreit) wird. Deswegen, nochmals: Der Rückzug dieser auf den »Fall Tristan« anspielenden Variante zur Endfassung in Warum ich so weise bin 3 zeugt für das gute Funktionieren von Nietzsches Zensur – die allerdings nach dem Turiner Zusammenbruch versagte. So erklärt sich 287 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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wohl ein Eintrag vom 27. März 1889 ins Jenaer Krankenjournal des Inhalts: »›Meine Frau Cosima hat mich hierher gebracht‹« (zit. n. Volz 1990: 397)
Denn dies kann, die Syphilisdiagnose nun als triftig gesetzt, kaum anderes bedeuten als, erstens: dass Nietzsche seine Syphilis seiner ›Frau Cosima‹ verdankt oder, zweitens: dass er sie sich im Rücken seiner ›Frau Cosima‹ heimlich erworben hat – zwei Varianten, die in ihrer Skurrilität eines verbindet: Beide Varianten sind, posthum, extrem beleidigend für Cosimas Gatten Richard Wagner, und dies, wie man vermuten darf, aus Rache für die ›tödliche Verletzung‹, derer Nietzsche ihn erstmals im Herbst 1877 sowie nochmals im Februar 1883 beschuldigt hatte. Der nächstwichtige Abschnitt zur Syphilisthematik aus EH findet sich im dritten von insgesamt zehn werkinterpretatorischen Abschnitten, genauer geredet: in Menschliches, Allzumenschliches 4. Nietzsche meint hier der »s c h l i m m e n Erbschaft von Seiten meines Vaters« dafür danken zu können, keinen wirklichen Bruch mit Richard Wagner inszenieren zu müssen, vielmehr gab ihm seine Krankheit als Teil dieser Erbschaft »ein Recht zu einer vollkommenen Umkehr aller meine Gewohnheiten« und beschenkte ihn »mit der Nöthigung zum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein … Aber das heisst ja denken!« – eine sehr hübsche Überlegung, zumal im Blick auf die Pointe: »[D]iese ›Rückkehr zu m i r ‹ war eine höchste Form von G e n e s u n g selbst! … Die andre folgte bloss daraus.« (VI: 326) Das Problem dieses Arguments offenbart die Vergangenheitsform (»folgte«), die deutlich macht: Nietzsche hängt hier einem schönen Traum nach – und gesteht es letztlich auch zu durch Sperrung von »schlimm« vor »Erbschaft«, also durch das indirekte Zugeständnis, dass es sich mit dem väterlichen Erbe, deutlicher: der Vererbung bei ihm doch womöglich weit brisanter verhält als gedacht. Worum es sich dabei handeln könnte, wird im Zuge der Analyse der werkinterpretatorischen Erläuterungen Nietzsches zu seinem Erstling (im Folgenden: GT) deutlicher, insbesondere den Abschnitt Die Geburt der Tragödie 4 betreffend. Auffällig an ihnen: Noch 1886 hatte Nietzsche GT mit den Worten kritisiert: »Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an diesem Buch, das ich jetzt noch mehr bedauere […]: […] Dass ich […] vom ›deutschen Wesen‹ zu fabeln begann […]«. (I: 20) Nun jedoch, nur zwei Jahre darauf, hat dieser 288 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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kritische Zugriff völlig ausgespielt, jedenfalls der Fassung letzter Hand zufolge. So hatte Nietzsche einer Vorstufe zufolge (vgl. Sommer 2013: 481) noch beginnen wollen mit: »Gegen die ›Geburt der Tragödie‹ gerecht zu sein, wird mir heute nicht leicht. Ihr schädlicher Einfluß ist mir noch zu frisch im Gedächtniß.« (XIV: 486 f.) Im publizierten Text hingegen findet sich dann nur die fürwahr salomonisch zu nennende Variante: »Um gegen die ›Geburt der Tragödie‹ gerecht zu sein, wird man Einiges vergessen müssen.« (VI: 309) ›Vergessen‹ meint hier: ›Verdrängen‹ – so, wie in Sachen der ›Festspielschrift‹ Richard Wagner in Bayreuth (1876) zu beobachten. Diese hatte Nietzsche noch in zeitnaher Wertung, in Brief Nr. 490 an Erwin Rohde vom 7. Oktober 1875, durchaus im Gegenzug zu Wagners seinerzeitiger Begeisterung, für undruckbar erklärt, denn: »[I]ch bin weiter hinter dem zurück geblieben, was ich von mir fordere.« (5: 119) Nun jedoch, in Die Geburt der Tragödie 4, wird die nämliche Schrift mit der erstaunlichen Bemerkung ausgezeichnet, »der ›Gedanke von Bayreuth‹« habe sich »in Etwas verwandelt, das den Kennern meines Zarathustra kein Räthsel-Begriff sein wird: in jenen g r o s s e n M i t t a g , wo sich die Auserwähltesten zur grössten aller Aufgaben weihen.« (VI: 314) Und gleich zu Beginn dieses Abschnitts urteilt Nietzsche über GT: »Aus dieser Schrift redet eine ungeheure Hoffnung. Zuletzt fehlt mir jeder Grund, die Hoffnung auf eine dionysische Zukunft der Musik zurückzunehmen.«
Eine für einen Sprachartisten wie Nietzsche ungewöhnlich verquaste Formulierung, zumal der Folgesatz hiermit, also mit (dionysischer) Musik oder gar mit GT, so gut wie nichts zu tun hat, insofern Nietzsche, vergleichbar nebulös, davon redet, »die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, o h n e d a r a n z u l e i d e n …« (VI: 313) Wovon redet Nietzsche hier? Und, nicht zu vergessen: Was hat dieser Satz mit dem Folgesatz (»Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts mit Wagner zu thun hat«) zu tun? Weiter: Hat Nietzsche hier womöglich nur suggerieren wollen, er böte einen (weiteren) Kommentar zu GT, um auf diese Weise zu kaschieren, dass er einen neuen, ganz von diesen seinem Erstling absehenden Gedanken bringt? Hat er also Werkeinheitlichkeit postuliert, um seinem tatsächlich ganz neu289 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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en und zugleich ungeheuren Gedanken aus EH, Die Geburt der Tragödie 4 mit mehr Autorität ausstatten zu können, ebenso wie sein Gesamtwerk als eines geschlossenen? Einiges jedenfalls spricht für diese Deutung, namentlich Nietzsches erleichterter Ausruf, dass »Alles Eins ist und Eins will« (8: 545) aus Brief Nr. 1207 an Heinrich Köselitz vom 22. Dezember 1888, ein Ausruf nach (erneuter) Lektüre von GT, will sagen: ein Ausruf, der schon Teil der Inszenierung ist und einen in der Tat neuen Gedanken als alt ausgeben soll. Schauen wir uns, mit dieser Überlegung im Hinterkopf, den Rest von Die Geburt der Tragödie 4 an. Wichtig dabei, dass Nietzsches im Vorwort zu EH meinte versichern zu dürfen: »Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ›gepredigt‹, hier wird nicht G l a u b e n verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden.« (VI: 260)
Dem korrespondiert Nietzsches von Andreas Urs Sommer (2013: 371) präsentierter Stolz aus einer Vorstufe zu EH, sich als ›guten Europäer‹ ausweisen zu dürfen, in der Hoffnung, als »der letzte a n t i p o l i t i s c h e Deutsche« (XIV: 472) in Erinnerung zu bleiben. Freilich: Derlei ließ Nietzsche nicht in Druck gehen – wohl, weil damit auf eklatante Weise dem Eindruck widersprochen wäre, den er in Warum ich ein Schicksal bin mithilfe von Statements wie »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit« zu erwecken suchte, ebenso wie durch Sätze wie »[E]s wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat: Erst von mir an giebt es auf Erden g r o s s e P o l i t i k « (VI: 366), vor allem aber, und ausgehend von der hier wieder in Betracht kommenden Vokabel ›Krieg‹ : weil der Aufschrieb vom ›guten Europäer‹ abgelenkt hätte vom angeblich notwendigen Krieg gemäß seiner Überlegung aus Die Geburt der Tragödie 4, wo es unmittelbar vor dem eben angeführten Aufschrieb »Ich verspreche ein t r a g i s c h e s Zeitalter …« wie folgt heißt: »Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, dass mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung gelingt. Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Z u v i e l v o n L e b e n auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muss.«
Und nahtlos folgt der eben bereits kurz angesprochene Satz: 290 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Ich verspreche ein t r a g i s c h e s Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, o h n e d a r a n z u l e i d e n …« (VI: 313)
Wem bis zu dieser Stelle unklar war, warum Nietzsche EH mit dem Satz eröffnete: »In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, w e r i c h b i n « (VI: 257) – hier, mit dieser Stelle, dürfte es ihm klar sein und er dürfte nun auch ahnen, wieso Nietzsche, wie Heinrich Detering durch subtile Textanalyse zeigen konnte, den Einleitungssatz als »triumphale Überbietungsgeste« anlegt, »die sich gegenüber der christlichen Tradition als übermütig blasphemische Verspottung inszeniert.« (Detering 2010: 131) Nicht zu vergessen: Warum sich Nietzsche in den gleich nachfolgenden Sätzen als »Moral-Ungeheuer« und »Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat«, darlegt, gar als »Jünger des Philosophen Dionysos« (VI: 257 f.). Denn so muss man wohl reden, wenn man sich, wie Nietzsche, spätestens mit Die Geburt der Tragödie 4 als Entscheider in Sachen der Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen erprobt. Wenn man den erweiterten Kontext betrachtet, wird nun auch klar, warum dieses Textstück an dafür ganz ungeeigneter Stelle, nämlich als Teil eines Kommentars zu GT, platziert wurde. Denn tatsächlich war dies offenbar nur eine Art Notaufnahme für eine im Zusammenhang mit unserer Taureck-Kritik bereits beigezogenen Passage 84, die als Vorstufe zu diesem in Rede stehenden Passus aus EH gedeutet werden darf, seit Frühjahr 1884 bereitstand sowie nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch von Nietzsches Schwester für deren 1906 er Kompilation von Der Wille zur Macht (im Folgenden: WM) als Teil von deren § 964 genutzt wurde, mit desaströsen Folgen für Nietzsches Image als eines – wie manche nun wähnten (vgl. etwa Russell 1934: 147; Ackermann 1989: 123; Taureck 2019: 87 ff.) – NSund Euthanasie-nahen Denkers. Und tatsächlich: Nietzsches Schwester hat mit ihrer von ihrem Bruder nicht autorisierten Edition insbesondere dieser kanonischen Fassung von WM dieses Image er»– jene ungeheure E n e r g i e d e r G r ö ß e zu gewinnen, um, durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und n i c h t z u G r u n d e zu gehen an dem Leid, das man s c h a f f t , und dessen Gleichen noch nicht da war!« (XI: 98)
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zeugt, vermutlich gar gezielt erzeugen wollen. Nietzsche aber ist keineswegs schuldlos an diesem Image. Denn ihm ist anzulasten, besonders problematische Passagen des von seiner Schwester für WM genutzten Nachlasses in seine zur Veröffentlichung bestimmten Werke einzuarbeiten, wie eben diesen hier in Rede stehenden Satz aus Die Geburt der Tragödie 4. Wie, freilich, ist dieser Satz genau zu deuten? Was – um hiermit zu beginnen – verbirgt sich hinter dem Ausdruck »mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung«? Ausgehend von Der Antichrist kann die Antwort kaum zweifelhaft sein, deutlicher: von dessen Anhang, dem Gesetz wider das Christenthum, das eine zweitausendjährige Geschichte christlicher Widernatur und Menschenschändung rückgängig machen will – und das Nietzsche nicht von ungefähr in EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 5 erinnert. Nietzsche zitiert hier unter dem erkennbar um Harmlosigkeit bemühten Rubrum »ein Satz aus meinem Moral-Codex gegen das L a s t e r « (VI: 307) den vierten Satz jenes Gesetzes, und zwar wie folgt: »Der Satz heisst: ›die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist das Verbrechen selbst am Leben, – ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.‹« (VI: 307)
In Übersetzung geredet: Jene »Menschenschändung« aus EH, Die Geburt der Tragödie 4, deren Beendigung das »Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen« soll, und jene »Keuschheit« aus dem Gesetz wider das Christenthum, deren Predigt »wider den heiligen Geist des Lebens« geht, steht letztlich für das nämliche Programm. Damit entfällt die Chance, Nietzsche als Bruder im Kampf gegen die zu jener Zeit allfällig registrierte Dekadenz und Entartung – Syphilis ist hier nur ein besonders drastisches Zeichen – gewinnen zu wollen, etwa indem man zusammen mit ihm Sex zu einer ›unreinen‹ Sache erklärt oder, wie Henrik Ibsen, diese, so Nietzsches Spott in Warum ich so gute Bücher schreibe 5, »typische alte Jungfrau« als Ziel hat, »das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu v e r g i f t e n .« (VI: 307) So, mit dieser Tollkühnheit dessen, der genau weiß, welchem Hintersinn die Vokabel ›Gift‹ in diesem Zusammenhang zukommt, redet hier Nietzsche, der zusätzlich noch den Mut – als mutmaßlich Syphiliskranker – findet für den frivolen Witz: 292 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Darf ich anbei die Vermuthung wagen, dass ich die Weiblein k e n n e ? Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift.« (VI: 305)
Nein, dieser Nietzsche, womöglich weniger der ›Tatsache‹ zufolge denn speziell dieser ›Interpretation‹, war auch kein Fall für die ersatzweise in Betracht zu ziehende Syphilis-Prophylaxe, die Keuschheit, wie zumal das zunächst für Götzen-Dämmerung gedachte, aber von Nietzsche zurückgezogene, gleichwohl von seiner Schwester in § 734 WM eingefügte Nachlassnotat vom Oktober 1888 verdeutlicht: »Es giebt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu thun?« Nietzsche, so muss man hier notieren, brach Erwägungen in Richtung Keuschheitserziehung (»etwa mit Hülfe von ParsifalMusik«) oder chemische Kastration (»in die Apotheke schicken«) ab mit einem brüsken: »Die Gesellschaft s o l l in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen; sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten.« (XIII: 599)
Einverstanden: Nietzsche steht an dieser Stelle unter dem Einfluss der Lektüre von Charles Férés Dégénérescence et criminalité (1888) (vgl. Lampl 1986: 102), die sich auf die wohl wüsteten Passagen aus Förster-Nietzsches Edition Der Wille zur Macht (1906) auswirkte, etwa auf § 54 WM, der unverblümt als O-Ton Nietzsches ausweist, was Féré-Exzerpt ist, etwa der Satz: »Man soll das Ve r h ä n g n i ß in Ehren halten: das Verhängiß, das zum Schwachen sagt: geh zu Grunde.« (XIII: 414)
Ähnliches gilt für § 52 WM, der suggeriert, es sei von Nietzsche, was in Wahrheit nur Fréré-Exzerpt ist, nämlich etwa der folgende Satz: »Es giebt k e i n e S o l i d a r i t ä t in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive zerstörerische Elemente giebt, die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden als sie selbst.« (XIII: 433)
Wie gesagt: Beide Sätze sind nicht von Nietzsche, sondern von Féré – korrespondieren aber gleichwohl dem Geist von EH, Die Geburt der Tragödie 4. Insoweit bleibt im Blick auf das von Nietzsche zum Druck bestimmte Werk festzustellen, dass jene ›Partei des Lebens‹ als Vereinigung sexualbejahender, lebens- wie liebesfroher antichristlicher Freigeister begriffen werden darf. Ihr bleibt, Nietzsches Kalkül (»ein 293 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Jahrhundert voraus«) zufolge, bis 1988 nur ein Mittel in Sachen der Bekämpfung der Syphilis als Erbkrankheit, gesetzt, Kondome blieben außer Betracht, ebenso wie Penicillin als kausal ansetzendes Therapeutikum: eben jene im Nachlass vom Oktober 1888 genannten »härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen«, und zwar als Teil der in Die Geburt der Tragödie 4 angesprochenen »härtesten, aber nothwendigsten Kriege« zwecks »Höherzüchtung« und mit dem Ziel der Vermeidung der »schonungslosen Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen« – eine Formulierung, bei der man strikt, um Nietzsches nicht Unrecht zu tun, darauf zu achten hat, dass hier »alles« steht und nicht »aller«, also von Sachen die Rede ist, nicht von Personen. Gleichwohl und trotz dieser allerletzten Erläuterung: Kaum ein Satz Nietzsches aus den von ihm zum Druck bestimmten Werken ließ selbst seine größten Fans so sprachlos zurück wie dieser. Und hier hilft es wenig, derartige Passagen mit Vokabeln wie »Akzentverschiebung« (Schmidt/Spreckelsen 199: 146) – im Vergleich zu GT – zu verharmlosen oder sie durch persönlich gehaltene Leumundszeugnisse zu relativieren, verbunden mit der Erneuerung des altbewährten Pathologisierungsverdachts für den nicht exkulpationstauglichen Rest des Spätwerks, wie 1941 am Beispiel Lutz Gelpke zu beobachten war. Genauso wenig führt es weiter, sich, wie bei Rüdiger Safranski beobachtbar, damit zu trösten, dass Nietzsche, »solange er noch geistig wach war, immer noch seine Vision des ironisierenden Spiels bei der Hand [hatte].« (Safranski 1997: 44) Wenig Trost bietet auch Maria Cristina Fornaris ähnlich angelegtes Argument, »um mit der Idee aufzuräumen, der von Nietzsche erhoffte ›neue Mensch‹ sei das Ergebnis einer Art Eugenik« (Fornari 2014: 326), reiche die Erinnerung an Nietzsches Verwahrung in EH gegen »gelehrtes Hornvieh«, das ihn des Wortes ›Übermensch‹ wegen »des Darwinismus verdächtigt« (VI: 300) habe. Nein, dieses eine Wort reicht leider nicht aus, gehört vielmehr den Bedenken zu, die Andreas Urs Sommer auf dem Schirm hatte bei seinem auf den Satzteil »schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen« (VI: 313) sowie auf Varianten dazu konzentrierten, schon im Prolog aufgerufenen Nachsatz, es könne nicht angehen, derlei »Verlautbarungen als bloß metaphorische Herzensergießungen eines Geisteskriegers ruhigzustellen.« (Sommer 2013: 490) Was ersatzweise Not tut, ist Textexegese der vorgenannten Art, also eine vom profunden Wissen um Nietzsche getragene, dem Text im Ganzen (und nicht nur je erwünschten, zur Not auch 294 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
selbsterzeugten Zitatbrocken) zugewandte Lektüre – also jedenfalls eine andere als jene dreiste Jutta Georgs (2016; 2018) oder die etwas vorsichtigere Heinrich Meiers (2019). 85 (2019). 86 Dann nämlich wird klar, dass Nietzsche sich in EH dafür entscheidet, die Bedeutung seiner früheren Schriften und den roten Faden zwischen ihnen gleichsam für jeden Preis herauszustellen – auch für den Preis, als Apologet des Irrationalen im Zeichen des Dionysischen dazustehen, wie anhand von EH, Die Geburt der Tragödie 4 mit recht schockierendem Ertrag zu studieren. Einen Ertrag, dessen eigentliches Moment man erst dann innewird, wenn man von dem redet, wovon die bisherigen Interpreten von Nietzsches Autobiographie bis hin zu Meier meiner Beobachtung nach beharrlich schwiegen: von Nietzsches Syphilis.
Jutta Georg zitiert – und dies meint das Attribut »dreist« – sowohl in einem Aufsatz (vgl. Georg 2016: 212) als auch in einem nachfolgenden Buch (vgl. Georg 2018: 90), in beiden Fällen unbemerkt vom Lektorat, schlicht falsch, nämlich »Vernichtung aller« (statt »alles«) »Entartenden und Parasitischen« (VI: 313) – und hat es entsprechend leicht, Nietzsche eine Vernichtungsabsicht ad personam zu unterstellen (über welche sie sich dann natürlich leichthin zu empören vermag). Anders, seriöser, zumindest aber vorsichtiger geht Heinrich Meier vor, indem er jene Passage komplett ignoriert und lediglich moniert: »Daß Nietzsche den [in GT begangenen] Fehlgriff der Artisten-Metaphysik, der eng mit Wagner verbunden war, im nachhinein [in EH] im Sinne einer Artisten-Politik aufzulösen trachtet, macht die Sache nicht besser« (Meier 2019: 97) – ein Fazit, das belegt, dass er der von Nietzsche bewusst erzeugten Suggestion, die späte, biopolitische Lösung aus EH habe irgendetwas mit jener kunstmetaphysischen aus GT zu tun, ebenso aufsitzt wie Jutta Georg mit ihrem Fazit, »dass sich der Kreis von der ersten bis zur letzten seiner Schriften schließt.« (Georg 2018: 90) 86 Dieser notiert in seinem – auf EH und AC konzentrierten – Interpretationsversuch zwar, was EH angeht, diverse Brüche im Argument. Aber ausgerechnet die von Andreas Urs Sommer (2013) als entscheidend herausgestellte Passage von der »schonungslosen Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen« (VI: 313) bleibt außerhalb der Betrachtung. Und das Resümee lässt erkennen, dass der auf Paraphrasierung spezialisierte und um die Sekundärliteratur recht unbesorgte Verfasser den Finessen Nietzsches nicht gewachsen ist. Meier nämlich moniert: »Daß Nietzsche den [in GT begangenen] Fehlgriff der Artisten-Metaphysik, der eng mit Wagner verbunden war, im nachhinein [in EH] im Sinne einer Artisten-Politik aufzulösen trachtet, macht die Sache nicht besser« (Meier 2019: 97) – und gibt eben damit zu erkennen, dass er der von Nietzsche bewusst erzeugten Suggestion, die späte, biopolitische Lösung aus EH habe irgendetwas mit jener kunstmetaphysischen aus GT zu tun, aufsitzt. 85
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
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Dionysos-Dithyramben (1888)
Nietzsches Gedichtzyklus Dionysos-Dithyramben (im Folgenden: DD) weist trotz der klaren Überlieferungsgeschichte (Reinschrift) eine verwirrende, von Erich F. Podach (1961: 351 ff.) auf instruktive Weise nacherzählte Editionsgeschichte auf. Als gesichert und unumstritten gilt heutzutage, dass DD insgesamt neun Gedichte enthält. Vier von ihnen (Nr. 3, 6, 8 und 9) entstanden im Sommer 1888 (s. NLex2 [Groddeck] 71 f.) bei erneuter Beschäftigung Nietzsches mit den Aufzeichnungen zu Zarathustra, drei weitere (Nr. 1, 2 und 7) wurden, leicht verändert, dessen vierten Teil entnommen. Für unsere Thematik wichtig ist vor allem Nr. 2: Unter dem Titel Unter Töchtern der Wüste wiederholt Nietzsche hier den gleichnamigen Abschnitt aus Zarathustra IV, mit einer bemerkenswerten Veränderung: Der Schlusssatz lautet nicht mehr »D i e W ü s t e w ä c h s t : w e h D e m , d e r W ü s t e n b i r g t ! « (IV: 385), er wird vielmehr degradiert mittels Verzicht auf Sperrung sowie Ergänzung um drei weitere Zeilen (»Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt. / Der ungeheure Tod blickt glühend braun / und k a u t , – sein Leben ist sein Kaun …«), ehe dann als neuer Schlusssatz folgt: »Ve r g i s s n i c h t , M e n s c h , d e n Wo l l u s t a u s g e l o h t : d u – b i s t d e r S t e i n , d i e W ü s t e , b i s t d e r To d … « (VI: 387)
Dieser Satz Nietzsches, eine Veränderungsnotwendigkeit des vier Jahre zuvor zu Papier Gebrachten anzeigend unmittelbar an der Schwelle zum Übergang des finalen Stadiums von Nietzsches Krankheit zum Tode, also dem Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889, steht gerade in diesem Verweisungsbezug auf Deussens Bordellanekdote sowie Thomas Manns Doktor Faustus (s. IV.2/42) für alles andere als für eine Petitesse und eröffnet einen gewissen Raum für »Spekulationen« (Sommer 2013: 671). Eine davon geht dahin, dass die DD-Variante, deutlicher als die Za-Urvariante, nach einer vagen Ahnung um den Tod als Strafe für Wollust steht und, aus ihr folgernd, für ein reumütiges Votum gegen (außerehelichen) Sex oder gegen Prostitution und Sexualdevianz aller Art. Sie steht jedenfalls nicht – was ja in Nietzsches Situation auch denkbar gewesen wäre – für ein Plädoyer für Keuschheit und Enthaltsamkeit, gar für eine gottgefällig geordnete Heterosexualität allein in Zeugungsabsicht. Die Michel Foucault aus naheliegenden Gründen mit seinem Wort in Bann getan hatte: »Was nicht auf Zeugung gerichtet […] ist, hat 296 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Werke (und Briefe)
weder Heimat noch Gesetz.« (Foucault 1977: 11) Vielmehr geht es Nietzsche, in eine etwas handfestere Form übersetzt, um so etwas wie eine durch das Wissen um die Tücken der ansteckenden Geschlechtskrankheit Syphilis getragene, weltweit erste Forderung nach Safer Sex sowie den Auftrag, endlich qua Forschung zum Wissen zu kommen in Sache der sexuellen Frage, damit Wege begehbar werden für eine offene und von Ängsten freie Sexualität und auf jene dunklen Alternativen in Sachen Zeugung und Ehetauglichkeit verzichtet werden kann, für die der Zarathustra mancherlei Anregung gab. Wer Nietzsches Satz »Vergiss nicht Mensch …« anders läse, etwa als Plädoyer für christlich-bürgerliche Sexualmoral, hätte, so will mir scheinen, nichts von Nietzsche verstanden, nichts von seinem Leben, nichts von seinem Werk, insbesondere nicht das von ihm zu jener Zeit aufgesetzte Gesetz wider das Christenthum: Radikaler als in ihm ist vor Freud nirgends und von keinem für sexuelle Aufklärung und sexuelle Befreiung gestritten worden, und zwar in einem Akt der grundlegenden Rebellion gegen die dem Christentum eigene Leibfeindlichkeit (ein Gesichtspunkt, der bei Freud eher eine Nebenrolle spielte), ohne dass ihn dies davor bewahrt hätte, in Also sprach Zarathustra eine biopolitische Option zu skizzieren. Nächst wichtig an den Dionysos-Dithyramben für unsere Thematik und von Heinrich Detering (2010: 100 ff.) zum Angelpunkt erklärt (vgl. auch Le Rider 1997: 31 f.; Ries 2012: 165 f.; Sommer 2013: 682 f.): Nr. 6 mit dem Titel Die Sonne sinkt, 87 geschrieben im Sommer 1888, zu dem der Nachlass unter der bemerkenswerten Überschrift D a s e h e r n e S c h w e i g e n – eine Vielzahl von durchaus auch grenzüberschreitenden Skizzen 88 bereithält, darunter die folgenden Zeilen (vgl. Thüring 2018): »[W]illst Du fliegen, willst du in Höhen heimisch sein: wirf dein Schwerstes in das Meer! Hier ist das Meer, wirf dich ins Meer! Göttlich ist des Vergessens Kunst!« (XIII: 557)
Dieser Dythyrambus hat in der Rezeptionsgeschichte erhebliche Beachtung gefunden, allerdings unter Konzentration auf Stil und Form bei Vernachlässigung des – hier allein interessierenden – Inhalts. 88 Etwa schlecht getarnte Vergewaltigungsfantasien vom Typ: »Die Wahrheit – / ein Weib, nichts Besseres: arglistig in ihrer Scham: was sie am liebsten möchte, / sie will’s nicht wissen, / sie hält die Finger vor … / Wem giebt sie nach? Der Gewalt allein! – / So braucht Gewalt, / seid hart, ihr Weisesten! / ihr müßt sie zwingen« (XIII: 557) 87
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II · Nietzsches Syphilis und Verwandte[s] in seinem Schrifttum
Im dann zur Veröffentlichung bestimmten Werk heißt es, kaum weniger dramatisch: »Rings nur Welle und Spiel. Was je schwer war, sank in blaue Vergessenheit, müssig steht nun mein Kahn. Sturm und Fahrt – wie verlernt er das! Wunsch und Hoffen ertrank, glatt liegt Seele und Meer.« (VI: 396)
»Was je schwer war, sank in blaue Vergessenheit« könnte meinen: dass es dem, der hier gemeint ist, zwar gelang, sein ›Schwerstes‹ in das Meer zu werfen – aber mit der unerwünschten Nebenfolge der infolge der Vielzahl des ins Meer Geworfenen nun gänzlich stockenden Fahrt. Bemerkenswert ist auch die vorletzte Zeile, insofern das in ihr dominierende Vokabular (»Wunsch und Hoffen ertrank«) von Zarathustra IV her bekannt ist und damit auch vom zweiten der Dionysos-Dithyramben mit dem Titel Unter Töchtern der Wüste, insonderheit von den Zeilen: »ohne Zukunft, ohne Erinnerungen, so sitze ich hier.« (VI: 385). Jene Zeilen können, wie im Zarathustra-Kommentar gezeigt gezeigt, so gelesen werden, als beklage Nietzsche hier die Folgen des Umstandes, in einer schwachen Stunde vergessen zu haben, dass der Liebende in Zeiten der Syphilis immer den Tod als unerwünschte Nebenfolge mitzubedenken hat. »Göttlich ist des Vergessens Kunst!« ist, so betrachtet, eine ambivalente Botschaft, gültig für ein Stadium, jenseits dessen ohnehin nichts mehr zu ändern ist und klar ist, dass nur noch eine Option bleibt: »Hier ist das Meer, wirf Dich ins Meer!« Und wenn man nun bedenkt, mit welchem Enthusiasmus Nietzsche auf seinem Höhepunkt, unmittelbar vor den düsteren Folgen der Lou-Affäre, den Slogan »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« ausgegeben hatte, wird mit dem Gedicht Die Sonne sinkt die ganze Tragik Nietzsches erkennbar, ebenso wie mit den folgenden Zeilen aus dem 4., gleichfalls im Sommer 1888 entstandenen Gedicht namens Zwischen Raubvögeln: »Ein Kranker nun, der an Schlangengift krank ist […] Und jüngst noch so stolz, auf allen Stelzen deines Stolzes! Jüngst noch der Einsiedler ohne Gott, der Zweisiedler mit dem Teufel, der scharlachne Prinz jedes Übermuths!« (VI: 391 f.)
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Nachwort
Bemerkenswert, in diesem Zusammenhang: Charles Baudelaires in Nietzsches Handexemplar mit einigen Anstreichungen (vgl. Pestalozzi 1978: 168 f.) versehenes Abschlussgedicht aus seiner Gedichtsammlung Les Fleurs du Mal (1857) mit dem Titel Le Voyage und dem Aufruf: »Laß uns ausfahren! Ob Meer und Himmel auch schwarz wie Tinte sind« (SW 3: 339) erinnert von Form und Inhalt an Die Sonne sinkt (vgl. Pestalozzi 1978: 186; Lauster 1995: 185; Krause 2019: 270) – wenig überraschend, wie wir nun unter Verweis auf Baudelaire (s. III/7) vermuten würden, vor dem Hintergrund des beiden gemeinsamen und von keinem der zuletzt genannten Interpreten auch nur ins Kalkül gezogenen Problems: der Syphilis.
Nachwort Die Vorfassung dieses Buches sah an dieser Stelle noch ein drittes Kapitel zu Förster-Nietzsches Kompilation Der Wille zur Macht (1906) vor – ein Buch, das die Leser das Fürchten lehren sollte vor Nietzsche gemäß des Vorredenentwurfs vom Frühjahr 1888 und der in ihr vorfindbaren Ankündigung: »[W]ir haben Schritt für Schritt das Recht auf alles Verbotene zurückgewonnen.« (XIII: 454)
Wer mag, kann diesen Satz als Vorwegnahme des durch Thilo Sarrazin bekannt gewordenen rechtspopulistischen Slogans »Man wird ja wohl nochmal sagen dürfen …« lesen – und dürfte dann auch durch die diesem Credo korrespondierenden Partien von Förster-Nietzsches 1906 er Kompilation beglückt werden und sich, folgerichtig, in Sarrazin nahestehenden Parteien, etwa der AfD, heimisch fühlen. Allen anderen dürfte es ein Trost sein, dass ich mich trotz der für die Syphilisthematik recht erhellenden Passagen dieses (Mach-) Werks dagegen entschieden habe, auf diese genauer einzugehen. Wichtig war dabei der Umstand, dass thematisch einschlägige Nachlasspassagen im Vorhergehenden ohnehin beigezogen wurden, wenn dies zur Interpretation des von Nietzsche zum Druck Bestimmten erforderlich war, allerdings unter Verzicht auf die neue, IX. Abteilung der Kritischen Ausgabe, die den Nachlass in differenzierter Transkription bringt. Der Vorteil dieser Edition sei nicht bestritten (vgl. NLex2 [von Rahden]: 257 f.), wiegt aber den Nachteil ihrer geringen Verbreitung nicht auf. Ausschlaggebend aber dafür, dem Nachlass 299 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
nicht übermäßige Bedeutung zuzuweisen, war der Respekt gegenüber Nietzsche und die Erinnerung des frühen Freud-Freundes Josef Paneth (1857–1890) (vgl. hierzu Gasser 1997: 30 ff.). Paneth hatte Nietzsche 1883 in Nizza kennengelernt und seiner Braut aus Gesprächen berichtet, Nietzsche »würde alle seine Freunde verpflichten, nichts von ihm nach seinem Tode herauszugeben als was er selbst für die Production bestimmt und fertiggestellt hätte«, wolle »nur Ausgearbeitetes und Ganzes vor das Volk […] bringen« und nicht »im Hauskleid erscheinen.« (zit. n. Krummel 1988: 488 f.) Dass Nietzsche Schwester bei ihrem Nachdruck der Paneth-Erinnerungen ausgerechnet diesen Passus strich (vgl. Förster-Nietzsche 1904: 481– 493) und ihr Verteidiger Domenico Losurdo (2009: 264 ff.) diese Streichung mit keiner Zeile erwähnte, ist fast schon ein Beleg für die Triftigkeit von Paneths Erinnerungen, eingeschränkter: für das Störende an ihnen. Denn wer dem Nachlass das Wort reden will, weil er ihn (so Nietzsches Schwester) für bedeutend hält oder (so Losurdo) für empörend, wird kein Interesse daran, Nietzsches diesbezügliches Veröffentlichungsverbot publik zu machen. In der Sache selbst ist aber kein Streit möglich: Wer über den Nachlass redet, spricht über seinen Nietzsche, nicht aber über Nietzsches. Folgerichtig leiden alle Nachlasskompilationen nach Art der Schwester unter Einschluss von Alfred Baeumlers Die Unschuld des Werdens (1931) über Karl Schlechtas Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre (1956) bis hin zu Heinz Friedrichs Weisheit für Übermorgen (1994) unter dem Makel, nicht von Nietzsche autorisiert zu sein. Dies gilt auch für zwei der beliebtesten Schriften Nietzsches, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) sowie Ueber die Zuzunft unserer Bildungsanstalten (1872). Beide Texte wurden und werden immer wieder – der erstgenannte zuletzt in Enrico Müllers Nietzsche-Lexikon (2020) – so diskutiert, als habe sie Nietzsche zum Druck freigeben und als gelte es nicht, allererst über die Editionsgeschichte zu berichten. Dabei gilt, beispielsweise für die Bildungsvorträge: Förster-Nietzsche veröffentlichte sie schon 1893 ungeachtet von Nietzsches Veröffentlichungsverzicht, weil sie das damalige, libertäre Nietzschebild in die von ihr erwünschte Richtung zu drehen beabsichtigte. »Zurück zu Nietzsches Werken!« lautet entsprechend eine der wichtigsten Losungen zumindest der neueren Nietzscheforschung, der zu widersprechen es keinerlei Grund gibt, zumal die von Thomas Brobjer vor einigen Jahren zum Vortrag gebrachten Erwägungen, den Zweifel betreffend, ob Nietzsche tatsäch300 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
lich Der Wille zur Macht nicht publizieren wollte, einer näheren Prüfung nicht standhalten, wie andernorts ausführlich gezeigt wurde. (vgl. Niemeyer 2013: 88 ff.) Um in dieser Frage ein wenig ins Detail zu gehen: Förster-Nietzsche unterschlug nicht nur den in dieser Frage einschlägigen Passus in Paneths Erinnerungen, sondern auch Nietzsches Brief Nr. 1159 an Paul Deussen vom 26. November (1888) mit der Nachricht, seine »U m w e r t h u n g a l l e r We r t h e , mit dem Haupttitel ›der Antichrist‹« sei »fertig« (8: 492), diesmal, wie gezeigt, unter Beihilfe von Heinrich Köselitz. Der übrigens durch Nietzsches Brief Nr. 1000 vom 26. Februar 1888 ganz genau über Nietzsches Intention informiert war. Jedenfalls ließ Nietzsche Köselitz in Reaktion auf dessen Freude über Nietzsches Mitteilung vom 13. Februar 1888, er habe »die erste Niederschrift [s]eines ›Versuchs einer Umwerthung‹ fertig« (8: 252), wissen: »Auch dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich wieder ›Litteratur‹ gemacht hätte: diese Niederschrift war f ü r m i c h ; ich will alle Winter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift f ü r m i c h machen – der Gedanke an Publicität ist eigentlich a u s g e s c h l o s s e n . « (8: 264)
Vor dem Hintergrund dieser eindeutig gegen eine Publikation von Der Wille zur Macht gerichteten Willensbekundungen Nietzsches überrascht, bei dem arrivierten Nietzscheforscher Rüdiger SchmidtGrépaly, und dies an durchaus einschlägigem Ort, nämlich in dem von ihm herausgegeben Band Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften. Nietzsches Werk im Spiegel seiner Briefe (2018) ad Elisabeth Förster-Nietzsche lesen zu müssen: »Sie ist die Einzige, die von Nietzsche mitgeteilt bekommt, dass er nach dem Zarathustra an seinem ›Hauptwerk‹ arbeitet, dem Willen zur Macht. Sie konnte sich in Weimar, in dem von ihr gegründeten Nietzsche-Archiv, durchaus als diejenige verstehen, dieses Hauptwerk zu rekonstruieren.« (Schmidt-Grépály 2018: 234 f.)
Einspruch in beiden Hinsichten, in ersterer unter Berufung auf jenen Brief Nr. 1011 vom 31. März 1888, in Letzterer unter Berufung auf den Umstand, dass Förster-Nietzsche sich ihren Rang als Editorin mithilfe von Briefen Nietzsches bestätigen ließ, die sie gefälscht hatte 89, so dass als korrekte Alternative zum eben dargebotenen Satz sich die Formulierung anbietet: 89
Darunter auch den folgenden Satzteil aus der eben beigezogenen, von Russell (via
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Nachwort
»Sie ist w e n n s c h o n n i c h t d i e E i n i g e , s o j e d e n f a l l s e i n e d e r w e n i g e n , die von Nietzsche, in ihrem Fall am 31. März 1888, mitgeteilt bekommt, dass er nach dem Zarathustra n i c h t m e h r an seinem ›Hauptwerk‹ arbeitet, dem Willen zur Macht. Sie konnte sich in Weimar, in dem von ihr gegründeten Nietzsche-Archiv, nur deswegen als diejenige verstehen, dieses Hauptwerk zu rekonstruieren, weil sie jenen Brief unterschlag und andere Briefe mit wertschätzenden Äußerungen ihres Bruders bezogen auf ihre Geeignetheit als Nachlassverwalterin frei erfand.«
Eine zusätzliche Erläuterung bedarf noch der Umstand, warum Nietzsche im Februar 1888 so abfällig über sein Hauptwerk-Projekt Der Wille zur Macht urteilte, zu dem er immerhin über Jahre hinweg Aufzeichnungen gesammelt hat. Wichtig scheint mir hier Nachlassnotat 9[188] vom Herbst 1887 mit der vielzitierten Bemerkung: »Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört Denen, welchen Denken Ve r g n ü g e n macht, nichts weiter … Daß es deutsch geschrieben ist, ist zum Mindesten unzeitgemäß: ich wünschte es französisch geschrieben zu haben, damit es nicht als Befürwortung irgend welcher reichsdeutschen Aspirationen erscheint.«
Und dann, nach einer ganz kurzen Pause, folgt erneut eine Variante zum erstgenannten Einwand: »Bücher zum Denken, – sie gehören denen, welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter … Die Deutschen von Heute sind keine Denker mehr: ihnen macht etwas Anderes Vergnügen und Bedenkheni. Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen schhweir verständlich.« (XII: 450)
Dies war eindeutig – und ist kaum anders lesbar, als dass Nietzsche schließlich in Anbetracht dieser vielen möglichen Missverständnisse auf die Publikation verzichtete, sehr zum Ärger seiner Schwester, die bei ihrer Kompilation von Der Wille zur Macht exakt dieses Textstück unterschlug bzw. durch eine Variante ersetzte, für deren Erstellung sie einen von ihr gefälschten Brief Nietzsches (an sie) nutzte des Inhalts, Kaiser Wilhelm II. sei der Wille zur Macht als Prinzip »schon verständlich.« (zit. n. Förster-Nietzsche 1904: 890) Diesem Problemkomplex der von Förster-Nietzsches unterschlagenen Textstücke gehört auch das Nachlassnotat 10[175] vom Herbst 1887 zu. Nietzsche schreibt hier:
Förster-Nietzsche) irrtümlich Nietzsche zugeschriebenen, auf den 31. März 1888 datierten Brieffälschung: »Du verstehst mehr von mir als die Andern, weil Du dieselbe Herkunft im Leibe hast.« (Gbr. V/II: 770)
302 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
»Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem R e c h t auf ›Philosophie‹. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Muth zu sich selbst zu erhalten.« (XII: 559 f.)
Dieser Zweifel hat Nietzsche in der Folge nicht wieder losgelassen, wie seine vorletzten Versuche zur Gliederung seines Buches Der Wille zur Macht offenbaren. So lesen wir nun, im von seiner Schwester ignorierten Nachlassnotat 14[140] von Frühjahr 1888: »Die N i e d e r g a n g s - I n s t i n k t e sind Herr über die A u f g a n g s - I n s t i n k t e geworden … / der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben … / – ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren?« (XIII: 323)
Wenige Zeilen später folgt: »[G]esetzt, die Starken wären Herren, in Allem und auch in den Werthschätzungen geworden: ziehen wir die Consequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden? Eine S e l b s t v e r a c h t u n g d e r S c h w a c h e n wäre die Folge; sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen … Und wäre dies vielleicht w ü n s c h e n s w e r t h ? … – und möchten wir eigentlich eine Welt, wo die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, B i e g s a m k e i t fehlte? …« (XIII: 324)
Mit Fragen wie diesen wird letztlich Nietzsches jahrelanges Gedanken- und Publikationsprojekt Der Wille zur Macht wegen der Aggressivität und Kompromisslosigkeit desselben zur Makulatur erklärt, gleichsam qua Vollzug der selbstkritischen Einsicht, dass es in der Summe Zeugnis gäbe für einen Autor, der Nietzsche nun, 1888, nicht mehr sein will: Ein Autor, dessen »Zorn« – um die Vokabeln aus den hier als Motto gewählten Zitat ins Spiel zu bringen – wahrlich »unfassbar« ist und dessen »Charakter« Rätsel aufgibt, von »Geschmack« wie »Gesundheit« ganz zu schweigen. Es ehrt Nietzsche, dies, zumindest vom Ansatz her, erkannt zu haben und, wohl als Folge dieser Einsicht, in gleichsam letzter Minute von der Publikation dieses Werkes abgesehen zu haben. Davon bleibt unbetroffen, dass Nietzsche, wie oben am Beispiel von Ecce homo gesehen, einzelne dieser Nachlassnotate, wenn auch in leicht veränderter Form, für zum Druck bestimmte Werke benutzt hat. Die Gründe hierfür meinen wir in Nietzsches Krankheit sehen zu dürfen, um nicht missverstanden zu werden: nicht in einer Krankheit, die ihn kognitiv beeinträchtigt hätte, so dass er nicht mehr wusste, was er tat; sondern in 303 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
einer Krankheit, die ihn dermaßen ängstigte, dass er am Ende oder zu seinem sich ihm vermutlich deutlich abzeichnenden Ende hin kaum ein anderes Thema als dieses und die Frage kannte, wie diese, als Krankheit auch anderer sowie als übertragbare Krankheit, zu verhindern sei. So weit, so unschön, das Problem ist nur, eingedenk älterer, gegenläufiger Nachlassnotate: Was veranlasste Nietzsche überhaupt, dieses Werk in Angriff zu nehmen? Denn unverkennbar ist ja – die auffällig lange Produktionsspanne von gut fünf Jahren ist hier schon Indiz genug –, dass Nietzsche anfangs die Sache sehr ernst nahm, wie exemplarisch Nachlassnotat 34[176] von April-Juni 1885 zeigt: Unter der Maßgabe, »Moralen und Religionen« seien »das H a u p t -Mittel, mit dem man aus dem Menschen schaffen kann, was Einem beliebt«, redet Nietzsche einer »Philosophie des Dionysos« das Wort, »welche im Schaffen Umgestalten des Menschen wie der Dinge den höchsten Genuß des Daseins erkennt« und angesichts derer ihm nichts »wesentlicher zu studiren« sei »als die G e s e t z e d e r Z ü c h t u n g , um nicht die größte Menge von Kraft wieder zu verlieren, durch unzweckmäßige Verbindungen und Lebensweisen.« (XI: 480) »Unzweckmäßige Verbindungen und Lebensweisen« – und dies von einem Autor, der noch drei Jahre zuvor seinem Imperativ »gefährlich leben!« das Wort geredet hatte, mit erstaunlicher Offenheit für Libertins vom Typ Lord Byron? Dies klingt so lautstark nach Resignation (eines Syphilitikers?), als dass man es überhören könnte. Ganz diesem Ton folgend, deklariert Nietzsche in Nachlassnotat 25[383] von Frühjahr 1884: »Ich erlaube nur den Menschen, die wohlgerathen sind, über das Leben zu philosophiren. Aber es giebt mißrathene Menschen und Völker: denen muß man das Maul stopfen. Man muß ein Ende machen mit dem Christenthum – es ist die größte Lästerung auf Erde und Erdenleben, die es bisher gegeben hat – man muß mißrathenen Menschen und Völkern das Maul stopfen.« (XI: 112)
Sicherlich: Wir können unschwer von hier aus eine Brücke schlagen zum wenige Seiten zuvor dargebotenen Nachlassnotat 25[335] von Frühjahr 1884, von Nietzsches Schwester genutzt für § 964 WM und von Nietzsche selbst vier Jahre später weitergeführt in AC 2, in Gestalt der Forderung, »die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehen« (VI: 170), ebenso in EH, Geburt der Tragödie 4, in Gestalt der dort geführten Rede von der »schonungslosen Vernich304 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
tung alles Entartenden und Parasitischen.« (VI: 313) Insbesondere die letztgenannte Überlegung schien uns als Teil eines auf das Jahr 1988 (»ein Jahrhundert voraus«) konzentrierten Ausblicks auf das Ende eines hiermit beginnenden »Attentats auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung« (VI: 313) der Syphilisthematik Nietzsches einfügbar. Gilt dies aber auch für den Beginn dieser Überlegungen im Frühjahr 1884? Nicht zu vergessen: Wie erklärt sich die damalige Aggressivität? Eine Antwort könnte lauten: Nietzsche kopiert hier jene Härte, für die er im Juli 1883, im Zuge seiner Arbeit an Zarathustra II, eine erste Probe gegeben hatte. Zu denken ist etwa an den Abschnitt Vom Gesindel, wo mit der Phantasie gespielt wird, den »Fuss dem Gesindel in den Rachen [zu] setzen und also seinen Schlund [zu] stopfen.« (IV: 124) So betrachtet bleibt der Fakt selbst: Im Nachlass der Jahres 1884/ 85 ist ein Bruch zu konstatieren, der Spuren zeigt bis ins publizierte Werk hinein. Und: Vieles, was den Leser hier so irritiert, erklärt sich offenbar biographisch und ist im Nachgang zur großen Liebesenttäuschung vom Sommer 1882 zu sehen, die ihrerseits Nietzsches Nachdenken über den aktuellen Stand seiner Syphilis freigesetzt haben dürfte, ebenso wie, beispielsweise, die Lektüre von Francis Galton. Die Folgen bleiben nicht aus: Gut dreißig Paragraphen von FörsterNietzsches WM – die §§ 57, 108, 132, 133, 364, 595, 619, 750, 860, 861, 862, 870, 872, 874, 916, 940, 942, 943, 955, 957, 958, 964, 980, 995, 999, 1001, 1053, 1056, 1060, 1067 – verraten Spuren jener Lektüre oder entstammen jenen 1884 er Nachlasspassagen. Sie entfalteten unter den von Nietzsches Schwester zu verantwortenden Überschriften, insonderheit unter dem Titel Viertes Buch. Zucht und Züchtung (ab §§ 854), eine zumal im ›Dritten Reich‹ verheerende Wirkung. Dabei interessierte Förster-Nietzsche nicht, dass Nietzsche bei seiner letzten Disposition für Der Wille zur Macht von Ende August 1888 unter den Obertitel Psychologen-Kurzweil den Titel Der grosse Mittag für das Vierte Buch vorgesehen hatte (XII: 246) und das vorübergehend von ihm erwogen Rubrum Zucht und Züchtung nun gar nicht mehr vorkam. Selbst wenn man dies alles zugunsten Nietzsche und zuungunsten seiner Schwester (und ihrer willigen Helfer) in Rechnung stellen würde – eine Frage harrt gleichwohl nach wie vor einer Antwort: Gab es nicht doch jenseits seiner im Vorhergehenden ausreichend dargelegten Verbitterung über Mutter wie Schwester Anlass zu derlei Aggressivität? Eine Spur weist im Zusammenhang dieser Frage Briefentwurf 305 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
Nr. 1067 an Franz Overbeck vom 20. Juli 1888 zum Misserfolg des Zarathustra. Nietzsche schreibt: »Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagen j e n s e i t s aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zu haben – es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will – das ist die Vereinsamung – ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mir Niemand ein Wort sagen kann, das mich noch e r r e i c h t … Die Moral ist: man kann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man b ü ß t es hinterdrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbt den Geschmack, es verdirbt die Gesundheit.« (8: 363)
Wortwahl und -folge sind verräterisch eingedenk der acht Jahre älteren Formulierung aus L’Ombra di Venezia: »Der Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Gesundheit.« (IX: 47)
Damit liegt die Folgerung auf der Hand: Nietzsche klärt einen seiner letzten ihm noch verbliebenen Freunde – ob ihn dieser nur als Entwurf erhaltene Brief erreichte, ist eher unwahrscheinlich, – in kaum verhüllter Form darüber auf, dass sein neuerlicher Fanatismus Folge der durch Missachtung des Zarathustra eingetretenen ›Verwundung‹ und ›Vereinsamung‹ ist. Ein Hilfeschrei ist damit verbunden, wie das Wort ›Buße‹ deutlich macht. Dass man diesen Brief an Overbeck nicht isoliert sehen darf, zeigt Nietzsches wie ein Hilfeschrei wirkender, schon im Prolog angeführter Ausruf aus Briefentwurf Nr. 987 vom 10. Februar 1888 über einen wunderlichen Rezensenten (Carl Spitteler): »Ich habe Accente des Zorns, des Hasses darin [in meinen von Spitteler besprochen ›Meisterwerken‹ der letzten zehn Jahre seit Menschliches, Allzumenschliches; d. Verf.], die mir unfaßbar sind.« (8: 245)
Erneut also ist hier ein Entfremdungsgefühl Nietzsches zu konstatieren, deutlicher geredet: Nietzsche ist durchaus nicht glücklich mit der zumindest für ihn nicht in Abrede zu stellenden Wiederkehr des ihm aus seiner Zeit der Wagnerverehrung wohl vertrauten Fanatismus in anderer Gestalt, und man kann hier nun getrost ergänzen: in Gestalt des Publikationsprojekts Der Wille zur Macht, das Nietzsche denn letztlich auch, in der Logik dieser beiden Briefe bzw. Briefentwürfe vom Februar bzw. Juli 1888 folgerichtig, ad acta legte; als, wie man noch ergänzen darf: charakterlos, geschmacklos und gesundheits306 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nachwort
gefährdend, deutlicher: als einen in selbsttherapeutischer Absicht verfassten Kanon des Zorns ob des Wissens, ihm, Nietzsche, dem Syphilitiker, sei zeitnahe das Schicksal eines hilflos Vor-Sich-Hin-Sabbelnden gewiss. Was immer aber Nietzsche sich von seinem Buch Der Wille zur Macht versprochen haben mag, also etwa, über den eben genannten Aspekt hinausgehend: Wiedergutmachung, Rache, beschleunigte Wirkung, Irritation, Empörung, Neugier, Vergebung oder, auch nicht unwahrscheinlich: Test in Sachen der Frage, ob ihm trotz permanenter Grenzverletzung Sympathie und Zuwendung erhalten bleibt – es könnte uns heutzutage an sich egal sein, weil es bei eben jener Phantasie blieb, jedenfalls was Nietzsche angeht und wäre da nicht seine Schwester gewesen, die, offenbar aus Geltungssucht sowie rechtsideologischer Verblendung, der Meinung war, sie müsse für jenes ›böse Buch‹ Sorge tragen. Das Fazit: Nur, wie im Prolog angedeutet, die Berücksichtigung und genaueste Erkundung der Art und Weise, in welcher die Syphilisthematik und verwandte Themen, wie namentlich die Prostitution, in Nietzsches Schrifttum erörtert werden, kann dabei helfen, die Debatte um die Nazifizierung Nietzsches von Kurzschlüssen zu befreien und vom Kopf auf die Füße zu stellen, also endgültig zu klären. Das Vorhergehende sollte exemplarisch zeigen, wie dies geht, aufbauend auf einer in aller Gründlichkeit betriebenen Exegese der wichtigsten Werke und Briefe Nietzsches unter der ›Leitfrage Syphilis‹. Das Ergebnis: Nietzsche hat in seinen ›Frühen Schriften‹, vor allem aber dann ab Menschliches, Allzumenschliches, alle nur denkbaren Facetten der Syphilisfrage durchdekliniert, bis ins Psychologische hinein und nach Maßgabe seiner zunehmend Gestalt gewinnenden Einsicht, dass auch dieses Problem der Liebes- und Leibfeindlichkeit des Christentums in Rechnung zu stellen ist und insoweit einer auf Leib- und Sexualitätszugewandtheit aufbauenden anti-christlichen Antwort harrt. Im Rücken dessen erhebt sich langsam, als Reflex auch auf persönliche Liebestragödien wie jener mit Lou von Salomé und im Nachlass ab 1884/85 recht ungehemmt und gleichsam als Testballon für spektakuläre Einzelthesen vom Typ Moral für Ärzte (aus GD), eine stärker gesundheitspolitisch, deutlicher: biopolitisch orientierte Programmatik, die eine gewisse Nähe aufweist zu späteren rassenhygienischen Maßnahmen. Ganz am Ende, zu besichtigen etwa im Gedichtzyklus DD, bleibt kaum mehr als die tiefe Verzweiflung dessen, der ahnt, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat.
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Kapitel III Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen, darunter auch einige Päpste, als Impuls für die Luther- wie Christentumskritik dieses Antichristen »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.« (Der Antichrist = Nietzsche, 30. September 1888)
Ein denkbarer Einstieg in dieses, wie schon das Motto zeigt, alles andere als harmlose, im Vergleich zum vorhergehenden kaum weniger komplexe Kapitel könnte anheben mit dem gleichsam um Entspannung bemühten Satz: »Die Syphilis um 1500« war allererst eine Matrosenkrankheit – und zu eben jener Zeit auch eine mutmaßliche des in Genua geborenen Seefahrers und Amerikaentdeckers Christoph Kolumbus (1451–1506) respektive seiner Mannschaft. Sie war es, jedenfalls nach Meinung der von Iwan Bloch (1901) angeführten ›Kolumbianer‹ unter den Syphilishistorikern (vgl. Bäumler 1976: 11 f.), die diese Geschlechtskrankheit damals in Spanien einschleppte, angeblich von Kuba kommend. (ebd.: 15) Und was Kolumbus angeht: Dieser Genueser war es, der Nietzsche um 1882 die Idee eingab, sich als »Nachahmer des Columbus« (6: 248) auszulegen, wie auch seine Parole »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!« (III: 530) aus Die fröhliche Wissenschaft (1882) belegt. (vgl. Gasser 1995; Large 1995; Hödl 2003: 307 ff.) Sechs Jahre später war alles vorbei: Nietzsche musste um 1888 90 von jenem Philosophen-Schiff sukzessive wieder abheuern. Verantwortlich dafür, der im vorliegenden Buch verfochtenen Lesart zufolge: seine Syphilis – jene Geschlechtskrankheit also, der offenbar auch sein 1882er Idol Kolumbus erlag. So jedenfalls deutete es Deborah Hayden. Ihr zufolge gibt es im Blick auf die Langzeitfolgen der Entdeckung der Neuen Welt einigen Grund für das böse Attribut vom »most massive genocide in human history«; aber es gibt eben auch, Das Gedicht Die Sonne sinkt aus den Dionysos-Dithyramben darf, wie in Kap. II zu zeigen versucht wurde, in diesem Sinne gedeutet werden.
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III · Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen
was Kolumbus als Person angeht, Anlass für ein Attribut mit Fragezeichen wie das folgende: »The First European Syphilitic?« (Hayden 2013: 3) Indes: Die Frage, ob Kolumbus Syphilitiker war oder nicht, ist im Rahmen dieser Arbeit eine gänzlich unwichtige, so dass die beachtlichen Bemühungen Haydens, das Frage- in ein Ausrufezeichen zu verwandeln, hier auf sich beruhen können, zusammen mit diesem Einstieg. Er sollte uns nur den entscheidenden Ursprungsmythos der Syphilis vor Augen führen im Verein mit der diesbezüglich gänzlichen Arglosigkeit Nietzsches, dem eine auf seine Geschlechtskrankheit bezügliche Nebenbedeutung des Eigenattributs »Nachahmer des Columbus« so fern lag wie nur irgendetwas – und dies, wo es die Syphilis war, die ihn sechs Jahre später sein Schiff zu verlassen hieß. Die insoweit viel wichtigere Frage bleibt mithin: Was war es eigentlich genau, was Nietzsche in jenen sechs Jahren seiner Conquistadorentätigkeit entdeckte? Auf welchen Namen lautete sein Amerika? Und warum – wir ahnen, warum, wollen es aber als Herausforderung gesondert herausstellen – eskalierte derlei Programmatik am 30. September 1888 dermaßen, wie im Motto zu besichtigen?
1. Nietzsches Amerika – eine »andere Welt«, die der Psychologie bedarf Der im Folgenden vorgelegte Versuch, die Sache Nietzsches auf den berühmten Punkt zu bringen, in Gestalt eines auf den Erzählzweck dieses Buches abgestimmten Abrisses seiner (wie ich’s mal nennen will) »antichristlichen Philosophie«, die auf ein Finale zusteuerte, den berühmten 30. September 1888 nämlich, muss notwendig auch diese Eskalation erklären können, wie es exemplarisch im hier als Motto gewählten Zitat zutage tritt. Insoweit liegt es nahe, von diesem (schrecklichen) Ende auf den Anfang zu schauen, also mit Nietzsches Annahme aus FW 289 zu beginnen, es gäbe für die Philosophen noch eine »andere Welt« (III: 530) zu entdecken. Wie man diese Vokabel im Vergleich zu anderen und zumal im Vergleich zu einem hierauf bezüglichen Passus aus Götzen-Dämmerung setzen kann, wurde andernorts ausführlich diskutiert (vgl. Niemeyer 2019: 142 ff.), so dass ich mich auf den Hauptertrag beschränken kann unter Zentralsetzung des Einstiegs in FW 289, der wie folgt lautet: 310 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Amerika – eine »andere Welt«, die der Psychologie bedarf
»Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische GesammtRechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt […], so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neuen Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (III: 529)
Nietzsches Amerika wäre, so betrachtet, eine mit einem neuen sinngebenden philosophischen Grundgedankengang ausgestattete »andere Welt«, eine Welt mit einer Daseinsrechtfertigung insbesondere für den ›Bösen‹, den ›Unglücklichen‹, den ›Ausnahme-Menschen‹. Eine Welt also, in der sich ein Patient wie Nietzsche vergleichbar wohlgefühlt hätte wie etwa sein Gegenpart, also, um meine Profession nicht ganz aus den Augen zu verlieren, ein Sozialpädagoge. Zumal er sich in ihr mit einer Vielzahl von Aufgaben konfrontiert sähe. War es dieses Vermächtnis also, das uns Nietzsche treuhänderisch übergeben wollte? Eigentlich doch wohl nicht, und um dies zu erkennen, muss man zusätzlich beachten, welche Schätze ›Kolumbus‹ Nietzsche ansonsten von seinen Exkursionen in das »fast noch neue Reiche gefährlicher Erkenntnisse« Heim brachte: Es handelt sich mehrheitlich, wie es vier Jahre später, in JGB 23, weiter heißt, um psychologische, gleichsam in Korrektur der bisherigen Psychologie, die »bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben [ist und] sich nicht in die Tiefe gewagt [hat].« Deswegen lautet der Ruf aus dem Ausguck auch: »[N]un! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest ans Steuer! wir fahren geradewegs über die Moral w e g , wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsern eignen Rest Moralität.«
Die Schätze, die Nietzsche angesichts seiner durch diese Mutmacherformel vorangetriebenen Eroberungstätigkeit an Land bringt und die im Nietzsche-Lexikon abgebucht werden unter dem Lemma »Psychologie« (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 309 ff.), können sich durchaus sehen lassen. So deklarierte Nietzsche etwa in JGB 23, als habe er gerade Freud gelesen: »Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ›das Herz‹ gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der ›guten‹ und der ›schlimmen‹ Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herz-
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haften Gewissen Not und Überdruss, – noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen.« (V: 38)
Eines hat Nietzsche nun also, FW 289 und JGB 23 in Vergleich gelesen, erkannt: Die Rehabilitation des ›Bösen‹ bedarf des psychologisch subtilen Blicks auf das Andere der Vernunft des vermeintlich ›Guten‹, auf dessen – in der etwas späteren Terminologie der Genealogie der Moral geredet – Ressentimentstruktur. Denn ohne Psychologie bliebe diese Struktur, diese auf Selbstidealisierung und Fremdverachtung beruhende Ideologie des ›Guten‹, in Geltung – eine Ideologie, zu der gehört, das ›Böse‹ immer nur als das (qua Moral) zu Überwindende zu lesen, nicht aber als »lebensbedingenden Affekt« (V: 38) beziehungsweise »des Menschen beste Kraft.« (IV: 359) Indem Nietzsche diese alternative Lesart des ›Bösen‹ zur Geltung bringt, löst er eben das ein, was er in FW 289 als Desiderat einklagte: eine ›philosophische Gesamt-Rechtfertigung‹ der Lebens- und Denkart des ›Bösen‹. Die »andere Welt«, die Nietzsche 1882 zu entdecken aufforderte, ist also, so ließe sich nun auch und mit größerer Präzision formulieren, identisch mit einem neuen (philosophischen) Grundgedankengang, dessen philosophischer Anteil in gekonnter Psychologienutzung hin auf die Kritik der Ressentimentstrukur des ›Guten‹ gründet. Dass das so zu verstehende Psychologieverständnis Nietzsches auch seine Christentumskritik beeinträchtigt, zeigt Also sprach Zarathustra, genauer: die Rede Von den Verächtern des Leibes (aus Za I) und hier die Setzung: »Leib bin ich ganz und gar und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.« (IV: 39)
Dies kling, für sich betrachtet, recht harmlos – wenngleich: Nichts zwingt zu diesem »für sich«, zumal nicht der in der Nietzscheforschung vor einigen Jahren modisch gewordene kontextuelle Zugang, der dazu drängt, auch den folgenden Satz aus der vorhergehenden Rede Von den Hinterweltlern vergleichsweise in Betracht zu ziehen: »Wahrlich nicht an Hinterwelten und erlösende Blutstropfen: sondern an den Leib glauben auch sie [die Gottähnlichen] am besten, und ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich.« (IV: 38)
Wie leicht erkennbar: Dies ist das glatte Gegenteil von »harmlos« und darf, im Kontext betrachtet (vgl. Niemeyer 2007: 17), gelesen werden 312 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Amerika – eine »andere Welt«, die der Psychologie bedarf
als extrem frivole Anspielung auf die bei ›Verächtern des Leibes‹ vom Typ Katholizismus beinahe unvermeidbaren Nebenfolgen des Zölibats – ein Punkt also, der Nietzsches Christentumskritik vor dem Hintergrund der seit 2010 währenden Missbrauchsdebatten in katholischen Einrichtungen mit einem Mal zu einer höchst aktuellen macht. (vgl. Niemeyer 2019a: 392 ff.) Diesen Rückschluss erlaubt auch die wenig später nachfolgende Rede Vom Baum am Berge. Sie darf gelesen werden als dichterischer Versuch der Erneuerung der Zweifel des Nikodemus an Jesu’ Versicherung: »Was von Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das wird Geist.« (Joh 3,6) Heißt: Für Nietzsche gibt es spätestens seit Menschliches, Allzumenschliches (1878), deutlicher und wie gezeigt wurde (s. V.2/1): seit dessen allererstem Aphorismus keine (wahre) Welt des Geistes sui generis mehr – und folglich auch keinerlei Hoffnung, der Mensch könne qua Geist zügelnd auf Fleischliches und Leibliches einwirken, sei es mittels Predigt oder Katechismus, sei es mittels zivilisierender oder domestizierender Lektüre, also qua Bildung. Old school, wenn man so sagen darf – woraus zugleich folgt, aus welchem Lager Nietzsche, übrigens bis auf den heutigen Tag, immer wieder neu die entschiedensten Gegner erwuchsen: aus dem Lager der hiermit um ihr Brot gebrachten Theologen und Pädagogen. So betrachtet ist es New School, für die Nietzsche gerade mit dem Zarathustra steht und die eines eint: das Ernstnehmen von Nietzsches andernorts ausführlicher begründeten Paradigmenwechsel in seiner Post-Wagner-Ära (vgl. Niemeyer 2008), die auf die Forderung nach Forschung zuläuft – Forschung à la Freud, wie eben am Exempel von JGB 23 gesehen. Aber schon im Zarathustra beginnt dieses Psychologieinteresse Raum zu greifen, sorgt im Ergebnis dafür, dass Zarathustra kaum noch als Lehrer und Erzieher im Blick auf die Lehre vom Übermenschen agiert denn als Psychologe, der in Vom Lande der Bildung (aus Za II) fürwahr eine »neue Rede« (IV: 106) führt, etwa, wenn er von der »Unterwelt« und den »Schatten des Ehemals« (IV: 154) spricht oder davon, dass sich »die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten [hebt].« (IV: 157) Metaphern wie diese – ob nun gelungen oder nicht – sind zu lesen als Vorschein auf eine zu entwickelnde psychologische Fachsprache, derer Zarathustra bedarf, weil er sich das Studium des Menschen unter Konzentration auf das ›Tierhafte‹ zur Aufgabe macht, sprich: als »der Erkennende […] unter Menschen a l s unter Thieren« (IV: 113) wandelt. Das Ergebnis ist 313 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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niederschmetternd und biographisch aufschlussreich, insofern dieser Satz auch auf die Nietzsche ›Gegenwärtigen‹, also seine Verwandten, zielt: »Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen […]; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. // So liebe ich allein noch meiner K i n d e r L a n d , – das unentdeckte, im fernsten M e e r e : nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen.« (IV: 155)
Auf gut Deutsch geredet: Was Not tut, ist ein gänzlicher Neuanfang, weil der Übermensch unter dem Regiment der (christlichen) Idee der Gleichheit gar nicht real werden kann, nach dem selbstgewiss vorgetragen Refrain des Pöbels aus Vom höheren Menschen (aus Za IV): »[W]ir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!«, auf den es nur eine Antwort gäbe: »Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott!« (IV: 356) Hiermit wird auch dies klar: Der Tod Gottes ist auch eine Chance, um eine neue, selbst zu verantwortende Welt des Lebens und Liebens zu generieren, jenseits – wie es in Vom Geist der Schwere (aus Za III) heißt – der dem Einzelnen schon in der Wiege verabreichten »schweren Worte und Werthe« wie »›gut‹ und ›böse‹«, derentwillen »man die Kindlein zu sich kommen [lässt], dass man ihnen bei Zeiten wehre, sich selber zu lieben.« (IV: 242) Und um die Pointe dieser im Zarathustra Gestalt gewinnenden New School Nietzsches allmählich auf den hier interessierenden Punkt zu bringen: Dieser Nietzsche, heftig anrennend gegen den ›Geist der Schwere‹, läge es fraglos nicht fern, weiterzukommen in Fragen wie jenen, die Stefan Zweig in Die Welt von Gestern (1925), aufrief: Fragen also etwa derart – um die Problematik einer Figur 91 aus der Rede Vom Baum am Berge aufzugreifen und zu extrapolieren –, ob Heranwachsende eigentlich immer wieder neu durch sexual- und leibfeindliche sozialisatorischer Mächte in gänzlicher Unaufgeklärtheit in die Arme von Prostituierten getrieben werden müssen mit der Folge von Geschlechtskrankheiten wie Syphilis. Oder ob es nicht an der Zeit ist, endlich qua (Sexual-) Forschung zur Klarheit zu kommen, zur Klarheit auch in der Frage nach der Schuld der Kirche, begriffen als organisiertes Kartell jener ›Verächter des Leibes‹. Gemeint ist der hier auftretende »Jüngling, wie er an einem Baum gelehnt sass und müden Blickes in das Thal schaute« (IV: 51) und der in der Folge von Zarathustra in ein aufklärendes Gespräch genommen wird »mit dem Ergebnis des wohl frühesten dichterischen Zeugnisses für modernes Denken auf dem Felde der Entwicklungspsychologie.« (Niemeyer 2007: 20)
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Spätestens an dieser Stelle ist einzuräumen: Sehr weit ist Nietzsche mit diesem Programm nicht gekommen. Möglicherweise hat er sich selbst um dessen Pfründe gebracht durch Sätze wie: »Es steht Niemandem frei, Christ zu werden: man wird nicht zum Christenthum ›bekehrt‹, – man muss krank genug dazu sein …« (VI: 231)
Sätze wie diese aus dem von Nietzsche nicht mehr im Druck erlebten Antichrist erleichterten dem Bürgertum, wie sich bald nach Erstveröffentlichung (1894) zeigen sollte, die Ablehnung Nietzsche als eines maßstablosen Denkers, mit dessen Botschaft es wohl nicht weit her sei. Und tatsächlich kann das Perfide an derlei Christentumskritik nicht in Abrede gestellt werden. Der in Rede stehende Satz gestattet beispielsweise keine Ausnahmen, erlaubt keinem Christenmenschen, auch dem harmlosesten nicht, die Ausflucht, er jedenfalls fühle sich seelisch gesund und lasse sich allein seines Glaubens wegen, ohne genauere Sichtung seiner Person, nicht dem Pathologieverdacht à la Nietzsche unterwerfen. Noch mal: Darum, also um Einzelfallprüfung, geht es Nietzsche nicht, sondern um Subsumtionslogik. Noch verstörender scheint, etwa im Rückblick auf das als Motto vorangestellte Zitat, der von Hermann Josef Schmidt (2006: 167) der Genealogie nach erläuterte und als Nietzsches Testament gelesene Anhang von Der Antichrist, mit Gesetz wider das Christenthum überschrieben und versehen mit der Pathos-Formel: »[G]egeben am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins (– am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung)«
– eine Formulierung, die dem Ansehen von Nietzsches »antichristlicher Philosophie« abträglich war. Durchaus nicht zu Unrecht. Denn man muss hier bedenken, welche Zeitrechnung, Nietzsche zufolge, die richtige ist und wie nach ihren Maßgaben das Jahre 1889 zu bezeichnen wäre: als Jahr 1 nach Nietzsche, abgekürzt vielleicht: 1 n. N. (statt 1889 n. Chr.). Schon dies also deutet eine Antwort an auf die Frage aller Nietzsche-Pathographen ab Paul J. Möbius 1902: Das Datum, an welchem Nietzsches geistiger Zusammenbruch sichtbar und im Werk erkennbar einsetzte, lautet auf: 30. September 1888 (n. Chr., nota bene). Dass diese Pathographen, allesamt Männer, bis 1961 nicht auf dieses Datum kamen (und kommen konnten), liegt an einer Frau, Nietzsches Schwester. Sie nämlich tat alles dafür, dass Der Antichrist erst verzögert (1894) und dann ohne jenes Gesetz wider das Christenthum erscheinen konnte, also ohne dessen sechs (eigentlich sie315 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ben 92) Paragraphen dieses Gesetzes, das erst 1961 durch Erich F. Podach zugänglich gemacht wurde und dessen erster Paragraph lautet: »Lasterhaft ist jede Art Widernatur. Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er l e h r t die Widernatur. Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus.« (VI: 254)
Auch hier liegt die Frage nahe: Ist das noch Kunst? Oder kann das weg? Nietzsches Schwester neigte, wie eben gezeigt, entschieden der letztgenannten Option zu, weil nur auf diese Weise ihr Dogma gesichert werden konnte, es sei, entgegen Paul J. Möbius gegenteiliger Annahme, kein Wahnsinn nachweisbar in Nietzsches Werken. Was aber, wenn der Nachweis gelänge, dass auch und gerade in diesem Fall der angeblichen Unvernunft Nietzsches mehr Vernunft unterliegt als gedacht? Werner Ross, bisher der gewiefteste aller Nietzschebiographen, war kurz vor diesem Zugeständnis, als er jenes Gesetz mit den Worten kommentierte: »Wahnsinn? Größenwahn? Gewiß. Das ist die einfachste Erklärung. Die bessere ist: Auf diesen letzten Seiten [des Antichrist; d. Verf.] sind alle Hemmungen weggefallen. Der kleine frühgebändigte Pastor erlaubt sich wieder wild zu sein.« (Ross 1994: 159)
Fragt sich nur: Was meint hier ›wild‹ ? Ich möchte im Folgenden eine Antwort auf diese Frage andeuten, also einige Gründe für das Rationale dieses vermeintlich Irrationalen oder ›Wilden‹ mobilisieren, indem ich Nietzsches sechs Paragraphen von 1888 in Verbindung bringe mit den 95 Thesen des Reformators Martin Luther (1483–1546; vgl. NLex2 [Sommer]: 226). Kaum vermeidbar bei dieser Weitung des Horizonts: der Name der Borgias, der einem gleichfalls, wenn nicht primär beim Nachdenken über Zeit um 1500 einfällt. Volker Reinhardt, aktuell wohl der Experte in Sachen (italienische) Renaissance, meinte hierzu: »Der Name Borgia weckt unheimliche Assoziationen: Gift, das in funkelnden Wein-Pokale geschüttet und bei glänzenden Banketten ältlichen Kardinälen lächelnd verabreicht wird; Leichen, die aus dem Tiber gezogen werden; Orgien im Vatikan, bei denen die römischen Luxus-Prostituierten Der siebte kann hier außerhalb der Betrachtung leiben, denn er lautet: »Der Rest folgt daraus« (VI: 254) – eine düstere Andeutung, die durchaus als Drohung mit dem Tode, adressiert an den Priesterstand, gelesen werden darf und insofern ›Wahnsinnsbrief‹ Nietzsches vom 3. Januar 1889 an Meta von Salis präludiert: »Ich […] werfe den Papst ins Gefängniß und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen.« (8: 572)
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Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche
Hauptrollen übernehmen […]; Inzest zwischen einem Papst und seiner Tochter; Sex and crime in allen nur denkbaren Varianten zieht sich wie ein blutroter Faden durch das Bild dieser Familie […].«
So weit, so anschaulich – dann aber folgt ein auf Nietzsche bezügliches Fazit wie aus der Schüttelpresse: »Wer wollte, konnte das auch positiv sehen. Für Friedrich Nietzsche, den Umwerter aller Werte, war Cesare Borgia der Triumph des Lebens in all seiner ruchlosen Herrlichkeit über die Sklavenmoral des Christentums.« (Reinhardt 2011: 7)
Nietzsche schrumpft mit dem letzten Satz auf die Größe eines Voyeurs übelster Sorte, der diesen seinen Voyeurismus adelte mittels einer haltlosen ›Umwertungsphilosophie‹ – ein wenig billig, wie mir scheinen will. Deswegen hier, in Anknüpfung an das einführend zu Nietzsches Gesetz wider das Christentum Gesagte, nur eine einzige, allerdings, wie sich weisen wird, toxische Frage: Was zwingt uns dazu, die Sache so wie Reinhardt zu sehen? – wobei die Vokabel ›toxisch‹ schon die Antwort erahnen lässt: Nichts! Beginnen wir, nach dieser Vorklärung, mit Luther, der hier zunächst einmal interessieren soll als Erzieher im Vergleich mit Nietzsche (2.). Dem folgt ein Abschnitt zu Luthers Thematisierung der Syphilis (3.), ein weiterer zur Syphilis ausgewählter RenaissancePäpste (4.) sowie zu Oskar Panizzas Anti-Syphilis-Groteske Das Liebeskonzil (5.), ehe, abschließend, Nietzsches Gesetz wider das Christenthum eine Neubewertung im Sinne der Ausgangsthese erfahren soll (6.).
2. Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche Denken wir noch einmal zurück an den eben zitierten § 1 aus dem Gesetz wider das Christenthum: Der Priester, so Nietzsche hier, »l e h r t die Widernatur« – was also lehrte Luther? Welcher Art Erzieher also war er? Und welcher Art war er aus Nietzsches Perspektive betrachtet? Lassen sich beide überhaupt in Vergleich setzen? Oder ist Edith Düsing im Recht? »Das Lutherbild Nietzsches bleibt durchweg erschreckend oberflächlich und ephemer« (Düsing 2016: 13), meinte sie im Jahrbuch Nietzscheforschung, gleichsam korsettierend zu Andreas Rupschus, der, unter Berufung auf Werner Stegmaiers
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III · Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen
Lutherbild, befand: »Es ist hoffnungslos inadäquat.« (Rupschus 2016: 65) Zunächst: ›Luther als Erzieher‹ ist zumindest in der deutschsprachigen pädagogischen Historiographie ein Topos; vergleichbar etabliert und gebräuchlich wie der Topos ›Nietzsche als Erzieher‹. Für diesen gilt in der Summe, was andernorts (vgl. Niemeyer 2016) über alle Texte Nietzsches und alle Zeiten der (deutschsprachigen) Nietzsche-Rezeption hinweg ausführlich zu zeigen versucht wurde: Resümiert wird nicht Nietzsche seinen maßgebenden Intentionen nach, sondern jene Wirkung, die einem persönlich die liebste, die den eigenen Intentionen am nächsten kommende gewesen wäre. Ein Beispiel: Die frühe, durch Hermann Türcks (1891) psychiatrisierende Deutung Nietzsches als bête humaine geprägte Phase der pädagogischen Nietzscherezeption, in der man Nietzsche vor allem als Jugendverführer brandmarkte (vgl. Niemeyer 1998b), brach in der Linie der Dissertation Ernst Webers zum Thema Die pädagogischen Gedanken des jungen Nietzsche (1907) einer sehr viel freundlicheren Sicht auf Nietzsche Bahn. Wenig erstaunlich im Blick auf die beiden Gutachter dieser Arbeit: Max Heinze war Türcks (und Hanssons) Informant gewesen, Wilhelm Rein hatte sich als Türcks Fortredner erprobt 93 – was liegt da näher als der Rückschluss auf eine Art Wiedergutmachungsprojekt? Es bot einem jungen Nachwuchsmann wie Weber die Chance, die andere Seite des »so lang Verkannten, Totgeschwiegen, Pervers- oder Verrückterklärten« (Weber 1907: 3) freizulegen, welche sich um seine Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872) gruppiere. Dass Weber mit diesem Impuls Erfolg hatte, ist andernorts näher erläutert worden, zusammen mit dem anderen: Diese auf das Frühwerk, also den Wagnerianer Nietzsche konzentrierte Rezeptionstendenz fand in der Pädagogik auch nach 1945 ihren Widerhall (vgl. Niemeyer 2002: 224 ff.), mit dem Höhepunkt der Aufnahme der Bildungsvorträge in die renommierte, von Winfried Böhm, Britta Fuchs und Sabine Seichter besorgte Reihe Hauptwerke der Pädagogik (vgl. Schweidler 2011).
Etwa in seinem Grundriß der Ethik (1902), wo er Nietzsche schuldig sprach für eine Art Zweifelspervertierung bei jungen Leuten, die mit »körperliche[r] Schlaffheit« und »seelische[r] Verweichlichung Hand in Hand« (Rein 1913: VIII) gehe und dabei vor allem, im Einvernehmen mit vielen seiner Kollegen, die ›wirre‹ Dichtung Also sprach Zarathustra auf die Hörner nahm. (vgl. Niemeyer 2016: 182)
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Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche
Das Problem indes: Niemand der auf diesem Feld Agierenden, weder Robert C. Holub, der dem Nietzsche der Bildungsvorträge einen wichtigen Abschnitt seiner Nietzsche-Gesamtdarstellung widmete – unter dem Titel The Paedagogical Reformer (Holub 1995: 34– 40) –, auch nicht Jürgen Oelkers (2005), schon gar nicht Ernst Weber (1907), dies unter dem mutmaßlichen Einfluss Max Heinzes, interessierte, dass es sich bei diesen Bildungsvorträgen um einen von Nietzsche nicht zum Abdruck bestimmten Text handelte (vgl. Niemeyer 2005). Mehr als dies: Niemand der Genannten fragte nach den Motiven der Schwester, als Nachlassverwalterin dem zuwiderzuhandeln und die Bildungsvorträge gleichwohl erstmals 1893/94 zugänglich zu machen. Höchst eigensinnige Motive übrigens, die weniger Nietzsche denn dem Nietzschebild verpflichtet waren, das die Schwester populär zu machen hoffte. Kurz geredet: Türcks Intervention von 1891 und deren Folgen sollten vergessen gemacht werden. Dies belegt der folgende, 1908 von Förster-Nietzsche im Verein mit dem Briefschreiber gerichtlich untersagte und darum erst 1977 bekannt gewordene Passus aus einem Brief von Heinrich Köselitz Franz Overbeck vom 17. November 1893 über Nietzsches Schwester: »Wer will denn dieses Weib diesen Nietzsche verstehen? … Ihre Ansicht, gegen die düsteren Ahnungen Türcks, Eisners, Prof. Steins usw. den jugendlichen Basler Professor, wie er sich in den im Magazin publiziert werden sollenden fünf Vorträgen ›Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten‹ darstellt, ins Feld zu führen, entbehrt nicht der Komik.« (zit. n. Montinari 1977: 324)
Wohl wahr, ist man hier zu ergänzen, den Begriff ›Komik‹ ausdehnend auf die pädagogische Rezeption, deren Verlauf deutlich macht, dass man den hingeworfenen Knochen, eben jene Bildungsvorträge, begierig ergriff – im Gegenzug zu jenen Zunftvertretern, die, wie Willmann & Co., Türcks Nietzsche-Bild längst zu ihrem gemacht hatten und nicht willens waren, diese Trouvaille und den in ihr verborgenen Aufstand gegen alles Moderne wieder herauszurücken. Dass sie, also die Linie Weber & Co., damit einem Nietzsche huldigte, der weniger für Moderne steht denn für elitäre Bildungsphilosophie, nahm man dabei in Kauf, ebenso: dass der authentische, für die Pädagogik wirklich wichtige Nietzsche insoweit nach wie vor seiner Entdeckung harrte, woran sich bis auf den heutigen Tag wenig geändert hat. Der Grund hierfür, was den deutschen Sprachraum angeht: Die im Zweibänder Klassiker der Pädagogik (2003) betriebenen Exklusion 319 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
III · Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen
durch Gatekeeper des Faches wie Jürgen Oelkers und Heinz-Elmar Tenorth. (vgl. Niemeyer 2019a: 164 ff.) Und ›Luther als Erzieher‹ ? Nun, ohne hier darüber spekulieren zu wollen, wieso (ein Grund könnte das traditionell vom Christentum in Bann geschlagene Bürgertum in Gestalt der von den 68er vielgescholtenen ›bürgerlichen Pädagogik‹ sein) – aber es fällt eben durchaus auf, dass die (deutschsprachige) Pädagogik in der Summe mit Luther geradezu umgekehrt verfuhr und verfährt wie mit Nietzsche, für den, wie gezeigt, gilt: Das Problematische, sich exemplarisch in Nietzsches Bildungsvorträgen eine Sprache suchend, wird in der Pädagogik zur Hauptbotschaft verklärt, das Wegweisende hingegen erst gar nicht erkannt. Anders Luther: Der mindestens auch biographisch zu erklärende Pädagogik-Protest wird zur Hauptsache, auch der auf seine Eltern bezügliche Hinweis Luthers, es »sei ein bös Ding, wenn Kinder um harter Bestrafung willen den Eltern gram« (zit. n. Köhler 2016: 24) würden. Auch Luthers Kritik an der ›Schwarzen Pädagogik‹ in Klöstern und Stiften (»Es sind nur Kinderfresser und -verderber«; AS V: 44) unter Einschluss seiner Beiträge zum Ausbau öffentlicher Erziehung wird gewürdigt (vgl. Meyer-Drawe 2004: 609 f.; Heine 2011), des Weiteren seine »Idee von Staatsvorsorge als wesentlicher Staatsaufgabe«, die Peter Szynka als »Inspiration« liest »bei der Bewältigung der Herausforderungen, die uns die neoliberale Agenda stellt.« (Szynka 2018: 22) Alles andere indes, Bedenkliche, auch sozial- wie sexualpädagogisch Bedenkliche, wird mehr oder weniger ignoriert, als habe man sich auf einen Ablasshandel ausgerechnet mit Luther eingelassen. Ein Beispiel, entnommen jener eben erwähnten Sammlung Hauptwerke der Pädagogik: Susanne Heine übernimmt hier den Job, Luthers als Predigt angelegten Text An die Radherrn aller Stedte deutschen lands: das sie Christliche schulen auffrichten und hallten sollen (1524) als pädagogisches ›Hauptwerk‹ rubrizierbar zu machen. Tatsächlich zieht gerade dieser Text bis auf den heutigen Tag einiges Lob auf sich. Micha Brumlik meinte beispielsweise, Luther erweise sich hier »als einer der ersten Theoretiker des Humankapitals, ihm wurde klar, dass der Reichtum und die Zukunftschancen von Städten von der Qualifikation ihrer Bürger abhängen.« (Brumlik 2018: 57) Weitergehend ist das Lob Susanne Heines: Sie kondensierte aus Luthers fulminanter, biographisch unterlegter Kritik am »Fegefeuer unserer Schulen« und der Skepsis gegenüber »Prügel, Zittern, Angst und Jammer« sowie aus dessen gegenwirkend gedachten Plädoyer 320 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche
dafür, »daß die Kinder mit Vergnügen und Spiel lernen sollen, seien es Sprachen oder andere Wissenschaften oder Geschichtserzählungen« (AS V: 63 f.), einen wenn schon nicht ›weißen‹, so jedenfalls doch ›unzeitgemäßen‹ Pädagogen, wie ihr Resümee 94 verrät: »Trotz der Zeitdifferenz sind Luthers pädagogische Überlegungen durchaus aktuell. Auch heute gehört es zur Aufgabe der Pädagogik, Urteilsfähigkeit zu fördern, anstatt Wissen zu akkumulieren, was zwar nicht mehr durch Prügelstrafen, aber andere Methoden der Konditionierung erreicht wird.« (Heine 2011: 276)
Lassen wir einmal dahingestellt sein, was die Autorin, eine renommierte Theologin und Religionspsychologin, genau unter »Methoden der Konditionierung« versteht und was ihr Anlass gibt, Prügelstrafen potentiell (wenn auch als nicht erlaubte) selbigen ›Methoden‹ zuzurechnen. Meine Rückfrage ist bescheidener, sie konzentriert sich auf Heines Lutherbild, gesetzt, es sei triftig und stünde für das Ganze: Was machen wir dann mit denen, die aktuell Luther am liebsten, im Sinne des 2017er Wahlkampfslogans »Luther würde NPD wählen!«, eine NPD-Ehrenmitgliedschaft antragen würden? Sollen wir sie einfach für verrückt erklären – oder ihnen, etwas anstrengender vielleicht, aber allemal humaner, sozialpädagogischer jedenfalls, helfen bei den Schwierigkeiten, die sie offenbar haben, jenseits derer, die sie machen? Schwierigkeiten beispielsweise, die ihnen offenbar Luther macht? Die Fragen sind, wie leicht erkennbar sein dürfte und sich aus meiner andernorts (vgl. Niemeyer 2018) erläuterten Form des Umgangs mit dem Rechtspopulismus ergibt, rhetorisch. Schauen wir uns deswegen ersatzweise Luther einmal etwas gründlicher an, durch die Nietzsche-Brille selbstredend und damit auch auf die Gefahr hin, von Luther-Bewunderern unter den Nietzscheforschern – wie Volker Gerhardt – womöglich jenen subsumiert zu werden, die »Unterstellungen« benötigen, »um sich wichtig zunehmen (sic!).« (Gerhardt 2019: 43) Der Ausgangspunkt, auch für folgende Argumentation, ist dabei gesetzt durch Nietzsches programmatisch wichtigen, unter der Überschrift D e r B a u e r n a u f s t a n d d e s G e i s t e s dargebotenen Aphorismus 358 aus Die fröhliche Wissenschaft V (1887):
In diese Richtung weist auch Dietz Langes Kommentar zum nämlichen Text in Bd. V der Ausgewählten Schriften (vgl. AS V: 40)
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»Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas ›Vielfältiges‹ […].« (V: 603)
Dies klingt beinahe so, als weise Nietzsche bis ins Terminologische hinein der aktuellen Gegenkritik an der mit dem Stichwort Sexualpädagogik der Einfalt belegbaren christlich-fundamentalistischen Kritik an einer ›Sexualpädagogik der Vielfalt‹ einen Weg, deutlicher: Als würde auch er, heutzutage, der »Entrüstung der Einfalt« (Nietzsche) über die angeblich ins Haus stehenden Renaissance der sexuellen Revolution der 68er Studentenbewegung im neuen Gewande vermeintlicher »Frühsexualisierung« die Leviten lesen. Hätte Nietzsche damit recht? Eine schwierige Frage, die einer differenzierten Antwort bedarf, ausgehend vom Beginn von Luthers Entrüstung über ›Vielfältiges‹, die 1528 in dem Bannruf auslaufen wird: »Hiermit verwerfe ich als lauter Irrtum alle Lehren, die unsern freien Willen preisen.« (AS II: 255)
Für Nietzsche war dies unannehmbar – für ihn, der seit seinem Germania-Vortrag Fatum und Geschichte (1862) über kaum etwas intensiver nachdachte als über die Frage, wie er sich und mithin seinen freien Willen, seine ›erste Natur‹, wiedergewinnen könne (vgl. Niemeyer 2016: 26 ff.), gegen selbstverschuldete Fremdbestimmung und Überformung, sei es à la Wagner, sei es à la Luther. Bis zuletzt hielt Nietzsche dazu, deutlich gegen Luther, fest: »Die Theorie vom ›freien Willen‹ ist antireligiös« (XIII: 308), um in Götzen-Dämmerung (1888) geradezu trotzig zu skandieren: »Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat.« (VI: 139)
Unter der Einschränkung, dass Nietzsche dieses sein wohl allerletztes Statement zum Thema »Willensfreiheit« sowie – und darauf wird hier gegen Michael Skowron (2019: 176 f.) erneut insistiert – zum Konzept des Übermenschen (vgl. Niemeyer 2019: 202) seinem langjährigen Ringen um dieses Thema abgewann, darf man wohl als Zwischenbefund festhalten: Der Pastorensohn aus Röcken b. Leipzig und der Mönch aus Eilsleben waren, aus welcher Perspektive auch immer betrachtet (vgl. etwa Saarinen 2016: 89; Skowron 2016: 106 f., 2018: 373 f.; Wolf 2016: 112), Antipoden, dies jedenfalls unter Ausklammerung der aus Nietzsches Herkunft und frühen Sozialisation aufklärbaren Nähe zu Luther unter Einschluss des Einflusses, den Wagner 322 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche
vorübergehend, pro Luther, auf Nietzsche ausübte. (vgl. Beutel 2005) Freilich: Ab Menschliches, Allzumenschliches lernte Nietzsche die »deutsche Reformation« als »Protest zurückgebliebener Geister« zu lesen und die italienische Renaissance unter Stichworten wie »Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft« sowie »Entfesselung des Individuums« (II: 199) zu rehabilitieren. Ein wichtiger Geburtshelfer bei dieser Neuorientierung: Hippolyte Taine (1828–1893), dessen Histoire de la Litterature anglaise Nietzsche im Sommer 1878 in deutscher Übersetzung las. (vgl. Campioni 2009: 180 ff.) Damit mag der Gegensatz zwischen Luther und Nietzsche vom Grundsätzlichen her einigermaßen geklärt sein. In Frage aber steht noch, was dieses ›Vielfältige‹ eigentlich genau war, gegen das Luther, Nietzsches Lesart zufolge, aufbegehrte? Luthers Bezug auf 1. Mose 1,28: »Wachset und mehret euch!« mit dem Zusatz: »mehr als ein Gebot, nämlich ein göttliches Werk, das zu verhindern oder zuzulassen nicht bei uns steht« (AS II: 167), ist eindeutig und wirkt wie eine Antwort auf die Frage nach Luthers NPD-Nähe: Unfruchtbare, Lesben, Schwule, Impotente, Kastrierte, Unfruchtbare und andere, die sich nicht ›mehren‹ können oder wollen, sind nicht mehr dabei, sind letztlich nicht »Kinder Gottes« im Sinne von Joh. 1,12 (AS I: 244) – alle jene also aus dem Kollektivum LSBTTIQ, denen eine moderne ›Sexualpädagogik der Vielfalt‹ bedarf, um sich als Schutzmacht des Vielfältigen gerieren zu können. Als Widerspruch in diesem Punkt bleibt bis heute, dass das offizielle Lehramt »weiterhin an dem Verbot fest[hält], praktizierte Homosexualität verstoße gegen die rechte Ordnung, obwohl doch lehramtlich der eheliche Geschlechtsverkehr bei von Natur aus Unfruchtbaren immer zugelassen worden ist. Warum dann nicht auch«, so ist mit Arnold Angenendt kritisch zu fragen, »nicht auch bei solchen, welche die Natur gleichgeschlechtlich ausgerichtet hat?« (Angenendt 2015: 228) Auch Luthers Vokabeln zwecks Kennzeichnung der Dekadenz des zeitgenössischen Papsttums, etwa in seiner furiosen Streitschrift An den christlichen Adel deutscher Nationen (1520), sind eindeutig: »Hurerei, Gaunerei, auf allerlei Weise Gottesverachtung, daß es dem Antichrist nicht möglich ist, lasterhafter zu regieren.« (AS II: 180)
Vergleichbar eindeutig Luthers Therapeutikum: Sexualitätsverfolgung, Todesstrafe für Ehebrecher (noch 1584 und 1592), Beschränkung von Befriedigungsmöglichkeiten für mit dem »Laster« der Ehe323 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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losigkeit Behafteten und Propaganda für eine »reine, züchtige Ehe und die Erziehung einer möglichst großen Anzahl einer möglichst großen Zahl makelloser Nachkommen« (Behrend 1850: 8 ff.) – ein Ideal, das Luther auch in seiner eigenen, wohl eher nicht für wahre Liebe und schon gar nicht für Gleichberechtigung zeugenden (vgl. Köhler 2016: 320 ff.), von Nietzsche mit zwiespältigem Lob 95 bedachten Ehe praktizierte. Gleichwohl gibt es auch gegenläufige Deutungen, etwa die, Luther habe erstmals die eminente Bedeutung des Geschlechtstriebes »für die natürliche Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ins rechte Licht gestellt« (Bloch/Loewenstein 1925: 44 f.), was ihn »zu einer leidenschaftlichen Bekämpfung des Zölibats in jeder Form, insbesondere des Priesterzölibats« (ebd.: 47) veranlasste – eine Einschätzung aus früher sexualwissenschaftlicher Sicht, die für die aktuelle Debatte um sexualisierte Gewalt gerade in katholischen Einrichtungen von einiger Bedeutung ist. Zumal auch aus der zeitnahen Wertung Arnold Angenendts außer Frage steht, dass Luther die »Verbindung von Sexualität und Ehe radikal neu« gedacht und sich befreit habe »von dem klerikalen Bild der Frau als der sexuell unersättlichen Hyäne, wie es die Inquisatoren des ›Hexenhammer‹ neu eingepaukt hätten.« (zit. n. Angenendt 2015: 176) Dominierend ist allerdings, bei Angenendt, der Befund, Luther habe dem Hausfrauenideal gehuldigt und damit die Frauen »doppelt eingesperrt […], familiär wie spirituell.« (ebd.: 177) Nicht absehen kann man auch von der in den Tischreden Nr. 3838 (Luther 31962: 182), 4513 und 5207 hervortretende Nähe Luthers zur späteren, von der Inneren Mission in Gestalt etwa des Eugenikers Hans Harmsen (1899–1989) 96 gestützten NS-Zwangssterilisations- und Euthanasiepraxis (vgl. Nowak 1998). Nicht ganz ohne Grund übrigens, wenn man bedenkt, dass Tischrede 4513 der Anschauung frönt: »Wechselkinder und Kilekröpfe legt der Satan an der rechten Kinder statt, damit die Leute geplaget werden.« (zit. n. Morgenstern 2016: 303 f.) Es sei denn, man überhöre, wie etwa Babette E. Babich (2008: 324), den Spott in Nietzsches – wie Andres Urs Sommer (2017a: 598) bemerkte – (deswegen?) nicht in Nietzsches später Kompilation Nietzsche contra Wagner übernommenen Satz: »Luther’s Verdienst ist vielleicht in Nichts grösser als gerade darin, den Muth zu seiner S i n n l i c h k e i t gehabt zu haben.« (VI: 340 f.) 96 Harmsen entstammt dem Steglitzer Wandervogel und wurde aber nach 1945 in erinnerungspolitischer Absicht von Jugendbewegungsveteranen über Jahrzehnte hinweg bagatellisiert (vgl. Niemeyer 2013: 92 ff.). 95
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Luther als Erzieher im Vergleich zu Nietzsche
Diese Vorstellung, so der Luther-Kommentator Matthias Morgenstern weiter, »verbindet sich in [Luthers antisemitischer Schrift] Von den Juden und ihren Lügen mit vorneuzeitlichen Erklärungen von Missgeburten, die das Resultat eines Fehlverhaltens von Vater und Mutter beim Sexualakt waren.« (Morgenstern 2016: 304) ›Fehlverhalten‹ – Morgenstern bleibt hier undeutlich – meint auch: Geschlechtsverkehr mit von der Syphilis infizierten Prostituierten als der nicht eben seltenen Ursache für ›Missgeburten‹. Dabei darf der sexual-antisemitische Unterton nicht überhört werden, das sich noch in der von Artur Dinter (vgl. Niemeyer 2019: 286 ff.) gepflegten Mär spiegelt, Jüdinnen seien ihrer erhöhten Sinnlichkeit wegen unter den Prostituierten überrepräsentiert. Komplettiert wird das Ganze durch die Festlegung, »Ungehorsam« sei, aufgrund der Vorrangerteilung für das vierte gegenüber dem fünften, sechsten und siebten Gebot, eine »größere Sünde als Totschlag, Unkeuschheit, Stehlen« (AS I: 111), hinzugerechnet Luthers Bannruf aus Von den guten Werken (1520), wo er unter »vielerlei Menschen« als dritten Typus die »bösen Menschen« ausmacht, die »allzeit ganz ungescheut zu Sünden bereit« seien und für die er deswegen unter Berufung auf Röm. 13,3 f. vorschlägt: »Die muss man mit Gesetzen, geistlich und weltlich, zwingen wie die wilden Pferde und Hunde, und wenn das nichts helfen will, sie vom Leben tun durchs wilde Schwert.« (AS II: 56)
Wie wohltuend modern, ja hypermodern nimmt sich, von hier aus betrachtet, Nietzsches Forderung aus: »Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!« (III: 529)
Von diesem Satz Nietzsches ausgehend sind es nur noch wenige Schritte bis hin zu einer modernen, ›weißen‹, das Verstehen als Professionsideal kultivierenden Sozialpädagogik (vgl. Niemeyer 2015), jedenfalls sofern man sie, jenseits Paul Natorps (1854–1924) und eher in der auf dessen Antipoden Herman Nohl zurückgehenden Linie, als »Theorie der Jugendhilfe« auszulegen sich anheischig macht (vgl. Niemeyer 1998a: 217 ff.). In der Umkehrung geredet: Von Luthers eben zitiertem Wort sind es nur knapp zwei Schritte zurück ins Mittelalter finsterster Prägung. Damit liegt eine Antwort auf die Ausgangsfrage nahe, ich erinnere: Der Priester, so Nietzsche 1888 im Gesetz wider das Christenthum, »l e h r t die Widernatur« – was 325 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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also lehrte Luther? Ich denke, man kann antworten: Widernatur. Und was lehrte er ad Syphilis, etwa auch jener der Renaissance-Päpste? Schauen wir einmal …
3. Luther als Syphilistheoretiker und Sexualpädagoge (im Vergleich zu Wichern und Nietzsche) Das Wort ›Syphilistheoretiker‹ in der Überschrift soll es andeuten: Luther hier als Syphilitiker zu outen, als jemand also, der, um den Normalfall anzuführen, infolge des Besuchs in einem Bordell sich eine schreckliche Geschlechtskrankheit zuzog, kann nicht Absicht sein, dies wäre, nach allem, was wir wissen, absurd – weit absurder jedenfalls, als nämliches im Fall Nietzsche tun zu wollen. Aber auch für diesen gilt: Was im Folgenden interessiert, ist die Theorie, nicht die Praxis (wobei Letztere Erstere im gegebenen Fall fraglos – und in der Regel nicht mit positiver Pointe – stimuliert hat). Und dabei fällt, was Luther angeht, auf: Luthers Texte, als rein theoretische genommen, weisen erstaunlich früh, nämlich 1530, den Gebrauch der Vokabel Wort »Syphilis« auf – im gleichen Jahre also, in dem das Lehrgedicht Girolamo Fracastoros über einen wegen einer Gotteslästerung von der Krankheit befallenen Hirten namens Syphilis publik wurde. (vgl. Puenzieux/Ruckstuhl 1994: 29) Kaum weniger bemerkenswert ist die Fundstelle: Eine Predigt Martin Luthers, daß man Kinder zur Schule halten sollte (1530). Luther stellt die Syphilis hier gleichrangig neben Plagen wie »Pest« und »Influenza«, Gottesstrafen durch die Bank, die »uns«, so Luthers Sermon, in einiger Analogie zu jenem des Jesuitenpaters Paneloux in Albert Camus’ legendärem Roman Die Pest (1947) (vgl. Camus 1947: 156 ff.), »allesamt in den Abgrund der Hölle versenkte wie Sodom und Gomorrha« 97 (AS V: 135) – übrigens eine um 1850 wieder aufgegriffene Sorge des Begründers der Inneren Mission sowie der Rettungshausbewegung, Johann Hinrich Wicherns. Schauen wir uns also diesen Fall einmal etwas genauer an. (zum Folgenden auch Niemeyer 1998a: 45 ff.)
Sodom und Gomorrha meint an sich, nach dem Alten Testament (Genesis 19), ein göttliches Strafgericht wegen Homosexualität, anders als in der Variante auf diese Mär im Buch der Richter 19, das in Gibea spielt und in deren Mittelpunkt ein göttliches Strafgericht wegen der Schändung einer Konkubine steht. (vgl. Cole 1959: 287 ff.).
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Luther als Syphilistheoretiker und Sexualpädagoge
Dem Text nach geht es um Wicherns ›Wutpredigt‹ Ein Votum über das heutige Sodom und Gomorrha (1851). Wichern erstattete hier Bericht über »den maßlosen Verfall ehrbarer Sitten« auf dem Lande, auch über die Großstadt als »den eigentlichen Glutherd für die […] nächtlichen Feuer des Verderbens«, in Sonderheit über Hamburg und Berlin als »Knotenpunkte des weitverzweigten Netzes der Hurerei«, im Einzelnen: über »Soldaten in Berlin«, die der Unzucht derart verfallen seien, »dass angeblich in der letzten Zeit ganze Kompanien zum Marschieren unfähig gewesen sein sollen« (Wichern 1958 ff., Bd. 2: 214 f.), darüber, »daß der größte Teil unserer, namentlich ärmern Jugend der Onanie verfallen ist« (ebd.: 216); über »Zustände der Schamlosigkeit«, vor denen einem »das Blut in den Adern erstarrt«; über »heidnische Orgien greulichster Art« (ebd.: 220), die es als »Werke des Satans« (ebd.: 222) zu lesen gelte und angesichts derer nur eine Lektion bleibe, die Wichern dann auch mit seinem letzten Satz andeutet: »Zerstören wir nicht Sodom und Gomorrha, so zerstört Sodom und Gomorrha uns, und davor bewahre uns der gnädige Gott!« (ebd.: 225)
Worum es Wichern wirklich zu tun war bei dieser seiner Suada gegen sexuelle Verwahrlosung aller Couleur, erschließt sich nur mittels einer Fußnote des Herausgebers Peter Meinhold. Sie klärt darüber auf, dass Wicherns Beitrag stimuliert worden war durch den skeptischen Kommentar eines seiner Amtsbrüder im vorhergehenden Heft des von Wichern gewählten Publikationsortes, der Evangelischen Kirchenzeitschrift, zu der Studie Die Prostitution in Berlin und die gegen sie und die Syphilis zu nehmenden Maßnahmen (1850). Autor: Friedrich Jakob Behrend (1803–1889), damals Oberarzt der Berliner Sittenpolizei. Das Hauptwort in Wicherns Wutpredigt war also keineswegs ›Onanie‹, ›Prostitution‹ oder ›Hurerei‹. Das Hauptwort war vielmehr ›Syphilis‹. Und: Wicherns zentraler Aufreger, Behrend, hatte nichts weiter verbrochen, als die in den sich formierenden evangelisch-lutherischen Landeskirchen gegen die Syphilis ergriffenen Maßnahmen heftig zu tadeln. (vgl. Behrend 1850: 8 ff.) In deren Logik es gängig war – wie Kirstin Bromberg (2020) am zeitgleich sich ereignenden Magdeburger Fall der 15- jährigen Cholerawaisen Emilie Walther zeigen konnte –, konfessionell vermittelte Privatwohltätigkeit dort zu verweigern, wo sexuelle Haltlosigkeit und dadurch bewirkte Syphiliserkrankung den Rückschluss erlaubten auf selbstverschuldete Not. Wichern indes verlor nicht ein Wort über das Be327 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
III · Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen
rechtigte oder Unberechtigte der Kritik von Behrend an diesen oder anderen Maßnahmen. Noch bezog er ein, dass das Christentum mit dem auch von ihm gemalten Schreckensbild der der Onanie zuzuschreibenden schrecklichen Krankheiten das Folgeproblem, also die Prostitution und in deren Linie die Syphilis, forciert hatte, gehörten doch »der riesige Markt der freien Prostitution […] zu einer bürgerlichen Welt der gezielten, kontrollierten Verschwendung und der Angst vor der Masturbation.« (Sarasin 2001: 412; Gilman 1992: 155 ff.) Des Weiteren und Wichtiger in diesem Zusammenhang: Wichern erwies sich mit seinem 1851er Aufsatz letztlich als treuer Jünger Luthers, dies auch des Sodom-und-Gomorrha-Motiv wegen. Dies wiederum heißt: Luther, aber eben auch Wicherns um die sexuelle Frage entleerte Sozialpädagogik-avant-la-lettre-Konzeption von 1851 – beide sind je auf ihre Weise indirekt dafür verantwortlich, dass Syphilis auch in der Folge als Indiz für unchristliches Sexualgebaren gelesen wurde, angesichts dessen mit medizinischer Behandlung eigentlich nicht gerechnet werden dürfe, ebenso wie mit Prävention (etwa mithilfe von Kondomen). Denn wer wollte schon der aus christlicher Sicht verdienten Gottesstrafe als Christ ins Handwerk pfuschen? War – so die damit naheliegende Anschlussfrage an die Adresse christlicher Nietzscheverfolger der Post-Wichern-Ära – womöglich also auch Nietzsche, von Haus aus Pastorensohn, von selbsterworbener Überzeugung her Gottesleugner und folgerichtig 1900 ohne kirchlichen Beistand bestattet, in Turin im Januar 1889 Objekt einer selbstverschuldeten Gottesstrafe geworden? Wohl schon, wenn man nur den Wichern-Fan Gerhard Uhlhorn bedenkt. Er nämlich befand 1894, Nietzsches Ideal sei der Tyrann, »der die ganze Menschheit beherrscht und ausbeutet« – eine Vorstellung, so Uhlhorn, bei der der Idealmensch deutlich »Züge des Antichrists« trage und die ebenso entsetzlich sei, »wie alles, was die Sozialdemokratie Widerchristliches ausgeschäumt hat.« (Uhlhorn 1894: 370) Uhlhorn stellte hiermit endgültig klar, wes Geistes Kind die von Wichern begründete Innere Mission war: Sie war das Kind der Reaktion und des antirevolutionären Pietismus, und sie sah sich gleichermaßen bedroht vom (vermeintlichen) Kollektivismus der die soziale Frage aufnehmenden Sozialdemokratie als auch vom (scheinbar) kapitalismusfreundlichen Individualismus Nietzsches. So betrachtet steht die in der Sozialpädagogik weit verbreitete These Hermann Nohls infrage, die Innere Mission Wicherns komme als eine von fünf »geistigen Energie« der von Nohl geisteswissenschaftlich-pädagogischen zentrierten Wohlfahrts328 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Luther als Syphilistheoretiker und Sexualpädagoge
pflege respektive Sozialpädagogik in Betracht. (vgl. Nohl 1926: 146 ff.) Ersatzweise müsste im Rahmen kritischer Historie die These Platz greifen, das eigentliche geistige wie geistliche Zentrum aller ›Schwarzen Sozialpädagogik‹ lasse sich via Wichern auf Luther zurückführen und habe ihm ihren sexualfeindlichen Grundzug zu danken. ›Platz greifen‹ meint vor allem erst einmal nur: ›näher hinschauen‹, also beispielsweise zu erkennen, dass Luther zehn Jahre vor seiner erstmaligen – und wie mir scheinen will: einmaligen – Erwähnung der Syphilis schon einmal einem göttlichen Strafgericht à la Sodom und Gomorrha das Wort geredet hatte, und zwar in seiner ersten großen reformatorischen Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung (1520), wo wir an entscheidender Stelle lesen: »Es wäre kein Wunder, wenn Gott vom Himmel Schwefel und höllisches Feuer regnen ließe und Rom in den Abgrund versenkte, wie er vorzeiten mit Sodom und Gomorrha tat.« (AS I: 175)
Dies klingt noch vergleichsweise harmlos, wie eine Schelte des (sexualdevianten?) Römer Bürgers – aber auch nur, wenn man den Folgesatz außer Betracht lässt: »Was soll ein Papst in der Christenheit, wenn man seine Gewalt nicht anders gebraucht als zu solcher Hauptbosheit und er diese schützt und ausübt? O edle Fürsten und Herren, wie lange wollt ihr euer Land und Leute solchen reißenden Wölfen offen und frei überlassen?« (ebd.)
Was wollte Luther damit sagen? Dass der ›christliche Adel deutscher Nation‹ gen Rom reiten und dort ein weltliches Strafgericht am Papst exekutieren möge? Oder hieß dies ›nur‹, dass in Rom der Fisch vom Kopf her stinke, weil er seine ›Hauptbosheit‹ unters Volk bringe? Aber welche ›Hauptbosheit‹ ? Die Syphilis etwa, die hier vielleicht nur deswegen noch nicht genannt wird, weil Luther, anders als 1530, dieses Wort fehlte? War die Sache also da, aber das Wort noch nicht? Schwieg Luther, weil er nicht reden konnte? Oder nicht reden wollte, ähnlich wie Émile Zola, der ja (gleichfalls) als an sich unerschrockener Ketzer galt, aber in dieser Frage (s. III/11) versagte? Wir wissen es nicht, werden die Frage gleich weiterverfolgen, wollen aber vorerst ein wichtiges Zwischenergebnis sicheren: 1530 skandalisierte Luther nicht etwa die Zustände in Rom, sondern in Deutschland, wichtiger: las Syphilis nicht etwa als Teil des Problems, 329 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sondern als Teil der Lösung, wie sein kurzer Satz nach langem Sermon über die weitverbreitete Weigerung vieler Eltern, ihren Nachwuchs studieren zu lassen, um den dringend erforderlichen Stand der »fleißigen, ehrbaren Schulmeister oder Magister« (AS V: 133) zu mehren, belegt: »Sollte Gott hierüber nicht zornig werden? Sollte nicht Teuerungszeit kommen? Sollten nicht Pest, Fluenza, Syphilis und andere Plagen uns befallen?« (AS V: 135)
Man steht, nach nochmaligem Lesen, durchaus konsterniert vor dieser Argumentationsvolte, der, erstens, innewohnt, der Ursprung der Syphilis sei bei Gott zu suchen, im himmlischen Waffenlager gleich neben ›Schwefel‹ und ›himmlischen Feuer‹ gelagert. Sowie, zweitens: Ist Luther, typisch ›Wutbürger‹, an dieser Stelle komplett der Maßstab verlorengegangen? Denn bei aller Freude über seine Entschlossenheit in Sachen Verberuflichung und Professionalisierung des Lehrstandes – Widerständlern hiergegen gleich die Syphilis, die Pest oder andere Plagen an den Hals zu wünschen, geht gar nicht. Zumal dem Ganzen eine erneute Volte im weiteren Argumentationsgang folgt. Luther nämlich schreibt, nach einem weiteren langen Sermon etwa über jene, welche »weder Pfarrer noch Prediger ernähren noch etwas dazu geben, daß sie doch unterhalten werden« (AS V: 136): »Wenn’s so in deutschen Landen zugehen soll, so tut’s mir leid, daß ich als Deutscher geboren bin oder je deutsch geredet habe.« (AS V: 127)
Dieser Satz sei jenen geschenkt – Stichwort: NPD –, die sich ihres Deutschseins freuen und deswegen über Luther desgleichen. Allen anderen sei der Folgesatz ans Herz, besser noch: vor den Verstand gelegt: »Und wenn ich’s vor meinem Gewissen tun könnte, würde ich zur Strafe dazu helfen und beitragen, daß der Papst mit allen seinen Greueln wieder über uns komme und uns ärger bedrücke, schände und verderbe, als je zuvor geschehen ist.« (AS V: 137)
Da sachlogisch an dieser Stelle, wie im vorgenannten Beispiel, erneut die Gottesstrafe Syphilis (nebst Pest & Co.) hätte aufgerufen werden müssen, nicht aber der Papst, darf man diese Stelle beinahe als Bekenntnis Luthers dahingehend lesen, dass ihm die Syphilis ›der‹ Renaissance-Päpste durchaus bekannt war und ihm folgerichtig das Papsttum zu einer Gottesstrafe geriet. Dies nun scheint mir ein Zwi-
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Über die Syphilis ausgewählter Renaissance-Päpste
schenbefund, auf dem man durchaus aufbauen kann – zumal einen Vergleich mit Nietzsche.
4. Über die Syphilis ausgewählter Renaissance-Päpste Wichtig dabei, was bisher nur, etwa ganz zu Beginn via Volker Reinhardt, angedeutet wurde, aber via Nietzsche, diesen als Syphilistheoretiker (auch aus Selbstbetroffenheit) gelesen, thematisierungsrelevant ist: Dass das Renaissance-Papsttum ein auch praktisches Syphilisproblem hatte, mit Brunold Springer geredet: »Die Geschichte der Syphilis beginnt mit drei Päpsten.« (Springer 1926: 66)
Sicherlich, diese Erzählung ist deutlich verkürzt und im Wesentlichen eine journalistische, bringt aber, vielleicht etwas drastisch, auf den Punkt, was Iwan Bloch ein Jahr zuvor im posthum erschienen Band II seiner Gesamtdarstellung Die Prostitution ins Bewusstsein gehoben hatte, unter dem Leitmotiv: »Die von Italien ausgehende Renaissance nun bedeutet auch für die Prostitution in der westlichen Kulturwelt eine völlige ›Wiedergeburt‹ der Antike in dem Sinne, daß ganz entsprechend den individualistischen Tendenzen dieser durch die geistigen Bewegungen des Humanismus und der Reformation am meisten gekennzeichneten Epoche die freieren Prostitution wieder in den Vordergrund trat, die antike Hetäre in der ›cortegiana‹, der Kurtisane, wieder auflebte.« (Bloch/Loewenstein 1925: 29 f.)
Heißt: Die Syphilis des Renaissance-Papsttums ist nur ein Unterthema eines globaleren kulturellen Wandels, der teilweise – Stichwort: »›Wiedergeburt‹ der Antike« – auf schon einmal vorhanden gewesene Lebens- und Liebesverhältnisse rekurriert, dies allerdings unter ungleich gefährlicheren Bedingungen: der Syphilis. Ihrer Gefahren wegen hatte man schon Jahrzehnte vor dem Aufkommen des Namens (1530) – Bloch nennt 1496 für Bologna und Ferrara, 1497 für Faenza sowie 1498 für Venedig – mit der lokal unterschiedlich Gestalt gewinnenden Politik »der Vertreibung und Ausweisung der kranken Prostituierten und der damit verbundenen Aufhebung vieler Bordelle und der systematischen Einführung einer ärztlichen Untersuchung und Behandlung syphilitischer oder der Syphilis verdächtiger Dirnen« (ebd.: 8 f.) Gut ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Bloch in seiner Studie über den Ursprung der Syphilis vorgetragen, »dass die gegen-
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wärtig nur von wenigen Forschern [darunter vor allem Bloch; d. Verf.] vertretene Anschauung vom neuzeitlichen Ursprung der Lustseuche die einzig richtige und die ihr entgegengesetzte Lehre von der sogenannten Altertumssyphilis einer der grössten Irrtümer ist, die sich jemals in der Geschichte der Heilkunde breitgemacht haben.« (Bloch 1901: VI) Ein spektakulärer Paradigmenwechsel in Sachen der Lesart der Geschichte einer das Selbstverständnis des Bürger- wie Christentums zutiefst verunsichernden Geschlechtskrankheit stand also via Iwan Bloch ins Haus. Seine zentrale Botschaft, und damit kommt nun endlich die einleitend erwähnte Kolumbus-Mär Deborah Haydens ins Spiel: Die Syphilis nahm ihren Ausgang wohl von der »Mannschaft des Columbus« auf Haiti, von wo sie »in den Jahren 1493 und 1494 in Spanien eingeschleppt wurde«, um sich epidemiemäßig auszubreiten »gelegentlich des italienischen Feldzuges Karls VIII. von Frankreich in den Jahren 1494–95« (Bloch 1907: 397), und zwar nun auch auf Seiten des Klerus in Rom. Dabei sind immer auch Sondergenealogien in Betracht zu ziehen, wie etwa im Fall des französischen Königs Franz I. (1494–1547), offenbar Organisator eines für den Gebrauch des Königs bestimmten »Palastbordells« (Bloch 1912: 764). Er nämlich wurde offenbar Opfer des Racheakts eines Rechtsanwalts, der bewusst erst sich (bei einer Dirne) und dann seine Frau, eine Mätresse des Königs, mit Syphilis infiziert haben soll – um dann am Tod des Königs das Berechtigte seines Verdachts bestätigt zu bekommen (vgl. Bankl 2002: 34) Neu sind Überlegungen dieser Art übrigens nicht, im Gegenteil: Schon François Rabelais (1494–1553) hatte im ersten Band von Gargantua und Pangruel (1532) die Geschichte erzählt vom syphiliskranken und offenbar homosexuellen sowie des Nepotismus (= Vetternwirtschaft) huldigenden Papstes Sixtus IV. (1414–1484) in der Hölle 98, wo er »die Venerischen 99 ein[schmierte].« (Rabelais 1974: 302; vgl. Bäumler 1976: 92 f.; Gröne 2007: 165) In diese satirische Richtung geht auch, über zweihundert Jahre später, Voltaires im ProMit der ironischen Szene: »›Was der Teufel‹, sagte Patangruel, ›gibt’s die da auch?‹ – ›Gewiß‹, entgegnete Epistemon, ›und nirgends mehr als dort, wohl hundert Millionen und mehr; denn wer die Lustseuche hier nicht gehabt hat, kriegt sie dort.‹« (Rabelais 1974: 302) 99 Geht zurück auf das lat. Eigenschaftswort »venerius«, übers.: »der Venus geweiht«; venerische Krankheiten sind Geschlechtskrankheiten, unter ihnen die Syphilis (vgl. Bankl 2002: 26) 98
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log bereits als einschlägig wichtig herausgestellte Satire Candide ou l’Optimisme (1759). Zu lesen ist sie als ironischer Kommentar zu Gottfried Wilhelm Leibniz’ Die Theodizee (1710), also zu dem hier verfochtenen Postulat, wir lebten, dank Gottes Obacht, in der besten aller Welten. (vgl. Schonlau 2005: 69) Voltaires Welt ist wahrlich keine dieser Art, wenn man nur bedenkt, dass von ihm die Ansteckungsgeschichte seines syphilitischen (Negativ-)Helden Pangloß gleichsam rückwärts erzählt wird, nämlich wie folgt und ausgehend von Pangloß’ letzter Geliebter, der hübschen Zofe Paquette: »Paquette hatte sich angesteckt und ist vielleicht schon an dieser Krankheit gestorben. Sie hatte dieses Geschenk von einem hochgelehrten Franziskaner erhalten, der es – um einmal auf den Ursprung dieses Leidens zurückzugehen – von einer alten Gräfin hatte, die es ihrerseit von einem Rittmeister bekam; dieser wiederun verdankte es einer Marquise, die es von einem Pagen übernommen hatte; der aber hatte es vom einem Jesuiten empfangen, welcher es noch als Novize von dem direkten Nachkommen eines Gefährten von Christoph Kolumbus erhalten hatte. Ich für mein Teil werde es niemandem weitergeben, denn ich lebe nicht mehr lange.« (SRE I: 292)
Bei dieser in der Voltaire-Rezeption (aber nicht nur hier 100) offenbar immer mal, wie das Beispiel Victor Klemperer zeigt, 101 als peinlich erlebte »Persiflage auf biblische Ahnenreihen« (Gröne 2007: 169), die auch den gleichgeschlechtlichen Verkehr ins Kalkül zieht – mit dem Teufel selbst wohl als »Stammvater« (SRE I: 292) –, kommen alle Stände zu ihrem Recht, prominent vor allem Adel wie Klerus, beides wohl kaum überraschend bei einem Freigeist und Atheisten vom Format Voltaires. Der sich eben darin deutlich unterscheidet von der Thematisierung der Syphilis etwa in Schillers Räuber (1781), hier deutlich unter ästhetischem Fokus, also unter Konzentration auf das Ekelhafte »entsprechend einer höchst konservativen moralischen Auffassung von Geschlechtskrankheiten und Geschlecht.« (Schonlau 2005: 72) Spannend in diesem Zusammenhang: Dass vor allem der Voltaire-Bewunderer Nietzsche angetan war vom Schlusswort aus Vol100 Ein weiteres prominentes Beispiel ist Shakespeare, der den umgangssprachlichen Ausdruck (im Englischen) für Syphilis – »pox« – etwa 25 Mal in seinem Werk verwendet, wohingegen »die deutschen Übersetzer – wie Schlegel – […] daraus allenfalls ›Pest‹ gemacht [haben].« (Bäumler 1976: 91) 101 Klemperer mied 1948 bei seiner Inhaltsangabe, anders als sechs Jahre später (vgl. Klemperer 1954: 67), die Vokabel Syphilis und wollte nur etwas wissen von »Unheil« und (scheußlichen) »Verstümmelungen« (SRE I: 33).
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taires Candide (»il faut cultiver notre jardin«), als dessen Variante man das von Stendhal stammende »Il faut être sec« (XI: 154) deuten könnte. Nietzsche brachte dieses Wort 1884 102 gegen den (völkischen) »Sumpf« der Bayreuther Blätter in Stellung, den man gleichsam trockenlegen müsse. Als eine späte Variante darauf kommt Nietzsche 1888 nachgereichtes »Il faut tuer le Wagnerisme« in Betracht, das, genau genommen, eine neue Variante bringt zum ›Gelobt-sei-washart-macht‹-Impetus der Zarathustra-Zeit, nach dem Motto: »Was uns nicht umbringt – das bringen w i r um, das macht uns stärker.« (XIII: 478) So betrachtet ist Nietzsches Satz aus einem seiner ›Wahnsinnsbriefe‹ : »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen …« (8: 575) weit weniger auffällig als das Fehlen eines Notats mit dem Inhalt, er erwäge Ähnliches im Blick auf alle Syphilitiker bzw. der an deren Schicksal letztlich schuldigen Leibverächter. Damit zurück zu der eben verlassenen Fährte, Karl VIII. (1460– 1498). Denn obgleich er eigentlich ganz an den Beginn von Pangloß’ Stammbau gehört hätte, wird er in Voltaires Candide nicht erwähnt – möglicherweise, weil Volker Reinhardt recht hat, bei dem wir lesen, allerdings ohne Quellennennung: »König Karl VIII. stieß auf dem Weg zum Ballspielstadion seiner Residenz in Blois mit dem Kopf gegen einen Deckenbalken und starb kurz darauf, wahrscheinlich an einer Gehirnblutung« (Reinhardt 2011: 74) Auffällig nur, dass Friederike Hausmann neuerdings ganz selbstverständlich davon ausging, dass es die Syphilis war, die Karls »ohnehin missgestalteten Körper noch weiter verwüstete und seinen Geist vollends zerrüttete.« (Hausmann 2019: 72) Auffällig auch, dass Reinhardt unerwähnt ließ, warum Karl VIII. Eingang fand in die (wenigen) Gesamtdarstellungen über Syphilis (vgl. etwa Bäumler 1976: 17 ff.): Weil offenbar zwei seiner sechs Kinder Totgeburten waren und nur eines das dritte Lebensjahr erreichte. Insoweit ging Karl VIII. zumindest in die durch Bäumler beeinflusste Geschichtsschreibung nicht ganz unverdient ein mit dem Titel »geiler Trottel auf dem Thron«, dessen Lebensleistung darin bestanden habe, viele tausend Frauen, Mägdelein wie Metzen, beglückt zu haben« (Der Spiegel Nr. 40/1985: 106), nicht zu ver-
102 Im veröffentlichten Werk, in Jenseits von Gut und Böse (1885), folgt als nun erweitertes Stendhal-Zitat (zu dessen Herkunft: Sommer 2016: 291 f.): »il faut être sec, clair, sans illusion« – um, anders als es dem Deutschen je gelingen wird, ein »bon philosophe« (V: 57) zu sein, will sagen: um ein unbestechlicher, psychologisch ambitionierter Aufklärer zu werden.
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gessen: dessen Mätressen und Söldnern die Ausbreitung der Syphilis in Italien zu danken ist, bis hin nach Rom, damals die »Welthauptstadt der Prostitution« (Angenendt 2015: 167 f.)., also kein einschlägig sicherer Ort mehr, nachdem Karl VIII. und seine Soldateska in jene Stadt eingezogen waren, in welcher »der lasterhafte Papst Alexander VI. und seine ebenso schöne wie liederliche Tochter Lucrezia Borgia eine keineswegs gottesfürchtige Herrschaft ausübten. 30.000 Liebesdienerinnen, darunter 14.000 wegen ihrer Schönheit hochgeschätzte Freudenmädchen gingen damals in der Heiligen Stadt ihren Gewerbe nach.« (Der Spiegel Nr. 40/1985: 110) Ob nun ganz genauso oder jedenfalls doch im Rückblick auf die hier mutmaßlich genutzten Quellen (Bloch 1901: 138 ff.; Bloch/Loewenstein 1925: 27 ff.) zumindest doch so ähnlich 103, auffällig bleibt: Die Darstellung des Basler Nietzsche-Kollegen Jacob Burckhardt in seinem Standardwerk Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) ist vergleichsweise zurückhaltend in Fragen wie diesen. Zwar gibt es einen Abschnitt über Das Papsttum und seine Gefahren, aber von der eigentlichen Gefahr, der Syphilis, wird geschwiegen, in diesem Buch, aber auch in den einschlägigen Abschnitten 104 in Stendhals – in Nietzsches Bibliothek (seit 1879; vgl. Campioni et al. 2003: 575) befindlichen – Band Promenades dans Rome (1853; dt.: Wanderungen in Rom), schließlich in Basel, aber auch in jenen Kreisen, in denen man sich wenig später gefallen wird in der Diskussion der Ursachen für Nietzsches geistigen Zusammenbruch im Januar 1889. Geschwiegen wird des Weiteren über die Folgen der »spanischen« oder, je nach Bedarf, »französischen« Krankheit, die speziell in Italien um 1500 spektakulär sind und auch den Klerus betreffen, insonderheit Papst Alexander VI. (1431–1503) aus dem Geschlecht der Borgia – mutmaßlich ein Syphilitiker 105 wie sein unehelicher Sohn Cesare Borgia 103 »In der Ewigen Stadt gab es 1542 schon 45.000 Dirnen«, schrieb beispielsweise 1892 auch Oskar Panzizza (1992: 196 f.), was in der Tat etwas arg hoch gegriffen zu sein scheint angesichts – so Volker Reinhardt, pers. Mitteilung vom März 2018 – 50.000 Einwohnern. 104 So heißt es über Lucrezia Borgia beispielsweise lediglich: »[S]ie hatte einige galante Abenteuer, die schwer wiederzugeben sind« (Stendhal 1853: 546) – eine Zurückhaltung, die sich wohl weit weniger mit Verklemmtheit denn mit Kalkül erklärt: Dem Renaissancefreund Stendhal konnte nicht daran gelegen sein, entrüstete Renaissancegegner zu munitionieren – und verherrlichte eben deswegen wohl auch, wie schon Jochen Schmidt mutmaßte, »in den Chronique italiennes […] die heroisch-verbrecherischen Akte der italienischen Renaissance« (Schmidt 1985: 70). 105 Volker Reinhardt schrieb dem Verf. zwar am 13. 10. 2017: Alexander VI. »erfreute
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(1475–1507) 106, aber auch seine Nachfolger Papst Julius II. (1443– 1513) 107 sowie Papst Leo X. (1475–1521) 108. Lässt man die Syphilitiker im Lager der Papst-Kritiker außer Betracht – etwa Erasmus von Rotterdam (1466/67/69–1536) 109 oder Ulrich von Hutten (1488– 1523) 110, die zu erwähnen Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) in seinem Versepos Huttens letzte Tage (1871) offenbar peinlich war (vgl. Schonlau 2005: 95 f.) und jedenfalls nicht in das um den frühen Tod des Vaters kreisende selbsttherapeutische Motiv seines Schrifftums passte (vgl. Niederland 1968/69: 130 f.) –, ist einigermaßen das Personal bezeichnet, das Luther bei seinem 1520er Wüten gegen das Papsttum auf dem Schirm hatte und auf das hin sein späteres Wort gegenüber Papst Leo X. Sinn macht, seine Kirche erscheine ihm als »allerschamlosestes Bordell.« (zit. n. Köhler 2016: 243) Insbesondere dieses Urteil wirft die Frage auf, ob Luthers Problem wirklich in dem Umstand gründet, kein »Alleinstellungsmerkmal« (Türcke 2016a: 21) im Blick etwa auf den ihm zeitlich vorhersich bis ins hohe Alter von über 70 bester Gesundheit und stirbt im August 1503 mit fast hundertprozentiger Sicherheit an Malaria, der römischen Sommer-Seuche schlechthin.« In der einschlägigen Biographie (Reinhardt 2005) lautet es ähnlich, ebenso in der des – zeitgleich erkrankten – Cesare Borgia von Sarah Bradford (1976: 284 ff.), so dass der Pathologe Hans Bankl eine »bakterielle Lebensmittelvergiftung« beider nicht ausschließen wollte, gleichwohl aber daran festhielt: »Vater und Sohn litten an der Syphilis.« (Bankl 21992: 240) 106 Zu Cesare heißt es des Weiteren bei Sarah Bradford, er habe sich die Syphilis 1497 zugezogen, aber es sei nicht ausgeschlossen, »daß ihn der heftige Anfall tertiärer Malaria im August 1503 endgültig von der Syphilis heilte« (Bradford 1976: 361). 107 Von Luther (1982, Bd. I: 153) »Blutsäufer« geheißen, damit möglicherweise Papst Urbans VIII. (1568–1644) Replik »verabscheuungswertes Ungeheuer« (Rosenberg 79–821935: 626) stimulierend. Aktuell – anders als noch bei Ernst Bäumler (1976: 62) oder Hans Bankl (21992: 241) – wird er zumeist nicht als Syphilitiker in Betracht gezogen, ersatzweise finden sich Attribute wie: »trug in Rom den Beinamen ›der Schreckliche‹.« (Köhler 2016: 97) 108 Zur Todesursache schreibt Volker Reinhardt dem Verf. am 13. 10. 2017: »Leo X. war nach allen Quellen sexuell desinteressiert und stirbt im Dezember 1521 völlig überraschend, nach Lage der Dinge wohl am ehesten an einer Lungenentzündung.« Hinweise auf eine Syphilisdiagnose (vgl. Bäumler 1976: 62; Bankl 21992: 241) bleiben hier sowie andernorts (vgl. Reinhardt 1998: 105, 108) unerwähnt. 109 Einzelheiten bei Ernst Bäumler, darunter die eindeutigen anatomischen Befunde nach einer Graböffnung 1928 sowie ein Spottgedicht des sich als Syphilisbekämpfers verstehenden und um seine Erkrankung offenbar nicht ahnenden Erasmus auf Reichsritter von Hutten (Bäumler 1976: 31 ff.), dessen Syphilis seit 1968, gleichfalls nach einer Graböffnung, außer Frage steht (vgl. Bankl 21992: 243). 110 1519 beschrieb er Krankheitsymptome und Therapieansätze, darunter die Quecksilber-Kur sowie Symptome der Quecksilber-Vergiftung. (vgl. Fröschen 1999: 26 f.)
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Über die Syphilis ausgewählter Renaissance-Päpste
laufenden, auf dem Scheiterhaufen endenden Ketzer und Reformator Jan Hus (1369–1415) reklamieren zu können. Näher liegt möglicherweise der Vergleich mit Girolamo Savonarola (1452–1498), dem Bußprediger und Stadtreformator von Florenz. Nietzsche jedenfalls war entschieden dieser Meinung, nahm Hus also nur am Rande wahr, im Unterschied zum gleichfalls die päpstliche Unbill (diesmal jene Alexanders VI.) auf sich ziehenden und unter dem Beil des Henkers endenden Savonarola. Der sterben musste gleichsam als Strafe dafür – so Nietzsches Bruder im Geiste und (s. Syphilis) im Leiden, Oskar Panizza (1853–1921) –, von Florenz aus »auf sein [des syphilitischen Papstes; d. Verf.] Lasterleben Tag für Tag aufmerksam« (Panizza 1895: 65) gemacht zu haben. Insoweit überrascht Nietzsches Savonarola-Kritik: Ohne damit sagen zu wollen, die Aktion des Florentiners rechtfertige die Reaktion des Römers, tadelte er Savonarola doch immerhin dafür – wie Josef Nolte (1998) meinte und in seinem Sog Edith Düsing (2006: 178) wiederholte: aus psychologischen Gründen 111 –, die Florentiner mit bloßer Rhetorik (»Feuer im Leibe, Schnee auf dem Haupte und den Mund voller schwarzer Dämpfe wie der Aetna«; IX: 404) statt mit Gründen als Buße für die Sünden der Renaissance-Päpste in Rom zu kulturvernichtenden »Opferbränden« angestiftet und den auf Goethe zurückgehenden Wahlspruch »memento vivere« (I: 305) vergessen gemacht zu haben, mehr als dies: Für Nietzsche schien Salvonara, im Nachgang wohl zur Lektüre von Jules Barbey d’Aurevillys (vgl. Campioni 2009: 201 ff.), vor allem »Fanatiker« wie Luther und damit »Gegensatz-Typus des starken, des f r e i gewordnen Geistes« (VI: 237), deutlicher: »Savonarolas Urtheil über Florenz« als auch »Luthers Urteil über Rom« entstammten nach Nietzsche dem »Auge der MoralFanatiker«, bar jenes »Quantum z u g e s t a n d e n e r Immoralität«, ohne welche es nicht möglich sei, die »Überlegenheit der Cultur gegen die Unkultur« (XII: 560), sprich: der Renaissance gegen das Mittelalter geltend zu machen. Campioni erinnerte in diesem Zusammenhang an das folgende Argument Barbey d’Aurevillys:
111 »Nolte deutet zu Recht Nietzsches Antipathie gegen den Bußprediger Savonarola, die heftige Affekte verrät, als seine negative unbewußte Selbsteinlassung und Selbstbefeindung in jener prophetisch wilden Gestalt.« (Düsing 2006: 178) Da indes weder hier noch bei Nolte Gründe für diese Deutung benannt werden, sind wir der Notwendigkeit enthoben, Gegengründe anzuführen.
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III · Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen
»Die katholische Kirche […] ist die Kirche der Renaissance, der großen sinnenfrohen und gelegentlich unzüchtigen humanistischen Päpste des 15. und 16. Jahrhunderts, denen […] nichts Menschliches fremd war und die alle Triebe […] mit offenen Armen aufnahmen! Weit entfernt von den kleinen Tugenden und schwachen Lastern unserer dekadenten, erschöpften Zeit! Wer wird uns einen Cesare Borgia wiedergeben, eines Papstes Sohn, der seinen Bruder mordete und mit seiner Schwester Handel trieb, das schönste Beispiel männlicher Energie, das die christlichen Jahrhunderte uns überliefert haben […]?« (zit. n. Campioni 2009: 201)
Hinzuzurechnen ist noch dasjenige, was der Barbey-Leser (s. III/5) Nietzsche explizit machte für Luther als »p s y c h o l o g i s c h e n Typus« und ins Generelle führte mittels der Definition: »Die Reformation: Eine der verlogensten Eruptionen von gemeinen Instinkten«, erläutert durch: »[M]an will einmal wieder Herr sein, rauben, niederwerfen, verfluchen, eingerechnet daß die Sinne ihre Rechnung finden wollen: vor Allem, man sieht lüstern nach dem ungeheuren Reichtthum der Kirche.« (XII: 271)
Dies nun ist eine ganz neue, ganz respektlose Sicht auf die Reformation als eine Art Aufstand der ›Menschen des Ressentiment‹, getragen von einem kritischen Blick auf deren Motive und Hintergründe – ein Blick, der sich durch die zum Himmel schreiende römische Dekadenz nicht irritieren lässt, mehr als dies: Ein Blick, der mittels der Rede von der ›zugestandenen‹ und also auch ›zuzugestehenden‹ Immoralität einen allerersten Fingerzeig dahingehend gibt, was Nietzsche den Renaissance-Päpsten nachzusehen bereit scheint, im Unterschied zu Savonarola und Luther. Freilich: Stand nicht auch Nietzsche im Interesse dieses Theorieprogramms unter dem Gebot, das eigentlich Dekadente am Renaissance-Papsttum nicht zu verschweigen? So wie dies Oskar Panizza tat, als er Gefängnis riskierte – und auch bekam – für seine gotteslästerliche Groteske Das Liebeskonzil (1894) über die RenaissancePapst-Syphilis? Schauen wir uns Tendenz und Absicht dieses Stückes einmal etwas genauer an, unter eben dieser Leitfrage – oder eben jener:
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Über Oskar Panizzas Nietzsche-Überbietungsgeste
5. Über Oskar Panizzas Nietzsche-Überbietungsgeste in seiner Anti-Syphilis-Groteske Das Liebeskonzil (1894) Über die Tendenz von Oskar Panizzas Liebeskonzil ist schon genug gesagt, wenn man bedenkt, dass es der Autor dem Andenken des Syphilitikers Ulrich von Hutten widmete und als Motto das HuttenZitat (aus: Von den Frantzosen oder blatteren [1519]) fungiert: »Es ist got gefellig gewesen in unsern trage kranckheiten zu senden […] die unsern vorfaren unbekant seint gewesen.« (zit. n. Panizza 1895: 3)
In Übersetzung geredet: Panizza fingierte eine an Luther (1530) erinnernde Konstellation der Syphilis als Gottesstrafe, mit Gott Vater, Christus, Maria und dem Teufel, in welcher eine derartige Krankheit, eben die Syphilis, kreiert und mit des Teufels Hilfe als Gottesstrafe unters Christenvolk, gleichsam ganz oben, beim Papst, einsteigend, gebracht wird. Panizzas Lohn, wie angedeutet: eine selbst für damalige Verhältnisse brutal harte einjährige Haftstrafe wegen »Vergehen gegen die Religion« (zit. n. Schonlau 2005: 246) – und dies, wo er sich doch kaum eines anderen Vergehens schuldig gemacht hatte als der des künstlerischen Umschriebs des realen gotteslästerlichen Tuns in Rom um 1500. Dies schien auch Michel Foucault zu viel, der Panizza wegen Ein skandalöser Fall (1893) – der Nachdichtung der Geschichte einer Hermaphroditin (zum Kontext: Paulick 2018: 298 ff.) – lobte, ihn ansonsten, nicht unzutreffend, dahingehend charakterisierend, dass sich bei ihm »ein aggressiver Positivismus auf bizarre Weise mit einem Verfolgungswahn verband, in dessen Mittelpunkt Wilhelm II. stand.« (Foucault 1980: 65) Gewiss: Es gibt einige von Volker Reinhardt (2005: 76 ff.) aufgelistete gute Gründe, der von Panizza angeführten Quelle zu misstrauen, also den Überlieferungen des päpstlichen Zeremonienmeisters Johannes Burkhart (um 1450–1506), die erstmals dreihundert Jahre später gedruckt wurden, nicht nach dem Original übrigens. Auch wirkt zumindest eine – besonders deftige – Episode wie abgeschrieben aus Giovanni Boccacios (1313–1375) Decameron. (vgl. Monaldi & Sorti 2008: 434 ff.) Aber es gibt auch einige gute Gründe, die Quelle für glaubwürdig zu halten, etwa Ludwig Geigers Charakterisierung der Person Burkharts (bei ihm: Burcardus), dem zwar die »Freude am Trunk« nicht fremd gewesen sei, gegen dessen PapstTagebuch aber kaum, was dessen Glaubwürdigkeit angeht, »Vorwürfe erhoben worden sind, die eine ernstliche Widerlegung verdienen.« 339 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
III · Nietzsche und die Syphilis (-Nichtthematisierung) der Reinen
(Geiger 1913: 84 f.) Dies gilt nolens volens auch für das von Burkhart erstellte Protokoll des legendären ›Kastanienbanketts‹ vom 31. Oktober 1501, auf welches Volker Reinhardts ohne Namensnennung vorgetragenes Spottwort abzuzielen scheint: »Wenn zum Beispiel ein Prälat über Orgien im Vatikan schreibt, von denen er nach eigenem Eingeständnis zu seinem Bedauern ausgeschlossen war, so liegt der Verdacht nahe, dass seine lüstern Phantasie mit ihm durchgeht und zudem ein gleichgestimmtes Publikum mit den neuesten Sensationsnachrichten aus dem römischen Sündenpfuhl versorgt werden sollte.« (Reinhardt 2011: 9)
Mit Verlaub und gesetzt, Reinhardt meine hier mit ›Prälat‹ Burkhart, Bischof ab 1503, und mit ›Orgien im Vatikan‹ das ›Kastanienbankett‹ : Wessen Fantasie – gemeint ist jetzt nicht die ›lüsterne‹ – hier durchgeht, scheint mir durchaus nicht ausgemacht. So liegen beispielsweise über jenes Bankett auch Zeugnisse Dritter vor, etwa der von Sarah Bradford (1976: 205 f.) in Erinnerung gerufenene Bericht des florentinischen Sondergesandten oder das von Panizza 1895 zwecks Verteidigung vor Gericht angeführte Zeugnis des venezianischen Gesandten über ein vergleichbares Vorkommnis von Ende 1502 (vgl. Panizza 1895: 66). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang des Weiteren, dass Reinhardt, dem der (Justiz-) Skandal um Panizza nicht eine Zeile wert ist, den nämlichen Passus (allerdings in anderer Übersetzung) anführt, den Panizza 1895 (nach Burkhart 1501) vor Gericht zu seiner Entlastung vortrug und der auch durch Geiger (nach der von ihm durchgesehenen Übersetzung Theodor Poppes; Geiger 1913: 88) bekannt wurde, nämlich den folgenden: »Am Abend [des 31. Oktober 1501; d. Verf.] speisten zusammen mit dem Herzog von Valence […] fünfzig ehrenhafte Prostituierte, Kurtisanen genannt. Diese tanzten nach dem Bankett mit den Dienern und mit anderen, die zugegen waren, zuerst in ihren Kleidern, dann nackt. Und nach dem Essen wurden die gewöhnlichen Tischleuchter mit brennenden Kerzen auf den Boden gestellt; vor die Leuchter wurden dann Kastanien geworfen, welche die Kurtisanen auf allen Vieren nackt zwischen den Leuchtern umher kriechend auflasen. Dabei sahen ihnen der Papst, der Herzog und seine Schwester Lucrezia zu. Darauf wurden Ehrenpreise ausgelobt […] für diejenigen, die am häufigsten mit den Kurtisanen fleischlich zu verkehren vermochten. Und so geschah es auch, und zwar öffentlich, worauf dem Urteil der Anwesenden gemäß die Geschenke an die verteilt wurden, die diesen Verkehr am häufigsten vollzogen hatten.« (zit. n. Reinhardt 2005: 210; ähnlich: Panizza 1895: 66; Geiger 1913: 315)
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Über Oskar Panizzas Nietzsche-Überbietungsgeste
Wie angedeutet: Die von Panizza für sein Liebeskonzil gewählte respektive künstlerisch gestaltete Variante war im Vergleich zu dieser Vorlage harmlos. Für den Delinquenten brachte dies indes letztlich keinen Vorteil, weil – so Günther Mahal in differenzierter Analyse des 1895er Prozesses und anders als Reinhardt nach ihm und ähnlich wie Geiger vor ihm an Panizzas Quelle Burkhardt nicht zweifelnd – »gegen derlei geschichtliche Verbürgtheiten kein juristisches Kräutlein gewachsen war.« (Mahal 1993: 255) Panizza wurde denn auch anderes zum Verhängnis, etwa die von ihm »mit provokativer Aggressivität verletzte Liebe der katholischen Gläubigen zur Trinität und vor allem zur Gottesmutter Maria« (ebd.: 241), nicht zu vergessen, zumal wir damit wieder bei Nietzsche sind: sein demonstratives Bekenntnis vor dem königlichen Landgericht München I am 30. April 1895 zum kurz zuvor (im November 1894) erstmals erschienenen 112 Antichrist bzw. zu den hier nachlesbaren und von Panizza seiner Verteidigungsrede als Motto vorangestellten Zeilen: »Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht!« (VI: 194; zit. n. Panizza 1895: 63)
Dass Panizza dieses Thema auch nach der Haftstrafe nicht losließ, zeigt sein so harmlos daherkommender Aufsatz Vreneli’s Gärtli. Eine Zürcher Begebenheit (1898). Der Sache nach weist es vorweg auf Richard Dehmels (1863–1920) Skandalgedicht Venus Consolatrix (1895) – dessentwegen er gleichfalls gerichtlich belangt wurde –, aber auch auf das Gedicht Venus Pandemos aus der Folge Die Verwandlungen der Venus (1907), nur dass Dehmel hier die einschlägigen Gefahren für den Freier in einem großstädtischen Bordell beleuchtet (vgl. Schonlau 2005: 263 ff.), wie insbesondere die Schlusszeilen verdeutlichen: »Die rote Thürgardine that sich zu, / der kalte Zug schnitt wieder durch die Hitze, / doch fluchte keiner; und mir schauderte. / Ich blieb für mich – ich kannte sie auf einmal: Es war die Liebesseuche und der Tod.« (Dehmel 2013: 127)
112 Allerdings in von der Schwester bereinigter Gestalt, also etwa ohne den Untertitel Fluch auf das Christenthum und ohne das Gesetz wider das Christenthum – eine Entscheidung, die erkennbar dem Ungeist geschuldet ist, der sich im Gerichtsurteil gegen Panizza ausspricht und die, was die zuletzt genannte Auslassung angeht, erst gut achtzig Jahre später durch die Colli/Montinari-Edition korrigiert wurde.
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Panizza hingegen gibt der Fantasie eines auf Schweizer Boden zu realisierenden und von preußischer Kontrolle befreiten kleinen Bordells Raum, fern vom »erfror’nen Christentum mit seinen messing’nen Dogmen« (Panizza 1898: 182), fern auch vom »Pferde-Gott […] mit seinen Kutscher-Fingern« (ebd.: 186), also Wilhelm II. 113 – aber eben leider nicht frei von der venerischen Krankheit, die auch jenes allerliebste Vrenli, die Venus, in sich trägt mit ihrem Gewand, behängt mit »Teufels-Unrat« (ebd.: 189). Der Schluss ist denn auch unmissverständlich: »Die Ve n u s selbst war nicht zu sehen, sie war zu rasch der Sonne nachgefolgt. Eine gespenstische Helle zeigte sich über dem Westen, wie die Leichenbläße des hereinbrechenden Todes.« (ebd.: 191)
Es gibt kein richtiges Leben im falschen, könnte man hier (ad Panizza) wie dort (ad Dehmel), mit Adorno, variieren, spaßeshalber. Ernster zu nehmen ist schon Panizzas Wilhelm-II.-Abscheu sowie die (auch) in ihr sich bekundende Panizza/Nietzsche-Nähe. Sie ist frappierend auch mit Blick auf Panizzas Mutter, eine »militante Protestantin, die nach dam frühen Tod ihres Mannes Oskar […] mit unerbitterlicher Härte ihren Glauben aufzwang« (Bauer in: Panizza 2003: 11), allerdings vergeblich. Auch die Leidensgeschichte verbindet beide. So verstarb Panizza nach sechzehnjährigem Siechtum, wohl als Folge einer Syphilis, die er sich vermutlich 1878 in Italien zugezogen haben will, »wie er später wiederholt behauptete« – so Michael Bauer (1984: 95), Panizzas einziger Biograph, allerdings mit einiger Skepsis. 114 Der Krankheitsverlauf wurde durch die mit Verbitterung durchlittene einjährige Haftstrafe fraglos beschleunigt. Wichtiger ist eine andere Frage: Ist nicht dasjenige, was Panizza in seinem Liebeskonzil in aller Unerschrockenheit »als diabolische Rache eines degenerierten katholischen Himmels für die religiöse und sexuelle Hemmungslosigkeit der Menschheit« (Schonlau 2005:
113 Eine Variante zu diesem Passus bringt Panizzas Gedicht Heil, Kaiser, Dir –! (1899). Es beginnt mit der Frage »Wo bist du Deutschland?«, um zu enden mit: »Du Büffelherde, trotzig-ungelenke, / die durch die Wälder raset mit Gestank, / folgst heute einem einz’gen Stier zur Tränke. Und dieser eine Stier ist geisteskrank.« Kurt Tucholsky (GW 3: 122) entrang dieses Gedicht 1922 dem Vergessen, als Mahnung an unverbesserliche Monarchisten. 114 Sie rühren daher, dass Panizza 1895 angab, seine Behinderung rühre »von Geschlechtskrankheiten« – obwohl die Anomalie wohl eher Folge der unprofessionellen Behandlung nach einen Sturz (als Kind) von einem Hochrad ist. (vgl. Bauer 1984: 95)
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Über Oskar Panizzas Nietzsche-Überbietungsgeste
25) demaskierte und wessen sich im Lutherjahr 2017 merkwürdigerweise niemand erinnerte, nicht vergleichbar mit dem, was der Syphilitiker Nietzsche nur gut fünf Jahre vor Panizza (der sein Stück im Frühjahr 1893 zu Papier brachte) als das renaissancemäßig Vorbildhafte am damaligen Papsttum adeln wollte? Oder ging es Nietzsche lediglich darum, es unter dem Stichwort ›Vielfalt‹ gegen Luthers ›einfältigen‹ Einspruch zu verteidigen? Als – so die berühmte Stelle in Der Antichrist (= AC), bezogen auf die Vision, auch der Schlimmste aus dieser Sippe, der »Raubmensch« (V: 117) Cesare Borgia habe es zum Papst gebracht – »das Leben!«, gar als »Triumph des Lebens!«, als »das grosse Ja zu allen schönen, verwegenen Dingen!« (VI: 251)? Jenem aus der Sippe der Borgia also, der legendär wurde nicht zuletzt durch das Porträt, das Oscar Wilde ihm – und Gleichgesinnten, wie namentlich Joris-Carl Huysmans (1848–1907) mit Seitenblick auf dessen Roman A rebours (1884) (vgl. Schonlau 2005: 307 ff.) – insbesondere im elften Kapitel seines (Schauer-)Romans Das Bildnis des Dorian Gray (1891) setzte, in welchem er »in köstlichen Gewändern zu lieblichem Flötenklang die Sünden der Welt in stummem Schauspiel« (SW 1: 140) vor dem Auge des Lesers aufziehen ließ? Und dies ganz im Gegensatz zu der Cesare-Borgia-Bewertung seines Basler Idols Jacob Burkhardt und eher in Nachbereitung der RenaissanceBilanz des Syphilitikers Stendhal. Denn immerhin hatte Stendhal in Wanderungen in Rom (1853) im Anschluss an einige exkulpierende Argumente 115 resümiert: »Hält man sich den originellen Geist und die Tatsache der Italiener der Renaissance vor Augen […], so wird man wahrscheinlich zugeben, daß niemals etwas gleich Liebenswürdiges existiert hat.« (Stendhal 1853: 535)
Oder müssen wir Bedeutung und Funktion des eben zitierten Passus von AC (Nr. 61) etwas zurückstufen, etwa dahingehend, dass Nietzsche hier sagen will, auch seine spezifische Art des »freiwilligen Aufsuchens auch der verwünschten und verruchten Seiten des Daseins« (XIII: 492), in Versuchstext übersetzt: sein mutmaßlicher Weg ins Bordell im Sommer 1865 (oder 1866) möge doch bitte des höheren Sinnes nach nicht in Vergessenheit geraten!? 115 Hierzu gehören Hinweise derart, die »Sitten des Papstes« seien »nicht besser noch schlechter als die der anderen großen Herren seiner Zeit« gewesen und »seit dem Auftreten Luthers« habe »die Schicklichkeit alle fünfzig Jahre einen großen Schritt vorwärts gemacht« (Stendhal 1853: 555), also zu den Besonderheiten der Zeit nicht mehr angemessenen Maßstäben geführt.
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6. Des Antichrist 6 Paragraphen, gelesen als Nietzsches Antwort auf Luthers 95 Thesen Beinahe sieht es so aus wie zuletzt gefragt. Jedenfalls sprich einiges dafür, Nietzsches Lutherkritik über eben diesen einen Leisten zu schlagen: Die Reformation hat uns die Renaissance kaputt gemacht, sie hat den ›Bauern‹, den Spießer also, der sich an die Zehn Gebote hält und dabei insbesondere dem Ehebruch entsagt, in Stellung gebracht gegen denjenigen, der ›gefährlich‹ zu leben versteht, »als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf« (XIII: 73) – so wie auch Nietzsche gefährlich zu leben verstand und sich so, wie viele der Borgias, die Syphilis einhandelte. Freilich: Wäre dem so, dann wäre Nietzsches Aufstand gegen den ›Bauern‹ Luther ein Aufstand im Namen seines höchst eigenen Interesses, den eigenen, selbstverschuldeten Untergang, im Vorhinein zu adeln. Deutlicher: An ihm, jenem Untergang, den Preis zu markieren, den zu zahlen hat, wer sein Leben jenseits der Zehn Gebote einzurichten sucht und nicht länger als »Kind Gottes« fungieren will, sondern sich als »Kind der Zukunft« versteht und insofern eines »Philosophen der Zukunft« bedarf, sind ihm doch alle Vater- und Urväterländer abgebrannt, sei es wegen der vom Vater ererbten Syphilis – so ein Gedanke Nietzsches, wie ich andernorts (vgl. Niemeyer 2011: 88 ff.; 2017: 73 ff.) vermutet habe –, sei es nur wegen des Vaters oder jedenfalls doch vieler Väter Doppelmoral nach dem Motto von Nietzsche Spott aufs zehnte Gebot von 1867, als er 23 Jahre alt war und also noch wusste, wovon er redete: »In der Bibel steht geschrieben, ihr sollt euren Nächsten lieben, doch Ihr Gotteswortverächter, liebt nur eurer Nächsten Töchter.« (BAW 3: 268)
So, tatsächlich, könnte man Nietzsche verstehen, eingeschränkter: ihn in seiner Kritik an Luther verstehen – wäre da nicht die andere Bedeutung der Vokabel ›Vielfältiges‹ bei Nietzsche, das ›späte‹ Lob auf die »bezaubernde und entzückende H a l b b a r b a r e i […], in welche Europa durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist.« (V: 158) Auch dieser Nietzsche klingt ein wenig nach Renaissance à la Borgia. Er klingt aber sehr viel eher nach Vorwegnahme von San Francisco, Flower Power, Dresdner Neustadt, Leipzigs Conne Island und Kreuzberger Multikulti – und darin wie ein Gegenentwurf zu der ›Einfalt‹, mittels derer Luther das Deutsche pries. Sicherlich: Anfangs, 344 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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noch unter Wagnereinfluss, war Nietzsche begeistert über diese »deutsche Reformation« (I: 113). Damit – auch mit Nietzsches Lob auf die »Einheit des Stils in allen Lebensäußerungen eines [lies: des deutschen] Volkes« (I: 163) – aber hatte es sich spätestens mit dem Text von 1880, aus dem eben zitiert wurde (L’Ombra di Venezia) und der zugleich für Nietzsches Nietzsche steht (vgl. Niemeyer 2013: 18 ff.), also für den erstmals mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) herausbrechenden ›Freigeist‹-Nietzsche: demjenigen also, der um die Verbrechen und Unzulänglichkeiten der ›alten‹ Renaissance weiß und seine eigene, ›neue‹ Renaissance auf dem Wissen darum aufbauen will, garniert um den Programmsatz, dass nach dem Tod Gottes jeder seine eigene Tugend finden und begründen lernen muss. So betrachtet ist die ›neue‹ Renaissance Nietzsches eine selbstkritische, getragen von einem selbstreflexiv gewordenen, subtilen Wissen um den Menschen und dessen Triebhaftigkeit und Unbewusstes (fast à la Freud). 116 Sie ist des Weiteren ein dadurch freigesetzter Lobgesang auf das Leben und dessen ›Vielfalt‹ in einer Ordnung der Dinge ohne Gott; jenseits auch der ›Einfalt‹ der Bauern und Spießer und Protestanten sowie denselben zuarbeitenden anderen Philosophen, wie namentlich Kant. Jenseits auch derer, die Nietzsches diesem Kapitel als Motto vorangestellten Satz: »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens« (VI: 253) nicht verstanden haben. Deswegen noch mal, etwas deutlicher: So Nietzsche am 30. September 1888 als vierter Paragraph jenes insgesamt sieben Punkte umgreifenden Gesetzes – Zahlen, die zu memorieren sind, weil sie fast als Zeichen gelesen können für eine gottgefällige Bescheidenheit Nietzsches im Vergleich zu seinem Antipoden mit seinen 95 Thesen, die substantiell betrachtet kaum für mehr stehen als für »haarspalterische Einlassungen zu Fragen der äußerlichen und innerlichen Buß-Verwaltung« (Sloterdijk 2017: 57), die also, wie schon Nietzsche sah, sich vor allem durch »Geschwätzigkeit des Zornes« auszeichnen, wie »häufig bei Luther« (V: 451) beobachtbar. Dies gilt vom Ansatz her auch für Luthers drei Jahre später nachgereichte Streitschrift An den christlichen Adel deutscher Natio116 Edith Düsings Lesart des in Rede stehenden Satzes – Nietzsche erkläre sich mit ihm als »im Theoriemodell mit den Darwinisten einig« (Düsing 2016: 27) – ist abwegig und ignoriert den Umstand, dass Nietzsches Theoriemodell jener Jahre, wie gezeigt (s. II.1), als eine Art Psychoanalyse avant la lettre gelesen werden kann.
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nen (1520), die vielleicht besser, so mag Nietzsche gedacht haben, mit dem Titel Gesetz wider das Papsttum überschrieben worden wäre. Denn immerhin muss man ja bedenken, dass Luther beispielsweise, als Effekt seiner Kritik am Papsttum angeregt hatte: »Zum zwanzigsten sollen die Kapellen im Freien und die Feldkirchen bis auf den Grund zerstört werden« (AS I: 210)
– eine Redeweise, die in Nietzsches Satz aus seinem Gesetz wider das Christenthum nachzuwirken scheint: »Die fluchwürdige Stätte, auf der das Christenthum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden gleich gemacht werden.« (VI: 254)
Die Pointe: Nietzsche machte Luther in Gestalt seines Gesetzes wider das Christenthum zu seinem allerletzten Vorwurf, es nur zu einem Gesetz wider das Papsttum, nicht zu einem wider das Christentum gebracht zu haben – in dessen Linie sexualwissenschaftliche Forschung ausgebaut und am Ende die Syphilis wirksam hätte bekämpft werden können, qua sexueller Aufklärung und Kondomen beispielsweise, auch durch Onanietoleranz, nicht allerdings durch wohlfeile Prostitutionsverbote oder die bürgerliche Doppelmoral unberührt lassende Keuschheitsgebote à la Luther. Stützend für diese Erwägung scheint mir Nietzsches 1885er Überlegung, für den Niedergang der Deutschen als »Rasse« im 16. Jahrhundert, nicht zuletzt infolge des Dreißigjährigen Krieges, käme auch eine »furchtbare Blutverderbniß« in Frage, infolge von Alkoholismus & Syphilis, wie zu studieren am »deutschen Adel« (XI: 455) – eine, wie mir scheinen will, nicht ganz zufällig ins Zentrum gerückte Gruppe, wenn man Luthers Titel An den christlichen Adel deutscher Nationen (1520) bedenkt. Denn dies erlaubt den Rückschluss, dass Nietzsches nun, 1885, wohl Luthers Untertitel Von des christlichen Standes Besserung am liebsten ersetzt hätte durch die Variante: Von des christlichen Standes Verschlechterung. Ganz anders gut fünfzehn Jahre später Wagners Schwiegersohn und Hitlers Idol, der völkische Nietzscheverächter Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) in seinem Rückblick auf Luther: »An den ›Adel deutscher Nation‹ wendet sich der deutsche Bauernsohn, und zwar, um ihn aufzurufen gegen den Fremden, nicht aber dieses oder jenes subtilen Dogmas wegen, sondern im Interesse der nationalen Unabhängigkeit und der Freiheit.« (Chamberlain 1899: 935)
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Wie hätte Nietzsche wohl diesem ebenso haltlosen wie schreibbegabten elf Jahre jüngeren NS- wie – ja, auch dies – AfD-Vorläufer geantwortet, der 1924 nach einer persönlichen Begegnung Hitler von einer »Zivilcourage« geprägt wähnte, die an Luther gemahne? (vgl. Köhler 1997: 248) Vielleicht hätte er wie folgt geantwortet – gesetzt, Nietzsche wäre gesund geblieben und wir schrieben so in etwa das Jahr 1902 und Nietzsche wüsste um Freud und hätte vor sich liegen, was ich eben aus seinen Nachgelassenen Fragmenten des Jahres 1885 angeführt habe: Die Kritik an Luther, mein lieber Chamberlain, hat mich, einen deutschen Pastorensohn, im Blick auf die von mir erst ins Licht gestellten dunklen Seiten seiner Papstkritik auf die Idee gebracht, allererst nicht gegen die Fremden um mich, sondern gegen das Fremde in mir aufzubegehren. Auf dass es – ich meinte natürlich das ›Es‹ – mich nicht länger zwingt, aus sexueller Not mein Glück bei ansteckenden Prostituierten zu suchen. Dazu ist selbstaufklärende Zucht à la Freud erfordert, damit das ›Es‹ mich nicht länger als unbegriffene Macht zu Unsinn anstiftet!
Eine Lesart wie diese ist in der Nietzscheszene eher ungewöhnlich beziehungsweise eher am Rande derselben zumindest in ersten Andeutungen zu notieren 117, ebenso wie der hier verfochtene Zusatz, Nietzsche habe unmittelbar davorgestanden, dass dahinter verborgene Theorieproblem grundlegend anzugehen: eben in Gestalt eines Gesetzes wider das Christentum in sechs (Haupt-) Punkten, die Nietzsche, als ›Der Antichrist‹ zeichnend, fraglos gerne an die Dorfkirche seines Vaters in Röcken b. Leipzig genagelt hätte. Um eventuell 1902, unter den oben genannten Bedingungen, nachzutragen: ›Nein, mein lieber Luther, der Mensch wird nicht »durch Glauben gerechtfertigt« (AS II: 296), sondern nur durch den qua Selbsterkenntnis zurückgewonnen Glauben an sich selbst.‹
117 Etwa bei Joachim Köhler, der dem biographischen Zugang in der Nietzscheforschung einen wichtigen, allerdings mehrheitlich verschmähten Impuls gab, inzwischen aber sich dessen offenbar nicht mehr erinnert. Dies zeigen die nichtssagenden Äußerungen zu Nietzsche in seiner Luther-Biographie, in welcher er den Satz anbietet: »Wenn im 20. Jahrhundert der Tiefenpsychologe Sigmund Freud empfahl, ›Wo Es war, soll Ich werden‹, forderte Luther mit Paulus, ›Wo Ich war, soll Christus werden‹.« (Köhler 2016: 123) Schade nur – und dies meine ich mit ›nichtssagend‹ –, dass Köhler hier nicht erkennt, wie gut sich an dieser Stelle der Name ›Nietzsche‹ (statt ›Freud‹) gemacht hätte.
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Damit sind wir bereit für einen Rückblick auf den Anfang und damit auf Volker Reinhardt: Nein, könnten wir ihm jetzt antworten, Nietzsche war weit mehr als ein Voyeur im Blick auf die Untaten der Borgias, ihm ging es ohnehin weit weniger um Praxis denn um Theorie – beispielsweise um eine Theorie über die Borgias sowie die Dekadenz einiger Renaissance-Päpste. Wie, so könnte eine auf die Gegenwart ausgeweitete Fortentwicklung dieser Theorie vielleicht als Folgefrage gebären, konnte es dazu kommen, dass der Katholizismus heutzutage derart sexualverneinend ausschlägt, wohingegen das Papsttum zu Zeiten Luthers seinerzeit auf der Anklagebank saß eben wegen dekadenter ›Vielfalt‹ ? Eine Antwort ist vielleicht möglich, wenn man für die Renaissance-Päpste eine Sonderform reklamierte, die, substantiell und zeitübergreifend betrachtet, an der grundsätzlichen Leibfeindlichkeit beider Konfessionen als Grundzug nichts änderte. Deswegen eben Nietzsches Gesetz wider das Christenthum, dessen Ausarbeitung vielleicht einer – nicht nur sexuellen – Aufklärung hätte Vorschub leisten können, in deren Linie sich ein Bordellbesuch à la Nietzsche mit der Folge vielleicht hätte vermeiden lassen, weil der Mensch offen über seine Not, auch seine sexuelle, hätte reden können, anstatt sich an einer Unmöglichkeit zu versuchen: der einer Inthronisation seiner selbst als einen Quasi-Heiligen unter den Bedingungen eines von ihm nicht durchdrungenen Leiblichen. Ganz in diesem Sinne galt Nietzsches ganze Aufmerksamkeit einem »kommenden Zeitalter, welches wir d a s b u n t e nennen und das viele Experiment des Lebens machen soll.« (XI: 48 f.) Sätze wie diese gehören zu einem Forschungsprogramm in theoriepolitischer Absicht, das nicht etwa – wie ein zeitgenössischer Nietzsche-Kritiker meinte und vermutlich jetzt auch Volker Reinhardt vortragen würde – auf »Abschaffung aller anständigen Gefühle« geht, sondern das für eine historische gerichtete (neue) Aufklärung zeugt, die die Zeit der Renaissance als »die letzte grosse Zeit« sehen lehrt, insofern die Tugenden damals jedenfalls nicht, wie Nietzsche seinen Zeitgenossen zu bedenken gab, »bedingt« gewesen seien, »h e r a u s g e f o r d e r t durch unsre Schwäche.« (VI: 138) Insoweit ging es Nietzsche auch nicht um die Wiederbegründung der Renaissance, sondern um die Reflexion auf eine Tugendlehre, die sich den Geboten der Zeit zu entziehen weiß.
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Fazit
Fazit Diesen, wie hier zuzugestehen ist, fast zwanzig Jahre alten Satz (vgl. Niemeyer 1998: 303 f.) ergänze ich noch um eine einzige neue Erkenntnis als Extrakt des Vorhergehenden: Luther war Nietzsche für sein Projekt einer Tugendlehre, die sich den Geboten der Zeit zu entziehen weiß und aus der Kraft des sich wieder in Verfügung nehmenden Subjekts resultiert, ganz und gar entbehrlich, aus im Vorhergehenden dargelegten Gründen. Sie seien abschließend dahingehend zusammengefasst, dass sich Nietzsche mit seinen im Vorhergehenden dargelegten Argumenten als ein seiner Zeit weit vorauseilender Luther-, Christentums- wie Reformationskritiker erweist. Auffällig ist dabei die Fortschrittlichkeit Nietzsches in sozialpädagogischen Fragen sowie in solchen der Sexualität – eine Fortschrittlichkeit, die mittels des Stichworts ›Syphilis‹ biographisch aufklärbar scheint.
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Kapitel IV Nietzsche und die Syphilis (-Thematisierung) der »Anderen« »Die eine Art Mensch will nichts riskiren, die andre will riskiren. Sind wir Anderen Verächter des Lebens?« (Nietzsche, Frühjahr 1888)
Nietzsches Fortschrittlichkeit, von der eben die Rede war, erweist sich auch anhand seines Umgangs mit den ›Anderen‹ in dem mit dem Motto aufgerufenen Sinn. Dieser ist, wie hier schon verraten werden darf und insbesondere im Maupassant-Abschnitt deutlicher werden wird, durch das Thema – mit Nietzsche geredet – »hübsche Weiblein« gesetzt, deutlicher: durch die Gefahren für das eigene »Leben« und selbst, »was schlimmer ist«, die eigene »Gesundheit« (XIII: 462), die, so Nietzsche auf dem Stand des Frühjahrs 1888, der Verkehr mit ihnen haben kann. Dass dabei nichts entgleisen könne, war Nietzsches Überzeugung, denn: »Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken, kann zur großen Vernunft des Lebens auch bei reich ausgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt in Sonderheit von den K ü n s t l e r n , er gehört zu deren bester Lebens-Weisheit. Völlig unverdächtige Stimmen sind schon in diesem Sinne laut geworden: ich nenne Stendhal, Th. Gautier, auch Flaubert.« (XIII: 600)
Unverdächtig? Wir werden sehen – und vorerst nur konstatieren, dass diese Überlegung insgesamt, kaum überraschend bei Nietzsche, alles andere als gender correct ist, ganz der patriarchalen Mentalität folgend, die ›das‹ »Weiblein« immer nur als infizierendes sieht und kaum einmal als von Männern Infizierte. Entsprechend fragwürdig ist das Männer-Kollektiv ›Wir Anderen‹, das, abzüglich dieser heteronormativen Komponente, ganz gut den von Albert Camus beschriebenen L’homme revolté zugerechnet werden könnte 118, insonderheit einer Unterform desselben, die sich in Gestalt der Kapitelüberschrift 118 Und damit, wie Annemarie Pieper (1991) überzeugend gezeigt hat, dem Übermenschen, insofern auch für diesen gilt (vgl. Niemeyer 2019: 200 ff.), was Diana Loh-
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IV · Nietzsche und die Syphilis (-Thematisierung) der »Anderen«
Die Revolte der Dandys (Camus 1951: 41) andeutet. Denken könnte man aber auch an einen Gegenentwurf zum von Michel Foucault eingebrachten Kollektiv »Wir Viktorianer«, für welches gilt: »Im Wappen unserer Sexualität steht zuchtvoll, stumm und scheinheilig die spröde Königin.« (Foucault 1977: 11) Kurz: Was Foucault in der Figur der die viktorianische Epoche der Sexualmoral prägenden Queen Victoria (1819–1901) bündelt und anprangert, findet in Nietzsches Kollektiv ›Wir Anderen‹ seine an Befreiung orientierte Alternative aufgezeigt, gleichsam als Existentialismus avant la lettre. Dabei muss man beachten: Dieses Kollektiv orientiert auf hehre Ziele, die im rein Fleischlichen nicht aufgehen. Dies ergibt sich schon aus dessen Vorgeschichte, etwa aus Nietzsches immer wieder neu aufgeladener Idee, er wolle einem »Ordensbund höherer Menschen« näher kommen, »welche gleich mir nicht nur jenseits der politischen und religiösen Glaubenslehren zu leben wissen, sondern auch die Moral überwunden haben.« (XI: 195) Ziel dieses Nietzsche der frühen 1880er Jahre ist es, einem ›bunten‹ Zeitalter zuzuarbeiten, »das viele Experiment des Lebens machen soll.« (XI: 48) Die Vokabel »bunt« orientiert auf den kulturellen Bereich, mit positiver Konnotation und Offenheit für das Fremde und Andere, meint also dasjenige, was wir heutzutage Diversität nennen. Weit weg ist hier der frühe Nietzsche aus der Zeit der Geburt der Tragödie, für den nur hochwertig ist, was James Brewer, Renate Holub, Robert Holub, Fred Sommer und Joel Truman als »Nietzsches Grundansatz« an sich meinten behaupten zu dürfen: nämlich »jene Kunst, die das Gefühl eines absoluten Höhepunkts menschlicher Schöpferkraft vermittelt.« (Brewer et al. 1978: 11) Zentrale Codes dieser nach Werner Ross (1986: 40) um 1830 anhebenden Szene finden Eingang in Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883–85), darunter das Ideal der Probeehe bei gleichzeitigem Spott auf »das erbärmliche Behagen zu Zweien«, dies jedenfalls für jene, die der Wille eint, »das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen« (IV: 90 f.) Als Code gilt auch, gleichfalls durch Nietzsche prominent geworden, der »Begriff der ›gaya scienza‹« (VI: 333) und der dazugehörende Typus des Troubador (vgl. Reschke 2011), der sich im Anhang zur Neuausgabe von Die fröhliche Wissenschaft Ausdruck verschafft, in den Liedern des Prinzen Vogelfrei, insonderheit
wasser nur jenem zugesteht: es geht um »ein von jedem Menschen erreichbares Ideal.« (Lohwasser 2016: 224)
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im Tanzlied An den Mistral in Gestalt der durch eine legendäre Lesung Klaus Klinskis bekannt gewordenen Zeilen: »Wirbeln wir den Staub der Strassen Allen Kranken in die Nasen, Scheuchen wir die Kranken-Brut! Lösen wir die ganze Küste Von dem Odem dürrer Brüste, Von den Augen ohne Muth! Jagen wir die Himmels-Trüber, Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber, Hellen wir das Himmelreich! Brausen wir … oh aller freien Geister Geist, mit dir zu Zweien Braust mein Glück dem Sturme gleich.« (III: 651)
Gewiss: Wer sich, wie Stravros Patoussis, herzhaft und mit Seitenblick auf Günther Schulte sowie Joachim Köhler verwahrt gegen den »Biographismus« (Patoussis 2017: 182) und also notwendig erst gar nicht auf die Idee kommen kann, Nietzsche jener in den vorgenannten Versen erwähnten (und zu verscheuchenden) »Kranken-Brut« zuzurechnen, wird das hier Vorgelegte zum »mit Abstand brisantesten des Gedichts« (ebd.: 195) erklären müssen, um es mit pejorativen Vokabeln wie »Entpersonalisierung, gar Enthumanisierung« (ebd.: 196) ad acta zu legen. Allen anderen hingegen, denen es zumal nach dem Tag X um Verstehen Nietzsches und nicht um moralisierendes Aburteilen geht, werden beim Lesen von An den Mistral wohl ein Gefühl entwickeln für Nietzsches Zerrissenheit zwischen Verzweiflung und Genesungswunsch. In dieser Zerrissenheit war Nietzsche nicht allein, wie leichthin gezeigt werden könnte am Exempel des schließlich gleichfalls seinerseits der Syphilis (und dem Trunk) erlegenen Autors der legendären Szenen aus dem Leben der Bohème (1847), Henry Murger (1822–1861). Der noch als Mitzwanziger, fern der Ahnung um sein Schicksal, unbeschwert zu »jenen Kindern der ›fröhlichen Wissenschaft‹, jenen melodienreichen Vagabunden der lieblichen Touraine« (Murger 1847: 7) zurechnete, deren Credo er wie folgt beschwor: »Es sind ewig Begeisterte, von ihren Idealen Erfüllte […], deren redliches Herz angesichts alles Schönen laut zu schlagen beginnt, ohne viel nach Meister und Schule zu fragen.« (ebd.: 12)
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So weit das Ideal, das noch über sechzig Jahre später von einer der Leitfiguren der Schwabinger Boheme um die Nietzscheverehrerin Franziska Gräfin zu Reventlow (1871–1918), Erich Mühsam (1878– 1934), beschwört, etwa in seinem famosen kleinen Text Bohême (1906) für Karl Kraus’ (1874–1936) Fackel. Der letzte Satz ist der entscheidende: »Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohême, die einer neuen Kultur den Weg weist.« (Mühsam 1906: 10)
Deutlich klingt hier Nietzsches Lebensphilosophie nach, in Sonderheit sein zu dieser Zeit bald dreißig Jahren alter Satz: »Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!« (I: 329) Hinter diesem Wunsch (mit nachfolgendem Versprechen) verbirgt sich Nietzsches Kalkül auf »Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die grössere Freiheit des Gemüthes, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit.« (II: 313) Soweit Nietzsches Ausblick auf die Zukunft in Menschliches, Allzumenschliches (1878), bei dem nur eines gewiss ist: die ältere Generation kommt hier nicht mehr in Betracht, ihr ist, wie es gleich nachfolgend heißt, anzulasten, »fortwährend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem ›Altar des Vaterlandes‹ oder der nationalen Ehrsucht« (II: 315) zu opfern. Dagegen wird Zarathustra 1884 donnernd setzen: »Was Vaterland! D o r t h i n will unser Steuer, wo unser K i n d e r- L a n d ist: Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse Sehnsucht! –« (IV: 268)
Für Mühsam, dessen Ende im KZ Oranienburg ein fürchterliches war, übersetzt: Auch dies war Boheme, Nietzsches Boheme, die erneut aufgerufen wird im folgenden Beschluss aus Die fröhliche Wissenschaft (1882): »Wir […] w o l l e n D i e w e r d e n , d i e w i r s i n d , – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sichselber-Schaffenden!« (III: 563)
Nietzsches für dieses Kapitel allein interessierendes, wenn man so will: ›linksnietzscheanisches‹ Ideal hat Werner Ross wie folgt auf den Punkt gebracht, zugleich die Tragik dessen nicht ignorierend:
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»Nietzsche will den alten Gott absetzen, um einen neuen (oder neue Götter) an seine Stelle zu setzen, einen neuen Äon zu begründen, eine neue Ethik zu verkünden. Dieses Gottes Prophet will er sein; und im Wahnsinn identifiziert er sich mit ihm.« (Ross 1994: 38)
Undenkbar ist, von diesem Nietzsche ausgehend betrachtet, ein Tadel im (fanatischen) Stil des von Wagner geprägten frühen Nietzsche im Umfeld des deutsch-französischen Krieges und der Reichsgründung. Dieser Nietzsche, der Wagnerianer also, war noch überzeugt davon, dass man mit der »moderne[n] Jahrmarktsbuntheit« der deutschen (chaotischen) Kultur (zum Zeitpunkt der Reichsgründung) »keine Feinde bezwingen [kann], am wenigsten solche, die, wie die Franzosen, eine wirkliche, productive Kultur […] haben.« (I: 163) Ganz anders der (authentische) Nietzsche nach Überwindung seiner Wagnerabhängigkeit sowie im Nachgang zur Herausbildung eines neuen, offenen, unter dem Vorzeichen Voltaires stehenden Frankreichbildes, des Nietzsche also ab Menschliches, Allzumenschliches (1878). Denn dieser Nietzsche, uns inzwischen auch als »Nietzsches Nietzsche« bekannt, ist ein gegenläufiger, auf Lernen und Multikulturalität hin orientierender weltoffener Freigeist, der sich als Theoretiker der »Pluralität der Kulturen« (Elberfeld 2008: 133) inszeniert. Diesen Nietzsche wird man nicht als ›schwarzen‹ Pädagogen bezeichnen dürfen, eher schon als ›bunten‹, womöglich gar als Repräsentanten einer ›Pädagogik der Vielfalt‹, vielleicht sogar einer ›Sexualpädagogik der Vielfalt‹ angesichts von Zarathustras zu Beginn von Kapitel II aufgerufenen antichristlich angelegter Rede Von den Verächtern des Leibes. Wichtig dabei: Dieser ›bunte‹ Nietzsche blieb nicht unbemerkt, wie der reformpädagogische Zuspruch zeigt (vgl. Niemeyer 2002: 143 ff.), ebenso wie die anti-reformpädagogische Ablehnung mit dem Argument, er leiste der – von Arthur Schnitzler in Die Hirtenflöte (1912) entfalteten (vgl. Schmidt 2019) – »Vision des von aller moralischen Last befreiten dionysischen Menschen« (Oelkers 2003: 11 f.) Vorschub. Soweit mag das Feld, auf dem in der Folge über Nietzsche debattiert werden wird, strukturiert sein, bleibt die Frage: Welches waren die zentralen gedanklichen Leitmotive dieses neuen Nietzsche und des von ihm intendierten Paradigmenwechsels? Einen wichtigen Impuls setzte, wie mir scheinen will, Die fröhliche Wissenschaft (1882), hier FW 143 unter dem Titel G r ö s s t e r N u t z e n d e s P o l y t h e i s m u s , wo Nietzsche dazu auffordert, Wege zu erkunden, wie
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»der Einzelne sich sein eigenes Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite«, kurz: wie dasjenige, was bisher »als die Abgötterei an sich galt« (III: 490), in die Wirklichkeit übertreten könne. Das Konzept des Übermenschen war hiermit präludiert, wie die Überlegung zeigt: »Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art […] war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn.« (III: 490)
Als gelte es, sich in exakt dieser Weise an eigenen Wegen in puncto des wenig später aufgerufenen Imperativs »g e f ä h r l i c h l e b e n ! « (III: 526) gegen »Sitten und Nachbarn« zu erproben, schreibt Nietzsche zu eben jener Zeit, im Februar/März 1882 aus Genua, einige aufschlussreiche Briefe. Zentrale Botschaft: Ich, Nietzsche, der seit nun bald fünf Jahren krankheitsbedingt frühpensionierte Professor aus Basel, bin auf dem Wege der Besserung, auch geistig. Hintergrund: Nietzsche hat zusammen mit seinem zu dieser Zeit zweifellos besten Freund Paul Rée an der Riviera einen offenbar recht vergnüglichen Urlaub verbracht, der in seinen Briefen deutliche Spuren hinterlässt, als bräche sich das Wissen um das bisher ungelebte Leben Bahn nach dem Muster (an Heinrich Köselitz): »Unsere bürgerlichen Tugenden und Vorurteile sind unsere Hauptgefahren – z. B. dieser inhumane Fleiß« (6: 177) – eine, wie man wohl hinzusetzen, recht kecke These für einen, dem die Beachtung jener Tugenden wohl nicht die Sorgen eingehandelt hätte, die ihn seit jener Bordellerfahrung 1865/66 umtrieben. Keine Überlegung indes damals für Nietzsche, der, augenblicksweise hoffend, alles werde gut, sich gegenüber Köselitz gebärdet wie ein übermütiger Student, wie der wohl mit Rée zusammen belachte Briefanfang offenbart: »Mein lieber armer Freund, hier ein Liedchen zu unserer Erheiterung: wir haben Sie Beide so nöthig. Nun Sie gar noch anfangen, an sich selber zu leiden, hat das Übel seinen Höhepunkt erreicht. Jetzt heißt es: sauve qui peut! Es ist unerträglich, Sie vor meinen Augen zugrunde gehen zu sehn –: haben Sie doch darin ein Wenig Mitleiden mit mir!« (6: 177)
Nie zuvor und erst recht nie danach hat sich Nietzsche einen derart bösen Scherz mit seinem durchaus nicht gar so treuen Adlatus erlaubt, wohl unter dem Einfluss Rées sowie als Effekt banaler Lebensfreude, die Nietzsche auch Anlass gab, seinen von ihm intern als Spie355 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ßer belächelten Adlatus mit Plänen zu schockieren wie: »Ich moechte ein paar Jahre in Abenteuern verbringen, um meinen Gedanken Zeit, Stille und frische Erdkrume zu geben« (6: 172), oder, so am 4. März 1882: »Ich wuerde gerne eine Colonie nach den Hochlanden Mexikos fuehren: oder mit Rée in die Palmen-Oase Biskra reisen – noch lieber kaeme mir ein Krieg.« (6: 174)
Was ersatzweise wenig später, nach diesem geradezu tollkühnen Kalkül auf den bordellähnlichen Sehnsuchtsort aller liebestollen Europäer, kam, ist bekannt: Nietzsche lernte Lou von Salomé kennen und sah sich wenig später in einen ›Krieg‹ um diese femme fatale verstrickt mit Rée und mit seiner Mutter wie Schwester als Spielverderberinnen aus dem Off. Dies darf man durchaus tragisch heißen, ohne die Wichtigkeit von Nietzsches Theorie zu dieser Praxis in Abrede zu stellen, die sich in dem zur Erläuterung des erwähnten Slogans »g e f ä h r l i c h l e b e n ! « gedachten Satz findet: »Ich begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt […] – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss trägt und K r i e g e f ü h r t um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können – und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und Grosstadt-Bildung: […] gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen!« (III: 526)
Man ist versucht zu ergänzen, zumal im Rückblick auf die Zurechnung dieses Textes zum existentialistischen Kanon durch Walter Kaufmann (1957a: 127): Menschen wie Nietzsche, Existentialisten avant la lettre, die den Gang ins Bordell, ob nun in Köln oder in Biskra, nicht scheuen; sowie Menschen wie Lou von Salomé, beide gedacht als Prototypen des ›neuen‹ Menschen, der dem domestizierten, durch Zivilisation und Erziehung respektive Bildung nur noch seiner ›zweiten Natur‹ nach erkennbaren Menschen haushoch überlegen ist, weil er im Zuge der Bewältigung der Bildungsbedingung Natur tapfer wurde und lernte, die ihm anerzogene ›zweite Natur‹ abzuwerfen. Auch auf die Gefahr hin, die sich in einer Syphiliserkrankung dokumentiert. Damit sind wir vorbereitet, auch jene hier und im Folgenden interessierenden Figuren aus dem mit ›Wir Anderen‹ bezeichneten Konglomerat jenen ›vorbereitenden Menschen‹ zuzurechnen, also je356 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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nen geistigen Sparringspartner des (authentischen) Nietzsche, zu vermuten wohl eher nicht unter dem von Nietzsche eingebrachten Attribut »M e i n e U n m ö g l i c h e n « (VI: 111), gedacht für Seneca, Rousseau, Schiller, Dante, Kant, Victor Hugo, Liszt, George Sand, Michelet, Carlyle, John Stuart Mill, »Les Frères Goncourt«, die Musik von Offenbach sowie Zola – zu vermuten indes schon eher unter dem Rubrum M e i n e M ö g l i c h e n , unter welchem Namen beherbergt werden wie Voltaire, Stendhal und Lord Byron. Spannend ist in diesem Zusammenhang eine Namensliste von 1872/73, die man durchaus, in Anlehnung an die eben erwähnte spätere aus GötzenDämmerung, als »des frühen Nietzsche ›Unmögliche‹« rubrizieren könnte und auf der u. a. verzeichnet werden: Riehl, Gervinus, Schwind, Jahn, Freitag (= »alte Jungfern«), Ranke, Mommsen, Bernays (= »junge ›Greise‹) sowie Gottschall, Lindau, Gutzkow, Laube (= »ewige Gymnasiasten«). (VII: 504) Nietzsches 1888 er Blick ist ein anderer, vorzüglich – um von Lord Byron jetzt einmal abzusehen – in das Land hinein, in dem die (Pädagogik der) Aufklärung ohnehin die meisten ihrer Ideen vorgedacht fand: Frankreich (um hier, zusätzlich zu Voltaire und Stendhal, Descartes einzubeziehen und den gebürtigen Schweizer Rousseau beiläufig als Franzosen einzugemeinden). Frankreich, so wäre an dieser Stelle vielleicht noch mit Werner Ross zu ergänzen, wo das »Mätressenwesen […] eine offizielle Einrichtung am Hof des allerchristlichen Königs von Frankreich war«, ergänzend, »noch der Herr von Goethe nahm sich einen Bettschatz ins Haus, eine Konkubine […]. Sie wurde ›geschnitten‹, aber Goethes Stellung blieb unangetastet.« 119 Dem folgt, nahtlos, die rhetorische Frage: »Doch Keller, Stifter, Storm, Raabe, Freytag, wäre einem von denen, falls es ihn angewandelt hätte, ähnliches zuzutrauen gewesen?« (Ross 1986: 13) Schon diese Namensliste, in Ergänzung zu lesen zu jener vorgenannten Nietzsches, zeigt: Ross, der Nietzschebiograph, wusste, wovon er sprach – was die Ableitung des organisierenden Prinzips der folgenden Darstellung erlaubt, das sich auch aus Heinrich Manns Beobachtung herleiten ließe: »Das neunzehnte Jahrhundert glänzt mit dem französischen Roman, wie das sechzehnte von italienischen Bildern und Palästen strahlt.« (Mann 1905: 8) Auf dieser auch schon von Giuliano Campioni (2009: 293 ff.) unter dem 119 Man muss an dieser Stelle wohl ergänzen: bis hin zum Psychoanalytiker K. R. Eissler, der Goethes Sexualleben – inklusive der Syphilisthematik – genauestens unter die Lupe nahm. (vgl. Eissler 1985: 1146 ff.)
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wunderbaren Titel Die Reise des Herrn Nietzsche nach Cosmopolis befahrenen Linie bekommen wir auch die dieses Buch dominierende Sexualitätsthematik in den Blick. Kaum überraschend, hat doch insbesondere der französische Roman dieser Epoche, aber natürlich auch die Novelle, vor allem das Thema Sexualität exponiert, etwa nach dem Muster: Frankreich ist via Paris das Land der Liebe und diese selbst im anti-klerikalen Grundzug der französischen Philosophie seit Voltaire etwas durchaus Prominentes, nicht zuletzt als stiller Protest gegen die Standesehe, in ihrer käuflichen Variante. Letzteres heißt zugleich: Die Syphilis als reale Gefahr zumal vor- und außerehelicher Sexualkontakte ist immer mit im Boot, gehört gleichsam zum B des A namens Prostitution. Ein Beispiel gibt hier Gustave Flaubert. Am 11. Januar 1859 brachte er gegenüber seinem Berufskollegen Ernest-Aimé Feydeau (1821–1873) zwei Jahre vor dessen Hochzeit das neue, auch für die spätere Geisteshaltung Nietzsches charakteristische freigeistie Liebens- und Lebensideal auf den folgenden Punkt: »Es [das Dogma von der Unbefleckten Empfängniss] faßt das Gefühlsleben des 19. Jahrhunderts zusammen. Dieses armseligen Jahrhunderts der Skrofeln und Ohnmachten, das eine entsetzliche Angst vor allen starken Dingen, aller kräftigen Nahrung hat und das sich wie ein krankes Kind auf den Knien der Frauen gefällt.« (zit. n. Scheffel 1977: 415)
Dramatisch: Wer diesem neuen Liebesideal folgte und aus ihm nicht nur Romane formte, sondern auch sein ferneres (Liebes-) Leben, litt am Ende vielleicht nicht an ›Skrofeln und Ohnmachten‹ – wohl aber, wie später Feydeaus Sohn, der Vaudeville-Erfolgsautor Georges Feydeau (1862–1921), an Syphilis. Nietzsche passt insoweit perfekt in diese Reihe, sowohl den euphorischen Aufschwung als auch den tragischen Abschwung betreffend. Daraus folgt zugleich, und dies möge man bitte nicht mir anlasten, sondern ist Folge der Lektürepräferenzen Nietzsches, denen ich zu folgen suche: Frauen kommen – und dies gilt schon für Flaubert und seinen eben angeührten Brief von 1859 – so gut wie nicht als ernstzunehmende Wesen vor, allenfalls als Opfer, etwa ihrer Freier. Heißt zugleich: Männer begegnen uns in der Folge, ob nun im wirklichen Leben oder in der Fiktion, vor allem als Täter. Im schlimmsten Fall – dem des Algernon Charles Swinburne (s. III/10) – als einer, der, als Erziehungsfolge, unter einem »Männlichkeitskomplex« (Praz 1930 [1960]: 215) laboriert. Ansonsten gilt, und dies weiß man ja oder 358 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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kann es sich denken: Als Täter schweigt Mann beharrlich, als Opfer klagt Mann laut und vernehmlich – allerdings wohl kaum und allenfalls im Suff, beispielsweise über die Syphilis, die er sich eingehandelt hat. Ansonsten gilt das Schweigen der Männer in diesem Genre als vergleichsweise verlässliche Konstante nach dem Muster: »Während ihre Blicke an ihm hingen, vergingen sie fast vor brennender Erwartung. Sie tranken, sie verschlangen ihn fast mit den Blicken. Eine Liebesgeschichte vermag Frauen stets zu fesseln […]. Sie wußten alle nur zu gut, daß er ein Edelmann war und der ganz großen Welt angehörte, als daß sie nicht sicher gewesen wären, er werde keine Namen nennen und, wenn die Gelegenheit sich ergeben sollte, allzuleicht zu durchschauende Einzelheiten verschleiern.« (Barbey d’Aurevilly 1985: 98)
Indes: Nicht jeder Mann ist Edelmann, Nietzsche ist kein Fall für den Suff – aber auch keiner, den man sich bei Geständnissen dieser Art, auch im ›trockenen‹ Zustand, vorstellen könnte. Allerdings lebte Nietzsche weder auf einem Baum noch im Elfenbeinturm, war dem Schönen und Verlockenden – und auch der über es berichtenden Literatur – zugetan, war mitunter platzend vor Neugier auf das pralle Leben jenseits der Bücher, pflegte entsprechend, wenn es ihm gut ging und er sich scheinbar gesundend erlebte, einen Welt- und Frauenerobererhabitus, der einem Lord Byron alle Ehren gemacht hätte. Dies namentlich Anfang des Jahres 1882, als gelte es, sich für Lou von Salomé, seine ihm kurz darauf über den Weg gelaufene große Liebe, schon ein wenig in Form zu bringen. Aber auch in Gestalt eines späten Bekenntnisses wie des folgenden: »Die Antinomie meiner Existenz liegt darin, daß alles das, was ich als radikaler Philosoph radicaliter n ö t h i g habe – Freiheit von Beruf, Weib, Kind, Freunden, Gesellschaft, Vaterland, Heimat, Glauben, Freiheit fast von Liebe und Haß – ich als ebenso viel Entbehrung empfinde, insofern ich glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und kein bloßer Abstraktions-Apparat bin.« (XII: 197 f.)
›Glücklicherweise‹ ? Soll man hier lachen oder weinen angesichts des sich einige Zeit später – dieses Notat wird auf »Sommer 1886 – Herbst 1887« datiert – sich ereignenden Turiner Zusammenbruchs? Oder soll man lachen über Nietzsche, der so clever war, kaum etwas von diesem Bekenntnis in seine Autobiographie zu übernehmen? Oder soll man weinen wegen der Chuzpe, mit der Nietzsche seine gänzliche Normalität nach bürgerlichen Begriffen zu beglaubigen sucht? 359 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Wie auch immer: Dass diese Beglaubigung nicht ganz so einfach sein dürfte, zeigt die Rückbesinnung auf Mario Praz’ heute noch lesenswerte Gesamtdarstellung La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantico (1930). Sie ist zwar demonstrativ desinteressiert am Thema Syphilis und nur in zweiter Linie relevant bezüglich Nietzsche, weist aber, wie der durch die deutsche Übersetzung populär gewordene Untertitel Die schwarze Romantik ausweist, den Vorteil auf, dass auch »ihre [der Romantik] Nachtseite, die Dekadenz, die morbide und makabre Szene des Todes und des Lasters, der Grausamkeiten und Perversitäten untersucht wird« (Praz 1930 [1960]: Rückumschlag] – und in der Folge auch im vorliegenden Buch Thema ist und sein muss, weil Syphilis ohne Laster kaum vorstellbar ist. An Bord damit auch Marquis de Sade (1740–1814) als Figur und der von Iwan Bloch 120 ins Zentrum gerückte ›Sado-Masochismus‹ als Problem. Dies vorausgesetzt, sollen im Folgenden einige Thematisierungen Nietzsches bezogen auf ausgewählte Werke seiner ›Möglichen‹ nachvollziehbar gemacht werden, bevorzugt am Leitfaden ›Syphilis‹. Am Ende, so hoffe ich doch, werden wir alle etwas schlauer sein, auch in der Frage, ob nicht nur das Geschriebene, sondern auch die Lesepräferenz eines Autors womöglich einem Bekenntnis gleich kommt in Betreffs seines tiefsten Geheimnisses. Auch im Blick auf Fragen wie: Gehört Nietzsche mit seinen zugegebenermaßen zumeist nur recht zaghaften Liebesoptionen, praktischen, aber auch theoretischen, jenen insoweit als adels- wie staatszersetzend zu deutenden Protagonisten der freien Liebe an, wie sie der französische Roman des 19. Jahrhunderts in Fülle offenbart, nicht eben selten mit tragischem Ausgang, also mit der Syphilis im Gefolge? Oder steht Nietzsches Syphilis eher für einen Betriebsunfall und sein Schweigen darüber respektive sein Reden in nur aufwändig zu dechiffrierender Sprache für einen dunklen Schatten, der damit auf das Projekt der französischen Aufklärung respektive Nietzsches Projekt einer ›neuen Aufklärung‹ geworfen wird? Wir beginnen dabei mit einem Schweizer – nicht, weil Nietzsche ihn so toll fand, sondern weil er das romantische Liebesideal konturieren half, das ihn selbst und viele an ihm sich Orientierender, seltsamerweise, ins Bordell leitete. 120 Bloch entdeckte 1904 das Originalmanuskript von Sades 120 Tage von Sodom (ab 1785) und hatte sich in der Folge Vorwürfen zu erwehren, es handele sich hier um eine Fälschung. (vgl. Bloch 1907: 807)
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Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): Der von Nietzsche verachtete Moralist und Erfinder des romantischen Liebesideals versagt, auch in puncto (Safer) Sex
Rousseau lässt sich mit seinem Émile (1762), namentlich mit dessen Fünftem Buch, durchaus, wie jüngst Sabine Seichter in ihren Einblicken in die Geschichte der schwarzen Pädagogik (Untertitel) gezeigt hat, der Galerie ›Schwarzer Pädagogen‹ einverleiben – wenn man sich allein auf die Mädchenerziehungsvorstellungen in diesem Fünften Buch kapriziert. Dies tut Seichter unter dem Aspekt, hier werde »[d]ie schillernde Figur der Kindsbraut« (Seichter 2020: 117) konstelliert, etwa in der Logik von Sätzen wie: »Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie in von ihrer Kindheit an lernen.« (Rousseau 1971: 394)
Keine Frage: Nichts ist an diesen in der Rezeptionsgeschichte wahrlich nicht zum ersten Mal kritisiertem Satz (vgl. etwa Mayer 2014: 146) gutzuheißen, nichts zu beschönigen – auch nicht bezüglich des Umstandes, dass sehr vielen Männern, Nietzsche eingeschlossen, derlei Erziehungsratschläge zu pass kamen, wie Seichter in der Folge anhand der zahllosen ›Kindsbräute‹ in der Pädagogik- wie Literaturgeschichte überzeugend zu zeigen vermag. (vgl. Seichter 2020: 120 ff.) Aber wer, wie Seichter, Rousseau an den Beginn der damit eröffneten Reihe vom Typ »Missbrauchtstat zwischen einem erwachsenen Mann und einem heranwachsenden Mädchen« stellt und derlei einem »wenig beachteten […] schwarzen Kapitel« (ebd.: 117) der Pädagogik meint einfügen zu müssen, steuert, wie mir scheinen will, auf ein Terminologieproblem zu. Deswegen sei hier ergänzt: ›Schwarze Pädagogik‹, etwa im Sinne des von Michael Haneke in seinem Film Das weiße Band (2009) zur Anschauung gebrachten, bis in die 1920 er Jahre (und selbstredend auch in der NS-Zeit) dominierenden autoritativen Erziehungsparadigmas, meint weit mehr als reaktionäres, Männern nützliches Denken über die Frau bzw. das Mädchen. Es meint vor allem – und Nietzsche gibt hier, gelesen als Opfer ›Schwarzer Pädagogik‹ (s. III), ein Beispiel, – das grundlegende Nicht-Verstehen-Wollen und -Können von Kindern, sich äußernd in einem rein 361 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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normativen Blick allein auf Kinderfehler unter Ausschluss auch nur des Gedankens, dass es auch, wenn nicht gar ausschließlich um Erzieherfehler und deren Problematisierung zu gehen habe. (vgl. Niemeyer 2015a: 167 ff.) Zentral dabei und exemplarisch studierbar und studiert (vgl. Niemeyer 2019a: 60 f.) am Beispiel des katholischen k.k. Hofrats und Herbartianers Otto Willmann (1839–1920): das so gut wie vollständige Desinteresse an der ›sexuellen Frage‹ – ob aus Prüderie oder aus christengläubiger Leibfeindlichkeit der von Nietzsche kritisierten Art bleibe hier dahingestellt. Die Folgen sind entscheidend: Verstehen, auch nur Nietzsches, ist Willmann unmöglich, sein Zugang zu ihm erfolgt, wie wir noch sehen werden (s. V.2/2), im Modus des ›Entrüsteten‹, nicht zu vergessen: Sexualität und Begehren interessieren allein unter dem Gesichtspunkt ihrer Dysfunktionalität, also als etwas, über das man – zumal »Mann« – weder redet noch forscht. Und dieses Problem – ein, wie damit zugestanden, maskulines – ist, fast schon, schulenübergreifend, dem pädagogischen Grundgedankengang eingeschrieben. Exemplarisch zeigt dies Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827) Protest gegen Rousseau bzw. gegen dessen von Pestalozzi als Skandal empfundene Offenheit gegenüber der eigenen dunklen Seite in seiner Autobiographie Les Confessions (1782–89). (vgl. Niemeyer 1998a: 25 ff.) Heißt zugleich, und auch dies erwähnt Seichter nicht: Rousseau, mit seinem Briefroman La Nouvelle Héloïse (1761) Erfinder des romantischen Liebesideals, das sich allerdings mithilfe seiner Autobiographie als ein in selbsttherapeutischer Absicht geschriebenes lesbar machen lässt (vgl. Niemeyer 2019a: 138 f.), war fraglos ein Chauvi in der Logik des von Seichter zurecht skandalisierten ›Kindsbraut‹-Paradigmas. Aber in Gegensatz zu Willmann war er alles eher als ein Schweiger oder gar Verschweiger in eroticis, wenngleich von ganz anderer Art als Voltaire. Ihm fehlte – womöglich Schweizer Erbe – schlicht die respektive dessen (französische) Eleganz. Entsprechend verkam Aufklärung bei ihm mitunter zu selbstbezüglicher Larmoyanz, dies auch und gerade in seinem, psychologisch betrachtet, wohl wichtigsten Werk: seiner Autobiographie. Wichtig an ihr für unser Thema: In bis dato unbekannter Offenheit berichtete Rousseau hier über sein (Sexual-) Leben, zur Empörung etwa des Psychiaters (und Freud-Skeptikers) Richard von Krafft-Ebing. Er nahm Rousseaus in seine bereits erwähnte einschlägige Sammlung Psychopathia sexualis auf, unter dem ziemlich desaströsen Rubrum Allgemeine Neuro- und Psychopathologie des 362 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Sexuallebens. Deutlich wirkt dabei Krafft-Ebings Empörung darüber nach, dass Rousseau in seiner Autobiographie vor der Mitteilung des normalerweise verborgen zu Haltenden nicht zurückschreckte. Im Detail liest sich dies dann so: »Rousseau schildert in extenso, wie sehr er bei seinem grossen sexuellen Bedürfnis unter seiner eigenartigen, zweifellos durch die züchtigenden Rutenstreiche geweckten Sinnlichkeit litt, schmachtend in der Begierde und ausser stande, ihr Verlangen zu offenbaren. Es wäre aber irrig, zu glauben, dass es Rousseau bloß um seine Flagellation zu tun gewesen wäre […]. Das Wesentliche bei R. war das Unterwerfungsgefühl unter das Weib.« (KrafftEbing 141912: 130 f.)
Damit war wenig verstanden hinsichtlich einer damit – so die entscheidende Kritik von Iwan Bloch (1902: XIV) an Krafft-Ebings Ansatz insgesamt – auf Anlage statt auf Umwelt zugerechneten Sexualdevianz, kurz: Krafft-Ebing war nach Meinung dieses seines Kritikers die von Bloch 1902/03 nachgelieferte Ätiologie der Psychopathia sexualis schuldig geblieben. Infolge dieses Versäumnisses standen Attribute im Raum, welche die moralische Entrüstung des Normalbürgers respektive -pädagogen über Rousseau kanalisieren halfen, wie bei Paul Sakmann beobachtbar: Anders als Freud, der Rousseau wohl unter der in seinen Beiträgen zur Psychologie des Liebeslebens (1910) eingeführten Denkfigur des »G e s c h ä d i g t e n D r i t t e n « (GW X: 67) subsumiert hätte, weil (auch) er eine Dreiecksbeziehung benötige, um eine weitere ödipale Stellvertreterschlacht mit dem Konkurrenten (›Vater‹) um die Geliebte (als ›Mutter‹) schlagen zu können (vgl. Niemeyer 1992: 180 ff.), erfahren wir aus der erstmals 1912 vorgelegten Rousseau-Monographie Sakmanns nichts von psychologischer Relevanz. Ersatzweise dominiert die erzieherische Absicht: Was für ein »abscheuliches Zusammenleben zu Dritt«, rief Sakmann entsetzt aus und konstatierte zu Lasten Rousseaus »Befleckung durch unwürdige Verbindungen« sowie die »böse Fähigkeit, in unreinlicher Atmosphäre zu verweilen.« (Sakmann 21923: 9) Mit diesem wunderbaren Zitat eines Stuttgarter Gymnasialprofessors vom ›Feuerzangenbowle‹-Format sind wir glücklich eingestimmt auf den qualitativen Sprung, den das Eintreten eines Denkers wie Nietzsche in die insoweit eröffnete Debatte um Rousseau verspricht. Tatsächlich aber bringt Nietzsche zunächst nur Konventionelles zu Gehör, etwa, dass er Rousseau einem Schulkameraden nur dringend anempfehlen könne als jemand, »von dem [S]ie etwas Natür363 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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lichkeit und Bildung lernen könnten, auch, daß man seine Versprechen halten müsse.« (1: 216) Auch der Sache nach verband Nietzsche durchaus einiges mit Rousseau. Gewiss: Wer beide Autobiographen (Rousseaus Les Confessions und Nietzsches Ecce homo) im Vergleich liest und sich Kafft-Ebings Einschätzung erinnert, muss einräumen, dass der Abstand von mehr als einhundert Jahren einem jedenfalls nicht zu Gute kam: der sexuellen Aufklärung. Nietzsche ist, so will es scheinen, in Fragen wie diesen zum (Ver-) Schweiger mutiert, verglichen mit der diesbezüglichen Beredsamkeit Rousseaus. Aber ansonsten, diese beiden Werke im Vergleich betrachtet: Ist da nicht die nämliche Empfindsamkeit zu konstatieren, die vergleichbare Verzweiflung ob einer als existentiell bedrohlich verbuchten Vereinsamung? Herrscht nicht gar eine analog paranoide Grundstimmung vor? Umso überraschender mutet, auf den ersten Blick, Nietzsches allerletztes Urteil über Rousseau an in den ob ihrer Rigidität berühmt-berüchtigten Streifzügen eines Unzeitgemässen aus GötzenDämmerung (1889): »Idealist und canaille in Einer Person […], krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung […], Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelegt hat.« (VI: 150)
Gewiss: Wer will, mag in Sätzen wie diesen eine Kopie der Schimpftiraden von Nietzsches Idol (seit 1878), Voltaire, wiedererkennen – Beobachtungen, denen ich im Vorgängerbuch zu diesem nachgegangen bin, um Nietzsches Aufklärungsverständnis genauer zu bestimmen. (vgl. Niemeyer 2019: 174 ff.) Hier indes, in diesem Buch mit seinen weit bescheideneren Ansprüchen, insonderheit: in diesem Kapitel mit seinem auf Rekonstruktion des Männerblicks auf Liebe in Zeiten der Syphilis zielenden Anspruch, soll nur eine Seite dieser »canaille« interessieren, ohne damit behaupten zu wollen, Nietzsche habe exakt sie gemeint oder auch nur um sie gewusst: diejenige, die in Buch VII thematisch sind und die Rousseaus Venedig-Aufenthalt der Jahre 1742 bis 1744 zum Gegenstand haben, uns also ein Bild des damals ca. Dreißigjährigen vermitteln. Die Frage lautet: Findet sich hier ein Männerblick auf Liebe in Zeiten der Syphilis, und wenn ja: Welcher? Für eine Antwort auf diese Frage besonders geeignet scheint mir die folgende Szene:
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»Die Padoana, zu der wir gingen, war ziemlich hübsch, sogar schön, aber nicht von einer Schönheit, die mir gefiel. Domenico ließ mich bei ihr. Ich ließ Sorbet kommen, ich ließ sie etwas vorsingen, und nach einer halben Stunde wollte ich gehen, indem ich auf dem Tisch einen Dukaten ließ. Aber sie hatte das sonderbare Bedenken, nicht nehmen zu wollen, was sie nicht verdient hatte, und ich beging die sonderbare Dummheit, ihre Bedenken gegenstandslos zu machen.« (Rousseau 1978: 312)
Welche ›Dummheit‹ Rousseau hier meint, wird sogleich klar: Über drei Wochen wird er von der Sorge umgetrieben, sich (mit Syphilis) »angesteckt« zu haben und kann am Ende »nicht begreifen, daß man ungestraft aus den Armen der Padoana kommen könne« (ebd.) – kein schmeichelhafter Zusatz, mit Verlaub, eher angemessen für die einleitend erwähnten (männerbündischen) Kellerbars. Damit aber nicht genug: Eher umgekehrte Bedenken trieben Rousseau ein paar Tage später um bei seinem Abenteuer mit Zulietta, identisch mit, so fand Ivan Bloch heraus, der italienischen Kurtisane Giulietta, um 1740 »eine der schönsten Kurtisanen von Venedig.« (Bloch 1925: 488) Rousseau, als gelte es, dieser Diagnose aus Perspektive des Freiers Recht zu geben: »Kaum hatte ich bei den ersten Vertraulichkeiten den Wert ihrer Reize und Liebkosungen erkannt, als ich aus Furcht, ihre Frucht im voraus zu verlieren, mich beeilen wollte, sie zu pflücken. Doch statt der Flammen, die mich verzehrten, fühle ich plötzlich eine tödliche Kälte durch meine Adern laufen; die Beine zittern mir, und fast einem Unwohlsein nahe, setze ich mich hin und weine wie ein Kind.« (Rousseau 1978: 316)
Der Grund für diese Pleite, man ahnt es vielleicht schon: Syphilophobie, in den Worten des Dichters, der – auch darum ahnt man vielleicht schon – alles immer etwas komplizierter als nötig macht: »Ich begann mit einer etwas merkwürdigen Anspannung nach diesem Mangel [der »die Wirkung ihrer Reize« zerstört; d. Verf.] zu suchen, und mir kam nicht einmal der Gedanke, daß die Lustseuche dabei eine Rolle spielen könnte. Die Frische ihres Körpers, der Schimmer ihrer Haut, das Weiß ihrer Zähne, die Reinheit ihres Atems, die über die ganze Person gebreitete Reinheit hielten diesen Gedanken so fern von mir, daß ich noch im Zweifel über meinen Zustand seit der Padoana, vielmehr ein Bedenken hatte, nicht gesund genug für sie zu sein.« (ebd.)
Schon dies ist schlimm genug, zumal es Rousseau bei diesen Bedenken bewenden lässt und gleichwohl, ein zweites Mal, zur Tat schreitet, wohlgemerkt: nachdem zwischenzeitlich noch einmal herzhaft 365 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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geweint wurde, von ihm selbstredend, und, auch dies wohlgemerkt: wobei ihn ein zweites Hemmnis unvermutet bremst, nochmals in den Worten des Dichters: »Aber im Augenblick, da mir auf einem Busen, der zum erstenmal Mund und Hand eines Mannes zu dulden schien, die Sinne schwinden wollten, bemerkte ich, daß sie an einer Brust keine Warze hatte. Ich stutze, prüfe, glaube zu sehen, daß diese Brust nicht wie die andere gebildet ist. Nun zerbreche ich mir den Kopf, wie man eine Brust ohne Warze haben kann; und überzeugt, daß das mit einem beträchtlichen Mangel zusammenhinge, drehe und wende ich diesen Gedanken und sehe klar wie der Tag, daß ich in der reizendsten Person, deren Bild ich mir vorstellen kann, in meinem Armen nur ein Ungeheuer halte, den Abschaum der Natur, der Menschen und der Liebe.« (ebd.: 317)
Die Geschichte ist hiermit noch nicht zu Ende, oh nein, reden wir doch schließlich von Rousseau, der als, wie Nietzsche spottete, der »erste moderne Mensch« (…-) Talent genug besaß, alles noch viel schlimmer zu machen, also keine Bedenken kannte, »von der warzenlosen Brust mit ihr zu sprechen«, was sie erst »scherzhaft« nahm, »in ihrer Ausgelassenheit« Dinge sagend, die ihn »hätten vor Liebe sterben lassen müssen« – ehe ihr, weil er »einen Rest von Unruhe«, der im geblieben, nicht verbergen konnte, der Kragen platzte, ihn mit den von Rousseau erinnerten Worten vor die Tür setzend: »›Zanetto, lascia le donne e studia la matematica.‹« (Rousseau 1878: 317) Heißt, in Übersetzung geredet (nicht dieses sich wohl von selbst verstehenden Spruches, selbstredend): Eine der größten Moralisten der Weltgeschichte versagt der Syphilisfurcht wegen auf ganzer Linie: a) im Bett mit Zulietta, b) moralisch im Rückblick auf seine Affäre mit Padoana, mit der er gegen seinen Wunsch schließlich doch verkehrte und bei der angesteckt zu haben er nicht ausschloss, gleichwohl dem späteren Geschlechtsverkehr mit Zulietta gegenüber nicht abgeneigt, wovon ihn c) nur ein vermutlich wahrheitswidriger Wahn zu seinen Gunsten abhielt: der Wahn, einer Warze ohne Brust ansichtig geworden zu sein. Rousseaulike ist dies alles nicht, auch nicht gentlemanlike, inklusive der Idee, mit Zulietta über ihre warzenlose Brust als Grund seines Versagens sprechen zu wollen, darüber hinaus ist es zutiefst lächerlich, zumal das zentrale Problem dieses Gentleman aus der Schweiz neben seiner erektilen Dysfunktion womöglich schlicht darin besteht, noch nicht einmal richtig (zumal Brustwarzen nicht) zählen zu können (was der tiefere Sinn von Zuliettas Rat studia la matematica zu sein scheint). 366 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Und was lehrt uns dieses Beispiel im Blick auf unsere Ausgangsfrage? Zunächst einmal vielleicht, unter Bezug auf Nietzsches Rousseaubild im Vergleich zu jenem Voltaires: Dass der Feststellung aus Ecce homo, Voltaire sei, »im Gegensatz zu allem, was nach ihm schrieb, vor allem ein grandseigneur des Geistes« (VI: 322), durchaus auch gegen Rousseau gerichtet gewesen sein dürfte, der zumal mit dem eben Referierten alles wohl eher war als dies: ein ›grandseigneur des Geistes‹. Sowie: Dass der Folgesatz, »der Namen Voltaire auf einer Schrift von mir« (gemeint ist Menschliches, Allzumenschliches [1878]) »war wirklich ein Fortschritt – z u m i r « (VI: 322), auf seinen Subtext hin bedacht sein will, und der könnte lauten: Der Name Rousseau, noch 1862 von mir hochgehalten gegenüber meinem Schulfreund Granier, war ein Rückschritt, jedenfalls eine Entfernung von dem, was mir eigen ist. (vgl. Niemeyer 2019: 174 ff.) Daraus wiederum könnte folgen – aber dies muss Spekulation bleiben –, dass Nietzsche in Situationen wie jener von Rousseau für Venedig geschilderten anders reagiert hätte als dieser Mann, ehrlicher, offener, einfühlsamer. Seriöser und freier von Spekulation ist der Befund: Rousseau sei getadelt für sein ganz dem männerbündischen Schweigegelübde widersprechendes lautes und, wie das Beispiel Iwan Bloch lernt, leicht auf reale Personen der damaligen Zeit zurechenbares Gerede über seine Sexabenteuer in Venedig zwischen 1840 und 1842. Getadelt werden muss auch die fehlende, wohl männertypische Sensibilität für die Rubrizierung der beiden Kurtisanen Padoana und Giulietta als Opfer bei gänzlich fehlendem Blick auf sich als Täter. Und natürlich kann Rousseaus verantwortungsloses Verhalten als Freier insbesondere gegenüber Giulietta – die zu identifizieren er ja befürchten musste und wovor ihn nur seine wundersame situative Erektionsschwäche abhielt, – zu beanstanden, zumal ihm die immer weitere Verbreitung dieser Geschlechtskrankheit mit ihren schrecklichen Folgen zu danken ist. Zu preisen bleibt Rousseau, so betrachtet, allein wegen seiner Offenheit, mit der er in seiner Autobiographie Kunde gab von dieser seiner dunklen Seite, auch auf das Risiko hin, dass ihn von Nachgeborenen wie Nietzsche diese Offenheit, im Vergleich zur Bereitschaft, über die eigene, allerdings noch sehr viele dunklere Seite, als Nachteil angerechnet wird, deutlicher und wie gesehen: als Zeichen gelesen wird für Attribute wie »krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung« (VI: 140), was durchaus von
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Voltaires Spott Zeugnis gibt, der Rousseau »einen liederlichen, von Syphilis durchseuchten Gesellen« (zit. n. Vorberg 1921: 20) hieß.
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Stendhal (d. i. Henri Beyle [1783–1842]): Der von Nietzsche bewunderte Anti-Pädagoge und Erfinder des gegen-gegenrevolutionären Realismus versagt in puncto (Safer) Sex
Stendhals realistische Poetik, vor allem in seinem auch von Nietzsche geschätzten Schlüsselroman Le Rouge et le Noir (1830), gilt aus heutiger Sicht (vgl. etwa Dieter 2019) als Antwort auf die französische Restauration (1814/15 bis 1830), darf aber auch gelesen werden als Reaktion auf – mit ihr in Verbindung zu bringende – leidvolle Kindheitserfahrungen. Dies vor allem war Nietzsches Ansatzpunkt, mit der Folge, dass Stendhals Lehrer- und Erzieherschelte und der sie prägende Programmsatz, es handele sich bei Lehrern und Erziehern um »nos ennemis naturels«, via Nietzsches Rezeption zu einem der Leitsätze der um 1900 anhebenden Reformpädagogik gedieh. (vgl. Niemeyer 2002: 143 ff.) Wie ernst es Stendhal mit dieser Einsicht war, zeigt die folgende Anekdote Prosper Mérimées (1803–1870): »Mit Bitterkeit erzählte er […], wie er einmal beim Spielen einen neuen Anzug zerrissen hatte und wie der mit der Erziehung beauftragte Geistliche ihm wegen dieser Missetat vor seinen Kameraden eine Strafpredigt gehalten und gesagt hatte, er sei ›ein Schandfleck für die Religion und für seine Familie‹.« (Mérimée 1850/55: 19)
Diese Episode und insonderheit die Vokabel ›Schandfleck‹ erinnert an eine gleichgerichtete Erinnerung Nietzsches bezogen auf seine Mutter, über die er am 10. Februar 1883 in einem Brief an Franz Overbeck mit den Worten Kunde gibt, seine Mutter habe ihn wegen seiner Affäre mit Lou von Salomé »eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat.« (6: 325) Es gehört wenig Fantasie dazu, gesetzt, Nietzsche hätte um die Mérimée-Anekdoten gewusst, sich Nietzsches Sympathie für Stendhal zu erklären mit der Gleichheit des Empfindens beider, wie es sich in den beiden Anekdoten dokumentiert. Ähnliches gilt im Blick auf Stendhals von Nietzsche ausgesprochen geschätzten (autobiographischen) Roman Le Rouge et le Noir (1830; dt.: Rot und Schwarz), dessen Held Julien Sorel sich in seiner Kindheit und Jugend allerlei Übergriffen ›Schwarzer‹ Pädagogik zu erwehren hatte, um später, als Hauslehrer, seinerseits in die Schule von so etwas 368 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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wie einer Art ›weißer‹ Pädagogik genommen zu werden, und zwar unter Leitung der Mutter der von ihm zu erziehenden Knaben, die ihn ob ihrer Schönheit mächtig verwirrt, wie die folgende Szene zeigt: »›Niemals, gnädige Frau, werde ich Ihre Kinder schlagen; das schwöre ich bei Gott.‹ Und bei diesen Worten wagte er es, Frau von Rênals Hand zu ergreifen und an seine Lippen zu führen.« (Stendhal 1830: 115)
Dem pädagogisch Richtigen steht mitunter die Macht der Erotik entgegen, konnte, wer wollte – womöglich auch Nietzsche – hieraus lernen. Nietzsche schätzte Stendhal aber nicht nur als Pädagogen-Verächter, sondern auch als »Frankreichs letzten großen Psychologen« (V: 199), ihn in dieser Hinsicht sogar als sein Vorbild nehmend, wie die Bemerkung offenbart: »[W]er mit feinen und verwegenen Sinnen begabt ist, neugierig bis zum Cynismus, Logiker beinahe aus Ekel, Räthselrather und Freund der Sphinx gleich jedem geborenen Europäer, der wird ihm nachgehen müssen.« (XI: 599)
Dieser hier gewiesenen Fährte sei hier nicht gefolgt, wohl aber die Bedeutung Stendhals für Nietzsche festgehalten, auch dargetan, dass sie im Verlauf der Rezeptionsgeschichte aus politischen Gründen – etwa von Ernst Bertram (vgl. Bludau 1979: 64 ff.), in der NS-Zeit vor allem von Alfred Baeumler (ebd.: 72 ff.) – zielgerichtet heruntergespielt wurde. Hierzu passt das in den Bayreuther Blättern in der NS-Zeit zu Gehör gebrachte Urteil Gustav-Georg Rölls, der Einfluss französischer Schriftsteller (genannt wird auch Stendhal) habe Nietzsche zu einem »Irrdenken« geführt, »das nichts als vergeistigter Satanskult ist.« (zit. n. Bludau 1979: 75) Speziell diese Aggressivität in der Ablehnung erklärt sich möglicherweise aus einem weiteren Umstand: Nietzsche und Stendhal waren nämlich nicht nur ›Brüder im Geiste‹, sie waren auch, als Syphilitiker, ›Brüder im Leiden‹ – und als solche beide je auf ihre Weise betroffen vom diesbezüglichen Wegsehen der über sie Arbeitenden und Forschenden. Im Fall Stendhal gilt dies ungeachtet eigentlich kaum zu missdeutender Befunde dieses sich in seiner Jugend sich als Spezialist in Sachen »chercher la femme« Gerierenden, von dem bis ins Detail ausgearbeitete Ratschläge überliefert sind, wie man »mit einer anständigen Frau« gegen deren Willen schlafen kann (vgl. Willms 2010: 55 f.). Stendhal wird derlei Ratschläge wenig später in Kladden in der Ab369 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sicht, »ein großer Maler der Leidenschaften« zu werden, unter dem Titel Filosofia Nova auflisten und als Bereicherung des etwa von Rousseau in La Nouvelle Héloïse überlieferten einschlägigen Wissens verstehen. Als eine Art Wiedergänger des (bürgerlichen) Hauslehrers St. Preux aus diesem Briefroman machte Stendhal ab Januar 1802 (erfolglos) Jagd auf ›seine‹ Julie namens Victorine Mounier. (ebd.: 58 f.) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein auf Syphilis hindeutender Eintrag vom 2. Oktober 1801 in einem von Stendhal seit diesem Jahr (bis 1821) geführten Tagebuch. (vgl. Stendhal 1981: 27) Die Sache hinter diesem Eintrag wurde wohl auch im Freundeskreis ruchbar, wie ein vier Jahr späterer Notat (vom 14. Januar 1805) belegt, in welchem Stendhal Klage über ›Bernadille‹ führt, der ihm ein absehbares Liebesabenteuer mit dem Scherzwort vermasselt habe, in Stendhals Adern flösse mehr vom damaligen SyphilisTherapeutikum Quecksilber (»du vif-argent«) denn Blut (ebd.: 175). ›Bernadille‹ ist das Pseudonym eines Komödianten, genannt ›Dugazon‹, dessen Schauspielunterricht Stendhal damals zusammen mit seinem Cousin besuchte. Letzterer wiederum, im Tagebuch unter der Chiffre ›Pacé‹ auftretend, warnte Stendhal, gleichsam mit umgekehrten Vektor, vor der Schauspielschülerin ›Madame Louasan‹, die Tripper (»la chaude-pisse«) habe und auf diesen hinweisende Pusteln (»boutons«) (ebd.: 210), wenn nicht gar, so sein Cousin am 14. Februar 1805 über Stendhals spätere (ab 8. April 1805) Mätresse, Syphilis (»il mal francese«; ebd.: 220). Zu diesem Themenkomplex gehört auch das Notat Stendhals vom 12. März 1805 über eine sich bietende Chance bei jener, die zwar »dieser Tage […] il marchese« – also ihre Tage – hatte, allerdings andeutend, prinzipiell nicht abgeneigt zu sein, so jedenfalls Stendhal: »Am Sonntag sprach sie zu mir von den drei carricks wie eine Frau, die sich ergibt« (Stendhal 1961: 221), woraus er eine neue Lektion in Sachen »Liebestaktik« (ebd.: 219) bezogen habe: »Heute abend welche kaufen und immer bei mir tragen« (ebd.: 221), was man wohl nicht überfolgernd deutet, wenn man sagte, Stendhal denke an den Kauf von Kondomen als Schutz vor Syphilisinfektion – eine damals auf Basis eines seit 1750 aus Darmhaut gefertigten englischen Produkts zwar mögliche, aber nicht sehr verbreitete und, wie bereits gesagt (s. I.1), seit 1826 durch Papst Leo XII. mit Bannfluch belegte Praxis. In diesen Zusammenhang gehört auch Stendhals – an Rousseaus eben dargestellter Zulietta-Episode gemahnende – Affäre mit der Pariser Prostituierten Éliza (»belles cuisses, mais tête bête«; Stendhal 1981: 516) am 5. Februar 1809, also gut 370 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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zwei Monate, nachdem ein Arzt bei ihm »eine syphilitische Infektion anhand einer Wucherung an der Eichel diagnostiziert« hatte (Willms 2010: 100). Angesichts dieser Datenlage, die Stendhals Agieren gegenüber Frauen in einem überaus fragwürdigen Licht erscheinen lässt, sind die in der einschlägigen Forschung zu beobachtenden Strategien zur Bagatellisierung oder gar Beiseitesetzung der Syphilisdiagnose durchaus auffällig und wohl Indiz für eine sie prägende rein männliche Sicht ohne Empathie für die (weiblichen) Opfer. Johannes Willms beispielsweise erwähnte zwar, wie eben gesehen, die Pariser Diagnose, nicht aber Dugazons unter dem Datum des 14. Januar 1805 überlieferte Warnung vor dem mutmaßlichen Syphilitiker Stendhal. Und jene von Stendhals Cousin vom 8. Februar 1805 vor der mutmaßlichen Syphilitikerin Mélanie Guilbert meinte Willms als auf »Geschlechtskrankheiten« (Willms 2010: 76) bezogen bagatellisieren zu dürfen. Dazu passt deftiger Spott à la: »Anfang Januar 1802 war Henri Beyle wieder in Grenoble, und die einzige hartnäckige Infektion, die ihm künftig zu schaffen machte, waren die schönen Aspekte seines Italienerlebnisses, zu denen er in den folgenden Jahren immer wieder in Gedanken und Träumen Zuflucht nahm.« (ebd.: 57)
Zu dieser Verleugnungsstrategie gehört vor allem, dass Willms im Blick auf das 1801 er Notat die Diagnose für »wahrscheinlicher« hält, »dass Stendhal an einem psychosomatischen Syndrom litt« – und sich dabei auf den Befund »des angesehenen Turiner Arztes Luigi Maria Depetazzi« (ebd.: 56) meint berufen zu dürfen bzw. auf dasjenige, was Stendhal seinerseits seinem Tagebuch unter dem Datum des 12. Dezember 1801 in dieser Sache anvertraute. Freilich, viel war es nicht, eigentlich nur der Satz: »Einem kürzlichen Gespräch mit Monsieur Depetas zufolge, den ich für einen sehr guten Arzt halte, scheint meine übliche Krankheit die Langeweile zu sein. Viel Bewegung, viel Arbeit und niemals einsam sein, das wird mich heilen.« (Stendhal 1961: 31)
Dass Stendhal dieser ›Diagnose‹ mehr Glauben schenkte als jener über zwei Monate zuvor unter Akutbedingungen erstellten, leuchtet, psychologisch betrachtet, ein, zusammen mit dem anderen: Willms schaffte es mit einigen rhetorischen Tricks, ein eher beiläufiges »Gespräch« als Basis einer ernsthaften Diagnose aufzuwerten. Etwas anders agierte der Stendhal-Biograph Michael Nerlich,
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der weder diesen noch jenen Arztbericht erwähnte und im Blick auf die vermutete Erstansteckung im Jahr 1801 den Satz für ausreichend hielt, Stendhal habe »›seine Unschuld‹ in einem norditalienischen Bordell ›verlor[en]‹«, die Bedeutung dieses Umstandes könne aber als »gering veranschlagt« (Nerlich 1993: 26 f.) werden – eine wiederum männerspezifische Bewertung, wenn man bedenkt, dass selbst Nerlich andernorts davon berichtet, eine von Stendhals Geliebten habe 1824 in syphilodophober Aufwallung mit Selbstmord gedroht aus Sorge, er habe sie mit der venerischen Krankheit infiziert. (ebd.: 79) So gesehen bleibt nur das Resümee, Stendhal sei als Mann wegen einer ihm eigenen Unbedenklichkeit im geschlechtlichen Verkehr nicht gerade ein Vorbild gewesen. Wie Nietzsche?, müssen wir hier fragen, um mindestens dieses Ergebnis noch zu sichern: Wie Nietzsche hat offenbar auch Stendhal mehrheitlich männliche Biographen gefunden, denen es ratsam schien, in der No-Go-Area Syphilis besser zu schweigen.
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George Gordon Noel Lord Byron (1788–1824): Nietzsches Mutmacher
Dichtungen Lord Byrons hatte Nietzsche schon in seiner Jugend gelesen, in Ecce homo eine »frühe und tiefe Seelenverwandschaft« gestehend, »gebunden an die ›Abgründe‹ des Manfred (1817), dem er 1872, gegen Schumann, eine recht glücklose und durch H. v. Bülow heftig kritisierte Komposition für Klavier widmet.« (NLex2 [Campioni]: 63) Werner Ross: »Manfred, düsterste Inkarnation von Byrons Weltschmerz, war ein einsamer, in magischen Künsten erfahrener Held in seinem Alpenschloß. Die reizende Frauengestalt, die er beschwört, löst sich in Nichts auf, nur ihre Stimme bleibt ihm im Ohr: ›Du selbst sollst deine Hölle sein!‹ Das fand Nietzsche […] für sich passend.« (Ross 1994: 80) Eigensozialisatorisch wichtig des Weiteren: Die Botschaft, dass man, wie Byron, auch ohne Gottesglaube genial sein könne, mehr als dies, so Nietzsche 1878 in Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel Tragödie der Kindheit: »Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter
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leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist.« (II: 277)
Die letztgenannte Vokabel variiert, wie leicht erkennbar, Stendhals Lehrer- und Erzieherschelte (»nos ennemis naturels«). Mit dem zweiten Satzteil hingegen spielt Nietzsche auf Lord Byron an und auf dessen Kampf gegen seine Mutter – eine Mutter ähnlich der seinen, wie Nietzsches Klage aus einem Nachlassvermerk zu erkennen gibt: »Welche Marter für ein Kind, immer im Gegensatz zu seiner Mutter sein Gut und Böse anzusetzen und dort, wo es verehrt, gehöhnt und verachtet zu werden!« (XII: 15)
Sätze wie diese zeugen für eine lange Leidensgeschichte in Sachen ›Schwarze Pädagogik‹, an deren Ende Nietzsche in einem für Ecce homo gedachten, aber von seiner Schwester unterschlagenen Manuskriptblatt bitter über die »Behandlung« durch seine Mutter wie Schwester klagen und für sie die Vokabel »vollkommene Höllenmaschine« (VI: 268) in Vorschlag bringen wird, um in diesem Zusammenhang sich dessen zu erinnern, dass Lord Byron »einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet« habe, aber sein Freund Thomas Moore ›zu gut‹ gewesen sei, kurz: »er verbrannte die Papiere seines Freundes« (V: 386) – ein Schicksal, das er, wie Nietzsche damals womöglich schon ahnte, mit Lord Byron wohl teilen werde. Anregend war für Nietzsche vor allem Lord Byrons Versepos Don Juan (1819–1824) mit Versen wie »Die Christen schlugen einst einander tot/Und glaubten fest, daß Gott es so gebot« (Nr. 83) und mit Sottisen wie: »Im zwölften Buch zumal zeig ich den Frommen/ Den Ort, wohin die bösen Menschen kommen.« (Nr. 207) Auf Nietzsches Zustimmung wäre fraglos auch Nr. 116 getroffen: »O Plato! Plato! du hast mehr Chausseen / Gepflastert für unsittliches Benehmen / Mit deinen tollen Lehren und Ideen, Das unbezähmbare Menschenherz zu zähmen, / Als alle Dichter, die die Welt gesehn. / An deiner Stelle würde ich mich doch schämen, / Windbeutel, Scharlatan und Grillenjäger; / Im besten Fall bist du ein Zwischenträger.«
Die größte Übereinstimmung zu Nietzsche offeriert aber Byrons Lebensmotto: »Das große Ziel meines Lebens ist das Empfinden – zu spüren, daß wir existieren – wenn auch unter Schmerzen – es ist diese ›sehnsuchtsvolle Leere‹, die uns antreibt zum Spielen – zu Schlachten – zu Reisen – zu zü-
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gellosen, aber heftig empfundenen Unternehmungen jeder Art, deren hauptsächlicher Reiz in der Erregung liegt, die mit der Durchführung untrennbar verbunden ist.« (zit. n. Ueding 1988: 443)
Von hier aus war es nicht mehr weit hin zu Nietzsches freigeistigem Abgesang auf seinen damals im Ehestand untergehenden Freund Erwin Rohde: »Lieber Freund, es lebe die Freiheit, Heiterkeit und Unverantwortlichkeit! Leben wir über uns, um mit uns leben zu können!« (6: 177)
Damit nun aber auch brach sich das ganze Wissen um die Antinomie seiner Existenz Bahn, im bald einsetzenden Bann des ewig lockenden ›Weibes‹ in Gestalt Lou von Salomés, ebenso wie im Bann seiner Losung: »g e f ä h r l i c h l e b e n ! « (III: 526) In der Linie dieser Selbstüberwindungsrhetorik bewegt sich auch Nietzsches Wort aus GM II 24 von der »grossen Gesundheit«, die der »Besieger Gottes und des Nichts« aufzuweisen hätten: »Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden ist« (V: 336) – Geister wie Lord Byron.
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Heinrich Heine (1797–1856): Nietzsches Leidensgenosse
Wie die Überschrift schon andeutet: Heine war Syphilitiker, wusste darum und klagte darüber, wie die folgenden, von Anja Schonlau (2005: 86) herausgestellten Verse aus Zum Lazarus (1854) zeigen: »Sie küßte mich lahm, sie küßte mich krank, / Sie küßte mir krank die Augen; / Das Mark aus meinem Rückgrat trank / Ihr Mund mit wildem Saugen. // Mein Leib ist jetzt ein Leichnam, worin / Der Geist ist eingekerkert – / Manchmal wird ihm unwirsch zu Sinn, / Er tobt und rast und berserkert.« (HW I: 242)
Die Heineforschung hat diese und weitere, vom Neurologen Roland Schiffter (2005) zusammengetragenen Indizien mehr oder weniger mannhaft akzeptiert (vgl. Kruse 2005: 62 f.), ganz anders als die Nietzscheforschung bezogen auf den von ihr zu thematisierenden Mann. Der übrigens seinerseits keine Zweifel zu haben schien, in Heinrich Heine eines Leidensgenossen ansichtig zu werden – nicht nur in Sachen der Verachtung, auf die beide je für sich ausgehend von deutschtümelnden wie antisemitischen (Heine war Jude!) Krei374 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sen trafen, sondern auch in der hier besonders interessierenden Frage: Syphilis. Den wohl wichtigsten Beleg in dieser Frage ignorierte indes Kerstin Decker, die nur um die richtige Frage weiß (»Was verbindet beide?«; Decker 2005: 100), nicht aber um die Antwort, auch nicht um die bisher gegebenen Antworten, etwa jene von Sander L. Gilman, der in Nietzsches 1879 verfasstem Gedicht R i m u s r e m e d i u m . Oder: Wie kranke Dichter sich trösten Bezüge zu Heines Klage über seine ›Matratzengruft‹ erkannte. Insonderheit die Textzeile »Du speichelflüssige Hexe Zeit« (III: 647) verweise auf die Kenntnis »eines der bekanntesten Symptome des Syphilitikers, den unkontrollierbaren Speichelfluß infolge der Quecksilberbehandlung« (Gilman 1998: 67), als »mercurieller Speichelfluss« (Kunze 101891: 732) auch in einem in Nietzsches Besitz befindlichen Gesundheitsratgeber beschrieben. Neuere Kommentare zu diesem Lied (etwa Günther 2015) lassen diesen – an sich doch zumindest unter dem Punkt ›Forschungsstand‹ abzubuchenden – Hinweis leider unbeachtet, resümierend gesprochen: Das vom Freier Heine und in dessen Sog auch von seinem Verehrer Nietzsches durchbrochene Schweigen der Männer kam nicht recht zu Gehör.
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Jules Amedée Barbey d’Aurevilly (1808–1889): Ein verdächtig gut informierter katholischer Moralist, auf den Nietzsche verdächtig gut zu sprechen war
Dieser französische Schriftsteller, Moralist und Kritiker gilt aus heutiger, zumal feministischer Sicht, repräsentiert etwa durch Susanne Rossbach, als »autoritärer Katholik«, der »auf ein streng absolutistisches Regime und auf die starren Dogmen der katholischen Kirche« zählte, »um im XIX. Jahrhundert revolutionäre Umbrüche und demokratische Entwicklungen sowie zügellose Leidenschaften und Begierden einzudämmen bzw. zu unterdrücken.« (Rossbach 1995: 149) Dieser Lesart korrespondiert das zumal auf Barbey als Kritiker und auf dessen Wirkung abstellende Urteil, wonach Barbey »ein Bindeglied zwischen dem Frankreich der Bourbonen und den Tendenzen des 20. Jahrhunderts dar[stellt], die in der Action française ihren Höhepunkt fanden.« (Wellek 1965: 76) Nietzsches Interesse konzentrierte sich vor allem auf Barbeys Buch Sensations d’histoire (1887) aus der Folge Les Oeuvres et les Hommes. Er empfahl es – und diese Stelle steht zugleich für eine der wenigen expliziten Erwähnungen 375 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Barbeys in Nietzsches Gesamtwerk – Franz Overbeck gleich nach Erscheinen zur Lektüre als Produkt eines »Unabhängigen (denn zu seinem Katholicismus gehört jetzt mehr Unabhängigkeit als zur Freidenkerei).« (8: 67) Giuliano Campioni (2009: 199 ff.) hat die Folgen dieser Lektüre für Nietzsches Napoleon- und Renaissancebild subtil rekonstruiert und dabei auch die Attraktivität von Barbeys Lobgesang auf die Renaissance-Päpste, denen nichts Menschliches fremd gewesen sei, für Nietzsches Lesart dieser Epoche herausgestellt. (s. II.4) Gar nicht beachtet wurde hingegen in der Nietzscheszene bis in die jüngste Zeit hinein Nietzsches Interesse für den »romancier« Barbey – scheinbar konsequent eingedenk von Nietzsches Vorhalt, dieser sei für ihn »nicht erträglich« (8: 67), was scheinbar den Rückschluss erlaubt: Nietzsche dürfte es kaum als ›erträglich‹ qualifiziert haben, Barbeys einleitend bereits angesprochenes Hauptwerk, nämlich die von Victor Klemperer als bleibend gelobte und mit Attributen wie »Eindringlichkeit«, »Lebendigkeit«, »ungekünstelte Schlichtheit« sowie »grausame Fürchterlichkeit des Erzählten« (Klemperer 1956: 156) bedachte Novellensammlung Les Diaboliques (1874) und die hier dargebotenen sechs (man kann durchaus kalauern: Sex-) Erzählungen. Freilich, und der bisher stillschweigend fortgeführte Denkfehler sei hiermit direkt angesprochen: Eher unwahrscheinlich ist, dass Nietzsche sie als nicht erträglich qualifiziert hätte, ohne sie zu kennen. Und tatsächlich: Nietzsches Satz aus der mit »Nizza, den 25. März 1888« abgezeichneten Vorrede zu einem geplanten Buch über Kunst, er erkenne die Realität allenfalls »ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen« an (XIII: 217), gemahnt an Barbey, deutlicher: Ist so vollständig Barbeys Formulierung aus einer jener Novellen aus Les Diaboliques nachgebildet, die schönsten Romane des Lebens seien »Wirklichkeiten, die man im Vorübergehen mit dem Ellbogen oder gar mit dem Fuß gestreift hat« (Barbey d’Aurevilly 1985: 197), dass Zufall als Erklärung nicht ausreicht, sondern auf eine zuvor erfolgte und bisher noch nicht hinreichend dokumentierte Lektüre von Barbeys Hauptwerk durch Nietzsche geschlossen werden darf. Brisant dabei: In der letzten dieser Novellen mit dem Titel La Vengeance d’une femme (dt. Die Rache einer Frau) wird der Verfallsprozess der Heldin, einer aus Liebesleid zu einer syphilitischen Dirne verkommenen bildhübschen italienisch-spanischen Herzogin, tatsächlich in kaum erträglicher Drastik geschildert (vgl. Schonlau 2005: 376 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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215 f.), und zwar dem Erzähler, einem ihrer zwischenzeitlichen Freier namens Tressignies seitens eines »biederen alten Priesters«: »Eine Tages sei ihr jäh eines ihrer Augen aus der Höhlung gesprungen und ihr zu Füßen gefallen wie ein Sous-Stück … Das andere sei vereitert und ausgeflossen …« (Barbey d’Aurevilly 1985: 406)
Wenn wir uns der im Prolog erwähnten Sorge Nietzsches vom Sommer 1891 um seine Nase erinnern, wird man gerne glauben, dass Nietzsche derlei Naturalismus gänzlich unerträglich gewesen war oder hätte sein müssen – und dies ganz unabhängig von Barbeys Botschaft, im Gegenteil: Dass jemand aus allerhöchstem Adel die jedes Maß übersteigernde, in grausamer Ermordung des Nebenbuhlers einmündende Eifersucht des standesgleichen Gatten in einigermaßen gleicher Münze heimzahlt qua freiwilligem Dirnenstand und in der Hoffnung, sich auf diese Weise die Syphilis einzuhandeln und mittels der plakativen Bekanntmachung der Todesumstände den Gatten gleichsam ›tödlich‹ zu beleidigen und zu beschämen, hätte Nietzsche durchaus gutheißen können. Gefallen hätte ihm fraglos auch Tressignies Spott auf jenen »biederen Priester«, diese »naive Seele«, die in ihrer Demut nicht gewollt habe, dass auf der Grabplatte die Vokabel »reuig« vor »Dirne« eingefügt werde, denn, und so endet diese Novelle: »[E]r [Tressignies; d. Verf.] wußte, daß sie nicht bereut hatte und daß jene rührende Demut auch über den Tod hinaus nichts war als Rache!« (ebd.: 407)
Zumal Barbeys Grundidee dürfte Nietzsche, diesen in puncto Lou von Salomé heftigen Romantiker, gefallen haben: In Zeiten des durch Rousseaus Briefroman La Nouvelle Héloïse (1761) freigesetzten Hohen Liedes auf die Liebesehe (vgl. Niemeyer 2019a: 140 ff.) stand die im Adel gängige Standesehe unter Legitimationsdruck. Thematisch relevant hierzu: Honoré de Balzacs Roman La cousine Bette (1844; dt.: Tante Lisbeth), wo der abgelehnte adlige Verehrer der Witwe eines (wohl) syphilitischen Mannes dafür sorgt, dass die Witwe »sich durch diverse sexuelle Umwege mit einer exotischen Krankheit ansteckt« (Schonlau 2005: 215) – der Syphilis selbstredend, eine Vokabel, die auch Balzac meidet wie die Pest. Immerhin: Das Szenario sieht hier schon vor, dass auch der Adel sein Recht auf Liebesheirat, wenn auch auf dem Umweg der Rache, meint geltend machen zu dürfen. Anders schon das Szenario in Eugène Sues (1804–1857) Kol377 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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portageroman Die Geheimnisse von Paris (1842/43). Er erzählt uns vom galoppierenden Unglück eines von seinem Vater um die Chance auf die Liebesheirat mit einer (schottischen) Bürgerlichen gebrachten (deutschen) Hochadligen. Fixpunkt: Die dieser Verbindung entspringende Tochter, der ein ferneres Leben in Zwangsprostitution in Paris droht. Nach der Befreiung von dort durch ihren leiblichen, vom (Groß-) Vater verstoßenen Vater findet sie, schwer traumatisiert, den Weg nicht mehr zurück in durch Vertrauen und Liebe getragene Lebens- und Liebesordnungen, so dass es schließlich der Werbung eines seltsamen Heiligen erliegt – und ins Kloster geht. In Übersetzung geredet: Jede Intervention, die das Verlogene der Standesehe als Institution zu geißeln vermochte, war erwünscht. Von hier aus erklärt sich das Szenario in La Vengeance d’une femme. Der Sache nach ist es einem zu jener Zeit 350 Jahre zurückliegenden handfesten Renaissance-Skandal nachgebildet. Hierzu lässt Barbey seine Hauptfigur, die adlige Dirne, das Folgende ausführen, gerichtet an ihren Freier Tressignies: »Erinnern Sie sich! … Unter Franz I. hat es einen Mann gegeben, der zu einer meinesgleichen gegangen ist, um sich bei ihr eine furchtbare, schändliche Krankheit zu holen, die er auf seine Frau übertragen hat, um auf diese Weise den König, dessen Geliebte sie war, zu vergiften; so hat er sich an den beiden gerächt … Ich will nicht weniger tun als dieser Mann. Bei dem schmachvollen Leben, das ich allabendlich führe, muß einmal der Tag kommen, wo schließlich mich Prostituierte die Lustseuche packt und zerfrißt, so daß ich in Stücke zerfalle und in einem gemeinen Spital erlösche!« (ebd.: 390 f.)
Die Mär, auf die hier angespielt wird, ist die oben (s. III/4) in Erinnerung gerufene über den französischen König Franz I. Er wurde Opfer des Racheakts des Pariser Rechtsgelehrten Ferron, der bewusst erst sich (bei einer Dirne) und dann seine Frau, eine Mätresse des Königs 121, mit Syphilis infiziert haben soll, um dann anhand der Art des Todes des Königs das Berechtigte seines Verdachts bestätigt zu bekommen. (Bäumler 1976: 64) So betrachtet bedichtete Barbey in seiner Novelle La Vengeance d’une femme diesen Renaissance-
121 Zum eher ungesicherten Teil dieser Mär gehört die von Bäumler (1976: 64 f.) mit deutlichem Vorbehalt referierte Zusatzannahme, Leonardo da Vinci (1452–1519), von Franz I. 1517 an den Hof geholt, habe in dem ihm zugeschriebenen Gemälde La belle Ferronnière jene Dame abbilden wollen.
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Mythos neu, nun in der Absicht, die Legitimationskrise der Standesehe in nachrevolutionärer Zeit zu beschleunigen. Allerdings bedachte Barbey auch den umgekehrten Fall: den des Schutzes der Institutionen im gegebenen Fall, dies etwa in seiner Novelle Le Bonheur dans le crime (dt.: Glück im Verbrechen). Im Zentrum dieser Novelle steht ein Arzt, der nahe daran ist, das Geheimnis eines anderen in dieser Erzählung auftretenden wirklichen Edelmanns, eines Grafen, zu enthüllen. Dieser nämlich praktiziert im Rücken seiner Gattin in seinem Schloss ein veritables Konkubinat mit deren bildhübscher Zofe, eine vormalige Fecht-Ikone und als solche Traumfrau seiner ehemaligen Provinzstadt-Schickeria-Clique. Und doch schweigt dieser Arzt letztlich – nicht als Edelmann, wohlgemerkt, sondern weil er auf dem Sterbebett der von der Zofe vergifteten und jede Hilfe verweigernden Gräfin zum Schweigen über diesen Mord und die Mörderin verpflichtet wird, »um den Adel des Landes willen« (Barbey d’Aurevilly 1985: 178), also: im Interesse des Erhalts eben dieser damals, im Nachgang zur Französischen Revolution, schwer in Bedrängnis geratenen, aber von der Gräfin als staatserhaltend gedeuteten Institution. Diese nämlich wurde, so müssen wir die Pointe speziell dieser ›diabolischen Geschichte‹ verstehen, vom Grafen bedenkenlos geschädigt, nicht nur durch sein gewissenloses Konkubinat mit ihrer bürgerlichen Zofe, sondern auch durch den Umstand, dass er sie nach Ablauf der offiziellen Trauerzeit heiratet, nicht achtend auf die um sie inzwischen kreisenden Gerüchte als mutmaßliche Giftmörderin. Anders verhält es sich da schon mit der Novelle À un Diner d’Athées (dt. Das Gastmahl der Gottlosen), mit dem den Titel als auch die (sexual-) erzieherische Absicht des Erzählers erläuternden Motto »So etwas können nur Menschen tun, die keinen Gott haben« überschrieben – ein Motto, das den Gottesleugner Nietzsche auf den Plan hätte rufen müssen. ›So etwas‹ meint vor allem, im Hinblick auf die hier interessierende Thematik: So etwas wie Rosalba, »ein äußerst hübsches, wenn nicht gar schönes Mädchen etwa von der Art der Fürstin Paolina Borghese, der Schwester des Kaisers«, die »ebenfalls auf eine geradezu ideale Weise keusch [wirkte], und dabei wissen Sie alle, woran sie gestorben ist …« (Barbey d’Aurevilly 1985: 324) – eine etwas schwer zu deutende Erläuterung. Der offiziellen Lesart zufolge ist nämlich Napoleons Lieblingsschwester Paolina, legendär geworden wegen ihrer Liebschaften sowie des Skandals, den sie auslöste als Nacktmodell für Canovas Venus Victrix, dem Krebs erlegen – 379 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ein Tod indessen, der nicht gerade Indiz ist für einen unkeuschen Lebenswandel. Barbey will also in seiner Novelle die Fortsetzung seines wissenden Publikums evozieren »… an der Syphilis«, was ad Paolina eine skandalöse und jedenfalls in der einschlägigen Forschung (exemplarisch: Rossbach 1995) kaum einmal zu Gehör gebrachte Andeutung ist, aber ad Rosalba, wie gleich noch deutlicher wird, durchaus passende sowie diesem Zuhörerkreis nicht unvertraute, denn: »Wir waren […] recht üble Burschen, Spieler, Libertiner, Schürzenjäger, Duellanten, Trunkenbolde, wenn es sein mußte, und wir warfen das Geld auf jede nur erdenkliche Art zum Fenster hinaus.« (ebd.: 316)
›Wir‹ meint auch den Erzähler, Herzog des Mesnilgrande (auch Mesnil genannt), an Lord Byron gemahnend, »von einer rauhen Häßlichkeit« mit »bleichem, verwüsteten Gesicht unter dem sehr jung geblieben braunen Haar«, mit »meergrünen Augen, die wie bei sehr feurigen Rennpferden von roten Äderchen durchzogen waren.« (ebd.: 279) Mit dem Versprechen aufwartend, er wolle die zuvor erzählte Geschichte »von den achtzig vergewaltigten und in den Brunnen geworfenen Nonnen bei weitem übertreffen« (ebd.: 348), mehr als dies: Herausgefordert durch den Spruch eines Kameraden, selbst in der Todesstunde hüpften Leute wie er »nicht wie ein erschreckter Frosch in ein Weihwasserbecken« (ebd.: 311), erzählt er die respektive seine Geschichte von Rosalba, die, wie gesagt, mit Paolina in Vergleich gesetzt wird und sich von dieser nur dadurch unterscheidet, dass sie Scham weit besser zu heucheln vermag als Napoleons Lieblingsschwester. Und so nimmt denn auch ihre Geschichte einen mit jener Paolinas vergleichbaren Verlauf, gleichsam als Hure des Regiments, die nur zum Schein und jedenfalls nicht aus Liebe einen Offizier geheiratet hat, der, so der Erzähler weiter, »uns eines Tages im Café verkündete, seine Frau sei in anderen Umständen, und er werde bald die Freude erleben, Vater zu sein.« Das ist ein wenig zu optimistisch gesprochen, wie gleich der nächste Satz auf fast schon diabolische Weise deutlich macht: »Bei dieser unerwarteten Nachricht sahen die einen einander an; die anderen lächelten; aber er merkte es nicht; oder, wenn er es bemerkt hatte, so achtete er nicht darauf; denn wahrscheinlich hatte er sich vorgenommen, lediglich auf eine unmittelbare Beleidigung zu reagieren.« (ebd.: 332)
Wie man sieht: Das Schweigen der Männer bringt hier, als kollektives, den kaum hörbaren Kanon »Wie naiv ist der denn!« hervor, so 380 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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dass die Pointe nicht überraschen kann: Das »Regimentskind«, wie es noch am gleichen Tag in internen Kreisen geheißen wird, »starb ein paar Monate nach der Geburt.« (ebd.: 334) Muss man hier wirklich noch ergänzen: Wie das damals so zu gehen pflegte bei einer – um einen in Nietzsches Besitz befindlichen Gesundheitsratgeber (Kunze 71881: 426 f.) zu zitieren – Syphilis congenita? Überraschender ist da schon das Finale: Der vermeintliche Vater, endlich den Braten riechend, steht im Begriff, seine Rosalba, von ihr immer weiter provoziert, auf grausame Weise gleichsam für immer zu versiegeln, wird aber in allerletzter Minute vom wirklichen Vater getötet. Der Rest spielt, wie sollte es auch anders sein bei Barbey, im Beichtstuhl: Mesnil übergibt das von ihm über Jahre hinweg wie eine Reliquie verwahrte Herz seines Sohnes, das der vermeintliche Vater kurz vor seinem Tod aus Enttäuschung über seine Nicht-Vaterschaft mit Füßen getreten hatte, einem Geistlichen mit der Bitte um Bestattung in geweihter Erde. Das abschließende Schweigen der Männer darob war »ausdrucksvoller als alle Äußerungen«, was unseren Dichter zu der hoffnungsfrohen Frage veranlasst: »Sahen dieser Atheisten endlich ein, daß, wenn die Kirche einzig dazu da wäre, Herzen zu empfangen – tote oder lebendige –, mit denen man nichts mehr anzufangen wüßte: daß das bereits etwas hinlänglich Schönes wäre?« (Barbey d’Aurevilly 1985: 324)
So also endet sie, diese Anti-Syphilis-Erzählung: mit der Hoffnung, Lord Byron alias Herzog Mesnilgrande fände zurück zu Gott – ähnlich wie Nietzsche, jedenfalls der Hoffnung seiner Mutter nach dem Januar 1889 zufolge? Schon diese ins Spekulative weisende Frage zeigt, wie viel Erklärungspotential verschenkt wird, wenn man diese Novelle Barbeys dem einleitend via Susanne Rossbach eingeführten Leitmotiv der ›Eindämmung‹ respektive ›Unterdrückung‹ ›zügelloser Leidenschaften und Begierden‹ subsumiert. »Rosalba«, so Rossbach, exemplarisch, »hatte mit ihren sexuellen Eskapaden Unruhe, Unordnung und Dunkelheit in die patriarchalische Welt gebracht«, also musste ihre Sexualität »wie ein Schriftstück versiegelt, die ›Lücke‹, die Dunkelheit und Unordnung generierte, für immer verschlossen werden.« (Rossbach 1995: 148) Diese Deutung lässt, wie wir abschließend nun sehen können, wichtige Aspekte dieser Novelle völlig außer Acht, den auf Syphilis hinweisenden frühen Kindstod etwa, auch Rosalbas Parallelsetzung mit Napoleons Lieblingsschwester. Nicht zu vergessen: 381 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Rossbach entbehrt ihres feministischen Zugriffs wegen völlig der Aufmerksamkeit für die Frage, ob der von ihr einseitig als ›autoritärer Katholik‹ Gekennzeichnete nicht seinerseits in das von ihm beschriebene Diabolische verstrickt war. Diese Überlegung ergibt sich jedenfalls aus Edmond de Goncourts wenig charmanter, männertypischer Bemerkung vom 25. Januar 1876 über die Beziehung des Schriftstellers François Coppée (1842–1908) mit einer zwanzig Jahre älteren Vaudevilleschauspielerin, eingeleitet von einer übrigens erneut auf Syphilis hinweisenden Beunruhigung seinerseits »über das erdige Schwarz, das er [Coppée; d. Verf.] in den Nasenlöchern und Mundwinkeln hat, kurz über die ganze morbide Senilität seines Kindergesichts«, fortgeführt mit dem Satz: »die Paarung dieser beider Menschen erscheint mir in meiner Phantasie wie die Paarung eines Skeletts mit einem verschimmelten Fötus« sowie zum Höhepunkt geführt mit der Feststellung: »In diesem heimlichen Liebesleben, das unter dem gemeinsamen Dach kaum jemand anderen empfängt als Barbey d’Aurevilly, denke ich an das erschreckende Trio spindeldürrer Gestalten, die diese Frau, dieser junge Mann und der alte Erotiker abgeben müssen, dessen zerknitterte und gegerbte Vertrocktnetheit mich an das vertrocknete Glied des Tambourmajors erinnert, das im Musée Danton zu bewundern ist.« (JGG 6: 259 f.) 122
Dies war eine fraglos gezielte Provokation, zumal sie zur späteren Veröffentlichung bestimmt war. Und doch muss die Frage erlaubt sein, ob Edmond de Goncourt, was Coppées Nasenlöcher angeht, nicht die Hellsicht die Feder führte infolge seiner Expertisierung nach dem ihn traumatisierenden, nun sechs Jahre zurückliegenden Syphilistod seines Bruders Jules – ein Thema, dem wir uns an entsprechender Stelle noch widmen werden. Bezogen auf Barbey scheint hingegen das Fazit erlaubt: Er war, wie schon sein für Hochaltrigkeit zeugendes Sterbejahr anzeigt, kein Syphilitiker. Wohl aber darf man ihn einen (auch) über diese Geschlechtskrankheit und deren nähere Umstände empörten, katholischen Protokollanten des ihm als ›letzten Dandy‹ wohlvertrauten Jagens und Sammelns seiner Geschlechtsgenossen heißen. Und der normale Leser? Ihm, so Barbeys von Susanne Rossbach rekonstruierte Argumentationsstrategie, sei nicht primär die Sünde hinter derlei Verfall in erzieherischer Absicht vor Augen zu führen, sondern die 122 Gemeint ist hiermit ein heute nicht mehr bestehendes Wachsfigurenkabinett. Ich bedanke mich bei Fabien Jégoudez für diesen Hinweis.
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bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in ihrer »Geistlosigkeit und Mittelmäßigkeit« als »Dekadenzerscheinung« (Rossbach 2002: 51) – ein Punkt, an dem auch Nietzsche gelegen war, den man aber nur erkennen kann, wenn man, anders als Mario Praz, den roten Faden in der Novellensammlung Les Diaboliques nicht ignoriert. Und dieser lässt sich weder mit dem Attribut »Erzvater der Dekadent« (Praz 1930 [1960]: 274) noch mitttels der Vokabel »Trivialromantik« (ebd.: 277) einfangen. Vielmehr lautet er auf den Namen »Syphilis« und verbirgt sich in der Linie des denkbaren Abhandlungstitels: »Vom Nutzen und Nachteil der Syphilis für das Überleben des Subjekts als eines moralischen«.
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Alfred de Musset (1810–1857): Ein »Mensch des Augenblicks« (Nietzsche)
Wer im Kontext Nietzsches sowie des Syphilisthemas über Alfred de Musset zu schreiben beabsichtigt, sollte vorab vielleicht Heine befragen, der seit 1831 in Paris lebte, persönlich mit Musset verkehrte und dessen Jugendpoesie bewunderte (vgl. Bloch 1915: 164 f.) – sowie folgende Spottverse auf Mussets damaliges Wüstlingsleben niederlegte (erschienen in: Deutschland. Ein Wintermärchen [1844]): »Der Alfred de Musset, das ist wahr, / Ist noch ein Gassenjunge; Doch fürchte ich nichts, wir fesseln ihm / Die schändliche Spötterzunge. // Und trommelt er dir einen schlechten Witz, / So pfeifen wir ihm einen schlimmern, / Wir pfeifen ihm vor, was ihm passiert / Bei schönen Frauenzimmern.« (HW I: 436)
Auch dies, so könnte man hier leichthin ergänzen, ist männertypisch: Dieses Unterbrechen des Schweigens der Männer in Fällen, wo es einer vom eigenen Geschlecht, mit dem es sich früher gut ›um die Häuser ziehen‹ ließ, den Halt zu verlieren droht und es geboten scheint, ihn auf die Gefahr hinzuweisen, die ihm widrigenfalls unabweisbar droht – wie man am eigenen Leib erfahren musste. Dass dieser Rat wohl zu spät kam, zeigte sich nur einen Monat später, als Heine dem deutsch-böhmischen Schriftsteller Alfred Meissner (1822–1885), von diesem zu Musset befragt, zu Protokoll gab: »Seine Produktion hat längst aufgehört, der Quell ist versiegt und was da noch nachtröpfelt ist nicht der Rede werth. Der vorfrüh geleerte Freudenbecher hat ihn körperlich ganz heruntergebracht, früh geschwächt, früh-
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zeitig abgenutzt an Leib und Seele. Er ist ein unerquicklicher Anblick.« (zit. n. Bloch 1930: 24)
Im weiteren Fortgang dieses Gesprächs ließ Heine keinen Zweifel daran, dass er Musset für den Verfasser des anonym erschienen deftigen Pornos Gamiani oder: Zwei Nächte der Ausschweifung (1833) halte. Ähnliches wurde 1864–66 in Brüssel dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny (eigentl. Benkert, 1824– 1882), Erfinder des Terms »homosexuell« (1869) und dadurch Ikone der Homosexuellenbewegung (vgl. Sigusch 2008: 146), durch jemanden bestätigt, der in Fragen wie diesen (unter Einschluss der Syphilis) gleichfalls sehr bewandert war: Charles Baudelaire (s. III/7). Konkret berichtete Kertbeny, Baudelaire habe das Gespräch auf eine Edition clandestane von Gamiani gebracht, von der wiederum Iwan Bloch (1915: 171 f.) vermutete, sie, eine Brüsseler Ausgabe von 1865, sei als Geschenk Baudelaires später von Kertbeny weiterverschenkt worden an den Musset-Biographen Paul Lindau. Dieser indes berichtete in seiner 1877 erschienenen Alfred-de-Musset-Biografie, er habe zwar »durch die Freundlichkeit Kertbenys von diesem Werke [Gamiani; d. Verf.] selbst Kenntnis nehmen können«, ihm sei nach Lektüre desselben allerdings »geradezu unerklärlich, wie eine solche Verdächtigung gegen Musset hat ausgesprochen werden können.« (Lindau 1877: 157) Dies war immerhin eine Antwort auf die strittige Frage, über die sich reden ließ. Ebenso wie jene, die Mario Praz (1930 [1960]: 438 f.) zu geben suchte qua Summierung des Pro & Contra. Keine Antwort allerdings ist es, gar nichts dazu zu sagen, weder zu dem von Lindau Publizierten noch zu dem 1915 hierzu von Bloch Vorgelegten. Tatsächlich aber ist genau dies in dem in Rede stehenden Fach zu beobachten, wie noch zu zeigen sein wird. Aber nicht nur hier. So bleibt auch der renommierte Pariser Kulturhistoriker Robert Muchembled in seiner ansonsten wohl unterrichteten Gesamtdarstellung L’organisme et l’occident. Une histoire du plaisir du XVIe siècle à nos jours (2005) jeden Hinweis auf Lindau oder Bloch schuldig – und gibt damit ein weiteres, nicht wirklich verständliches Zeichen für das Schweigen der Männer. In dieser etwas schwierigen Konstellation kann es nicht schaden, die Zähne zusammenzubeißen und etwas genauer hineinzuschauen in diesen Porno. Inhaltlich – jenseits des Pornographischen – geht es um kritische Sichtung der Folgen einer auf Sexualaufklärung verzichtenden leibfeindlichen christlichen Erziehung vom Typ ›Schwar384 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ze Pädagogik‹. Nietzsche hätte derlei durchaus das Wort reden können, auch, dass im Kapitel Gamianis Jugend diese Erziehung mit den Worten charakterisiert wird: »In Italien wuchs ich auf, im Hause einer Tante, die schon in jungen Jahren Witwe geworden war. Im Alter von fünfzehn Jahren sah ich in den Dingen dieser Welt nur die Schreckbilder, die der fromme Eifer der gläubigen Christen von ihnen entworfen hat. / Alle meine Gedanken gingen in Gott auf, und ich verbrachte alle meine Tage in Gebeten zum Himmel, er möge mich vor den Qualen der Hölle verschonen.« (Musset 1833: 20)
Ein also, wie es zumal aus heutiger Lesart scheinen will, harmloser Einstieg, wenngleich: Der Leser, zumal der mit den Perversitäten des Marquis de Sade zumindest theoretisch vertraute, ahnt vielleicht schon, wie die Sache weitergehen wird. Hilfreich ist dabei ein Zwischenblick auf den – von Iwan Bloch wiederentdeckten (vgl. Bloch 1906) – Romancier und Sade-Zeitgenossen Restif de la Bretonne (1734–1806). Als Höhepunkt seiner Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung mit Sade – der ihm nichts schuldig blieb (vgl. Bloch 1970: 96 ff.) – gilt seine Streitschrift L’Anti-Justine (1798). Deren Botschaft, wie der Titel schon ahnen lässt: Sex kann auch ohne Sadismus Spaß machen. Lässt man das Vordergründige dieser Botschaft außer Betracht 123, auch die dunkle Seite derselben, die Syphilis 124, bleibt L’Anti-Justine nichts weiter als ein vor Inzest nicht zurückschreckender, aber immerhin sodomiefreier billiger Porno, von dem hier an sich nicht weiter zu reden wäre – wenn Gamiani nicht das ganze Segment der von Sade aufbereiteten Perversitäten in neuer Gestalt Revue passieren ließ und also fast den Eindruck macht, es gehe um so etwas wie 123 Vordergründig ist beispielsweise die Ausrede der (anonymen) Herausgeber einer 1970 erschienenen deutschen Ausgabe, wonach Restif, um seinem Ziel, eine »Streitschrift gegen die Justine des Marquis de Sade« zu verfassen, näherzukommen »den erotischen Inhalt bewusst übetrieben hat, so in der Darstellung des Inzests als Antigift gegen den Sadismus«; nur so sie zu beweisen gewesen, »dass man den erotischen Reiz der Werke de Sades noch übertreffen könne, ohne in die sadistischen Greuel zu verfallen.« (Restif de la Bretonne 1970: 5) Denn die Frage bleibt: Warum musste Restif dies tun – es sei denn des Applauses der Erotomanen wegen. 124 Normalerweise in Texten dieses Genres als Spaßbremse verpönt, wird die Syphilis gleich zu Anfang dieser ›Streitschrift‹ als Todesursache der Gattin des Ich-Erzählers genannt, »lange nachdem sie mir zwei Töchter geschenkt hatte« (Restif de la Brettone 1970: 31) und gleichsam als verdiente Strafe für ihre in allen Einzelheiten ausgemalte Triebhaftigkeit namhaft gemacht. Dies nennt man wohl Sexualerziehung durch Abschreckung.
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eine Art Anti-Anti-Justine, im Einzelnen: Gamiani, von einem Franziskanermönch zu einer sadistischen Probe in Sache Tugendhaftigkeit à la Christus überredet (»Durch Schmerzen hat unser Herr Christus die Welt erlöst; durch Schmerzen wirst auch du dich von deinen Sünden erlösen«; Musset 1833: 21), besteht die Probe nicht, sondern findet Gefallen am Schmerz mit der Folge sodomistischer Akte als auch breit ausgewalzter Missbrauchshandlungen einer (gruppen-)vergewaltigenden Horde von Mönchen oder solcher einer sittlich komplett haltlosen Nonne, eine Figur, die es dem Verfasser erlaubt, den Schwerpunkt der Darstellung weiter auszubauen unter Konzentration auf die Perversitäten einer enthemmten Lesbierin bis hin zum finalen Tod im Rausch der Wollust. Soweit des Dichters (wessen Namens auch immer) Fantasie – oder etwa seine dichterisch etwas aufgepäppelte Reminiszenz an das ihm von der hier Porträtierten Übermittelte? Eine brisante Frage, die ihren Ausgang nimmt von einer kurzen, aber heftigen Liebesbeziehung Mussets mit der Schriftstellerin George Sand (1804–1876). Durch deren Schlüsselroman Indiana (1832) war Musset (wie viele andere) neugierig geworden auf die hier Schreibende wegen der »Freimütigkeit und de[n] Mut, mit dem George gewagte erotische Szenen schilderte.« (Matray 1990: 89 f.) Dies muss indes Spekulation bleiben. Fakt hingegen ist eine legendär gewordene Reise beider – Musset und Sand – nach Italien 1833/34 wo Musset vor Ort, in Florenz, auf den Spuren des Lorenzino de Medici (1514–1548) wandelte (vgl. Matray 1990: 134 f.), also des Mörders des tyrannischen Herzogs Allessandro de Medici (1510–1537), infolge dessen er »sich zum neuen Brutus stilisierte.« (Reinhardt 1998: 110) Mussets durch diese Reise befruchtetes Drama Lorenzaccio (1834) konnte erst 1896 uraufgeführt werden (mit Sarah Bernhardt in der Rolle des Lorenzo), wohl wegen frivoler Stellen wie der folgenden: »SALVIATI setzt sich: Ein hübsches Weib geht da vorüber. – Wo zum Teufel habe ich sie schon gesehen? – Ach, Donnerwetter, in meinem Bett.«
Oder, eine Seite später: »DER PRIOR: Giuliano, ich weiß nicht, ob Du weißt, daß du von meiner Schwester sprichst. / SALVIATI: Ich weiß es sehr wohl. Alle Frauen sind dazu da, um mit Männern zu schlafen, und deine Schwester kann es sehr gut mit mir.« (Musset 1981: 229 f.)
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Wie man sieht: Blasphemienahe wandelte Musset hier am durch das Stichwort ›Renaissance-Papsttum‹ zu markierenden Abgrund des Sagbaren, blieb aber dem Lob auf die italienische Renaissance an sich verpflichtet, durchaus im Stil eines um Romantisierung bemühten Libertins, wie auch die Erzählung Der Sohn des Tizian (1838) zeigt, wo wir lesen: »Wenn eine Frau einen hübschen Jungen liebte, gab sie sich ohne langes Gerede, und der Jüngling achtete sie deshalb nicht geringer. Keinem Menschen kam es in den Sinn, über etwas zu erröten, das er für natürlich hielt; es war die Zeit, da ein Edelmann am französischen Hof einen Seidentrumpf seiner Geliebten anstelle einer Feder am Hute trug.« (Musset 1966: 233)
Auch Nietzsche schien die (italienische) Renaissance neue Aufmerksamkeit wert, nicht wegen des (angeblich) leichteren chercher la femme à la Musset, selbstredend, sondern wegen Faktoren, welche Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (1878) wie folgt auf den Punkt brachte: »Die italienische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums«
– eine Rechnungslegung zu Lasten Luthers respektive der »deutschen Reformation«, die Nietzsche als »Protest zurückgebliebener Geister« las, so dass ihm das Fazit außer Frage stand: »Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster.« (II: 199)
Über die Syphilis als ›Flecken und Laster‹ des Renaissance-Papsttums sind wir recht gut unterrichtet. Freilich: Welche ›Flecken und Laster‹ hatte Nietzsche auf dem Schirm? Etwa auch jene, die das Paar Musset/Sand zu Beginn ihrer Italienreise in Vendig, als wollte es die Renaissance neu aufleben lassen, zur Aufführung brachten? Schauen wir uns die Details einmal etwas genauer an. Schon die Hinfahrt war nicht frei von tragikomischen Szenen, etwa als die frisch Verliebten im Dezember 1833 auf einem Boot zufällig Stendhal trafen. Dieser war auf der Rückreise zu seinem damaligen Dienstort in Italien und wohl noch in ganz in Gedanken an seinen Paris-Urlaub, den er zusammen mit seinem Freund Prosper Mérimée verbracht hatte – ausgerechnet jener Mérimée also, der sich als Mitbewerber 387 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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um George Sands Gunst bei von ihr gebotener Gelegenheit ziemlich blamiert haben soll. (vgl. Maurois 1952: 153 f.) Wie auch immer: Stendhal, noch immer in Erinnerungen schwelgend darüber, dass er dank Mérimée »das Milieu der mehr oder weniger leichten Damen der Opernwelt« hatte erkunden können, tanzte offenbar, animiert durch zu viel Wein, auf jenem Boot als »Konsul von Civitavecchia den Verliebten einen obszönen Fandango vor.« (Nerlich 1993: 93; vgl. auch Willms 2010: 258 f.; Schurig 1921: 646) Nachdem diese Peinlichkeit infolge von Stendhals Weiterfahrt zu Land und nicht zu Wasser ausgestanden war, kam als nächste Kalamität hinzu, dass die dichtende Baronin am Ankunftsort Venedig ihren sechs Jahre jüngeren NeuGalan mit einem gutaussehenden 26-jährigen Arzt namens Pietro Pagello betrog, und zwar nach einer von ihr zielgerichtet platzierten Ermunterung, also einer ihm brieflich übermittelten Notiz mit der kaum misszuverstehenden Überschrift »Dem begriffsstutzigen Pagello« und – ihrem Roman Lelia in Umkehrung entlehnten 125 – Zeilen wie den folgenden: »Wenn deine Geliebte in deinen Armen einschlummert, bleibst du dann wach, um sie zu betrachten, zu Gott zu beten und zu weinen? / Bist Du nach den Freuden der Liebe außer Atem und wie ein stumpfes Tier oder versetzen sie Dich in eine himmlische Ekstase?« (Sand an Pietro Pagello, Venedig, Februar 1834; Sand 1990: 87)
Dass Pagello Avancen dieses Niveaus nicht widerstehen konnte, liegt auf der Hand (vgl. Maurois 1952: 175), desgleichen, dass Musset nicht nur der Betrug an sich empörte, sondern auch der Umstand, sich nachher von George Sand sagen zu lassen zu müssen, »er habe sich alles nur eingebildet und leide an Halluzinationen.« (Werner 1976: 63) Musset ging daraufhin mit der Nachricht hausieren, das NeuPärchen Pagello/Sand warte nur darauf, »daß er ihnen einen Vorwand lieferte, ihn in ein Irrenhaus einzuweisen.« (Matray 1990: 190) Was er sicherheitshalber verschwieg: Er war alles andere als ein Unschuldslamm, lag er doch nur deswegen krank danieder, weil er zuvor Sand betrogen hatte, sprich: eines Morgen schwerverletzt ins Hotel zurückgeschleppt worden war, nachdem er, angeleitet von einem etwas fragwürdigen Gondoliere mit angeblichen Intimwissen über Lord Byrons Taktiken, auf den Spuren seines Idols gelustwandelt 125 Hier heißt es über die nicht zu ihrer Erfüllung findenden Heldin Lelia: »Wenn er, zufrieden und gesättigt, eingeschlummert war, lag ich noch immer reglos und bestürzt an seiner Seite.« (zit. n. Maurois 1952: 147)
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und schließlich nach Vollzug vom Gehörnten verprügelt worden war, was – auch wegen einer hinzugekommenen mutmaßlichen Gehirnhautentzündung – die Anwesenheit des schließlich ihn hörnenden Arztes überhaupt erst erforderlich gemacht hatte (vgl. Maurois 1952: 173 ff.; Matray 1990: 161 f.) Daraus folgt natürlich nicht notwendig, Gamiani sei von Alfred de Musset, wenngleich: Die ›kleine Rache‹ ist ihm offenbar nicht fremd gewesen, etwa in Gestalt der (einen Briefwechsel mit George Sand aufnehmenden) Komödie Scherzt nicht mit der Liebe (1834) oder bezüglich seines autobiographischen Romans Bekenntnisse des Kindes einer Zeit (1836), wo Sand ›Brigitte‹ heißt und Pagello ›Smith‹ und das romantische Liebesideal dieser durch Rousseau geprägten Generation wortreich beschworen wird, etwa wie folgt: »Die Liebe ist ein unerklärliches Geheimnis. Mag die Welt sie mit Ketten, mit Elend und sogar mit Ekel umgeben haben, mag sie unter einem Berg von Vorurteilen begraben sein, die sie entstellen und verderben, mag sie durch Kot und Schlamm geschleift werden – die Liebe […] ist trotz alldem ein ebenso mächtiges und ebenso unbegreifliches Himmelsgesetz wie jenes, das den Sonnenball im Weltenraum in der Schwebe verhält.« (Musset 1980: 127)
Dies war stark gesprochen, aber schwach gedacht, fast so, als gelte es, das Scheitern dieser Liebesbeziehung – ein Thema, das über Hunderte von Seiten hinweg erneut durchgekaut wird – im Unerklärlichen zu halten und allein mit der ›Erdenmacht‹ Eifersucht zu erklären. Übrigens: Eine später Wiederaufnahme fand das Ganze in Mussets Die Geschichte von der weißen Amsel (1842). Denn wer wähnt, es handele sich hier um eine Fabel oder gar um eine Mär für Kinder, ist auf dem Holzweg: Es geht um eine Art Schlüsselnovelle, wie schon der Umstand verrät, dass Musset in seinem Brief an Sand vom 4. April 1834 im Rückblick auf ihre Liebestragödie von Anfang des Jahres – nun für ihn bewältigbar, weil er diese Affäre ihres mütterlichen Gebarens wegen als »Inzest« einzuordnen begann 126, – das Bild »zweier Vögel der Berge« (Sand 1990: 94) aufrief und sie in ihrer 126 Eine Brücke, die für ihn wichtig war, konnte er sich doch auf diese Weise erneut als Nachahmer seines Idols – Lord Byrons Inzest mit seiner Halbschwester betreffend – inszenieren (vgl. Matray 1990: 208) –, eine Brücke, die zu betreten sie sich allerdings weigerte, wie ihre Antwort (vom 15. und 17. April 1834 aus Vendig, noch immer umschwärmt von Pagello) belegt: »Ob ich nun für Dich wie eine Geliebte oder wie eine Mutter war, was liegt daran? […] Ich weiß, daß ich Dich liebe, das ist alles.« (Sand 1990: 96) Sprich: The show must go on!
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Antwort von einem ihr von Mussets damaligen Konkurrenten Pagello geschenkten »zahmen Star« (ebd. 100) berichtete, ihn in anderen Briefen auch mit »Adieu, mein kleiner Vogel!« (zit. n. Matray 1990: 204) verabschiedend, kurz: Die 1842 er Vogel-Rhetorik war damit präludiert. Dass es aber so schlimm kam, war kaum zu vermuten: Musset selbst ist die ›weiße Amsel‹, die, dieser Gefiederfarbe und eines wenig zu dieser Vogelart passenden Geträllers wegen, erfolglos um Anerkennung seines (Vogel-) Vaters buhlt, um im weiteren Fortgang dem wüsten Leben des Autors als etwas ihm inzwischen Fremdgewordenem zu gedenken. Dazu gehören auch jene Jugendjahre, in welchen die ›Amsel‹ Musset »die Poeme von Lord Byron« nachzuahmen suchte und aus sich ein »Mysterium« zu machen sich anschickte, um schließlich als dereinst gehabten Vorsatz kundzutun: »Da der Himmel mir eine Gattin versagt hat, will ich den Weibern anderer das denkbar Böseste nachsagen.« (Musset 1966: 398 f.)
Dies ist der Schlüsselsatz, alles andere eher unwichtig. Denn dies klingt beinahe wie ein dem eigenen Schweigen zu Fragen wie diesen widersprechendes indirektes Bekenntnis, Gamiani sei doch von ihm – und er, der Autor also, seinerzeit, also zehn Jahre zuvor, angetrieben von der Absicht, seiner damaligen Geliebten, aus Rache, das ›denkbar Böseste‹ nachzusagen. Mehr als dies: Die Geschichte von der weißen Amsel ist auch voller Spott über die ihn längst in den Schatten stellende (Groß-)Schriftstellerin, ein »literarisches Amselweibchen« (ebd.: 408), das sich am Ende nicht als farbecht erweist, das also »in guter Absicht Weiß aufgelegt« (ebd.: 411) hat, um ihn, Musset, der endlich zu seiner Identität und Anerkennung gefunden habe, erneut zu täuschen. Resümierend geredet: Mit diesem geradezu lächerlich larmoyanten Text schrieb sich der Mann Musset ins seitdem vielfach bediente Genre antifeministischer Literaturkritik ein, sich zugleich endgültig und wohl als Folge seines Alkoholabusus aus der Garde der mit Ernst zu bedenkenden Autoren herausschreibend. Nietzsche hat wohl nicht diese Einzelheit, wohl aber Alfred de Mussets Absturz an sich sehr genau registriert und sah in Musset, diesem Multitalent als Dichter, Novellist, Romancier und Dramatiker, einen typischen Frühveranlagten mit rasantem Absturz. In Morgenröthe (1881) rechnete er ihn »[j]enen Menschen der intellectuellen Krämpfe« zu, welche »in Allem, was sie thun, durchgehenden Pferden gleichen« und »aus ihrem eigenen Schaffen nur eine kurze, die Adern fast sprengende Lust und Gluth und dann eine umso winter390 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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lichere Öde und Vergrämtheit davontragen« (III: 319) – nicht schlecht gesehen, wie einzuräumen ist, wohlmöglich, wie die Vokabel ›winterlich‹ anzudeuten scheint, inspiriert durch Heines 1844 er Urteil über Mussets ›Spätwerk‹. Jahre später, in Jenseits von Gut und Böse (1886) – und Nietzsche wird dies in Nietzsche contra Wagner (1888) unter dem Titel Der Psycholog nimmt das Wort leicht variiert wiederholen (VI: 434) –, wird das 1881 noch unter der Überschrift Selbstflucht dargebotene Urteil, nun ergänzt um weitere Namen und aufgemöbelt mit Vokabeln wie: »Menschen des Augenblicks, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich; mit Seelen, an denen gewöhnlich irgendein Bruch verhehlt werden soll; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung; oft mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt.« (V: 224)
Die Frage stellt sich: Wen beschreibt Nietzsche hier? Musset? Oder etwa diesen sowie jeden einzelnen der an dieser Stelle des Weiteren Genannten (Byron, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol)? Oder sich selbst, gleichsam nach seinem ›Schlamm‹ ? Hervorstechend auch die Wendung »oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung«, die beinahe so klingt, als könne man Nietzsches zu jener Zeit kompiliertes Werk Der Wille zur Macht unter das Rubrum Rachenahme rücken. Oder, auch dies ist möglich: Als habe (auch) Nietzsche um Mussets tiefstes Geheimnis gewusst oder, etwa via Heine, um es geahnt: um dessen Urheberschaft für Gamiani und / oder um die Lesbarkeit desselben unter den Vorzeichen der Rachenahme für eine »innere Besudelung« – ein Motiv, das Nietzsche, wie schon im Prolog ad Lou von Salomé angesprochen, nicht ganz fremd war. Indes: Verglichen mit diesem Satz Nietzsches, der zumal von Frauen in der Nietzscheszene beanstandet wird 127, muss Mussets Form der Kränkungsverarbeitung qua Gamiani – gesetzt nach wie vor, er sei der Autor – als gänzlich unzulässig rubriziert werden. Davon bleibt unberührt, dass Nietzsche allein schon seiner eigenen Liebestragödie wegen (vgl. Niemeyer 2019a: 170 ff.) Interesse hätte aufbringen müssen für die Details der Affäre, die bei Gamiani mutmaßlich Pate stand. Allerdings wusste er offenbar weder um Ga127 Brigitta Klaas Meilier (2005: 159) verbuchte die zitierte Bemerkung Nietzsches unter »starker Tobak« und versperrte sich so den psychologischen Zugang zugunsten des moralisierenden.
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miani noch um die Gerüchte über Mussets – ersatzweise Honoré de Balzacs (1799–1850) 128 – Urheberschaft. Die offenbar auch für Victor Klemperer kein Thema war, wie sein Urteil über Musset zeigt: »Frankreich [hat] unter seinen Dichtern nur einen, der ganz und gar im Kreise des Romantischen blieb und auf den der Begriff überall in der deutschen Betontheit zu passen scheint, weil überall eine ungestillte Herzenssehnsucht offen und phrasenlos zutage tritt: Alfred de Musset.« (Klemperer 1956, Bd. I: 139)
Musset wird hiermit fast schon unter männerbündische Quarantäne gerückt und auf unerträgliche Weise bagatellisiert, verglichen etwa mit dem von Klemperer wohl nicht ganz zufällig ignorierten Musset-Biographen Paul Lindau, der nur darüber staunen konnte, wie sehr die spanischen Lieder des damals blutjungen Franzosen »von einer ganz bedenklichen Sinnlichkeit durchweht sind.« (Lindau 1877: 39) Dies gilt etwa für das folgende, von Ferdinand Freiligrath (1810– 1876) übersetzte Lied, aus dem Lindau unter dem vom Übersetzer gewählten Titel Barcelona – im Original: L’Andalouse (1829) – die folgenden Strophen zu Gehör brachte: »Beim Cid! man muß sie sehn im weißen / Nachtkleid, die prächtige Gestalt! / Man muß es sehn, dies Schlagen, Beißen, / Wenn unter allen Küssen, grimmigen, heißen, / Sie wütend fremde Wort lallt!« (Freiligrath 1920, Bd. 2: 84)
Diese Zeilen fanden übrigens – und dies ist mit Seitenblick auf Gamiani von Interesse – unter dem Rubrum »Sadismus«, Eingang in die uns schon von den Fällen Jack the Ripper (s. I.1) sowie Rousseau (s. III.1) her vertraute Psychopathia sexualis (vgl. Krafft-Ebing 141912: 69), allerdings ohne die beiden ersten, auf Vergewaltigung hindeutenden Zeilen sowie ohne – dies verbindet Richard KrafftEbing mit Jill Bühler (2018: 14; zur Kritik: Niemeyer 2019c), – dass der Zusammenhang gesehen wurde in Richtung Gamiani (in beiden Fällen wohl aus Unkenntnis dieses Pornos sowie des Umstandes, dass Musset als dessen Urheber in Betracht kommt). Und, um diesen unseren Ausgangspunkt nicht zu vergessen, zurückgefragt in Richtung Viktor Klemperer: Zeugt auch L’Andalouse für ›Herzenssehnsucht‹ ? 128 Besonders »zu Das Chagrinleder und Das Mädchen mit den Goldaugen, die kurz vor oder nach dem angegebenen Erscheinungsdatum von Gamiani entstanden, zeigen sich so auffällige inhaltliche Korrespondenzen, daß eine möglicherweise wechselseitige Beeinflussung wahrscheinlich ist.« (Koschorke 1990: 202)
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Oder gibt es nicht doch Grund für Lindaus kritische Frage angesichts des bei Erscheinen dieses Gedichts gerade einmal 19-jährigen Autors, der zu einer Entschuldigung auf Befragen nachtrug, er sei ja damals noch ein Kind gewesen: »Hat das ›Kind‹ […] die Wollust wirklich nur geahnt?« (Lindau 1877: 39) Fragen dieser Art wirft auch Alfred de Mussets Verserzählung Rolla (1833) auf. 129 Sie trägt im Gestus der von Liebes- wie Lebenssehnsucht umgetriebenen Jugend Erwachsenen- wie Bürgertumswie Christentumskritik vor mit tragischem Ausgang: Der Held Jack Rolla stirbt nach Suizidversuch (mit Gift) in den Armen seiner Geliebten Marie, die ihm unmittelbar zuvor von einem Traum berichtet hatte, in welchem sich das Bett, in dem sie beide liegen und unmittelbar zuvor sich geliebt hatten, in einen Friedhof verwandelt, mit einem Sarg, dessen Deckel aufspringt, wodurch der Blick auf ihn, Jack, frei wird. Dann folgt: »In dunklen Tropfen rinnt viel Blut von Deiner Stirne. / Doch richtest du dich auf und kommst ans Bett zu mir. / Und faßt mich bei der Hand und sprichst: ›Was thust du hier? / Du liegst an meinem Bett – warum, du junge Dirne?‹ / Und wie ich um mich seh, lieg ich auf einem Grab.« (Musset 1960: 53)
Gerade weil Träume dieser Art uns sowohl bei Baudelaire als auch bei Nietzsche begegnen, und zwar jeweils als Indizien einer zugrundeliegenden Syphilisfurcht, aber auch wegen des durchaus nicht harmlosen Vornamens Marie – in Literaturen dieses Genres als Zeichen beliebt für das Ineinssetzen von Heiliger und Hure –, ist Rolla für unser Thema relevant, wie auch der Kritiker und Autor Édouard Fournier (1819–1880) betonte, der, fast wie Paul Lindau in Sachen Freiligraths Barcelona-Übersetzung, fragte: »Welche Kenntnis des Lasters, welche Tiefe des Zweifels und der Verzweiflung in dieser jungen Seele, in der doch kaum die Illusion hätte Wurzel fassen können.« (zit. n. Bloch 1915: 159) Fournier hätte dieses Urteil bequem auch auf Gamiani ausdehnen können – Grund genug offenbar für Klemperer, auch von diesem zu schweigen, des Weiteren von Nietzsches Musset-Urteil. Mehr als dies: Nicht ein einziges Wort verlor Victor Klemperer über das im Jahr (1930) des Erstellens des Vorworts zur Erstauflage 129 Abgesehen von Rolla (vgl. Bloch 1915: 158 ff.) werden auch Mussets Don Paez sowie das Künstlerdrama Andrea del Sarto (vgl. Koschorke 1990: 205 f.) als Hinweise gelesen für die mögliche Urheberschaft Mussets, Gamiani betreffend.
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seiner hier in Rede stehenden Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert (1956) wiederaufgelegten 1915 er Aufsatz Iwan Blochs, nun als Buch unter dem Titel Alfred de Musset. Ein Pornograph! (1930). Die Gründe für dieses Totschweigen liegen auf der Hand, wenn man die hierzu passende Kunstmetaphysik Klemperers bedenkt: »Sein [Mussets; d. Verf.] frühes Reifsein und frühes Versiegen ist beides aus eingeborener Anlage zu erklären«, lesen wir da etwa aus seiner Feder, ehe folgt: »[M]an braucht […] die Literaturgeschichte so wenig durch die Ausbeutung seines George-Sand-Erlebnisses, wie etwa durch Untersuchungen über seinen Alkoholismus zu belasten.« (Klemperer 1956, Bd. I: 146) In Übersetzung geredet: Klemperers Romanistik-Verständnis weist, zumal angesichts vergleichbarer Nachlässigkeit etwa im Fall der Gebrüder Goncourt (s. III/9), ein anti-biographisches Apriori auf, resultierend aus der Annahme, künstlerisches Potential sei anlage-, nicht umweltbedingt. Ganz anders Nietzsche in seinem wohl letzten Wort in dieser ganzen Angelegenheit: »Die ›Männer von 1830‹ (– Männer? …) haben eine unsinnige Vergötterung mit der L i e b e getrieben: Alfred de Musset, Richard Wagner; auch mit der Ausschweifung und dem Laster …« (XIII: 19)
Mit der hier erneut auftauchenden Vokabel ›Laster‹ hat Nietzsche wohl das Richtige getroffen, im Gegensatz zur einschlägigen Forschung der Gegenwart, deren letztes ernstzunehmendes Zeichen in dieser Frage, gegeben von Alfred Koschorke (1990), gut dreißig Jahre zurückliegt. Insoweit setzt sich fort, was sich auf die von Iwan Bloch schon vor über einhundert Jahren am Exempel »der meisten Mussetund Sand-Biographen« erläuterten Begriff bringen lässt: »Prüderie« (Bloch 1915: 176).
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Charles Baudelaire (1821–1867) oder: »Le gout de la prostitution«
Baudelaire, von Albert Camus als Beleg dafür genommen, »daß die Revolte mit dem Dandytum gemeinsame Sache macht« (Camus 1953: 46), geriet erst vergleichsweise spät, durch einen Vortrag von Karl Pestalozzi (1978), in den Fokus der Nietzscheforschung – ›spät‹ im Blick auf den Umstand gesprochen, dass, NS-bedingt, die Vorarbeiten Walter Benjamins zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten 394 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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waren. Benjamin, auf der Flucht vor den Nazis sich 1940 aus Verzweiflung das Leben nehmend, hatte sich als Baudelaire-Übersetzer engagiert und in seinem Fragment gebliebenen Text Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus eine Vielzahl wichtiger Baudelaire-Miniaturen hinterlassen, darunter auch die von Pestalozzi (1978: 158) angeführte Bemerkung, es sei die »heroische Haltung«, die Nietzsche wie Baudelaire verbinde, nebst dem Satz: »Gott ist tot«. (GS I/2: 676) Wichtiger vielleicht noch und dominierend in einem Brief Nietzsches an Heinrich Köselitz vom 26. Februar 1888, der gemeinhin – auch Pestalozzi – als Beleg dient für die auf »Frühjahr 1888« zu datierende (zweite) 130 »intensive Beschäftigung Nietzsches mit Baudelaire« (Pestalozzi 1978: 159; vgl. auch Krause 2019: 264): Dass Nietzsche als Parallele zwischen sich und Baudelaire (»Baudelaire ist libertin, mystisch, ›satanisch‹, aber vor allem Wagnerisch«; 8: 263) in jenem Brief den Umstand herausstellte, dass dieser von Wagner 1861 ein Schreiben voll »Dankbarkeit« und »Enthusiasmus« erhalten habe, wie ihn dieser später »nur noch einmal geschrieben hat: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie.« Denn dies könnte meinen, Wagner habe Baudelaire dereinst als zu vergleichbar hohen Hoffnungen berechtigend wahrgenommen wie ihn selbst, sowie: in beiden Fällen sei diese Hoffnung aufs Bitterste enttäuscht worden, im Fall Baudelaire mit der Pointe, dass man ihm »in der letzten Zeit seines Lebens noch, wo er halb irre war und langsam zu Grunde gieng, Wa g n e r sche Musik wie M e d i z i n an ihm angewandt [hat].« (8: 264) Und im Fall Nietzsche, wie hier der Klarheit halber als rhetorische Frage noch hinzugesetzt sei: indem man ihn gut elf Monate später, in der letzten Zeit seines Lebens in der Irrenanstalt in Jena, wo er halb irre war und langsam zu Grunde ging, Wagnersche Musik wie (Palliativ-) Medizin an ihm anwandte? Spätestens diese den Bereich des Fiktiven streifende Erweiterung stellt die hier verfochtene Annahme in Sachen der Bedeutung Baudelaires für Nietzsche klar: Nietzsche las Baudelaires Niedergang als Effekt einer langwierigen Krankengeschichte (vgl. Hayden 2003: 118), die vergleichbar war seiner eigenen. Konkreter: Nietzsche las Baudelaires ihm offenbar nicht unbekannt gebliebenen Syphilis als Menetekel in eigener Sachen – und verdichtete im Bild der Wagner130 Als erste Phase dieser Art gilt die in jenem Brief angesprochene und von Pestalozzi umrissene, auf Frühjahr 1885 zu datierende Lektüre von Baudelaires Gedichtsammlung Fleurs du Mal (1857).
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schen Musik als Teil eines zukünftigen Therapiesystems zugleich dasjenige, was seiner Meinung nach das Wort von den enttäuschten Hoffnungen an sich sehr viel eher verdiente als der (syphilisbedingte) Niedergang von Wagners Idol Baudelaire sowie Wagners Idol Nietzsche: Eben Wagners Niedergang, zutage tretend, so Nietzsches Spott in der zeitgleich verfassten Schrift Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem, beispielsweise im eigentlichen Subtext der Meistersinger, demzufolge »schöne Mädchen am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist« (VI: 17) – so wie der kranke Baudelaire als auch der kranke Nietzsche am besten getröstet werden durch Musik des Wagnerschen Kalibers, was indes alles eher war als ein Kompliment für diese. Dies vorausgesetzt, gewinnen die in diesen Zeitraum fallenden Baudelaire-Exzerpte Nietzsches einige Bedeutung. (vgl. WahrigSchmidt 1988: 441 f.) Neben Ungehörigkeiten (»De la nécessité de battre les femmes«; XIII: 85) finden sich auch Danksagungen Baudelaires in Richtung seines »geistigen Bruders« (Praz 1930 [1960]: 147) respektive »Doppelgängers« (Matz 2007: 179) 131 Edgar Allan Poe (1809–1849) (»De Maistre et Edgar Poe haben mich räsonniren gelehrt«; XIII: 81). Letztere erlaubt den Rückschluss, Nietzsche hätte sich, längeres Leben vorausgesetzt, seinerseits intensiver um dieses – der Syphilis verdächtigen (vgl. Hayden 2003: 306) – Idol Baudelaires gekümmert, diesen eigentlichen Ideengeber der ›Schwarzen Romantik‹. Aus dessen Werken hatte ihm seine Mutter schon gut zehn Jahre zuvor, im November 1879 in Naumburg, vorgelesen (5: 464), wohl in aller Unschuld. Dass Poe derlei Unschuld ebenso wenig erlaubt wie Baudelaire, zeigt ein weiteres Notat aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten: »L’àmour peut dériver d’un sentiment généreux: le goût de la prostitution. Mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété.« (XIII: 77)
Dass Baudelaire sich die Syphilis einhandelte, will man in der Linie derartiger Lehrsätze gerne glauben. Man weiß in etwa auch, wann 131 Praz bezog sich hier auf Baudelaires 1852 vorgetragenes Lob auf Poes The Black Cat (1843; dt. Die schwarze Katze), konkret: auf Poes Eintreten für den in der Philosophie sträflich mißachteten »Geist des Eigensinns«, etwa in Gestalt des Rechts, »allein um des Bösen willen das Böse zu tun« (Poe 2012: 604 f.) – und sei es das Töten der eigenen Frau wegen ihres Versuchs, die Tötung einer Katze zu verhindern. Ob derlei Überlegung indes philosophisch gehaltvoll ist oder, schlichter, einfach nur pervers, steht doch sehr dahin.
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und wo: Mit 18 Jahren im Quartier Latin (vgl. Hayden 2003: 114), wahlweise aber auch erst mit 25 Jahren (vgl. Sartre GW/L 1/2: 101 ff.; Lange-Eichbaum/Kurth 1987: 59 ff.), ähnlich wie (wohl) Nietzsche und ähnlich wie Nietzsche am Ende, nach einem Schlaganfall 1866, bis zu seinem (allerdings baldigen) Tod von seiner Mutter gepflegt. Dazu passend: Baudelaires nach Martina Lauster (1995: 185) zumindest bis zu Hymne à la Beauté – inklusive der mit der Übermenschenthematik in Verbindung zu bringenden ›Giganten‹-Gedichte – von Nietzsche sehr gründlich gelesenen und, wie gezeigt, sowohl im Zarathustra (s. V.2/4) als auch in den Dionysos-Dithyramben (s. V.2/10) folgenreich gewordenen Fleurs du Mal. Diese Gedichtsammlung huldigt, wie eben angedeutet, der Schönheit (»Von Satan oder von Gott, gleichviel!«; SW/B 3: 99) und darf in der Summe als ein düsteres Kompendium teils spätpubertär anmutender Bordellreminiszenzen und einschlägiger Todessahnungen eines unheilbar Infizierten gelten. Im Hintergrund wirksam: Baudelaire langjährige Mätresse und »Vénus Noire haitienne« Jeanne Duval (um 1820– 1862–70), verewigt auf dem Gemälde La Maîtresse de Baudelaire (1862) von Baudelaires Freund (und Leidensgenossen in puncto Syphilis) Édouard Manet (1832–1883). Auch von Baudelaire selbst sind Porträts der Duval überliefert. Die Baudelaire-Herausgeber Friedhelm Kemp und Claude Pichois wehren sich indes – analog Karl Pestalozzi wie Martina Lauster 132 – gegen die »interprétation syphilitique«, und zwar dies selbst im Blick auf die kaum misszuverstehenden Schlusszeilen aus Baudelaires Gedicht An jene, die allzu fröhlich sind: »Und, süß taumelnder Rausch! durch diese neuen Lippen, heller und schöner leuchtende, mein Gift dir einzuflößen, meine Schwester!« (SW/B 4: 27)
So gesehen überrascht nicht, dass Robert Krause in einem ansonsten wohlinformierten und -informierenden Beitrag »das Dandytum, das in den bisherigen Studien zu Nietzsches Baudelaire-Lektüre kaum beachtet wurde, als ein wesentliches Motiv dieses Rezeptionsverhältnisses auszuweisen« (Krause 2017: 402) sucht. Denn das beispielsweise auch von Stendhal, Alfred de Musset oder Oscar Wilde kultivierte Dandytum steht nur für ein abgeleitetes Problem eines Paarungsbereitschaft signalisierenden Gesellungsverhaltens, als dessen Spätfolge nicht eben selten – wie bei den Genannten – die Syphi132
Beide verlieren nicht ein Wort über dieses Thema.
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lis zu verzeichnen ist. Dieter Thomäs Aufsatz zur Vergleichbarkeit von Baudelaires Flaneur und Nietzsches Wanderer gehört in diesen Zusammenhang. Auffällig: Thomä gedenkt bei der Aufzählung der Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Baudelaire zwar des Umstandes, dass »[e]ine Krankheit […] schließlich beide um den Verstand [bringt]« (Thomä 2018: 137), vergisst aber zu erwähnen, um welche Krankheit es sich genau handelt. Dadurch enträt der Autor zentraler Optionen für eine angemessene Nietzsche- respektive Zarathustra-Deutung. So gibt es beispielsweise gute Gründe für die Annahme, das Gedicht Les Métamorphoses du Vampire aus Baudelaires 1857er Gedichtsammlung habe Zarathustras Rede Der Wahrsager inspiriert, was zugleich meint: Ja, der Bonvivant ist irgendwie ein cooler Typ – der sich aber am Ende, bei aller Negation des Besitzstrebens und aller Offenheit gegenüber Genußgiften wie Haschisch mit Folgen womöglich auch bei Nietzsche, wie Paul Cohn (1931) nahelegte (s. IV.2/34), durchaus im Besitz etwas gänzlich Unerwünschten und damit in einer recht traurigen Rolle wiederfindet.
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Gustave Flaubert (1821–1880) oder: »La bêtise bourgeoise«
Nietzsche gehört nach den instruktiven Überblicksartikeln von Jacques Le Rider (2007) sowie Duncan Large (2009) in Sachen Flaubert, ähnlich wie im Fall Stendhal, zu einem »der ersten großen deutschen Leser« (Large 2009: 87) auch dieses im 19. Jahrhundert in Deutschland ansonsten, abgesehen von seinem Roman Salammbô (1862) 133, kaum bekannten Franzosen – ›gelesen‹ im Sinne Nietzsches, wohlgemerkt, nämlich allenfalls in Auszügen und durch die Brille Dritter wie etwa Paul Bourget (1883) und Ferdinand Brunetières (1887). Zum Einstieg diene eine der wenigen Bemerkungen Nietzsches zu Flaubert, nämlich das recht spärliche Notat im Nachlass von April– Juni 1885: »die Maskerade des b o u r g e o i s , z. B. als Salambô und als heiliger Antonius.« (XI: 428) 133 Historischer Roman von 1862, an dem Flaubert fünf Jahre gearbeitet hatte und der auf scharfe Kritik insbesondere von Charles-Augustin Sainte-Beuve traf. (vgl. Winkler 2017: 181) 1882 erschien in Reclams Universitätsbibliothek eine Übersetzung von Sophie Ritschl, der Gattin von Nietzsches ›Doktorvater‹ (vgl. Large 2009: 88).
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Was wollte Nietzsche damit sagen? Konzentriert nur auf den zweiten Aspekt, die Anspielung auf Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius (1874), könnte diese Bemerkung Lesarten des Zarathustra begünstigen, denen zufolge Flauberts Thema hier wiederzufinden sei, etwa – so Joachim Köhler – in Gestalt der Geschichte eines Asketen, »der sich in die Einsamkeit zurückzieht, wo er von den Ausgeburten seiner unterdrückten Begierde an den Rand des Wahnsinns getrieben wird.« (Köhler 1989: 396) Dies gesetzt, schiene es fast so, als habe Flaubert 1874 einen Anti-Zarathustra avant la lettre vorgelegt mit höchst eigenem Akzent vom Typ: »Weg mit der Philosophie! Weg mit den Büchern! nachdem Jesus erschienen ist, ist die Wissenschaft sinnlos!« (Flaubert 1874: 63) Angetrieben wurde Flaubert bei dieser Vision vom Trauma des deutsch-französischen Krieges 1870/71, an dessen Ende er in einem Brief an George Sand (vom 29. April 1871) bemängeln wird, als nähme er die analog angelegte Klage und immerhin als Zitat ausgewiesene Klage des Wahrsagers aus Za II (»Eine Lehre ergieng, ein Glauben lief neben ihr: ›Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!‹«; IV: 172) vorweg: »Alles war falsch: ein falscher Realismus, eine falsche Armee, ein falscher Kredit und sogar falsche Dirnen!« (Flaubert 1964: 592)
Das Stichwort ›falsche Dirne‹ markiert den Unterschied zwischen Flauberts und des Wahrsagers Klage, der nachzuwirken scheint in Nietzsches Urteil aus Jenseits von Gut und Böse: »Die Psychologen Frankreichs […] haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn …… genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feiner Grausamkeit.« (V: 153)
Diese Bemerkung, zumal die kunstvoll eingebaute, auf ein dann doch nicht offenbartes Geheimwissen abstellende Verzögerung (»gleichsam als wenn«), schreit vielleicht nicht, ruft aber doch immerhin nach der Frage, was Nietzsche wusste über das dunkle Geheimnis dieses »braven Bürgers«, dem die Goncourts im November 1858 »eine von Monsieur de Sade heimgesuchte Intelligenz« (JGG 2: 175) bescheinigten und im Januar 1860 in jenem Kreis Sade »das letzte Wort des Katholizismus« nannte, im Einzelnen: »[D]as ist der Geist der Inquisition, der Geist der Folter, der Geist der Kirche des Mittelalters, die
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Abscheu vor der Natur.« (JGG 2: 366) Genauer: Was wusste Nietzsche von diesem Flaubert, besser: Was wollte er wissen? Viel kann es nicht gewesen sein, jedenfalls wenn man das Vertrauen bedenkt, mit dem Nietzsche Guy de Maupassants Nachruf traute, demzufolge Flaubert nicht der Syphilis zum Opfer gefallen sei, sondern einem Sturz, mit den von Nietzsche gleich nach Erscheinen zur Kenntnis genommenen 134 Worten Maupassants: »Un jour enfin, il tomba, foudroyé, contre le pied de sa table de travail, tue par elle, la Literature, tué comme tous les grands passionnés que dévore toujours leur passion.« (Maupassant 1884: LXXXVI)
Was soll man zu diesem heroisierenden Nachruf sagen seitens eines sich offenbar nach einem gleichlautenden Abgesang Sehnenden im Fall seines Ablebens? Und was zu der – wohlgemerkt: mutmaßlichen – verständnisgesättigten Resonanz auf diesen Nachruf seitens eines sich nach einem gleichlautenden Abgesang Sehnenden im Fall seines Ablebens namens Nietzsche? Dass nun, kurz vor dem Tod, die Gegenaufklärung zum Gebot der Stunde wird, wo früher noch der Mut bestimmend war zum frivolen Scherz? Denn immerhin gibt es an Flauberts Syphilis vielleicht viel auszusetzen, wohl aber wenig zu zweifeln, allenfalls zu fragen (vgl. Pontalis 1954: 227 f.), welcher Erklärungswert einer derartigen Diagnose im Blick auf Flauberts Schaffen (und Schaffenskrisen!) zukommt. In der Tat: keiner oder kaum einer! Dazu passt die Lässigkeit, mit der Flaubert die Wurzel des Übels, »Wollust« mit Namen – den Sprachgebrauch in Nietzsches Dionysos-Dithyramben zugrunde gelegt –, kommentierte, dies jedenfalls, was den Fall Maupassant betrifft und einen Brief Flauberts an seinen Freund und Kollegen Iwan Turgenjew (1818–1883) vom 27. Juli 1877 zur Grundlage genommen, in welchem es über den damals 26-jährigen Maupassant heißt: »Vor kurzem schrieb er mir, daß er in 3 Tagen 19 Schüsse losgelassen hat! Beachtlich! aber ich fürchte, er wird sich am Ende in Sperma auflösen.« (Flaubert 1997: 68) 134 Wichtig ist hier der von Guy de Maupassant edierte Briefwechsel Flauberts mit George Sand und die dieser Edition zugehörenden Einleitung Maupassants – aus der eben zitiert wurde –, die in zwei Folgen am 19. und am 26. Januar 1884 vorab in La Revue politique et littéraire (genannt: Revue bleue) erschienen war. Auf diese Edition (samt Maupassants Vorwort) nimmt Nietzsche Bezug im Nachlass aus dieser Zeit (vgl. XI: 44), basierend auf einem Band, der sich in seiner persönlichen Bibliothek findet, versehen mit zahlreichen Anstreichungen (vgl. Campioni et al. 2003: 227 f.).
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Um Maupassant hier Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Mit Flaubert verhielt es sich in seiner Jugend kaum anders, wie seine posthum (1910) erschienene Erzählung November (1840–42) 135 offenbart. Flaubert schildert hier auf vergleichsweise zarte Weise sein sexuelles Erwachen und gibt zu Protokoll: »[A]ls Kinder betasten wir mit naiver Sinnlichkeit den Busen der starkknochigen Mägde, die uns küssen und auf dem Arm halten; mit zehn Jahren träumt man von der Liebe; mit fünfzehn erlebt man sie; mit sechzig sucht man sie zu halten; und wenn die Toten im Grabe an irgend etwas denken, so ist es dieses: wie sie unter der Erde das benachbarte Grab erreichen können, um das Leichentuch der Abgeschiedenen zu lüpfen und sich ihrem Schlummer zu gatten.« (Flaubert 1910: 13)
Das letzte Bild ist irritierend, etwa im Blick auf später aufscheinende, von Barbara Vinken zur Diskussion gestellte Analogien (etwa: »Beim Anblick einer nackten Frau stelle ich mir ihr Skelett vor«; zit. n. Vinken 2009: 61), die ihr den elegant vorgetragenen, sachlich aber eher unscharfen Schluss nahelegten: »Die Liebe ist vom Tod bewohnt; lieben heißt, im anderen den Tod zu sehen, von ihm in Gestalt des anderen bewohnt zu werden. Als Gegengift, als Trost gegen die Sterblichkeit der Liebe und des Geliebten helfe nur die Kunst.« (Vinken 2009: 62) Bleiben wir also lieber zunächst bei der Primärliteratur, also dieser frühen Erzählung Flauberts. Sie erreicht ihren Höhepunkt mit der Schilderung einer als Traum erlebten Begegnung mit einer etwas in die Jahre gekommenen, allein von Wollust dominierten Schönheit namens Marie mit recht dunklem Geheimnis. Es enthüllt sich im weiteren Textverlauf als weitgehend missglückte Suche nach sexueller Erfüllung: Marie trieb es mit so gut wie allen, auch mit »vom Weib erschöpften Paralytikern, die auf dem Bettlaken zu sterben fürchteten« (Flaubert 1910: 87) – vor Überanstrengung, wohlgemerkt. Syphilis, zumal in der später – etwa von Arthur Canon Doyle (1894) – vielbeschworenen ›dritten Generation‹, sei kein Problem mehr, sollte dies wollen heißen in der Fantasie eines Zwanzigjährigen und unter Vorwegnahme von Nietzsches späterem Imperativ »gefährlich leben!«, der auf Anklang getroffen sein dürfte bei einem wie Flau135 Der Titel weist nach Monika Bosse (1981: 143) zurück auf das gleichnamige Schlussgedicht aus Victor Hugos Gedichtzyklus Les Orientales (1829) (vgl. Bosse 1981: 143). Des Weiteren unverzichtbar zum Verständnis von Werk und Kontext: Jean-Paul Sartres Flaubert-Biographie Der Idiot der Familie (Sartre GW/L 2: 1104 ff.)
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bert, der davon träumt, er werde später »alle Horizonte durchspähen«, »o daß ich unterginge beim Umsegeln des Kaps, in Kalkutta an der Cholera stürbe oder in Konstantinopel an der Pest!« (Flaubert 1910: 110) Eine Vorstellung, die das jugendliche Kraftgenie von Siegfried-Zuschnitt nicht schrecken kann. Nicht zu vergessen: eine Vorstellung, aus der zur Not Honig zu saugen war angesichts der damals dem Freier, sei es in Paris, sei es in Nordafrika respektive Südeuropa, drohenden finalen Gefahr. Zurück zu Marie, vergleichsweise leicht dechiffrierbar als Flauberts erste Geliebte, deutlicher: als die Verführerin des damals Achtzehnjährigen, die Kreolin Eulalie Foucaud, damals, 1840, fast doppelt so alt wie er (vgl. Bosse 1981: 139). Hier, in November, dieser vom Freud-Schüler Theodor Reik (1912) leider nur in Richtung auf einen Nebenaspekt 136 psychoanalytisch gedeuteten Erzählung, begegnet einem Eulalie, eine, so der Dichter andernorts, »sagenhafte Tittentante« (frz. »excellente tétonnière«), eben unter dem Namen Marie – eine Chiffre spätestens seit Alfred de Mussets Rolla (s. IV/6) für das Ineinssetzen von Heiliger und Hure. (vgl. Bosse 1981: 150) So betrachtet ist es vielleicht nicht ganz unwichtig, dass einem auch in Flauberts (autobiographischer) Geschichte eines jungen Mannes mit dem Haupttitel Lehrjahre des Gefühls (1869) eine Marie (mit Nachnamen Arnoux) begegnet. Sie fungiert als die von Flauberts alter ego Frédéric durchgängig und erfolglos beworbene Traumfrau und erinnert tatsächlich ein wenig an Eulalie Foucaud, in November gleichfalls Marie geheißen. Marie Arnoux sei »Andalusierin, vielleicht Kreolin« (Flaubert 1869: 14), mutmaßt beispielsweise Frédéric gleich zu Beginn, und wenig später heißt es über ihn: »Er sandte ihr einen Blick zu, in dem seine ganze Seele zu ihr sprechen sollte.« (ebd.: 17) Zumal in der Originalwendung (»Il lui envoya un régard où il avait tâché de mette toute son âme«) scheint dieser Satz dem Bericht entnommen zu sein, den Flaubert am 18. Februar 1860 den Brüdern Goncourt von seiner Affäre mit Eulalie Foucaud gab und in dem es an entscheidender Stelle in recht erstaunlicher, fast schon männerbündischer Abgebrühtheit heißt: 136 Reik sieht in der Vehemenz der in dieser Erzählung »zur Schau gestellten Triebwünsche sowie der subjektiven Unmöglichkeit ihrer adäquaten Befriedigung einen entscheidenden Schlüssel zur Enträtselung des ›pseudoepileptischen Anfalls‹, mit dem sich Flaubert 1844 im Alter von 22 Jahren neurotisch in den Schoß der Familie und in die von ihr gesicherte ungestörte Künstler-Existenz zurückflüchten konnte.« (Bosse 1981: 134)
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»Er wirft ihr einen dieser Küsse zu, in die man seine Seele legt. Die Frau kommt am Abend in sein Zimmer und fängt an, ihn zu lutschen. Das war ein Gerammel der höchsten Wonnen, dann Tränen, dann Briefe, dann nichts mehr.« (JGG 2: 384 f.)
Marie Arnoux aus Lehrjahre des Gefühls verweist des Weiteren auf Elisa Foucault de la Motte (1810–1880), in zweiter Ehe mit dem (jüdischen) Musikverleger Maurice Schlesinger (1798–1871) verheiratet und seit einer Zufallsbekanntschaft des damals 15-jährigen Flaubert im Jahre 1836 dessen Schwarm. Bezeichnend dabei, was der Vereinigung beider in der Fiktion schlussendlich entgegensteht: ein – so die entscheidende Szene gegen Ende des Romans, als »Frédéric glaubte, Frau Arnoux sei gekommen, um sich ihm hinzugeben« – so etwas wie Grauen vor »Blutschande.« (Flaubert 1869: 473) Diese Szene verweist auf eine strukturanaloge, in Rousseaus Confessions geschilderte (vgl. Niemeyer 1993), was den Schluss erlaubt: Flaubert hat Rousseau die in Bekenntnissen dieser Art sich aussprechende Offenheit entlehnt. Und: Ihm respektive seinem alter ego Frédéric hat die durch die Komplementärszene freigesetzte Fantasie, sein Geschlechtsverkehr mit der wesentlich älteren Geliebten Marie Arnoux bedeute ›Blutschande‹, wie weiland Rousseau mit seiner ›Maman‹ gleichfalls den Spaß an der Freud’ verdorben. In psychoanalytischer Umschrift geredet: Flauberts Begeisterung für Elisa Schlesinger ähnlich jener für Eulalie Foucaud war womöglich eine vom ödipalen Typ, angeheizt von der Fantasie, in Konkurrenz zu stehen zum Vater respektive dessen Vertreters als des »geschädigten Dritten« (GW VIII: 67 ff.), in diesem Fall namens Maurice Schlesinger. Wichtig dabei: Letzterer, in Flauberts Roman Lehrjahre des Gefühls Jacques Arnoux geheißen, hatte Richard Wagner um 1840 als Notenkopisten beschäftigt, bei Verkennung von dessen Talent – woran Wagner in seiner von Nietzsche redigierten Autobiographie Mein Leben (1870) mit Vokabeln erinnerte wie »monströse Bekanntschaft«, die »nicht wusste, was er mit mir anfangen sollte« (Wagner 1911: 209) 137, so dass Nietzsches Interesse an diesem Roman verständlich scheint. Nicht wahrscheinlich ist allerdings, dass Nietzsche um diese Zusammenhänge auch nur ahnte oder gar um die Zusatzannahme, Flauberts grandioser Roman Madame 137 In der Wagner-Publizistik wird Schlesingers entsprechend mit dem Vermerk gedacht, dass Wagner für ihn »in seinen Pariser Hungerjahren […] Lohnarbeiten […] ausführen [mußte]« (Bauer 1988: 437)
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Bovary (1856/57) könne neben November und Lehrjahre des Gefühls als insgesamt dritte sowie zeitlich zweite Umschrift dieser realen Liebeserfahrung Flauberts gelten, mit Emma Bovary diesmal in der Rolle der Marie Arnoux respektive Elisa Schlesinger und mit Flaubert in der Rolle von deren erfolgreichen, allerdings recht skrupellosen Verführer Rodolphe, sich in ihm als ein über den gehörnten Gatten Charles triumphierenden Liebhaber feiernd, unter dessen glutvollen Küssen der Groll Emmas auf Charles »wie Schnee dahin[schmolz].« (Flaubert 1856/57: 223) Summarisch gesprochen: Es scheint fast so, als habe Flaubert aus zwei pubertätstypischen Liebeserfahrungen in lebenslanger Anstrengung Weltliteratur gemacht. Natürlich: Mit einer derartigen Pointe scheint Literatur als eine Welt sui generis entwertet. Wohin das führen kann, zeigt sich bei Julian Barnes, der sich in seinem Roman Flauberts Papagei (1984) zum Stichwort ›Prostituierte‹ notierte: »Im neunzehnten Jahrhundert notwendig zur Erwerbung von Syphilis, ohne die kein Anspruch auf Genialität erhoben werden konnte. Träger der Roten Tapferkeitsmedaille waren u. a. Flaubert, Daudet, Maupassant, Jules de Goncourt, Baudelaire. Gab es irgendwelche Schriftsteller, die nicht damit behaftet waren? Wenn ja, waren diese vermutlich homosexuell.« (Barnes 1984: 221)
Dieses Lemma, das es bemerkenswerterweise nicht in das – dafür an sich prädestinierte – Flaubert-Wörterbuch (Vinken / Wild 2010) schaffte, ist fraglos geschmacklos und zynisch. Aber es hat den Vorteil, die Aufmerksamkeit auf einen Umstand zu lenken, der im Vorhergehenden anhand der Figur der Marie aus November angesprochen wurde. Zusätzlich muss man wissen um Flauberts unter dem Titel Reise in den Orient dargebotene Reisetagebücher vom Oktober 1849 bis Juni 1851 sowie den dazugehörenden Briefwechsel – Wissen, auf dem Barnes Eintrag in Flauberts Papagei zum Stichwort ›Kuchuk-Hanem‹ basiert: »Ein Lackmustest. Gustave musste sich entscheiden zwischen der ägyptischen Kurtisane und der Pariser Poetin – Wanzen, Sandelöl, rasierte Pudenda, Klitoridektomie und Syphilis gegen Reinlichkeit, lyrische Poesie, relative sexuelle Treue und Frauenrechte. Ihm schienen Pro und Contra bestens austariert.« (Barnes 1984: 221)
Dies war – erneut muss es betont werden – offenkundig zu frech für das Flaubert-Wörterbuch, hat aber immerhin den Vorteil, den Quellen nicht über Gebühr Gewalt anzutun. Denn tatsächlich schrieb 404 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Flaubert über die schon in seinem Brief (vom 13. Mai 1850) an seinen Schulfreund (und Kollegen) Louis Bouilhet (1822–1869) besungene »berühmte Kurtisane« Ruchiouk-Hanem (Flaubert 1977: 136) in Reise in den Orient recht unverblümt: »Nach einer außerordentlich stürmischen Fickerei schläft sie ein, ihre Hand ist in meiner verschlungen, sie schnarcht.« (Flaubert 1910a: 102)
Muss man derlei Geschmacklosigkeit aus dem Reich männerbündischen Einvernehmens als (Literatur-) Wissenschaftler im Interesse ›monumentaler Historie‹ (mit einem Term Nietzsches) verschweigen? Oder dient das Erinnern auch dieses Falles, wie offenbar Barnes meinte, der Wahrheitsfindung, also, erneut mit Nietzsches Historienschrift von 1874 geredet (vgl. hierzu Niemeyer 2004), ›kritischer Historie‹ ? Eine Antwort auf diese komplizierten Fragen eröffnet der Umstand, dass Flaubert, in Sachen Syphilis später immer ein offenes Ohr habend in Sachen jener seines Freundes (und Schülers) Maupassant 138, auf seiner Nordafrikareise, wohl zur Warnung, ein einschlägiges Spital in Kairo gezeigt worden, worauf er, damals 28 Jahre alt, noch mit Witzeleien reagierte vom Typ: »Hübsche Fälle von Syphilis; im Saal der Abbas-Mamelucken haben manche sie im Arsch. Auf ein Zeichen des Arztes hin stellen sich alle aufrecht in ihren Betten, lösten ihre Hosengürtel (es wirkte wie ein Militärmanöver) und öffneten mit ihren Fingern den Anus, um ihren Schanker zu zeigen.« (Flaubert 1910a: 67)
Ganz klar: So genau will es eigentlich niemand wissen – es sei denn, er oder sie sei vom Fach, was zweierlei meinen kann: er oder sie sei Mediziner, besser noch: Syphilisforscher; oder eben: Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt Flaubert. Im erstgenannten Fall dominiert wohl die Freude über ein derart authentisches Zeugnis zum Erscheinungsbild der Syphilis in Nordafrika um 1850. 139 Und als FlaubertForscher dürfte man diese Äußerung als Mosaikstein nehmen und Dies zeigt der Briefwechsel zwischen beiden, etwa der Rat Flauberts vom 15. August 1878 gegenüber dem längst Infizierten: »Ich habe inzwischen den Verdacht, daß sie etwas faul sind«, der abgesegnet wird mit einem grandiosen: »Glauben Sie der Erfahrung eines Scheichs, dem keine Extravaganz fremd ist.« (Flaubert 1997: 102 f.) 139 Zu denken ist beispielsweise an den Medizinhistoriker Jacques Léonard, der die mit anderen europäischen Erscheinungsbildern nicht in Einklang zu bringenden »grauenhafte Geschwüre, die man seit der Eroberung Algeriens in Nordafrika antrifft« (zit. n. Corbin 1981: 128), herausstellte. 138
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legen neben einen anderen – etwa den per Brief (vom 4. September 1850) aus Damaskus überlieferten Bericht Flauberts vom Besuch einer Leprastation, unmittelbar nach einem Hohen Lied auf die Liebe, die »ein Bedürfnis« sei: »ob man sie nun in ein goldenes Gefäß gießt oder in einen tönernen Teller, sie muß heraus. Allein der Zufall verschafft uns die Gefäße. Mein Gott! die schönen Frauen, die es in Nazareth gab!« (Flaubert 1977: 155)
Und dann folgt nahtlos über die Leprastation, in die es, nach Landessitte, offenbar auch einige jener verschlug, die sich, triebbedingt, nur in ›tönerne Teller‹ zu entleeren vermocht hatten: »Sie tragen die Male von eitrigem Schorf, Löcher an der Stelle der Nase, und ich habe meinen Kneifer aufgesetzt, um an einem von ihnen zu erkennen, ob es grünliche Lumpen waren oder seine Hände, was ihm an seinen Armen herabhing. Es waren seine Hände.« (ebd.: 156)
Dieses Bild – wir haben es im Prolog bereits angesprochen – muss wegen der Stelle »Löcher an der Stelle der Nase« im Rückblick auf Nietzsches ›Nasen-Notat‹ vom Juni 1889 elektrisieren – und hat womöglich Nietzsche höchstpersönlich elektrisiert. Aufschlussreich ist auch Foucaults Hinweis auf Leprastationen als Bewahrzentren. Sie nämlich ruft die Parallelsetzung von Lepra und Syphilis, Thema auch in Joris-Karl Huysmans Roman Á rebours (1884), in Erinnerung, konkret: Die von Iwan Bloch nacherzählte Geschichte, wonach diese Geschlechtskrankheit »nicht durch Kolumbus’ Seeleute nach Europa gekommen ist, sondern eine Form der Lepra sei, die schon seit langem in Afrika vorherrsche und sich im Mittelalter nach Europa ausgebreitet habe« (Bloch 1901: 132) – ein kaum haltbarer Topos, wie Bloch sogleich betonte, die Kolumbus-Fährte favorisierend. Wichtig, in diesem Zusammenhang: Diese als auch jene Erzählvariante gab der Syphilisphobie des späten 19. Jahrhunderts Auftrieb in Gestalt der Angst vor der sexualisierten ›Schwarzen Frau‹ als »Quelle von Krankheit und Verderben« (Gilman 1992: 141) – eine Angst, die sich in der deutschen Kolonialgeschichte niederschlug. Schließlich, um die Belange der Flaubert-Forschung nicht zu ignorieren: Das eben angeführte Flaubert-Zitat vom 4. September 1850 klingt derart lässig und zynisch, dass man meinen könnte, das Ganze beträfe ihn nicht – ein Irrtum: Flaubert hat sich, wenn schon nicht in der oben angesprochen Nacht mit der Kurtisane Ruchiouk406 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Hanem, so aber wohl auf jener Reise, die Syphilis zugezogen. Eine Fährte weist hin auf Beirut, ausgehend von einem Brief aus Konstantinopel an Louis Bouilhet vom 14. November 1850, der in der von Helmut Scheffel besorgten Briefauswahl (vgl. Scheffel 1977: 157 ff.) nur mit Auslassungen abgedruckt wurde – nicht aber von Francine du Plessix Gray, die wie folgt zitiert: »Du mußt wissen […], daß ich mir in Beirut […] sieben Schanker holte, die sich dann zu zweien vereinigten, schließlich zu einem […]. Ich verdächtige eine Maronitin, daß sie mir dieses Geschenk gemacht hat, oder war es vielleicht eine kleine Türkin? War es die Türkin oder die Christin, welche der beiden? Problem? Nachdenken!!! …« (zit. n. Gray 1995: 246)
Im Reisetagebuch wird dieses auch von Deborah Hayden (2003: 138) herausgestellten Erlebnisses mit der Aufzeichnung gedacht: »Vormittags bei Rogier, nicht so angenehm wie das erste Mal, die Damen haben weniger Lebensart, mir scheint auch, sie gehören einer weniger gehobenen Gesellschaftsklasse an.« (Flaubert 1910a: 321) Wie auch immer und einleitend dieses Abschnitts schon betont: Flaubert sollte, allerdings nach weit weniger gravierendem Krankheitsverlauf, das (spätere) Schicksal Maupassants als auch Nietzsches erleiden. Das letzte und beste Wort in dieser Angelegenheit sprach übrigens eine Frau, die Literatin, Feministin und Geliebte Flauberts in jenen Jahren (1846–1854) der Orientreisen, Louise Colet (1810– 1876). Sie war kurzzeitig auch Mussets Geliebte, sich hierüber hinterher ebenso in einem Roman aussprechend wie mit ihrem Roman Lui (1859) über Flaubert beziehungsweise ihren Ärger, weil er, angeblich, Madame Bovary nach ihrem Bilde gezeichnet habe. Anders die Absicht hinter ihrem Gedichtzyklus La poème de la femme (1853), in welchem sie Motive entwickelte, derer ihr neuer Freund Victor Hugo (1802–1885) aus dem englischen Exil mit den brieflich überlieferten Worten gedachte: »Während [die Männer] … sich prostituieren und im Schmutz kriechen, erheben sie sich über sie, singen Sie in höheren Sphären.« (zit. n. Gray 1995: 262)
Zu künden wäre also via Hugo und am Beispiel Colet von der Geburt des Feminismus aus dem Ungeist männlicher Dekadenz und Verworfenheit. Diese These lässt sich, soviel sei zugestanden, von Nietzsche ausgehend wohl kaum entwickeln. Indes: Nietzsche kommt, zumindest ansatzweise, wieder ins
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Boot, wenn man den tieferen Grund dafür, warum sich speziell Flaubert »prostituierte« und seine (vormalige) Geliebte sich in »höheren Sphären« erging, ins Auge fasst. Denn auch das Höhere hat seinen Ursprung im Niederen – so Nietzsche erstmals in Menschliches, Allzumenschliches. (s. V.2/1) Weniger allgemein geredet: Victor Hugo hätte um die Briefe Flauberts an Colet wissen und zusätzlich über den psychoanalytisch geschärften Blick etwa einer Barbara Vinken verfügen müssen: »Colet hat gegen Flauberts Mutter keine Chance« (Vinken 2009: 68), lautete ihr vergleichsweise banaler Befund vom Loriot-Typus (»Ödipussi, Schnödipussi – Hauptsache, Du hast Deine Mutter lieb«), deren elaboriertere Variante auf die These hinausläuft, dass Flaubert mit seinem Sexleben nach dem Dampfkesselmodell (in den Bordellen von Paris bis Beirut) seine Mutter dafür bestrafen wollte, ihretwegen gegenüber ihr korrespondierenden Liebesobjekten, etwa der Colet, die ihn seiner (gelegentlichen) Liebeskünste wegen »in ihrem Gedicht Les Amourex des Mantes mit einen wilden Büffel in den amerikanischen Prärien« (ebd.: 54) verglich, hin und wieder zu versagen, weil er des Mutterimago innewurde. Flauberts Rache für Colets beharrliches Begehren nach Liebe und Geborgenheit, so Vinken weiter, folgte »ganz den misogynen Gemeinplätzen seiner Zeit: Weil sie nicht sublimieren können, sind Frauen in der Regel zur Kunst nicht fähig.« (ebd.: 58) In Übersetzung geredet, dabei an die allererste Feminismus-Ikone vor Colet, George Sand sowie deren Liebestragödie mit Alfred der Musset erinnernd: Es war damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, höchste Zeit für die Psychoanalyse. Nietzsche hatte ihr vorgearbeitet mit seinem grandiosen Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches: »Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein.« (II: 265)
Andernorts haben wir am Fall des rechtskräftig verurteilen Päderasten und (vormaligen) Jugendbewegungsikone Fall Gustav Wyneken zu zeigen versucht, dass dieser Spruch Nietzsches durchaus auch Homosexuellen ein Trost sein kann oder war. (vgl. Niemeyer 2019a: 360 f.) Hier genügt der bilanzierende Hinweis: Der scheinbaren Irrationalitäten im Sexualleben der Freigeistigen und Aufgeklärten in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhundert war kein Mangel. Allerdings fehlten die Instrumente, ihrer (selbst-) aufklärend Herr (oder Frau!) zu werden zugunsten eines von Selbsttäuschungen und 408 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Enttäuschungen befreiten, also neurosefreien Liebenslebens. Nichts freilich zwingt dazu, diesen Mangel, wie es Nietzsches Art war, noch zu verdoppeln – wie Duncan Larges Fazit anzudeuten scheint, der »Psychologe Nietzsche« habe sich »für den Mann Flaubert als Symptom der zeitgenössischen Dekadenz [interessiert].« (Large 2009: 94) Meine Variante würde lauten: Nein, dieses Interesse war nicht dem Psychologen, sondern dem Syphilitiker Nietzsche eigen – eine These, auf den auch der nächste Fall zu passen scheint.
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Edmond de Goncourts (1822–1896) Anti-Syphilis-Roman Juliette Faustin (1881/82), gelesen von Nietzsche, dem »décadent«
Nietzsche listete Edmond und seinen jüngeren Bruder Jules de Goncourt (1830–1870), wohl in Anspielung auf den Gebrüder-GoncourtSchlüsselroman Les frères Zemganno (1879), unter »Les Frères de Goncourt« (VI: 111) 140 und unter dem Rubrum Meine Unmöglichen. So jedenfalls konnten es die Kunden ab Januar 1889 in den berühmtberüchtigten Streifzügen eines Unzeitgemässen aus Götzen-Dämmerung lesen. Gut ein Jahr zuvor, im November 1887, hatte Nietzsches das Journal des Goncourt (der Jahre 1862–65) als »interessanteste Novität« (8: 191) verbucht. Speziell diese Ausgabe des Journal sowie die bis 1896 noch publizierten weiteren acht Bände breitete(n), zur Empörung des Rezensenten des Figaro sowie Einiger der in ihm Erwähnten (vgl. JGG Beibuch: 53 ff.), bevorzugt Sex- und Bordellgeschichten (von Promis) auf, was, letzten Endes, die Verleihung des Prix Goncourt an Michel Houellebecq 2015 irgendwie dann doch wieder zu einer stimmigen Sache macht. Ein Beispiel, das dies sowie die Aufregung des Figaro verständlich machen soll, ist die folgende Szene 140 Der erläuternde Zusatz »oder die beiden Ajax im Kampf mit Homer« (VI: 111) hat Andreas Urs Sommer (2012: 399) zu einigen Anschlussüberlegungen veranlasst, etwa dahingehend, dass Georg Brandes Lesart, Jules de Goncourt sei aus Verdruss über fehlende Anerkennung in eine »qualvolle und hoffnngslose Nervenkrankheit gefallen«, »in N.s Augen die Parallele zum rasenden Ajax komlettiert haben [mag].« (Sommer 2012: 400) Wichtiger als dies wäre m. E. an dieser Stelle der Tadel darüber gewesen, dass (auch) Brandes die in diesem Fall gesicherte Syphilisdiagnose auszusprechen sich nicht getraute und ersatzweise eine stark psychologisierende Deutung bevorzugte – ein Punkt, den zu monieren seinem Leser Nietzsche selbstredend nicht einfiel.
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von Sonntag, dem 23. März 1862, spielend im Café de la Porte-SaintMartin mit der Schauspielerin Suzanne Lagier (1833–1893) in einer etwas windigen Hauptrolle und mit Jules de Goncourt als Berichterstatter: »Sie schmiegt sich, während sie dies sagt, an den einen, an den anderen: ›Ich habe heute eine Lust, eine Nummer zu machen, daß ich deswegen geheult habe! Ich habe mir dreimal selbst einen runtergeholt, indem ich meine rechte Hand benutzt habe, um meine linke Hand zu führen.‹ Und sie geht von einem zum anderen, sich wieder auf Edmond [de Goncourt] werfend, den sie ›einen großen Lutscher‹ nennt, auf [Gustave] Flaubert, auf mich, zu dem sie sagt: ›Du, du vögelst in dunklen Ecken eine lymphatische Frau von Welt.‹ Und sie sagt schließlich zu uns dreien, nach ihren Annäherungsversuchen einer Pasiphae 141: ›Ach, sehen Sie! Sie sind Moderne, alle drei! … Ich versichere Dir, daß ich dennoch heute nacht etwas Besonderes wäre! Das wäre die beste Vögelei, die du jemals erlebt hast …‹« (JGG 3: 249)
Ob Nietzsche speziell diese Passage gelesen hat, ist hier nicht entscheidend, wichtig ist allein die Frage, ob Nietzsche auch Sätzen wie diesen gegenüber sein Urteil über diesen Band des Journal – »Exasperirter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selber gehörte gar nicht übel hinein« (8: 192) – aufrechterhalten hätte. Nehmen wir also, auf diesem Umweg, zu Nietzsches Gunsten an, er habe die eben zitierte Passage aus jener ›interessantesten Novität‹ gar nicht gelesen – eine Ausflucht, die auch Wolf Lepenies offensteht, der Nietzsche »Neid auf diese Abendgesellschaften« (Lepenies 1997: 98) attestierte, ohne deren dunkle Seite in Betracht zu ziehen. Ähnlich verhält es sich mit Wolfgang Matz: Der »alte Freigeist« blicke »neidvoll […] auf den ausgelassenen Zynismus am Pariser Restauranttisch« (Matz 2007: 378), lesen wir hier in einer vielleicht etwas zu flotten Schreibe, die sich wohl aus dem Umstand erklärt, dass Matz, sei es aus Vornehmheit, sei es aus Verklemmtheit, nicht mit einer Zeile die Frage in Erwägung zog, ob jener ›alte Freigeist‹ namens Nietzsche womöglich Syphilitiker war, der dem Treiben der anderen, etwa jenen MännerKenner-Talk der im Zitat zu besichtigenden Art, mit entsprechend
141 »Tochter des Helios und Gattin des Minos. Venus, über die Sprößlinge des Sonnengottes erbittert, ließ die Pasiphae sich in einen schönen Stier verlieben. Pasiphae genoß die Freuden der Liebe in einer hölzernen Kuh […]. Unter den Tanzbildern, die sich Nero im Theater vorführen ließ, glaubten viele Zuschauer einen Stier zu sehen, der die in eine Kuh versteckte Pasiphae besprang.« (Vorberg 1965: 438)
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gemischten Gefühlen zusah, was die Vokabel ›Meine Unmöglichen‹ erklären könnte. Denn, um dies noch einmal gesondert herauszustellen, gegen Lepenies und Matz sowie letztlich auch Sue Prideux (2018 [2020]: 376) 142 sowie Ralph Häfner (2019: 288 f.) 143, die gleichfalls einen verharmlosenden Begriff geben von jenem Kreis, von Häfner »Nietzsches imaginäre Gesellschaft der Klugen« geheißen und also, mit Nietzsche gespottet, als »Kreis ohne Unterleib« vorgestellt: Das Thema Syphilis lag, kaum verhüllt, mitten auf jenem ›Pariser Restauranttisch‹, wird sogar Thema in einer der nachfolgenden Ausgaben des Journal des Goncourt, als einer der an der 1862 er Cafészene Beteiligten, Jules de Goncourt, an Syphilis erkrankte. Wohl nicht wirklich überraschend, wie man nach dem von Suzanne Lagier in jener 1862 er Szene über ihn Berichteten (Stichwort: ›lymphatische Frau‹) annehmen darf. Bemerkenswert dabei: Dass Edmond de Goncourt das wochenlange Leiden (und Sterben) seines Bruders haargenau protokollierte, inklusive eines durch die Paralyse ausgelösten epileptischen Anfalls am 18. Juni 1870, der wie folgt begann: »Trotz dreier in einer Viertelglas Wasser geschluckter Prisen Bromkalium kann er nicht eine Minute schlafen, und sein Kopf dreht sich pausenlos auf seinem Kissen von rechts nach links, zischend in sämtlichen unsinnigen Lauten seines paralysierten Gehirns, während aus seinen beiden Mundwinkeln Andeutungen von Sätzen dringen, Wortfetzen, unklare Silben, die er zwanghaft wiederholt und die schließlich wie Seufzer ersterben.« (JGG 5: 117)
Drei Tage zuvor hatte Jules seinem Bruder noch aus einem Buch vorzulesen versucht, schien auch bereit zu einem Spaziergang, als er plötzlich strauchelte und in einen Sessel fiel, ehe Folgendes passierte: »Doch plötzlich warf er den Kopf nach hinten und stieß einen rauhen, guturalen, entsetzlichen Schrei aus, der mich das Fenster schließen ließ. Im selben Moment auf seinem hübschen Gesicht Krämpfe, die ihn völlig verwandelten, alle Formen vernichteten, allem seinen Platz nahmen, während die schrecklichen Kontraktionen seinen Körper und seine Arme hin- und
Sie folgt, fast wortwörtlich und ohne ihn zu erwähnen, Wolf Lepenies. Auffällig: Häfner verliert, in offenbarer Unkenntnis der seit 2013 vorliegenden deutschen Ausgabe des JGG, viel Zeit mit eigenen Übersetzungen, garniert mit – nicht wirklich forschungsgesättigten – Einschätzungen wie beispielsweise: »Nietzsches Wertschätzung des Werks der Brüder Goncourt wurzelt auch in dem darin ausgestellten Vermögen der kognitiven Transregression.« (Häfner 2019: 290) 142 143
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herzerrten, als wollten sie sie ausrenken und sein verzerrter Mund einen blutigen Schaum spuckte.« (JGG 5: 118)
Victor Klemperer, der Jules »an grausamer Nervenkrankheit« (Klemperer 1956, Bd. I: 263) sterben lässt, wollte es offenbar nicht besser wissen, aus medizinischer Sicht ist allerdings Klartext zu reden: Was Edmond de Goncourt hier beschreibt, ist ein epileptischer Anfall, durchaus, als epileptiformes Neurorezidiv, erwartbar als Nebenfolge der syphilitisch bedingten Paralyse und als solche seit über einem Jahrhundert wohlbekannt und anhand zahlloser Fallgeschichten eindrücklich beschrieben. (vgl. Gennerich 1921: 152) Apropos Fallgeschichten: Nur ein Jahr vor jener Caféhausszene notierte Edmond im Journal angesichts des im Sterben liegenden Henry Murger Syphilisindizien der eher grausigen Art (»Neulich bei dem Versuch, ihm den Schnurrbart zu stutzen, ist die Lippe mit den Haaren abgegangen« 144) sowie, als gleichsam theoretischen Ertrag: »Das scheint mir der Tod der Boheme zu sein, dieser Tod durch Auflösung – in dem sich alles vermengt, etwas vom Leben Murgers und der Welt, die er gezeichnet hat: Ausschweifung nächtlicher Arbeit, Perioden des Elends und Perioden der Schwelgerei, schlecht versorgte Syphiliserkrankungen […], Gläschen mit Absinth, die über das Pfandhaus hinwegtrösten; alles, was zehrt, alles, was verbrennt, alles, was tötet; Leben im Aufruhr gegen die Körper- und Seelenhygiene, das dazu führt, daß ein Mann mit zweiundvierzig Jahren in Fetzen aus dem Leben scheidet und nicht mehr genug Vitalität hat, um zu leiden und sich nur über eine Sachen beklagt, den Gestank verrottenden Fleisches in seinem Zimmer: es ist das seine.« (JGG 3: 24)
Dies ist sprachlich wunderbar auf den Punkt gebracht, mit einem kleinen Freudschen Versprecher: Murger war nicht 42 Jahre alt, als er starb, er war 38 – Alfred de Musset hingegen, einer der größten Aufreger jener Jahre respektive Szene allein schon wegen des auf die Zeit 1833/34 zurückgehenden, Skandal umwitterten Affäre des damaligen literarischen Nachwuchsstars mit der hochproduktiven Literatin George Sand inklusive des nachfolgendem, auch von Nietzsche genauestens registrierten Niedergangs des Hochveranlagten (s. III/ 144 Ein Notat, welches die mir von Pia Daniela Schmücker (geb. Volz) in persönlicher Mitteilung nahegebrachte Frage aufwirft, warum wohl Nietzsches Walrossbart in der Zeit der häuslichen Pflege so gut wie gar nicht gestutzt wurde. Weniger überraschend auch, von hier aus betrachtet, das im Prolog angeführte Nasen-Notat aus dem Jenaer Krankenjournal vom 17. Juni 1889.
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6), war bei seinem Tod 46 Jahre alt gewesen, was fast nach Kompromissbildung klingt und jedenfalls so, als käme beider Krankheitsverlauf (auch bei Musset reimt sich das große Klagelied auf AbsinthAbusus) nach Edmonds eigentlicher, aber uneingestandener subjektiver Krankheitstheorie in einem Punkt zusammen: Syphilis. Damit nun wird es spannend, eingedenk von Jules fernerem Schicksal und Edmonds ferneren Texten. Hervorhebenswert und längst erkannt: Dass Edmond, von Freunden auch »Witwe« geheißen, weil er fürchterlich litt unter dem Verlust seines Bruders 145, es als tröstend empfunden haben mag, Jules in seinem Roman Les frères Zemganno (1879; dt. Die Brüder Zemganno) in der Figur des Nello – sich selbst in der Figur des Gianni – ein Denkmal zu setzen. Im Ergebnis dieser seiner Absicht wird der Akrobat Nello »durch einen unglücklichen Sturz um seine Kraft gebracht«, und beide beschließen am Ende »in tränenvoller Umarmung, von nun an bürgerlich ihr Brot zu verdienen.« (Klemperer 1956, Bd. I: 263) Was für ein herrlicher, aber leicht durchschaubarer Wiedergutmachungstraum also – harmlos und nicht sonderlich aufregend, im Vergleich zum drei Jahre später folgenden und ab jetzt, wie in der Kapitelüberschrift schon angedeutet, exklusiv interessierenden Roman La Faustin (1882; dt. Juliette Faustin). Der Roman erschien im Oktober 1881 als Vorabdruck und grell beworben wie zwei Jahre zuvor Émile Zolas Nana (1879/80), im Voltaire (Auflage: 100.000) und im Januar 1882 auch als Buch. »Von [Henri] Céard [1851–1924] ist heute morgen ein großartiger Artikel erschienen«, notierte der Verfasser dazu am 20. Januar 1882 beglückt, sowie: »Von [Joris-Karl] Huysmans [1848–1907] habe ich einen sehr bewundernden Brief erhalten«, nicht zu vergessen: »Schließlich laufe ich […] im Hoftor [Paul] Bourget [1852–1935] in die Arme, der mich unbedingt nach Hause bringen will, um sich mit mir über den ehrenwerten Selwyn 146 zu unterhalten, von dem sein Hirn berauscht zu sein scheint.« (JGG 7: 71) Einen Tag später trifft Edmond zufällig Guy de Maupassant in der Bahn, hört aber nichts über seinen Roman, sondern nur etwas über eine Verletzung, die sich dieser bei Abwehr des Pistolenschusses eines gehörnten Ehemannes zugezogen haben will. (JGG 7: 72) Auch die Auslagen der Buchhändler sind wenig er145 Exemplarisch hierfür sein Brief an Gustave Flaubert vom 1. Juli 1870 (vgl. Flaubert 2004: 238 f.) 146 Romanfigur, auf die noch zurückzukommen sein wird.
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mutigend. Dem Autor will es scheinen, dass »die Deckel der ausgestellten Exemplare immer schmutziger [werden]«, und was die ersten Rezensionen angeht, gilt ihm nun, am 23. Januar 1882, als gewiss: »Im Grunde bescheinigen mir alle diese Artikel, die über mich sprechen, nur das Talent eines Nervenkranken.« (JGG 7: 73) Gut drei Wochen später, nach Erscheinen der Rezensionen von Louis Ulbach (1822–1889), Léon Chapron (1840–1884) und Albert Delpit (1849– 1893), resümierte Edmond: »Vernichtung von La Faustin auf ganzer Linie.« (JGG 7: 81) In the long run fand dieser Roman doch noch seinen Platz, schien Victor Klemperer gute Gründe zu haben, Juliette Faustin, als fungiere der längst schon verstorbene Jules als Mitautor, zum »Bedeutendsten zu erklären, was die Goncourts ihrem eigensten Wesen nach hervorbringen konnten.« (Klemperer 1956, Bd. I: 263) Indes: Da jenes ›eigenste Wesen‹ unbestimmt bleibt, ist nicht wirklich erkennbar, ob Klemperer, der ja schon Schwierigkeiten offenbarte, auch nur das ›Wesen‹ von Jules Krankheit zu erkennen, dies als Kompliment meinte, geschweige denn: wie überhaupt er es meinte. Versuchen wir deswegen eine Interpretation auf eigene Faust, ausgehend von der These, es handele sich hier um einen Anti-Syphilis- sowie Schlüsselroman, der Nietzsche an sich brennend hätte interessieren müssen. Schlüsselroman meint: Der Verdacht liegt nahe, dass Edmond seinem Bruder hier ein weiteres Denkmal setzte, in Gestalt einer Hauptfigur dieses Romans, des betörenden jungen Lords Annandale. Dieser entlockt der zweiten Hauptfigur, der Schauspielerin Juliette Faustin, gleich in der Anfangsszene einen Kuss sowie in dessen Folge das zunächst nur dem Leser gegenüber verlautbarte Geständnis ewiger Liebe. In der Folge nimmt der Lord Juliette »mit auf sein Schloß nach Schottland«, selbstredend einem »verfallenden Schloß inmitten eines Parks«, auf dessen Stufen bei einsetzender Dämmerung »eine Schar weißer Pfauen« lagert – wo allerdings auch, nun eher nach Art eines Schauerromans, ein düsteres Menetekel aufleuchtet: »Wenn der Mond aufging, glaubte man, in allen Fensternischen säßen unschuldige Seelen verstorbener Mädchen in seidenen Hochzeitskleidern …« (Goncourt 1989: 197)
Wie man sieht: Dieser Mann, Edmond de Goncourt, der Erzähler, sucht sein Heil als Schriftsteller in der Flucht in die Rückkehr in die seit Émile Zolas Realismus verpönte Romantik, deutlicher: der Schwarzen Romantik, der Edgar Allan Poe mit The Fall of the House 414 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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of Usher (1839; dt.: Der Untergang des Hause Usher) ein unvergessliches Denkmal gesetzt hatte. Dass Schloss in Schottland sollte man also weniger ernst nehmen als jenes Menetekel. Die in es eingearbeitete dunkle Seite des unglücklichen Bruders Jules de Goncourt tritt in diesem Roman zögernd in ihr Recht, etwa wenn es, zum Stichwort »englische Liebe« (Goncourt 1989: 343), vergleichsweise unvermutet und nach Seiten voller Schilderungen der Begegnungen zweier in ihr wechselseitiges Glück versunkener Liebender, auf einmal heißt, »der Engländer« neige »von Natur aus sehr zu Ausschweifungen, und während solcher erotisch-sentimentalen Beziehungen sucht er, wenn ihm irgendeine schlüpfrige Phantasie durch den Kopf geht, ziemlich häufig Dirnen auf, ohne daß die Leidenschaft des Liebhabers für die wie eine Gattin verehrte Frau im mindesten angetastet wird.« Übergangslos folgt dann: »Lord Annandale folgte auch darin seinen Landsleuten nach.« (ebd.: 345) Das zweite Zeichen dahingehend, dass es nun ernst wird und die Syphilis langsam ins Zentrum dieses Romans rückt, setzt Juliettes Schwester. Von Ersterer gefragt, wen sie nächtens erwarte, antwortet diese, mit deutlicher Anspielung auch auf ihre Haltlosigkeit Mariechen geheißen, es handele sich jedenfalls nicht, wie Juliette vermute, um den »unglücklichen Knurrbauch.« Man habe ihn nach dem Süden geschickt, weil das Pariser Klima zu feucht sei und er deswegen »nicht genug Quecksilber schlucken könne.« Dieser Anspielung auf das damalige Syphilis-Therapeutikum Nr. 1 folgt, vieldeutig: »[J]etzt ist mit den Männern nicht viel los … vielleicht weil es so kalt ist.« (ebd.: 362) Mariechens Konsequenz: Sie sei jetzt zu einer »anderen Art Liebschaften übergegangen« und habe angefangen, die Taugenichts zu lieben … die ganz unten sind«, denen könne man die Liebeswürdigkeit befehlen, »wie man sie Holz hacken läßt« – keine wirkliche Lösung angesichts des Grundproblems, wie auch Mariechen weiß, die unvermutet einen Wutanfall bekommen, in den Worten des Dichters: »Die schwarze Tönung, die ihre blauen Augen bei böser Stimmung annahmen, und ihre frisch gefärbte Mähne […] verliehen ihrem Gesicht etwas vom Charakter und der wilden Größe der apokalytischen Hure.« (ebd.: 363) Für Trost sorgt die auf einmal durchbrechende »Freude über die Aussicht auf die wilde Rache des Weibes an den Männern«, in Verbindung mit der drohend in Richtung Juliettes abgesetzten Prognose: »Weißt du, im Grunde … bist Du die Dumme … mich wirst Du noch verheiratet sehen.« (ebd.: 364) Damit ist das fernere Setting dieses Romans bestimmt: Juliette, die aus Liebe 415 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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zum Lord das Theater und damit Paris verlässt und mit ihm eine Villa in Lindau am Bodensee bezieht, wird aus ihren nun wieder auflebenden Heiratsplänen hin und wieder herausgerissen, etwa durch eigenes unerklärliches Verhalten, etwa beim Besuch einer Sangesgruppe, der sie dermaßen erschüttert, dass sie zum Erstaunen aller »nicht nur ihre Börse und die ihres Begleiters leerte, sondern den Jüngsten der Gruppe noch ein paar unbedeutende Schmuckstücke schenkte, die sie trug.« (ebd.: 376) Vergleichbar obskur agiert das Personal, darunter der Kutscher mit seinem beharrlichen »Order?«, wie »ein Grunzen […] von der tonlosen Stimme eines dicken Mannes gekaut, der plötzlich unbeweglich, die Mütze an der Hand, an der Tür stand, die er hinter sich geschlossen hatte.« (ebd.: 389) Ist man als Leser noch bereit, dies unter Entertainment abzubuchen, funktioniert derlei nicht mehr bei Edmonds Porträt einer armen Verwandten Lord Annandales, »einer halbverrückten oder besser leicht schwachsinnigen alten Jungfer«, die abends den Tee brachte und ansonsten in ihrem Zimmer »täglich sechzehn Stunden Klavier [spielte], obwohl sie weder die geringste musikalische Begabung noch Gehör besaß.« Weiter: »Bei dieser schrillen Katzenmusik zeigte das fratzenhafte Gesicht der begeisterten Pianistin die Entrücktheit der heiligen Cäcilia, die den Himmel offensieht.« (ebd.: 379 f.)
Es schadete offenbar nichts, so das offenbare Kalkül Edmonds, vorab einige Nebelkerzen zu werfen in Richtung einer erblichen Belastung unseres Lords (neben und jenseits der Syphilis). Ein etwas anderes Kalkül steckt hinter dem Auftritt eines Jugendfreundes Lord Annandales, von diesem seiner Holden beim traulichen tête à tête mit den hingeworfenen Wort »George Selwyn … ist ein Sadist« (ebd.: 391) 147 vorgestellt. Dass dies nicht alles sein kann, zeigt Selwyns Erläuterung 147 Der Herausgeber des JGG notiert hierzu: »Die Figur eines nach dem Vorbild von [Frederick] Hankey [1823–1882] und [Algernon Charles] Swinburne [1837–1909] gestalteten homosexuellen und sadistischen Engländers.« (JGG 7: 72) Als Namensgeber kommt der reale George Selwyn (1719–1791) in Betracht, der als »Hinrichtungsfanatiker« (Bloch 1903: 49) gilt. Näheres zu Selwyns »krankhafter Neigung für blutige Schauspiele« bei gleichzeitiger »ausgeprägter Zärtlichkeit für Kinder« findet sich bei Mario Praz (1930 [1960]: 354 ff.), der von »Henkey« (nicht »Hankey«) sprach (ebd.: 553) und, wichtiger, auf Stellen im JGG hinwies, die den Schluss erlauben, Edmond de Goncourt habe bei seiner Zeichnung der Figur des Selwyn durchaus nicht freundlich gemeinte Anspielungen sowohl auf Baudelaire als auch auf Barbey d’Aurevilly untergebracht. (ebd.: 358 f.).
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Juliette gegenüber, er habe »eine eigenartige, höchst eigenartige Krankheit«, die Ärzte sagten, »das Übergewicht des Gehirns werden durch den nervösen Einfluß des Rückenmarks aufgehoben« (ebd.: 384) – eine Standarderklärung damals zwecks Beschreibung der anhebenden Progressive Paralyse als tertiäres Stadium der Syphilis. Und eine Erklärung, die in Juliettes Kopf weiterarbeitet und »ihr Selwyn mit einem Male als den bösen Geist der Jugendzeit und ersten Mannesjahre ihres Geliebten erscheinen [ließ].« (ebd. 392) Damit steht alles bereit für das große Finale, das Ende kommt nicht wirklich überraschend, in den Worten des Dichters, der nun wieder ganz der romantischen Erzähltradition folgt: »In der wollustschweren Luft des Schlafzimmers, wo die Geliebte (= Juliette; d. Verf.) an seiner Seite schlief, erhob sich eines Nachts Lord Annandale vom Bett, um die Kühle des Morgens hereinzulassen, der hinter den durchsichtigen Vorhängen schimmerte« (ebd.: 397) – als das Schreckliche passiert: Er bricht mit einem letzten Hilferuf zusammen, sie schafft ihn mit Mühe zurück ins Bett, und Edmond de Goncourt dichtet dazu: »Ihr Kopf war seinem bleichen Gesicht zugewandt, ihr Blick in seine weit geöffneten Augen versenkt, die das starre Entsetzen zeigten, das plötzliche, unerwartete Unterbrechung der Lebenstätigkeit bei einem in voller Gesundheit Lebenden hervorruft.« (ebd.: 398)
Das hier geschilderte Entsetzen Juliettes korrespondiert so vollständig jenem des Erzählers gut ein Jahrzehnt zuvor angesichts des Anblicks, den ihm sein Bruder Jules kurz vor seinem epileptischen Anfall als Zeichen seiner Progressiven Paralyse bot, dass man versucht ist, zumal im Rückblick auf das in der Anfangsszene dargebotene Menetekel mit den ›unschuldigen Seelen verstorbener Mädchen in seidenen Hochzeitskleidern‹ einen Fall à la Jules zu vermuten – doch weit gefehlt: Edmond de Goncourts Interesse geht nicht auf Aufklärung über eine schreckliche Geschlechtskrankheit und deren Folgen mit literarischen Mitteln, etwa denen des Realismus – da sei, wie angedeutet, Zola und sein Neid auf diesen, mindestens aber seine »Rivalität gegenüber Zola« (Kühn 1989: 412) vor. Jules trauernden Bruders Interesse geht vielmehr auf Traumabewältigung durch Hinwegerklären des Geschehenen, und dazu scheint ihm fast jedes Mittel Recht, in diesem Fall: Dieses Zweckes wegen schreckt Edmond nicht davor zurück, des herbeigerufenen Arztes »Bestürzung über die seltsame, unerklärliche Krankheit« (Goncourt 1989: 398), nach einigen Nebel417 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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kerzen desselben in Richtung auf eine von Madame d’Épinay in ihren Memoiren beschriebene »›sardonische Agonie‹« (ebd.: 402) wie folgt zu erläutern: Der Lord litt, als Zeichen für die »Unversöhnlichkeit der angelsächsischen Rasse« (ebd.: 404), an so etwas wie anglophiler und darin anti-frankophiler Misogynie, verbunden mit einem tiefsitzenden Vorurteil gegen den Typus der Schauspielerin (»als Frau unfähig zur Liebe«; ebd.). Und, dies der (abstrusen) Konstruktion zweiter Teil: Als dem Lord in einem hellen Moment zu Bewusstsein kam, dass Juliette beides war, Schauspielerin und Französin, war seine Enttäuschung über sich selbst so groß, dass ihn der Wahnsinn packte, wie mit den allerletzten Satz dieses Romans zum Ausdruck gebracht werden soll: »Und Lord Annandale kehrte sein Gesicht zur Wand, um zu sterben, rief aber noch einmal, nun gebieterischer, über die Schulter hinweg: ›Turn out that woman!‹« (ebd.)
Gewiss: Man, vor allem Mann, kann dies eine Satire heißen als französische Antwort auf den britischen, schwarzen Humor, nicht ernst gemeint und für die Zwecke männerbündischer Bierseligkeit gedacht. Und von mir aus kann Mann (auch Frau!) auch lustig finden, dass dieser allerletzte Ausspruch des Lords die Faustin, »ganz ihrer schauspielerischen Arbeit« der Nachahmung dieses Todeskampfes »für Theaterzwecke« (ebd.: 403 f.) hingegeben, gleichsam kalt erwischt, sprich: witzig ist, so vermutlich Edmonds Idee bei Konzeption dieses Szene, dass selbst ein im Sterben liegender Engländer seines ihm eigenen Egoismus wegen kein dringlicheres Anliegen kennt als die Hemmung der künstlerische Entwicklung einer Französin. Aber ist dies wirklich witzig? Für mich jedenfalls liegt der Witz eher auf der Seite der Rezeption, also etwa darin, dass Nietzsche, dieser eigentlich hochintelligente Mann, sich, nach Giuliano Campioni wohl unter dem Einfluss Ferdinand Brunetières (1883: 323 ff.) Faustin-Analyse (vgl. Campioni 2009: 302 f.), dazu hinreißen ließ, im Frühjahr 1888, zur Zeit der Arbeit an Der Fall Wagner, angesichts des ihn nun brennend interessierenden Schauspielerischen an Wagner und unter Nutzung einer vier Jahre älteren Aufzeichnung (vgl. X: 644) in dieser Schlussszene das eigentlich Entscheidende an diesem Roman zu sehen nach dem Motto: »Die Verfasser der ›Faustine‹ würden sicherlich Einiges an Wagner errathen …« (XIII: 404) – kein Lob, wie zu betonen ist, insofern damit, via Brunetière, auf das Schauspielerische bei beiden abge418 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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stellt wird. Kaum weniger fatal wirkte sich die gleichfalls von Giuliano Campioni (2009: 304) herausgestellte Faustin-Kritik Paul Bourgets, 1886 im zweiten Band seiner Essais de Psychologie Contemporaine veröffentlicht (vgl. Bourget 1926b: 186 ff.), auf Nietzsche aus, etwa in Gestalt der folgenden Bemerkung aus Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888): »Ja, in’s Große gerechnet, scheint Wagner sich für keine andern Probleme interessiert zu haben, als die, welche heute die kleinen Pariser décadents interessiren. Immer fünf Schritte entfernt vom Hospital! Lauter ganz moderne, ganz g r o s s s t ä d t i s c h e Probleme!« (VI: 34)
»O sancta simplicitas!« (V: 41), ist man, mit Nietzsche, angesichts dieser imposanten Fehllektüre dieses Romans des »Pariser décadent« Edmond de Goncourt fast versucht auszurufen. Zumal Nietzsche zu jener Zeit eigentlich ein ganz anderer Fall beschäftigte: nämlich nicht der Fall Wagner, sondern der Fall Nietzsche. Etwa qua Rezeption entsprechender Überlegungen des Psychiaters Charles Féré in Dégénérescence et criminalité: essai physiologique (1888) (vgl. Lampl 1986: 254). Mit der Folge, dass er Férés Frage, unter welchen Umständen die Zeugung eines Kindes ein Verbrechen sei, zumindest doch im unter dem Titel Der Wille zur Macht gesammelten Nachlass wie folgt beantwortete: »Ein Kind in die Welt setzen, in der man selbst kein Recht zu sein hat, ist schlimmer als ein Leben nehmen. Der Syphilitiker, der ein Kind macht, giebt die Ursache zu einer ganzen Kette verfehlter Leben ab.« (XIII: 402)
Was, um alles in der Welt, hat Nietzsche bloß veranlasst zu übersehen, dass diese für ihn als potentiellen Vater desaströse Antwort auch passt auf die Verbindung Lord Annandale/Juliette Faustin? Mehr als dies: Was hat ihn die Syphilisthematik in diesem Roman übersehen lassen? Und/oder auf die Idee gebracht, sie unter dem Begriffsdach »Pariser décadents« respektive »moderne großtstädtische Probleme« zu verbergen? Etwa nur die an sich banale Geschichte mit der Verdrängung? Über die er selbst, wohl nicht von ungefähr und getragen von einigem schwarzen Humor, in JGB 68 einen ziemlich guten Witz riss – einen so guten jedenfalls, dass Freud angetan, wenn nicht gar neidisch war. Und, um die Schuld nun nicht nur bei Nietzsche zu suchen, der seine Gründe hatte, sich in dieser Frage naiv zu stellen und sich hinter Autoritäten wie Brunetière und Bourget zu verstecken, des Weiteren: 419 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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um an der oben angedeuteten Kritik am Romanschluss und an dem Stichwort ›Satire‹ anzuknüpfen: Wie erklärt sich, gleichfalls um alles in der Welt, das Unbeanstandete am eben referierten Ende eines Romans, den die Romanistik à la Klemperer als »Meisterroman« 148 feierte, dabei komplett ignorierend, dass der Verfasser, wie schon sein Roman Les frères Zemganno andeutet, seit 1870 umgetrieben war von der Absicht, seine Mitschuld am (Syphilis-) Tod seines Bruders um jeden Preis zu leugnen? Mitschuld selbstredend nicht im in der Goncourt-Forschung durchaus eingeräumten (banalen) Sinn, er hätte sich vorgeworfen, einiger gemeinsamer Romanprojekte wegen »den malerisch begabten Bruder zu der den Geist zu sehr anstrengenden Literatur verführt zu haben« (Kühn 1989: 413) – eine Argumentation, die uns von Nietzsches Schwester her vertraut ist und hier wie dort suggerieren soll, es sei nichts Anrüchiges, zumal kein Bordellbesuch, im Spiel gewesen, das jeweilige Opfer habe sich nur übernommen. Sondern Mitschuld im sehr viel gravierenden Sinne des Für-Normal-Erklärens einer dekadenten Lebensform wie der im Journal de Goncourt beharrlich und immer wieder neu geschilderten: eines Lebens und Liebens – wie die eingangs referierte 1862 er Szene mit Suzanne Lagier exemplarisch dartun sollte – am Rande der Verruchtheit und damit Auge in Auge mit einem leichthin beiseite gesetzten tödlichen Feind, der Syphilis. Summarisch geredet und nun nicht nur abzielend auf den Fall Nietzsche, sondern auch auf Nietzsches Bruder-Problem: Der Roman Juliette Faustin hätte für Nietzsche von höchstem Interesse sein müssen, desgleichen für die Nietzscheforschung. Denn Edmond de Goncourt gibt einen tiefen Einblick in die Details der Liebe und Lüge in Zeiten der Syphilis – um den Titel eines Beitrags von Günther Mahal (1993) hier aufzugreifen und ihn, wie der kursivierte Ausdruck »Lüge« anzeigen soll, um das an diesem Exempel Gelernte zu erweitern. Kaum weniger wichtig: Edmond de Goncourt trägt wider seine Absicht einige subjektive Krankheitstheorien von Syphilitikern respektive Syphilophoben zu Markte – deren Kenntnis für die Dechiffrierung jener Nietzsches hätten wichtig sein oder, in Zukunft, werden können.
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U 3 der 1989er Edition von Juliette Faustin in der Sammlung Dieterich.
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/10 Algernon Charles Swinburne (1837–1909): »Treten da sado-masochistische Züge zutage?« (Ross) Dieser englische Kritiker und Dichter, dessen Grundansatz Edmond de Goncourt in La Faustin (1881/82) in der Gestalt des George Selwyn ein fragwürdiges Denkmal setzte, spielt nur ganz am Rande eine Rolle in der Nietzscheforschung, in einem Zusammenhang, an den der Nietzsche-Biograph Werner Ross vor gut vierzig Jahre erinnerte mittels seiner auf das Lied Unter Töchtern der Wüste aus Zarathustra IV bezogenen Frage: »Treten da sado-masochistische Züge zutage?« (Ross 1980: 718)
Ross’ Fragehintergrund: Die Zarathustra-Verse über einen moralbeflissenen Europäer, der als »Dattel« umgetrieben wird von der Sehnsucht »nach mädchenhaften/[e]iskalten schneeweissen schneidigen Beisszähnen.« (IV: 382) Ross brachte in diesem Zusammenhang einen Brief Nietzsches aus Zürich an seine Schwester in Straßburg vom 22. Oktober 1884 ein, also aus der Zeit unmittelbar vor der Erstellung von Zarathustra IV (von Dezember 1884 und Februar 1885 in Nizza). In diesem Brief berichtet Nietzsche über einen längeren Spaziergang mit seiner »neuen Freundin« (6: 548) Helene von Druskowitz (1856–1918). 149 Sie sei als Übersetzerin tätig, aktuell im Blick auf Gedichte und Texte Swinburnes. Mehr ist aus diesem Brief und auch aus Nietzsches Gesamtwerk nicht über Swinburne herauszubekommen. Ross ergänzte lediglich, dass bald nach den »Züricher Spaziergehtagen […] die Lust-Litanei des vierten ›Zarathustra‹Teils« (Ross 1980: 718 f.) entstand – jener Teil also, den Nietzsche auch seiner nicht ganz so frommen Helene (erfolglos) dediziert hatte. Auch die von Förster-Nietzsche gelegte Spur zwecks Verharmlosung des Liedes Unter Töchtern der Wüste als eines von Freiligrath-Format 149 Die hoch begabte Züricher Doktorin (22-jährig, als zweite Frau überhaupt, mit einer Arbeit über Lord Byrons Don Juan; vgl. Reich 2004: 57), Feministin (und Lesbierin) »did actually become insane during the 1890s, and was mentally ill for more than two decades, but this should no more blind us to he merit of her writings than it does with Nietzsche.« (Diethe 1996: 98 f.) Diesem Satz über das traurige Ende der von Nietzsche zunächst wohl als Lou-von-Salomé-Nachfolgerin Umschwärmten kann man nur beipflichten, unter Hinweis darauf, dass Druskowitz, die sich nach anfänglichem Interesse für Nietzsches Konzepte in seine entschiedenste Kritikerin wandelte – Andreas Urs Sommer (2019: 491) brachte einiger ihrer hartnäckigsten Invektiven gegen Nietzsches Genealoge der Moral in Erinnerung –, schließlich wegen Halluzinationen entmündigt wurde. (vgl. Kratzer 2015: 190 ff.)
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wird von Ross nicht verfolgt. Dadurch entgeht ihm eine entscheidende Frage: Hat Nietzsche Schwester womöglich im Laufe der Jahre umgelernt über das in Zürich Geschehene – und den ihr bis dato fraglos nicht geläufigen Namen Swinburne systematisch durch den Namen Freiligrath ersetzt, nachdem 1885 der Skandal um Swinburne europaweit Schlagzeilen machte, ausgehend von der Pall Mall Gazette? Ross brachte den von Mario Praz rekonstruierten Skandal 150 recht deftig auf den Punkt: »Wie später die Homosexualität als zweites ›englisches Laster‹ sich an den Namen des Dichters Oscar Wilde knüpfte, so jetzt die lüsternen Schilderungen geheimer Häuser, in deren schalldichten Räumen Mädchen mit Riemen gefesselt ihren Peinigern ausgeliefert waren, an den Namen des Dichters Swinburne.« (Ross 1980: 718)
›Jetzt‹ ist gut und nur zu erklären mit Ross’ Unkenntnis des Journal des Goncourt, die allerdings bis 1887 eine gemeine war. Soll heißen, unter Bezug auf das eben Erzählte: In einschlägig interessierten Kreisen waren Gerüchte um Swinburne respektive die von ihm repräsentierte Szene längst schon ruchbar geworden – etwa bezüglich des unter dem Datum des 7. April 1862 notierten »großen Erstaunens« über einen jungen Engländer, der geklagt habe, »man könne sich in Paris kaum amüsieren, London sei darin weit überlegen; es gebe in London ein sehr gutes Haus, das Haus von Mrs. Jenkins 151, in dem es junge Mädchen von dreizehn Jahren gebe, die man zuerst unterweisen ließ; dann peitschte man sie aus, die kleinen nicht sehr, aber die großen bis aufs Blut.« (JGG 3: 263)
Einer, der damals, 1862, dabei war, Gustave Flaubert, wird über zehn Jahre später, am 28. Februar 1875, Themenanreger in jener Runde, diesmal direkt in Sachen des »Päderasten« (JGG 6: 169) Swinburne, dem Guy der Maupassant – er berichtete selbst darüber im Kreise der
150 Eine im Juli 1885 erschienene Artikelfolge gab Kenntnis von einer Umfrage über die Londoner Jugendprostitution, korsettiert durch einen Selbstversuch des berichtenden Journalisten bezüglich der Verführbarkeit Minderjähriger. Die Pariser Berichterstattung brachte dann den Namen Swinburnes – gegen dessen Protest – in Verbindung mit den Vorgängen, unter besonderer Herausstellung der dabei praktizierten Maßnahmen (Why the cries of the victims are not heard), nichts vom Sadismus gegenüber unter Dreizehnjährigen nach außen dringen zu lassen. (vgl. Praz 1960 [1930]: 359 f.) 151 Eine »Mrs. Jenkins« wird unter dem Stichwort »Flagellomania« von Iwan Bloch (1938: 351) erwähnt, allerdings für die Zeit um 1760.
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Freunde – 1868 bei einem Badeunfall, ohne zunächst zu wissen, um wen es sich handele, das Leben zu retten versucht habe. Maupassant, aus Dank für die Rettungsaktion von Swinburne in sein Feriendomizil eingeladen und einige Tage bleibend, bestätigte nachher im Kreis der Goncourts: »Ja, sie [Swinburne und sein Freund Powel, im Register »Powell« genannt; d. Verf.] 152 führten da ihr gemeinsames Leben und befriedigten sich mit Affen oder vierzehn-, fünfzehnjährigen jungen Hausdienern, die man Powel ungefähr alle drei Monate aus England herüberschickte, kleine Hausdiener von einer außerordentlichen Makellosigkeit und Jugendfrische. […] Das Haus war voller seltsamer Geräusche, voller Schatten von de Sade; und eines Nachts sah und hörte man Powel im Garten mit dem Revolver hinter einen Neger herschießen. Es waren wahre Helden des Alten, die vor keinem Verbrechten zurückgeschreckt wären.« (JGG 6: 171)
Nietzsche, dem, wie oben gesagt, nur die die Jahre 1862–70 betreffenden Bände des Journal des Goncourt bekannt waren, bekam von derlei Diskussionen wohl nichts mit, und auch der 1885 er Skandal um Swinburne dürfte ihm entgangen sein. Immerhin aber ging die Lebens- und Liebeseinstellung Nietzsches (exemplarisch, als Motto dieses Abschnitts ausgewählt: »E s l e b e d i e U n a b h ä n g i g k e i t ! – so denke ich täglich. Nichts mit Heiratherei!«; 6: 549) in Richtung des mittels dieser Informationen sich als immer fragwürdiger darstellenden Literatenkreises, dem Liebe in Zeiten der Syphilis wohl kein wirklicher Grund zur Sorge und Vorsorge bot.
/11 Émile Zola (1840–1902): Ein Syphilisleugner als Nietzsches heimliches (Bestseller-) Idol? »Ich las ihm vor, da kam Zola vor u. ich frug wer das sei? da meinte er: heißt er nicht Emil? er lebte in Paris. Ich frug er war wohl Liederdichter? nein Romancier Woher stammt er? Aus Oberitalien er ist ein Bergamasker« – so Nietzsche laut Aufzeichnung der Mutter über ein Gespräch mit ihrem Sohn vom 24. Februar 1891, einen Tag, an dem er, wie die Mutter hinzusetzt, »zur Unterhaltung aufgelegt [war] 152 Gemeint ist nach Mario Praz Swinburnes Freund George Powell. Praz wies unter Berufung auf G. Lafourcade des Weiteren darauf hin, Swinburne habe dem Haus »den Namen Chaumière de Dolmancé nach einem Roman des Marquis de Sade und dem Parkweg den Namen Avenue de Sade gegeben.« (Praz 1960 [1930]: 357)
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wie noch nie.« (zit. n. Volz 1990: 456) Wie es also schien: eine Sensation, um welche die Mutter sogleich auch Franz Overbeck in Basel brieflich (am 28. Februar) wissen ließ. (vgl. Podach 1937: 108) Dessen Reaktion war indes reserviert: Nietzsches Mutter, so ließ er Heinrich Köselitz am 6. März als Antwort auf dessen Brief vom 26. Februar 153 wissen, habe ihm zwar »Proben gegeben […] von der anhaltenden Treue des Gedächtnisses« des Patienten. Allerdings könne er ihrem Brief (vom 28. Februar) »doch auch nur entnehmen […], was Sie meldeten, dass es dort traurig abwärts geht.« (zit. n. Hoffmann/Peter/Salfinger 1998: 327) Die einzige, die sich rundheraus freute über das Geschehene, war Nietzsches Schwester, bot es ihr doch Chancen zur Erfindung eines weiteren Briefes ihres Bruders aus jenen Februartagen des Jahres 1891, die jene Wende zum Besseren beglaubigen sollten und, dies vor allem: die ihr halfen, sich in ein besseres Licht zu rücken. Beides steht, von diesem Beispiel ausgehend, also in Konkurrenz: Der schwesterliche Ungeist der geistigen Leichenfledderei; und der mütterliche Geist der viel (auch von Nietzsche) gescholtenen Naumburger Tugend, sprich: die Redlichkeit einer Pastorenwitwe, angesichts derer man jedenfalls sicher sein darf, in betreffs des eingangs referierten Gesprächs keiner Fake News aufzusitzen. Bleibt die Frage, die weder Overbeck noch Köselitz noch die internationale Nietzscheforschung seitdem bis auf den heutigen Tag zu verfolgen für Wert hielten: Warum, um alles in der Welt, erinnerte Nietzsche, der sich seit über zwei Jahren sukzessive in seine Wahnwelt und in eine Welt des irreversiblen Vergessens einmauerte, sich im Februar 1891 ausgerechnet Zolas zu, über den er sich in geistig wachen Zeiten kaum äußerte und wenn, dann eher distanziert? Und warum – kaum weniger rätselhaft – verfiel Nietzsche in einem seiner letzten Briefe, einem Brief an Franz Overbeck vom 22. Dezember 1888, auf die Idee, er, der bis dato gänzlich Erfolglose, werde mit Ecce homo in Frankreich »an Zahl der Auflagen selbst Zola’s Nana überwinden« (8: 548), im Vokabelfehler (richtig wäre ›übertreffen‹) andeutend, dass es ihm ums Ganze, um Zola, ging, nicht nur um eines seiner Werke? Woraus ja mindestens folgt, dass Overbeck zwei Mal,
153 Köselitz hatte nach einem Besuch in Naumburg Nietzsches Interaktion mit seiner Mutter wie folgt auf den Punkt gebracht: »Zu ihrem grössten Leidwesen benimmt sich N. gegen sie im Ganzen apathisch. Dies ist aber jetzt überhaupt in seinem Wesen. Er spricht nur ganz wenig, eine Unterhaltung ist mit ihm kaum mehr zu führen.« (zit. n. Hoffmann/Peter/Salfinger 1998: 323)
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hier und im Februar 1891, mit dem Namen Zola in überaus auffälligen Kontexten konfrontiert war – und in beiden Fällen als Interpret versagte, jedenfalls soweit ersichtlich und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er auf diesen Brief nicht reagierte. Woraus wiederum folgt, dass es diesen Mangel Overbecks im Folgenden zu beheben gilt. Dabei sehr gerne zugestanden, dass eine seriöse Antwort auf beide Fragen einen etwas längeren Anlauf erfordert, beispielsweise ausgehend von einer Bemerkung wie der folgenden: Émile Zola, legendär als unerbittlicher Aufklärer in Sachen der (antisemitisch konnotierbaren) Dreyfuss-Affäre (J’accuse … !; 1898) und hier vor allem interessierend wegen seiner zwanzigbändigen Familiensaga Les Rougon-Macquart (1871–1893), war von den Lebensdaten her ein Zeitgenosse Nietzsches. Obgleich seine Nähe zu Nietzsche früh betont wurde (Brandes 1889; Conrad 1906), spielt Nietzsche in der neueren, speziell deutschsprachigen Zola-Forschung keine Rolle, wohl als Spätfolge der – Nietzsche gegenüber DDR-mäßig distanzierten – Zola-Forscherin Rita Schober, die Bedeutendes auf dem Felde der Zola-Edition und –Interpretation leistete, aber des Blicks für Nietzsche entbehrte (vgl. exemplarisch Schober 1970). Komplementär dazu entbehrt auch die neuere Nietzscheforschung eines subtilen Blicks auf Zola. Schade eigentlich, scheint doch tatsächlich speziell der Aufklärungswille Nietzsche mit Zola zu verbinden. Davon bleibt unbetroffen, dass Nietzsches Zolalektüre oftmals nur auf Sekundärliteratur beruhte. Immerhin: In Ecce homo war Nietzsche durchaus bereit, einzelne Vertreter der von Zola begründeten ›Schule von Médan‹, insonderheit Guy de Maupassant, als »delikate Psychologen« anzuerkennen, die ihm eine »charmante Gesellschaft« (VI: 285) seien, wenngleich – und genannt wird nun auch wieder Zola – ihnen so etwas zu attestieren sei wie »Brutalität der Farben, des Stoffes, der Begierden« (XII: 473), summarisch also gelte: »Die Dinge sind häßlich, die sie zeigen.« (XIII: 241) Aber – so darf man vielleicht fortsetzen – sie nicht zu zeigen, würde bedeuten, sich der Perpetuierung des ›Hässlichen‹ schuldig zu machen nach dem Zarathustra-Motto: »[A]lle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.« (IV: 81) Die Ausdrücke ›giftig‹ und ›hässlich‹ markieren hier Leerstellen für den Begriff der Décadence, der den Geist des fin de siècle prägt und auf kulturkritisch gelesene Diagnosen gesellschaftlichen, moralischen und körperlichen Verfalls Bezug nimmt. Speziell dieser Aufklärungswille scheint Nietzsche mit Zola zu verbinden, so 425 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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dass selbst negativ klingende Urteile Nietzsches, wie exemplarisch der Eintrag »Z o l a : oder ›die Freude zu stinken‹« (VI: 111), nicht nur absprechend gemeint sein müssen. Die literarische Ausgestaltung der olfaktorischen Seite der sozialen Frage – um ein diesbezügliches Argument von Jean-Paul Sartre (GW/L 3: 619), etwas verfeinert, zu nutzen – in Zola-Romanen wie La terre (1887; dt.: Die Erde) und PotBouille (1882; dt. Ein feines Haus) ist, so betrachtet, ein wichtiges, geradezu sinnliches Mittel im Interesse des Kampfes gegen die Verlogenheit insbesondere in Sachen eroticis. Dass dieser Kampf auch in anti-christlicher Zielsetzung zu führen ist, war für Nietzsche klar und spricht sich, wie gesehen (s. II/5), am deutlichsten in seinem Gesetz wider das Christenthum (1888) aus. Zola hätte, auch den Analysen Eugen Drewermanns (1989: 511) zufolge, diesem Programmpunkt wohl kaum widersprochen. Dies zeigt schon sein Stolz wegen der Warnung seiner Freunde, er werde sich nach Nana – eine Art Orgie in Sachen häuslicher und sexueller Gewalt (im Prekariat) sowie von Bürgerlichen und (Hoch-)Adligen teuer bezahlter und teuer zu bezahlender Prostitution einer am Ende als völlig enthemmt gezeichneten Nymphomanin – »nicht mehr auf den Boulevards […] sehen lassen dürfen«, wenn ihm ein »guter Rock lieb« (zit. n. Conrad 1906: 29 f.) sei. Dass es Zola dabei immer auch um Bürgertumskritik ging, zeigt sein meisterhaftes Porträt der Seitensprünge auch und gerade mit dem Personal im Inneren eines vermeintlich ›feinen Hauses‹ (Pot-Bouille), noch krasser aber wohl La Bête Humaine (1890; dt. Das Tier im Menschen), wo das am Ende in Mord und Totschlag endende Drama um einen durchdrehenden Lokomotivführer letztlich vom zuvor stattgehabten sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen durch einen Gutsherren seinen Ausgang nimmt. Thematisch einschlägig in dieser Hinsicht sind drei weitere, dezidiert anti-klerikal wie anti-bürgerlich ansetzende Meisterwerke aus dieser Familiensaga: La Conquête de Plassans (1874; dt. Die Eroberung von Plassans), wo sich ein Weinhändler und Biedermann gegen seinen ersten, anti-christlich unterlegten Impuls einen Abbé als Mieter ins Haus nimmt, der sich am Ende als eine Art geistiger Brandstifter schlimmsten Ausmaßes erweist und mit dem Verdacht sexuellen Missbrauchs in einer vorherigen kirchlichen Einrichtung in Verbindung gebracht wird. Ähnlich anti-christlich liest sich La Faute de L’Abbé Mouret (1875; dt. Die Sünde des Abbé Mouret), eine Art Skizze in Sachen Rückgewinn des Paradieses mit dem ebenso verlogenen wie verklemmten Abbé Serge Mouret als Handlungs426 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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träger, der den eigenen Sündenfall schließlich bitter bereut und den Tod seiner ›Eva‹ in Kauf nimmt, bei gleichzeitig anhebendem Loblied auf Askese und Entsagung. Erwähnt sei schließlich noch, nicht minder erschütternd zu lesen und grandios erzählt, unter Einbau des Porträts seiner damaligen Geliebten Jeanne Rozerot, Le Rêve (1888; dt. Der Traum), die Geschichte einer Waise, die schließlich ihrer großen Liebe infolge kirchlich abgesegneter Staatsräson entsagen muss und vor unerfüllter Liebessehnsucht stirbt. Dass Zola sich all die Rollen der Bösen in diesen Romanen in voyeuristischer Wollust auf den Leib geschrieben habe und also auch »Laurent [war], dem sich Thérèse Raquin ehebrecherisch hingab«, des Weiteren Claude Lantier, der in L’oeuvre (1886; dt. Das Werk) sich »am Anblick der festen Brüste der schlafenden Christine weidet« (Hemmings 1979: 203), ist oft behauptet worden, zumeist in diskreditierender Absicht, beginnend mit dem ›Manifest der Fünf‹, in dem ihm fünf jüngere, offenbar von Alphonse Daudet (1840–1897) sowie Edmond de Goncourt aufgestachelte Schriftsteller Zola anlasteten, aus selbsttherapeutischen Gründen – denen eines Impotenten – nur noch Pornographie zu produzieren. (vgl. Hemmings 1979: 200 f.; Schober in: Zola 1893: 303 f.) Eher am Ende dieser Fahnenstange residiert, nach dem mysteriösen Tod Zolas (und seiner Frau) an einer Gasvergiftung, der Londoner UnterhausAbgeordnete Samuel Smith mit seinem Fazit: »Nichts Teuflischeres ist jemals von Menschenhand niedergeschrieben worden; es ist nur für Schweine geeignet, und wer es liest, dessen Inneres wird zur Kloake.« (zit. n. Hemmings 1976: 223)
Verständlich wird von hier aus das Zola-Porträt Conrads nach einem Interview: »Und mit plötzlich verdüstertem Gesicht […] schildert [er] die Bitterkeiten, die er täglich auskosten muß, die Kränkungen und Verdächtigungen, die man ihm täglich zufügt, die Acht, die man über seine Bücher verhängt […]. In den Augen des Publikums bleibe ich ein Paria, jawohl, ein Paria.« (zit. n. Conrad 1906: 60 f.)
Damit liegt die wichtige Frage nahe: Woher bei dieser ganzen antichristlichen, seinem Image im Bürgertum abträglichen, ihn mit Nietzsche auch in anderer Hinsicht in manche Übereinstimmung bringenden Wucht des »tout dire« die Bereitschaft zum Takt in Sachen des eigentlichen Abgrunds jenseits der Fassade von Bürger- wie Christentum gleichermaßen? Etwa allein daher, dass er nicht weiter
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seinem europaweiten Image, einer »Schule von Schmutzfinken« (Conrad 1906: 31) vorzustehen, Auftrieb geben wollte? Dafür könnte sprechen, dass Zola speziell das Thema Syphilis auffällig umging, in seinen Werken, aber auch in seinem Leben. Denn immerhin hielt die ›Lustseuche‹ reichlich Ernte in Zolas Freundeskreis, genannt seien nur die Namen Jules de Goncourt, des Weiteren Édouard Manet, Alphonse Daudet sowie Guy de Maupassant. Auffällig dabei ist das fast schon kollektive Ver- und Be-Schweigen. Im Fall Manet wurde taktvoll »zumeist von einem langwierigen ›Rückenmarksleiden‹ gesprochen.« (Bäumler 1976: 306) Dazu passt Zolas Schweigen in seinen Werken. Bände spricht hier Zolas alter ego Doktor Pascal im gleichnamigen, 1893 erschienen Schlussband seiner zwanzigbändigen Familiensaga: Kurz vor seiner letzten Erfüllung in der Liebe mit seiner Cousine Clotilde (gezeichnet nach Zolas Geliebter), kurz auch vor seinem dem bald nachfolgenden Tod infolge einer Herzkrankheit ruft dieser fast gesündeste aus dieser dekadenten Sippe unter Verweis auf die von ihm sorgsam verzeichnete Krankengeschichte derselben verzweifelt aus: »Bei wem findet sich das Gift, an dem ich sterben werde? Welches Gift wird es sein: Hysterie, Trunksucht, Tuberkulose, Skrofulose? Und was wird das Gift aus mir machen: einen Epileptiker, einen Gelähmten oder einen Wahnsinnigen?« (Zola 1893: 114)
Nicht schlecht: Fast alle Erkrankungen werden hier genannt – nur die eine nicht, die mit den Vokabeln ›Gift‹ und ›Wahnsinn‹ doch im Übrigen sehr viel enger im Zusammenhang steht als die genannten: Syphilis. Derlei Verschwiegenheit korrespondiert der diesem Band beigegebene Stammbaum der Rougon-Macquard mit den dazugehörigen Todesursachen der Romanhelden: Genannt werden, jeweils mit dem Vorbehalt ›vererbte Anlage‹, Alkoholismus (im Fall von Gervaise, der Mutter von Nana), Alkoholismus mit der Folge der psychischen und physischen Perversion (im Fall von Nana), Alkoholismus mit der Folge der Mordsucht (im Fall von Jacques Lantier), Nervenkrankeit, die sich als Genialität äußert (im Fall von Claude Lantier), Nervenkrankeit, die sich als Schwachsinn äußert (im Fall von Désirée Mouret), Nervenkrankeit, die sich als Hang zum Mystifizismus äußert (im Fall von Serge Mouret) sowie überspringende Vererbung mit psychischer und physischer Dominanz ihres Großvaters mütterlicherseits (im Fall von Clotilde und Marthe Rougon) sowie ein Fall (Charles Rougon) von drei Generationen überspringen428 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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der Vererbung. Kaum minder auffällig: Nana (1852–1870) und ihren Sohn Louis (1867–1870) lässt Zola an den Blattern sterben – eine Ursachenerklärung, die der Zola-Biograph Marc Bernard (1959: 68) nicht hinterfragt, damit das An-der-Sache-Vorbeireden Zolas kopierend, das auch in Sachen Maxime Rougon (1840–1873) aus La Curée (1871), also den betörend schönen blutjungen Liebhaber seiner Stiefmutter Renée, zu notieren ist: Zola lässt ihn an Ataxie, also einer fortschreitenden Lähmung, zu Grund gehen – obgleich dieses Krankheitsbild so gar nicht passen will zum wüsten Treiben in diesem Roman, das in Le Docteur Pascal (1893) gespiegelt wird mittels der Beobachtung, »er [Maxime] fürchtete alle Frauen, seit er sie zu jung genossen hatte« sowie: sein Vater schicke ihm Dirnen »seiner Vermutung nach […], um ihn zugrunde zu richten und jetzt schon in den Besitz seines Geldes zu gelangen.« (Zola 1893: 63) Damit nicht genug: Auch andere Romane aus dieser Reihe strotzen nur so vor einschlägigen Andeutungen, etwas das durch Gerard Depardieu unvergessliche Bergarbeiterdrama Germinal (1885): »In Joiselle gäbe es eine, die die ganze Grube verseucht habe« (Zola 1885: 119), lesen wir da beispielsweise, oder aber auch: Dass sie »sich untereinander angesteckt hätten, selbst die kleinen Kinder, mit einer Krankheit, die Etienne sich im ›Vulkan‹ [einem Bordell; d. Verf.] geholt hätte.« (ebd.: 448) Kurz: Man muss schon ziemlich naiv sein, um die Anspielung auf die Modekrankheit Syphilis zu überhören. Damit rückt das Eingangsrätsel näher, zunächst nur Nietzsches auf Zolas Nana zielenden Brief vom 22. November 1888 betreffend: Warum, um alles in der Welt kommt Nietzsche bloß auf die Idee, er werde mit Ecce homo in Frankreich »an Zahl der Auflagen selbst Zola’s Nana überwinden« (8: 548)? Einfacher Größenwahn – eine bei Textsorten dieser Art in der Nietzscheforschung gängige Diagnose – reicht nicht, um angesichts des überragenden Erfolgs gerade dieses Romans des seit L’Assomoir (1877) in der Arbeiterklasse sowie seit Pot-Bouille (1882) auch im Bürgertum Verfemten erklären zu können, warum sich der bis dato komplett erfolglose Nietzsche an dieser Benchmark maß, gleichsam als eigentherapeutisch hilfreiche Vision eines gleichfalls sich als verfemt Erlebenden. Wenngleich: Dieses ›gleichfalls‹ hätte den Schriftsteller Michael Georg Conrad, mit Nietzsche wie Zola bekannt und mit Zola zwischen 1878 und 1880 (Conrad 1906: 14) ohne Resonanz (ebd.: 24) über Nietzsche parlierend, nicht überrascht: Vom »Oberteufel« Nietzsche ausgehend, war es für Conrad selbstverständlich, sich für Zola, »Frankreichs wildes429 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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ten Ketzerteufel« (ebd.: 33), zu begeistern – mit der Pointe, dass ihm Nietzsches offiziöse Distanz gegenüber Zola Zeugnis gab für eine Art »paradoxen Eifer«, insofern sich Nietzsche und Zola »in ihrem brutal-genialen Eintreten für den natürlichen Machtwillen und dessen Hochziele unverkennbar berühren wie mit Adlersfittichen.« (ebd.: 68) Dieser Gemeinsamkeit mag denn auch geschuldet sein, dass Nietzsche in jenem Brief vom 22. November 1888 die doch erhebliche Sujetdifferenz zwischen romanhafter Thematisierung der sexuellen Frage (Nana) und philosophisch ambitionierter Autobiographie (Ecce homo) nicht interessierte – gesetzt natürlich, dass diese Differenz tatsächlich besteht, worüber man durchaus streiten könnte, womit wir der Lösung dieses Rätsels nahe sind. So scheint es mir in der Tat nicht ganz unerlaubt, auch Ecce homo als eine Art Kokottenroman zu lesen, mit Nietzsche nicht als Wander-, sondern als Wagnerhure (ein kleiner Nebenscherz, mit Verlaub). Vor allem aber – und dies ist weit weniger lustig – könnte man angesichts von Nietzsches Vaterbild in Ecce homo auf die Idee kommen, Nietzsche als männliche Nana zu fingieren, gleichfalls, wie Nanas gleichnamige Heldin und der für sie verantwortlich zeichnende Autor (Zola), schweigend über das Erbübel, das sie in sich trägt und nur hier und da ganz verschämt Rauchzeichen in diese Richtung setzend, etwa wenn wir über Nanas kleinen Sohn Louis lesen: »[E]r kränkelte ununterbrochen, und das verseuchte Blut, das ihm sein unbekannter Vater als einziges Erbteil hinterlassen hatte, fraß an seiner Lebenskraft.« (Zola 1880: 511)
Beinahe ist man hier versucht zu ergänzen: wie Nietzsche in Sachen seines ihm allerdings durchaus bekannten Vaters, so dass der Subtext (wohlgemerkt: in Nietzsches Perspektive) naheliegt: »Nietzsche kränkelte ununterbrochen, und das verseuchte Blut, das ihm sein als engelsgleich überlieferter Vater, eine Pastors, als einziges Erbteil hinterlassen hatte, fraß an seiner Lebenskraft.«
Damit nun wird es spannend. Denn, so betrachtet, wäre auch Nietzsches Ecce homo und mit diesem Werk auch dessen Autor (Nietzsche) einfügbar in den Kosmos, den Zola mit jener Romanreihe aufspannte, der Nana zugehört. Zolas zwanzigbändige Familiensaga kann, im Rückblick betrachtet, begriffen werden als Versuch der literarischen Gestaltung der um 1900 vom Psychiater Auguste Forel aus eugenischer und zu eben jener Zeit vom Arzt Sigmund Freud aus psycho430 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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analytischer Perspektive auf den Punkt gebrachten ›sexuellen Frage‹ als der zweitwichtigsten am fin de siècle neben der ›sozialen Frage‹ mit Paul Natorp als sozialpädagogischem Antwortgeber. (vgl. Niemeyer 2019a: 186 ff.) Spannend an Zolas Thematisierungsvariante ist dasjenige, worauf der dänische Nietzscheentdecker Georg Brandes im Jahr von Nietzsches geistigem Zusammenbruch (1889), ausdrücklich unter Erwähnung der Vorläuferschaft Hippolyte Taines (1828– 1893), hinwies: Dass Zola mittels dieser Familiensage die »Gesetze der Schwere« (wie Brandes selbstredend wusste: ein Ausdruck Zarathustras) als »Gesetze der Erblichkeit« (Brandes 1889: 6) ausweisen wollte. Dies, so will mir scheinen, ist der eigentliche Grund dafür, warum er in seinem autobiographisch gehaltenen Roman L’Oeuvre (1886) dessen Helden, den Maler Claude Lantier – deutlich gezeichnet nach dem Beispiel seines (Schul-)Freundes Paul Cézanne (1839– 1900), aber auch Züge Édouard Manets tragend 154 – nicht, wie Letzteren, an Syphilis sterben lässt, sondern infolge einer Erbkrankheit, die ihn als Sohn aus der Verbindung seines Vaters und der Wäscherin Gervaise aus L’Assomoir ebenso heimsucht wie seine Schwester Nana (aus Nana [1879/80]), für die ein Tod infolge von Syphilis, wie bereits dargestellt, durchaus glaubwürdiger gewesen wäre (und in Kommentaren zu Verfilmungen, etwa dem Stummfilmdrama Jean Renoirs [1926], ja auch als selbstverständlich angenommen wird). Zolas Fokus ist indes ein etwas anderer, eher genetischer, mit der Folge, dass ihm zumal als selbsternanntem Vererbungstheoretiker der Faktor ›Anlage‹ (statt ›Umwelt‹) ein tendenziell höheres Gewicht genoss – was Zolas Gesellschaftskritik hier und da, etwa im Fall Syphilis, letztlich um ihren eigentlichen Stachel bringt. Dies wiederum könnte Grund genug gewesen sein, dass sich Nietzsche am Ende, eben in jenem Brief vom November 1888, so sehr mit Zola in Konkurrenz setzte, anerkennd, was auch Michael Georg Conrad in seinem Fazit von 1906 herausstellte: nämlich dass dank Zola (und Nietzsche hätte hier am liebsten angefügt: »und dank Nietzsche«) »überall in Europa den Gesellschaftskritikern der Mut gewachsen [ist], und der Kampf gegen den Alkoholismus, gegen die Prostitution, gegen die Geschlechtskrankheiten, gegen die Rassenverderbnis durch die Großstadtmoral […] heute mit einer Offenheit und Schneid geführt [wird], die in der Zeit der feigen Prüderie vor Zola 154 Literarisch wird der Skandal um Manets frivoles Gemälde Das Frühstück im Grünen (1863) aufgearbeitet.
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einfach undenkbar gewesen [ist].« (Conrad 1906: 82) Der Verdacht ist aber gleichwohl – und es war womöglich der Verdacht Nietzsches, der ihn noch im Februar 1891 Zola zu einer erinnerungsfähigen Person werden ließ –, dass Zola durch Nichtthematisierung der durch christliche Sexualfeindlichkeit überhaupt erst zu einem Massenphänonem gewordenen Syphilis Teil jener ›feigen Prüderie‹ war und im Ergebnis die zeitgleich entstehende eugenische und letztlich rassenhygienische Option, insofern sie nur auf Vererbbares fokussierte, nicht auf Umweltbedingtes, begünstigte. Dass diese Option am Ende siegreich wurde, zu Preisen, die dann insbesondere in Nazideutschland eingetrieben wurden, unter Nutzung von Vorstellungen Nietzsches in der Bearbeitung seiner Schwester, steht in einem besonderen Kapitel. Es ist reine Spekulation, gleichwohl sei es gesagt: Nietzsche hätte an diesem Kapitel allzu gerne mitgeschrieben und litt ab Januar 1889 erklecklich unter der ihn hin und wieder anfallenden Einsicht, dass ihm dies nicht mehr möglich sei. Als allerletztes Zeichen dieser Einsicht kommt seine von der Mutter protokollierte Notiz zu Zola vom Februar 1891 in Betracht. Insoweit liegt die These nahe, dass Zola literarischer Sozialpädagogik- und Vererbungskonstruktion als Defizit ein auffälliger Umgang mit dem Thema Syphilis als einer offenkundig »verschwiegenen Wahrheit« (Zarathustra) eignet, die man durchaus lehrreich in Parallele setzen kann zum Umgang des zweiten, wohl noch radikaleren Ketzers im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seiner Krankheit: Syphilis.
/12 Guy de Maupassant (1850–1893) oder: Nietzsches masque? Berüchtigt ist Maupassant wegen seiner von vielen Seiten bezeugten Potenz (vgl. Flaubert 2004: 296; 1997: 94; JGG 10: 531) – mit der Kehrseite: dass er nach seinem Tod (infolge von Syphilis) rasch bespöttelt wurde nach dem Muster: »Der Erfolg von Maupassant bei den Hurenweibern der Gesellschaft bestätigt deren Vorliebe für die Canaille.« (JGG 10: 195) Berühmt wurde Maupassant durch seinen mehrfach verfilmten Roman Bel Ami (1885), gleichsam – etwas böse geredet – die Mutter aller soap operas vom Dallas-Zuschnitt mit geradezu klassischem Skript: Georges Duroy, das alter ego des Verfassers, entdeckt, mit scheelem Seitenblick auf das zu erwartende Erbe seiner Frau, deren Verhältnis mit dem Grafen de Vaudrec und nötigt 432 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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sie zur Teilung des Erbes wegen des ansonsten unvermeidbaren Aufhebens. Das Dirnenhafte seiner Frau nutzt er dann, nach einer von ihm inszenierten In-flagranti-Konstellation, zur Scheidung, womit er frei wird zur Werbung um die Millionenerbin Suzanne, die er allerdings wegen Standesunterschied, nach weitergedachtem RousseauSkript (La Nouvelle Héloïse), entführen muss. Auffällig an diesem Roman und ein Hinweis, dass dem Autor da eine ganz dunkle Sache, nämlich die Symptome einer zwanzig Jahre später zum Tode führenen Syphilisinfektion (vgl. Goens 1995: 110 ff.; Fröschen 1999: 48 f.), die Feder führte: Die Klage des alten Dichters Nobert de Varenne über Krankheit und Tod, die wie abgeschrieben wirkt aus Maupassants Klage: »Seit fünfzehn Jahren fühle ich ihn [den Tod; d. Verf.] in mir, wie ein Tier ist er, das mich langsam zernagt. Von Monat zu Monat, von Stunde zu Stunde unterwühlt er mich wie ein Haus, das schließlich zusammenenbricht. Er hat mich so entstellt, daß ich mich selbst nicht mehr kenne. Ich habe nichts mehr von dem strahlenden, frischen und starken Menschen, der ich mit dreißig Jahren war.« (GA 9: 130 f.)
Nun wird, wie wir aus Entwicklungspsychologie wie Genderforschung wissen, niemand als skrupelloser ›Bel Ami‹ geboren – was also hat in diesem Fall den Playboy ›gemacht‹ ? Eine passable Antwort auf diese Frage offeriert Maupassants Roman Pierre et Jean (1888). Das Skript: Maupassants alter ego Jean wird Alleinerbe des (wie die Mutter schließlich diesem gegenüber bekennt) Liebhabers der Mutter. Unter diesem ihm von einer Dirne gesteckten und ihn lange umtreibenden Verdacht 155 leidet nicht zuletzt auch Jeans sich als benachteiligt empfindender Bruder Pierre, gezeichnet nach Maupassants – (gleichfalls) einer Paralyse erlegener, in einer Irrenanstalt verstorbener – Bruder Hervé. Apropos: Die Mutter in Pierre et Jean ist gezeichnet nach Maupassants Mutter Laura (eine Jugendfreundin Flauberts). Und deren Gatte lässt Züge von Maupassants Vater erkennen. Könnte bedeuten, mit Seitenblick nun auf den Fall Nietzsche gesprochen: In Pierre et Jean artikuliert Maupassant mit den Mitteln des Literaten einen Verdacht gegen seine Mutter ähnlich dem Nietzsches seinem – von ihm als Syphilitiker verdächtigten – Vater gegenüber. Ergo, was Maupassant angeht: Als Strafe für den Fehltritt von Jeans (= Maupassants) Mutter mutiert Ein Szenario übrigens, das einem auch in John Steinbecks Jenseits von Eden (1952) begegnet, verfilmt mit James Dean.
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Maupassant im wirklichen Leben zum Playboy mit Tendenzen zum Sex mit allen Möglichen und Unmöglichen, als könne er so sein wildes Lieben mit der Folge der Syphilis der untreuen Mutter anlasten. Spannend in diesem Zusammenhang, dass in Pierre et Jean ein Bild besichtigt werden kann, welches der Meer-Metaphorik des Zarathustra entnommen scheint. Inhaltlich darf es wohl gelesen werden als Hinweis auf die Ahnung des um 1884/85 von einem weiteren Krankheitsschub heimgesuchten Novellisten und Romanciers um den wenige Jahre später sich ja auch tatsächlich ereignenden endgültigen geistigen Zusammenbruchbruch. Wir lesen nämlich: »Als er dem Hafen näherkam, hörte er vom offenen Meer her klägliche, düstere Jammerlaute, wie das Gebrüll eines Stiers, nur länger andauernd und mächtiger. Es war das Geheul einer Sirene […]. / Ein Erschauern überrann ihn und krampfte sein Herz zusammen; dieser Notruf war in seiner Seele und seinen Nerven so dröhnend widergehallt, daß er meinte, er selber habe ihn ausgestoßen.« (GA 9: 406)
Der zweite Satz, die Reaktion, passt nicht zum ersten, der Aktion, so dass also »situationsunangemessenes« Verhalten in Rede steht, das einer Erläuterung bedarf – die mittels der Vokabel ›Syphilis‹ beschafft werden könnte. Indes: Deutungsversuche dieser Art, auch der Versuch von Werner Ross, Swinburne als Anreger für Zarathustras halb-pornographisches Lied Unter Töchtern der Wüste in Betracht zu ziehen oder, so Joachim Köhler wenige Jahre später, Maupassant in dieser Frage ins Spiel zu bringen (vgl. Köhler 1989: 587 ff.), trafen weder in der Nietzsche- noch in der Maupassantforschung auf Gegenliebe, wie, was Letzteres angeht, der folgende Satz zeigt: »Sie [die Beschäftigung mit Maupassant; d. Verf.] sollte sich […] von allem freimachen, was die Maupassant-Forschung auf Abwege geraten ließ: die übertriebenen und ausschließlichen Versuche zum Beispiel, den Auswirkungen der selbstverschuldeten, zu einem frühen Tode hinführenden Krankheit auf Maupassants schriftstellerisches Schaffen nachzuspüren.« (Kühn 1980: 185)
Man geht nach dem zu Alfred de Musset (s. III/6) sowie zu Edmond de Goncourts La Faustin (s. III/9) Gesagten wohl nicht fehl in der Annahme, aus Urteilen wie diesen erneut außer Verehrungssucht auch eine gewisse Prüderie à la Victor Klemperer herausklingen zu hören. 434 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Ganz anders verhielt sich da schon der aus Röcken b. Leipzig stammende, geradezu klassische Anti-DDR-Bürger, also Nietzsche, der keine Hemmungen kannte, seinen mutmaßlichen Leidensgenossen Maupassant in Ecce homo als »Einen von der starken Rasse« hervorzuheben, sprich: »einen echten Lateiner.« (VI: 285) Diese Aussage über Maupassant, wohl übernommen vom späteren (1921) Nobelpreisträger Anatole France (1844–1924) (vgl. Campioni 2009: 295), scheint auf Maupassants Vorliebe für die Bordellszene im Quartier Latin als gleichsam unverzichtbare location seiner Bel-Ami-Selbstinszenierung abzustellen. Noch wichtiger vielleicht: Nietzsches (und France’) Kenntnis von Maupassants zwischen dem 29. August und dem 9. September 1884 in Le Figaro erschienener Novelle Yvette (1884). Ihr Hauptthema: Die Unmöglichkeit der romantischen Liebe für einen von (fingiertem!) Adel, dies selbst gegenüber der ebenso unschuldigen wie wunderschönen Tochter einer alleinerziehenden Mutter vom Typ kultivierte Kurtisane, das sich Träumen höherer Abstammung hingibt 156, aber auch Anzeichen des Hangs zum Dirnentum aufweist (was in saftigen Szenen über das ländliche Leben und Lieben proletarischer Ausflügler prächtig ins Bild gesetzt wird) – um am Ende aus Verzweiflung den Tod zu suchen und gerettet zu werden durch ihren Helden, der sich aber nicht sicher ist, recht gehandelt zu wegen seines fortdauernden Aufruhrs zwischen »strahlender Seele« (der Rettungstat wegen) und »Aufruhr im Blut« (GA 5: 114), weil er die ihm eigentlich verbotene Frucht während des Rettens erstmals nackt sah. Eben dieses Vorrechts wegen geriet er zuvor in einen wohl pervers zu nennenden Streit mit seinen Mit-Rettern, wem von ihnen Yvettes wahre Gunst gelte und wer folglich als erster Anrecht erheben dürfe, sie nackt oder leichtbekleidet und vor allem hilflos – also, um Klartext zu sprechen: missbrauchbar – zu sehen. Angenommen nun, Maupassant habe dieses Skript nach seinem Leben entworfen, weiß man indes nicht, ob man ihn deswegen bedauern oder die Chuzpe bewundern soll, mit der hier jemand sich selbst als eine Art Nympho-Mann via zu Tränen gerührter Leserschaft eine Art höhere Tugend zuzuschreiben sucht. Dass es in Yvette um Maupassant geht – und hier nun kommt Nietzsches ›Lateiner‹-Anspielung 156 Man könnte versucht sein, mehr hinter Maupassants Annahmen über Yvettes Träume dieser Art, stimuliert durch Romanlesen, insonderheit Gestalten George Sands betreffend (GA 5: 74), verborgen zu sehen, nämlich einen kaum verhohlenen Spott über Sands adelige Herkunft.
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zum Zuge –, zeigt die gleich zu Beginn dieser Bel-Ami-Generalprobe eingeführte Unterscheidung zwischen einem »echten Pariser« (»leichtlebig, skeptisch, wandelbar, leicht hinzureißen, energisch und unentschlossen, zu allem und zu nichts fähig«) namens Jean de Servigny und seinem Antipoden, Léon Saval geheißen (»Er war viel zu schön, viel zu breit, viel zu groß, viel zu stark, und so sündigte er denn ein wenig aus dem Übermaß von all dem heraus«; GA 5: 32). Denn dieses Doppelporträt kann man problemlos dahingehend auf den Punkt bringen, jener Léon sei eben, als Gegentyp zum ›echten Pariser‹ Jean, ein ›echter Lateiner‹ im 1888 er Sprachgebrauch Nietzsches und eben deswegen sehr viel erfolgreicher bei ›seiner‹ Kurtisane, der Mutter Yvettes (die Jean die vorgenannten Schwierigkeiten macht). Kaum zu übersehen dabei: Maupassant feiert weniger in Jean denn in Léon sich selbst, diesen talk of the town, seiner von vielen Seiten bezeugten Potenz halber (eine fraglos notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung des Playboytums). So erzählte Maupassants Freund (und Berufskollege) Léon Hennique (1850– 1935) im Februar 1893 Edmond de Goncourt, Maupassant habe vor Jahren mit seiner naturgetreu mit einer Syphilisdarstellung bemalten »Rute« eine Mätresse aufgesucht, heftig über seine Syphilis geklagt – und diese dann mit Gewalt genommen, sie »in völligem Entsetzen über die schrecklichen Folgen« (JGG 10: 40) zurücklassend. Diese von Deborah Hayden (2003: 145) ausgegrabene Geschichte, gehört, ihren Wahrheitswert vorausgesetzt, wohl zum Abstoßendsten, was je über einen Mann oder jedenfalls doch einen Mann wie Maupassant kolportiert wurde. 157 Derlei heutzutage wohl nur noch unter dem Ladentresen einzusehende Anekdoten in Rechnung gestellt, will fast verständlich scheinen, dass die Maupassant-Bewertung der Nachgeborenen die nebulöse Geste bevorzugt. Ein Beispiel hierfür gab Friedrich Sieburg, der Maupassants geistigen Zusammenbruch eine »Katastrophe« hieß, »als die gefangene Seele endlich den Körper zerbrach« (Sieburg 1948: 9) – und ansonsten dafürhielt:
157 Darunter auch dasjenige, was Hennique zwei Monate später am nämlichen Ort kolportierte: »Man war in den Folies-Bergère, von denen Maupassant eine Frau mitgebracht hatte, und die ganze Gesellschaft war zu ihr hinaufgegangen. Dort, vor den Augen des Russen, der seinen Augen nicht traute, hatte er sie sechs Mal hintereinander gevögelt, ging dann in ein anderes Zimmer, wo eine Freundin lag, und hatte ihr noch drei Mal das Vergnügen geschafft.« (JGG 10: 531)
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»Ob die fortschreitende Paralyse, die zuerst sein rechtes Auge angriff, eine Erbkrankheit oder die Folge einer syphilitischen Infektion war, diese Frage fügt dem Bild des Künstlers nichts hinzu.« (ebd.: 29)
Einspruch: Sie fügte, als gesicherte, dem Maupassant-Bild des Mainstream zumindest doch die Frage hinzu, ob der Horror in einigen von Maupassants Schauermärchen literarischer Fiktion zugerechnet werden kann – oder für nichts weiter steht als für das subtile Protokoll eines selbsterlebten Alptraums, induziert durch eine Krankengeschichte, die wenig Zweifel erlaubt. Schauen wir deswegen einmal etwas genauer hin: 26-jährig (1876) zeigten sich erste Zeichen der Syphilis, eine Diagnose, die Maupassant in einem Brief vom März 1877 an seinen Freund Robert Pinchon geradezu erleichtert zu registrieren scheint: »Halleluja, ich habe die Syphilis, also kann ich sie nicht mehr bekommen« (zit. n. Fröschen 1999: 47) – also, wie man vielleicht übersetzen darf: Es kann nun, wo ich durch die Erstinfektion immun bin, erst recht losgehen mit dem gänzlich enthemmten Leben und Lieben. Seinen Protegé Gustave Flaubert ließ Maupassant allerdings später, am 21. August 1878, nach altbewährter, von Stendhal her bekannter Manier wissen, dass ihm inzwischen durchaus an dem Strohhalm gelegen sei, den ihm zwischenzeitlich ein offenbar moralisch empörter Arzt hingehalten hatte: »Die Wissenschaft glaubt nun, daß in meinem Fall nichts Syphilitisches vorliegt, sondern daß ich einen konstitutionellen Rheumatismus habe, der zuerst den Magen und das Herz angegriffen hat und schließlich die Haut.« (Flaubert 1997: 105)
Leider falsch, wie die meisten der recht zahlreichen ärztlichen Ratschläge, die der Patient einholte (vgl. Fröschen 1999: 52 f.): Maupassants Zustand kennt zwar auch Phasen der Remission, aber auch Phasen der Verschlechterung, die ihm 1887 Anlass wurden für in La Vie Errante dokumentierte Mittelmeerkreuzfahrten in eigener Jacht, angetrieben von der Maupassant mit Nietzsche verbindenden Suche nach gesundheitsfördernden Bedingungen. Wichtigster Ertrag einer dieser Reisen, dargeboten unter dem Titel La Nuit (dt. Die Nacht): Des Nachts, auf der Höhe von San Remo, überkommt Maupassant der Glaube, »in der Luft ein Orchester zu hören, das im Äther umherirrend ein Konzert für mich gab.« Dabei sorgte die Versicherung des Matrosen, es sei nichts weiter als »die Musik aus dem Park von San Remo«, nur kurzfristig für Beruhigung, denn: 437 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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»Aber da, mitten in einem Stück, schwoll er [der nächtliche Gesang; d. Verf.] an, wurde immer lauter und schien zu uns herzueilen […]. Es kam auf mich zu, aber wie das? Auf welchem Geisterfloß würde es sichtbar werden? Es kam so schnell, daß ich unwillkürlich gebannt in das Dunkle blickte, und auf einmal ertrank ich schier in einem warmen Hauch, der mich duftend umgab mit einer aromatischen Flut […]« (Maupassant o. J.: 42 f.)
– kurz und schlecht: Was dem folgt, erkennbar in Fortschreibung der von Rüdiger Görner unlängst mit großer Ernsthaftigkeit in Analogie zu Nietzsches »Begründung seines physiologischen Philosophierens« (Görner 2017: 76) diskutierten Maupassant-Novelle Lettre d’un fou (1885; dt. Brief eines Wahnsinigen), ist eine langatmige Erläuterung zum Thema Sinnestäuschung respektive Bewusstseinserweiterung, die am Ende in eine ästhetische Metaphysik der Syphilis ausläuft. Ersatzweise scheint mir auch der Gattungsvermerk ›Ode auf den Märtyrertod von Syphilitikern‹ angebracht, insofern Maupassant nacheinander und in dieser Reihenfolge Heine, Baudelaire, Balzac, Byron, Musset sowie Jules de Goncourt nennt, die letztlich alle »an demselben Unterfangen zerbrochen [sind], das darauf ausging, diese menschlichen Schranken, die den menschlichen Geist gefangenhalten, zu durchbrechen.« (Maupassant o. J.: 48) Kaum weniger aufschlussreich sind die im engeren Sinne erzählerischen Aufarbeitungen des Themas Syphilis durch Maupassant. Auffällig dabei, unter Einbezug der von Stefanie Fröschen (1999: 80 ff.) vorgelegten Deutungen weiterer, hier nicht diskutierter Novellen mit psychotischem Akzent 158: Ganz im Gegensatz zum NichtSyphilitiker Émile Zola spricht Maupassant in seiner Literatur fast von nichts anderem als von seiner Syphilis, klug verfremdet zumeist und das Wissen um die drohende höchst eigene Katastrophe kunstvoll verdeckend. Auf durchaus schockierende Art und Weise zeigt dies die vom Psychoanalytiker Otto Rank als »nichts als eine ergreifende Selbstschilderung« (Rank 1914: 126) eingeordnete, in der nicht-psychoanalytischen Literaturkritik hingegen bewundernd der Horror-Gattung zugerechnete Novelle Le Horla (1886; dt. Der Horla), die man durchaus als auf Verschlimmerung abstellende Fortsetzung der Selbstreflexion des (Kind-)Vergewaltigers und -Mörders aus La Petite Roque (1885; Die kleine Roque) lesbar machen kann.
158 Darunter, in dieser Reihenfolge: La chevelure (1884), Qui sait? (1890), La Peur (1882), La Peur (1884), Lui? (1883).
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Schon der Titel 159 weist hin auf die Thematisierung einer als unheimlich erlebten Selbstentfremdung, die man auch als tagebuchartiges Protokoll des anhebenden Wahnsinns des Verfassers und der Zweifel in Sachen der Zurechenbarkeit auf ein handlungsfähiges Ich im Sinne von Nietzsches »D u w i r s t g e t h a n « (III: 115) lesen könnte – und die auch, in (literatur-) psychoanalytischen Kreisen (vgl. etwa Rank 1914: 126), so gelesen wurde. Dagegen spricht nicht, dass in Le Horla Reminiszenzen an ›gesunde‹ Phasen des Verfassers zu verzeichnen sind, etwa im Blick auf Mont Saint Michel – ein Urlaubserlebnis, dem Maupassant in der nach allen Seiten hin auf Versöhnung abstellenden harmlosen Liebesgeschichte Notre Coeur (1890) ein spätes Denkmal setzen wird. Vergleichbar harmlos scheint auch das Liebesabenteuer in einer der ersten Novellen Maupassants (Une Partie de Campagne, 1881; dt. Die Landpartie), aber man täusche sich nicht: Das zufällige Liebesabenteuer eines Ruderbootfahrers erlaubt den Rückschluss, Maupassant reflektiere hier auf seine (angebliche) Syphilisinfektion vier Jahre zuvor unter vergleichbaren Umständen. Auch Maupassants erste, seinen Ruhm begründende Novelle Boule de Suif (1880; dt. Fettklößchen), erschienen in dem von Zola herausgegebenen auf den deutsch-französischen Krieg reflektierenden anti-militaristischen Sammelband Les soirées de Médan, der zugleich als Kampfschrift der jungen Naturalisten um Zola gilt, handelt von der Syphilis, deutlicher: von jener der Titelheldin, einer etwas beleibten aber lebenslustigen Prostituierten, die schließlich von einer sie und ihr Gewerbe (auch deswegen) an sich verachtenden mehrheitlich adeligen Kutschengesellschaft genötigt wird, im Interesse aller mit einem speziell sie begehrenden preußischen Offizier zu schlafen. Zu diesem Zweck wird ihr zuvor durch jene Gesellschaft geschickt suggeriert, ihr an sich amoralisches Tun werde in diesem Fall gerechtfertigt, wenn und sofern es ihr gelänge, den Preußen bei dieser Gelegenheit syphilitisch zu infizieren – wie weiland von einer Engländerin gegenüber Napoleon versucht, »der allerdings wie durch ein Wunder davor bewahrt worden sei: – durch eine plötzliche Mannesschwäche, die sich während dieses verhängnisvollen Schäferstündchens eingestellt habe.« (GA 1: 47 f.) Eine durchaus ähnliche Thematik lässt sich in Maupassants Novelle Lit No 29 (1884; dt. Das Bett 24) beobachten, in welcher die Syphilis und ihre furchtbaren Folgen ausführlich dar159
Hor-la meint so etwas wie: das da draußen, das Andere.
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gestellt werden, wenngleich der Krankheitsüberträger, abweichend von der Genre-Regel, nicht eine Prostituierte ist, sondern ein junger, syphilitisch infizierter preußischer Offizier, der eine Französin vergewaltigt, die bis zu ihrem bitteren Ende in einer Sypilitikerinnenabteilung als rächende ›Preußenhure‹ todbringend tätig wird. »Wie viele«, so notierte sich Nietzsche im Frühjahr 1888, ganz im Sinne dieser Novelle, »haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit.« (XIII: 462) Für eine etwas andere als diese bereits anfangs dieses Kapitels diskutierte Bewältigungsstrategie zeugt das lässige Hinwegerklären der Gefahr in der fünf Jahre älteren Maupassant-Novelle Les Soeurs Rondoli (1884; dt. Die Schwestern Rondoli): Die auf Syphilis gerichtete Vorhaltung seines Freundes auf einer gemeinsamen Italienreise in Sachen einer Reisebekanntschaft namens Francesca (»Du redest Dir ein, daß Du heute abend nicht mehr Gefahr läufst, als wenn du die Nacht in dem Bett irgendeiner Dame verbringst, die an Scharlach leidet.« [GA 4: 128]) schlägt unser Held im Sog seiner Begierde in den Wind. Aber dieses Risiko war, so wird suggeriert, in diesem Fall wohl kalkulierbar, ja: es wird am Ende geradezu fürstlich belohnt. Denn Francesca, von unserem Helden sitzen gelassen und sich als verliebter und treuer erweisend als gedacht, ist zwar nach einem Jahr des Wartens nicht mehr verfügbar, hat aber eine kaum weniger attraktive und kaum weniger rasch sich verliebende Schwester. Maupassants Titelheld bei seiner Abreise, mit Seitenblick auf diese in Tränen aufgelöste Schwester namens Carlotta Rondoli: »Ich hoffe, recht bald einmal nach Italien zu kommen, denn mit einer gewissen hoffnungsfreudigen Erregung denke ich immer daran, dass Frau Rondoli noch zwei Töchter hat.« (ebd.: 13) So redet der Wüstling Maupassant, der sich, Syphilis hin, Syphilis her, das Recht auf Fiktion eines unbeschädigten Lebens – nach Maßstäben des Mannes als Chauvi gedacht – nicht nehmen lassen will. Dabei lohnt es durchaus, eine zwei Jahre zuvor vorgelegte Variante zum Thema Zugreisenbekanntschaft in den Blick zu nehmen: Ce Cochon, le Morin (1882; dt. Das Schwein, der Morin). Denn diesmal geht die Absicht des Verfassers deutlich dahin darzutun, dass jener mit dem Titel recht gut bezeichnete Titelheld, der auf der Rückreise von Paris in dadurch sexuell aufgeladener Stimmung sich an einer Mitreisenden namens Henriette zu vergehen sucht, das nämliche Ziel, besseres Aussehen und ein sehr viel längeres Lebensalter vorausgesetzt, auch auf gewaltfreiem Weg hätte erreichen können. 440 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Übrigens ohne langfristigen Schaden an der Seele der Beteiligten, wie sich der Titelheld am Ende am Beispiel der von ihm seinerzeit Verführten, nun aber glücklich Verheirateten versichern lässt (»Sie schien vollkommen auf der Höhe der Situation zu sein; als sie mich musterte, lächelte sie.« GA 2: 281), ebenso wie aus dem Munde des Ehemanns, dem Henriette offenbar nur eine geschönte Version des seinerzeit Geschehenen unterbreitet hat. Der Gang zu einer Prostituierten mit der Gefahr einer Syphilisinfektion ist vermeidbar, wenn die Frau in Sachen Raffinesse ein wenig bei der Dirne in die Schule geht, sollte dies wohl heißen. Gut gesehen – aber leider zu spät. Zu spät auch, leider, Maupassants letzte, am 10. Mai 1889 im L’Écho de Paris veröffentlichten Erzählung mit dem Titel Le Masque (1889: dt. Die Maske). Interessant nämlich hätte für Nietzsche der spezifische Gebrauch dieser von ihm vor allem in Jenseits von Gut und Böse präferierten Vokabel sein können, unter Einschluss der Frage, wer sich hinter der Maske eines sich zuvor bemüht jugendlichen gebenden, aber auf einmal zusammenbrechenden Tänzers verbirgt. Die entschlossene Demaskierung eines herbeigerufenen Arztes gibt einen wichtigen Hinweis: »[D]er Arzt […] gewahrte das ältliche Gesicht eines verbrauchten, blassen, mageren, runzligen Mannes. Diejenigen, die den jugendlich gelockten Maskierten hereingetragen hatten, waren dermaßen erschüttert, daß keiner lachte, daß keiner ein Wort sagte.« (GA 7: 254)
Natürlich: Maupassant redet hier, hellsichtig, vom zukünftigen menschlichen Wrack namens Maupassant. Und er erklärt letztlich mit dieser einen Erzählung sein ganzes Leben zur Makulatur, weil es, wie die des Mannes mit der Maske, von der Abfolge von »Mädchen vom Vaudeville« oder »Mädchen vom Varieté« (ebd.: 259) dominiert war – und dies für den Preis vorzeitigen Alterns und frühem Tod. Indes: Tod welcher Art? Und: Tod wessen? Nun, um die Kurve auf Nietzsche hinzukriegen, muss man wohl nur den eben herausgestellten letzten Halbsatz Maupassants ersetzen durch die Variante: »Diejenigen, die Nietzsche von früher her kannten, waren dermaßen erschüttert, als sie im Januar 1889, also nur vier Monate vor Erscheinen von Le Masque, in Turin um Nietzsche herumstanden und nur noch die Trümmer eines vormals blühenden geistigen Lebens gewahrten, dass keiner lachte, dass keiner ein Wort sagte.«
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Schlimmer eigentlich noch. Denn Nietzsche war zwar kein Wüstling gewesen von Maupassant-Format. Eher schon war er ein Pechvogel aus dem Anti-Maupassant-Lager. Aber er musste gleichwohl – die Vokabel ›Pechvogel‹ deutet es an – den vollen Preis zahlen.
/13 Oscar Wilde (1854–1900): Der schönere Nietzsche, mit einem gleichfalls zum Fin de siècle perfekt passenden (Film-)Ende Oscar Wilde führt das Szenario aus Maupassants Le Masque in seinem (Schauer-) Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890/91) zu neuen Höhen. Der Sache nach huldigt dieser Roman einem auch der sexuellen Devianz gegenüber offenen Credo eines neuen Hedonismus, das dem Fin de siècle – ein 1888 aufgekommener Term – recht eigentlich überhaupt erst auf die Beine half unter Stichworten wie: »Raffinement der Begierden, der Empfindungen, des Geschmacks, des Luxus, des Vergnügens, Neurose, Hysterie, Hypnose, Morphiumsucht, wissenschaftliche Scharlatanerie, überspannte Verehrung der Schopenhauerisch Philosophie sind die Vorboten des sozialen Verfalls.« (zit. n. Pehnt 1966: 217)
Nietzsches Anteil an diesem – in der Summe toxischen – Cocktail bleibt hier, in diesen dem anti-nietzscheanischen Zeitgeist der PostWar-Mentalität atmenden Kompendium Wolfgang Pehnts, noch unbestimmt, was gut dreißig Jahre später allerdings schon etwas anders aussieht (vgl. Asholt /Fähnders 1993: 423 ff.) und uns Heutigen vollends kein Geheimnis mehr sein kann, zumal nicht unter dem Term der Zeitschrift, aus der Pehnt zitierte (Le Décadent), der gleich neben Nietzsches Imperativ »gefährlich leben!« zum Halten kommt. Entsprechend darf man wohl vermuten, dass Nietzsche auch das Szenario in Wildes Dorian Gray interessiert hätte – wohl weniger des kalkulierten Mordes aus Gründen der nur so zu konservierenden Sinnenlust unseres Helden wegen (vgl. Wolf 2002: 63 ff.), wohl aber des Umstandes halber, dass Wilde seinen Helden sich qua Lektüre an der Dekadenz der Renaissance-Heroen weiden lässt. So heißt es in diesem Roman im Rückblick auf Pietro Riario (1445–1474), der nach dem Stand der einschlägigen Forschung am Vatikan »mit einem Prunk Hof [hielt], der den Römern den Atem verschlug« (Reinhardt 2005: 43; 2011: 31 f.; vgl. auch Bradford 1976: 12 f.) und der angeblich mit Ende Zwanzig an Magenkrebs verstarb, mit etwas entschiedenerer 442 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Wertung, Riario sei der »Lustknabe« Papst Sixtus’ IV. gewesen, und »seine Schönheit [kam] nur seiner Lasterhaftigkeit gleich« – ehe dann folgt: »Ein schrecklicher Zauber wohnte all diesen Menschen inne. Er sah sie des Nachts, und bei Tag erregten sie seine Phantasie. Die Renaissance kannte sonderbare Arten zu vergiften […]. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab Augenblicke, da er im Bösen nur ein Mittel sah, durch das er seinen Begriff vom Schönen verwirklichen konnte.« (SW 1: 162 f.)
Man muss nur wenig von Nietzsche wissen, vermutlich nur das über ihn überall Erzählte, speziell im Blick auf Vokabeln wie »Böse« oder »Renaissance«, um zu ahnen, dass eine Stelle wie diese ihn gefesselt hätte. Eine andere auffällige Parallele: Oscar Wilde, ein über die Maßen witziger Erzähler und (Bühnen-) Autor, verendete tragisch, wurde wenige Jahre später als, so der Richter, »Mittelpunkt eines Kreises junger Männer […], eines Kreises der Sittenverderbnis der abscheulichsten Art« (zit. n. Ellmann 1984: 643), zu zwei Jahren Freiheitsentzug mit Zwangsarbeit verurteilt, an deren Folgen er, im Verein mit jenen einer Syphilis, schließlich verstarb. Alphonse Daudet, frisch aus London zurückgekommen, berichtete Edmond de Goncourt zur Vorgeschichte dieses Urteils, bewirkt durch den Vater seines Geliebten Lord Alfred Douglas drei Tage später, am 28. Mai 1895, Wilde sei auf Druck dieses Vaters aus einem Hotel herausgeflogen, doch: »Er begab sich in eine anderes Hotel, geschminkt und verkleidet; aber es war noch keine Stunde vergangen, da sagte der Hoteldirektor zu ihm: ›Sie sind Oscar Wilde, ich bitte Sie zu gehen!‹ […] Am Ende entschloß er sich, zu seinem Bruder zu gehen, der kein Päderast war, aber ein predigender Alkoholiker, den er um ein Lager auf dem Boden für seinen Körper bat. Dieser war bereit, ihn aufzunehmen, aber er hielt ihm die ganze Nacht Moralpredigten.« (JGG 11: 416)
Brunold Springer urteilte in den 1920 er Jahren noch drastisch in Sachen dieses von Wilde-Biographen und etwa auch in der als »Gänsehaut-Fantasy für Grusel-Gourmets« (Kino & Co) oder »Stilechter Gothic-Grusel« (Hamburger Morgenpost) ergreifend dämlich beworbenen Romanverfilmung Das Bildnis des Dorian Gray (2010) als auch in der verfilmten Biographie Oscar Wilde (1997) auf etwas schamhafte Weise umschifften Punktes: »Der schönste, der geistreichste, der eleganteste Mann seiner Zeit – bis auf den Grund von der Seuche zerfressen. Nachdem er durch allen Schmutz der
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Welt – die Liebe zu einem niedrigen Mann, ein widerliches Strafverfahren, einen dreckigen Kerkerkäfig – gegangen war, ist er in einer kleinen, schlechten Herberge in Paris gestorben. Der Apostel der Schönheit in der Gosse verreckt.« (Springer 1926: 189)
Kaum überraschend vielleicht, dass man dieser Art Nachruf auf den »am 30. November 1900 in der Rue des Beaux-Arts in Paris 6e« (JGG 11: 417) Verstorbenen jenen auf Nietzsche als des zweiten legendären Toten des Jahres 1900 anschließen kann, endend mit dem Befund, dass die Nazis beiden wohl, gesetzt, sie seien gut eine Generation jünger, den Garaus gemacht hätten, ob nach der Methode Röver oder im Zuge gleichsam ›einfacher‹ Euthanasie.
Fazit Das Fazit bezogen auf dieses Kapitel liegt damit nahe: Nietzsche, so will es scheinen, gehört dem durchaus respektablen Tross innovativer, zumeist im frankophilen Raum beheimateter Geister, wenn nicht gar Genies zu, die im 19. Jahrhundert, bevorzugt in dessen zweiter Hälfte, aus der Enge ihres zumeist recht (spieß-) bürgerlichen, christlich dominierten Herkommens in die weite Welt des Eroberns – von Ideen, von Herzen, von Anhängern – aufbrachen, um auf zumeist fürwahr tragische Weise zu scheitern und einem Gegner zu erliegen, dem damals noch kein Kraut gewachsen war: der Syphilis! So einfach also ist die ganze Kiste mit der Kiste – zu einfach indes offenbar für so manchen Wissenschaftler, weswegen er lieber von allem möglichen anderen redet und von im Vorhergehenden Erzählten am liebsten schweigt, dies zumal als Mann und, sekundär, als Nietzscheforscher. Grund genug, davon, wie geschehen, ausführlich zu erzählen.
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Kapitel V Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie – eine Geschichte vom Typ »Gottes Werk und Teufels Beitrag«
Die einen Romantitel 160 zitierende Überschrift dieses insgesamt recht düsteren Kapitels ist vielleicht ein wenig kompliziert, weswegen ich – hoffentlich eine gute Idee! – den Einstieg vom Ende her wähle: 1936 verkündete Bodo Spiethoff (1875–1948), NSDAP-Mitglied seit 1931, »ab 1933 Präsident der ›entjudeten‹ Deutschen Dermatologischen Gesellschaft« (Klee 2003: 592), in einem weitverbreiteten NS-Gesundheitsratgeber: »[E]ine Erkrankung an Geschlechtskrankheiten […] ist nicht mehr Privatangelegenheit des einzelnen, sondern ein Verbrechen an der Volksgesundheit und Volkskraft, an der Zukunft der Nation.« (Spiethoff 1936: 351)
Dass mit der Vokabel »Geschlechtskrankheit« vor allem die Syphilis gemeint war, zeigen die von Spiethoff aufgerufenen Zahlen für 1934. In diesem Jahr wurden im Bereich der Geschlechtskrankheiten 225.000 Neuerkrankungen registriert, davon ›nur‹ 47.000 Fälle von Syphilis, zur Hälfte bei Frauen auftretend – aber diese Fälle hatten es in sich, so Spiethoff, denn: »Bei der Syphilis ist die Übertragung auf Neugeborene unvermeidbar, wenn nicht rechtzeitige Behandlung einsetzt.« (ebd.: 350)
Im nämlichen Jahr warnte ein einschlägiges Lehrbuch vor älteren Junggesellen (»auf 100 über 50 Jahre alte ledige Männer [kommen] 274 Fälle von Geschlechtskrankheiten«) und hob hervor: »Ist ein Elternpaar erkrankt, so endet die erste Schwangerschaft oft durch Fehlgeburt, Frühgeburten, dann Totgeburten schließen sich an, bis endlich ein lebendes, aber syphilitisches Kind geboren wird, das häufig bald zugrunde geht.« (Fetscher 21934: 98 f.)
160 Aus purer Freude am Wohlklang dieser Worte zitiere ich hier den deutschen Titel von John Irvings Roman The Cider House Rules (1985).
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
Neu war diese Erkenntnis seinerzeit nicht, wie wir von Alfred Fournier, dem »Doyen der Syphilisforschung« (Corbin 1981: 136), wissen. (vgl. II.2/4 ) Neu ist allerdings der nun greifende Paradigmenwechsel, der sich im eingangs gegebenen Zitat Spiethoffs ausspricht, in Gestalt der Vokabel »Verbrechen«, die zwangsläufig nach dem Hauptwort »Verbrecher« ruft und mithin nach der Fortführung: »Jeder Syphilitiker ist ein Verbrecher!« Auch Nietzsche? Markiert ist mit dieser Zusatzfrage der NS-bedingte Paradigmenwechsel, dem es nun genauer nachzugehen gilt, am Beispiel Nietzsches (2.), aber auch am Beispiel Hitlers (3.), hier unter der Leitfrage: Wie ist das NS-System eigentlich damit umgegangen, dass eine so zentrale NS-Ikone wie Nietzsche, streng genommen und die Syphilisdiagnose ad Nietzsche als unzweifelhaft gesetzt, in NS-Terminologie als Verbrecher rubrizierbar war? Hilfreich dabei, auch, um von der Anschauung zum Begriff und damit zum Begreifen zu kommen: die Konstellation um 1900 – Nietzsches Sterbejahr (1.).
1. Die Syphilis um 1900 – einige Schlaglichter auf eine sich anbahnende Katastrophe mit einem Intermezzo zu Arthur Schnitzler (1862–1931) Die Ende des 15. Jahrhunderts in Europa heimisch gewordene infektiöse Geschlechtskrankheit Syphilis, auch »Lustseuche« geheißen, wurde schon damals vor allem in Bordellen heimisch. Überraschenderweise aber auch, wie noch zu zeigen sein wird (s. II), im Renaissance-Papsttum. Vierhundert Jahre später, zu Nietzsches Zeiten, hatte die Syphilis keineswegs ihren Schrecken verloren, im Gegenteil und zunächst nur mit einer Zahl geredet: »1877/79 waren von 1000 Neuzugängen in den allgemeinen deutschen Krankenanstalten mehr als 50 Personen Syphilitiker.« (zit. n. Fröschen 1999: 28) Deftiger, und um den kleinen Schritt noch zu tun von der »Lustseuche« zum »Lustmord«, wie ihn Jill Bühler in ihrer Dissertation Vor dem Lustmord (2018) absolviert, leider ohne das A zu diesem B, also die Syphilis, hinreichend zu bedenken, anders als Jean Goens (1995: 131) sowie Anja Schonlau (2005: 274): Womöglich aus Rache für seine Ansteckung bei Dirnen in Whitechapel wurde 1885 ein gewisser Jack the Ripper mehrfach als grausamer »Aufschlitzer« tätig und unter diesem Titel gelistet in Richard Krafft-Ebings (1840–1902) Psychopathia sexualis mittels des Eintrags: 446 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Einige Schlaglichter auf eine sich anbahnende Katastrophe
»Am 1. 12. 87, 7. 8., 8. 9., 30. 9., im Oktober, am 9. 11. 88, am 1. 6., 17. 7. 10. 9. 89 fand man in Quartieren von London Frauenleichen in eigentümlicher Weise getötet und verstümmelt, ohne des Mörders habhaft werden zu können. Es ist wahrscheinlich, dass derselbe seinen Opfern aus viehischer Wollust zuerst den Hals abschnitt, dann ihnen die Bauchhöhle eröffnete, in den Eingeweiden wühlte. In zahlreichen Fällen schnitt er sich äussere und innere Genitalien heraus und nahm sie mit sich, offenbar um noch später an deren Anblick sich zu erregen. Anderemale begnügte er sich, dieselben an Ort und Stelle zu zerfetzen.« (Krafft-Ebing 141912: 77)
»Wollust«? Wohl nicht nur, wenn man das unter »anderemale« Berichtete zur Regel erklärt und zusätzlich bedenkt, dass einer der Hauptverdächtigen, Nathan Kaminsky – Bühler (2018: 55) erwähnte leider nur den anderen, Aaron Kosminski, – offenbar an Syphilis erkrankt war und also als ›Aufschlitzer‹ jenes Organ zerstörte, das er bei einer der Berufskolleginnen der Ermordeten als für ihn todbringend fingierte. Über diesen Fall hinausgedacht, rückte mit dem Fall Jack the Ripper ein Thema ins Zentrum eines neu sich formierenden Genre, das von mutmaßlichen Syphilitikern wie Robert Louis Stevenson (1850–1894) oder Bram Stoker (1847–1912) prominent bedient wurde und sich in der Folge vor allem im Horror-Segment einiger Aufmerksamkeit erfreute. (vgl. Schonlau 2015: 274) Wie leicht erkennbar: Dieser Einstieg war einer vom Typ eyecatcher, denn wer hatte bisher – mich eingeschlossen – schon auf dem Schirm, dass Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) womöglich die Syphiliserkrankung seines Verfassers thematisiert! Damit soll der Normalfall nicht ins Abseits gerückt werden, sprich: Stefan Zweig (1881–1942), der sehr anschaulich in Die Welt von Gestern (1944) seiner Jugendzeit gedachte, etwa wie folgt: »[D]amals [ergab] die Statistik beim Militär und in den Großstädten, daß unter zehn jungen Leuten mindestens einer oder zwei schon Infektionen zum Opfer gefallen waren. Unablässig wurde die Jugend damals an die Gefahr gemahnt; wenn man in Wien durch die Straßen ging, konnte man an jedem sechsten oder siebenten Haus die Tafel ›Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten‹ lesen, und zu der Angst vor der Infektion kam noch das Grauen vor der widrigen und entwürdigen Form der damaligen Kuren […]. Durch Wochen und Wochen wurde der ganze Körper eines mit Syphilis Infizierten mit Quecksilber eingerieben, was wiederum zur Folge hatte, daß die Zähne ausfielen und sonstige Gesundheitsschädigungen eintraten. […] und selbst nach einer solchen grauenhaften Kur konnte der Betroffene lebenslang nicht gewiß sein, ob nicht jeden Augenblick der tückische Virus aus seiner Verkapselung wieder erwachen könnte, vom
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Rückenmark aus die Glieder lähmend, hinter der Stirn das Gehirn erweichend.« (Zweig 1970: 110)
Kurz: Die Syphilis geriet zum Schreckgespenst des fin de siècle. Es beim Namen zu nennen, galt dem Klerus als geistigem Hort des Bürgertums als Tabu. Ebenso verbot es die Konvention, »vor der Eheschließung nach der Gesundheit eines jungen Mannes zu fragen.« (Bäumler 1976: 137) Gut achtzig Jahre zuvor hatte Papst Leo XII. (1760–1829), unter der Setzung, Syphilis sei Gottesstrafe, den Gebrauch des Kondoms verboten, mit dem Argument, es verhindere »die Bestrafung der Sünder an dem Körperteil, mit dem sie gesündigt hatten.« (ebd.: 137; vgl. Corbin 1986: 112) Analoge Ansichten griffen, wie noch zu zeigen sein wird (s. II.3), im Luthertum Raum und fanden schließlich Ausdruck in der Lex Heintze vom 25. Juni 1900, ein auf den Namen eines Zuhälters getauften Gesetzes zur Bekämpfung von Zuhälterei und Kuppelei. (vgl. Schonlau 2005: 102) Von da ab (bis 1927) stand Reklame für Verhütungsmittel unter Strafe, als »Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauch bestimmt sind.« (zit. n. Hartmann et al. 2016: 1028) Der Justiz oblag auch die Letztkontrolle in puncto der im Kaiserreich jederzeit zu fürchtenden (Theater-) Zensur wegen Majestätsbeleidigung, Gotteslästerung oder des ›Schmutzund Schund‹-Vorwurfs. (vgl. Schonlau 2005: 101) Ein Beispiel für die dadurch bewirkte vorauseilende Eigenzensur ist die Uraufführung (1886) von Henrik Ibsens (1828–1906) für unser Thema wichtigem (s. V.1/3) Drama Gespenster (1881): aus Sorge vor der Vorzensur wurde sie als Generalprobe getarnt. Ein weiteres, gleichfalls von Anja Schonlau (2005: 101) herausgestelltes Beispiel betrifft das offenbar (eigen-) zensurbedingte Fehlen der Syphilis in Arthur Schnitzlers Komödie Reigen (1900) – ein Fehlen übrigens, für das man einen Blick haben muss, wie im folgenden Intermezzo erläutert sei. 1.1
Der Fall Arthur Schnitzler oder: Über das mühsame Reden in puncto Syphilis unter den Bedingungen einer autoritären Gesellschaft
Arthur Schnitzler (1862–1931) hat wie wohl kein zweiter Literat seiner Epoche das Thema Syphilis in fast allen seiner Dramen, Novellen und Romanen erörtert, gleichsam als »Anatom des Fin de Siècle« (Haberich 2017: Untertitel) und in seiner Eigenschaft als Arzt. Als solcher von seinem Vater Johann Schnitzler (1835–1893), einem re448 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Einige Schlaglichter auf eine sich anbahnende Katastrophe
nommierten Professor für Larynologie (Kehlkopfkunde), dahin orientiert, sein »Hauptaugenmerk auf die luetischen Erkrankungen des Rachens und des Kehlkopfes« (zit. n. Weinzierl 31994: 22) zu lenken, klärte er beispielsweise seinen 1895 einschlägig besorgten Freund (und Schriftstellerkollegen) Richard Beer-Hoffmann (1866–1945) mit den Worten auf: »Die betreffende Dame – nun sind Sie ja aus allen Sorgen – hat natürlich doch Lues gehabt – secundäre; auch im Mund.« (ebd.: 94)
Zu jener Zeit war der Vater seit zwei Jahren tot, und der den Grundkonflikt zwischen Vater und Sohn auf den Punkt bringenden UrStreit zwischen beiden lag gar vier Jahre zurück: derjenige also infolge des Umstandes, dass der berühmte Professor und nicht der damals noch unbekannte Sohn vom Leiter einer Schauspielschule und nachfolgend im Frühjahr 1891 von einem Journalisten, diesmal in ironischer Anmutung, für den Verfasser von Arthur Schnitzlers 1886 verfasstem Einakter Das Abenteuer seines Lebens (1888) gehalten worden war. Prompt bekam der Sohn von dem ob dieser Verwechslung peinlich berührten und den Dichterambitionen des Sohnes mit Skepsis gegenüberstehenden Vater zu hören, »er möge nun endlich für den larynologischen Atlas das ›Cap. über Lues‹ schreiben, was ihm ja leicht fallen dürfte, da sein Stück ein ähnl. Thema habe!!« (ebd.: 23) So weit, so klar, um der Bedeutung der Syphilis für Schnitzlers Schaffen inne zu werden. Die allerdings in der Schnitzler-Forschung, etwa von Hendrik Christian Voß (2004: 121) 161, allenfalls nur für ein Werk als gegeben behauptet wird: für das 1896/97 entstandene, in Österreich bis 1920 mit Aufführungsverbot belegte Theaterstück Reigen (1903). Voß macht für seine Lesart Parallelen in Richtung der Novelle La vengenance d’un femme (1874) von Jules Barbey d’Aurevilly aus, auf die noch zurückzukommen sein wird. (s. III.5) Relevanter scheinen mir allerdings die Parallelen in Richtung auf Voltaires (Candide) 1759er Spottvers auf die Genealogie der Syphilis, dort, wie noch zu zeigen sein wird (s. II.4), ausgehend vom »Reigen«, der mit der hübschen Zofe Paquette beginnt und mit Kolumbus enAnders als Anja Schonlau, die von der Syphilis »als Nebenmotiv erst im Spätwerk« spricht und, ohne weitere Erläuterung, die Traumnovelle (1925/26) sowie den Roman Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928) nennt, Letzteren unter Verweis auf die »interessante Darstellung von Therese Vater als Paralytiker im Irrenhaus.« (Schonlau 2005: 227)
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
det. Noch nichts gesagt ist damit allerdings zu der Ausgangsthese und damit auch zu der Frage, welchen Rang die Syphilis in anderen, in der bisherigen Forschung diesbezüglich nicht hinreichend in Verdacht genommenen Werken Schnitzlers einnimmt. Weiter kommt man in dieser Frage, wie mir scheinen will, mittels der insgesamt 73 Rezensionen, die Schnitzler im Zeitraum 1887 bis 1894 für die von seinem Vater neu herausgegebene Internationalen klinischen Rundschau verfasste. (vgl. Thomé 1988: 15; Le Rider 2014a: 273) Denn von ihnen betreffen immerhin vier Bücher zur Syphilis, die Schnitzler mit hoher Sachkunde bespricht. Inhaltlich aufschlussreich im Blick auf die uns umtreibende Frage nach Schnitzlers Einstellung zur Syphilis sind des Weiteren die in diesem Periodikum als Nr. 23 veröffentlichten, auf einer Englandreise beruhenden Londoner Briefe. Schnitzler votiert hier klar gegen die christliche, gleichwohl zynische, weil Hilfeverweigerung ermöglichende Gleichsetzung des »lueutisch Erkrankten« mit einem »bestraften Sünder« (Schnitzler 1888: 160) – eine Position, die auch Schnitzlers Rezension (Nr. 33) des Anti-Syphilis-Ratgebers Die sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen (1890) aus der Feder des schwedischen Arztes Seved Ribbing (1845–1921) prägt. Ribbings Grundansatz angesichts dieser damals die (studierende) Jugend Europas in der Phase der vermeintlichen Junggesellenglückseligkeit auf eklatante Weise bedrohenden »Lustseuche« geht zumal in der dritten und letzten Vorlesung auf sexualerzieherische Absichten unter Einbezug der Schädlichkeit der Onanie und unter Konzentration auf den Zusammenhang von Syphilis und Prostitution sowie Alkoholabusus. Untermauert wird das Ganze mit fragwürdigen Statistiken 162 sowie derart kulturreaktionär, das Schnitzler, ein ansonsten recht gemütlicher Rezensent, nahezu die Contenance verliert angesichts dieses »kritischen Dilettanten, der von seiner sozialhygienischen Höhe aus sich vermißt, eine ganze Literaturrichtung zu bekämpfen, von deren wahrem Sinne er nur ganz vage Vorstellungen zu besitzen scheint.« (Schnitzler 1890: Etwa darüber, dass im Zeitraum 1883–1887 in sämtliche Hospitäler Schwedens von insgesamt 3.623 Geistesgestörten 136 wegen Onanie aufgenommen wurden. (Ribbing 1890: 128) Oder, kaum weniger skurril, aber vergleichbar sexualerzieherisch ambitioniert: dass unter den (vorherigen) Berufe der gewerbsmäßigen Prostituierten Näherinnen (1559 Fälle) sowie Obst- und Blumenverkäuferinnen (849 Fälle) führten, im Vergleich zu Angestellten (3 Fälle) (ebd.: 187) – was immerhin als Ratschlag gelesen werden konnte dahingehend, wo der junge Mann sein Eheglück wohl am sichersten fände.
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227 f.) Dieses Urteil stellt klar: Schnitzler versteht sich hier als gleichsam vorweggenommener Kollege der von Ribbing Angegriffenen – u. a. Boccaccio, Casanova, Zola, Strindberg, Maupassant sowie, dies vor allem, Ola Hansson –, die er gegen den Vorwurf des schwedischen Medizin-Ordinarius sowie nachmaligen Rektors der Universität Lund 163 verteidigt, kaum mehr als erotisierte »Machwerke« (ebd.: 229) in jugendverführerischer Absicht vorgelegt zu haben. Bücher also, die Ribbing am liebsten, zusammen mit ihren Verfassern, aus dem Verkehr ziehen würde, nach dem Muster seines von Schnitzler mit Sprachlosigkeit zitierten, auf Hansson zielenden Satzes: »Ich stelle es den Eltern und anderen Pflegern der Jugend anheim, ob ein solches Individuum noch das Recht hat, sich unter der anderen Gesellschaft noch frei zu bewegen, oder ob es nicht, sich selbst und der Allgemeinheit zum Frommen, in eine Pflege- und Besserungsanstalt interniert werden sollte.« (Ribbing 1890: 90 f.; Schnitzler 1890: 230)
Schnitzler ist durchaus im Recht mit dieser seiner Sprachlosigkeit ob des Barbarischen in Ribbings Attacke auf einen Dichter wie Ola Hansson, der in seiner den schwedischen Medizinprofessor empörenden Dichtung Sensitiva amorosa (1887) sich angeblich als hemmungs- und gewissenloser jugendlicher Verführer gerierte, dessen Credo auf den Satz hinauslaufe: »Ich habe vielerlei – meist billig zu erkaufenden – Umgange mit dem anderen Geschlechte gehabt, in ein paar Fällen auch aus reiner Neigung; allemal aber waren das Ziel und der Schluss dasselbe: wenn ich erreicht, was ich wollte, war die Geschichte aus – ein Gelüste, ein brutaler Akt, Erschlaffung, gewöhnlich eine Empfindung von Ekel, im besten Fall eine leise schwermütige Erinnerung – voilà tout.« (Ribbing 1890: 90; zit. b. Schnitzler 1890: 230)
Gewiss: Ein Liebhaber der hier beschriebenen Art taugt nicht gerade zum Idol – aber reicht dies als Grund, ihn sich, sollte er mit dem Erzähler identisch sein, als interniert zu wünschen? Zumal – und hier beginnt das Barbarische an Ribbings Einlassung – nur der gänzlich Kulturlose verkennen kann, dass Hansson an der bezeichneten Stelle seinen Helden mit eben diesen Satz eine von ihm inzwischen selbstkritisch gesehene Phase seines Liebeslebens gleichsam zum Abschluss führt und thematisch ganz anderes dominiert, wie in weiteren Kapi-
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Dort, wo auch Hansson 1881/82 studiert hatte (vgl. Gloßmann 1997a: 7).
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teln dieser Sammlung von (Ideen zu) Novellen auch: Liebesleid und Liebessehnsucht, auch – dies zur Darstellung zu bringen, ist anzuerkennen, nicht zu verurteilen – das eigene Geschlecht und den pädophilen Grenzbereich betreffend und immer auch gepaart mit unerklärlicher Liebesflucht, am wunderbarsten wohl in Szene gesetzt in Kap. V in Gestalt einer (namenlosen) Novelle, die des bald 30-jährigen Ich-Erzählers sypholophobes Zurückschrecken vor der endlichen sexuellen Erfüllung auf geradezu meisterhafte Art zur Darstellung bringt und, als Sorge einer ganzen Generation, nämlich jener des Dichters, anprangert: als eigentlich unnötig, weil durch bessere (sexuellen) Aufklärung und Prophylaxe vermeidbar. 164 Insofern: Hanssons in vielen Passagen anrührende, ästhetisch überzeugende Dichtung 165 hätte der Sache nach problemlos als literarisches Seitenstück zu Ribbings sozialhygienischer Aufklärung durchgehen können – wäre es Ribbing mit seinem Ratgeber überhaupt um Aufklärung gegangen, nicht hingegen um deren Gegenteil, wozu dann offenbar auch gehörte, die Opponenten, eben Hansson, ihrer unerwünschten Botschaft halber zu erschlagen bzw. einer allein pornographischen Absicht zu zeihen. So betrachtet war Schnitzler im Recht mit seiner Inschutznahme Hanssons gegen Ribbing 166 – sah sich aber gleichwohl ihretwegen in eine Art Generationenkonflikt gestürzt angesichts der anderen, mehr als sechzig begeisterten Rezensionen, mehrheitlich von Pastoren und Lehrern stammend, darunter, vom Verlag im Zuge einer Neuauflage stolz präsentiert (vgl. Ribbing 1896: I ff.), jene des damaligen Wiener Ähnlich die Botschaft in August Strindbergs sowohl anti-pädagogischer als auch anti-christlicher, Nietzsche-Motive aufgreifender Erzählung Dygdens lön (dt.: Lohn der Tugend) aus der Novellensammlung Giftas (dt.. Heiraten [1884]), auf die sich Ribbing immer mal wieder kritisch bezog, etwa mit dem Vorhalt, Strindberg brandmarke Päderastie nicht als per se pathologische Erscheinung, sondern »als Folge der Verhinderung natürlichen Geschlechtsverkehrs.« (Ribbing 1890: 13) 165 Wie zumal die Neuübersetzung (von 1997) durch Erik Gloßmann offenbart durch Formulierungen wie: »Und sie – sie war wie ein sonnenwarmer Frühlingstag gewesen, an dem das Leben über seine Ufer tritt in der duftenden, prunkenden Fülle der Blumenöle.« (Hansson 1887: 35) 166 Dies gilt ganz unabhängig davon, dass er, nur zwei Jahre jünger als Hansson, ausweislich seines Tagebuchs (Schnitzler 1968) mit jenem von Ribbing unrechtmäßig skandalisierten Liebhaber der eben beschriebenen Art in Vergleich hätte gesetzt werden können und also Ribbings Hansson-Kritik als auch an ihn gerichtet gelesen haben dürfte, zumal ihm Bedenken dieser Art von seinem Vater her nicht unbekannt waren, im Verein mit der sich ihn bekundenden Verständnislosigkeit für die tieferen Hintergründe seiner dichterischen Ambitionen. 164
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Ärzteidols 167 Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) aus dem Jahr 1894. Mit ihr, einer typischen Gefälligkeitsrezension aus Dank dafür, dass der Rezensierte den Rezensierenden diverse Male gelobt hatte, etwa als »kompetenten Richter« (Ribbing 1890: 41) über Nietzsches – seinerseits der Syphilis verdächtiges – frühes Idol, den Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860) 168, war Übereinstimmung der beiden Mediziner auch in der von Schnitzler skandalisierten Frage keine Zauberei 169, deutlicher: war zugleich das rückblickende Urteil über das Unzulängliche an Schnitzlers 1890er Rezension gesprochen. An einem Beispiel: Sollte Schnitzler angenommen haben, KrafftEbing hätte den in Schnitzlers ihm zugedachter Rezension Nr. 35 angebrachten Hinweis, dieser selbst sei es ja gewesen, der »den Namen Masochismus […] nach dem Romanschriftsteller Sacher-Masoch« gewählt habe und der »auch für den weiblichen Sadismus […] interessante Beispiele aus der belletristischen Literatur herbei« ziehe (Schnitzler 1891: 240 f.), müsse also doch wohl einsehen, dass die Psychiater der von Ribbing pathologisierten und kriminalisierten Literaten – und in the long run auch ihn, Schnitzler – bedürften, befand er sich auf dem berühmten Holzweg: Er hatte schlicht übersehen, dass zwischen Krafft-Ebing und Ribbing in der Frage der Bewertung
Krafft-Ebing (vgl. Sigusch 2008: 175 ff.; Ammerer 2011: 104 ff.), berühmt geworden durch seine Psychopathia sexualis (1886), war seit 1889 Professor in Wien, zunächst zu seiner Zufriedenheit und nach dem Tod Theodor Meynerts (1833–1892) – Schnitzler war bei diesem 1886 als Nachfolger von Freud Sekundarzt gewesen (vgl. Le Rider 2014: 35) – auf dem Gipfel seiner Macht angelangt. Er hatte im Jahr des Erscheinens seiner Ribbing- Rezension die für Ribbings Thematik wichtige Studie Progressive allgemeine Paralyse (1894) vorgelegt. 168 Dessen Urteil (aus Die Welt als Wille und Vorstellung II [1859]), fast jedes andere Weib reize den Mann mehr »als das, welches er schon besitzt« (Schopenhauer 1988: 629), versah Ribbing (1890: 41) mit dem Zusatz, schon im Vorwort der Psychopathia sexualis werde zu Schopenhauer richtigerweise festgestellt, dass bei diesem alles »fehlerhaft« sei »und in seinen Konsequenzen so abgeschmackt.« (Krafft-Ebing 141912: III) 169 Entschieden und an prominentem Ort (Zarnckes Literarisches Zentralblatt) stellte sich Kraft-Ebing hier hinter Ribbings Kritik an jenen, die, »allen ethischen Früchten kultureller Entwickelung Hohn sprechend, ihr Evangelium der ›freien Liebe‹ predigen«, und er begrüßt auch Ribbings Opposition gegen »gewisse populäre und wissenschaftliche Schriften, die […] unsere Jugend auf Abwege führen, indem sie angebliche Gefahren für die Gesundheit des Leibes und der Seele auf Nichtbefriedigung des Geschlechtstriebes behaupten.« (zit. n. Ribbing 1896: I f.) Kennern der lokalen (Wiener) Verhältnisse dürfte kaum entgangen seine, dass Sätze wie diese einer Züchtigung von Schnitzler jun. gleichkamen. 167
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von derlei Literatur – als jugenderzieherisch bedenklich – nicht ein Blatt Papier passte. So bleibt nur der Fakt selbst: Schnitzler hatte es 1890, wohl als Zeichen für seinen in jenem Jahr gefallenen Entschluss, die literarische Laufbahn anzustreben (vgl. Scheible 1976: 37), gewagt, seinen Finger in eine Wunde zu legen, die noch sehr lange schwärte. Denn immerhin hatte Ribbing, nicht frei von antisemitischen Anwandlungen, 1890 mit der Erstauflage seines noch ein Vierteljahrhundert später vom Berliner Urologen Carl Posner (1854–1928) gelobten (vgl. Posner 31918: 9) Anti-Syphilis-Ratgebers nazi-affines Denken im Bereich der Kulturpolitik 170, deutlicher: im Vorfeld der Bücherverbrennungen vom Mai 1933, zur Vorführung gebracht. Dies – um darauf noch hinzuweisen, im Vorgriff auf Kommendes (s. IV.2/1) – tat Ribbing ausgerechnet im Gegenzug zu einem Autor wie Hansson, der im nämlichen Jahr, dem Jahr eins nach Nietzsches Turiner Zusammenbruch, in von Legenden umwobener Konkurrenz mit dem später mit Schnitzler befreundeten Dänen Georg Brandes (vgl. Gloßmann 1997; Fambrini 1997/98; 2000) als (schwedischer) Nietzscheentdecker Furore zu machen suchte (vgl. Hansson 1889/90) und der sich von Ribbing vorhalten lassen musste, Hanssons »traurigen Hilfstruppen« (Ribbing 1890: 91) zwecks Verteidigung seines damals in Schweden in den Feuilletons als a-moralisch verrissenen (vgl. Gloßmann 1997a: 7 f.) Erstlings Sensitiva amorosa (1887) zuzugehören. Sowie, so könnte man noch ergänzen, den »traurigen Hilfstruppen« eines Nietzsche, der aus seiner Begeisterung für einige der von Ribbing angeprangerten Autoren keinen Hehl gemacht hatte, wie zumal das Beispiel August Strindberg (1849–1912) lehrt. (vgl. Detering 2000) Der übrigens, aufmerksam gemacht von Brandes und sogleich begeistert, wie seine Romane Tschandala (1889) sowie Am offenen Meer (1890) zeigen, seinerseits Hansson auf Nietzsche aufmerksam gemachte hatte. (vgl. Schimanski 2000: 38 f.) Aber mehr als dies, und damit kommen wir nun endlich zu der wichtigsten Pointe im Blick auf diesen Abschnitt: Es war vermutlich 170 Rassenhygienische Optionen finden sich allenfalls angedeutet, etwa in Gestalt von Sätzen wie: »Die Schwäche und Gebrechlichkeit, welche durch die Syphilis in eine Familie eingeschleppt wird, verschwindet oft nicht vor der dritten oder vierten Generation.« (Ribbing 1890: 150) Derivate dieses Ratgebers (etwa Ribbing 1938; 1939) ließen Ribbing, nach entsprechender NS-Bearbeitung mit Seitenblick etwa »auf die wissenschaftlichen Erfordernisse der Erbgesundheitslehre« (Ribbing 1938: 68), zu einem der erfolgreichsten Sexualaufklärer des Dritten Reichs werden.
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die Ribbing-Rezension (Nr. 33), bei deren Schreiben Schnitzler klar wurde, dass, sollte er in die Fußstapfen jener Zola et al. treten und also selbst als Schriftsteller (und nicht als Arzt) reüssieren wollen, ein harter Kampf mit der älteren Generation unvermeidbar war. 1903 war es so weit: Schnitzler wurde nach der Veröffentlichung seines 1896/97 niedergelegten und zunächst nicht zur Publikation bestimmten Reigen seinerseits, ähnlich wie Hansson 1887, durch »Kampfartikel der völkischen wie der katholisch-klerikalen Presse« beschuldigt, »ein beispielloses pornographisches Machwerk« (Sprengel 2007: 102) vorgelegt zu haben – und dürfte in Reaktion auf diese Erfahrung beschlossen haben, das Thema Syphilis künftig noch dezenter anzugehen, im Wissen um die dunkle Seite des Glückwunsches der Insider, darunter seiner Freunde Richard Beer-Hofmann sowie Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), die ihn zum Reigen mit den Worten gratuliert hatten: »[L]ieber Pornograph […] es ist ja Ihr bestes Buch, Sie Schmutzfink. […] Viele Leute werden es als ihr erectiefstes Buch bezeichnen.« (zit. n. Weinzierl 31994: 163) Das Problem ist nur, und Schnitzlers allerneuester Biograph (Haberich 2017), der jeden nur denkbaren Vergleich zu scheuen hat mit den meisten seiner Vorgänger (etwa Farese 1999; Gay 2002 [2012]; Le Rider 32013; Weinzierl 31994), macht hier keine Ausnahme: Im Verlauf der Rezeptionsgeschichte wurde dieser Aspekt und dessen Bedeutung für Schnitzlers Werk kaum beachtet. Hierfür verantwortlich, wie es scheinen will: Man ließ die im Fall des Syphilitikers Nietzsche besonders intensiv in Anwendung gebrachte Schere im Kopf – neben der realen, vor allem von Nietzsches Schwester benutzten (vgl. Niemeyer 2020: 223 ff.) – außer Acht, der auch Schnitzler zu Zeiten der von einer viktorianischen Sexualmoral geprägten und vom Antisemitismus durchdrungenen autoritären Gesellschaft wie jener der Donaumonarchie insgesamt sich nicht wirklich zu entziehen vermochte und über deren Notwendigkeit ihn die eben beschriebenen Episode mit Seved Ribbing, nachhaltig belehrt hatte. Von dieser Überlegung ausgehend, sollen nun einige ausgewählte Werke Schnitzlers auf (verborgene) Syphilisspuren durchgemustert werden, in aufsteigender Ordnung im Blick auf ihre Einschlägigkeit. Begonnen sei mit der Erzählung Doktor Gräsler, Badearzt (1914). Die Syphilis begegnet einem hier scheinbar nicht. Vielmehr erliegt am Ende die Geliebte des 48-jährigen Helden namens Katharina, eine gut dreißig Jahre jüngere, »hübsche kleine Ladenmamsell« (Schnitzler 1961: 85), einem Scharlachfieber – so, als solle deren Un455 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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schuld und Kindlichkeit durch diese typische Kinderkrankheit (von Zwei- bis Zehnjährigen) demonstrativ bescheinigt werden. Übrigens gegen den Anschein, den Schnitzler zuvor selbst erzeugt hatte, indem er Katharina dirnenhafte Züge verpasste, die einen Tod infolge Syphilis jedenfalls nicht ausschlossen. Dies schon zeigt: Man tut als Leser dieser so harmlos auf Lanzarote beginnenden Mär über einen betulichen Badearzt und Junggesellen gut daran, wie ein HitchcockExperte äußerste Wachsamkeit walten zu lassen. Nur unter dieser Bedingung wird man den anfangs fast beiläufig geschilderten unvermuteten Selbstmord der Schwester (Friederike) des Arztes am Fensterkreuz mit einem tiefen Verdacht zur Kenntnis nehmen und, im besten Fall, als düsteres Menetekel nach Art desjenigen aus Edmond de Goncourts Roman Juliette Faustin (1881/82) (s. III/9) zu deuten wissen und mithin ahnen, dass diese Erzählung für eine bitterböse Entlarvungsgeschichte der Doppelmoral des Bürgertums von Flaubert-Format steht. Hierzu passt, was den zweiten Teil dieser Erzählung angeht, Schnitzlers Zeichnung der schlecht beleumdeten und vermutlich gar nicht von ihrem – zumeist auf Geschäftsreise befindlichen – Gatten geschwängerten Mutter der Scharlachüberträgerin, eine recht flotten Witwe, im gleichen Haus wie Gräsler wohnend, deren 7-jährige Tochter der Badearzt erfolgreich wegen Scharlach behandelt hat, allerdings unachtsam und also den Krankheitskeim auf Katharina übertragend, die zu dieser Zeit, nach kurzer Bekanntschaft, bereits seine Wohnung in Beschlag genommen und in ein Liebesnest verwandelt hatte, zum nicht gelinden Erstaunen Gräslers, der sich die Sache gleichwohl, als nähere er sich dem Himmel ewig währender Wollust, gefallen lässt. Und doch, und sei es als Zeichen der Erschöpfung des in die Jahre gekommenen Liebhabers: Katharinas Tod kommt ihm nicht wirklich ungelegen, wie der Umstand zeigt, dass er ungesäumt die auch vom Alter her sehr viel besser zu ihm passende Nachbarswitwe heiratet, um mit seiner auf diese Weise im Schnellverfahren gebackenen kleinen Patchwork-Familie passgenau zum anhebenden Winter als Badearzt, wie auch in den Jahren zuvor, nach Lanzarote zurückzukehren. Dies klingt nach Happyend, aber eher einem der diabolischen Art. Denn was sich mit dem Vollzug dieser Ehe vollendet, ist des Arztes Rache an der dritten, altersmäßig genau zwischen den beiden vorgenannten Damen platzierten vom Typ Heilige (statt Hure), die, in Gräslers Chauvi-Sicht, nur einen Fehler hat (vgl. auch Becker 456 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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2007: 164): Sie, eine emanzipierte, siebenundzwanzigjährige Frau namens Sabine, hatte in der Zeit nach dem Tod Friederikes zarte Bande zum Badearzt geknüpft und es schließlich gewagt, dem Zögernden ihrerseits in Briefform einen Heiratsantrag zu unterbreiten, weil er ja offenbar zu schüchtern dafür sei, ihm bei dieser Gelegenheit »männliche Eitelkeit und Pedanterie« vorwerfend, des Weiteren, dass er sie in den vergangenen sechs Monaten seines verzagten Werbens kaum »öfter als zehnmal geküßt hat.« (Schnitzler 1961: 46) Als »Bestrafung« (Becker 2007: 163) für diese ihn kränkende Äußerung wandelt sich Gräsler von jetzt auf gleich in jenen von Sabine offenbar vermissten Verführer, deutlicher: legt, etwa nach Art der Konversion des Chemielehrers Julius Kelp in den Womanizer Buddy Luv in Jerry Lewis’ genialer Komödie The Nutty Professor (1963), den ihm in seiner Jugend nicht unvertrauten Wesenszug eines Verführers in einer gleichsam letzten Anstrengung nochmals frei, mit der Folge alles ferneren Unheils, das wir eben in Gestalt von Katharinas Tod vom Ende her kennenlernten und dessen Beginn damit zu setzen ist, dass Gräsler postwendend in seine Heimatstadt fährt und dort binnen vierundzwanzig Stunden die Sache mit Katharina klar macht als auch jene mit seiner späteren Frau einleitet, eben jene im gleichen Haus wohnende Witwe. Kurz: Der auf eine harmlose, jugendfreie Sommererzählung eingestellte Leser sieht sich ab jetzt unversehens versetzt in ein modernes Sodom und Gomorrha, zumal sich der zu Beginn geschilderte Selbstmord der »scheinbar so tugendstill gewesenen Schwester« sich nun, im Lichte der von Gräsler im Nachlass gefundenen Briefe, als folgerichtige Tat einer »vielerfahrenen, liebesdurstigen Frau« erweist, die eingesehen habe, dass ihr das Dasein »die Freuden, die sie wahrlich im Überfluß genossen, nicht länger bieten wollte«. Was hier ›wahrlich im Überfluss‹ meint, ergibt sich aus der Andeutung über den Tod eines von Gräsler behandelten »brustkranken neunzehnjährigen Jünglings«, den er wohl selbst als »ahnungsloser Kuppler« (ebd.: 91 f.) in die Arme seiner liebestollen, etwa drei Jahre älteren Schwester getrieben hatte. Zu diesem Themenkreis gehört schließlich die Nebenstory, Gräslers bestem (und einzigem) Freund Böhlinger betreffend, der, wie der zu jener Zeit als Schiffsarzt in der Ferne weilende Badearzt aus jenem Nachlass erfährt, mit Friederike heimlich verlobt gewesen war, eine Heirat allerdings wegen einer ihm zu Ohren gekommenen älteren Affäre derselben hinauszögernd, um sich schließlich, nachdem sie ihn »mit irgend jemandem aus Ungeduld, Laune oder Rache« (ebd.: 90) betrogen hatte, gänzlich 457 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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und im Zorn zu verzichten und schließlich in Misogynie zu versinken, nachdem sich der Name einer maskenbewehrten Schönen, die ihm im Verlauf eines Maskenballs vom Typ Orgie à la Schnitzlers Traumnovelle ihre Gunst gewährt hatte, zwar in Erfahrung bringen ließ, aber nicht verlautbart werden konnte, wollte Böhlinger seines Rufes »als geschätzter Rechtsanwalt in einer sehr auf Anstand und Sittenreinheit bedachten Mittelstadt« (ebd.: 59) nicht verlustig gehen. Damit rückt der Tod Katharinas in neues Licht. Zur Vorgeschichte ihrer erstmaligen Begegnung gehört Gräslers Spaziergang durch sein Heimatstädtchen und dadurch ausgelöste Reminiszenzen, etwa bezüglich eines »uralten, fast verfallenen Häuschens« und dessen »halbblinden, durch rote Vorhänge deutlich gekennzeichneten Fenstern«, durch die er sich »seines ersten armseligen, von wochenlanger Angst gefolgten Abenteuers« (ebd.: 56) erinnert und, durch diese eindeutig auf die Syphilisgefahr im Prostituiertenmilieu hinweisende Erinnerung stimuliert, sich entschließt, einer vergleichsweise risikofrei zu genießenden, sprich: möglichst jungfräulichen Beute habhaft zu werden, was ihm denn auch im Verlauf der gleich nachfolgenden Straßenbahnfahrt gelingt. Ihren Namen (»Katharina«) wissen wir bereits, auch den Namen des Todes (»Scharlach«) – aber dass und warum dieser an sich auf den Namen »Syphilis« hätte lauten müssen, wissen wir nicht von Schnitzler, sondern mussten wir uns mittels einer Spurensuche erarbeiten, die den Schluss erlaubt, Schnitzler habe ganz im Geist seiner Zeit die Zivilisation als Schutzzaun gegen die Syphilisation zu beschwören versucht, aber ohne zureichenden Mut, den eigentlichen Gegner klar beim Namen zu nennen. Auch in der 1913 entstandenen und erst kurz vor Schnitzlers Tod veröffentlichten ›Wahnsinnsnovelle‹ Flucht in die Finsternis (1931) wird die Vokabel Syphilis nicht mit einer Silbe erwähnt. Als Interpret ist man schon auf das Spurenlesen angewiesen, etwa ausgehend von der beharrlich aufgerufenen linksseitigen Augenlid-Anomalie des Helden (Robert) (vgl. Schnitzler 2006: 13), ein damals häufig der Syphilis in Rechnung gestelltes Symptom, wie der Fall Nietzsche lehrt. (vgl. Volz 1990: 302) Eine weitere Spur offenbart die von Schnitzler nur beiläufig erzählte Geschichte vom »unheilbaren Wahnsinn« (Schnitzler 2006: 14) des Leutnants Höhnburg, ganz zum Ende, in einer an den Syphilitiker Nietzsche erinnernden Wendung, »Hanswurst« (ebd.: 111) geheißen. Mit diesem Leutnant hat der hypochondrische, besser: syphilophobe Held am Ende nicht nur den Wahnsinn gemeinsam, sondern auch die für diesen als kausal 458 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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zu setzende Bordellerfahrung. So wird in einer das Schreckliche von Zarathustras Wiederkunftsgedanken (s. V.2/4) aufrufenden traumartigen Sequenz erzählt, wie beide, Robert und der Leutnant, »vor zwanzig Jahren«, den häufigen Aufstieg über eine damals »wie Purpur« leuchtenden Stiegenteppich hin zu seiner (des Leutnants) »geliebten Schauspielerin« (ebd.: 25) immer wieder aufs Neue antraten. Dem steht, was Robert angeht, noch ein weiteres, traumartiges Geschehen zur Seite: ein Liebesabenteuer »zu Beginn seiner Ehe […] während einer Tristan-Aufführung mit seiner jungen Gattin [Brigitte] in der verdunkelten Loge« als vielversprechender Auftakt ferner Abenteuer dieser Art, »wenn sie nicht so jung hätte sterben müssen.« (ebd.: 23) Woran? Nun nichts an dieser genialen, den Leser gekonnt (und mit Erfolg!) auf die Nebenfährte ›psychotische Schizophrenie‹ lockenden Novelle hindert, eine Antwort zu geben, die auf Syphilis endet. Dieser Antwort ist Roberts als auch Höhnburgs geistiger Zusammenbruch kausal zuzurechnen, mit Höhnburgs Schauspielerin als mutmaßlicher Ansteckungsquelle – und mit einem von der Vision umgetriebenen Robert, der sich selbst als »freigewordener böser Geist« (ebd.: 32) als todbringend für andere Nicht-Infizierte fingiert. Daraus, aus dieser Vision, auf Dauer gestellt durch den immer wieder unvermutet aus dem Gedächtnis aufsteigenden Mit-Syphilitiker (»Was geht mich Höhnburg an?«; ebd.: 50), erklärt sich alles Folgende, angefangen von Roberts Frau Brigitte. Dem behandelnden Arzt zufolge scheint sie einem Herzschlag erlegen. Roberts Fantasie hingegen nennt als Todesursache ein »ihr tückisch eingegebenes Gift« (ebd.: 40), ähnlich wie für ihre Nachfolgerin Alberta, die Robert kampflos und wohl aus Rücksicht auf das in ihm verborgene venerische Gift einem Nebenbuhler aus den USA überließ, dem er nun die Annahme unterlegt, er verfolge ihn aus Rache dafür, er, Robert, habe »der Ungetreuen aus Rache ein schleichendes Gift eingegeben.« (ebd.: 67) Kurz, und um andere, vergleichbare Fantasien unseres Helden unter Einschluss seiner völlig gegenstandslosen Sorge um eine harmlose verwitwete Klavierlehrerin (ebd.: 36) hier außer Betracht zu lassen: Es verwundert durchaus und ist letztlich Effekt der nicht kognizierten Schere im Kopf des nicht unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft arbeitenden Dichters, dass die Figur des Leutnants Höhnburg sowie, allgemein, die Syphilis bei Deutung dieser Novelle (etwa: Neymeyr 2006; Lönker 2007; Wünsch 2014) bisher keine Beachtung fand, ebenso wenig wie Roberts kontinuierlich aufgerufene Augenlid-Anomalie. 459 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Dass der Fall Schnitzler im Kontext dieser Kapitels ein Intermezzo lohnt, zeigt auch Karin Tebbens (2014) Überblick zum Themenkomplex Sexualität und Tod (bei Schnitzler): Vergebens sucht man auch hier nach der Vokabel Syphilis, ganz im Kontrast zum im Vorhergehenden exemplarisch dokumentierten einschlägigen Wissen und Interesse Schnitzlers, des Arztsohnes und studierten Mediziners. Aufschlussreich in dieser Frage ist neben Flucht in die Finsternis auch Schnitzlers – in Österreich bis 1918 mit Aufführungsverbot belegte – Komödie (?) Professor Bernhardi (1912), in Teilen ein Porträt des Vaters Johann Schnitzler. Im Zentrum dieses Fünfakters steht dessen arg verfremdeter 171 und auf die Zeit um 1900 Jahre datierter Konflikt mit seinem inzwischen als Unterrichtsminister reüssierenden ehemaligen Mit-Assistenten (Professor Flint), insbesondere die thematisch hier allein interessierende Vorgeschichte dieses Konflikts betreffend: Fünfzehn Jahre zuvor soll beider damaliger Chef (Professor Rappenweiler), sei es aus Prüderie, sei es aus Glaubensfragen, die Syphilis eines Patienten, der durch eine »antiluetische« (Schnitzler 2018: 300) Behandlung hätte gerettet werden können, nicht erkannt haben, im Gegensatz zu seinem Assistenten Flint, der damals allerdings schwieg, wohl aus Karrieregründen. Ein Stoff also, aus dem man etwas für unser Thema Wichtiges hätte machen können – wenn der jüdische, vom damals in Österreich um sich greifenden Antisemitismus arg betroffene Autor nicht eine andere, im Stück selbst unter dem auf Émile Zola zurückweisenden, auf Bernhardi bezogenen Stichwort »medizinischer Dreyfus« (ebd.: 377) 172 auf den Punkt gebrachte anti-antisemitischen Botschaft bevorzugt hätte 173, die sich dann auch in der Rezeptionsgeschichte als dominierend heraus-
171 Max Haberich (2017: 171 ff.) rekonstruierte anhand der Akten den Urkonflikt, einen sich 1893 ereignenden antisemitischen Vorfall in der damals von Johann Schnitzler geleiteten Allgemeinen Wiener Poliklinik sowie weitere, nach dessen Tod sich ereignende Vorfälle dieser Art, die sich in einzelnen Dialogen niederschlugen und die auf die Figurenzeichnung des Helden (Professor Bernardi) Einfluss nahmen. 172 Zur Dreyfus-Affäre und Schnitzlers Rezeption derselben findet sich Wichtiges bei Max Haberich (2017: 21 ff.) 173 Dass es für diese dramaturgische Entscheidung auch andere Gründe gab, zeigen weitere mögliche Lesarten dieses Stückes, darunter auf den tragische Tod einer weiblichen Patientin bezügliche, die hierdrin Andeutungen auf einen Kunstfehler erkennen wollen, den sich Arthur Schnitzler als Verfasser dieses Sückes im Verein mit seinem Bruder im Zusammenhang des Schwangerschaftsabbruchs seiner (daran verstorbenen) Freundin Maria Reinhard vorzuwerfen habe. (vgl. Lacher 2014: 151 ff.)
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gestellt hat, inklusive der ihr innewohnenden und bisher noch gar nicht erwähnten anti-katholischen. 174 Wichtig schließlich für unsere Thematik: Schnitzlers Traumnovelle (1925/26), in neuerer Zeit prominent geworden durch Stanley Kubricks (1928–1999) Verfilmung als Eyes Wide Shut (1999). In der Vorlage zu diesem Film, seinem letzten, von Freud als, so Schnitzlers mit Stolz in Umlauf gebrachtes Attribut (vgl. Le Rider 2014: 35), Werk eines »Doppelgängers« geschätztem Meisterwerk, versetzte sich der Autor, unter dem frischen Eindruck seiner Scheidung stehend, zurück in die Rolle eines glücklich verheirateten jungen Arztes und Familienvaters (Fridolin, im Film Tom Cruise). Als solcher wird er, unter dem Einfluss offen zugestandener, auf andere Partner gerichteter erotischer Fantasien seiner betörenden Frau (Albertine, im Film Nicole Kidman) stehend, heimgesucht von der Sehnsucht nach der Wiederkehr seiner Junggesellenherrlichkeit. Einem sich ungesucht darbietenden diesbezüglichen Abenteuer mit der siebzehnjährigen Mizzi (»Seit seiner Gymnasiastenzeit hatte er mit einem Frauenzimmer dieser Art nichts zu tun gehabt«) vermag er zwar zu entsagen, infolge seines ihn als Experten erweisenden Gespürs für den instinktiven Warnruf: »Könnte gleichfalls mit Tod enden« (Schnitzler 2018: 603) – ein Warnruf, der sich bei einem Besuch bei Mizzi einen Tag später zwecks Übergabe von Süßigkeiten als nur allzu berechtigt erweist: »Sie ist im Spital nicht wahr?« fragt Fridolin und mit ihm Schnitzler in Anknüpfung an jenen Warnruf als ein über die Syphilis (bei Kubrick: Aids) wohlinformierter Arzt und bekommt eine milieu-typische Antwort von Mizzis sich als Ersatz anbietende Berufskollegin: »›Na, wenn’s der Herr eh weiß. Aber mir sein g’sund, Gott sei Dank‹, rief sie fröhlich aus und trat ganz nahe an Fridolin heran.« (ebd.: 656)
174 Festgemacht an dem Umstand, dass der jüdische Professor (Bernhardi) dem katholischen Priester den Zutritt ins Zimmer einer – infolge eines Kunstfehlers – Sterbenden verwehrt, weil er der Euphorisierten, sich als genesen Halluzinierenden nicht die Sterbestunde verdüstern möchte. Dahinter steht die im Stück über das Motiv »Gotteshäuser oder Krankenhäuser« (vgl. Schnitzler 2018: 68) auf den Punkt gebrachte kritische Anfrage nach dem Recht und dem Sinn konfessioneller Wohlfahrtspflege im öffentlichen Gesundheitssystem, dies zumal im Blick auf die glaubensgebundene Tabuisierung der Syphilis, wenn nicht gar: der Hilfeverweigerung für eine so sehr als Gottesstrafe gelesenen Krankheit wie Syphilis.
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Ein Angebot, auf das Fridolin selbstredend nicht eingeht, zumal er ohnehin mit höherwertigen erotischen Fantasien schwanger geht, die sich indes gleichfalls nicht als ungefährlich erweisen. Dies erfährt der Leser auf drastische Art mittels eines Ganges (mit Fridolin) in die Pathologie am nämlichen Tag, wo die Leiche einer Selbstmörderin aufgebahrt ist, die sich aus Verzweiflung über ihre Rolle im Verlauf einer Orgie am Abend zuvor das Leben nahm, auch wohl, weil sie Fridolin, der zu Unrecht als nicht-autorisierter Gast bei diesem privaten Spektakel verdächtigt wurde, in Schutz nahm, zur Empörung der Veranstalter. Heißt, als Minimaldeutung und unter Absehung vom Rest der Novelle und deren Vorgeschichte 175: Die Alternative zu unbeschwerten Liebesfreuden für die Oberen Zehntausend jenseits des von der Syphilisgefahr durchdrungenen Dirnenmilieus bedarf noch ein wenig der Optimierung. Lesarten wie diese erfordern allerdings, gegen den Trend der dominierenden Deutungen (etwa Scheffel 2014), eine gewisse Aufmerksamkeit für das Thema Syphilis. Dies gilt auch für Schnitzlers gleich darauf erstellte Erzählung Spiel im Morgengrauen (1926/27), insofern dieses (Karten-) Spiel selbst und die um es gruppierte Spielschuldenthematik nur für einen Nebenaspekt steht, der das Hauptthema nicht verbergen sollte (es aber in der Rezeptionsgeschichte gleichwohl häufig tat; so bei Cagneau 2014): Erzählt wird, warum der Aufstieg der Dirne, des »blonden Wuschelkopfs« Leopoldine, zur »braven Haus- und Ehefrau« (Schnitzler 2018: 736) nicht friktionslos gelingen kann, viel eher allen Beteiligten erhebliche Preise abverlangt: dem zum Aufstieg benutzten sehr viel älteren Onkel des Helden kostet es die Verfügung über sein Vermögen mit der Folge eines am langen Arm seiner von ihm geehelichten vormaligen Dirne emotional Verhungernden wie fiskalisch Kurzgehaltenen. Und dem Helden selbst, einen für die Spielsucht prädisponierten Leutnant Wilhelm Kasda, der seine spätere Tante, als sie noch Dirne war, wie eine solche behandelte, kostet es, 175 Zu dieser rechnet Schnitzlers Erzählung Die Hirtenflöte (1911), wo Fridolin Erasmus heißt und Albertine – in Anspielung an Nietzsches Loblied auf Dionysos (vgl. Schmidt 2019) – Dionysia, die sich nach dreijähriger glücklicher Ehe dem Zweifel ihres Gatten ausgesetzt sieht, ob ihre Liebe auch Bestand hätte nach Realisierung eines allein durch das Lustprinzip regierten Lebens. Erasmus’ zu diesem Zweck erteilte Freigabe, ein derartiges Leben zu führen, zeitigt ein negatives Ergebnis: Dionysia ist sich am Ende ihrer Liebe zu Erasmus nicht mehr gewiss, weil sie durch ihr wildes Leben um die holde Unwissenheit in Sachen ihrer eigenen Person und der bis dato verborgenen Abgründe ihres Begehrens gebracht ist.
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seiner Spielschulden wegen auf das von ihr verwaltete Geld seines Onkels erpicht, den letzten Rest seiner Selbstachtung. So behandelt ihn Leopoldine plötzlich und wie zur Rache wie eine männliche Hure, ohne dass er sich wehren kann, weil er ihrer Fürsprache bedarf, um an das Geld zu gelangen, das er dringend zur Abgleichung seiner Ehrenschuld benötigt. Das Tragische daran: Kasda erschießt sich in der (Fehl-) Annahme, sie bleibe ihm die Summe schuldig – und unter Missachtung des Umstandes, dass Leopoldine, den Rollenvorschriften an die Bürgersfrau folgend, diesen Part des Deals ihrem Gatten überlässt. So steht der Onkel am Ende mit dem Geld in der Tasche erschüttert über der Leiche seines Neffen, vom an ihm haftenden Parfum her ahnend, mit wem dieser seine allerletzte Liebesnacht verbrachte – und wohl auch, mit welchen unausgesprochenen Folgen. Über diese nämlich lassen allenfalls Zwischenbemerkungen (etwa über »recht verfängliche Dinge«; ebd.: 749) ahnen, zusammen mit dem in der Schlussszene wegen der vorherigen Krankmeldung des Leutnants drängend auftretenden Regimentsarztes Tugut – sowie eine Zwischenepisode, in welcher der Leutnant auf der Rückfahrt vom Spielcasino recht unvermutet von seinem Gläubiger, einem Zivilisten, unter Anspielung auf die Verfehlungen eines gewissen Leutnants Greising, Folgendes zu hören bekommt: »›Eigentlich merkwürdig‹, sagte er, ›wie die Herren, die so streng auf ihre Standesehre halten, einen Menschen in ihrer Mitte dulden dürfen, der mit vollem Bewusstsein die Gesundheit eines anderen Menschen, eines dummen, unerfahrenen Mädels zum Beispiel, in Gefahr bringt, so ein Geschöpf krank macht, möglicherweise tötet‹ –« (ebd.: 714)
So betrachtet kann nicht ausgeschlossen werden, dass Kasdas Selbstmord auch die Gefahr töten sollte, die von seiner Syphilis ausging, um die der Regimentsarzt womöglich ahnte und die ihm in seiner letzten Liebesnacht mit seiner Tante wieder, auch als eine von ihr ausgehende, vor Augen trat. Nicht gar so dramatisch nimmt sich Schnitzlers Erzählung Casanovas Heimfahrt (1918) aus. Sander L. Gilman rechnete sie und die in ihre dominierende Figur des »alternden Lüstlings« (Gilman 1992: 170) den männlichen Stereotypen von der weiblichen Sexualität im Wiener Fin de Siécle zu, was letztlich auch für die genialische, in den 1890er Jahren spielende Erzählung Fräulein Else (1924) gilt, hier mit der ergänzenden Komponente: Wer, wie Schnitzler in dieser nur mit Erschütterung zu lesenden Monolognovelle, derart 463 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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gekonnt die Perspektive einer durch das unsittliche Angebot eines ältlichen Vicomte in ein moralisches Dilemma 176 und insoweit in den Selbstmord getriebenen Neunzehnjährigen einzunehmen vermag, muss ihn schon ganz genau kennen: eben diesen hier beschriebenen Typen und die in ihm Gestalt gewinnende Missbrauchsgesellschaft. Aspekte wie diese finden zwar keine Berücksichtigung in Sybille Saxers (2014) verharmlosendem Referat, dominieren aber gleichwohl in der stillen Klage Elses in Richtung ihres Vaters, der sie mit der Bitte, den Vicomte um einen Kredit für ihn, überschuldet und von Zuchthaus bedroht, anzugehen, schon beinahe in die Arme seines Geschlechtsgenossen und insoweit zur Prostitution drängt nach dem von der Tochter wie folgt auf den Punkt gebrachten Muster: »Aber so war es bequemer und sicherer, nicht wahr, Papa? Wenn man so eine hübsche Tochter hat, wozu braucht man ins Zuchthaus zu spazieren?« (Schnitzler 2018: 544)
Dieses Szenario wiederholt sich in Schnitzlers Roman Therese. Chronik eines Frauenlebens. Diesmal zentral: Einflüsterungen der Mutter in Richtung ihrer Tochter (Therese), die von ihr gefragt wird, ob es nicht »hundertmal anständiger« sei, der durch den Anstaltsaufenthalt des Vaters in (vermeintliche) Not geratenen Familie beizustehen, indem sie »sich einem soliden, gesetzten, vornehmem Herrn [= Graf Benkheim] gegenüber mit einiger Zuvorkommenheit zu benehmen« bereit zeige, »als sich einem Studiosus [= Alfred Nüllheim] an den Hals zu werfen, der mit ihr doch nur seinen Spaß treibe.« (Schnitzler 2004: 25) Diese Äußerung steht für eine geradezu groteske Umdeutung der Realität, wenn man bedenkt, dass es sich bei Alfred tatsächlich um einen soliden Arztsohn aus wohlhabendem Haus handelt, wohingegen der insgesamt als schmierig und lüstern gezeichnete Graf mit seiner lockend angebotenen Weltreise – auf welcher ihm Therese als leichte Beute gewiss wäre, – als Schwiegermutterschreck an und für sich in Betracht kommt, abgesehen vielleicht von einem moralisch fragwürdigen Aspekt: ein reiches Erbe lockt. So gesehen will es fast scheinen, als sei es Anliegen Schnitzlers gewesen, die überlieferten Mütterbilder zu bereichern um einen Typ, für den die Absicht kennzeichnend ist, das Unglück der Tochter bewusst zu in-
176 Dessen Begehr nachzugeben, hätte Elses moralischen Tod bedeutet – ihm nicht nachzugeben, hätte hingegen den so gut wie sicheren Tod des sich aus Verzweiflung über den Ehrverlust selbst richtenden Vaters von Else zur Folge gehabt.
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szenieren. Denn man muss hier bedenken: Thereses Mutter, spät als Trivialromanautorin reüssierend, nutzte Abfallstoffe des von ihr inszenierten Dramas – Liebesbriefe der Tochter etwa –, für ihre Illustriertenromane, wie Therese zu ihrem Entsetzen durch Zufall erfährt, gleichwohl davor nicht zurückschreckend, Albert im späteren Verlauf der Handlung ganz nach Art dieser Romane den wahrheitswidrigen Vorwurf zu machen, er sei an ihrem ganzen Elend schuld, weil er sie »als junges, unschuldiges Mädchen […] allein gelassen« (ebd.: 180) habe. Tatsächlich aber steht dies nur für einen Nebeneinfall Schnitzlers, wie Thereses Mutter nur eine Nebenfigur ist. Hauptfigur (Therese) wie Hauptaspekt sprechen eher dafür, als eigentlichen Regisseur hinter den Kulissen den Dichter selbst zu setzen, dem nicht wirklich an der Zeichnung neuer Mutterbilder oder am Genre des Trivialromans auf höherem Niveau gelegen war als vielmehr am Abschluss der Trauerarbeit in eigener Sache. Gemeint ist mit dieser Vokabel Schnitzlers oben sowie im Vorgängerroman Der Weg ins Freie angesprochene Affäre mit Maria Reinhard. Als Mitdreißiger hatte Schnitzler sie geschwängert, um sie schließlich, nach dem von ihm mit Entsetzen sowie Schuldgefühlen wegen seiner zwischenzeitlichen Affären verbuchten tragischen Tod des Neugeborenen – der Junge hatte sich mit der Nabelschnur erwürgt (vgl. Weinzierl 31994: 166) – sowie nachfolgender Versöhnung an einer Sepsis infolge einer Blinddarmentzündung sterben zu sehen, mit den ihn endgültig traumatisierenden Worten auf den Lippen: »Ich weiss ja dass du da bist. Drum kann ich ja nicht fort.« (ebd.: 166; ähnlich Farese 1999: 84; Jacobi 2014: 128) Im Roman Therese, so könnte man also denken, steht Maria Reinhard (Therese hieß, nebenbei bemerkt, deren Mutter) für die Titelheldin, und der sich aus dem Staub machende Vater (Kasimir Tobisch) von Thereses Sohn Franz steht für Schnitzler, jedenfalls seiner dunklen Seite nach 177 und dabei gesetzt, dass dessen helle Seite im Roman durch Alfred Nüllheim repräsentiert wird. Mehr als dies: Schnitzlers schon in Der blinde Geronimo und sein Bruder (1900/01) erprobte experimentalpsychologische Ver-
Die durch Kasimirs Verschwinden notwendig gewordene Geschichte der Unterbringung des Nachwuchses in ländlicher Pflegschaft (vgl. Schnitzlers 2004: 113 ff.) scheint beispielsweise jener realen des Autors vom Sommer 1897 (vgl. Sachslehner 2015: 206 ff.) nachgebildet zu sein.
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suchsanordnung 178 scheint auch in diesem Roman zum Tragen zu kommen, nur ein wenig komplizierter, insofern man diesmal als unabhängige Variable den bisher noch nicht genannten Grund für den Anstaltsaufenthalt des Vaters zu setzen hätte: Es geht um Syphilis, und zwar gegen Ableitungen derart, Thereses Vater, Oberstleutnant Hubert Fabiani, habe aus »gekränktem Ehrgeiz« (Zieger 2014: 156) den Verstand verloren. Wer so argumentiert, erliegt der von Schnitzler gelegten Nebenspur, im Roman verfochten von Thereses Verführer, dem Grafen Benkheim, der jene Diagnose wortwörtlich (vgl. Schnitzler 2004: 37) vertritt, wohl aus Eigeninteresse, weil sie ihm Therese als von der Krankheit nicht belastet fingierbar macht. Dass dies so einfach nicht geht und Syphilis gefährlich ist und jedenfalls von Therese als gefährdend rubriziert wurde, zeigt ihre im fortgeschrittenen Romanverlauf sich ereignende Begegnung mit einem ihr nachstellenden Oberleutnant, der sie in einem Kurpark, nachdem sie mit ihm »kaum zehn Worte gewechselt hatte«, gegen ihren Willen heftig bedrängend küsste – und über den sie am andern Tag erfährt, dass er sich »in diesem Kurort zur Behandlung einer gewissen, ansteckenden Krankheit aufhalte und noch lange nicht geheilt sei.« Der übernächste Satz ist zentral: »Therese erschrak tödlich. Sie rührte sich vom Hause nicht fort; dunkel war ihr bewußt, daß auch schon die Küsse des gestrigen Abends verhängnisvolle Folgen haben konnten.« (Schnitzler 2004: 144)
Ob speziell diese Angst berechtigt war oder nicht: Wichtiger scheint mir, dass Schnitzler hiermit, auf dass es nicht übersehen werden möge, das zentrale Thema seines Romans benennt: Syphilophobie. Dieses Erzählzwecks wegen lässt Schnitzler seine Heldin die von ihrem Verführer Benkheim vorgetragene verharmlosende Diagnose bezogen auf den Wahnsinn ihres Vaters (»gekränkter Ehrgeiz«) immer mal wieder paraphrasieren, aber gezielt unglaubwürdig. Dies zeigt ihre unmittelbar vor der ihr überbrachten Nachricht, »daß der Vater gestorben sei«, abgegebene Erklärung, er sei »vor ungefähr einem Jahr aus Kränkung über seine vorzeitige Pensionierung gestorben.« (ebd.: 60) Ein andermal berichtet Therese ihrem zwischenzeitlichen Freund (und Kindsvater) Kasimir, ihr Vater habe sich »als General aus
178 Hier als Teil einer geradezu toxisch wirkenden Mär eines Reisenden, der Geronimo wahrheitswidrig und aus Bosheit einredet (vgl. Schnitzler 2018: 196), sein Bruder habe, seine Blindheit ausnutzend, ihn um den Anteil an seiner Geldspende betrogen.
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gekränktem Ehrgeiz erschossen« (ebd.: 73) – Erzählvarianten, die zum Leugnungsverhalten einer zutiefst Syphilophoben passen, als die sich Therese nach jener Kurparkszene mit dem Oberleutnant erweist, dies im Nachgang zu ihrer sie ohnehin schon bestimmenden Sorge ob der Syphilis ihres Vaters. 179 Der Sinn dahinter, wie man nun vermuten darf: Nur mittels der Setzung der Syphilis als eine Art unabhängige Variable konnte Schnitzler die ihn offenbar bis kurz vor seinem Tod umtreibende Frage klären, ob Marias (ihr Fortleben vorausgesetzt: zu supponierendes) resp. Thereses (in der Fiktion) vielgestaltiges und sich wiederholendes Scheitern in ihrem ferneren Leben sowie das ihres unehelichen Sohnes Franz der Syphiliserkrankung ihres Vaters resp. ihrer sozialen Ausgrenzung wegen dieser in Rechnung zu stellen sei, ersatzweise den defizitären Anlagen des Kind-Vaters (Kasimir). Oder aber: Ob all dies Unheil nicht in hereditären, sondern in umweltbedingten Faktoren ihren Grund habe – eine Fragestellung, die, wie gezeigt wurde (s. IV.11), konstitutiv war für die Grundanlage von Émile Zolas Familiensaga Les RougonMacquart (1871–1893) und die auch den Arzt und Dichter Schnitzler umtrieb. Der, durchaus schulmäßig im Geist der damals Gestalt gewinnenden sozialpädagogischen Denkform (vgl. Niemeyer 32010), Therese im Stadium der Dominanz ihrer »mütterlichen Gefühle« die ersten Schwierigkeit mit ihrem pubertierenden Sohn dahingehend reflektieren lässt, dass er »ja an seiner Natur und seinem Los« völlig unschuldig sei und »sich unter anderen Umständen« ganz anders entwickelt hätte, womöglich »zu einem braven, tüchtigen Menschen.« Was den Anlagefaktor, das »Los« also, angeht, denkt Therese mit Zorn an das Vermächtnis des »eigentlich längst vergessenen, lächerlichen und nichtigen Kasimir Tobisch«, nicht hingegen an dasjenige ihres Vaters – aber dass in beiden Fällen nur eine exterminatorische Maßgabe Abhilfe geschaffen hätte, zeigt ihr in dieser Situation aufbrechende Reue deswegen, »daß ihr einmal im gegebenen MoWas da im Einzelnen, vom Verhalten des Vaters vor seiner Anstaltsunterbringung ausgehend geredet, alles verleugnet wird, offenbaren düstere Hinweise »auf gewisse gesellige Vergnügungen des Gatten in früherer Zeit« (ebd.: 7), auch auf eine Nacht desselben kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch »in einem der verfallenen Häuser nahe dem Petersfriedhof bei einer der Frauenspersonen, die dort Knaben und Greisen ihren verwelkten Leib feilboten« (ebd.: 10) – Hinweise, die insgesamt auf das Infektionsrisiko Syphilis verweisen und damit den Anstaltsaufenthalt des Vaters als eine durch progressive Paralyse, das tertiäre und damit finale Stadium der Syphilis anzeigend, bedingt erklärbar machen.
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ment der Mut gemangelt, eine gefällige Frau aufzusuchen, die sie vor all der Plage und all der Schande behütet hätte, unter deren Zeichen seither ihr Leben stand.« (Schnitzler 2004: 182) Zum tragischen Ende des Romans wird dann klar: Auch Franz, ihr Sohn, den sie in Pflege gab und den sie erst als Zwölfjährigen zu sich nahm, fängt sich als achtzehnjähriger Großstadtverwahrloster vom Typ »moral insanity« (ebd.: 217) 180 fast schon folgerichtig die Syphilis ein. Gleiches gilt für die zur Dirne gewordene Tochter der Pflegemutter, Agnes. Sie richtet Therese Grüße ihres Sohnes aus dem Inquisitenspital aus, mit »einem frechen Lachen« siegessicher hinzusetzend: »Na, ich bin auch wieder g’sund worden. Und mich hat’s ordentlich g’habt! Sechs Wochen bin ich im Spital gelegen.« (ebd.: 283)
Das Ende ist hier absehbar, einerseits das nun wieder einsetzende Nachdenken Thereses betreffend, ob Franz‘ »unsauberes Leiden« (ebd.: 285) – das Wort Syphilis geht auch ihr, wie dem Dichter, nicht über die Lippen – eine erbliche Komponente habe, deutlicher: dass es ja wohl nicht angehen könne, »als wäre nur sie, die ihn geboren, mitverantwortlich für alles, was er tat, und als hätte der Mann, der ihn gezeugt und sich dann ins Dunkel seines Daseins davongeschlichen, überhaupt nichts mit ihm zu tun.« Therese sucht ganz am Ende dieses Romans den Kindsvater Kasimir und wird eines »alternden Mannes« fündig, der sich, da verheiratet und Vater von zwei Kindern, damals nur der Täuschung halber Kasimir genannt hat und »der nach dunklen, schwindelhaften zwanzig Jahren draußen in einem Tingeltangel die Baßgeige spielte und dem Klavierspieler das Bier wegtrank.« (ebd.: 286) Das Ende, nach dieser erneuten Anrufung des Anlagedogmas, liegt damit nahe: Therese wird vom eigenen Sohn im Streit um Geld erschlagen, um im Sterben liegend ihre ewige Liebe Alfred zu beauftragen, für ein mildes Urteil einzutreten, denn: »Er ist unschuldig. Er hat mir nur vergolten, was ich ihm getan habe.« (ebd.: 302) So, verzeihensbereit bis in den Tod hinein, muss offenbar, Schnitzlers Sozialpädagogikverständnis zufolge, eine Mutter reden, die von der Erinnerung geplagt wird, sie habe ihr nicht wirklich erwünschtes
So Alfred, den Therese aufgrund der Einflüsterungen ihrer Mutter früh verlassen hat, um ihn Jahre später, nun als aufstrebenden Arzt, immer mal wieder als Helfer in der Not, auch als Liebhaber, zu requirieren und mit dem sie wohl, wie sie dunkel ahnt, glücklich hätte werden können.
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Kind unmittelbar nach seiner Geburt zu ersticken begonnen. (ebd.: 111) Damit können wir zur Pointe kommen: Schnitzler argumentiert in seinem Roman Therese tatsächlich weitgehend wie eine zeitgenössische Familienfürsorgerin, eingeschränkter: er argumentiert »als Soziologe der Bezirke der Ringstraße und der Wiener Innenstadt« (Le Rider 32013: 133), und zwar aus Verzweiflung über all das Unheil in der Welt, das selbst angerichtete eingeschlossen. Damit dieser Zusatz nicht falsch verstanden wird, sei noch hinzugefügt, im Blick auf die angedeutete Parallele zwischen Therese und Schnitzlers Geliebter Maria Reinhard: Nicht, dass er selbst Syphilitiker sei (wie der Vater von Therese) oder von defizitärer Anlage (wie der Vater von Franz), wollte der Dichter hiermit andeuten, sondern allenfalls: dass Maria Reinhard, ihr Weiterleben vorausgesetzt, womöglich durch Nachstellungen wie jener, die ihr Gegenpart Therese im Roman durch den Oberleutnant im Kurpark zu erleiden hatte, gefährdet gewesen wäre. Und diese Vorstellung hatte für Schnitzler offenbar am Vorabend seines Todes und nach langen Jahren des Grübelns über seine Verantwortung für Maria Reinhards Tod etwas Tröstendes. Davon ganz unabhängig und um auf den ferneren Ertrag zu kommen: Wer so gut wie Schnitzler informiert war über die Denke des Oberstleutnants Fabiani, des Grafen Benkheim, des Oberleutnants im Kurpark resp. jenes Vicomte (aus Fräulein Else); wer, wie Schnitzler, den Grafen und den Vicomte schmierige Verführer zeichnet, die auch noch auf Mithilfe der Mutter (Thereses) resp. der Eltern (Elses) bei ihrem Versuch der Prostituierung der jeweiligen Töchter rechnen durften, muss einer Schule entstammen wie der in Schnitzlers zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Autobiographie Jugend in Wien (1968) beschriebenen: eine Welt, die einen wie Schnitzler, als Typus Mann gelesen wohl zu Recht der »österreichische Maupassant« (zit. n. Torberg 1968: 325) geheißen, hervorbringen musste. Was, im Blick auch auf Schnitzlers Liebespraxis (vgl. Lacher 2014; Sachslehner 2015) und im Vorblick auf den Fall Maupassant (s. III/…), alles eher meint als ein Kompliment und von Peter Gay wie folgt auf den (treffenden) Punkt gebracht wurde: »In seiner sexuellen Unersättlichkeit ähnelte Schnitzler Maupassant […]; in der Vorsicht, die er walten ließ, unterschied er sich zu seinem Glück stark von ihm.« (Gay 2002 [2012]: 164)
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Gay war es auch, dem die Beobachtung zu danken ist, dass Schnitzler »nie über seine Kinderwünsche hinauswuchs und sich nie über seine erotische Identität Klarheit verschaffte.« (ebd.: 97) Die Folgen dieser Selbstreflexionsdefizits sind erheblich. Dies zeigt der folgende Eintrag aus den Aufzeichnungen des damals Einundzwanzigjährigen: »Im Tagebuch ist 1883 ein lustiger Abend vermerkt, ohne weiteren Kommentar, obwohl allen Freunden, Schnitzler eingeschlossen, klar sein mußte, daß am selben Abend der syphiliskranke Richard Tausenau die Geliebte eines gemeinsamen Bekannten infiziert hatte.« (Scheible 1976: 24)
Summarisch geredet: Dass ausgerechnet Schnitzler, dieser, allen Jugendzeugnissen zufolge, Womanizer sondergleichen, der Syphilisfalle entging – anders etwa als sein Freund Tausenau, aber auch seine zwischenzeitliche Geliebte Maria (auch: Marie) Chlum (vgl. Sachslehner 2015: 147) –, überrascht zumal im Maupassant-Vergleich. Aber man muss hier Schnitzlers ausgeprägte Hypochondrie beachten (vgl. Weinzierl 31994: 190 ff.), von der aus es nicht weit ist zur Sypholophobie, der die rabiaten Aufklärungspraxis seines Vaters (ebd.: 20; Gay 2002 [2012]) einigen Auftrieb gegeben haben dürfte. Schnitzler selbst bemerkte hierzu, nachdem der Vater durch heimliche Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen seines 16-jährigen Sohnes aufmerksam geworden war: »[S]tumm musste ich eine furchtbare Strafpredigt über mich ergehen lassen […]. Zum Beschluß nahm mich der Vater ins Ordinationszimmer und gar mir die drei großen gelben Kaposischen Atlanten der Syphilis und der Hautkrankheiten 181 zu durchblättern, um hier die möglichen Folgen eines lasterhaften Wandels in abschreckenden Bildern kennenzulernen. Dieser Anblick wirkte lange in mir nach; vielleicht verdanke ich es ihm, daß ich mich zumindest noch eine gewisse Zeit lang vor Unvorsichtigkeiten hütete und insbesondere meine Besuche bei Emilie [eine der in jenem Tagebuch erwähnten Schönen; d. Verf.] und ihresgleichen einzustellen für gut fand.« (Schnitzler 1968: 86 f.)
Die Lektion aus diesem Intermezzo kann kaum fraglich sein: Vorzüglich in an sich nicht zur Veröffentlichung bestimmten Textsorten wie diesen, auch in Briefen und Tagebüchern, findet sich tabufreie Rede. In Frank Wedekinds (1864–1918) erst 1986 veröffentlichten Tagebüchern gibt es beispielsweise Hinweise auf die Syphilis und die
181 Gemeint ist ein einschlägiges Lehrbuch von Johann Schnitzlers Kollegen Moritz Kaposi (1837–1902).
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Hygienepraxis Prostituierter zu Hauf. Erwähnt sei nur der am 7. Januar 1894 in Paris erstellte Eintrag, spielend im Café d’Harcourt im Dirnenmilieu nach gehabten Liebesfreuden Wedekinds: »Germaine kommt und gibt mir die Hand. Marie Louise fragt mich, ob ich mit ihr geschlafen. Sie hätte die Syphilis. Sie hätte einen Offizier krank gemacht, daß er sich drei Monate in Fontainebleau hätte kurieren lassen müssen. Ich sage, sie hätte sie vielleicht von mir. Sie hätte mir ja seinerzeit auch gesagt, Henriette sei syphilitisch. Sie sagt, daß Henriette syphilitisch gewesen sei, wisse das ganze Quartier. Sie sei ja auch daran gestorben. Um zwei Uhr gehe ich nach Hause und lege mich schlafen.« (Wedekind 1990: 283)
Es ist Texten wie diesen – auch und vor allem, wie noch zu zeigen sein wird, dem Journal des Goncourt (s. III) – geschuldet, dass wir, aller Zensur und Verklemmtheit zum Trotz, einigermaßen orientiert sind über die Syphilis zu Zeiten Nietzsches. Oder jedenfalls doch orientiert sein könnten – falls wir die Subtexte zu lesen wissen. Franz Adam Beyerleins (1871–1949) Roman Jena oder Sedan? (1903), der erfolgreichste Roman jenes Jahres, wird beispielsweise heutzutage, wenn überhaupt noch, als Militärroman erinnert. Tatsächlich aber geht es um die Syphilis in all ihren Formen – eine Vokabel, die nicht genannt wird, sondern sich hinter Decknamen verbirgt, wie beispielsweise »schleichende Krankheit« (Beyerlein 1903: 527). Vergleichbar zurückhaltend geht es zu im spektakulären Tagebuch einer Verlorenen (1905), deren Heldin, die Tochter eines angesehenen Apothekers, als »lebensmüde Hure« endet und, so Richard J. Evans, »an Tuberkulose stirbt« (Evans 1997: 240), eine Pointe, die Evans nicht wirklich schlüssig fand – zu Recht: Tuberkulose, so sei hier über Evans hinausgehend nachgetragen, ließ sich dem bürgerlichen Publikum seinerzeit als jugendfrei und nicht-selbst-verschuldete »Proletarierkrankheit« (Labisch 2018: 64) verkaufen, Syphilis nicht. 1.2
Der Fall Hermann Popert oder: Über eine lebensreformerisch-völkische Perspektive auf die Syphilis, an deren Ende der Verbrecher steht
Gleichwohl: Syphilis, ob nun expressis verbis genannt oder schamhaft verschwiegen, geriet gleichwohl und gleichsam gegen den Ladentisch zur Modekrankheit aufstrebender Freigeister und junger Intelligenzler aus gutem Haus. Oder, je nach Perspektive: Syphilis
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geriet zum warnend an die Wände gemalten Menetekel jener, die üblicherweise, mit dem Volksmund geredet, dem Schuster raten, bei seinem Leisten zu bleiben. Hemmend, in beiden Hinsichten, wirkte ein Tabu, das, wie eben am Fall Schnitzler gesehen, davon abriet, von dem zu reden, worüber der Rechtsanwalt Brunold Springer (1926: 125 ff.) endlich offen zu sprechen für geboten hielt. Nicht immer war Springers Diagnose triftig – aber der Substanz nach traf sie zumal mit dem mit ihrer Mitteilung verbundenen übergreifenden Anliegen einen wichtigen Punkt: Man, besser: ›Mann‹ redete zum großen Ärger des Aufklärers Springer damals ungerne – übrigens ähnlich wie heutzutage – über Aspekte wie diese, sorgte sich, sie herauszustellen könne dem Andenken der Genannten Abbruch tun, mehr als dies: füge sie dem namenlosen Heer jener Syphilitiker ein, die als Freier agiert und/oder vor-, wenn nicht gar außerehelichen Geschlechtsverkehr gehabte haben müsse. Allein dieses Aspektes wegen war die Syphilis von Beginn an mit einem Tabu belegt, das zu Nietzsches Zeiten vom Bürger- wie Christentum ausging und auch Ärzte, zumal niedergelassene, nicht verschonte. Die Folge: Betroffene blieben mit ihren Fragen und Nöten nicht eben selten allein – und machten, im günstigsten Fall, aus ihrer Not eine Tugend. Nietzsche beispielsweise suchte, wie im Prolog angedeutet, im Bereich der Eigendiagnostik und -therapie zu reüssieren, und dies einem überaus tückischen ›Feind‹ gegenüber. Denn man muss hier bedenken und konnte es eben bei Stefan Zweig lernen: Zu Nietzsches Zeiten war die Syphilis so gut wie unbehandelbar, der Erreger war noch nicht bekannt und eine sichere Diagnostik folglich genauso wenig möglich wie die Entwicklung eines kausal ansetzenden Therapeutikums. Immerhin: 1903 war es gelungen, Syphilis auf Affen zu übertragen, was der exprimentellen Forschung und der Sero-Diagnostik neue Impulse gab. (vgl. Bäumler 1976: 159 f.) Und nachdem 1905 durch Fritz Schaudinn (1871–1906) und Erich Hoffmann (1868–1959) der Erreger (»Spirochaeta pallida«) identifiziert worden war (ebd.:135 ff.) und sich als Gewebeparasit erwies, konnte, auf diesen Tierexperimenten aufbauend, 1906 der deswegen erforderliche komplizierte Test auf Antikörper (Wassermann-Test) entwickelt werden (ebd.: 156 ff.). 1913 schließlich wies der Japaner Noguchi Hideyo (1876–1928) nach, »daß in den Gehirnen an Paralyse verstorbener Kranker regelmäßig Spirochäten zu finden waren« (Kolle 41966: 38), so dass auch Nietzsches behandelnder Arzt in Jena, Otto Binswanger (1852–1929), einräumen musste, »daß die Diagnose: progressive 472 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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Paralyse nicht angezweifelt werden kann und daß dieses Leiden nach dem heutigen Stand der Wissenschaft eine syphilogene Erkrankung des Nervensystems ist.« (zit. n. Vulpius 1923: 723) Die insoweit verbesserbare Diagnostik ließ die Hoffnung steigen, auch bald die Therapie optimieren zu können, was sich indes als Irrtum erwies. So wurde in einem in der NS-Zeit weit verbreiteten Ratgeber ausdrücklich gewarnt: »Für den Kranken ist nichts gefährlicher als eine ungenügende und unregelmäßig-lässig durchgeführte Behandlung. Es können dadurch Schäden entstehen, die nie wieder gutzumachen sind.« (Spiethoff 1936: 349) Und noch im Zweiten Weltkrieg, unmittelbar vor Entdeckung der »idealen Waffe« Penicillin durch Alexander Fleming (1881–1955; Nobelpreis 1945), wurden 300.000 bei der Musterung als infiziert identifizierte US-Soldaten in eilig geschaffenen Therapiezentren einer mindestens 18-monatigen Behandlung unterzogen. (Bäumler 1976: 360 f., 390) Hinzuzunehmen ist der unberechenbare Krankheitsverlauf mit vieldeutigen Anfangssymptomen und nachfolgenden, teils langjährigen Phasen der Latenz, ehe dann, nicht immer und insgesamt nur in etwa einem Drittel der Fälle, darunter jenem Nietzsches, das finale, insgesamt tertiäre Stadium aufbricht und zur Anzeige gelangt: im Fall Nietzsche nicht, wie in der Nietzscheforschung hin und wieder beiläufig supponiert, als »Nervenzusammenbruch« (Aurenque 2018: 15), sondern, wie in Turin 1888/89 beobachtbar, als von epileptischen Anfällen begleiteter geistiger Zusammenbruch nach Art einer Progressiven Paralyse mit dem Ergebnis einer so gut wie kompletten Demenz und nachfolgendem elfjährigem Siechtum. Kein Wunder also, so Stephan Zweig in Die Welt von Gestern, »daß damals viele junge Leute sofort, wenn bei ihnen die Diagnose gestellt wurde, zum Revolver griffen, weil sie das Gefühl, sich selbst und ihren nächsten Verwandten als unheilbar verdächtig zu sein, unerträglich fanden. Dazu kamen noch die anderen Sorgen einer immer nur heimlich ausgeübten vita sexualis. Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blaß und verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine Erkrankung befürchtete, der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen seiner Familie eine Kur durchzumachen […].« (Zweig 1970: 110)
Entsprechend der hiermit beleuchteten Lesart der Syphilis als »Krankheit der u n e r f a h r e n e n J u g e n d « (Bloch 1907: 406) intensivierte sich die Aufklärung, sei es in Gestalt einer dem Thema Ge473 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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schlechtskrankheiten gewidmeten Ausstellung im Dresdner Hygienemuseum 1912, sei es mittels Wanderausstellungen, »die mit Moulagen – lebensechten Wachsmodellen – die Symptome der Syphilis am Körper zeigten.« (Radkau 1998: 168) Nach dem Krieg und in Vorbereitung des nächsten gewann diese Art Aufklärung einen neuen Akzent. So erfuhr man 1939 aus einem mit der Widmung »Dem jungen deutschen Geschlecht, das wieder auf deutschen Boden koloniale Arbeit leisten wird« (Rohrbach / Rohrbach 21941: 5) versehenen Text eines altgedienten, 1913 in der sich damals formierenden Jugendbewegung vielbeachteten völkischen Ideologen (Paul Rohrbach [1869–1956]; vgl. Niemeyer 2013a: 164) und seines Sohnes, dass es zwar »Gegenden tief im Innern des Erdteils« gäbe, »wohin z. B. die Syphilis noch nicht vorgedrungen ist, aber sie sind selten, und wahrscheinlich wird es bald keine mehr geben.« Und dann folgt, unmissverständlich in kriegsvorbereitender Absicht: »Die extremsten Prozentzahlen, die man mitgeteilt erhält, mögen durch die besonders ungünstigen Verhältnisse in den Umgegenden größerer Garnisonen und Handelsplätze bedingt sein, aber im allgemeinen ist weder an der weiten örtlichen Verbreitung zu zweifeln noch daran, daß ein großer Teil der eingeborenen Männer und Weiber krank ist.« (ebd.: 160)
Wie angedeutet: So nicht nur 1939 – so ähnlich auch schon um 1900, dies jedenfalls den Fallgeschichten zufolge, die der Kieler Militärzt Wilhelm Gennerich nach 12-jähriger Forschungsarbeit mit einschlägig erkrankten Marinesoldaten präsentierte. (vgl. Gennerich 1921) Hinzuzurechnen ist der immer wiederkehrende Hinweis, dass Syphilis »eine der häufigsten Ursachen von Tot- und Fehlgeburten bildet, aber auch zahllose Krankheitserscheinungen im Kindesalter bedingen kann.« (Posner 31917: 110) Wirkungsvoller als Aufklärungsschriften dieser Art: Anti-Syphilis-Romane, eine Gattung, die Anja Schonlau sichtete, darunter: Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit (1910). Sein Verfasser Hermann Popert, von Völkischen aus der Jugendbewegung – wie Hans Blüher (1888–1955) – noch nach 1945 seiner jüdischen Gattin wegen als ›Halbjude‹ respektive »Mischling« (Blüher 1953: 363) verspottet, von dem man sich keine völkische Mär auftischen lasse (vgl. Niemeyer 2013a: 137), erzählt hier, literarisch gehörig verfremdet, die Geschichte seines (vormaligen) Freundes Hans Paasche (1881–1920), dessen Syphilis er erstmals 1920 in seinem Nachruf
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auf diesen öffentlich machte. 182 Indes: Dies sowie die Empörung Blühers, schließlich jene von Jugendbewegungshistoriographen weniger über Blüher denn über Poperts von ihnen als ehrenrührig gelistete Behauptung über Paasches Syphilis soll hier (vgl. allerdings Niemeyer 2019a: 237 ff.; 2020b) außerhalb der Betrachtung bleiben, des Gleichen die skurrile, von Jürgen Reulecke gepflegte Bezugnahme ausgerechnet auf Nietzsche zwecks Rechtfertigung von derlei fragwürdiger Zurückhaltung im Urteil über diese und andere dunklen Seiten der Jugendbewegung. 183 Ein Aspekt allein verdient hier Beachtung: Poperts Mär darf durchaus auch als Anti-Nietzsche-Roman gelesen werden. Gestrickt ist die Geschichte nach dem bewährten Rezept der Kontrastierung von Gut und Böse, in diesem Fall: Der ›böse‹ Syphilitiker lautet auf den Namen Eduard Wendberg, ein Burschenschaftler und Reserveoffizier, der, da »arm und verschuldet« (Popert 201912: 190), heftig um die 22-jährige Hamburger Kaufmannstochter Lili Brooks wirbt, die allerdings, wie dies damals so Standard war in den Familien des Bürgertums, »in den wichtigsten Dingen des Lebens so unklug und so ungewarnt [ist], wie sie es mit drei Jahren war.« (ebd.: 184) Da ähnliches für ihre Mutter gilt und der Vater die dunkle Seite Wendbergs nicht zu erkennen vermag, nimmt das Elend seinen Lauf: Der Vater erklärt voller Stolz die Verlobung seiner Tochter mit Herrn Wendberg, an dessen Brust Lili Brooks in der Schlussszene des 182 Er habe aus Afrika »ein schleichendes, unheilbares Leiden mitgebracht« (Popert 1920: 293), lesen wir hier, zur bis auf den heutigen Tag fortdauernden Empörung der Jugendbewegungshistoriographie, die ihr Bemühen um Etablierung Paasche sals Jugendbewegungs- wie Pazifismusikone durch Hinweise auf diese dunkle Seite ihres Helden konterkariert sieht (vgl. Niemeyer 2019a; 2020; 2020a) – ein Vorgang, der durchaus Parallelen aufweist im Blick auf die in Kapitel V noch genauer zu sichtende Theoriepolitik von Nietzsches Schwester bezüglich der Syphilis ihres Bruders. 183 Seit Jahren schon stattet Reulecke Nietzsche Dank ab für den Satz: »Ihr seid nicht klüger, ihr kommt nur später!« (Klönne / Reulecke 2012: 406; Niemeyer 2013: 12 f.) – und denkt dabei offenbar an Nietzsches unlängst von Kathrin Bouvot (2018: 358) in Erinnerung gerufene Formulierung aus der Historienschrift: »Als Richter müsstet ihr höher stehen als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid.« (I: 293) Freilich, und wie Bouvot in der Folge auch klarstellt: In der Hauptsache forderte Nietzsche in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung eine »kritische« Historie, die die Vergangenheit, auch Nietzsches eigene, erbarmungslos vor Gericht zu ziehen vermag (vgl. auch Niemeyer 2004) – und nicht etwa dasjenige, was Helmut Kohl 1985 an Bitburger SS-Gräbern unter der Chiffre »Gnade der späten Geburt« zur Anerkennung gebracht wissen wollte und woran offenbar auch Reulecke im Blick auf die in der Hitlerjugend kulminierenden dunklen Seiten der Jugendbewegung liegt: dem durch Demut nahegelegten Verzicht auf ein hartes Urteil.
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6. Kapitels »selig« (ebd.: 196) ihr Haupt bettetet. Mit absehbaren Folgen, die an den wohl schockierendsten Fall aus Alfred Fourniers Fallsammlung Syphilis und Ehe (1881) erinnern: Lili erstes Kind wird totgeboren, und auch für die zweite Schwangerschaft lässt sich nach fünf Monaten nichts Gutes hoffen, gab der jungen Mutter »nichts von der schwellenden Kraft und Frische, die gesunden Frauen das keimende Leben verleihen kann« (Popert 201912: 258), kurz: Das zweite Kind kommt zwar lebend zur Welt, wird aber »nie darüber nachdenken können, welch’ köstliches Geschenk ein Leben sein kann«. Auch die Mutter landet in der Heilanstalt, Diagnose: »Hirnlähmung« (ebd.: 357 f.), Prognose bis zum Exitus: »sechs Monate« (ebd.: 359). Und der Vater, also Wendberg? Nun, so Anja Schonlau in pointierter Zusammenfassung: Während Lili »noch ihrem Tod entgegen siecht, hat der skrupellose Wendberg bereits eine neue Braut.« (Schonlau 2005: 437) Und der ›gute‹ Syphilitiker? Der lautet auf den Namen Friedrich Harringa, liebt Lili gleichfalls, kann aber mit seinen Warnungen vor Wendberg – um dessen dunkles Geheimnis er aufgrund bierseliger Kneipengespräche er ahnt – nicht durchdringen, zumal Beweise fehlen. Ohne diese wäre aber ein Duell mit dem Reserveoffizier unabwendbar, und die Brauteltern hätten ihm bloße Eifersucht als Handlungsmotiv unterstellt. So weit zum ›gut‹, nun zum ›Syphilitiker‹ : Friedrich hat – wie sein auf den Nachnamen ›Nietzsche‹ lautender Namensvetter, soll man hier wohl ergänzen – im jugendlichen Übermut ein einziges Mal ein Bordell besucht, sich unglücklicherweise gleich bei diesem einen mal infiziert, und er sucht schließlich als ›guter Syphilitiker‹, dessen weiteres Werben um Lili (und jede andere nach ihr) nicht verantwortbar wäre, den (Frei-) Tod. 184 Der Hintergrund, seinem Abschiedsbrief zufolge: Nach einem feucht-fröhlichen Abend sei er von einem Mit-Burschenschafter zu einem Bordellbesuch überredet worden, der allerdings nicht folgenlos blieb – etwas verbrämt geredet, denn die Vokabel ›Syphilis‹ wird auch von Popert, wie in seinem 1920er Nachruf auf Paasche, gemieden und versteckt Das Szenario erinnert an Arthur Conan Doyles (1859–1930) Erzählung The Third Generation (1894, dt.: Die dritte Generation), mit entscheidenden Abweichungen: Doyle, der die Vokabel ›Syphilis‹ gleichfalls meidet und seinen Helden als ausgewiesen tugendhaft zeichnet, lässt ihn am Vorabend seiner Hochzeit den Freitod wählen, durch Sturz vor eine Kutsche. Auslöser hierfür: Der Besuch bei einem Arzt, der ihn mit Eheverbot belegt hat wegen Syptomen, die den Rückschluss erlauben auf eine vom lasterhaften Großvater ererbte Syphilis. (vgl. Doyle 1894: 49 f.)
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sich in Sätzen wie: »Der Arzt muß es mir angesehen haben, daß ich mein Schicksal begriff, als er mir den Namen der Krankheit nannte.« (Popert 201912: 220) So Friedrich am 13. Juli 1904, erläuternd hinzufügend als nur noch halb erinnerte Reminiszenz an jenen Bordellbesuch: »Eine häßliche Haustür mit einer roten Laterne darüber. Und dann plötzlich helles Licht, ein schön eingerichtetes Zimmer, Sprechen und Lachen von einem halben Dutzend weiblicher Stimmen.« (ebd.: 228)
Dies wirkt wie abgeschrieben aus der drei Jahre zuvor (in realer, nicht fiktiver Zeitrechnung) von Nietzsches Freund Paul Deussen berichteten Anekdote, auf die noch ausführlich zurückzukommen sein wird. (s. IV.2/8) Hier, wichtiger, die Geschichte, wie sie nach dem Freitod Friedrichs, des guten Syphilitkers, weitergeht: Für seinen Bruder Helmut ist die Sache nach dem Tod seines Bruders, eines »Siegfried, den ein finsterer Hagen erschlug« (Popert 201912: 220), klar: »Ich will ein Krieger sein im Heere des Lichts« – namens und im Auftrag einer wunderlichen Prozession von Untoten, der zuletzt die vom Syphilitiker Eduard Wendberg geschändete Lili Brooks »aus dem Dunkel der Nacht« beitritt »[u]nd dann ein unendlicher Haufe von blassen Kindern, weinenden Frauen, Jünglingen mit Messerwunden in Brust und Rücken, und Männern in Sträflingskleidern und Spitalsgewand.« (ebd.: 233) Diese Ikonographie wirkt beinahe wie eine Planskizze zu George Grosz’ (1893–1959) Gemälde Widmung an Oskar Panizza (1917/18) und erinnert an Grosz’ Beschreibung: »In einer seltsamen Straße wälzt sich zur Nacht eine höllische Prozession entmenschter Figuren, in den Gesichtern spiegeln sich Alkohol, Syphilis, Pest.« (zit. n. Ullrich 1997: 502)
Damit aber nicht genug: Mitten im Roman offeriert Popert, ein führender Vertreter der völkischen Lebensreform respektive Jugendbewegung, sein Programm mittels seines Lautsprechers Helmut Harringa: »Wer sind denn die, die bei uns so gewaltig zunehmen an Zahl? Welches Stammes Weiber sind es, die Kinder gebären wie Sand am Meer? Der Polen Weiber, nicht die der Deutschen!« (Popert 221912: 146)
Insoweit: Es waren Sätze wie diese, welche die (spätere) Kritik aufmerksam machte auf »die im ›Harringa‹ offenbare nationalistische und rassistische Mythomanie.« (Lange 1995: 111) Man kann dies ein477 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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gedenk des einleitend zu Bodo Spiethoff Gesagten durchaus etwas deftiger auf den Punkt bringen: Ein Vierteljahrhundert vor den Nazis entdeckt ein vökischer Lebensreformer aus Hamburg, das man einen Syphilitiker durchaus einen ›Verbrecher‹ heißen darf angesichts der ihm durch ungeschützten Geschlechtsverkehr anzulastenden »Verbrechen an der Volksgesundheit und Volkskraft, an der Zukunft der Nation« (Spiethoff), dies zumal im Blick auf die Konkurrenz mit anderen Nationen wie der polnischen – einer slavischen. So betrachtet lagen also längst schon die Koordinaten vor, die es erlaubten, Nietzsches Syphilis, so es sich um eine solche handelte, nicht länger als eine Privatangelegenheit« (Spiethoff) zu verbuchen. Was daraus folgt, werden wir nun sehen.
2. Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe, für die Hitler an sich hätte dankbar sein müssen Beginnen wir mit der Rückerinnerung an Thomas Mann. Das Thema Syphilis und der Name Nietzsches war ihm von Beginn seines Schaffens an wichtig, ablesbar etwa, wie Anja Schonlau (2005: 250–263) gezeigt hat, an der Herausstellung der Syphilisphobie des Christian Buddenbrook. Kaum weniger einschlägig und zumal für den Fall Nietzsche interessanter, weswegen wir auf sie erst in unserem Literaturbericht in Kapitel IV zu sprechen kommen werden: Manns als Vorstudien zu den Buddenbrooks (1901) zu lesende Novellen Der Tod (1897) (s. IV.2/4) und Der Weg zum Friedhof (1900) (s. IV.2/7) sowie, natürlich und von seiner Bedeutung für unser Thema her gar nicht zu unterschätzen: der geniale Roman Doktor Faustus (1947) (s. IV.2/43). Spannend an ihm: Nietzsches Syphilis wird hier am Exempel des Nietzsche-Double Adrian Leverkühn thematisiert, in der Absicht einer Allegorie auf den Untergang des NS-Regimes. Allegorie meint: Die um 1900 zumal in bürgerlichen Kreisen gängige Lesart von Nietzsches Syphilis als verdiente Gottesstrafe für diesen als Pastorensohn ins Rennen gegangenen Gottesleugner wird von Mann, um mehrere Stufen angehoben, in eine Lektion verwandelt in puncto Gottesstrafe für das deutsche Volk und dessen in seiner Hitlerverehrung sich als gotteslästerlich erweisende Hybris. Was aus diesem literarischen Experiment gelernt werden kann im Blick auf unser Thema, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. Begonnen sei mit einer Rechenaufgabe, einer solchen mit 478 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe
Deutsch- respektive Hitler-kundlichem Anteil, organisiert mittels der Frage: Wäre Nietzsche, wie der fingierte Leverkühn, 1885 geboren worden und, wie jener, am 25. August 1940 gestorben, also am 40. Todestag des ›echten‹ Nietzsche – dann, so darf man ziemlich sicher sein, wäre sein Tod kein natürlicher gewesen, sondern wohl eher einer vom Typ Euthanasie, gelesen als Strafe für den ›Verbrecher‹ (à la Spiethoff). Deutlicher: Nietzsche, mit dem Geburtsdatum des Leverkühn versehen, wäre vermutlich nicht genauso, aber auf ähnliche Weise zu Tode gekommen wie vergleichbare Paralytiker zu jener Zeit. Zu denken ist etwa, zumal hier die Lebensdaten jenen Leverkühns korrespondieren, an den Oldenburger Reichsstatthalter und NS-Gauleiter Carl Röver (1889–1942). Der allseits gerühmte Biograph von Hitlers Leibarzt Karl Brandt (1904–1948), Ulf Schmidt, attestierte Röver zwar noch 2007 ›nur‹ eine Paranoia, derentwegen er sich »immer unberechenbarer und irrationaler [verhielt].« Weiter: »Zwei Tage nachdem Brandt und de Crinis ihn aufgesucht hatten, starb er, was zu allerlei Verschwörungstheorien Anlass gab.« (Schmidt 2009: 140) Inzwischen, nach einem 2020 in der Zeitschrift für Sozialpädagogik erschienen Aufsatz von Ingo Harms, nimmt sich Schmidts Attribut »Verschwörungstheorien« als etwas voreilig aus, stellt sich der Fall Röver etwas komplizierter dar, etwa wie folgt: Röver, ein bis dato im NS-Sinne ›scharfer Hund‹, litt offenbar keineswegs nur an Paranoia, sondern allenfalls an einer solchen als Effekt seiner Syphilis. Als Indiz für deren tertiäres Stadium, die ausbrechende Paralyse, beschimpfte Röver plötzlich bei einer NS-Versammlung die Partei und den Führer. Die Folge: Fast postwendend geschah das, was Schmidt mit ›Aufsuchen‹ doch etwas arg bagatellisierte: Karl Brandt sowie der gleichfalls im Nürnberger Ärzteprozess zur Rechenschaft gezogene Charité-Neurologe Maximiliane de Crinis (1889–1945), beide von Hitler mit einer Art Lizenz zum Töten ausgestattet, betraten die Bühne und expedierten den randalierenden Syphilitiker Röver per Flugzeug und auf Führerbefehl in die Charité, um die Gattin einen Tag später, am 15. Mai 1942, in einem Kondolenzschreiben wissen zu lassen, ihr Mann sei leider einem Schlaganfall nach Lungenentzündung erlegen, in Übersetzung geredet: Zu reden ist vom Mord in der Charité an Röver, ein Dutzendverbrechen im NS-System, und doch, nach humanen Maßstäben, ein Verbrechen sondergleichen, das mit Staatsbegräbnis und offiziell bekundeter Trauer des Führers ganz nach Art der Mafia verbrämt wurde. (vgl. Harms 2020) Der Fall Carl Röver – auch deswegen gingen wir hier auf ihn ein 479 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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– hilft, nebenbei einen Konstruktionsfehler in Thomas Manns Roman Doktor Faustus aufzudecken: Nicht, dass Mann nicht gewusst hätte um die auch in diesem Roman thematisierte »Nicht-Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger.« (GW VI: 492) Das Problem ist vielmehr, dass Mann hieraus nichts folgerte für sein eigenes Projekt, deutlicher: Es war schlicht unrealistisch, dass jemand wie Leverkühn in der NS-Zeit eines natürlichen Todes hätte sterben dürfen, oder, wenn nicht dies, und Mann verwendete ja einige Energie darauf, Leverkühn ein Ende in NS-Krankenbetreuung zu ersparen: Es trägt ein wenig zur Bagatellisierung des NS-Elends bei, eine Handlung wie die in diesem grandiosen Roman vorgestellte als unter NS-Bedingungen möglich zu fingieren. Wichtiger an dieser Rechenaufgabe im Zusammenhang des vorliegenden Buches: Nietzsche fällt an sich, von den realen Lebensdaten her, unter das Siegel »Gnade der frühen Geburt« – ein Siegel, das sich, Nietzsches Rezeption durch den NS hinzugerechnet, letztlich als Ungnade erweist. Denn ohne Nietzsche als ihren Staatspilosophen hätte die NS-Herrschaft geistig recht ärmlich dagestanden, zumal nach den ganzen Bücherverbrennungen vom Mai 1933, die fast die gesamte linke Intellegentia zumal jüdischer Provenienz betraf, aber einen verschonte, nämlich Nietzsche. Seitdem haftet ihm, und das darf man wohl Ungnade nennen, der offenbar nicht mehr recht auszuwaschende Makel an, Nazi-Vorläufer gewesen zu sein, nicht zuletzt seiner Euthanasie-nahen Überlegungen halber – Überlegungen allerdings, die auch ihn, siehe Röver, ins vorzeitige Grab hätten bringen müssen. Deswegen können wir auch variieren: ›Gnade der frühen Geburt‹, die allerdings auf ein Problem hinweist, welches das NS-Bild Nietzsches vom Beginn bis zum Ende hin durchzog: Bloß nicht reden über Nietzsches Krankheit, bloß niemanden auf die Idee kommen lassen, dass Brandt und de Crinis etwa, in eine Zeitmaschine gesetzt, mit Nietzsche in den 1890er Jahren, hätten sie da schon etwas zu sagen gehabt, genauso verfahren wären, wie sie es 1942 mit Röver und mit Millionen ›Lebensunwerter‹ taten. Ein Beispiel gibt hier Aloisia Veit (1891–1940), eine entfernte Verwandte Hitlers, die, trotz banal-harmloser Diagnose 185, »wahrscheinlich am 6. Dezember 1940 185 »Sie sähe Gespenster und fange grundlos an zu weinen, notierte [1932] der Amtsarzt. […] 1938 bezeichnete sie sich als ›Kommunistin‹ und verweigerte, wieder einmal, die Nahrungsaufnahme. Aliosa Veit schwankte zwischen Unruhe und Erregung
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Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe
in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz ermordet wurde.« (Neumann / Eberle 2009: 41) Damit lässt sich, wie mir scheinen will, die NS-Theoriepolitik in puncto Nietzsche recht gut auf ihren eigentlichen Kern bringen, der lauten könnte, als Tagesparole: »Nazifizierung Nietzsches durch Entsyphilisierung und Verschweigen aller Probleme, die ihm sein Leib, besser wohl: sein Unterleib machte!« Beispiele hierfür, etwa am Exempel Heinrich Härtle (s. IV.2/38), werden wir noch zu diskutieren haben. Zunächst aber noch einmal zurück zum Deutschkunde-Anteil der eben diskutierten Rechenaufgabe. Denn die Frage bleibt natürlich: Wie waren Menschen möglich wie Hitler oder Brandt und de Crinis und die in die Zehntausenden gehenden willigen Helfer beim Millionenmord, die am Mittagstisch ihren blondgelockten Kindern wohlgefällig übers Haupt streicheln und am Nachmittag dem schwarzhaarigen Nachwuchs Lebensunwerter die Todesspritze verpassen? Wie kann es sein, dass ein Dreizehnjähriger der ›Fridays-for-future‹-Generation seinen Vater aufgebracht fragt, wie Hitler um alles in der Welt an die Macht kommen konnte, und ein Fünfzehnjähriger vor gut neunzig Jahren seinem Tagebuch den Jubel über diesen Gottgesandten anvertraute, beide hier Zitierten übrigens verwandt miteinander wie Enkel zum Großvater? Eine – längst gegebene – Antwort operiert mit der Vorstellung der schleichenden Machtergreifung in den Köpfen. Tatort: Der heimatliche Familientisch in irgendeinem Esszimmer im ›erwachenden‹ Deutschland des Jahres 1932. Im nicht gar so fiktiven Bericht der Cornelia Keller (Jg. 1926) liest sich dies beispielweise wie folgt: »Wenn sie bei Tisch von den Juden sprachen, hatte ich das Gefühl, als sprächen sie von etwas Gefährlichem, Bösen. Als wären sie so etwas wie die Hexen im Märchen. Nur, daß es die nicht wirklich gab. Das hatte Andi gesagt.« (Finck 1979: 37)
Andi irrte in einem Punkt: Ein gutes Jahrzehnt später wird es auch die Juden so gut wie nicht mehr geben. Unsere kleine Cornelia hingegen ist nun groß und dient als BDM-Mädchen im Osten. Aber auch im Westen geht es jetzt zur Sache, wenngleich es zwischen den Schlachten durchaus auch einmal wieder gemütlich werden kann, wie das
einerseits und ›nett‹ kollegialer Tätigkeit in der Nähstube der Anstalt andererseits.« (Neumann / Eberle 2009: 40 f.)
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
folgende Zitat aus dem Bericht eines (vormals) Jugendbewegten von einer Einkaufstour im besetzten Frankreich zeigt: »Für meinen Stammhalter erstehe ich französische Zinnsoldaten; denn er kann ja im Zeitalter des gesamtvölkischen Zusammenschlusses mit seinen deutschen Zinnsoldaten nicht Bürgerkrieg spielen, er soll Völkerschlachten schlagen können.« (Pleyer 1943: 135)
Spätestens mit diesem Zitat aus dem blutrünstigen, kriegsmetaphysischen Bestseller Volk im Feld (1943) aus der Feder des der bündischen Reichsschaft entstammenden (späteren) NS-Fanatikers (und Innsbrucker Professors) Kleo Pleyer (1898–1942) wird es bitter ernst (vgl. Niemeyer 2013a: 173 f.) – und wir betreten die Welt der von jugendbewegten Nazis selbst geschaffenen Mythen, hier: Wir begegnen dem Mythos, dem deutschen Volk gebühre aus rassenhygienischen Gründen ein Recht auf Weltherrschaft. Wie das Ganze nach 1945 weiterging (zum Folgenden Niemeyer 2015: 203 ff.), im schlimmsten Fall: am Familientisch im Esszimmer ›Ewiggestriger‹, lehrt der Fall des NS-Schriftstellers Hans Grimm (1875–1959). In seinem Kolonialhandbuch Afrikafahrt West (1913) – um nur dieses seiner NS-vorbereitenden Bücher zu nennen – hatte er es noch zum Verbrechen vom Typ ›Rassenschande‹ erklärt, »wenn ein weißes Weib mit einem Farbigen in Geschlechtsverkehr« (zit. n. Hartmann et al. 2016: 656) trete. Über vierzig Jahre später, als alles vorbei ist, bringt es der nämliche Herr in seiner unsäglichen Rechtfertigungsschrift Warum – Woher – Aber Wohin? (1954) fertig, formal in Gestalt von aufklärenden Briefen an Sohn wie Tochter, den Antisemitismus als berechtigte Notwehr des »Wirtvolkes« gegen eine »Fremdkraft« (Grimm 1954: 185) zu verharmlosen. Damit scheint dann alles andere vernachlässigbar: etwa die Zahl von 6 Millionen getöteter Juden, die Grimm als »ungeheuerliche Übertreibung« (ebd.: 198) geißelt, des Weiteren leugnend, »daß das deutsche Volk vom Judenmorde in irgendeinem Ausmaße wußte.« (ebd.: 203) Wer bisher nicht wusste, wie es zu Gaulands ›Vogelschiss‹-Mär kam – hier, in diesen Erläuterungen eines unverbesserlichen Nazis, findet er die Wege dahin substantiell vorgezeichnet. Weiteres lässt sich Grimms Kollegen und Gesinnungsgenossen Will Vesper (1882–1962) ablauschen, der seinem Filius 186 am Mittagstisch die Sache in etwa so erklärte: 186
Dass es sich bei diesem um Bernward Vesper (1938–1971) handelt, dem Vorläufer
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Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe
»Hitler ist zum Krieg gezwungen worden, das Weltjudentum hat ihm schon 1933 den Krieg erklärt […]. Die Massaker der Polen 187 konnte sich keine Nation, die etwas auf sich hält, gefallen lassen.« (zit. n. Vesper 1981: 144) Und: »Allein der Verrat hat zur Niederlage geführt […]. Schneeketten wurden an die deutschen Truppen nach Afrika geschickt, Tropenhelme erreichten die Eismeerfront! Diese Verräter, die Millionen auf dem Gewissen haben, verdienen die Todesstrafe!« (ebd.: 460) Sowie: »Es gab keine KZ’s, außer in England und in Süd-Afrika, wo die Engländer für die Buren ein KZ bauten. Die Photos in den KZ’s sind gestellt, man hat die Goldzähne aus dem Safe der deutschen Reichsbank nach Belsen fahren lassen, um sie dort zu photographieren. Wenn es Tote im KZ gab, dann deswegen, weil die Kapos, die zumeist Kommunisten waren, ein bestialisches Regiment führten.« (ebd.: 146)
Man sieht hier: Die Antwort, Hitler sei verrückt gewesen, reicht nicht mehr aus – hier, wo auch die Verrücktheit Jener zur Debatte steht, die Hitler gewählt und umjubelt hatten und allen ihm zur Last gelegten Verbrechen zum Trotz ihren Kindern noch 1959/60 das Blaue vom Himmel meinten vorlügen zu müssen, als gelte es, Nietzsches Aphorismus zu beglaubigen: »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.« (V: 100)
Die vorstehenden Beispiele zeigen zumindest vom Ansatz her, wie sich der Irrsinn vervielfältigte: Pleyer, Grimm, Vesper, Dwinger – sie alle erwiesen sich als komplett unfähig, Erfahrungen als korrigierende zuzulassen und nicht nur als sie bestätigende, sie waren und blieben, mit Nietzsche geredet, ›Menschen des Ressentiment‹, die im Verhalten untereinander, am Familientisch also, voll »Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen«, die aber »nach Aussen hin, dort wo das Fremde, d i e Fremde beginnt, nicht viel besser [sind] als losgelassne Raubthiere.« (V: 274) Wie es sein kann, dass sich so viele und in jeder nachwachsenden Generation immer wieder neu der ihnen eigentlich von Geburt anhaftenden Neugier auf Alles und Jedes RAF-Terroristen Andreas Baader (1943–1977) in der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin (1940–1977) Gunst, steht auf einem anderen, hier nicht zu beschreibenden Blatt. (vgl. Niemeyer 2015: 207 ff.; Aßmann 2015) 187 Will Vesper bezog sich in dieser Frage offenbar auf die von seinem Gesinnungsgenossen (und Berufskollegen) Eugen Erich Dwinger (1898–1981) stammenden Mär Der Tod in Polen (1940), die anschaulich macht, was ›Lügenpresse‹, von AfDlern den ihnen nicht genehmen Nachrichtenmagazinen und -sendungen vorgehalten, im schlimmsten Fall vermochte.
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
den schrittweise entledigen und eine von Ressentiments getragene autoritative Persönlichkeitsstruktur annehmen, ist unter dem Gebot Adornos, dass Auschwitz und so etwas ähnliches wie Auschwitz nie wieder sein dürfe, seit 1945 vielfach thematisiert worden. (vgl. Niemeyer 2017b) Hiervon sei an dieser Stelle nicht weiter gehandelt. Ersatzweise muss der Befund genügen, dass schon Nietzsche das Problem selbst als ein psychologisch aufzuklärendes erkannt hat, auch, weil er von ihm in seiner Zeit als Wagnerianer selbst, gleichsam als Mittäter, betroffen war. So empörte sich Nietzsche 1886, jenseits seines Bösen hellsichtig geworden, darüber, dass die Rede vom Deutschtum und dessen fernere Entwicklung zu einem »regierenden Begriff« werde, »der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen.« (V: 185) So betrachtet bleibt nur, vom Fall Nietzsche ausgehend, der Trost in Richtung der ›Vogelschiss‹-Rhetoriker à la Gauland: Umkehr ist möglich, Heilung nicht ausgeschlossen – allerdings mit dem Vorbehalt, dass Unsinnsschwätzer wie diese mit vergleichbar wenig Nachsicht rechnen dürfen wie die Grimms dieser Welt. Zumal einem jeden inzwischen das Schockierende am Dritten Reich in Gestalt riesiger Leichenberge offen vor Augen stehen müsste und niemand mehr sich damit herausreden kann, er wisse von nichts, deutlicher: Er wisse nichts vom Nichts! Gleichfalls nicht zur Exkulpation geeignet, aber wichtig zu wissen: Die Deutschen waren seit den 1870er Jahren über Jahrzehnte hinweg vorsozialisiert worden durch ›Hitlervorläufer‹ aller Couleur. Zu ihnen gehörte, beispielsweise, auch der ev. Theologe und Orientalist Paul de Lagarde (1827–1891), dessen Deutsche Schriften (1878– 81) Nietzsche 1885/86 mit dem Wort bedachte: »– man muß schon bis zum letzten Wagner und seinen Bayreuther Blättern hinuntersteigen um einem ähnlichen Sumpf von Anmaaßung, Unklarheit und Deutschthümelei zu begegnen.« (XII: 55)
Aber nicht nur um Lagarde war es Nietzsche zu tun, sondern auch um seinen Schwager Bernhard Förster, dessen berühmt-berüchtigte Antisemitenpetition von 1887 Nietzsches Schwester im November 1933 Hitler überreichte mit dem Vermerk, sie enthalte »bereits alle die Forderungen in der Judenfrage […], die in neuerer Zeit vom Nationalsozialismus erhoben […] worden sind.« (zit. n. Hoffmann 1991: 110) In der Tat: Auch in Försters im Januar 1887 in der Antisemitischen Correspondenz veröffentlichten Pamphlet Unsere Arbeit, 484 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe
unsere Ziele! wird der Jude bevorzugt mit »Unkraut unter dem dichten Schatten gesunder Bäume« verglichen, auch mit dem »Fuchs«, der genauso wenig in den »Gänsestall« gehöre »wie der Jude in das Deutsche Reich.« (KGB III 7/3.2: 889 f.) – Formulierungen, um die Nietzsche wusste und die er verachtete, was erklären könnte, dass er seinen Schwager in einem für Ecce homo gedachten und dann doch nicht verwendeten Aufschrieb mit den Worten ad acta legte: »lange Beine, blond (Strohkopf!) ›Rassendeutscher‹, mit Gift und Galle gegen Alles anrennend, was Geist und Zukunft verbürgt: Judenthum, Vivisection usw.« (XIV: 506)
Und doch, wir haben es oben im Zusammenhang des Konstruktionsfehlers im Doktor Faustus bereits angedeutet: Es war der nämliche Nietzsche, der beinahe zeitgleich seinerseits, gleichfalls mit ›Gift und Galle‹, gegen alles anschrieb, was krank war, etwa unter dem Zwischentitel Moral für Ärzte in Götzen-Dämmerung – eine »Verirrung« (GW IX: 702), wie Thomas Mann 1947 vergleichsweise mild tadelte, hinzufügend, derlei sei »in die Theorie und Praxis des Nationalsozialismus übergegangen.« (GW IX: 703) In der Tat und um hier die Absurdität dessen zu betonen: Aus dieser letzten von Nietzsche noch zu Ende redigierten Schrift, die im Januar 1889 in die Buchläden kam, konnten Ärzte erfahren, »nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis E k e l vor ihrem Patienten« (VI: 134) sei das Gebot der Stunde – also auch im Blick auf einen Patienten wie Nietzsche, der dieser mit Erscheinen dieses Buches infolge seines Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 war. Schon dies zeigt die ganze Tragik dieses Vorgangs. Und tatsächlich – um noch einmal auf Manns 1947er Wertung zurückzukommen – offenbart der in Rede stehende Abschnitt Nazijargon avant la lettre, der nach 1933 gefeiert wurde und den man, nach 1945, durchaus nicht zu Unrecht, der Rechnung ad Nietzsche einfügte, »die geistigen Wurzeln so vieler grauenhafter Verbrechen des Dritten Reiches« (Algermissen 1947: 23) Trägt aber – der Beantwortung dieser und anderer, ähnlicher Fragen 188 wegen ist das vorliegende Buch geschrieben worden – Nietzsche Schuld an diesen Sätzen im Sinne strafrechtlicher Verantwortung? Oder hat es, im Sinne einer auf ihn zurückgehenden Wendung (» [ D ] u w i r s t g e 188 Etwa derjenigen Bettina Wahrig-Schmidts, die dem eben gegeben Zitat die Frage nachfolgen ließ: »[M]acht es einen Unterschied, daß Nietzsche die politische Bewegung, die dem nationalsozialistischen Massenmord den Weg bereitete, heftig bekämpfte […]?« (Wahrig-Schmidt 1988: 456)
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t h a n ! in jedem Augenblicke!«; III: 115), aus ihm gesprochen, ja: bitter und verzweifelt aus ihm geklagt, im Wissen um eine Krankheit, deren schreckliche fernere Folgen ihm hin und wieder glasklar vor Augen standen? Belassen wir es vorerst bei dieser (rhetorischen) Frage, um uns, in exemplarischer Absicht, einem Nietzschejünger der fragwürdigen Art zuzuwenden, den gleichfalls Biographisches umtrieb bei seinem Versuch einer Weiterentwicklung der von Nietzsche in Götzen-Dämmerung explizit gemachten ›Moral zu Ärzte‹ : Adolf Ploetz (1860– 1940), kein Geringerer also als der Begründer der deutschen Rassenhygiene, den Hitler 1936 zum Professor ernennen sollte, weil er »den Aufbau des Dritten Reiches in hohem Maße beeinflußt [habe].« (zit. n. Klee 2003: 466) Wohl wahr, wobei an Ploetz vor allem die für einen Arzt erstaunlich aggressive Rhetorik auffällig ist, zutage tretend schon im ersten Teil seiner Grundlinien einer Rassen-Hygiene (1895). So lesen wir hier, als gelte es, den Nietzsche der Götzen-Dämmerung zu übertrumpfen, vom »Ausmerzen der Neugeborenen«, etwa »bei Zwillingen«, aber »so gut wie immer und principiell bei allen Kindern […], die nach der sechsten Geburt oder nach dem 45. Jahr der Mutter, bezw. dem 50. Jahr des Vaters […] geboren werden.« Des Weiteren plädiert Ploetz für den Fall, »dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist«, für einen »sanften Tod […], sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium.« (Ploetz 1895: 144 f.) Wer sich an dieser Stelle verdutzt die Augen reibt und nicht glauben will, dass dies 1895 – und nicht etwa nach 1933 – zu Papier gebracht wurde, hat möglicherweise, wie im Vorhergehenden schon angedeutet, falsche Vorstellungen über die Vorgeschichte des Nationalsozialismus und insbesondere Nietzsches Anteil an ihr. Deswegen sei ihm als weiteres einschlägiges Therapeutikum im Blick auf diesen seinen Irrtum noch erzählt, dass auch die Forderung nach der »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« nicht erst nach 1933 in Deutschland en vogue war, sondern bereits 1920, etwa als Titel der Publikation eines Juristen und eines Psychiaters, die der wirtschaftlichen Weltkriegsfolgen wegen übereinkamen, die »Defektmenschen von der Fortpflanzung auszuschließen« und nicht länger zu investieren in die Erhaltung der »Schwächlinge aller Sorten« (Binding / Hoche 1920: 54 f.) – ein, wie man hier ergänzen muss, ganz alter Hut in Rückerinnerung an Alfred Ploetz, der schon ein Vierteljahrhundert zuvor die »Armut mit ihrem ausjätenden Schrecken« lobend erwähnt und also dafür plädiert hatte, dass »Armen-Unter486 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Nietzsches Syphilis – eine Gottesstrafe
stützung […] nur minimal sein« dürfe und »andere ›humane Gefühlsduseleien‹ wie Pflege der Kranken, der Blinden, Taubstummen, überhaupt der Schwachen […] die natürliche Zuchtwahl« (Ploetz 1895: 146 f.) verhinderten oder verzögerten. Derlei, so Stefan Breuer, verbinde Ploetz mit Nietzsche, der gleichfalls »ärztliche Ehezeugnisse, Zeugungsverbote, Kastrationen und sogar physische Vernichtung für die ›Mißratenen‹ fordert[e] und zugleich die Züchtung eines neuen Adels verlangt[e].« (Breuer 2001: 239) So ähnlich sah dies offenbar auch Ploetz, der um die meisten der von Breuer gemeinten Dokumente, insbesondere um Förster-Nietzsches Nachlasskompilation Der Wille zur Macht (1906), noch nicht wissen konnte, mit Ausnahme natürlich von Götzen-Dämmerung sowie dem seinem Buch als Motto vorangestellten Zarathustra-Zitat: »Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Ueberart. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ›Alles für mich!‹« (zit. n. Ploetz 1895: I)
Die Frage liegt hiermit nahe: Welches Grauen war es genau, von dem Nietzsche umgetrieben wurde in Sachen des ihm anhaftenden Entartenden? Und: Welches Recht kommt Breuers Positivsetzung von Ploetz’ Nietzsches-Anleihe zu? Zunächst freilich wollen wir ein Zwischenresümee sichern bezogen auf das bisher Vorgetragene. Wichtig dabei, im Blick auf die bisher besichtigten Hitlervorläufer und Nietzsches Haltung ihnen gegenüber: Nietzsche erwies sich – der Fall Ploetz kam für Nietzsche zu spät, muss also aus dieser Rechnung herausgehalten werden – als weitgehend immun, anders als seine Schwester, die erst ihrem Gatten Bernhard Förster (1845–1889), einem rassistischen und antisemitischen Gymnasiallehrer und Kolonialisator (s. Nlex2 [Diethe]: 109 f.), huldigte und später Mussolini sowie Hitler, als gelte es, das Vermächtnis ihres 1889 aus dem Leben geschiedenen Gatten zu sichern. Aus welchem Grund Nietzsche einen anderen, seinen Weg zu gehen und durchzuhalten verstand, hat uns andernorts beschäftigt, inklusive der These, dass ihm seine Wagnerabhängigkeit lehrreich war, eine Art Anti-Fanatismus-Kur in Angriff zu nehmen – die er dann allerdings, erkennbar verfrüht, abbrach. (vgl. Niemeyer 2013: 77 ff.) Hier soll es nur um die Folgerung gehen, dass es gute Gründe gibt, zwischen Rechts- und Linksnietzscheanismus zu trennen. Nietzsche dürfte, seiner unverstellten Intention nach, eher dem letztgenannten zugeneigt haben, gleichsam als Effekt seiner Reaktion auf den zu sei487 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
ner Zeit all überall sichtbaren Rechts-Fanatismus. Ähnliches – um noch ein Beispiel zu geben – gilt wohl für Albert Camus, etwa in der Linie seiner von Michel Onfray betonten Zielsetzung, »der Schwere [lies, mit Zarathustra: dem ›Geist der Schwere‹] nicht nachzugeben.« (Onfray 2013: 126) Die Regel hingegen, mit der Vokabel Rechtsnietzscheanismus umschreibbar, tritt eher am Exempel seiner Schwester zutage. Ihr war denn auch der von den radikal Rechten nach 1918 gezielt gesteuerten Empörung über den ›Versailler Schandfrieden‹ nicht fern. Kurz: Hitlervorläufer konnten nun mit großer Aufmerksamkeit rechnen, ebenso wie ein Hassprediger vom Format Hitlers. Schleichend begann sich die Meinung durchsetzen, man könne es ja einfach einmal mit diesem Schreihals versuchen, also testen, ob er Wort halte oder doch nur ein Schaumschläger sei. Wichtig dabei: Hitler, dies weiß inzwischen fast jeder Gymnasiast – ob trotz oder wegen Google, bleibe hier dahingestellt –, brach nicht wie aus dem Nichts kommend über die Deutschen herein, im Gegenteil: Über Jahrzehnte hinweg hatte sich im deutschen Sprachraum geistig vorbereitet, was nach 1933 politische Gestalt gewann und die europäische Zivilisation in wenigen Jahren an ihren Abgrund führen sollte. Wie weit und ausufernd das Feld der mit dem Titel ›völkische Bewegung‹ belegbaren Nazi-Ideologie avant la lettre war und wer alles auf ihm zu ackern sich bemühte, ist in den letzten Jahren deutlicher geworden, im Gegenzug zu einer bis dato dominierenden, auf Hitler als Urschurke abstellenden Personengeschichte. (vgl. etwa Puschner 2001) Letztere ließ – neben anderen Versäumnissen – kaum Platz für eine zureichende Einschätzung von Hitlervorläufern und damit auch: für die Würdigung der Einschätzung selbiger durch Nietzsche. Entsprechend gilt vielen Historikern und selbst Nietzscheforschern wie etwa dem Germanisten Jochen Schmidt (2016) Nietzsche nach wie vor seinerseits als Hitlervorläufer, gleichsam als Nachklapp zu einer diesbezüglich fatalen, in der NS-Zeit unter dem Stichwort »Nazifizierung Nietzsches« abzuspeichernden Rezeptionsgeschichte (vgl. Niemeyer 2019: 326 ff.). Sie gewann diese ihre Charakteristik infolge der Editionstätigkeit von Nietzsches Schwester, wie am Beispiel des Hitlervorläufers Theodor Fritsch (1852–1933) zu zeigen, etwas ausführlicher geredet: Wie an Hand der von ihr gezielt ignorierten Quellen für eine angemessene Würdigung der vernichtenden Fritsch-Kritik Nietzsches gezeigt wurde. (ebd.: 249 ff.) Diesem Komplex gehören auch die in der Nietzscheforschung sowie in der NS-bezüglichen Historiographie gar nicht oder nur am Rande gewür488 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
digten Gründe zu, die Nietzsche 1886, also im unmittelbaren Vorfeld seiner Fritsch-Kritik, Anlass gaben für seine Forderung, die »antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen« (V: 623) – wie, in diesem Fall, Heinrich von Treitschke (1834–1896), Urheber der nach 1933 von Julius Streicher (1885–1946) für dessen antisemitische Hetzschrift Der Stürmer adaptierten Dauer-Schlagzeile: »Die Juden sind unser Unglück!« (vgl. NLex2 [Niemeyer]: 378) Dass es Nietzsche ernst war mit diesem seinem Anti-Antisemitismus (vgl. hierzu Niemeyer 2011: 126 ff.), zeigt zuletzt sein Vorsatz vom Oktober-November 1888, er müsse »dem Antisemitismus einen schonungslosen Krieg mache[n], – er ist einer der krankhaftesten Auswüchse der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen Selbst-Anglotzung …« (XIII: 623). Um zur im Titel verborgenen Pointe zu kommen: Hitler dürfte, hätte er um all diese Zitate und Zusammenhänge gewusst – Nietzsches Schwester sorgte dafür, dass dem nicht so war –, gar nicht oft genug sein Glück bejubeln können, dass die Syphilis diesen seinen ärgsten Widersacher 1889, im Jahr seiner Geburt also, verstummen ließ. Nicht auszudenken, was aus ihm, Hitler – Nietzsches ferneres Schicksal hier als positiv gesetzt – geworden wäre, hätte Nietzsche nicht an Syphilis gelitten und sich auch ansonsten als vergleichbar robust und langlebig erwiesen wie seine Schwester und, anders als diese, Hitlers Aufstieg mit Kommentaren der zuletzt erwähnten Art begleitet.
3. Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag« Es kam, wie wir alle wissen, leider anders, mit Nietzsche, aber auch mit Hitler: Schritt für Schritt setzte »der Führer« ab 1933 um, was er 1925/26 angekündigt hatte. »Besonders der Syphilis gegenüber kann man das Verhalten der Volks- und Staatsleitung nur mit vollkommener Kapitulation bezeichnen« (Hitler 361933: 269), heißt es hierzu in Mein Kampf, im Rückblick auf Vergangenes 189, ehe dann Klartext folgt im Blick auf Kommendes. Details hierzu folgen, zunächst hier nur die These als solche, die ganz schlicht lautet, nämlich dahingehend, dass von der Syphilis ausgehend ein gerader Weg führt bis 189 Die kritische Edition von Mein Kampf vermerkt hierzu als Hitlers Argumentationshintergrund 713.491 Fälle venerischer Erkrankungen (davon 30 % Syphilis) bei deutschen Weltkriegssoldaten. (vgl. Hartmann et al. 2016: 650)
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
nach Ausschwitz (jedenfalls der perfiden Denkweise Hitlers zufolge). Keine ganz neue Idee, wie zuzugestehen ist, unter Verweis auf den studierten Mediziner und (vormaligen) Freud-Schüler Wilhelm Reich (1897–1957), der in seinem legendären Buch Massenpsychologie des Faschismus (1933) das wichtige Kapitel Die Rassetheorie nicht von ungefähr mit der Darlegung von Hitlers Auffassungen zur Syphilis – nach Mein Kampf – und ihrer massenpschologischen respektive propagandistischen Relevanz eröffnete. (vgl. Reich 1933 [2020]: 86 ff.) 190 Die Syphilis war, in der insoweit hier geteilten Sicht Reichs, ein die Masse ängstigendes Thema, das sie glauben machte, nur durchgreifende Maßnahmen könnten ferneres Unheil verhüten. Dabei war es nicht die Syphilis an sich, die Hitlers zentralen Aufreger bildete. Es war vielmehr die Angst vor ihr, also die Syphilophobie, die noch von Alfred Adler (1911) aufgrund eigener klinischer Beobachtung als eigenes Krankheitsbild gelistet wurde. Zwanzig Jahre darauf wurde dieser Terminus von Adlers vormaligem Idol Sigmund Freud (GW XVI: 95) benutzt, der in seiner Praxis ähnliches beobachtete und beispielsweise 1905 über einen (weiblichen) Fall von Erbsyphilis berichtet hatte. (GW V: 326 f.; 138) Heutzutage wird die Syphilophobie von Psychiatern als krankhafte Neigung definiert, jede Störung im Allgemeinempfinden als Folge einer syphilitischen Infektion zu deuten, wird in der Folge nicht in diesem streng klinischen Sinn verstanden werden und erlaubt damit den Schluss, auch eine stellvertretend er190 Als Sohn wohlhabender assimilierter Juden im galizischen Dobzau geboren (zum Folgenden auch Niemeyer 2019a: 319 ff. ; 2019d) und über seinen Mitstudenten Otto Fenichel (1897–1946) zur Psychoanalyse findend und dort zunächst hoffnungsfroh als Freud-Epigone begrüßt, wurde Reich Anfang der Dreißiger Jahr aus hier nicht interessierenden Gründen (vgl. Sigusch 2008: 73) sowohl aus der KPD als auch aus psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen. Auf der Flucht vor den Nazis schloss er Freundschaft mit Alexander Sutherland Neill, also mit der – ab 1970 – Ikone in Sachen anti-autoritärer Erziehung schlechthin. Was Reich aber endgültig in den Himmel der 68er aufsteigen ließ, war neben der 1971er Fassung seiner hier in Rede stehenden Massenpsychologie die ursprünglich in Kopenhagen erschienene Exil-Streitschrift Die Sexualität im Kulturkampf (1936), die unter dem marktreißerischen, in die Zeit passenden Titel Die sexuelle Revolution (1971) eine fürwahr fulminante Zweitkarriere hinlegte. Förderlich waren dabei fraglos auch Wiedergutmachungsgelüste im Rückblick auf die Hexenjagd auf ihn im US-Exil infolge seiner (angeblichen) Entdeckung der ›Lebensenergie‹ Orgon 1940, die ihm Anlass wurde zur Entwicklung einer Orgontherapie nach Maßgabe seiner Überzeugung, »dass alle seelischen Störungen, Neurosen wie Psychosen, auf eine fehlende oder fehlerhafte Abfuhr der Sexualspannungen im Orgasmus zurückzuführen seien.« (Sigusch 2008: 75)
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Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
lebte Sorge um das Wohlbefinden als Effekt einer Syphilophobie subsumiert werden kann. Ein berühmtes Beispiel hierfür, das zugleich deutlich macht, dass wir es nicht nur mit einem typischen ›Männerproblem‹ zu tun haben, ist der Fall Katharina II. (»die Große«) (1729– 1796). 191 Die Syphilophobie kann aber auch – und damit kommt der Hitler/Nietzsche-Komplex ins Spiel – anti-sozialpädagogische Programmatiken freisetzen, etwa in Richtung Zeugungsverhinderung oder gar Euthanasie. Soweit eine erste terminologische Klärung, ergänzt vielleicht noch um den Hinweis, dass das Vorliegen einer Syphilis nicht notwendig gegen eine zusätzliche Syphilophobie sprechen muss – dann nämlich, wenn, wie im Fall Nietzsche wahrscheinlich, das Wissen um die eigene Syphilis verdrängt wird. Derartige Verdrängungen dürften eher die Regel denn die Ausnahme sein, was sich vor allem mit dem schlechten Image der ›Lustseuche‹ zumal in christlich geprägten und damit sexualfeindlichen Kulturen erklären dürfte. Die selbstbewusst agierende Zarin Katharina die Große steht denn auch eher für eine Ausnahme. Die Regel trifft wohl eher Sander L. Gilman mit seinem emphatischen Blick für die infizierte Frau, zumeist eine Hure, die mitsamt ihres ferneren Schicksals auf der Strecke blieb (und bleibt), begleitet von einem abwertenden (Männer-) Blick auf sie als infizierende Frau, die Männer qua Ansteckung ›entmanne‹, also unfähig mache, »ihre männliche Funktion in der Gesellschaft zu erfüllen.« Die Größenordnung dieses Problems veranlasste Gilman gar dazu, das 19. Jahrhundert »Zeitalter der Syphilophobie« zu heißen, für das der Zusammenhang »zwischen einem Leben sexueller Ausschweifung und der schließlichen Bestrafung für solch ein Leben durch Wahnsinn und Tod als Folge von Syphilis« (Gilman 1993/94: 234 f.) sich gleichsam von selbst verstünde. 191 In Medizingeschichten wird sie die »berühmteste ›Syphilis-Phobikerin‹ der Weltgeschichte« geheißen, weil sie aus Angst vor Ansteckung angeblich »die von ihr auserwählten Liebhaber zuerst von einem ›Komitee‹ von sechs Hofdamen, genannt ›Les épreuves‹ (Prüferinnen), ein halbes Jahr lang ausprobieren [ließ], um sicher zu sein, dass jene nicht die Lustseuche oder ein anderes venerisches Übel hatten.« (Bäumler 1976: 82) Möglicherweise erfolglos, wie man hinzusetzen muss, denn trotz der Todesursache »Gehirnblutung, vermutlich als Folge hohen Blutdrucks und einer Arterioskerose« (ebd.: 83), gibt es Hinweise, die Zarin habe zusätzlich an Syphilis gelitten – übrigens auch Zar Peter der Große (1672–1725). Gewisser als dies ist, dass Katharina II. »in Petersburg das erste Spezialhospital der Welt zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten errichten [ließ]« (ebd.: 82) – gleichsam als positiv zu bewertender Nebeneffekt ihrer Syphilophobie.
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
Wichtig ist dabei der nächste Schritt, der von Deborah Hayden: »Syphilis must then be considered in our understanding of Hitler’s career, his motivations, the events of World War II, and even the Holocaust.« (Hayden 2003: 251) Ausgangspunkt bei Ableitungen wie diesen: Hitlers Hetzschrift Mein Kampf (1925), wo es heißt, die »Versyphilitisierung des Volkskörpers« sei bedingt durch »Prostituierung der Liebe« (Hitler 361933: 269 ff.) und werde vor allem von Juden unters (deutsche) Volk gebracht. (vgl. Gilman 1993/94: 102 ff.; Henschel 2008) Dies vorausgesetzt, ist die Frage, ob Hitler Syphilis hatte, eigentlich zweitrangig und führt in spekulative Bereiche. So ist, obgleich der Wassermann-Test und vergleichbare Tests bei Hitler negativ ausfielen (Redlich 2016 [1998]: 275), einiges fragwürdig an Hitlers Biographie, etwa, ad Hitlers Mutter 192, so der Wartime Report unter dem Stichwort »sypholophobia«: »When we consider that Klara Poelzl may have lost one child before her marriage to Alois Hitler, another son born in 1885 died in 1887, another son born in 1894 died in 1900, and a girl born in 1886 died in 1888, one has grounds to question the purity of the blond.« (Langer 1972: 105) Hinzu kommen, was Hitler selbst angeht, seit 1945 zahllose einschlägige Gerüchte, basierend etwa auf einem (allerdings wenig glaubwürdigen) Bericht eines Zeitzeugen der Wiener Männerheim-Szene um 1907/ 08, Hitler habe sich »in der Leopoldstadt bei einer Hure mit Syphilis angesteckt.« (Hamann 1996: 276) Denken könnte man auch an den ›Nazijäger‹ Simon Wiesenthal, der laut Fritz Redlich noch in den 1980er Jahren, allerdings ohne Beleg, mutmaßte, »Hitler habe sich 1909 oder 1910 (als er sich im Wiener Männerheim aufhielt), eine syphilitische Infektion von einer […] jüdischen Prostituierten zugezogen.« (Redlich 2016 [1998]: 274) Auf der nämlichen Seite erzählt Redlich über drei Ecken von einem gewissen »Dr. Odo Spiethof«, eine Zeile später auch »Spiethoff« geschrieben, einem »Professor für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Jena« 193, der Hitler behandelt haben soll und der, um diese Spur zu verwischen, seine medizinische Datei Philipp Bouhler (1899–1945), dem Leiter der Reichskanzlei, 192 Nicht in Betracht gezogen sei hier der vor allem von Haydens Idol Rudolf Binion vorgenommene Versuch der Ableitung des Holocaust aus Hitlers Enttäuschung über den jüdischen Hausarzt seiner Mutter, die einem Karzinom erlag, ohne dass Behandlungsfehler nachweisbar sind noch eine gegen den Hausarzt gerichtete Empörung des Sohnes. (vgl. Redlich 2016 [1998]: 20 f.) 193 Gemeint ist offenbar der einleitend dieses Kapitels erwähnte NS-Arzt Bodo Spiethoff.
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Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
übergeben musste – Gerüchte allerdings, die 1995 durch den Sohn des Professors dementiert worden seien. (ebd.) Vergleichbar unzuverlässig ist schließlich der Bericht eines Masseurs von Heinrich Himmler (1900–1945), der dessen Meinung kolportierte, Hitler leide an progressiver Paralyse – eine Meinung, die nach Redlich, sollte sie zuverlässig erinnert worden sein, eher etwas aussagt über Himmlers Ambitionen denn über Hitlers Geschlechtskrankheit. (ebd.) Sicher ist nur, dass nichts sicher ist, also eine Syphilis zumindest »nicht völlig ausgeschlossen werden [kann]« (Neumann/Eberle 2009: 51), ebenso wenig wie eine Syphilophobie, »vom [nach Karl Brandt] führenden Psychiater der NS-Zeit« (Klee 2003: 84), Oswald Bumke (1877– 1950), definiert dahingehend, dass bei hypochondrisch Veranlagten »die Symptome, die nach der Meinung des Kranken die Lues, die Tabes oder die Paralyse anzeigen könnten, […] im Mittelpunkt all seiner Gedanken [stehen].« (Bumke 61944: 177) Redlich hierzu, knapp: »Hitler hatte Angst vor Syphilis.« Mehr als dies: Möglicherweise glaubte er – ähnlich wie Nietzsche, so muss hier hinzugesetzt werden –, »sein Vater sei syphilitisch gewesen, und er selbst leide an der ›ererbten‹ Krankheit […] und daß dies bei ihm zu degenerativen Veränderungen geführt haben könnte.« (Redlich 2016 [1998]: 275) Daraus indes folgt: nichts, jedenfalls keine Exkulpation Hitlers wegen Auschwitz oder wegen der den Weg nach Auschwitz ausschildernden Gesetzgebung. Als erstes hat man dabei an das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« von 1933/34 zu denken. Es gilt als »Schubladengesetz der Weimarer Republik […] unter Hinzufügung des Zwangsparagraphen« (Baader 2018: 199) – eine Bezeichnung, die beinahe den Rückschluss erlaubt, der Gesetzgeber habe aus Nietzsches Schublade sich bedient. So ähnlich sah dies jedenfalls Nietzsches Schwester in ihrem allerletzten, Hitler dedizierten Buch von 1935. In welchem sie Nietzsche mit Seitenblick auf eine in seinen »Privatnotizen« erhalten gebliebene Rede mit den Worten als in die neue Zeit passend anzupreisen sucht wie: »[M]it dem höchsten Erstaunen erkennen wir, daß sie der Gesetzgebung des neuen Reichs vorgeschwebt haben muß, so wunderbar treffen die Anschauungen Nietzsche’s mit den gegenwärtigen Gesetzen zusammen.« (FörsterNietzsche 1935: 169)
Tatsächlich wird der Begriff ›Schublade‹ nicht explizit auf Nietzsche bezogen, sondern auf die primär sozialhygienisch aufgeladenen De493 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
batten der Weimarer Zeit um Ehetauglichkeit und Geburtenkontrolle, die sich freilich noch deutlich von der Radikalität unterscheiden, die Hitler während seiner Landsberger Festungshaft zu Papier brachte, wie exemplarisch der Satz belegen mag: »We r k ö r p e r l i c h u n d g e i s t i g n i c h t g e s u n d u n d w ü r d i g i s t , darf sein Leid nicht im Körper eines anderen verewigen. Der völkische Staat hat hier die ungeheuerste Erziehungsarbeit zu leisten […]. Er muß ohne Rücksicht auf Ve r s t ä n d n i s o d e r U n v e r s t ä n d n i s , B i l l i g u n g o d e r M i ß b i l l i g u n g i n d i e s e m S i n n e h a n d e l n . « (Hitler 361933: 447 f.)
Hitler unterzeichnete denn auch am 14. Juli 1933 dieses Gesetz, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. § 1, Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt: »Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.« (zit. n. Bumke 61944: 124)
In § 1, Abs. 3 folgt dann: »Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.« (ebd.: 125) Damit war der bedenkenlosen Sexualitätsverfolgung Tür und Tor geöffnet – im Nachgang, wie hier betont werden muss, zu einer schon in der Weimarer Epoche, etwa in der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, aber auch in der Zeitschrift für Kinderforschung geführten Debatte um die Frage, ob die von Wiener Psychoanalytikern beobachtete Säuglingsonanie nun normal sei oder, so der Psychiater Werner Villinger (1887–1961), als psychopathologisch zu gelten habe, deutlicher: »der Großteil der frühkindlichen Onanisten ins Gebiet des Schwachsinns höherer Grade« (Villinger 1926: 125) gehörte. So betrachtet kann, um hier von tragischen Aspekten dieses Streits abzusehen 194, nicht überraschen, dass Villinger nach 1933 ins Lager der Euthanasiebefürworter wechselte und die von ihm sowie vom Sozialpädagogen Herman Nohl (1879–1960) mitredigierte Zeitschrift für Kinderforschung den Kommentar eines Sanitätsrats zum »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« veröffentlichte, dessen 194 Nach 1933 bzw., um Österreich nicht zu vergessen: nach 1938 landeten die meisten der psychoanaytischen Diskutanten, abgesehen natürlich von jenen, denen die Flucht gelang oder Auswanderung glückte, im KZ, während ihre (zumeist sich als Arier verstehenden) Gegenspieler, wie etwa Villinger, Karriere im NS-Euthanasiesystem machten. (vgl. Niemeyer 2019a: 296 ff.)
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Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
Tenor dahin ging, dass der schwere Alkoholiker »in noch typischerer Weise die Eigenschaften [hat], die wir beim Schwachsinnigen als Grund zur Verhütung seiner Fortpflanzung erwähnt haben: die Rücksichtslosigkeit im geschlechtlichen Verkehr, das erziehungswidrige Verhalten gegenüber den Kindern und die Gefährdung der materiellen Existenz der Familie durch den Trunk.« (Leppmann 1934: 267) Mit dem ersten Punkt (»Rücksichtslosigkeit im geschlechtlichen Verkehr«) war der Rubikon überschritten: In Deutschland wurde fortan in Deutschland mit rechtlicher Billigung verfolgt und zwangssterilisiert, wer in seinem sexuellen Verhalten als problematisch wahrgenommen wurde. Dabei boten die mit diesem Gesetz eingerichteten Erbgesundheitsgerichte wenig Schutz. Denn ihnen oblag nach § 10a auch, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, sollte die rechtskräftig zur »Unfruchtbarmachung« Verurteilte »zur Zeit der Unfruchtbarmachung schwanger« sein, mehr als dies, so eine Ausführungsverordnung von 1935: »Ein fortpflanzungswilliger Erbkranker, der in einer geschlossenen Anstalt verwahrt wird, darf nicht entlassen oder beurlaubt werden, bevor die Unfruchtbarmachung durchgeführt […] worden ist.« (zit. n. Bumke 61944: 125) Hiermit rückt der Fall Nietzsche näher, gesetzt, wie oben anhand der Fälle Adrian Leverkühn und Carl Röver fingiert, er wäre gut eine Generation jünger gewesen respektive zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes in der Irrenanstalt Jena verwahrt worden. Ohne zuvor stattgehabte Zwangssterilisation hätte man ihn jedenfalls nicht in häusliche Pflege via Naumburg entlassen – eine Strenge, gegen die womöglich der Einwand des Gesetzeskommentators Oswald Bumke gerichtet ist. Denn vergleichsweise gemütlich merkte dieser zum Stichwort ›Syphilitiker‹ an: »Von ihnen wissen wir, daß sie in einem gewissen, freilich nicht kurzen Abstand von der Infektion ihrer Krankheit gewöhnlich nicht mehr übertragen. Daß der Kranke selbst darum noch eine Paralyse bekommen kann, versteht sich von selbst. Eine Gefahr für die Nachkommenschaft bedeutet er in diesem Stadium aber gewöhnlich nicht mehr.« (Bumke 61944: 131)
Ungeachtet dieses Einwandes, den wir angesichts der oft als Oberschichten-Krankheit rubrizierten Syphilis und verglichen mit Bumkes harscher Haltung gegenüber etwa »Säufern«, die »beinahe immer schon von Haus aus minderwertig sind« (ebd.: 130) 195, gerne als Zei195
In Relation gesprochen zu dem Umstand, dass Bumke allen Aspekten dieses Ge-
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chen lesen würden für einen schichtenbezüglichen, also soziologisch zu erklärenden Bonus, zog die Zwangssterilisationsmaschine unbarmherzig ihre Spur mit der unmittelbaren Folge von Hunderttausenden von Zwangssterilisationen mit nachfolgender Euthanasie auch für Syphilitiker (vgl. Schonlau 2005: 117 ff.). Hilfreich dabei als Teil I der ›Nürnberger Gesetze‹ vom 15. September 1935 war das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, das die Ehe und den Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nicht-Juden untersagte und der Judenverfolgung Tür und Tor öffnete, des Weiteren, als Teil II, das Reichsbürgergesetz, das »deutsches Blut« und eine ihm entsprechende Gesinnung zur Staatstugend erhob, nicht zu vergessen: das Ehegesundheitsgesetz vom 18. Oktober 1935. Bisher hatte hierzu das Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 1. Oktober 1927 noch bestimmt: »Personen, die geschlechtskrank und verdächtig sind, die Geschlechtskrankheit weiterzuverbreiten, können einem Heilverfahren unterworfen, auch in ein Krankenhaus verbracht werden.« (§ 4) Mit »Gefängnis mit bis zu drei Jahren« sah sich indes derjenige bedroht, der den Beischlaf ausübte, obgleich er um seine (ansteckende) Geschlechtskrankheit weiß oder dies »den Umständen nach annehmen muß« (§ 5) oder wer »eine Ehe eingeht, ohne dem anderen Teil von seiner Krankheit Mitteilung gemacht zu haben.« (§ 6; zit. n. Messer 1931: 72) An diesem letzten Punkt setzte das Ehegesundheitsgesetz an mit der Bestimmung, dass eine Ehe nicht geschlossen werden darf, »wenn eine der Verlobten an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit leidet, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommen befürchten läßt.« (§ 1, Abs. 1a; zit. n. Bumke 61944: 126) Zur Kontrolle dessen verlangte § 2: »Vor der Eheschließung haben die Verlobten durch ein Zeugnis des Gesundheitsamtes (Ehetauglichkeitszeugnis) nachzuweisen, daß ein Ehehindernis nach § 1 nicht vorliegt.« (ebd.) Damit war Stoff genug gegeben für neue, die Rassenhygiene ins Zentrum stellende Propagandafilme (vgl. Schmidt 2000: 111 ff.) sowie belehrendes Schrifttum, etwa nach dem Muster des Anti-Syphilis-
setzes, auch jenen die Zwangssterilisation im Fall von Alkoholismus betreffenden, vermag er zuzustimmen, Letzteres mit dem Hinweis, dass »die Trinker, denen gegenüber bisher jede sonstige Form des Zwanges […] beinahe nichts ausgerichtet hat, wenigstens daran verhindert werden, Kinder zu erzeugen, sie durch ein zerrüttetes Familienleben zu quälen und durch ihr Beispiel zu verderben.« (Bumke 61944: 130)
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Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
Roman Der Befehl des Gewissens (1937) aus der Feder von Hans Zöberlein (1895–1964) 196 Syphilis wird hier (vgl. auch Niemeyer 2019: 293 ff.) zur »Judenpest«. Die von ›dem‹ Juden ausgehende Gefahr wird mittels der schrecklich zu lesenden (Inzucht-) Parabel vom ›Rattenkönig‹ so aufbereitet, dass »[d]ie ›Endlösung der Judenfrage‹ […] als eine ›hygienische‹ Maßnahme [erscheint].« (Hillesheim/Michael 1993: 482) Derlei Sinngehalt kann sich letztlich auch des Romanhelden große Liebe Berta nicht entziehen, nachdem sie bei einem Schwimmbadbesuch von einem »schwarzgebräunten Judenbengel«, grinsend hinter seiner Hornbrille »wie ein Satan« (Zöberlein 1937: 297), sexuell belästigt worden war – ein Script, das den Nürnberger Gesetzen verpflichtet ist und fast wie bestellt wirkt im Rückblick auf Himmlers Goslarer Reichsbauerntags-Rede vom 12. November 1935 und die hier unterbreitete Überzeugung, »daß der Kampf zwischen Menschen und [jüdisch-bolschwestischen] Untermenschen […] wohl genauso Naturgesetz ist wie der Kampf des Menschen gegen irgendeine Seuche, wie der Kampf des Pestbazillus gegen den gesunden Körper.« (zit. n. Gamm 1964: 386) Fortan greift eine von Julius Streichers (1885–1946) Stürmer orchestrierte Kampagne gegen ›Rassenschande‹, gerichtet nicht zuletzt gegen jüdische Ärzte. (vgl. Mettenleiter 2018) Versuchen wir, den Spieß einmal umzudrehen, im Wiederaufgreifen des einleitend erwähnten Falles Carl Röver: Gesetzt, Nietzsche wäre so alt wie dieser gewesen, hätte also seinen geistigen Zusammenbruch in Turin am 8. Januar 1942 erlitten und wäre zehn Tage später von der Mutter von Basel nach Jena transferiert worden, in die dortige Irrenanstalt, hätte dort wüste Flüche ausgestoßen auf die Nazis nach Art seiner Deutschenverachtung aus Ecce homo, dann schiene mir, wie einleitend angedeutet, ein Schicksal wie jenes Rövers nicht unwahrscheinlich – ein Fall übrigens ganz nach (damaligem) Lehrbuch, wie Rövers Parteigenosse Bodo Spiethoff 1936 notiert hatte für Fälle von Syphilis, bei denen schließlich doch noch das Gehirn ergriffen wird: »Nach Jahren und oft Jahrzehnten des Wohlbefindens können bei Patienten, die sich nicht richtig haben ausheilen lassen, noch die sogenannten Nachkrankheiten auftreten, d. h. Zerstörungen im Zentralnervensys196 Zöberlein wurde 1948 wegen Ermordung kapitulierender Penzberger Bürger (28. April 1945) zum Tode verurteilt, allerdings später (1958) mit Haftverschonung aus Gesundheitsgründen bedacht. (vgl. Loewy 1966: 328 f.)
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tem […]. Weit schlimmer und gefährlicher ist, wenn das Gehirn ergriffen wird. Auch hier gibt es dann durch die Zersetzungsarbeit der Spirochäten geradezu Vernichtung ganzer Teile des Gehirns. Diese Krankheit beginnt manchmal langsam und schleichend […]. Die Krankheit kann aber auch plötzlich mit den allerschwersten Erscheinungen einsetzen. Wie aus heiterem Himmel heraus werden die Kranken plötzlich gewalttätig, bekommen Tobsuchts- und Zerstörungsanfälle oder auch tiefe Depressionen mit Weinkrämpfen. Die Krankheit geht fast immer, wenn auch gelegentlich mit kurzen Unterbrechungen, in tiefe Geistesverblödung und völlige Umnachtung über. Sie dauert meistens nur drei bis fünf Jahre und führt zum Tode.« (Spiethoff 1936: 347 f.)
Nichts lässt darauf schließen, der Verfasser dieser Zeilen sei beim Schreiben auch nur von ferne von der Idee heimgesucht worden, er beschriebe hiermit Nietzsches Krankengeschichte bis hin zum Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 und dessen Folgen, vielleicht noch mit der Erläuterung, dass auch schon Fälle beobachtet worden seien, bei denen bis zum Tod noch elf Jahre vergingen. Der Grund für diese Scheuklappenmentalität liegt auf der Hand: Ein gute Nazi wie Spiethoff hielt sich selbstredend an das einleitend angesprochene ungeschriebene NS-Gesetz, unter keinen Umständen Zweifel aufkommen zu lassen an der geistigen Gesundheit des NS-Staatsphilosophen schlechthin. Disziplinierend wirkte hier sicherlich die bereits angesprochen (s. I.1/38) Warnung von Heinrich Härtle im Völkischen Beobachter vom 27. 11. 1936, ausgesprochen gegenüber Nietzschegegnern aus dem Bayreuther Wagnerumfeld. Entsprechend verpönt war es, dieses Thema überhaupt anzusprechen – abzüglich von Nekrologen auf die zum Glück überwundene Zeit jüdisch motivierter ›Seelenzerfaserung‹. Wichtig des Weiteren, gleichsam zur anderen Seite: Hätte man Bodo Spiethoff damals darauf hingewiesen, seine eben gegebene Beschreibung eines Paralytikers werde vier Jahre später in Gestalt des NS-Gauleiters Carl Rövers ein Paradefall zuordbar, wäre ihm fraglos innegeworden, dass der NS-Syphiliskunde einer wichtigen Erwägung entbehre: Was macht man mit entsprechend erkrankten verdienten Parteigenossen? Das Procedere in der Charité vom Mai 1942 in diesem Fall offenbart: nichts, besser: kaum mehr als dasjenige in vergleichbaren Fällen, nur noch etwas zügiger und entschlossener. Prädestiniert dafür wie kaum jemand sonst waren die beiden Ärzte, die ihren Mit-Pg. Carl Röver, wie oben gesehen, in Oldenburg abholten und in die Charité verfrachteten: Karl Brandt sowie Maximiliane de 498 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
Crinis, die wir hier nun etwas genauer in Augenschein nehmen wollen. Um mit de Crinis zu beginnen: Er war NSDAP-Mitglied seit 1931, SS 1933, Freund Reinhard Heydrichs (1904–1942), der »1940 an der Formulierung eines geheimen Euthanasie-Prozesses beteiligt war« (Klee 2003: 253), »1944 im Wiss. Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt« (ebd.: 97), resümierend gesprochen, mit dem Medizinhistoriker Thomas Beddies: »Es kann letztlich nicht bezweifelt werden, dass de Crinis qua seiner zahlreichen Funktionen und Ämter und auch über persönliche Kontakte umfassend über die Krankentötungen und Medizin-Verbrechen in den Konzentrationslagern informiert und darüber auch an ihnen beteiligt gewesen ist.« (Beddies 2004: 70)
Ähnliches gilt für den eng mit de Crinis verbandelten ranghöchsten NS-Mediziner Karl Brandt, NSDAP (1932), SA (1933), SS (1934), »ab 1934 Hitlers chirurgischer Begleitarzt, 1939 mit Philipp Bouhler (1899–1945) Hitlers Euthanasiebevollmächtiger, verantwortlich für den Massenmord an Kranken«, seit Juli 1942 »Hitler direkt unterstellt, zuständig für die Koordination sämtlicher medizinischer Maßnahmen, insbesondere Forschung und Menschenversuche« (Klee 2003: 70 f.) – wie, so könnte man hier ergänzen, der Fall Carl Röver vom Mai 1942 zeigt. Heißt: Schlechter als mit diesen beiden Todesengeln hätte es Röver kaum treffen können. Ihre Art der Lösung dieses Falles offenbart des Weiteren, dass Syphilis eben doch, entgegen der oben referierten Einwände Oswald Bumkes in Betreffs an sich nicht mehr gefährlicher Paralytiker (vgl. Bumke 61944: 131), unter bestimmten Umständen, etwa dem im Fall Röver gegebenen, der Euthanasie nach der hier zutage tretenden ›Methode Brandt/de Crinis‹ überantwortet wurden. So geschah es in der Folge im großen Stil, im Nachgang zum Versprechen Hitlers gegenüber dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888–1939) auf dem Reichsparteitag 1935, er werde im Fall eines Krieges die Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen. (vgl. Mitscherlich / Mielke 1995: 237) Ende Juli oder im August 1939 lud Philipp Bouhler »etwa 15–20 Ärzte ein und erklärte, durch die Tötung eines Teils der Geisteskranken werde notwendiger Lazarettraum für den bevorstehenden Krieg geschaffen.« (Klee 1985: 68) Pünktlich zum Kriegsbeginn am 1. September 1939 unterzeichnete Hitler die Beauftragung von Bouhler sowie Karl Brandt, »die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen un499 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
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heilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.« (zit. n. Burleigh 2004: 133) Zu den in der Folge mit einer entsprechenden Lizenz zum Töten Ausgestatteten gehörte neben de Crinis die Ärzte Carl Schneider (1891–1946), Berthold Kihn (1895–1964), Werner Heyde (1902– 1964), Ernst Wentler (1891–1973), Hellmuth Unger (1891–1953) und Hans Heinze (1895–1973) sowie die Anstaltsdirektoren Hermann Pfannmüller (1886–1951) (Eglfing-Haar), Bender (BerlinBuch) sowie Paul Nitsche (1876–1948) (Sonnenstein bei Pirna). Erkennbar vorbereitend zu dieser Maßgabe war Hebammen am 18. August 1939 eine »Meldepflicht für missgestaltete usw. Neugeborene« auferlegt worden, angeblich »zur Klärung wissenschaftlicher Fragen« (Burleigh 2004: 134), tatsächlich aber gedacht für Zwecke der Organisation der nun im großen Umfang aufs Gleis gesetzten (Kinder-) Euthanasie, die komplettiert wurde durch die im Oktober 1939 getroffenen Maßgabe, im Rahmen des Euthanasieprogramms Patienten aller Heil- und Pflegeanstalten zu erfassen. Als vierte Krankheit nach »Schizophrenie«, »Epilepsie« (endogen), »senile Erkrankungen« wurde Syphilis unter »Therapie-refraktäre Paralyse u. a. Lues-Erkrankungen« (Mitscherlich / Mielke 1995: 245) gelistet. Details der nun um sich greifenden und gegenüber Verwandten nach der ›Methode Röver‹ vollzogenen schrecklichen Patientenmorde seien dem Leser hier erspart, abgesehen von einem exemplarisch bedeutsamen und gut dokumentierten Fall im Bereich der Kindereuthanasie, der insgesamt 10.000 Kinder und Jugendliche zum Opfer fielen. Gemeint ist das Mädchen Ingeborg (1926–1940), das nach drei Jahren Unterbringung in der Landesheilanstalt Brandenburg-Görden am 28. Oktober 1940 kurz vor ihrem 14. Geburtstag als eines von fünfzig Kindern, wohl im Beisein des den Anstaltsleiter Irmfried Eberl (1910–1948) 197 vertretenden T4-Arztes Heinrich Bunke (1914–2002) (vgl. Klee 1986: 116 f.) – vergast wurde, obgleich ihre Epilepsie posttraumatischen Charakters war, also als Spätfolge einem Verkehrsunfall zuzurechnen ist, der dem bis dato komplett gesunden Mädchen im Alter von fünf Jahren widerfuhr. (vgl. Hahn 2020: 48, 102 f.) Dies zeigt: Schon 1940 ging es nicht nur, wie vorgegeben und schimm 197 Das Credo dieses Massenmörders aus dem Ärztestand, einem Brief an seine Frau vom 15. Februar 1942 zufolge: »… nicht im Ertragen der schönen Tage mit berauschenden Siegen zeigt sich die Liebe zum Vaterland, sondern gerade im DuRchhalten, auch wenn man einmal in der Sch… liegt.« (zit. n. Klee 1986: 97)
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Hitlers Sypholophobie – »Teufels Beitrag«
genug, um den Schutz des deutschen Erbgutes, sondern schlicht um den Schutz des deutschen Fiskus – und dies, in diesem Fall, unter Mitwirkung des von de Crinis mit DFG-Mitteln ausgestattete Histologen Julius Hallervorden (1882–1965), der eng mit Hans Heinze zusammenarbeitete und Ingeborg zu einem histo-pathologisch »interessanten Fall« (zit. n. Hahn 2020: 103) erklärte. Übrigens: Dass einer der zuletzt Genannten nach 1945 Reue zeigte oder ernsthaft zur Rechenschaft gezogen wurde, lässt sich nicht sagen. Kurz und summarisch, mit Ernst Klee, geredet: »Die Täter und ihre Helfer wurden rehabilitiert, lebten gesellschaftlich anerkannt, wohldotiert und gut versorgt.« (Klee 1986: Rückumschlag) 198 Und da wir damit nun schon einmal in der Zeit nach 1945 sind, lohnt vielleicht ein Blick darauf, wie das Ganze, den Endsieg vorausgesetzt, hätte weitergehen können, zumal mit der Syphilis. Rudolf Daumann deutete es in seinem mit 70.000 Exemplaren allein im Erscheinungsjahr überaus erfolgreichen utopischen Roman Patrouille gegen den Tod (1939): Die Welt im Jahr 1969 sei ›judenfrei‹, lesen wir hier, und die die Syphilis in Afrika bekämpfende Laborgehilfin Maxie Perussenko darf sich ihrem (und dem) Helden Dr. Alfried Kalsten erst in die Armen werfen, als klar ist, dass sie in Wahrheit nicht slavischer, sondern rein arischer Herkunft ist. (vgl. Gilman 1992: 282 f.) Ziehen wir hier einen Schlussstrich. Ausgangspunkt dieses fünften und letzten Kapitels war der Versuch des Rekonstruktion der Bedeutung der Syphilis um 1900, als erkennbar wird, dass die Syphilis zum initiierenden Thema für sozial- wie biopolitische Maßnahmen 198 Dies gilt letztlich auch für Einzelfälle wie Heinrich Bunke sowie dessen gleichaltrigen Kumpel, dem der (katholischen) bündischen Jugend entstammenden T-4-Arzt Aquilin Ulrich (1914–2001), der mit Bunke nicht nur die Lebensdaten teilt, sondern auch die Cuzpe: In den 1970er Jahren ließen beide Massenmörder sich verhandlungsunfähig schreiben – am Ende mussten sie 18 bzw. 20 Monate absitzen –, lebten aber gleichwohl noch dreißig Jahre. (Klee 1986: 113 f.) Etwas anders liegt der Fall des zwischenzeitlichen Gördener Anstaltsleiters Eberl: Ihm wird, Anfang 1948 noch nicht identifiziert durch die amerikanische Militärregierung in Untersuchungshaft sitzend, zum Verhängnis, dass ein Mithäftling in ihm jenen Dr. Eberl wiederzuerkennen glaubt, der in Eugen Kogons (1903–1987) unmittelbar zuvor erschienen Longseller Der SS-Staat (1946) als Chefarzt der Vergasungsanstalt Bernburg-Saale angeprangert und mit der am 19. März 1943 in einem Außenlager des KZ Buchenwald begangenen »Verbrennung von Häftlingsleichen ohne Totenschein« (zit. n. Kogon 421974: 277) in Verbindung gebracht wird. Eberl, zuletzt Lagerkommandant in Treblinka, wo »an einem Tag mehr Menschen zu töten [waren] als in Brandenburg in vielen Monaten« (Klee 1986: 97), bestreitet daraufhin, Eberl zu sein – und wird am nächsten Morgen in seiner Zelle erhängt aufgefunden.
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V · Nietzsche Syphilis und Hitlers Syphilophobie
aller Art geraten dürfte, wie – dieses Beispiel wurde gesondert herausgestellt – der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler am Beispiel des Sexual- und Syphilisaufklärers Seved Ribbing lernen musste, mit Folgen für die (erst mühsam freizulegende) Syphilisthematisierung in seinem Werk. Nietzsche war im Rücken der (auch) von Ribbing forcierten Debatten um Geburtenlenkung durch Ehetauglichkeitszeugnisse oder gar um Rassenhygiene und NS-Euthanasie stets präsent. Als Ideengeber vor allem und ohne dass man ihn noch groß um Zustimmung hätte fragen können. In dieser Debatte führten zunehmend rassenhygienisch argumentierende Ausleger das große Wort und suchten einer Lösung zuzuarbeiten, die unter Hitler, nicht zuletzt aufgrund von dessen Syphilophobie, eskalierte, sei es mit der Folge von Zwangssterilisationen sowie der Tötung auch von Syphilitikern des tertiären Stadiums, sei es mit der Folge der Shoa in ihren sexualantisemitischen Begründungmotiven. Mittendrin Nietzsche, bereitgestellt von seiner Schwester, die sich selbstredend der Frage entzog, ob das NS-System nicht, eine Art Gnade von Nietzsches früher Geburt in Abzug gebracht, diesen ihren Ideengeber nicht gleichfalls der Vernichtung hätte anheimgeben müssen. So also sieht sie aus: die bitterste Wahrheit über Nietzsche, den Syphilitiker, am Ende dieses Buches.
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Epilog
»Macht Turnübungen, hält oft stundenlang seine Nase fest.« (Aufzeichnung über den Pat. Nietzsche vom 17. Juni 1889)
Das vorliegende Buch wollte, als Forschungsprogramm für eine Terra incognita, neue Aufmerksamkeit auf die Syphilis und speziell jene Nietzsches lenken. Dieses Thema sollte dem Bann entrückt werden, mit dem ein jeder zu rechnen hat, der sich ihm widmet in der Absicht, es als entscheidend auszuweisen sowie weit hinausgehend über die berühmte Hintertreppe. Mittels deren, so der Mainstream, man den Zugang zu Philosophen, insonderheit zu einem so bedeutenden wie Nietzsches, besser erst gar nicht versuchen sollte. Das Gegenteil scheint mir richtig, zumal, wie im Prolog dargetan, nach dem Tag X – dem Tag, von dem ab die Syphilisdiagnose ad Nietzsche im Sinne des im Motto erneut aufgerufenen ›Nasen-Notats‹ nicht mehr fraglich ist und erheblicher Legitimationsdruck auf jenen lastet, die Nietzsche in all seinen Finessen auf die Spur meinen kommen zu können ohne zureichendes Wissen bezüglich seiner Lebens-, Liebeswie Krankengeschichte. Ein vergebliches Hoffen, wie im Vorhergehenden anhand zahlloser Details zu zeigen versucht wurde. Es begann, in Kapitel I, mit einem Literaturbericht, der den Zeitraum ab 1889/90 bis heute abdeckt und mit dem Ergebnis aufwartet, dass Nietzsches Syphilis bisher kaum einmal frei von Vorannahmen erörtert wurde, gleichwohl aber, unter dem Strich, die Syphilisdiagnose im Sinne der im Prolog entwickelten Annahmen als gesichert gelten darf, dies auch mit Seitenblick auf die in Kapitel II angestellten werkanalytischen Betrachtungen. Sie stellen, zusammenfassend gesprochen, klar, dass Nietzsche sich beharrlich mit der Syphilisthematik, handele es sich nun um seine oder, in Träumen, um jene von ihm supponierte seines Vaters und deren Folgen in Gestalt des Todes seines kleinen Brüderchens, beschäftigte. Er tat dies in Gestalt theorienaher, psychologiegesättigter Erörterungen, aber auch, was für Also sprach Zarathustra gilt, in Gestalt von Gleichnissen und Rätseln voller nur inter-textuell aufzuklärender Verweise. Grund genug, gerade hier, in dieser Dichtung sowie deren Nachklapp in Gestalt der vier 503 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Epilog
Jahre später in Angriff genommenen Dionysos-Dithyramben zahlreiche, in der Nietzscheforschung bisher noch nicht zu Tage geförderte Schätze zu vermuten. In Kapitel III rückte die Zeit um 1500 unter Konzentration auf die Frage ins Zentrum, welche Bedeutung die Verbreitung der Syphilis auch im Renaissance-Papsttum für Nietzsche und seine Stellung zu Martin Luther sowie zur Reformation und zum Christentum allgemein hatte. Die gegen Ende dieses Kapitels entwickelte Antwort lautet, dass die Bedeutung dieser Frage gar nicht unterschätzt und in Gestalt der These auf den Punkt gebracht werden kann, dass Nietzsche Gesetz wider das Christentum vom 30. September 1888 als unmittelbare Antwort auf Luthers 95 Thesen gelesen werden dürfe. Im Einzelnen lautet die Annahme, dass Nietzsche Luthers Aussparung der Syphilisproblematik des Papsttums als einen Faktor seiner Dekadenzdiagnose subsumierte – und entsprechend einen radikalen Kampf gegen das von ihm als leib- und sexualitätsfeindlich gelesenen Christentums für unvermeidlich hielt. Kapitel IV widmet sich, hieran anknüpfend, dem Linksnietzscheaner Nietzsche, am Exempel des zumal für den Freigeist Nietzsche dominant werdenden Interesses an den mehrheitlich als ›freigeistig‹ zu rubrizierenden, vor allem französischen Literaten insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von Nietzsche auch, sich einschließend, »Wir Anderen« genannt. Deren gemeinsames Merkmal, jedenfalls bei etwas genauerem Blick: Sie sind entweder selbst Syphilitiker oder reflektieren auf die Schwierigkeiten der Liebe in Zeiten der Syphilis – ein durchaus auffälliger, in der bisherigen Forschung kaum einmal thematisierter Umstand, aus dem sich einige Funken schlagen lassen für das mit diesem Buch intendierte Forschungsprogramm. Ein Aspekt, der hier beispielhaft benannt sei und vor allem am Fall des Edmond de Goncourt (s. IV/9) zutage trat: Nietzsche verdoppelte Edmonds Verleugnungsleistung im Blick auf die Krankheit seines der Syphilis erlegenen Bruder Jules, indem er, auch in seinem Fall, Theorien der Décadence als Erklärungssymptome bevorzugte – Theorien, die Nietzsche halfen, seine eigenen, in Richtung Syphilis weisenden Erkrankungssymptome einer damaligen, gesellschaftskritisch instrumentalisierbaren Modediagnose zu subsumieren. Den (traurigen) Abschluss bietet Kapitel V, dessen Inhalt wir eben erst, am Ende jenes Kapitels, zusammengefasst haben, damit die Pointe vorbereitend, für die Albert Camus zwei treffliche Worte 504 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Epilog
fand. Beide gehen auf die NS-Katastrophe. Das eine Wort fixiert den Anteil Nietzsches an ihr mittels des genialen Satzes: »In der Feuerprobe von Nietzsches Philosophie endet die Revolte mit ihrem Freiheitsrausch im biologischen oder historischen Cäsarismus.« (Camus 1953: 67)
Das andere Wort steht wie Wasser zu diesem Feuer und untersagt ungeachtet dessen die simple Verantwortungszurechnung auf Nietzsche mittels des nicht minder genialen Satzes: »Ohne Zweifel kennt man Philosophien, die in Geschichte umgesetzt und dabei verraten wurden. Aber bis zu Nietzsche und dem Nationalsozialismus gibt es kein Beispiel, daß ein von Adel und den Schmerzen einer außergewöhlichen Seele erleuchtetes Denken in der Welt dargestellt wird durch eine Parade von Lügen und grauenhaften Kadaverhaufen der Konzentrationslager […]. Versichern wir zuerst, daß es uns immer unmöglich sein wird, Nietzsche mit Rosenberg zu verwechseln. Wir müssen die Anwälte Nietzsches sein.« (ebd.: 64)
Aufs Ganze gesehen gibt das so zu verstehende Anwaltsmotiv noch immer eine taugliche Basis ab für den Umgang mit Nietzsche in der Zukunft. Und auch das andere bis dato Vorgetragene scheint mir durchaus im Sinne eines Forschungsprogramms für eine Terra incognita, für das mit dem vorliegenden Buch ein kräftiger Impuls gegeben werden sollte, der dem im Prolog beschworenen Tag X angemessen ist. Angemessen aber nicht nur diesem Tag gegenüber, sondern womöglich den Zeitläuften allgemein. Denn bedenken wir doch: Die Konstellation in Sachen Syphilis zu Zeiten Nietzsches war zwar deutlich von jener in puncto Covid-19 heutzutage unterschieden, insofern sich niemand dieser Diagnose wegen schämen muss (es sei denn, man bekäme Corona nur in Bordellen, die aber, klugerweise, geschlossen wurden). Außerdem: Man kann heutzutage an sich über alles reden, was Margot Käßmanns (2020) Recht inkludiert, via Bild am Sonntag Corona nicht für eine Gottesstrafe zu erklären und bei dieser Gelegenheit gleich das Alte Testament zu verharmlosen, als habe Gott nach der Sintflut Taten wie dieser für alle Zeiten abgeschworen. Wichtiger aber als Unterschied zum düsteren 19. Jahrhundert als Hochzeit Schwarzer Pädagogik und der sie auszeichnenden Sexualfeindlichkeit: Wir Heutigen können wissenschaftliche Forschung treiben jenseits christlich gebundener Prüderie sowie Verleugnung – womit der entscheidende Unterschied gesetzt ist zur Zeit Nietzsches. 505 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Epilog
Damals nämlich hätten sicherlich zahllose Infektionen mit dem Syphiliserreger durch (sexuelle) Aufklärung und eine (ihr gegenüber) offene Gesellschaft vermieden werden können. Und Nietzsche, der Pastorensohn, hätte, gesetzt, dies wäre geschehen, vielleicht sehr viel freundlicher über den lieben Gott gedacht. Insofern war vielleicht auch dieser Einsicht wegen das vorliegende Buch doch nicht ganz vergebens und macht es, wie im Prolog angedeutet, relevant für eine Zeit, in der wir mitten inne stehen: eine Zeit, die der ihr harrenden ferneren Krisen und Pandemien wegen der offenen Rede und Forschung zwecks Abwehr von Irrationalitäten und Verschwörungsphantasmen aller Art vermutlich weit dringlicher bedarf als jede andere zuvor. Aufklärung auch darüber – und dies ist das große Thema in Albert Camus‘ Roman Die Pest (1947) –, dass im Rücken der Pandemiebekämpfung die Gefahr droht, dass die offene durch eine geschlossene Gesellschaft ersetzt wird (vgl. Grüneklee/Heni/Nowak 2020).
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Danksagung
Allererst geht mein Dank an Pia Daniela Schmücker, die sich der Mühe unterzog, eine Erstfassung des vorliegenden Manuskripts gründlich Korrektur zu lesen und die mir sehr viele wichtige Hinweise gab. Gleich danach gebührt herzlicher Dank Sander L. Gilman und Andreas Urs Sommer, schließlich, auch wegen der Unterstützung des Gesamtprojekts und/oder kritischer Hinweise zu einzelnen seiner Teile, Scarlett Marton sowie Saulo Krieger, aber natürlich auch Jacques Le Rider und Laura Simonis. Wichtige Rückmeldungen bekam ich auch von Thomas Beddies, Ingo Harms, Friedrich Veitl, Florian Steger, Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff, Erik Gloßmann sowie Micha Brumlik. Nicht vergessen sei mein Dank an die Kolleginnen und Kollegen vom Berliner Nietzsche-Kolloquium 2019/20 sowie an Markus Winkler, Kathrin Bouvut, Kirstin Bromberg, Marie Bergmann, Paul Stephan, Fabien Jégoudez, Dominik Becher, Volker Kraft, Michael Winkler, Tom Minnes sowie, vielleicht ein wenig aus der Mode geraten: Ich danke meiner Familie für ihren gekonnten Umgang mit einem workaholic (fragt sich nur: mit welchem?). Nicht vergessen sei der Dank an meinen Lektor Steffen Bonhoff, der, glücklicherweise beharrlich, auf einer Reihenfolgenänderung im Buchaufbau bestand. Dem Verleger Lukas Trabert bin ich, gleichfalls erneut, zu Dank verpflichtet, diesmal wegen seines bemerkenswerten Interesses gerade an diesem Projekt, aber auch wegen seiner ebenso klugen wie fürsorglichen Kritik an einer Vorfassung insbesondere des Editorials.
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Personenregister
Ackermann, Josef 184, 291 Adler, Alfred 492 Adorno, Theodor W. 15, 342, 486 Alexander der Große 197, 284 Algermissen, Konrad 487 Allard, Julia 211 Althaus, Horst 110 Alexander VI., Papst 335 Amende, Dietrich 66 Ammerer, Heinrich 454 Andler, Charles 162, 164 Andreas-Salomé, Lou 48 f., 53, 107, 120, 137 f., 153, 204, 239, 241 f., 246, 250 f., 261, 267, 297, 307, 354 f., 372, 376, 420 Angenendt, Arnold 323 f., 334 Appel, Sabine 202 Argy, Anne-Gaelle 20 Aßmann, Alex 485 Augstein, Rudolf 137, 143–145 Augustinus 209 Aurenque, Diana 180, 475 Baader, Andreas 485 Baader, Gerhard 495 Babich, Babette E. 324 Baeumler, Alfred 117, 125 f., 128, 300, 368 Bäumler, Ernst 37, 118, 167, 197, 204, 309, 332–334, 336, 377, 448, 474, 492 f. Balzac, Honoré de 376, 390, 437 Bankl, Hans 332, 335 f. Barbey d’ Aurevilly, Jules Amadée 337 f., 357, 374–381, 415, 450 Barnes, Julian 404 f.
Bataille, Georges 130 f., Bauer, Hans-Joachim 404 Bauer, Michael 342 Baudelaire, Charles 65, 112, 167, 171, 252–254, 298, 382 f., 392–397, 403, 415, 436 Baumgartner, Marie 286 Becker, Sabina 458 f. Becker, Wilhelm Carl 72–74 Beddies, Thomas 501 Beer-Hoffmann, Richard 451, 457 Behrend, Friedrich Jakob 323, 327 Benda, Ernst 22, 65, 102, 105, 122, 124, 132, 160 f., 166, 170, 175 f., 186, 206, 213, 235 Benjamin, Walter 394 f. Benn, Gottfried 136 f. Bennett, Chris 112 Bernard, Marc 429 Bernoulli, Carl Albrecht 67, 79, 84, 86, 120, 139 Bertram, Ernst 368 Beutel, Albrecht 323 Beyerlein, Franz Adam 473 Binder, Devin K. 17 Binding, Karl 488 Binion, Rudolf 494 Binswanger, Otto 39, 54, 89 f., 120, 202, 474 Bismarck, Otto v. 316 Bleibtreu, Karl 207 Bloch, Iwan 309, 324, 332, 335, 360 f., 363, 365, 377, 383–385, 393 f., 391– 393, 406, 423, 475 Blüher, Hans 476 f. Bludau, Beatrix 369
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Personenregister Blunck, Richard 59, 133 Boccacio, Giovanni 339, 451 Bock, Carl Ernst 21, 90 Böhm, Winfried 318 Böhmer, Otto A. 38 Bohley, Rainer 37, 196 Bonus, Arthur 43 Borchmeyer, Dieter 226, 249 Borgia, Cesare 317, 335 f., 338, 342 f. Borgia, Lucrezia 317, 335 Born, Marcus Andreas 24 Borsche, Tilmann 240 Bosch, Oliver G. 22 Bosse, Monika 401 f. Bouhler, Philipp 494, 501 Bouilhet, Louis 403, 405 Bourget, Paul 172, 397, 412, 417 f. Bouvot, Kathrin 477 Bradford, Sarah 335 f., 340, 443 Brandes, Georg 38 f., 77, 140, 214, 409, 425, 431, 456 Brandt, Karl 481–483, 489, 495, 500 f. Brann, Helmut Walther 116 f., 134, 171, 261, 287 Breuer, Josef 153 Breuer, Stefan 489 Brewer, James 350 Brobjer, Thomas 300 Brock, Eike 206 Brömsel, Sven 74 Bromberg, Kirstin 327 Brumlik, Micha 18, 320 Brunetière, Ferdinand 397, 417 f. Brusotti, Marco 24 f., 206, 234 Bühler, Jill 392, 448 Bülow, Hans v. 287, 372 Bull, Malcolm 24, 168 f., 186 Bumke, Oskar 495–498, 501 Bunke, Heinrich 503 Burckhardt, Jakob 15 f., 33, 120, 335 343 Burkhart, Johannes 339 f. Burleigh, Michael 502 Busse, Walter 137 Byron, George Gordon (Lord Byron) 148, 223, 304, 355, 357, 371–373, 379 f., 388, 390, 437
Caesar, Gaius Julius 197, 284 Cagneau, Irène 463 Campioni, Giuliano 323, 337 f., 357 f., 372, 376, 419, 435 Camus, Albert 131, 206, 228, 261, 326, 350 f., 490, 506–508 Casanova, Giacomo 453, 465 Céard, Henri 413 Cézanne, Paul 431 Chamberlain, Houston Stewart 41, 74, 102, 104, 346 Chapron, Léon 413 Chlum, Maria 472 Cohn, Paul 52, 96, 107–115, 158, 185, 398 Colet, Louise 407 f. Colli, Giorgio 141, 281 Conrad, Michael Georg 424–426, 428, 430 Coppée, François 382 Corbin, Alan 406, 446, 448 Corman, Louis 145 f. de Crinis, Maximiliane 481–483, 500 f. Daechsel, Bernhard 198 Dahlkvist, Tobias 60, 171–173 Daudet, Alphonse 212, 403, 426, 442 Daumann, Rudolf 498 Decker, Kerstin 60, 95, 165, 203 Dehmel, Richard 341 f. Dellinger, Jakob 206 Delpit, Albert 414 Denat, Céline 20, 233, 282 Descartes, René 265, 357 Detering, Heinrich 204, 291, 297, 456 Deussen, Paul 22, 29, 31, 35, 58–60, 62, 64, 67, 72, 91–93, 99, 101 f., 104 f., 116, 134, 148, 150, 154, 160 f., 166, 170, 174–176, 187, 192, 210, 238, 244, 261, 266 f., 271, 295, 301, 478 Dieter, Anna-Lisa 368 Diethe, Carol 421, 489 Dinter, Artur 102, 325
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Personenregister »Don Enrico« 113 f. Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 65, 81, 109, 171, 206–208 Doyle, Arthur Conan 401, 478 Drewermann, Eugen 247, 426 Drews, Arthur 74, 84 Druskowitz, Helene v. 421 f. Düringer, Adalbert 68, 71 f., 186 Düsing, Edith 308, 337, 345 Duval, Jeanne 397 Dwinger, Edwin Erich 478 Eberl, Irmfried 184, 502 f. Eberle, H. 483, 405 Eckart, Dietrich 122 Eger, Manfred 286 Eiser, Otto 21, 32, 35, 49–51, 82, 120, 147 f., 152, 158, 160, 171, 177, 217, 223–227, 251, 254 f. Eissler, K. R. 357 Elberfeld, Rolf 354 Ellmann, Richard 483 Ensslin, Gudrun 478 Epikur 229 Ercolo, Pasquale de 114 Ertel, Suitbert 142 Evans, Richard J. 473 Fambrini, Alessandro 38 f., 455 Farese, Giuseppe 457, 467 Fenichel, Otto 492 Féré, Charles 277, 419 Ferraris, Maurizio 165 Fetscher, Rainer 447 Feydeau, Ernest-Aimé 358 Feydeau, Georges 358 Fiebig, Nils 61, 68, 79, 84, 110 Figl, Johann 192, 198, 208 Finck, Renate 483 Fino, Davide 33, 151 Flasch, Kurt 164 Flaubert, Gustave 21, 65, 167, 211, 265, 356 f., 397–407, 411, 421, 431 f., 436, 456 Fleming, Alexander 475 Förster, Bernhard 52, 54, 76, 85, 138 f., 160, 191, 486, 489
Förster-Nietzsche, Elisabeth 19, 21, 29, 34, 36, 40, 46, 49, 51–56, 59–70, 74–81, 84 f., 87–102, 107, 109–115, 117, 119–121, 125 f., 128, 130, 137, 138–142, 146 f., 151, 155–157, 160, 164 f., 167–170, 175, 177, 185, 191, 193, 197–199, 206, 208–211, 215– 217, 239, 244–246, 261 f., 283 f., 286 f., 291–293, 299–305, 316, 319, 354, 420, 423, 456, 486, 490 f., 495, 504 Forel, Auguste 429 Fornari, Maria Cristina 294 Foucaud, Eulalie 402 Foucault, Michel 20, 180, 296 f., 339, 351 Foucault de la Motte, Elisa 403 Fournier, Alfred 158, 254, 448, 477 France, Anatole 433 Franz I., frz. König 332, 377 Freiligrath, Ferdinand 261 f., 391, 420 Frenzel, Ivo 202 Freud, Sigmund 15, 20, 153, 222, 233–235. 254, 261, 267, 299, 313, 345–347, 362, 401 f., 411, 418, 429, 454, 462, 493 Friedrich Wilhelm IV., preuß. König 34, 155, 194, 196 f. Friedrichs, Heinz 300 Fritsch, Theodor 84–86, 102, 104, 130, 141 f., Fröschen, Stefanie 20, 94, 336, 431, 435–437, 447 Fuchs, Britta 318 Galton, Francis 305 Gamm, Hans-Joachim 494 Gasser, Peter 309 Gasser, Reinhart 233, 267, 299 Gast, Peter, s. Köselitz Gauland, Alexander 484 Gay, Peter 456 f., 471 f. Geiger, Ludwig 339 f. Gelpke, Lutz 131, 294 Gennerich, Wilhelm 134, 470 Gentsch, Lutz 118, 140, 153 f., 176
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Personenregister Georg(-Lauer), Jutta 174, 242 f., 295, 350 Gerhardt, Volker 29, 37, 123, 125, 127, 142 f., 321 Gerlach, Hans-Martin 140 Gersdorff, Carl von 29, 65, 102, 105, 125, 132, 160 f., 166, 170, 187, 206, 209 f., 217–219 Gilman, Sander L. 27, 36, 50–52, 69, 97 f., 146, 163, 204, 225, 328, 373, 406, 466, 493 f., 503 Gloßmann, Erik 39, 453, 456 Goch, Klaus 154 f., 195 f., 202 Goebel, Hans 120–122 Goens, Jean 167, 254, 433, 448 Goering, Reinhard 23, 118 f., 136 Görner, Rüdiger 436 Goethe, Johann Wolfgang v. 355 Goncourt, Edmond de 171 f., 212, 380 f., 392, 397 f., 408–419, 421, 426, 433 f., 443, 458, 506 Goncourt, Jules de 89, 171 f., 212, 281, 381, 392, 398, 403, 408–419, 421, 426, 443, 458, 506 Gray, Francine du Plessix 407 f. Gregor-Dellin, Martin 224 f. Grill, Bartholomäus 73 Grimm, Hans 484–486 Groddeck, Wolfram 296 Gröne, Maximilian 332 f. Grosz, George 479 Günther, Friederike 375 Günther, Hans F. K. 103 Guerreschi, Luca 37 Gumpert, Martin 134 Guthke, Karl S. 48 Gutjahr, Oskar 89, 151, 158 Haberich, Max 450, 457, 462 Häfner, Ralph 411 Härtle, Heinrich 127–129, 163, 165, 183, 186, 483 Häubi, Florian 279 Hahn, Judith 502 f. Hallervorden, Julius 503 Hamann, Brigitte 494 Hamann, Otto 117
Hankey, Frederick 417 Hansson, Ola 39 f., 46, 51, 80, 101, 318, 451–453, 455 Harden, Maximilian 45, 51, 68 Harich, Wolfgang 24, 45, 118, 140, 146 f., 153, 165, 186 Harms, Ingo 481 Harmsen, Hans 324 Harten, Hans-Christian 103 Hartmann, Christian 450, 484, 491 Hausmann, Friederike 334 Havemann, Daniel 189 Hayden, Deborah 166 f., 185, 212, 309 f., 332, 395–397, 407, 436, 495– 497 Hayman, Ronald 158 Heine, Heinrich 174 f., 279, 373 f., 382, 389 f., 437 Heine, Susanne 320 f. Heinze, Hans 502 Heinze, Max 39, 80, 318 f. Hellpach, Willy 68 Hemmings, F. W. 427 Hennique, Léon 436 Henriques, Rogério Paes 153 Henschel Gerhard 494 Heyde, Werner 502 Heydrich, Reinhard 509 Heyse, Paul 97 Hideyo, Noguchi 474 Hildebrandt, Kurt 124, 166 Himmler, Heinrich 184, 236, 495, 499 Hitler, Adolf 103 f., 106, 120, 135, 143–145, 165, 167, 346, 447, 477, 480–483, 485 f., 488–496, 501, 504 Hitler, Alois 494 Hitler, Klara, s. Pölzl Hödl, Hans-Gerald 101, 190, 197, 281, 309 Höfer, Friederike X. E. 22 Hölderlin 142, 176, 251 Hoffmann, David M. 49 f., 484 Hoffmann, Erich 470 Hofmannsthal, Hugo von 455 Hofmiller, Josef 56, 117 f., 121 Holub, Renate 350 Holub, Robert C. 110, 319, 350
542 https://doi.org/10.5771/9783495823996 .
Personenregister Horkheimer, Max 127 Houellebecq, Michel 410 Hoyer, Timo 24, 163 f., 184, 186 Hugo, Victor 357, 401, 407 f. Hus, Jan 336 f. Hutten, Ulrich von 336, 338 Huysmans, Joris-Carl 47, 342, 405, 412 Ibsen, Henrik 48, 204, 292, 449 Jacobi, Jutta 467 Janz, Curt Paul 49, 161 f., 164, 196, 201, 203, 211 Jaspers, Karl 76, 123–127, 186 Jesinghaus, Walter 68, 71 Jesus von Nazareth 313 Julius II., Papst 336 Jung, Carl Gustav 86 f. Käßmann, Margot 507 Kaiser, Gerhard 262 Kaminsky, Nathan 447 Kant, Immanuel 164, 237 f., 242, 264, 345 Kaposi, Moritz 466 Karl VIII., frz. König 332, 334 f. Karlauf, Thomas 106 Katharina II. (»die Große«), russ. Kaiserin 493 Kaufmann, Sebastian 108, 136 Kaufmann, Walter 126, 356 Keller, Cornelia 483 Kemp, Friedhelm 396 Kerkmann, Jan 253 Kertbeny, Karl Maria (eig. Benkert) 382 f. Kiefl, Franz Xaver 71 Kihn, Berthold 502 Kjaer, Jørgen 200 Klaas Meilier, Brigitta 391 Klee, Ernst 447, 488, 495, 501–503 Klemperer, Victor 333, 375, 390–392, 410, 412 f., 418, 433 Klönne, Arno 477 Klopstock, Thomas 61, 171, 174 f. Koegel, Fritz 81, 83
Köhler, Joachim 38, 94, 147 f., 166, 186, 258, 260 f., 320, 325, 336, 346 f., 397, 433 Körber, Thomas 46 Köselitz, Heinrich 33, 46, 48–51, 76, 79–82, 115 f., 137, 141, 148, 151, 157, 171, 176, 185, 191, 217, 281, 289, 301, 319, 355, 395, 424 Kogon, Eugen 503 Kohl, Helmut 477 Kolle, Kurt 125, 474 Kolumbus, Christoph 309 f., 405, 450 Kosminski, Aaron 447 Koopmann, Helmut 57, 61, 169–171, 203 f. Koschorke, Alfred 390 f., 393 Koszka, Christiane 61, 168, 171, 174 f., 186, 213 Krafft-Ebing, Richard v. 362, 392, 448 f., 455 Kratzer, H. 422 Kraus, Karl 353 Krause, Robert 253, 299, 395, 397 Kretzer, Eugen 225 Krüll, Marianne 46 Krug, Walther 77 Krummel, Eva 115 Krummel, Richard Frank 96, 107, 115 f., 125, 127, 132 f., 213, 300 Kruse, Joseph Anton 374 Kühn, Herbert 418, 420, 435 Kunze, Carl Ferdinand 21, 150, 157, 177, 373, 379 Kurth, Wolfram 159, 207, 397 Kynast, Karl 102–104 Labisch, Alfons 473 Lacher, Rolf-Peter 462, 465 Lagarde, Paul de 486 Lagier, Suzanne 408, 410, 419 Lampl, Hans-Erich 418 Landmann, Michael 206 Langbehn, Julius 79 f. Lange, Werner P. 479 Lange-Eichbaum, Wilhelm 131–133, 140, 157, 159 f., 166, 176, 186, 203, 207, 213, 397
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Personenregister Langer, Walter Charles 494 Lanzky, Paul 204 Large, Duncan 309, 398, 409 Lauster, Martina 299, 397 Le Rider, Jacques 297, 398, 452, 455, 457, 463, 471 Lecky, William Edward Hartpole 277 Lemm, Vanessa 20 Lenau, Nikolaus 65 Leo X., Papst 336 Leo XII., Papst 369, 448 Léonard, Jacques 404 Leopardi, Giacomo 172, 391 Lepenies, Wolf 410 f. Leppmann, Fritz 497 Lindau, Paul 357, 384, 392 Loeb, Paul 249 Lönker, Fred 461 Loewenstein, Georg 324, 331, 335 Lohberger, Hans 205, 259 Lohwasser, Diana 351 Lombroso, Cesare 73 Long, Thomas A. 19, 180, 283 Losurdo, Domenico 24, 164 f., 168, 184, 245 Lukács, Georg 144, 146 Luther, Martin 122, 316–328, 336, 338 f., 342–348, 386, 456, 506 Mabin, Dominique 172 Mahal, Günter 341, 421 Manet, Édouard 397, 428, 431 Mann, Heinrich 356 Mann, Thomas 19, 46–48, 56–58, 60, 115, 133–136, 148, 161, 166, 169– 171, 176, 241, 295, 479 f., 487 Marcuse, Ludwig 107 Marquis de Sade, eig. Donatien Alphonse François, Comte de Sade 358, 383 f., 398, 421 Marsal, Eva 203 Marton, Scarlett 282 Matray, Maria 386, 388–390 Matz, Wolfgang 396 f., 411 Maupassant, Guy de 20, 148, 167, 211 f., 224, 349, 398 f., 403 f., 412, 421, 424, 426, 431–440, 451, 465
Maurois, André 388 f. Mayer, Christine 361 Medici, Lorenzino de 386 Medici, Allessandro de 386 Meier, Heinrich 242 f., 253, 264, 294 f. Meissner, Alfred 383 f. Mennel, Hans-Dieter 56 Mérimée, Prosper 368, 387 f. Messer, August 498 Mettenleiter, Andreas 499 Meyer, Conrad Ferdinand 336 Meyer, Richard M. 71 Meyer-Drawe, Käthe 320 Meynert, Theodor 455 Meysenbug, Malwida von 19, 84, 205, 218, 225 f., 286 Miller, Charles Anthony 206, 262 Mitscherlich, Alexander 501 f. Mittmann, Thomas 78 Möbius, Paul Julius 22, 60–68, 70 f., 74, 85, 89, 99, 105 f., 107, 123, 129, 131, 133, 155, 174, 190 f., 242, 315 f. Möller, Heinrich 115, 171 Mohammed 197 Monaldi & Sorti 339 Montaigne, Michel Eyquem de 173 Montinari, Mazzino 74, 79 f., 84, 141 f., 218 f., 226 f., 286, 319 Montinari, Sigrid 171 Moore, Gregory 104, Morgenstern, Martin 206 Morgenstern, Matthias 324 f. Morillas, Antonio 77 f., 207 Morillas, Jordi 77 f., 206 Muchembled, Robert 384 Mühsam, Erich 353 Müller, Enrico 24 f., 263 f., 266, 300 Müller-Buck, Renate 83, Murger, Henry 411 Musset, Alfred de 382–393, 396, 401, 406 f., 411, 433, 437 Mussolini, Benito 135 f., 489 Nasser, Eduardo 274 Napoleon Bonaparte 197 Natorp, Paul 325, 429 Naumann, Otto 258
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Personenregister Neill, Alexander Sutherland 492 Nerlich, Michael 371 f., 382 Neumann, Hans-Joachim 483, 495 Neymeyr, Barbara 219, 461 Niederland, William G. 336 Nietzsche, Carl Ludwig 48, 63 f., 89, 97, 108, 157, 166, 170, 192–205, 221, 257, 269, 271, 281 f., 284 f., 367, 429 Nietzsche, Elisabeth s. unter FörsterNietzsche Nietzsche, Erdmuthe Dorothea 154 f., 198 Nietzsche, Franziska 19, 32, 35 f., 63, 82, 84, 88 f., 90 f., 101, 129 f., 135, 138, 151, 154, 156, 164, 166, 195, 200, 204 f., 208, 239, 261, 272, 282, 354, 367, 371, 380, 422, 431 Nietzsche, Friedrich August Ludwig 154 Nietzsche, Gotthelf Engelbert 46 Nietzsche, Joseph 87–91, 95, 148, 156 f., 166, 192, 199–205, 207, 221, 235, 257, 269, 419 Nitsche, Paul 502 Nohl, Herman 325, 328 f., 496 Nolte, Ernst 164 f. Nolte, Josef 337 Nowak, Kurt 324 Oduev, Stepan 24, 140, 143, 146, 165, 186, 278 Oehler, Adalbert 90 Oehler, Franziska, s. Nietzsche Oehler, Max 100 Oehler, Richard 138 f. Oelkers, Jürgen 319 f., 354 Oelze, Friedrich Wilhelm 137 Ôhashi, Ryôsuke 253 Onfray, Michel 490 Ott, Louise 286 Overbeck, Franz 33, 49, 61, 68, 76, 80 f., 90, 98, 123, 126, 129 f., 137– 139, 176, 198, 205 f., 226, 239, 245, 250, 258, 281, 305 f., 319, 367, 374, 422 f., Owen, Christopher M. 17
Paasche, Hans 476 f. Pachnicke, Hermann 96 f. Paneth, Josef 300 f. Panizza, Oskar 47, 317, 335, 337–334, 473 Patoussis, Stavros 352 Paulsen, Friedrich 43 Paulick, Christian Pehnt, Wolfgang 441 Pernet, Martin 77 Pestalozzi, Johann Heinrich 362 Pestalozzi, Karl 299, 394 f., 397 Peters, Carl 73 Pfannmüller, Hermann 502 Pfenningsdorf, Emil 71 Pichois, Claude 397 Pinchon, Robert 437 Piecha, Detlev 126 Pieper, Annemarie 350 Pleyer, Kleo 484 f. Ploetz, Alfred 488 Podach, Erich F. 16 f., 36, 54, 75, 78, 89, 97 f., 106–108, 118, 121, 129 f., 132–134, 138 f., 151, 176, 205, 287, 295, 316, 344 Poe, Edgar Allan 391, 396, 415 Pölzl, Klara 494 Poltrum, Martin 179 Pontalis, Jean-Bertran 400 Popert, Hermann 473–480 Posner, Carl 456, 476 Powell, George 423 f. Praz, Mario 358, 382–384, 396, 417, 422 f. Prêtre, Isabelle 38 Prideaux, Sue 29 f., 90, 108 Pütz, Peter 46 Puschner, Uwe 490 Rabelais, François 332 Radkau, Joachim 476 Rahden, Wolfert von 59 Rank, Otto 437 Redlich, Fritz 489 f. Rée, Paul 49, 53, 84, 89, 137, 239, 353 f. Reich, Hauke 54, 203, 258, 420
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Personenregister Reich, Wilhelm 492 Reik, Theodor 402 Rein, Wilhelm 318 Reinelt, Johannes 51, 78 Reinhard, Maria 462, 467, 471 Reinhardt, Volker 316 f., 331, 334– 336, 339–341, 348, 385 f., 443 Reschke, Renate 287, 350 Restif de la Bretonne, Nicolas Edmond 384 Reulecke, Jürgen 477 Reuter, Denis 110 Reventlow, Fanny Gräfin zu 353 Riario, Pietro 441–443 Ribbing, Seved 452–457, 504 Richter, Cornelie 69 Richter, Raoul 44 f., 66, 68–71, 74–79, 106, 124, 139, 141, 145, 164, 185, 244, 283 Ries, Wiebrecht 257, 296 Ritschl, Friedrich Wilhelm 31, 219, 256, 398 Ritschl, Sophie 398 Roderich-Stoltheim, s. Fritsch Röver, Carl 444, 481 f., 497, 499–502 Rohde, Erwin 146, 219, 223 f., 271, 288, 271 Rohrbach, Paul 476 Roscher, Wilhelm Heinrich 59 Rosenberg, Alfred 125, 128, 336 Ross, Werner 196, 209, 316, 350, 352, 355 f., 371, 419–421, 433 Rossbach, Susanne 374, 378, 380 f. Rotterdam, Erasmus von 336 Rousseau, Jean-Jacques 355, 359– 366, 368, 376, 387, 391, 402, 431 Rozerot, Jeanne 427 Rupschus, Andreas 308 Russell, Bertrand 216 f., 291, 301 Saarinen, Sampsa A. 312 Sacher-Masoch, Leopold v. 455 Sachslehner, Johannes 467, 471 f. Safranski, Rüdiger 30, 108, 189 f., 294 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 398 Sakmann, Paul 363 Salanskis, Emmanuel 20
Salaquarda, Jörg 226, 249 Salomé, Lou von, s. Andreas-Salomé Salomon, Alice 116 Sand, George, eig. Aurore Lucille Dupin de Francueil 385–387, 393, 398, 407, 411, 434 Sarasin, Philipp 328 Sarrazin, Thilo 299 Sartre, Jean-Paul 395, 399, 424 Savonarola, Girolamo 336 f. Sax, Leonard 17, 166 Saxer, Sybille 466 Schaberg, William H. 222 Schacht, Richard 240 Schain, Richard 17, 26 f., 30, 61, 90 f., 95, 143, 149, 156–162, 166 f., 176 f., 186, 213 Schaller, Carlo 17 Schaudinn, Fritz 469 Scheffel, Helmut 407 Scheffel, Michael 464 Scheffler, Ludwig v. 146, 148 Scheible, Hartmut 456, 472 Schiffter, Roland 17 f., 22, 60, 93, 171, 174 f., 186, 373 Schimanski, Folke 456 Schirnhofer, Resa von 63, 204, 259 Schlaffer, Heinz 118 Schlechta, Karl 75, 137 f., 140 f., 209, 215, 218, 300 Schlesinger, Elisa 403 Schlesinger, Maurice 403 Schmeitzner, Ernst 54, 139 Schmidt, Hermann-Josef 194, 198, 200, 315 Schmidt, Jochen 24, 181 f., 184, 186, 231, 233, 265, 335, 353, 463, 490 Schmidt, Ulf 480, 498 Schmidt (-Grépály), Rüdiger (W.) 214, 217, 263, 301 Schmücker, Pia Daniela, s. Volz Schnabel, Ernst 91–93, 101, 170 Schneider, Carl 496 Schnitzler, Arthur 353, 449–473 Schnitzler, Johann 449 f., 453, 461 Schober, Rita 425, 427
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Personenregister Schochow, Michael 130 Schonlau, Anja 167 f., 185, 253, 332 f., 339, 341 f., 373, 375 f., 447–450, 477, 479, 497 Schopenhauer, Arthur 176, 206–208, 230, 265, 454 Schüle, Heinrich 43 Schulte, Günther 94, 100, 145–148 Schumann, Robert 65 Schurig, Arthur 388 Schweidler, Walter 318 Seichter, Sabine 318, 361 f. Selwyn, George 414, 417, 421 Seydlitz, Reinhart von 108, 253 Shakespeare, William 333 Sieburg, Friedrich 435–437 Sieg, Ulrich 29, 37, 50, 60, 217 Sigusch, Volkmar 382, 454, 492 Sixtus IV., Papst 332, 441 Skowron, Michael 312 Sloterdijk, Peter 144, 345 Sommer, Andreas Urs 21, 81, 253, 265, 267 f., 271, 274, 277–279, 283, 286, 288 f., 294–296, 316, 324, 334, 408, 420 Sommer, Fred 351 Spiethoff, Bodo 447 f., 475, 480 f., 494, 499 f. Spitteler, Carl 214 f., 306 Sprengel, Peter 457 Springer, Brunold 79, 105 f., 167, 331, 444, 474 Steger, Florian 130 Stegmaier, Werner 24 f., 179 f., 213, 215, 258, 260, 286, 308 Stein, Heinrich von 258 f. Stellino, Paulo 81 Stendhal, eig. Henri Beyle 65, 207, 333–335, 343, 355, 366–371, 386, 396 Stephan, Paul 247 Stevenson, Robert Louis 447 f. Stocker, Bram 448 Stöcker, Adolf 316 Stöcker, Helene 105 Sträßner, Matthias 204 Streicher, Julius 490, 499
Strindberg, August 451, 453, 455 Sue, Eugène 376 Swinburne, Algernon Charles 357, 415, 419–422, 433 Szynka, Peter 320 Taine, Hippolyte 323, 431 Taton, Anne 253 Taureck, Bernhard 24, 183 f., 186, 291 Tausenau, Richard 472 Tebben, Karin 462 Tenorth, Heinz-Elmar 320 Thiel, Ernst 52, 139 Thomä, Dieter 252, 396 Thomé, Horst 451 Thüring, Hubert 296 Tönnies, Ferdinand 43 Torberg, Friedrich 471 Treitschke, Heinrich v. 491 Truman, Joel 350 Tucholsky, Kurt 341 Türck, Hermann 39–45, 58, 71 f., 80, 85, 104, 182, 186, 265, 318 f. Türcke, Christoph 200 f., 336 Turgenjew, Iwan 399 Turina, Carlo 33, 152, 158 Uhlhorn, Gerhard 328 Ulbach, Louis 412 Ulrich, Aquilin 503 Unger, Hellmuth 502 Ungern-Sternberg, Isabella 69, 185 Urban VIII., Papst 336 Vaget, Hans Rudolf 46 f. Veit, Aloisia 482 Verrechia, Anacleto 113, 151 Vesper, Bernward 484 f. Vesper, Will 484 f. Vetter, August 66 Villinger, Werner 496 Vinken, Barbara 400, 403, 406 f. Vivarelli, Vivetta 173, 252 Volkmann-Leander, Richard v. 129 f. Voltaire, eig. François-Marie Arouet 18, 332–334, 352, 355, 361, 363, 365, 450
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Personenregister Volz, Pia Daniela, auch: Schmücker 17, 19, 27, 30 f., 36, 38, 53, 55, 68 f., 89, 94, 112, 130, 134, 149–152, 156–158, 162, 166 f., 174, 177, 179, 185, 187, 203, 210 f., 212, 225, 233, 235, 250, 255, 287, 411, 422, 460 Vorberg, Gaston 94, 115, 119 f., 129 f., 157, 203, 366, 409 Voß, Hendrik Christian 450 Vulpius, Walther 98–100, 146, 185, 475 Wachendorff, Elke 22 f. Wachsmuth, Curt 59 Wagner, Cosima 74, 286 f. Wagner, Gerhard 496 Wagner, Richard 82, 103 f., 112, 147, 152, 193, 218–221, 224–227, 230 f., 251, 254 f., 258, 286–289, 313, 334, 352, 393 f., 402, 417, 428, 485, 489 Wahrig-Schmidt, Bettina 277, 396, 487 Weber, Ernst 318 f. Wedekind, Frank 467 Weinzierl, Ulrich 451, 457, 467, 472 Wellek, René 375 Wentler, Ernst 502 Werner, Renate 388 Westernhagen, Curt v. 128 Wichern, Johann Hinrich 326–328 Widmann, Josef Viktor 215 Wiesenthal, Simon 494 Wild, Cornelia 403
Wilde, Oscar 167, 342 f., 396, 421, 440–442 Wilkes, Johannes 154 Wille, Ludwig 34 Willmann, Otto 43, 319, 360 f. Willms, Johannes 368–370, 386 Wilhelm II., deutscher Kaiser 75 f., 82 f., 121, 285, 302, 316, 341 f. Winkler, Markus 397 Winteler, Reto 60 f., 86, 118, 140, 175–178, 224–226 Wistrich, Robert S. 103 Wolf, Hugo 118 Wolf, Jean-Claude 322, 441 Woltmann, Ludwig 78 Wotling, Patrick 278 Wünsch, Marianne 461 Würzbach, Friedrich 150 Wyneken, Gustav 407 Yalom, Irvin D. 38, 152 f. Zieger, Karl 468 Ziegler, Theobald 68 Ziehen, Theodor 205 Zittel, Claus 258, 262, 271 Zöberlein, Hans 499 Zola, Émile 41, 43 f., 98, 329, 357, 413, 415, 418, 424, 432, 439, 453, 457, 462, 469 Zweig, Stefan 314, 449 f., 469–471, 474 f.
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