Die Dämonisierung der Anderen: Rassismuskritik der Gegenwart 9783839436387

The recent media, political and everyday treatment of forced migration has made overt racism "socially acceptable&q

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German Pages 208 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Die Dämonisierung der Anderen. Einleitende Bemerkungen
Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa
Juden: Vampyre – Gemeinschaftsschädliche Dämonen
Die Geister, die wir riefen! Europas Terror – Gedankensplitter
Doch wieder! Die Selbst-Barbarisierung Europas
Nichts als Ideologie? Eine Replik auf die Abwertung rassismuskritischer Arbeitsweisen
Nationale Bedürfnisse und soziale Ängste
Die verkannte Angst des Fremden. Rassismus und Sexismus im Kontext medialer Öffentlichkeit
Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaft
Die Entrechtung national, religiös oder rassistisch konstruierter ›Anderer‹. Historische Schlaglichter und gegenwärtige Formen
›Nach Köln‹ – Zusammenhänge von Sexismus und Rassismus thematisieren
Stop Slumming! Eine Kritik kultureller Bildung als Verhinderung von Selbstermächtigung
Geographien des Rassismus
Unsere Farm in Zhengistan. Koloniale Muster in der Gegenwart
Autor_innen
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Die Dämonisierung der Anderen: Rassismuskritik der Gegenwart
 9783839436387

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María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.) Die Dämonisierung der Anderen

X T E X T E

María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Anne Sauerland, Bielefeld; Kerstin Rottler, Marburg Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3638-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB-ISBN 978-3-7328-3638-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Die Dämonisierung der Anderen Einleitende Bemerkungen María do Mar Castro Varela & Paul Mecheril | 7

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa Schirin Amir-Moazami | 21

Juden: Vampyre – Gemeinschaftsschädliche Dämonen Micha Brumlik | 41

Die Geister, die wir riefen! Europas Terror – Gedankensplitter María do Mar Castro Varela | 57

Doch wieder! Die Selbst-Barbarisierung Europas Nikita Dhawan | 73

Nichts als Ideologie? Eine Replik auf die Abwer tung rassismuskritischer Arbeitsweisen İnci Dirim, María do Mar Castro Varela, Alisha M. B. Heinemann, Natascha Khakpour, Doris Pokitsch, Hannes Schweiger | 85

Nationale Bedürfnisse und soziale Ängste Naika Foroutan | 97

Die verkannte Angst des Fremden Rassismus und Sexismus im Kontext medialer Öffentlichkeit Meltem Kulaçatan | 107

Bedroht, angstvoll, wütend Affektlogik der Migrationsgesellschaft Paul Mecheril & Monica van der Haagen-Wulff | 119

Die Entrechtung national, religiös oder rassistisch konstruierter ›Anderer‹ Historische Schlaglichter und gegenwär tige Formen Claus Melter | 143

›Nach Köln‹ – Zusammenhänge von Sexismus und Rassismus thematisieren Astrid Messerschmidt | 159

Stop Slumming! Eine Kritik kultureller Bildung als Verhinderung von Selbstermächtigung Carmen Mörsch | 173

Geographien des Rassismus Andreas Pott | 185

Unsere Farm in Zhengistan Koloniale Muster in der Gegenwar t Aram Ziai | 193

Autor_innen | 201

Die Dämonisierung der Anderen Einleitende Bemerkungen María do Mar Castro Varela & Paul Mecheril

I. Gewalt kann als aktiver und zuweilen absichtsvoller Versuch der Herstellung und Bewahrung einer sozialen Ordnung verstanden werden. In Zeiten zunehmender Brüchigkeit von Gewissheiten und sozialer Fragilität, in Zeiten des Kampfes um hegemoniale Ordnungen tritt Gewalt vermehrt auf und zwar auch jene, die sich gegen in dominanten Ordnungen als Andere hervorgebrachte Personengruppen richtet. Bemühungen, diese Gewalt als legitime auszugeben, stellen Versuche dar, die Rechtmäßigkeit einer spezifischen sozialen Ordnung auszuweisen. Gewalt etwa gegen Geflüchtete oder auch rassistisch belangbare Personen bezeichnen insofern Phänomene der Sicherung einer Ordnung symbolischer und materieller Hierarchie. Unter Bedingungen der Zunahme von Gewalt ist es geboten, über Gewalt zu sprechen. Dies ist ein Motiv, das zu der Entstehung dieses Buchprojektes geführt hat. Sollen Gewaltverhältnisse deutlich gemacht und analysiert werden, ist über diese zu sprechen; durchaus getragen von dem Motiv, für andere Verhältnisse einzutreten, in denen weniger symbolische und materielle Gewalt erforderlich ist. Es ist über Gewalt zu sprechen – über männliche Gewalt, über Gewalt im Namen einer Religion, über sexistische wie auch rassistische Gewalt. Doch wäre über Gewalt zu sprechen, ohne dass dieses Sprechen und Handeln selbst zu einer selbstherrlichen Gewalt gerät. Wer, wie beispielsweise manche Politiker_innen bürgerlicher und mithin als respektabel geltender Parteien, religiöse und/oder migrantische Gruppen unter Generalverdacht stellt, handelt nicht gegen Gewalt, sondern ist Teil und Motor der Gewaltverhältnisse, die es zu verändern gilt. Die zentrale Frage, der wir in diesem Zusammenhang verpflichtet sind, lautet darum: Wie kann Gewalt thematisiert werden, ohne dass diese Praxis selbst zu einer unangemessen Gewalt wird?

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Anschläge auf Unterbringungen für Geflüchtete, rassistische Übergriffe körperlicher und sprachlicher Art, politische Maßnahmen, um Andere sterben zu machen, die kulturelle Legitimierung dieser Praxis, pauschale Urteile über die kollektive Rückständigkeit Anderer, Wahrnehmung und Erleben der Gefahr, die von ihren Körpern ausgeht... Die rezente mediale, politische und alltagsweltliche Behandlung von Flucht und Migration hat deutlich gemacht, wie sehr in Europa die Bereitschaft zu Denk- und Handlungsweisen besteht, die an rassistische Deutungs- und Urteilsmuster anschließen, von diesen vermittelt sind und diese stärken. Rassismusaffines und rassistisches Sprechen, Empfinden und Handeln findet sich nicht nur in den sich statistisch ausbreitenden sogenannten rechten, rechtsnationalen oder rechtspopulistischen Milieus (wie AfD, Front Nationale, PEGIDA, FPÖ). Vielmehr handelt es sich bei diesen Praktiken um ein verbreitet und gängig zur Verfügung stehendes und in Anspruch genommenes Muster der Selbst-, Welt- und Fremddeutung. In diesem Rahmen spielt die Praxis der Dämonisierung der imaginierten Anderen eine bedeutsame Rolle. Immer dann, wenn gesellschaftliche Ordnungen, in denen materielle und symbolische Privilegien differentiell zugewiesen sind, in Krisen der Funktionalität und der Legitimität geraten, ist die Dämonisierung der in der jeweiligen Ordnung als Andere Geltenden ein probates Mittel, die Ordnung zu stärken. Dies gilt auch und in besonders klarer Weise für rassismuskritisch aufzuklärende Ordnungen. Die Dämonisierung der Anderen direkt und indirekt über mediale, politische, alltagsweltliche und nicht zuletzt wissenschaftliche Diskurse vermittelt dient dazu, Vorrechte zu schützen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen dieser hier knapp angesprochenen These in je spezifisch akzentuierter Perspektive nach, wobei sie sich unterschiedlichen empirischen Zusammenhängen zuwenden und mithin als analytische Mosaiksteine eines unfertig bleibenden Bildes der Logik der gegenwärtigen Dämonisierung der Anderen verstanden werden können. Unfertig bleibt dies Bild nicht nur, weil jedes wissenschaftliche Bild gesellschaftlicher Verhältnisse aufgrund seiner konstitutiven Perspektivengebundenheit nicht ›Vollkommenheit‹ beanspruchen kann. Vielmehr wird dieses die Zeichen der Zeit ernstnehmende Buchprojekt auch von dem Anliegen getragen, mit durchaus polemisch angelegten, analytischen Beiträgen renommierter Autor_innen eine Art intellektuelles Gegengewicht zum Mainstream des migrationsgesellschaftlichen Sprechens über das vermeintliche Bedrohungspotenzial natio-ethno-kulturell Anderer (das, was bedroht) und das vermeintliche Primat europäischer Werte (das, was bedroht ist) in die öffentliche Debatte einzubringen. Das Sprechen über ›Flüchtlinge‹ und ›Migranten‹ hat – auch im Zuge der diskursiven Geschehnisse rund um die ›Silvesternacht in Köln‹ und den ›Terroranschlägen‹ in deutschen Städten –, zunehmend den Modus einer Dämonisierung (imaginierter) Anderer angenommen, welche funktional für die

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vermeintliche Legitimität der Zurückweisung der (menschenrechtlich verbürgten) Ansprüche dieser Anderen ist; die Verschärfung der Asylgesetze, die Intensivierung der auf das Prinzip der Abschottung setzenden Europäischen Flüchtlingspolitik sind prominente Beispiele hierfür. Weil die Anderen dämonisch und ungezügelt sind, so die vielleicht kürzeste Analyseformel, sind wir befugt, uns vor ihnen und unsere Vorrechte zu schützen.

II. Als Dämonen werden gemeinhin böse Geister bezeichnet, denen eine übernatürliche Kraft und Macht nachgesagt wird (wikipedia.org). Sowohl das griechische δαίμων als auch das lateinische daemon verbindet dabei mit Dämonen sowohl positive wie auch negative Elemente. Beide Begriffe deuten nicht nur auf das Bedrohliche dieser als göttlich gedachten Wesen, es wird auch die beschützende Rolle von Dämonen betont. In den griechischen Sagen sind Dämonen Wesen, die zwischen Göttern und Menschen stehen. Für Plato etwa stellen sie übermenschliche Wesen dar, die die Schicksale der Menschen bestimmen, bei Homer werden die Götter selbst als Dämonen bezeichnet, dämonisch ist ihm mithin gleichbedeutend mit göttlich, und Hesiod wiederum, um ein letztes Beispiel aus den griechischen Sagen anzuführen, sieht in den Dämonen Schutzgeister, die die Seelen der Menschen aus dem goldenen Zeitalter repräsentieren. Die doppelte Bedeutung des Dämonischen verändert sich durch Verdrängung der positiven Bestimmung. Innerhalb des christlichen Denkens finden sich im Wesentlichen nur noch negative Vorstellungen. Dämonen und Teufel werden gleichsetzt: Sie bringen Unheil und verbreiten Angst und Schrecken. Es gilt sich vor ihnen in Schutz zu nehmen und diese zu bekämpfen – auch weil sie die Köpfe und Herzen der Gläubigen zu vereinnahmen suchen (wikipedia.org). In der christlichen Theologie werden innerhalb der Dämonenlehre Dämonen als gefallene Engel begriffen. Auch in der westeuropäischen Literatur herrscht die Vorstellung vor, dass Dämonen Vernichtung und Bedrohung mit sich brächten. Das Dämonische ist auch hier zumeist unheimlich und unheilbringend (Frey-Anthes 2008). Und so repräsentieren Dämonen angelehnt an den christlichen Glauben auch im Europäischen Alltagsbewusstsein ausschließlich negative Gestalten. Sie bedrohen die scheinbare Harmonie, dringen ein in vermeintliche Schutzzonen des Eigenen und bringen Übel, Gewalt und Leid. Dämonen stehen für Angst und Schrecken und den Verlust von Sicherheit. Gerade unter Bedingungen ausgeprägter Sicherheitsbedürfnisse etwa in der europäischen Gegenwart, die verstärkt bestimmt wird durch Risiko-, Gefährdungs- und Bedrohungsdiskurse, steht die Dämonisierung zwar für den prekären Status und vielleicht auch das Scheitern des Sicherheitsversprechens, ruft aber nach einer Intensivierung der Si-

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cherungsbestrebungen. Zwar scheint klar zu sein, dass absolute Sicherheit nicht garantiert werden kann, das hindert aber nicht daran, das ohnehin schon absurd gesteigerte europäische Sicherheitsstreben weiter zu verstärken, als sei vollkommene Sicherheit möglich. Je mehr klar wird, dass das Garantieren von absoluter Sicherheit selbst einen Mythos darstellt, desto mehr wird Sicherheit eingefordert und desto mehr wird entsprechend an staatlichen Eingriffen in das Leben hingenommen. Der Dämonisierungsdiskurs stellt einen effizienten Legitimierungsdiskurs für Sicherheit durch ein Mehr an gewaltvoller Ausgrenzung und Marginalisierung dar. Die gleichsam punktgenaue Verortung des Dämonischen bei postkolonialen männlichen Geflüchteten fungiert hierbei als projektiver Fokus und zugleich Garant für die Eindämmung europäisch-bürgerlicher Ängste. Neu ist diese Verortung nicht; sie ruft alte Ängste auf und bestätigt diese. Wir haben es hier mit einer Self-fullfilling-prophecy zu tun, die nach folgendem Schema abläuft: Spätestens seit der Kolonialzeit müssen insbesondere schwarze, muslimische und jüdische Bürger_innen wie auch Roma und Sinti als Repräsentant_innen des Dämonischen herhalten. Sie bringen, so der Glaube, das Verderben. Und jeder Fehltritt eines Einzelnen wird als Ausdruck des kollektiv Dämonischen interpretiert. Ein als muslimisch markierter Mann, der eine Frau vergewaltigt, ist dann nur Symptom für die Gewalttätigkeit aller ›muslimischen Männer‹. Sie seien sexistisch und gewalttätig, weil sie ›muslimische Männer‹ sind. Die Assoziation ›Die Türken vor Wien‹, die auf die zweite Belagerung Wiens durch das osmanische Reich im Jahre 1683 anspielt, ist heute noch in der Lage, Ängste gegenüber den muslimischen Bevölkerungen zu mobilisieren. Das Narrativ der wehrhaften Österreicher, die die ›wilden Horden‹ mit einer kleinen Armee besiegen, ist populär und wirksam zugleich, die Einwanderung aus muslimischen Ländern zurückzuweisen oder die Möglichkeit des Eintritts der Türkei in die EU zu desavouieren. Fortgesetzt wird dabei auf die Inkommensurabilität des christlichen und muslimischen Glaubens hingewiesen. So bemerkt der österreichische Außenminister Kurz in einem Interview mit Spiegel Online im August 2016: »Wir müssen endlich unsere Außengrenzen richtig schützen. Ich habe schon im Mai davor gewarnt, dass wir uns nicht in die Abhängigkeit der Türkei begeben.«1 Abschottungsdiskurse werden immer von Bedrohungsszenarien begleitet. Besonders wirksam, eindrücklich und mobilisierend ist hierbei die diskursive Dämonisierung und Barbarisierung der Anderen, die in einer Kontinuität zu den orientalistischen Bildern der Kolonialzeit stehen (siehe etwa Castro Varela/Dhawan 2015: 96ff.). Einer der zentralen Legitimierungsthesen der kolonialen Zivilisierungsmission war die Repräsentation der Anderen als barbarisch, unberechenbar und mithin gefährlich. Der koloniale Diskurs, der die Anderen als Andere hervorbrachte, ist insbesondere durch drei diskursive Felder bestimmbar. Zum einen den ›Rassediskurs‹, der eine globale hierarchi-

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sche Ordnung hervorbrachte, die naturalisiert wurde. Äußere Erscheinungsmerkmale wurden hierfür in eine untrennbare Verbindung mit nicht direkt sichtbaren Charakteristika von Personen und Gruppen gebracht. Die heute übliche Rede von Nationalcharakteren und Mentalitäten (der Türke an sich; die Asiaten an sich…) ist auf diese Praxis zurückzuführen. Wie Achille Mbembe anmerkt, kann über Rasse und den Rassismus »nur in einer fatal unzureichenden, grauen, also unangemessenen Sprache [gesprochen werden]«. ›Rasse‹, so Mbembe ist »eine Form urwüchsiger Darstellung […]. Da sie nicht zwischen Innerem und Äußerem, zwischen den Hüllen und ihrem Inhalt zu unterscheiden vermag«, weswegen »sie in erster Linie auf Oberflächenbilder« verweist (Mbembe 2014: 27). Die Einteilung in ›Rassen‹ erscheint den meisten Menschen auch heute noch logisch, klar und unüberwindbar. Innerhalb von Rassediskursen spielt zudem Sexualität immer eine hervorgehobene Rolle. Der Status der Anderen als nicht-zivilisiert wurde untermauert, indem die These aufgestellt wurde, dass sie nicht in der Lage wären, ihre sexuellen Begehren zu kontrollieren. Ihr Begehren kennt weder eine konkrete Zeit noch ein spezifisches Ziel. Die Anderen sind, so die kolonial-rassistische Ansicht (etwa McClintock 1995), aufgrund ihrer Unzivilisiertheit nicht in der Lage, das polymorph perverse Stadium zu überwinden, während das europäische Subjekt sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass es sein Begehren mit Bezug auf Quantität (immer in Maßen) und auch Qualität (dem Reproduktionsgebot und nicht der Lust folgend) unter nicht nur heteronormativer, sondern auch Klassen- und ›Rasse‹-Grenzen bewahrender Kontrolle habe. Diese Vorstellungen stellen letztlich heraus, dass die Anderen weder dazu in der Lage sind, sich selbst sexuell, aber auch nicht politisch zu regieren. Dummheit, die Unfähigkeit, wirkliches Wissen hervorzubringen, und sexuelle Kontrollunfähigkeit stehen in der politischen Phantasie in enger Verbindung, stärken und bestätigen sich wechselseitig und produzieren das dichte Bild der Unfähigkeit der Anderen, sich selbst zu regieren. Wir sind heute insofern nicht konfrontiert mit einem neuen Diskurs, sondern mit dem wirkungsreichen und sozusagen altbekannten kolonialen Zivilisierungsdiskurs im neuen Gewande.

III. Die Reaktualisierung von Dämonisierungsdiskursen schließt an koloniale Muster an und wird von diesen vermittelt, ihre Effekte sind freilich kontextrelativ. Heute geht es in den europäischen Städten nicht um eine simple Beherrschung der Anderen, aber durchaus um ihre soziale wie auch zahlenmäßige Kontrolle. Die fortdauernde Rekolonisierung und das Scheitern der Dekolonisierung der Welt produzieren immer neue Fluchtbewegungen. Die Zahl

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der Menschen, die vor Kriegen, ökologischen Katastrophen, diktatorischen Regimes fliehen und sich auf den Weg in Richtung der ehemaligen Kolonialmächte machen, nehmen immer weiter zu. Ende 2015 waren 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Dies ist die höchste Zahl, die jemals von dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) verzeichnet wurde. Im Inneren Europas löst dies bei der Mehrheitsbevölkerung nicht nur ein Gefühl von Bedrohung aus, sondern auch Affekte wie Angst und Wut, die, untermauert von Wertediskussionen, schnell in Hass und Gewalt umschlagen können. Die Zeit des Zelebrierens von ›Diversity‹ scheint erst einmal vorbei zu sein. Immer mehr ruft die Allgemeinheit nach Ausgrenzung, Homogenisierung und auch nach einfachen Antworten auf immer komplexer werdende soziale und politische Realitäten. Hingenommen wird ein gewaltvolles (nicht nur diskursives) Einschreiten gegenüber Minderheiten ebenso, wie das immer verschärftere Intervenieren der Regierungen in den privaten Lebensbereich. Wir haben es mit einer schleichenden und schrittweisen Totalisierung europäischer Gesellschaften zu tun, die von einer drohenden und deswegen von Akteuren wie Sarkozy oder Seehofer leichtfertig imitierten rechten Hegemonie getragen wird. So sind nicht nur Wahlentscheidungen für rechte Parteien europaweit angestiegen, auch rechtspopulistische zivilgesellschaftliche Artikulationen werden immer deutlicher vernehmbar. Neue Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD), die auf ihrer Website mit dem Slogan »Mut zur Wahrheit!« wirbt und in deren Wahlprogramm-Flyer unter anderem Sätze wie »Keine direkte Einwanderung in die Sozialsysteme« und »Maßvolle, gesetzlich geregelte Einwanderung aus Drittstaaten nach qualitativen Kriterien«2 zu finden sind, gewinnen so viele Wähler_innenstimmen, dass sie in einigen Länderparlamenten vertreten sind. In Ungarn und Finnland sind rechte Parteien in den Regierungen. In Frankreich steht der Front National in der größten Gunst des Wahlvolkes und kann, so hat es den Anschein, nur noch gestoppt werden, wenn es Sarkozy gelingt, mit ebenfalls nationalchauvinistischen Tönen und Versprechungen dagegen zu halten. Großbritannien hat die Bevölkerung mittels eines Referendums darüber abstimmen lassen, ob sie weiter EU-Bürger_innen sein wollen und den Brexit entschieden, wobei eines der wichtigsten Argumente war, dass Großbritannien nicht mehr Geflüchtete aufnehmen soll, weil dies angeblich die Möglichkeiten des einstig größten Kolonialreichs weltweit überfordert. Das Szenario, dass in Österreich bei den nächsten Bundespräsidentenwahlen der Vertreter der rechten Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) siegt, würde sicher nicht erstaunen… Der Zulauf dieser Bewegungen und politischen Strömungen verdankt sich nun zentral zwei Momenten. Es gelingt diesen Ansätzen erstens plausibel und erfolgreich, das Phantasma eines dämonisch-gefährdenden Anderen und eines gefährdeten Wir durch iterative Performanz, informationelle Einseitigkeit und instrumentelles Deu-

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tungsgebaren zu aktivieren. Dieses Phantasma kann zweitens nur in diesem Maße hermeneutisch-affektive Plausibilität entfalten, weil es eine lange Geschichte aufweist; die Dämonisierung der Anderen ist konstitutiv für auch von kolonialen Mustern vermittelten migrationsgesellschaftlichen Diskursen und Praktiken. Mit Blick auf PEGIDA sei dies hier kurz erläutert: Die sich im öffentlichen Raum in diffuser, widersprüchlicher und wenig elaborierter Weise artikulierende und unter dem Namen ›Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‹ (PEGIDA) zu einer spezifischen Bekanntheit geratene rechtspopulistische Ausdrucksform des Nationalen kann wohl kaum mit einer einzigen Erklärung erfasst werden. So ist die Motivation, die PEGIDA trägt, mit Deklassierungsantizipationen kleinbürgerlicher Milieus in Verbindung gebracht worden, Antizipationen, die angesichts fortschreitender kapitalistischer Ungleichheitsverhältnisse bei Leibe nicht aus der Luft gegriffen sind. PEGIDA kann weiterhin mit der seit der sogenannten Wiedervereinigung in bestimmten Regionen Ostdeutschlands erlebten Frustration über die Vereinnahmung durch einen bornierten, um es pointiert zu formulieren, Westdeutschismus in Beziehung gebracht werden. Neben und mit diesen durchaus plausiblen Erklärungen kann die Bewegung aber auch als Weigerung verstanden werden, mit letztlich unumgänglichen Zumutungen oder Entwicklungsaufgaben umzugehen, die mit der Spätmoderne verbunden sind. PEGIDA ist Lernverweigerung, eine Weigerung, den möglichen Spielraum eines anderen Handelns unter Bedingungen der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Moderne auszuloten. Die Artikulationen stehen ganz im Gegensatz zu dem, was Hannah Arendt (2011 [1965]) als »erweiterte Denkungsart« bezeichnet hat. Die Thesen, Analysen der Rechtspopulisten zeichnen sich durch eine geradezu brutale Simplizität aus. Eine Vereinfachung, die beängstigend ist, weil sie keinen Widerspruch und keine Zwischentöne duldet. So gehen moderne Verhältnisse mit sich ausschließenden normativen Bezugsgrößen einher, die gleichzeitig gelten und dadurch Widersprüche und Widerstreite erzeugen. Hier ist etwa auf den Widerstreit zwischen Partikularität und Universalität hinzuweisen, prominent den Widerstreit zwischen Menschenrecht und Unions-, Staatsbürgerschaft, also dem Widerspruch zwischen der als legitim geltenden Auffassung, Menschen komme qua Menschsein ein Recht auf würdevolles Leben zu und der zugleich als legitim geltenden Praxis, Menschen dieses Recht letztlich nicht zuzugestehen, weil sie nicht Staats- und/ oder Unions-Bürger_innen sind. Wir halten dies für einen grundlegenden Widerspruch moderner Verhältnisse, zu denen es sich im Maßstab politischer Verhältnisse wie im Maßstab des je eigenen Lebens zu verhalten gilt. Bereits Arendt (1994 [1943]) hat im Zusammenhang mit den desaströsen Effekten in der Post-Zweiter-Weltkrieg-Ära über die zwiespältige Rolle des Nationalstaates nachgedacht. Einerseits, so Arendt, gewähre der Nationalstaat seinen Bürger_ innen Schutz, einen Schutz, den die internationale Gemeinschaft und die rati-

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fizierten Menschrechte bei weitem nicht in gleicher Weise gewähren konnten und können. Anderseits produziere der Nationalsaat durch seine normativen staatsbürgerlichen Vorgaben Nicht-Bürger_innen und marginalisiere jene, die eben als nicht-zugehörig bestimmt werden. Für Arendt war dies Anlass, um kritisch sowohl über die Menschenrechte, die letztlich oft nicht einklagbar sind, und den Nationalstaat nachzudenken, der, um Zugehörigkeit herzustellen, immer auch Nicht-Zugehörigkeit und Nicht-Bürger_innen produziert. Die Einübung eines Sich-Verhaltens zu grundlegenden (welt-)gesellschaftlichen Widersprüchen scheint eine der vorrangigen und in Zeiten von PISA und Deutschlern-Wahn weitgehend vernachlässigten Aufgaben von Bildung in der Migrationsgesellschaft zu sein: Wie können wir in der global relativ privilegierten Region Mitteleuropas angesichts des Leidens, der massiven Entrechtungs- und Missachtungserfahrungen in vielen Teilen der Welt, deren Situation nicht unmaßgeblich auch mit europäischer Ökologie-, Ökonomie- und Rüstungspolitik verknüpft ist, leben? Das Wir, von dem hier die Rede ist, ist im Übrigen ein plurales und maßgeblich auf dem Hintergrund vielfältiger Migrationsbewegungen entstandenes Wir. PEGIDA als Identitätsbewegung im Zeichen eines imaginierten und phantasierten nationalen Wir (»Wir sind das Volk!«) kann als gewaltvoller Einsatz für die Auflösung des angedeuteten Widerstreits mit Hilfe der Abfälligkeit gegenüber imaginären Anderen (›die Muslime‹) und realen Anderen (Geflüchtete) verstanden werden. Nun sind aber 36 % der sogenannten Mitte-Studie Befragten der Ansicht: »Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben« (Decker/Kiess/Brähler 2016). 37  % der nicht-muslimischen Bevölkerung in Deutschland sind nach einer Studie des Instituts für empirische Integrationund Migrationsforschung der Berliner Humboldt Universität (BIM) der Ansicht, dass deutsche Vorfahren, auf welche Phantasien auch immer sich diese Figur bezieht, wichtig seien, um Deutsche_r sein zu können (BIM 2015). PEGIDA kann also nicht schlichtweg als Sammelsurium von, wie dies der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck Ende 2015 getan hat, »Chaoten« verstanden werden. Kritische Distanznahmen dieser Art attestieren dem, was sich in Dresden und anderswo zeigt, in mal parentaler, mal pathologisierender Geste eine Rückständigkeit. Dies ist auch deshalb kein probates Mittel der Kritik, weil sie die Herkunft des Affekts gegen Andere zur Bewahrung des vermeintlichen Vorrangs des Eigenen in historischer Kontinuität, gesellschaftlicher Normalität und Gewöhnlichkeit verkennt. Erinnern wir uns und lassen die Geschichte 1981 mit dem Heidelberger Manifest beginnen, also jenem berühmt-berüchtigten professoralen Text,3 in dem reaktionär vor der Zerstörung des kulturell verstandenen politischen Eigenen durch Migrant_innen gewarnt wird:

Die Dämonisierung der Anderen »Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums. Allein im Jahre 1980 hat die Zahl der gemeldeten Ausländer trotz Anwerbestopp um 309.000 zugenommen, davon 194.000 Türken. Gegenüber der zur Erhaltung unseres Volkes notwendigen Zahl von Kindern werden jetzt jährlich kaum mehr als die Hälfte geboren. Bereits jetzt sind viele Deutsche in ihren Wohnbezirken und an ihren Arbeitsstätten Fremdlinge in der eigenen Heimat.«

Erinnern wir uns an die Causa Sarrazin und der Relegitimierung rassistischer und antisemitischer Figuren (etwa: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 % höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung« [Sarrazin 2009: 201]) im öffentlichen Raum, was in den enormen Zustimmungswerten in allen, nicht zuletzt den bürgerlich-gebildeten Milieus einen allzu wenig problematisierten Ausdruck findet. Erinnern wir uns daran, dass Teile der mit Bundesregierungsverantwortung betrauten Parteienvertreter_innen vor wenigen Monaten noch für eine Deutschpflicht in sogenannten Migrantenfamilien plädiert haben (und sich nicht scheuen, wenig später als Repräsentant _innen der Meinungsfreiheit aufzutreten). Erinnern wir uns daran, dass Angela Merkel 2010 die ›multikulturelle Gesellschaft‹ für gescheitert erklärt hat und damit Forderungen nach assimilativer Integration eine starke kulturelle Legitimität verlieh. Rufen wir uns in Erinnerung, dass gewöhnliche Repräsentationsagenturen gesellschaftlicher Normalität, Medien etwa wie der SPIEGEL, der Stern, Sprecher_innen wie der ehemalige bundesdeutsche Innenminister Schily den von auch PEGIDA aufgerufenen phantasmatischen Antagonismus zwischen ›Europa‹ und ›Islam‹ bestätigen. 38 % der in der angesprochenen Berliner Studie Befragten sind der Meinung, dass wer ein Kopftuch trage, nicht Deutsch sein könne. PEGIDA artikuliert weit verbreitete Figuren, in denen sich diffus der Vorrang eines natio-ethno-kulturell kodierten Wir artikuliert. Erst wenn dieser Zusammenhang erkannt wird und die Möglichkeit seiner Kritik in Wissenschaft, Politik und Pädagogik zugelassen wird, wenn also die Herkunft des Extremen in den gewöhnlichen gesellschaftlichen Verhältnissen erkennbar wird, wird der Geist, der PEGIDA trägt, in der Kritik der gewöhnlich gesellschaftlichen Verhältnissen erkennbar und kann zurückgewiesen werden. Die Analyse der gewöhnlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Extreme tragen, steht im Fokus der Rassismuskritik.

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IV. Mit dem rassismuskritischen Blick auf migrationsgesellschaftliche Differenzverhältnisse wird nicht behauptet, dass jeder natio-ethno-kulturell kodierte Unterschied und jede Form der Ausgrenzung, Benachteiligung und Diskriminierung von rassistisch Diskreditierbaren rassistisch sei. Mit rassismustheoretischem Wissen wird es freilich möglich, zumeist eher implizit an Rassekonstruktionen anschließende Unterscheidungen zu erkennen und zu beschreiben, den Bedingungen ihres Wirksamwerdens nachzugehen sowie ihre Konsequenzen zu bestimmen. Unter der rassismuskritischen Perspektive werden natio-ethno-kulturell kodierte Unterscheidungen und Rechtfertigungen von Unter- und Entscheidungen der Gegenwart in Beziehung gesetzt zu rassistischen Differenzierungen; dies nicht, weil jede natio-ethno-kulturell kodierte Unterscheidung des Rassismus bezichtigt wird, sondern weil diese Unterscheidungen potenziell von rassistischen Unterscheidungen vermittelt sind und/oder diese potenziell stärken. Das rassistische Vermittlungs- und Verstärkungspotenzial von Unterscheidungen, die auf nationale, ethnische und kulturell-religiöse Kategorien zurückgreifen und die Einteilung der Welt in diese Kategorien stärken, werden unter rassismuskritischer Perspektive befragt. Rassismus wird im Rahmen von Rassismuskritik verstanden als eine von einem symbolischen Schema der hierarchisierenden und oppositionellen Unterscheidungen getragene Praxis, die Alltagsnormalität herstellt. An Rassismus anschließende Schemata, die über Medien, Diskurse, rhetorische und visuelle Figuren, die Handlungs- und Empfindungsweisen präformieren, erlernt und angeeignet werden und unter bestimmten Voraussetzungen aktualisiert werden können, stehen auf allen gesellschaftlichen Ebenen als potenzielle Deutungs- und Handlungsressourcen zur Verfügung (Mecheril/Melter 2009: 15). Der rassistische Komplex besteht aus kollektiven Bildern, Erzählungen und gesellschaftlichen Institutionen, »die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren« (Rommelspacher 2002: 132). Rassistische Diskriminierungs- und Distinktionspraktiken beziehen sich neben körperlichen Merkmalen auch auf kulturelle Merkmale (wie religiöse Praktiken und Symbole) und zielen auf Zuschreibungen, in denen ein Wir von einem nicht-Wir unterschieden wird. Insofern konstruieren rassistische Diskurse nicht nur die Objekte, sondern auch die Subjekte des Rassismus. Indem in spezifischer Weise geregelt ist, wer die ›Fremden‹ und ›Anderen‹ sind, ist auch immer das Nicht-Fremde und Eigene festgelegt. Rassistische Zuschreibungen produzieren und bestätigen – zum Teil subtil und unabhängig von den Intentionen der beteiligten Akteur_innen – Verhältnisse der Dominanz zwischen Gruppen mit Hilfe von Herabwürdigungsprozessen. Im Zentrum des rassistischen Denkens steht hierbei die binäre Konstruktion von natio-eth-

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no-kulturell kodiertem Wir und Nicht-Wir und damit einhergehend die bewertende Unterscheidung zwischen Wir und Nicht-Wir. Die epistemische und erkenntnispolitische Praxis der Rassismuskritik zielt darauf, zu untersuchen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse, Handlungsweisen und das Handlungsvermögen von Individuen, Gruppen und Institutionen durch Rassismen vermittelt sind sowie zu analysieren, welche Veränderungsoptionen und alternativen Selbstverständnisse und Handlungsweise, von denen weniger Gewalt ausgeht, realisierbar sind (Mecheril 2004, Melter/Mecheril 2009). Der vorliegende Versuch ist in diesem Sinne als eine rassismuskritische Antwort auf die fortschreitende Normalisierung rassistischer Praxis zu verstehen, eine Praxis, in der es immer selbstverständlicher wird, bestimmten Menschengruppen allgemeine Anrechte auf Formen würdevollen Lebens vermeintlich legitimer Weise vorzuenthalten, eine Praxis, die sich von einem Gesellschaftsmodell abwendet, die eine »Politik der Würde« (Margalit 1999) verfolgt und deren Institutionen wie Avishai Margalit bemerkt, nicht einmal ihre äußeren Feinde durch »Dämonisierung entmenschlichen« (ebd.: 115) sollte.

V. In dem vorliegenden Band finden sich Beiträge, die eine alternative Perspektive zum Mainstream des Sprechens über migrationsgesellschaftlich als Andere Geltende einbringen: eine kritische Intervention, die, so unsere Hoffnung, zu konstruktiven Debatten anregt, aber auch als Argumentationshilfe genutzt werden kann, um populistische Parolen und zunehmend hegemonial werdende rechte rhetorische Figuren begründet zurückzuweisen. Es ist nicht besonders elegant (fast wie wenn man die Pointe eines Witzes vorher erklärt), das Anliegen eines Buches zu erläutern. Doch scheint es uns geboten, im Sinne einer Gebrauchsanweisung, das Anliegen dieses Buchprojektes zu skizzieren, da in den Buchbeiträgen ein in besonders intensiver Weise affektbesetztes Feld behandelt wird, nämlich ›Gewalt und Migrationsgesellschaft‹. Je stärker ein Thema mit negativen oder positiven Affekten besetzt ist, desto wahrscheinlicher ist, dass Affektlogiken (siehe Mecheril in diesem Band) die Rezeption des Textes dominieren. Zudem gibt es Interessen und Distinktionsbedarfe (auch im wissenschaftlichen Feld), die den falschen Gebrauch der Texte anderer Autor_innen nach sich ziehen. Aus diesem Grund also eine Art unelegante Gebrauchsanweisung, die ein willentliches Falschlesen freilich weder verhindern kann noch will:

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María do Mar Castro Varela & Paul Mecheril

• In diesem Buch wird nicht in Abrede gestellt, dass (sexuelle) Gewalt auch von Menschen ausgeübt wird, die als ›Migranten‹, ›Muslime‹ gelten und/ oder sich so bezeichnen, • indem in diesem Buch beispielsweise die Vorfälle während der Kölner Silvesternacht als diskursives und politisches Ereignis behandelt werden, wird die Realität erfahrener sexueller Gewalt nicht in Abrede gestellt, • in diesem Buch wird nicht per se in Abrede gestellt, dass (sexuelle) Gewalt ausgeübt von Menschen, die als ›Migranten‹, ›Muslime‹ gelten und/oder sich so bezeichnen, auch in einem Zusammenhang stehen kann zu bestimmten Lebensformen, in denen Menschen sozialisations- oder subjektivierungsrelevante Erfahrungen gemacht haben, seien dies Lebensformen, die geographisch in Europa oder außerhalb Europas gelegen sind, • dieses Buch ist kein parteiisches Buch, zumindest nicht in dem Sinne, dass es an sich Partei ergreift ›für Migranten‹, ›für Muslime‹, ›für Schwarze‹, ›für Menschen, die rassistisch diskreditierbar sind‹, • vielmehr setzt sich dieses Buch kritisch mit der epistemischen, symbolischen, politischen und physischen Gewalt auseinander, die aus der diskursiven Erzeugung ›der Migranten‹ als Gefahr und Bedrohung resultiert, • Dämonisierung wird in diesem Buch als bedeutsame gesellschaftliche Praxis verstanden und untersucht (ohne dass damit behauptet wird, dass damit die Totalität des [Migrations-]Gesellschaftlichen erfasst sei) und nicht als Handeln bestimmter gar natio-ethno-kulturell markierter Gruppen, • es geht mithin darum, die Praxis der Dämonisierung, in der Gruppen als natio-ethno-kulturelle imaginiert werden, aufzuklären, und nicht, sie (in der Kritik) zu wiederholen.

A nmerkungen 1 »Wir dürfen gegenüber Ankara nicht in die Knie gehen« Interview mit dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz von Florian Gathmann, Spiegel Online, 3.8.2016; www.spiegel.de/politik/ausland/sebastian-kurzgegenueber-ankara-nicht-in-die-knie-gehen-a-1105993.html#js-article-com ments-box-pager (15.8.2016). 2 Siehe: https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/06 /AfD_Faltblatt_Wahlprogr_RL.pdf (8.8.2016) 3 Die Hauptinitiatoren waren Theodor Schmidt-Kaler, Astronom und Demographie-Experte, Professor an der Universität Bochum und Direktor des Astronomischen Instituts in Bochum sowie Helmut Schröcke, Mineraloge und damals Professor für Mineralogie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Manifest löste Empörung und Zustimmung in der Öffentlichkeit aus.

Die Dämonisierung der Anderen

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Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa Schirin Amir-Moazami »Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran.« Ludwig Börne (1832)

Würden wir bei dem Zitat des Publizisten Ludwig Börne »Jude« durch »Muslim« ersetzen, so wäre eine wesentliche Problematik der gegenwärtigen Diskursanreizung über Muslime in Europa auf den Punkt gebracht: Eingewanderte ebenso wie deren Nachfolgegenerationen aus islamisch geprägten Gesellschaften werden nahezu unweigerlich als Muslime markiert. Ob sie wollen oder nicht, sie müssen sich zu dieser Anrufung verhalten. Kaum eine Diskussion über religiös-kulturelle Pluralität in Deutschland und Europa verläuft derzeit, ohne dass nach dem (il-)legitimen Ort des Islam gefragt würde. Einige haben diesen Mechanismus als die »Muslimisierung von Muslime« bezeichnet (Spielhaus 2011; Tezcan 2012; Brubaker 2013; Shooman 2014). Die Forschung zu anti-muslimischem Rassismus hat sich dabei vermehrt mit den Prozessen der Rassifizierung auseinandergesetzt – darunter nunmehr auch Arbeiten, die den Antisemitismus des 19., beginnenden 20. Jahrhunderts mit gegenwärtiger Islamophobie ins Gespräch zu bringen versuchen (Shooman 2014; Meer 2013). Andere wiederum haben politische Rationalitäten in den Blick genommen (Mas 2006; Birt 2006; Peter 2008; Tezcan 2012; Amir-Moazami 2016), die gegenwärtig bei der Regierung von Muslime in Europa zur Geltung kommen. Diese Arbeiten haben deutlich gemacht, dass die Anrufung von Muslime in komplexe Machtbeziehungen und -techniken eingeschrieben ist, die weit über Disziplinierung, Verbot oder Repression hinausgehen und durchaus auch in fürsorglich-vorsorglichen politischen Praktiken zur Geltung kommen. Levent Tezcan (2012) beispielsweise hat mit seiner an Foucault angelehnten Kritik der Deutschen Islam Konferenz gezeigt, wie auch jüngste Dialogbemühungen

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darauf abzielen, Muslime zu »gesellschaftsfähigen, aufgeklärten, deutschen« (2012: 7) Subjekten zu formen. Dass Eingewanderte schlechterdings unter der Kategorie Muslime subsumiert werden, hat nach Tezcan also vor allem die Funktion, religiös-kulturelle Pluralität verwaltbar zu machen. Was die meisten der genannten Arbeiten allerdings kaum adressieren, ist die Frage, auf welchen Prämissen die Verwaltung von Muslime als Religionsgemeinschaft genauer basiert. Oft sparen sie überdies die Frage aus, auf welche Weise die Anrufung und Formung eines geschmeidigen muslimischen Subjekts zugleich normalisierend und normstiftend für eine unmarkierte Mehrheit funktioniert. Auch die Forschung zu anti-muslimischem Rassismus hat sich bislang wenig dazu geäußert, inwieweit Prozesse der Rassifizierung von Muslime in Europa auf tief sitzenden Diskursen und Strukturen von Staat, Nation und Religion beruhen bzw. wie die ›muslimische Frage‹ diese Zusammenhänge erneut in Gang setzt und konsolidiert. Ein kritischer Blick auf die Prozesse der Rassifizierung von Muslime in Europa reicht insofern nicht aus, wenn wir nicht grundlegender nach den strukturellen, normativen und epistemologischen Bedingungen fragen, innerhalb derer die Diskursanreizung und -verknappung, Dämonisierung und Einverleibung des (muslimischen) Anderen stattfindet. Daran anknüpfend argumentiere ich einerseits, dass die Diskursanreizung über Muslime in Europa in ihren komplexen Machttechniken unter liberalsäkularen Bedingungen begriffen werden muss. Muslime werden dabei nicht nur dämonisiert und zu Feinden erklärt, sondern durchaus auch als Freunde oder Verbündete adressiert. Diesen Zusammenhängen gilt es genauer nachzuspüren. Um dies zumindest ansatzweise zu tun, schlage ich andererseits eine Perspektive vor, die auch die Mächte des Säkularen als religionsstrukturierende Matrix liberaler Nationalstaaten Europa in den Blick nimmt. Wenn ich hier von einer liberal-säkularen Matrix spreche, so meine ich damit weniger die von der Religionssoziologie immer wieder zitierten Elemente – formalrechtliche Trennung von Staat und Kirche, Privatisierung von Religion oder funktionelle Differenzierung. Mit Talal Asad (1993; 2003; 2006) verstehe ich das Säkulare vielmehr als eine institutionalisierte, zugleich aber dynamische Form der Trennung bzw. Zusammenarbeit von Staat und Religion. Dies umfasst vor allem Trennungspraktiken innerhalb liberaler Demokratien, die über die (il-)legitimen Ausdrucksformen des Religiösen im öffentlichen und damit notgedrungen auch im privaten Raum befinden. Andererseits meine ich eine Reihe von eher subtilen und häufig unmarkierten säkularen Anlagerungen, die in den sozialen Praktiken säkularisierter Gesellschaften auf verschiedenen Ebenen wirksam sind. Ich nenne sie hier ›säkulare Verkörperungen‹, um damit auch die körperlichen und nichtverbalen und weitgehend habitualisierten Dimensionen säkularer Praxis mitzudenken.

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

D ämonisierung und E inverleibung Teil 1: »S precht als M uslime , aber werde t unsichtbar « Wenn wir gegenwärtig über die Dämonisierung des muslimischen Anderen nachdenken, so spulen sich rasch die üblichen Diskussionen ab: die Flüchtlingskrise, die mit ihren Metaphern von gesichts- und geschichtslosen Menschenströmen apokalyptische Zustände herauf beschwört, die Warnung vor der Landnahme und entsprechende Ausquartierung des Islam zur Rettung des Abendlandes oder etwa die Diskursexplosion im Anschluss an die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln, die entfesselte braune männliche Körper hastig dem Register islamischer Devianz zugeordnet hat und schließlich der globale Terrorismus, der den Islam heranzieht und damit der Dämonisierung am schrillsten und brutalsten ihre Dämonen liefert. Dass all dies gleichsam zur ›muslimischen Frage‹ verschmilzt, müsste selbstverständlich sehr viel genauer betrachtet werden. Ich setze allerdings voraus, dass die einzelnen Topoi der Dämonisierung des (muslimischen) Anderen hinreichend oft behandelt worden sind und interessiere mich daher primär für ihre Konstitutionsbedingungen, für ihre strukturellen Verankerungen und für ihre Funktionen. Dabei ist es wichtig, daran zu erinnern, dass in diesem Stimmenmeer auch wohlwollende Töne zu vernehmen sind, die Muslime ins Boot zu holen und sie willkommen zu heißen versuchen. Diese Schlichtungsversuche und vor allem die politischen Maßnahmen, die sie befördern, sollten wir aufmerksamer in den Blick nehmen. Denn während die moralische Panik gegenüber dem als deviant geltenden Anderen auch und vor allem mittels »affektiver Ökonomien« (Ahmed 2004) immer wieder aufs Neue befeuert wird, greift der Staat in Kooperation mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteuren zugleich als Schutzmacht ein: Er bekennt sich zur Vielfalt, ruft Willkommensgrüße aus und zurrt im selben Atemzug die Grenzen fest. Er weist die schlicht als ›mehrheitlich muslimisch‹ klassifizierten Geflüchteten in die Schranken und zähmt sie, indem er ihnen durch (Sexual-)Erziehung zu Freiheit und Vernunft verhilft. Während also die schrille Dämonisierung des muslimischen Anderen auch von politischer Seite jenseits von kruden PEGIDA- und AfD-Parolen recht vehement zurückgewiesen wird, reicht der Staat Muslime scheinbar anerkennend die Hand. Diesen Dynamiken gilt es in ihren strukturellen Ambivalenzen nachzugehen. Exemplarisch lässt sich dies an der medial und politisch immer wieder aufgerollten Frage illustrieren, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. Anstatt kurzerhand in den Tenor des Für oder Wider einzustimmen, müsste hier viel grundlegender gefragt werden, warum diese Frage überhaupt gestellt wird und welche Funktionen sie hat. Und es müsste gefragt werden, warum sie jetzt gestellt wird, wo Muslime in Europa unwiderruflich sichtbar geworden sind und wo auch in Deutschland allmählich zaghaft über die Nachwirkungen

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von imperialer Islam- und Missionierungspolitik und der Konstitution und Konsolidierung nationalstaatlicher Grenzen nachgedacht wird (etwa Tezcan 2012: Kap. 2). Weil sie den Blick nur in eine Richtung lenken (gehört der Islam dazu oder nicht?), dienen solcherlei Fragen vor allem dazu, strukturelle Probleme zu depolitisieren und Verantwortlichkeiten nur an eine Adresse zu richten: Was stimmt nicht mit dem Islam? Oder: Wie lässt er sich als integrierende Ressource nutzen? Wenn der Islam an die äußeren Grenzen der Nation verwiesen wird, so ist dies immer auch eine diskursive Praxis. Wenn politische Entscheidungsträger in Deutschland von ›Muslime minus Islam‹ und im nächsten Atemzug von ›Grundgesetz Plus‹ sprechen, so wird das Benannte zugleich auch konstituiert. Der Islam kann so als Kompaktsymbol nach außen gehievt werden. Zugleich wird die (Deutungs-)Hoheit darüber bestätigt und festgeschrieben, wo die nationalstaatlichen und religionsnormativen Grenzen zu ziehen sind, die für ›den Islam‹ undurchdringbar bleiben. Die Nation bleibt intakt und kann erneut in einer linearen Tradition von der Reformation über die Aufklärung bis hin zum gezähmten, verinnerlichten oder liberalen Christentum erzählt und erinnert werden, die das Plus des Grundgesetzes kennzeichnet. Dieser Mechanismus ist allerdings durchaus häufig auch wirksam, wenn der Islam in Deutschland willkommen geheißen wird. Auch das Willkommensbekenntnis im Gestus der Gastfreundschaft enthält paternalistische Züge. Neben der schlichten und inhaltsentleerten Symbolpolitik markiert und erzeugt auch diese Aussage nationalstaatliche Souveränität: Die willkommen heißende Instanz kann entscheiden, wer wann und warum dazu gehört und wer nicht. Sie kann außerdem die Bedingungen für die Willkommensgeste aussprechen und auf diese Weise die Schranken der Gastfreundschaft deutlich machen. Ein solch wohlwollendes Bekenntnis zu Muslime als Bestandteil europäischer Gesellschaften steht nie für sich. Es ist vielmehr an ein dehnbares Repertoire von Voraussetzungen gekoppelt, die gleichermaßen die Grenzen der Nation markieren. Bemerkenswert ist außerdem, dass man Muslime einerseits stets daran erinnert, sie mögen sich zu den Normen und Werten hart errungener europäischer Freiheiten bekennen, sie aber im nächsten Atemzug als abweichend, suspekt, reformbedürftig, zumindest aber als außergewöhnlich markiert. Und was genau kennzeichnet die europäischen Wertefundamente, wenn wir die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, die koloniale Matrix und ihre imperialen Fortsetzungen mitrechnen und wenn wir bedenken, dass sich AfD und ihre Freunde auf genau diese Fundamente berufen, um den Islam auszuquartieren? Gerade die Konditionalität macht die Grenze zwischen Einschluss und Ausschluss sehr viel brüchiger, als es auf den ersten Blick erscheint. Die ge-

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forderte und geförderte Integration als bewegliches Instrument kennzeichnet nationalstaatliche Mechanismen der stetigen (Re-)Produktion von Mehrheiten und Minderheiten genereller und substantieller. Hier ist ein tradiertes Assimilationsparadox am Werk, das grundständiger und vor allem konsensueller zu sein scheint als offen geäußerte Aversion, die Feindschaft in einer kruden, rassistischen Sprache artikuliert. Um die eingebauten Ausschlussmechanismen nationalstaatlicher Ordnungen auch in ihren Einschlussvarianten grundsätzlicher in den Blick zu bekommen, scheinen mir die Überlegungen von Patchen Markell (2003) oder Zygmunt Bauman (1991) nach wie vor erinnerungswürdig. Markells (2003) Kritik an Anerkennungstheorien und -politiken als liberale Regierungstechnik und als Instrument zur Herstellung oder Aufrechterhaltung von (national-)staatlicher Souveränität ist hier von besonderem Interesse. Ungeachtet der politiktheoretisch relevanten Kritik an Anerkennungstheorien von Hegel bis Taylor möchte ich in diesem Zusammenhang vor allem auf Markells Kapitel zur Judenemanzipation im 19., beginnenden 20. Jahrhundert verweisen. An diesem Fall verdeutlicht Markell, wie die Gewähr staatsbürgerlicher Rechte gegenüber Juden neue Formen der Unterordnung, Zähmung und Umformung mit sich brachten, und zwar indem sie das Selbstverständnis vom souveränen preußischen Staat beflügelt und die Verlagerung der Identifikation der Juden mit eben diesem Staat befördert haben (2003: 126 u. 131ff.): »Far from merely declaring Jewishness to be irrelevant to political membership, emancipation was at once a removal of restrictions on Jewish life and an active effort to reshape Jewish, and German, identity. Indeed, the policy was shot through with tensions that arose from the fact that it was designed in substantial part to secure an impossible sovereignty for the state; and many of the most troubling consequences of the policy for Jews arose less from the fact that it succeeded in making the state neutral (for it did not) than from the fact that it made Jews bear, disproportionately, the weight of its own failure to achieve its quixotic goals.« (Ebd.: 131)

Es wäre also verkürzt, die Judenemanzipation als gelungene Anerkennungspolitik zu verklären oder, im Gegenteil, ihr Scheitern anzuprangern. Beides ist verfehlt, weil es die Ambivalenzen des Prozesses der Emanzipation durch den sich formierenden Nationalstaat verkennt. So war die Garantie von staatsbürgerlichen Rechten zugleich gekoppelt an Bedingungen, zu gefügigen Bürgern zu werden, während paradoxerweise das ›Jüdische‹ unentwegt hervorgehoben wurde. Markell zeigt, wie die rechtliche Anerkennung der Juden zugleich in ein zivilisatorisches Projekt der Umformung und Angleichung eingeschrieben war. Dieses Projekt – und dies ist für den Kontext meines Beitrags zentral –, orientierte sich am Ideal eines reformierten, von ritueller Praxis entkoppelten

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und verinnerlichten Christentum, es war somit Bestandteil eines sich formierenden modernen Religionsbegriffs (siehe hierzu grundlegender Asad 1993; Salvatore 1999). Die Figur des Juden, vor allem wenn als engstirnig und rückwärtsgewandt klassifiziert, funktionierte somit (übrigens auch beim ersten wichtigen Anerkennungstheoretiker Hegel [Markell 2003: 141; Anidjar 2003]) auch als Antithese zu den sich formierenden Freiheitsnormen, deren Kern trotz universalistischen Anspruchs christlich verortet und protestantisch veredelt wurde (Anidjar: 2003, Kap. 1). Obwohl in Westeuropa angesichts verbriefter Freiheitsrechte die formalrechtlichen Bedingungen der Anerkennung für (religiöse) Minderheiten günstiger geworden sind, wirkt der von Markell herausgearbeitete Mechanismus des staatlichen Souveränitätsgewinns und der Subjekterzeugung durch Anerkennung auf neu konfigurierte Weise auch bei der muslimischen Frage in Europa nach (Amir-Moazami 2016). Die Umformung von Muslime in anerkennungswürdige Subjekte findet gegenwärtig vor allem durch Techniken des Dialogs und der Pädagogik statt, die – grob gesprochen – auf die Regulierung und Führung von Haltungen, Lebensweisen und Befindlichkeiten ausgerichtet sind. Es verwundert daher nicht, dass vor allem jene Muslime als besonders kompatibel gelten, die wortstark ›europäische Normen und Werte‹ preisen und die den Islam in ein überkommenes telelogisches Projekt der Moderne einzuschmelzen oder gar zum Verschwinden zu bringen versuchen – die Necla Keleks, Bassam Tibis oder Fadela Amaras Europas. Paradoxerweise bleiben aber auch sie außergewöhnliche Bürger, weil auch sie als muslimische Andere zum Sprechen gebracht werden und als solche antworten. Auch hier scheint ein tief sitzender Mechanismus am Werk zu sein, den Bauman als Bestandteil moderner Nationalstaaten kennzeichnet: »Members of the categories declared as substandard were now measured and evaluated by the extent for their conformity with the values of the dominant national elite. They were ›progressive‹ if they strove to imitate the dominant patterns and to erase all traces of the original ones. They were labeled ›backwards‹ as long as they retained loyalty to the traditional patterns, or were not apt or fast enough in ridding themselves of their residual traces. What made the standing invitation particularly alluring and morally disarming was the fact that it came in the disguise of benevolence and tolerance, indeed, the assimilatory project went down in history as a part of the liberal political program, of the tolerant and enlightened stance that exemplified all the most endearing traits of a ›civilized state‹.« (1991: 107f.)

Bauman zeigt nicht nur, dass Assimilation und Segregation zwei Seiten einer Medaille und in moderne Klassifikations- und Ordnungsprinzipien eingeschrieben sind. Die »Unkraut jätenden Gärtner der Moderne« (Bauman 1991:

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

28; 178) mit ihrem Versuch, alles Unbändige, Normabweichende zu benennen, zu vermessen, zu ordnen, zu zähmen, abzusondern und/oder einzuverleiben, finden Bauman zufolge im modernen Nationalstaat eine institutionalisierte Form – in den Bildungsinstitutionen, dem Recht, der Exekutive, aber auch in den Grenzregimen und den Instrumenten, die über Ein- und Ausschluss zum Nationalstaat entscheiden. Und ich würde hinzufügen: in modernen Formen der Wissensproduktion, die den Klassifikationssystemen ihren epistemologischen Unterbau liefern. Bauman verdeutlicht somit, dass die normativen Grundlagen, anhand derer der Erfolg von Assimilation (im teleologischen Modus des Fortschritts) gemessen wurde, als unstrittig und universell verfügbar vorausgesetzt wurden. Deren eigentlich partikulare, vereinnahmende und ausschließende Kraft lag vor allem deshalb außerhalb des Radars, weil nur das Randständige im Visier und dem Assimilationsmodus unterworfen war.1 Die unterstellte Universalität moderner Freiheiten und Fortschrittserzählungen konnte also mit Hilfe dieser Hierarchisierungen nach innen bestärkt und stabilisiert werden. Die Garantie staatsbürgerlicher Rechte für Juden und deren Einverleibung in eine auf modernen Prämissen beruhende Assimilationsmaschinerie war insofern an wandelbare Bedingungen geknüpft, zu gefügigen Bürgern zu werden. Zugleich blieben sie stets die ›unverbesserlichen Juden‹. Baumans Analyse ist auch deshalb nach wie vor aktuell, weil sie deutlich macht, dass das Assimilationsparadox Bestandteil einer modernen Machttechnik und in den modernen Nationalstaat eingeschrieben ist. Nun wäre freilich auch hier zu fragen, ob und auf welche Weise sich diese Machttechnik auch in gegenwärtigen Integrationspolitiken manifestiert, während Assimilation als politische Strategie gleichsam aus dem politischen Diskursrepertoire herauskatapultiert wurde. Es spricht einiges dafür, dass auch den gegenwärtig florierenden Integrationspolitiken Westeuropas ein zivilisatorisches Projekt innewohnt, das sich bei der Adressierung von Muslime als integrationsbedürftige Subjekte besonders deutlich manifestiert. Die Paradoxie der Anerkennung, Assimilation oder gegenwärtig Integration2 besteht also vor allem darin, dass im Prozess des Anerkennens, Assimilierens oder Integrierens, ›Minderheiten‹ stets aufs Neue markiert und produziert werden. Zugleich wird mit jeder (Selbst-)Anrufung, als anzuerkennendes oder zu integrierendes Subjekt zu sprechen, eine flexible, aber unmarkierte Norm erzeugt, die über die Passfähigkeit des Anderen waltet. Diese auch in liberale Freiheitsprinzipien eingefassten Ausschlussmechanismen sind strukturell. Sie haben nur bedingt etwas mit Muslime als spezifische äußere oder innere Feinde oder Freunde zu tun, sondern sehr viel grundlegender mit Wirkungsweisen moderner Nationalstaaten. Insofern müssen wir fragen, wie sich diese Mechanismen bei der ›muslimischen Frage‹ in Europa gegenwärtig auf neue Weise konfigurieren oder

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konsolidieren, und zwar in einem Moment in dem nationalstaatliche Grenzen verwischen, Freiheitsrechte verfassungsrechtlich verbrieft sind und Assimilation als politisches Instrument offiziell tabuisiert ist. Und wir müssten dann auch fragen, ob sich die Praxis des Klassifizierens in Freunde und Feinde, in kompatible und normabweichende Minderheiten, in unserem Fall: in gute und schlechte Muslime auch deshalb so hartnäckig hält und immer wieder aufs Neue ausgestaltet, weil sie es ermöglicht, eine unmarkierte Norm zu produzieren. Der mahnende Blick auf rassistische (oder wie es bevorzugt heißt: populistische) Bewegungen, die sich ins Establishment grölen, ist demnach notwendig, aber unzureichend. Er verlockt bisweilen sogar dazu, die blinden Flecken der Strukturen und Mechanismen zu übersehen, die systemisch und nicht auf ›Einstellung‹ Einzelner (oder zunehmend Vieler) zu reduzieren sind. Ich würde sogar behaupten, dass der empörte Blick auf den Zuwachs dieser Bewegungen auch eine heilsame Wirkung entfaltet. Denn auf diese Weise bleiben weitläufig geteilte Aversionen, die sich auch in einer liberalen Sprache äußern, weithin verborgen. Politische Autoritäten können dann schlichtend den Finger erheben und rufen: ›Selbstverständlich gehört der Islam zu Deutschland!‹ und im nächsten Atemzug ›unsere freiheitlich demokratische Grundordnung‹ in eine lineare Erzählung von der Reformation über die Aufklärung hin zum säkularisierten Christentum und dadurch ermöglichte Freiheitsnormen einreihen. Oder sie können Muslime wohlwollend zurufen: ›Ihr seid willkommen, aber bitte werdet so wie wir gern wären!‹ Nach jedem Terroranschlag lässt sich dies beobachten. Muslime sind dann nicht nur in toto angehalten, sich von der Gewalt zu distanzieren. Sie müssen überdies immer auch die liberalen Fundamente säkularer Ordnungen preisen, verinnerlichen und verkörpern, um glaubhaft zu sein. Die Distanzierung von Terror und Gewalt reicht also längst nicht aus, um als Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Vielmehr muss auch die religiöse Praxis in bestimmte Vorstellungen von Religiosität einrasten und öffentlich manifestiert werden, etwa wenn sich Frauen des Kopftuchs entledigen und einem Modell von innerem Glaube nacheifern oder indem Muslime rufen: ›Ich bin Charlie‹. Das zu Integrierende, Anzuerkennende muss also immer innerhalb eines bestimmten Vokabulars und einer Grammatik lesbar sein. Wenn wir also entsprechend der bisherigen Überlegungen davon ausgehen, dass das dämonisierende oder einverleibende Wir abstrakt, universal und unmarkiert bleibt, während allein das Andere partikular und markiert ist, so sollte eine Aufgabe darin bestehen, das vermeintlich Universale, Abstrakte und Unmarkierte in seinen Partikularitäten und verkörperten Formen offenzulegen. Um die Mechanismen der Markierung Anderer auch in ihren körperlichen Dimensionen zu verstehen, ist es daher notwendig, die stetige Markierung des

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

Körpers des Anderen auch im Zusammenhang mit der De-Markierung vermeintlich entkörperter abstrakter und universaler Prinzipien zu betrachten. Ich behaupte, dass die Grammatik, die bei der ›muslimischen Frage‹ in Europa über Dämonisierung oder Einverleibung wacht, nicht allein durch eine wie auch immer geartete Nation oder Kultur in Erscheinung tritt, sondern auch durch Religionsnormen, die der liberal-säkulare Rahmen ermöglicht und zugleich begrenzt.

D ämonisierung und E inverleibung Teil II: R eligion als F reund/F eind und die liber al- säkulare M atrix Die »Unkraut jätenden Gärtner der Moderne« (Bauman 1991: 28; 178) entfalteten ihre Kräfte keineswegs allein zur Herstellung oder Verfestigung von Homogenität, Verwaltbarkeit und Kontrolle im Inneren nationalstaatlicher Ordnungen, sondern auch nach außen. Die ›muslimische Frage‹ in Europa gewinnt eine andere Dimension, wenn wir sie sowohl in der Genealogie nationalstaatlicher Konstruktionen von Mehrheiten und Minderheiten betrachten, als auch die Geschichte des Islam als äußerem Feind oder Freund in Erinnerung rufen (Anidjar 2003; 2014). Rassismus- und Orientalismus-Kritik haben hier wichtige Impulse geliefert, weil sie de-zentrierende Fragen gestellt haben: Wie funktioniert das Markieren? Welche Funktionen hat es, um Wahrheiten über das Unmarkierte (Europa, den weißen Körper oder schlicht den Westen) zu erzeugen? Wie wirken Macht/Wissen und Hegemonie aufeinander ein? Wie hängen dämonisierende und exotisierende Orientalisierung zusammen etc.? Sie greifen aber zu kurz, um die strukturellen Mechanismen der in der ›muslimischen Frage‹ in Europa virulenten Machtstrukturen und -techniken zu verstehen. So müsste vor allem die Frage mitgedacht werden, auf welche Weise das Säkulare in seiner christlichen Genealogie religiöse Minderheiten erzeugt und Religion produzierend wirkt, etwa indem es immer wieder die Grenzen zwischen dem Religiösen und dem Politischen zu ziehen verpflichtet. Die Orientalismus-Kritik hat vor allem deutlich gemacht, auf welche Weise die auf materielle Ausbeutung ausgerichtete Expansion Europas einherging mit epistemologischen Eingriffen, die langfristige Folgen für Wissensordnungen und -ökonomien hatte. Allerdings hat diese Kritik die Religionsfrage vorwiegend als beiläufige Variante kulturalistischer Deutungsmuster und ›Orient-Imaginationen‹ verhandelt. Aber auch die Kritik am anti-muslimischen Rassismus blieb bislang bei der Frage eigentümlich schweigsam, inwieweit moderne kulturelle, nationale und rassistische Differenzmarkierungen an christlich formierte Kategorisierungen über das Andere (den ›Juden‹, den

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›Araber‹, den ›Semiten‹ etc.) anknüpfen und wie dies in moderne verwissenschaftlichte und damit ausgewiesen säkulare Rassendiskurse übersetzt wurde. Gil Anidjar (2014) etwa weist darauf hin, wie christlicher Antijudaismus und christliche Islamfeindschaft in moderne Formen des Antisemitismus und den Orientalismus eingeschrieben sind. Gerade um die Genealogien der ›muslimischen Frage‹ in Europa ansatzweise begreifen zu können, ist daher auch der Blick auf ›Religion‹ als modernes Klassifikationssystem unabdingbar. Tomoko Masuzawa (2006) etwa hat herausgearbeitet, wie im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Formierung eines säkularisierten Religionsbegriffs als Emanzipationsbestrebung innerhalb europäischer Nationalstaaten zugleich mit einer Hierarchisierung anderer ›Weltreligionen‹ als Freunde oder Feinde einherging. Sie macht deutlich, wie diese Konstruktionen wesentlich an Rassen- und Sprachgruppentheorien angelehnt waren. Unter der Ägide der sich etablierenden Disziplinen der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Orientalischen Philologien wurden damit Allianzen zwischen ›christlich-arischer‹ Religion und dem Buddhismus konstruiert und wissenschaftlich belegt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Vertreter dieser Disziplinen dem Buddhismus erstmals überhaupt die Charakteristika einer modernen Religion zugestanden und ihn damit von einer Weltphilosophie in eine Weltreligion verwandelt haben. Während dem Christentum und seinen buddhistischen Freunden ›weltreligiöser‹ Universalitätsanspruch zugesichert wurde, wurde das Judentum seiner universellen Ambitionen entledigt und zur ›Diaspora‹, ›Minderheit‹ bzw. nach und nach zur naturalisierten ›Rasse‹. Der Islam indes wurde als unbeweglicher, inhärent politischer und zivilisierungsbedürftiger Gegenpart zum universalisierbaren Christentum entworfen, das durch Selbstkritik und Reflexivität die Regeln der Aufklärung verinnerlicht und verdaut zu haben meinte. Der Wandel der Konstruktion des Islam und des Judentums zur ›semitischen‹ und daher ethnischen Logiken unterworfenen Religion ist auch und vor allem im Zusammenhang mit kolonialer Herrschaft zu betrachten, weil das Machtwissen mit folgenreichen Interventionen verbunden war. Besonders bemerkenswert erscheint mir für den Zusammenhang meiner Diskussion hierbei, dass sich ein im Grunde partikularer Religionsbegriff langfristig in wissenschaftliche und politische Klassifizierungsordnungen eingeschrieben hat. Der Islam und andere ›Weltreligionen‹ werden auch heute noch vielfach daran gemessen. Mittlerweile ist auch bekannt, dass selbst Webers Religionssoziologie, die sich geräuschlos in den Kanon ganzer Disziplinen eingeschlichen hat, mit ihrem Universalitätsanspruch nicht losgelöst vom »race thinking« (Arendt 1973 [1948]: Kap. 6) des imperialen Kontextes des 19., beginnenden 20. Jahrhunderts zu begreifen ist (Zimmermann 2013; Boatça 2013).

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

Während die Wirkmächtigkeit rassistischer Ordnungskategorien auch in ihren kulturalistischen Spielarten vielfach hinterfragt und kritisiert worden ist, hat sich die Kritik an der Einverleibungskraft des modernen Religionsbegriffs in einem (akademischen) Paralleluniversum herausgebildet. Auch die für die ›muslimische Frage‹ in Europa einschlägige Kritik am Säkularismus als religionsstrukturierend und -regulierend (Asad 2003; Mahmood 2008; Hirschkind 2011; Agama 2012) spricht eigentümlich selten zu den Archiven der Rassismusforschung zurück und umgekehrt. Die gegenwärtige Kritik am anti-muslimischen Rassismus greift aber meines Erachtens zu kurz, wenn sie ›Religion‹ schlicht unter ›Kultur‹ subsumiert und die Mechanismen der Erzeugung von Religionsnormen durch den säkularen Staat und seine institutionalisierten Praktiken nicht berücksichtigt. Die marxistisch geprägte Rassismus-Kritik scheint indes darauf zu hoffen, dass markierte Religion verschwindet, sobald soziale De-Klassierung und globale Ausbeutung benannt und behoben werden (siehe v.a. Balibar/Wallerstein 1992 [1988]). Im Zusammenhang mit der Diskursanreizung und -verknappung über Muslime in Europa muss aber auch die liberal-säkulare Matrix in ihrem nationalstaatlichen Bezugsrahmen sowohl in ihren freiheitsstiftenden Dynamiken als auch in ihrer Machtdurchdrungenheit befragt werden. Entsprechend müsste sehr viel genauer geschaut werden, wie sich das Christentum vor allem in seinen protestantischen Spielarten in säkularisierte Konzeptionen von Staat, Nation und Religion eingeschrieben hat und damit zur unmarkierten, entkörperten und universalistischen Norm und zugleich zum Privileg avancierte. Wenn ich von der liberal-säkularen Matrix spreche, so meine ich damit insofern eine Komponente des Säkularen, die jenseits formal-rechtlicher Kodierung liegt. Ihre Wirkmächtigkeit besteht nicht in einer ein für alle Mal vorgegebenen Religionsnorm, sondern vielmehr darin, dass der Rahmen der Fragen abgesteckt ist, innerhalb dessen über die (Un-)Zulässigkeit von Religiosität öffentlich verhandelt wird. Hussein Agrama (2010) spricht in diesem Zusammenhang von Säkularität als »Problemraum«: »So one way to think about the active principle [of secularism] is to see the state as promoting an abstract notion of ›religion‹, defining the spaces it should inhabit, authorizing the sensibilities proper to it, and then working to discipline actual religious traditions so as to conform to this abstract notion, to fit into those spaces, and to express those sensibilities.« (Ebd.: 503)

Trotz unterschiedlicher Arrangements von Staat, Kirche und Nation in Europa bleibt das Prinzip der Säkularität als staatliches Instrument der Trennung oder Kooperation von Staat und Religion damit immer ambivalent. Denn es ist an-

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gewiesen auf Grenzziehungen zwischen dem Politischen und dem Religiösen. Diese Grenzziehungen sind weder unschuldig noch statisch, sondern voraussetzungsreich, dynamisch, nie aber herrschafts- oder machtfrei. Nicht zuletzt auch wegen ihrer christlichen Genealogie, die mal sichtbarer, mal unsichtbarer ist, ist damit auch Säkularität keine neutrale Folie und der säkulare Staat deren institutionalisierte Entsprechung. Für die ›muslimische Frage‹ in Europa bedeutet dies gegenwärtig auch und vor allem, die komplexen Operationen, Wirkungs- und Funktionsweisen liberalsäkularer Macht in ihren nationalstaatlichen Ausprägungen zu begreifen, die ein bestimmtes Repertoire an Fragen (und Antworten) ermöglichen: Ist der Islam in liberale Gesellschaften integrierbar? Ist er reformierbar wie das Christentum? Wo bleibt der islamische Luther? Können Muslime ihre Religiosität privatisieren oder zumindest individualisieren etc.? Anstatt in diesen Fragerahmen einzustimmen oder ihn schlicht zu verwerfen, als könnten wir kurzerhand aus ihm hinaustreten, müssen wir ihn in seinen komplexen Operationen zunächst einmal begreifen. Denn selbst wenn wir wohlwollend antworten, Muslime in Europa seien doch eigentlich auf dem besten Wege ihre Religion zu säkularisieren und fügten sich en gros doch ganz prima in liberal-säkulare Ordnungen ein oder auch wenn wir erfreut festhalten, die Mehrheit der Kopftuch tragenden Frauen sei selbstbewusst und bedecke sich aus freien Stücken, bleibt der Fragerahmen unangetastet. Gerade weil die liberal-säkulare Matrix, die diesen Fragerahmen bestimmt, selten als Teil des Problems betrachtet wird, sollten wir auch das in hohem Maße an Affekte und Verkörperungen gebundene Verhältnis moderner liberaler Nationalstaaten und dem Säkularen als religionsproduzierend ernsthafter in den Blick nehmen. Sehr deutlich manifestiert sich dieser Fragerahmen bei den endlosen Diskussionen über islamisch konnotierte Körperpraktiken: Ist das Kopftuch emanzipatorisch oder unterdrückend? Ist die männliche Beschneidung ein medizinisch legitimierbarer Eingriff oder ein überkommener barbarischer Akt? Ist das öffentlich verrichtete islamische Gebet eine politische oder eine religiöse Praxis? Schauen wir exemplarisch auf die endlosen Verschleierungskontroversen, weil sie uns seit der Kolonialherrschaft immer wieder zyklisch begegnen.3 Selbst in Frankreich, wo Kopftuchdiskussionen in dieser Massivität seit 1989 geführt werden,4 beruhen die Regulierungen von als schädlich, normabweichend oder politisch (und damit nicht ›wahrhaftig‹ religiös) geltenden islamischen Körperpraktiken sehr viel weniger auf einer strikten Trennung von religiöser und politischer Sphäre, wie häufig behauptet. Eher sind sie viel grundsätzlicher Bestandteil politischer Freiheiten, die der liberale Verfas-

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

sungsstaat zugleich garantiert, lenkt und ordnet. Und es ist ebendieses Mandat, das den Staat befähigt, ja teilweise zwingt, über die Inhalte und Grenzen von religiösen Praktiken wie etwa dem Kopftuch in staatlichen Institutionen oder öffentlichen Räumen zu befinden. Damit tut er etwas, das in liberalen Konzeptionen von staatlicher Neutralität eigentlich außerhalb seines Kompetenzbereichs liegt: Er interpretiert die Bedeutungen religiöser Praktiken und greift damit notgedrungen in das religiöse Feld ein. Wir könnten das auf eine Reihe weiterer ›Religionskontroversen‹ übertragen, die sich unverhältnismäßig oft an islamischen Körperpraktiken entzünden. In einem äußerst aufschlussreichen Beitrag zu den Kopftuchdiskussionen in Frankreich macht Asad (2006) auf eine damit verbundene Komponente des Säkularen aufmerksam, die ich hier abschließend aufgreifen möchte. Entgegen dem Versprechen, liberale Freiheiten seien abstrakt und allen gleichermaßen verfügbar, verweist Asad auf deren »emotionale Strukturen« (ebd: 509ff.). Dies erkläre auch die Leidenschaften und das emotionale Vokabular, das auch die politischen Auseinandersetzungen um das Kopftuch kennzeichneten. Mit Begründungen wie dem ›freien Willen‹ oder dem ›Begehren‹ griffen politische Autoritäten, aber auch die Rechtsprechung zur Verbotsbegründung auf ein quasi-psychologisches Repertoire zurück und brachten damit die angenommenen inneren Bewegründe der Kopftuchträgerinnen in die staatlichen Geltungssphären. Auf andere Weise kamen inkorporierte Aversionen gegenüber islamisch konnotierten Körperpraktiken auch im Zuge der Diskussionen um die Ganzkörperverschleierung zur Geltung. Hier scheuten sich auch politische Autoritäten nicht, ihren »Ekel« und »Schock« beim Anblick vollverschleierter Frauen zu bekunden (Amir-Moazami 2013). Auch in diesem Fall hat die Rechtsprechung auf EU-Ebene affektive Befindlichkeiten liberaler Freiheiten bestätigt, indem sie für ein Verbot der Ganzkörperverschleierung in öffentlichen Räumen Frankreichs »vivre ensemble« als Rechtsgrundlage umstandslos übernommen hat. Den Regulierungen des Religiösen im öffentlichen Raum liegt damit immer auch ein bestimmtes Verständnis von der Art und Weise zugrunde, wie man sich als Bürger_in dieser Gesellschaften zu verhalten hat, welche verkörperten Formen des Religiösen als zulässig gelten und wo die Grenzen zu ziehen sind. Säkularität umfasst damit eine häufig vernachlässigte Dimension, die man als die emotionalen und inkorporierten Strukturen liberal-säkularer Ordnungen bezeichnen könnte. Sie prägen Alltagspraktiken und Habitus auf subtile Weise und kommen vor allem dann zum Vorschein, wenn eingeschliffene Gewissheiten hinterfragt werden, etwa durch Körperpraktiken wie dem Kopftuch, das u.a. auch Regime von Sichtbarkeit des Körpers, Transparenz und Kontrolle stört (Yeğenoğlu 1999; von Braun und Mathes 2007). Es scheinen diese verkörperten Formen des Säkularen zu sein, die Charles Hirschkind kürzlich zur Frage veranlasst haben, ob es einen säkularen Körper

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(2011) gäbe. Nun ist die Frage vor allem in ihrer ontologischen Tragweite als solche irreführend. Vor allem wenn wir das Säkulare in seiner Kontingenz und notwendigen Abhängigkeit zum Religiösen begreifen, kann es den säkularen Körper nur in Relation zum religiösen Körper geben. Dennoch scheint mir Hirschkinds Befund, der säkulare Körper sei nicht identifizierbar, weil das Säkulare das »Wasser, in dem wir schwimmen« (ebd.: 634) sei, eine Antwort zu voreilig vorwegzunehmen. Denn gerade wenn wir das Säkulare als vom Religiösen abhängig begreifen, trägt auch diese Behauptung leichtfertig dazu bei, die säkulare Matrix zu naturalisieren, anstatt ihren komplexen Operationen gerade in ihren verkörperten Anlagerungen nachzugehen. Meines Erachtens ist Hirschkinds Frage dennoch produktiv. Denn sie nötigt uns, die Fragerichtung zu verschieben und nicht mehr einseitig Muslime zu befragen, wie sie es mit der Religion in sogenannten säkularen Rechtsstaaten halten. Außerdem veranlasst sie dazu, das Blickfeld zu erweitern und auch säkulare Verkörperungen als erlernte und eingeschriebene Dispositionen zu begreifen, als Praktiken, die affektive Anlagerungen in sich bergen und hervorbringen und die gerade aufgrund ihres einverleibten Charakters so schwerlich zu fassen sind. Hirschkind scheint einer solchen Lesart gegenüber skeptisch zu sein, wenn er schreibt, seine Analyse »directs us less to a determinant set of embodied dispositions than to a distinct mode of power, one that mobilizes the productive tension between religious and secular to generate new practices through a process of internal self-differentiation« (ebd.: 643, eigene Hervorhebung). Eher als ein unvermitteltes oder determiniertes Aggregat einverleibter Praktiken verstehe ich die säkularen Verkörperungen wohlgemerkt als verankert in solcherlei Machttechniken ebenso wie sie auf ihre ständige Wiederholung angewiesen sind. Es ist also notwendig, die in sich komplexen – und eben gerade nicht determinierten – verkörperten Dispositionen und die sie ermöglichenden und stabilisierenden Machtmodalitäten zusammenzudenken. William Connolly (1999) hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch das stetige öffentliche Artikulieren und Verteidigen säkularer politischer Positionen dazu beitrage, den affektiven Zusammenhalt derjenigen zu stabilisieren, die diese Positionen aussprechen. Connollys Beobachtung materialisiert sich gewissermaßen bei den einseitig an Muslime in Europa adressierten Kontroversen über ihre Formen des sozialen Lebens und ihre religiösen Praktiken. Denn die säkularen Einverleibungen und deren öffentliche Wiederholungen sind zugleich verantwortlich dafür, dass bestimmte religiöse Praktiken öffentlich und politisch so stark markiert sind. So sind es zumeist nicht konforme religiöse Praktiken, die eingeschriebene, einverleibte Machttechniken nicht nur durchbrechen, sondern die zugleich die inhärenten Machtstrukturen säkularer Räume zutage bringen. Dies macht es für sichtbar markierte Muslime auch so schwer sich Gehör zu ver-

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

schaffen. Denn im Konsens einverleibter Konventionen treten sie notwendig als das Andere in Erscheinung – als das Suspekte, dessen markierte Differenz dringend erklärungsbedürftig ist. Bestenfalls stößt sie auf »Toleranz« im Sinne von Wendy Browns »regulierter Aversion« (Brown 2006), vorausgesetzt, sie artikuliert sich in einer liberalen Sprache. Bei den endlosen Kopftuchdebatten etwa könnten wir dann fragen, warum am entblößten Körper kaum noch Anstoß genommen wird oder an sexualisierter Öffentlichkeit, die feministische Befindlichkeiten der Vermarktung und Objektivierung des (weiblichen) Körpers eigentlich provozieren müsste, während der verhüllte Körper schlechthin zum Kompaktsymbol für weibliche Unterdrückung avanciert ist. Wir müssen dann auch fragen, wie das Säkulare als distinkter Machtmodus (als Trennungspraktik von Religion und Politik) auch mit Konventionen von Sichtbarkeit, Transparenz und Kontrolle des Körpers Bestandteil liberaler Normen ist oder inwieweit auch das feministische Subjekt der Freiheit durchaus normproduzierend ist (Mahmood 2005: Kap. 1 u. 5). Das Säkulare kann zweifellos nicht mit denselben methodologischen Prämissen erfasst werden wie religiös begründete Rituale und Verkörperungen, gerade weil Selbst-Differenzierung auf einem anderen Register abläuft. Dennoch wäre es notwendig, auch Rituale, Selbsttechniken und Praktiken der Selbstkultivierung systematischer zu untersuchen, die zur Formierung säkularer Subjekte beitragen. In diesem Sinne könnten wir auch die von Leidenschaft begleiteten diskursiven Praktiken, die Muslime stets aufs Neue ins Visier nehmen, sie dämonisieren oder auch als Verbündete anrufen, um ihre inneren Wahrheiten zu erfassen, als Selbsttechniken verstehen. Sie sind Teil epistemischer Gewalt, und weil sie Normalität und Abweichung stets aufs Neue produzieren, lassen sie sich auch als Techniken der Selbstvergewisserung darüber verstehen, was das Säkulare und seine körperlichen Formationen im Gegensatz zum Religiösen in der Öffentlichkeit ausmacht. Die permanente Markierung des Anderen in ihren körperlichen Dimensionen hat insofern auch die Funktion, abstrakte Prinzipien zu entkörpern und damit andere Körperpraktiken, die als christlich säkularisiert oder schlicht als säkular und damit neutral gelten, zu normalisieren und zu naturalisieren. Die liberal-säkulare Matrix setzt sich also weder unbeschadet fort, noch ist sie schlicht als stabile Norm zu begreifen. Vielmehr ist sie auf solcherlei Techniken der Selbstvergewisserung angewiesen. Diese äußern sich vor allem in der Frage, wo die Grenzen zwischen dem Religiösen und Säkularen und damit auch die inkorporierten Grenzen der Nation zu ziehen sind.

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Z um S chluss Abschließend sei betont, dass es mir nicht etwa darum geht, die liberal-säkulare Matrix als Bezugsrahmen zu verwerfen. Die permanente kritische Auseinandersetzung mit den darin virulenten Ausschlussmechanismen könnte aber dazu beitragen, die normativen und epistemologischen Bedingungen ebenso wie deren affektive Befindlichkeiten überhaupt erst einmal begreif bar zu machen, innerhalb derer religiös-kultureller Pluralität in Europa gegenwärtig verhandelt wird und das Sprechen für befragte Muslime (un-)möglich ist. Wir müssten dabei auch fragen, auf welche Weise auch unausgesprochene säkulare Anlagerungen, Verkörperungen und Affekte sowohl für die Exzeptionalisierung als auch für ihre Normalisierung von Muslime in Europa mitverantwortlich sind. Und wir müssten die Diskursivierung über ›außergewöhnliche‹ (muslimische) Körper selbst als Machttechniken begreifen. Denn sie tragen zur Verstetigung der Markierung des Anderen und damit auch zur Souveränität und Normalisierung der Fragenden, der sprechenden Subjekte bei, deren einverleibte Körperpraktiken und -techniken dann nicht mehr befragt werden müssen. Die Machttechniken und Machtdurchdrungenheit des säkularen Rahmens auch und gerade in seiner vermeintlichen Unmarkiertheit und Unschuld zum Teil des Problems zu machen, würde vor allem bedeuten, den Fragerahmen zu erweitern und die Fragerichtung zu ändern. Es müsste dabei gefragt werden, wofür die ›muslimische Frage‹ indikativ ist und welche anderen Fragen dann nicht mehr gestellt werden müssen (strukturelle, globale soziale Ungleichheit, institutionalisierte Formen des Ausschlusses, die sich auch in einer liberalen Sprache äußern etc.). Es müsste dann vielleicht auch nicht länger die ›muslimische Frage‹ (die ›Judenfrage‹, die ›Roma-Frage‹ o.Ä.) gestellt und beantwortet werden, sondern vielmehr im Sinne De Genovas (2016) die »europäische Frage« oder gar die »christliche Frage« (Anidjar 2014). Diese veränderte Blickrichtung könnte dazu beitragen, den Rahmen, innerhalb dessen die ›muslimische Frage‹ in Europa gegenwärtig verhandelt wird, sehr viel systematischer in seiner Genealogie zu ergründen. Dies würde zum einen bedeuten, die Wirkmächtigkeit überkommener Integrationsaporien deutlich zu machen. Die Geschichte der Dämonisierung des Anderen, die sich in dessen Ausschluss manifestiert, scheint zugleich eine Geschichte der Einverleibung des Anderen zu sein. Zum anderen wäre dann auch systematischer zu fragen, auf welche Weise sich Mechanismen der Markierung, Dämonisierung und Einverleibung des Anderen unter Bedingungen liberaler Freiheiten neu konfiguriert, bisweilen aber auch verfestigt haben. Wie ich anzudeuten versucht habe, kommen wir dabei nicht umhin, dem Zusammenwirken von Rassismus, Orientalismus und liberalsäkularer Matrix innerhalb und außerhalb europäischer Grenzen grundlegen-

Dämonisierung und Einverleibung: Die ›muslimische Frage‹ in Europa

der nachzuspüren. So scheint das Privileg des unmarkierten Weißseins, Europäischseins, das die Rassismusforschung immer wieder betont, an das Privileg geknüpft, einer unmarkierten (christlichen) Religion anzugehören, deren ›rote Linie‹ sich bei genauem Hinsehen in das Säkulare eingeschrieben hat (Andijar 2014; Asad 2003). Auf einer konzeptionellen Ebene würde dies auch bedeuten, die theoretischen Archive zur Rassismus-Kritik und der Orientalismus-Kritik systematischer mit jenen der Säkularismus-Kritik ins Gespräch zu bringen. Denn es scheint, dass die Mechanismen der Kategorisierungen von Rasse, Religion oder Nation als gesonderte Einheiten mit eigenen, scheinbar differenzierbaren Funktionen zugleich (disziplinäre) Trennungen in der Wissensproduktion erzeugt und institutionalisiert haben, die ebenfalls kritisch befragt werden müssten.

A nmerkungen 1 Einen ähnlichen Mechanismus schreibt Balibar (1992 [1988]: Kap. 2) universalistischen Spielarten des Rassismus zu, die auf einem zivilisatorischen Projekt des Einschlusses beruhen, das zugleich aber auch angewiesen ist auf deviante Andersartigkeiten, die es durch Assimilation zu normalisieren gilt. 2 Mir ist bewusst, dass es sich hier politiktheoretisch und -praktisch um unterschiedliche Strategien und Archive handelt, die jeweils in ihrer Genealogie genauer betrachtet und selbstverständlich differenziert werden müssten. Ich fasse sie hier aber zusammen, um deutlich zu machen, wo wir anfangen müssten, um die blinden Flecken der ›Muslimisierung von Muslime‹ offenzulegen. 3 Erinnern wir uns an Frantz Fanons »Unveiling Algeria« (1965 [1959]) oder an Meyda Yeğenoğlus »Colonial Fantasies« (1999). 4 Mit dem Verbot des sog. voile intégrale in jedweden öffentlichen Räumen haben die Diskussionen noch einmal an Schärfe gewonnen (Amir-Moazami 2014).

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Juden: Vampyre – Gemeinschaftsschädliche Dämonen1 Micha Brumlik

I. D ämonen Bekanntlich hat der auf Unheimliches verweisende Begriff des Dämonischen einen Ursprung, dem zunächst alles Teuflische abgeht, im Gegenteil: einen Ursprung, der für Individualität und Gewissen steht – wenn auch aus göttlichem Ursprung. Sokrates spricht in seiner Verteidigungsrede vor dem attischen Areopag, dass es sein ›Daimonion‹ gewesen sei, dass ihn immer wieder von manch falschem abgehalten habe (Platon 1986, 31d, 41d). Es war im christlichen Kulturbereich der Kirchenvater Augustinus, der in seiner Schrift ›Decretum Gratiani‹, in der er die ›Dämonen‹ als feinstoffliche Wesen definierte, die über eine schärfere Sinneswahrnehmung, eine dauerhafte Existenz und damit über eine größere Lebenserfahrung verfügten. Zudem haben sie demnach Zugang zur menschlichen Gedankenwelt, zu den Krankheiten von Menschen sowie zur Verfassung ihres Gemüts (Wikipedia). Im neugriechischen, also nicht hellenischen antiken Volksglauben sind ›Vrukolaai‹ untote Tote, Verstorbene, die zu Lebzeiten exkommuniziert wurden oder in nicht geweihter Erde begraben wurden. Erst eine etwas spätere, literarische Tradition formte die Untoten eines südosteuropäischen Volksglauben zu jenen Blutsaugern um, die seither als Vampyre, also als blutsaugende Dämonen bezeichnet werden. Gleichwohl: Blutsaugende, bzw. um das Blut kreisende, rächende Wesen sind so alt wie europäische, genauer: die christliche Kultur. Wenn Menschen zu Blutsaugern erklärt werden – und sei es auch nur metaphorisch – werden sie damit zu unheimlichen Untoten, zu Untoten, die unverwandelt den Zusammenhalt der Polis, der Gemeinschaft gefährden. Mit Blick auf die Juden äußerte sich sogar der ansonsten so aufgeklärte Immanuel Kant zu dieser Begrifflichkeit – wenngleich auch nicht in seinen theoretischen Arbeiten, wohl aber im freundschaftlichen Gespräch: Zumal in Tischgesprächen wurde Kants Ressentiment deutlich – 1798 gab er zu Protokoll, dass »die Juden, solange sie Juden bleiben, der bürgerlichen Gesellschaft

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Micha Brumlik

nicht nützlich werden könnten: ›Jetzo sind sie die Vampyre der Gesellschaft.‹« (Malter 2013: 457) Begriffe, die stets auch Theorien beinhalten, haben eine auf sie folgende Wirkungsgeschichte, aber eben auch – von der philosophischen Hermeneutik gerne übersehen – eine Vorgeschichte. Um sie soll es im Folgenden gehen.

II. O pfer , B lut und M ut terrecht Dass Juden ein besonderes Verhältnis zum Blute von Christenmenschen, sei es – historisch nicht ganz korrekt, da Jesus ein Jude war – dass sich die Juden gegenüber dem gekreuzigten Jesus selbst beschuldigten »Sein Blut komme über uns« (Matthäus 27, 25), sei es, dass sie vom Hohen Mittelalter bis weit in die Neuzeit immer wieder des Ritualmords an Christenknaben und dem Verzehr ihres Blutes beschuldigt wurden, Juden standen stets unter dem Verdacht sich christlichen Bluts bemächtigen zu wollen (Yuval 2010: 146ff.). Doch spielte ›Blut‹ ohnehin in der Geschichte, im Bewusstsein christlicher Gesellschaften eine wesentliche Rolle. Das Blut, das Opfer des eigenen Selbst und das Opfer der Feinde sind sakrale Gedankenfiguren, die – sei es dem christlichen Kultus oder einer mythischen Erinnerung geschuldet – am Anfang des modernen europäischen Nationalismus stehen: Davon kündet schon die Marseillaise, die – ganz entgegen den Vernunftparolen der Französischen Revolution – blutige Standarten und das Opfer besingt, Hymne an ein Mutter- oder Vaterland, das seine Söhne darbringt. Die Semantik der Gründungsschriften des europäischen Nationalismus, zumal des deutschen, bestätigen das. In seinen 1807/1808 gehaltenen Reden an die deutsche Nation versucht Johann Gottlieb Fichte appellatorisch zu verdeutlichen, warum das wahre Leben mehr ist als nur das individuelle Leben, warum nur die Bereitschaft zum Opfer ein wahres Leben, das zugleich ein Leben in Freiheit und Vernunft ist, zu begründen vermag: »Nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe zur Verfassung« so wettert der kampfeslustige Fichte gegen reformerische, bürgerliche Konstitutionalisten »und den Gesetzen, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als die Hülle des Ewigen umfasst, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle, der nur um des ersteren willen da ist, sich opfern soll [...] Sie« so Fichtes Polemik wider die Gegner eines bewaffneten Aufstandes gegen die französischen Truppen und ihre Verbündeten »werden darum alles anwenden, dass dieser [Kampf, M.B.] nur recht bald ein Ende nehme, sie werden sich fügen, sie werden nachgeben, und warum sollten sie nicht? Es ist ihnen ja nie um mehr zu thun gewesen, und sie haben vom Leben nie etwas weiteres gehofft, denn die Fortsetzung der Gewohnheit dazuseyn unter erleidlichen Bedingungen. Die Verheissung eines Lebens auch hienieden über die Dauer des Lebens hienieden

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hinaus, – allein diese ist es, die bis zum Tode fürs Vaterland begeistern kann.« (Fichte 1971: 387) Fichtes Todes- und Opfersemantik richtet sich auffälligerweise nicht an Bild und Metapher des Blutes, sondern an Bild und Metapher des Feuers aus. Gleichwohl: Die archaischen Ursprünge kannten – sowohl in den Schriften der Hebräischen Bibel als auch in den Mythen und Tragödien des antiken Griechenland – beide Formen des heilenden und heiligenden Opfers: das Brandund das Schlachtopfer. Aischylos Tragödie »Die Eumeniden«, die schon im Titel das ganze Programm trägt, nämlich die euphemistische Einhegung der mutterrechtlichen Rachegöttinnen, handelt nicht nur davon, wie archaische Rachegelüste zur Schubkraft einer Gerechtigkeit heischenden Moral der Polis werden können, sondern eben auch und zumal vom Blut und der Zähmung von dessen mutterrechtlicher Gewalt: Die »Eumeniden« führen den Atridenzyklus fort, dessen zentraler Kern der Mord von Klytämnestra und Aigisth am siegreich aus Troia heimgekehrten Feldherrn Agamemnon ist. Jahre später werden die ihrem Vater nachtrauernde Elektra und ihre Schwester Chrysothemis gemeinsam mit dem incognito heimgekehrten Orest die eigene Mutter, Klytämnestra aus Rache für den Mord an Agamemnon umbringen. Die ›Eumeniden‹ handeln also davon, wie der flüchtige Orest, der zwar in Delphi schon Entsühnung für den Mord an seiner Mutter gefunden hat, auf den Rat Apollons hin nach Athen, ins Heiligtum der vaterrechtlichen Athene kommt. Apollon will den Chor der rachsüchtigen Erynnien aus einem Tempel weisen, da sie »des Menschenschweißes schwarzen Schaum brechend, sowie beim Mord eingesaugte Blutklumpen speiend«, nicht in seinen reinen Tempel gehören. Im Gegenzug klagen die Rachegöttinnen Apollon an, das schlimmste Verbrechen, Muttermord, zu schnell entsühnt zu haben. Die Erynnien aber triumphieren, dass sie den bluttriefenden Mörder endlich gefasst haben – ihre Sprache ist die der Jagd: »Denn wie dem wundgeschossnen jungen Hirsch der Hund, so nach dem Schweißgeträufel, spüren wir ihn aus. Und jetzt ist er hier, irgendwo untergeduckt: Geruch sterblichen Menschenbluts lacht mich an.« (Zimmermann 1988: 203)

Die Erynnien verfluchen triumphierend Orestes Versuch, sich im Schutz des Vaterrechts zu entsühnen: »Das kann nicht sein; der Mutter Blut, geströmt zur Erd/Unwiederbringbar, weh, weh/ Das flüssig auf den Grund gegossne, ist’s dahin!/Nein, büßen musst Du’s/vom Lebendgen schlürfen wir/Rotfließend aus dem Leib den Opfertrank; von dir/Hol ich mir Sättgung: Mißgetränks Trunk um Trunk.« (Ebd.: 205)

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Im Lauf der Verhandlungen steht dann Mordtat gegen Mordtat: Orest bringt vor, dass die von ihm getötete Klytämnestra ja immerhin ihren Gatten, seinen Vater heimtückisch ermordet habe, wogegen die Erynnien einwenden, dass Agamemnon und Klytämnestra nicht blutsverwandt waren, während Orest doch Klytämnestras Sohn war: »Ich aber«, so Orest, »wär mit meiner Mutter eines Bluts?«, worauf er als Antwort erhält: »Wie nährte unterm Gürtel sie, Mordtriefender/Dich sonst; Verleugnest du der Mutter teures Blut?« (Aischylos 1988: 225/7), wogegen Apollon schließlich unter Hinweis auf Athene behauptet: »Nicht ist die Mutter des Erzeugten, ›Kind‹, genannt/Erzeugrin – Pflegrin nur des neugesäten Keims./Es zeugt der Gatte; sie dem Gast Gastgeberin/Hütet den Spross, falls ihm nicht Schaden wirkt ein Gott.« (Ebd.: 229) Das Ende der Tragödie schildert schließlich Athenes gelungenen Versuch, die wütende Kraft der Erynnien, all ihre rächende Energie in Ehren der neuen Polis einzugliedern und sie zu Schutzgöttinnen der Stadt zu erheben: »Daß den mächtgen«, so erklärt Athene ihr Angebot, »nur schwer zu versöhnenden/ Gottheiten allhier Wohnung ich gab/Denn in allem sind sie, was der Menschen Bereich/zu walten befugt. Und wer nicht erfuhr/Ihre furchtbare Last, der weiß nicht, woher/Ihm Schlag kommt auf Schlag; führt der Vorfahren Schuld/Und Frevel doch ihn unter ihre Gewalt.« (Ebd.: 247) Man kann Aischylos Tragödie als einen kritischen, einen aufklärerischen Traktat lesen: Nämlich so, dass eine aufgeklärte Stadt das Mutter-, d.h. das Abstammungsrecht zwar außer Kraft gesetzt hat, seine motivationale Kraft indes auch als zukunftsbezogenes Merkzeichen für die Gräuel, die am Anfang jeder politischen Gründung liegen, integriert. Ist also die Vermutung gerechtfertigt, dass stets dann, wenn das Blut aus seiner domestizierenden Funktion als erinnerndes Merkzeichen und motivationale Kraft gelöst und im mutterrechtlichen Sinne wieder als unmittelbar gemeinschaftsformende Kraft verwendet wird, der Gedanke einer politischen Gemeinschaft als rationaler Anstalt aufgegeben wird?

III. V ampyre , Pal ästiner und J uden Aber wie dem auch sei: Blut steht allemal – gewiss metaphorisch – für jene Kraft, die die Gemeinschaft der Polis – der Gemeinschaft, ja auch womöglich der Gesellschaft, zusammenhält. Immanuel Kant, der wohl größte Philosoph deutscher Sprache, respektierte den jüdischen Glauben, genauer gesagt dessen zentrale Idee mindestens so sehr, wie er die Juden als Volk missachtete. Das hinderte ihn nicht, zu einzelnen Juden geradezu herzliche Beziehungen aufzunehmen, um sich gegen

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andere wiederum in einer Weise zu verhalten, die nur als ressentimentgeladen zu bezeichnen ist. Kant lebte in Königsberg, einer Stadt, die ihm selbst als Inbegriff von Weltoffenheit galt und die in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde von etwa vierhundert Personen zählte. Neben Berlin wurde Königsberg im 18. Jahrhundert zur Wiege der Jüdischen Aufklärung, der Haskala. Seit 1712 besuchten jüdische Studenten die dortige, überaus renommierte Universität, fanden persönlich emanzipierte, wohlhabende jüdische Familien allmählich Zugang in die christliche Gesellschaft, unter ihnen der Textilfabrikant David Friedländer, der als Schüler Moses Mendelsohns zu einem der Vorreiter der jüdischen Aufklärung werden sollte. Der später in Berlin praktizierende Arzt Marcus Herz (1747-1803) wurde einer der ersten Anhänger Kants, der ihn zum Respondenten seiner Dissertation bestimmt und mit ihm jahrelang – vor Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft – korrespondiert hatte. Herz wurde später zu einem der ersten Populisatoren der kantischen Lehre. Eine weitere Freundschaft verband den um Jahre jüngeren Kant mit dem damals berühmten Moses Mendelsohn, dessen rationalistische Theologie Kant zwar vernichtend kritisieren sollte, den er indes persönlich mit äußerstem Respekt behandelte. Nach einem Besuch Mendelsohns in Königsberg im Jahr 1777 bat Kant seinen Briefpartner Marcus Herz, ihm die »Freundschaft dieses würdigen Mannes zu erhalten«. Minder vorteilhaft ließ sich Kant über einen anderen jüdischen Philosophen, über das autodidaktische Genie Salomon Maimon aus, dem er in einem Brief an Reinhold aus dem Jahr 1794 vorhielt, seine kritische Philosophie nachzubessern – »dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit« zu geben. In der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« schließlich ist in einer Fußnote gar von den »unter uns lebenden Palästinern« die Rede, einer »Nation von Betrügern« (Kant 1964a: B129-132). Man mag das alles dem empirischen Menschen Kant zurechnen – wie verhielt sich sein systematisches Denken zum Judentum? Vor allem: wie sollen wir heute – nach der Massenvernichtung der europäischen Juden – einen Satz lesen, der sich in Kants nachgelassenen Reflexionen zur Moralphilosophie findet: »Die Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller Satzungslehren, deren einige im Christentum noch zurück behalten bleiben müssen« (Kant 1964b: A81). Tatsächlich schlägt sich jedoch ausgerechnet in dieser makaber anmutenden Passage keine mörderische Intention nieder. Im Unterschied zur Gegenwart war im Zeitalter der Aufklärung ›Euthanasie‹ noch der Inbegriff eines guten, in Würde und ohne Leiden vollzogenen Sterbens, dem überhaupt nichts Verächtliches anhaftete. ›Euthanasie des Judentums‹ hieß für Kant nichts anderes, als dass diese Religion ihren Charakter als eine ›statutarische Gesetzesreligion‹, die nicht zureichend zwischen politischer Legislation und moralischen Prinzipien schied, aufgeben sollte, um zum Inbegriff einer reinen moralischen Religion

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zu werden. Die vom lutherischen Protestantismus vorgegebene Verketzerung der ›Gesetzesreligion‹ trieb im Übrigen keineswegs nur Kant um, sondern war schon die zentrale Frage, an der sich Mendelsohn in seinem Hauptwerk ›Jerusalem‹ abarbeitete. Bestrebungen, das Judentum in eine reine moralische Religion jenseits aller Riten umzuwandeln, meinte Kant unter den jüdischen Aufklärern Königsbergs und Berlins zu beobachten; an ihren Kämpfen nahm er vermutlich stärker Anteil als an vergleichbaren Konflikten im Bereich der christlichen Kirchen. Wie hoch Kants Achtung vor der von ihm so verstandenen Idee der jüdischen Religion war, lässt sich einer Bemerkung aus der 1790 erschienenen »Kritik der Urteilskraft« entnehmen: »Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst Dir kein Bildnis machen, noch irgendein Gleichnis […] Dieses Gebot allein kann den Enthusiasmus erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit anderen Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt.« (Kant 1968b: A123)

Gleichwohl – oder genauer deshalb – lohnt es sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Kant dazu kommen konnte, nun ausgerechnet die Angehörigen jener Religion zu dämonisieren, die dieses erhabene Prinzip postulierte. Ein Blick in das neue Kantlexikon, in das Stichwort ›Teufel‹ ergibt Folgendes: »In der Figur des Teufels findet sich die Idee eines schlechthin bösen Willens verkörpert. Die Ausdrücke ›Teufel‹ bzw. ›teuflisch‹ werden von Kant allerdings manchmal auch im schwächeren Sinne eines zwar hohen, wenngleich nicht vollkommenen Grads an sittlicher Verderbtheit verwendet.« (Willaschek 2015: 2267)

Freilich hat sich Kant auch in deskriptiver Weise, in ethnographischer Einstellungen mit Teufelsvorstellungen befasst, vor allem in den nachgelassenen Ausführungen zur physischen Geographie aus dem Jahre 1802, wo folgendes zu lesen ist: »Wenn man die Russen dieser Gegenden ausnimmt und die Mahomedaner: so haben die andern Völker mit keiner andern Gottheit als mit dem Teufel zu thun; denn ob sie zwar einen obersten Gott statuiren: so wohnt er doch im Himmel und ist gar zun weit. Die Teufel aber regieren auf der Erde. Alle Dörfer haben ihren Schamanen oder ihre Schamanin, d.i. Teufelsbeschwörer. Diese stellen sich wie rasend an, machen grausame Geberden, und dann geben sie vor, den Teufel ausgefragt zu haben. Gmelin hat sich von ihnen oft vorzaubern lassen, aber jedes Mal ihre Betrügerei entdeckt. In Jakutsk fand er eine Schamanin, welche das Volk betrog. Sie that, als wenn sie sich ein Messer in den Leib stach, hatte aber endlich die Herzhaftigkeit, als er auf sie genau Acht gab, sich wirklich hinein zu stechen, etwas von dem Netzte heraus zu ziehen, ein Stück abzuschneiden

Juden: Vampyre – Gemeinschaf tsschädliche Dämonen und es auf Kohlen gebraten zu essen. Sie heilte sich in sechs Tagen. Allenthalben hat man Bildnisse des Teufels. Der Teufel der Ostjaken ist sehr unförmig, der der Jakuten eine ausgestopfte Puppe« (Kant 1923: 402).

Tatsächlich – auch darüber klärt das Kant Lexikon auf – benutzte Kant auch gelegentlich den Ausdruck ›Dämonologie‹ – etwa in der Kritik der Urteilskraft, wo er eine mit anthropomorphen Vorstellungen durchsetzte Theologie als Dämonologie bezeichnet: »Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst eine Theologie: da die letztere, wenn sie nicht unbemerkt aus der ersteren borgte, sondern consequent verfahren sollte, für sich allein nichts als eine Dämonologie, welche keines bestimmten Begriffs fähig ist, begründen könnte.« (Kant 1968b: B 415, B 588)

Einige Zeilen später wird der Ausdruck ›Dämonologie‹ als Synonym für eine unter mehreren Formen missverstandenen Glaubens bezeichnet: Gehe es doch um eine Einschränkung der Vernunft mit Blick auf Ideen des Übersinnlichen sofern sie in praktischem (d.h. hier moralischen oder doch ethischen) Gebrauch bestehen sollen: dieser praktische Gebrauch verhüte, »daß Theologie sich nicht in Theosophie in vernunftverwirrende überschwengliche Begriffe versteige, oder zur Dämonologie (einer anthropomorphistischen Vorstellungsart des höchsten Wesens) herabsinke« (Kant 1986b: 450).

Freilich lohnt es, sich das von Abegg überlieferte Zitat von den Juden als ›Vampyren der Gesellschaft‹ noch einmal genauer und im Kontext zu betrachten. Im Ganzen lautet die Äußerung so: »Es wird nichts daraus kommen; so lange die Juden Juden sind, sich beschneiden lassen, werden sie nie in der bürgerlichen Gesellschaft mehr nützlich als schädlich werden. Jetzo sind sie die Vampyre der Gesellschaft.« (Malter 2013: 518)

Anders als spätere Rassisten postuliert Kant offenkundig nicht so etwas wie ein unveränderliches jüdisches Wesen, sondern einen aktuellen Zustand: »Jetzo sind sie…« Das, was man als jüdisches Wesen bezeichnen könnte, resultiert offensichtlich aus ihrer Religion bzw. der mit dieser Religion verbundenen Bräuche: »die Juden Juden sind, sich beschneiden lassen…« An anderer Stelle, in seiner Schrift »Über die Religion in den Grenzen reiner Vernunft…« bezeichnete Kant das Judentum bekanntlich als ›statutarische Religion‹, also einer Religion, der es nicht um eine ethisch gelebte Form sittlicher Ideen geht, sondern um eine Gesetzesreligion – eine Ansicht, die keineswegs nur Kant,

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sondern zumal der stets gesetzestreu lebende Moses Mendelsohn in seinem 1783 publizierten Buch ›Jerusalem‹ begründet und entfaltet hatte. Sogar die Beurteilung ihres aktuellen Wesens wird empirisch und gradualistisch, gleichsam funktionalistisch erläutert: sind sie doch eher schädlich als nützlich – eine Überzeugung, die nicht ausschließt, dass sie auch nützlich sein können – wenn auch minder denn nützlich. Verbindet man den Hinweis auf die Juden als »Vampyre« mit Kants ausführlichen Hinweisen in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, so zeigt sich, dass Kant Juden ›nicht unbegründet‹ als vom Ruf des Betrugs betroffen zeigt: So spricht er von den »unter uns lebenden Palästinern«, die in den »nicht unbegründeten Ruf des Betrugs gekommen seien. Es scheint nun zwar befremdlich, sich eine Nation von Betrügern zu denken; aber ebenso befremdlich ist es doch auch, eine Nation von lauter Kaufleuten zu denken, deren bei weitem größter Teil durch einen alten, von dem Staat, darin sie leben, anerkannten Aberglauben verbunden, keine bürgerliche Ehre sucht, sondern dieser ihren Verlust durch die Vorteile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden und selbst untereinander ersetzen wollen.« (Kant 1964a: 206)

IV. W eitere V ampyre : C hristentum und K apital Das Bild der Vampyre aber sollte in politischen Philosophien des 19. Jahrhunderts noch eine Nachgeschichte haben: etwa bei den Hegelschülern Bruno Bauer und Karl Marx. Bruno Bauer, gegen den Marx in seiner Schrift »Zur Judenfrage« heftig und dabei bisweilen antisemitisch argumentiert hatte,2 wollte etwa über das Christentum folgendes festgestellt sehen: »Innerhalb der Sphäre des sich selbst entfremdeten Geistes mußten, wenn die Befreiung gründlich und für die Menschheit geschehen sollte, die bisherigen Schranken des allgemeinen Lebens aufgehoben, d.h. die Entfremdung mußte zu einer totalen werden. In den Religionen des Alterthums, welche mit Blumen umwundene Ketten genannt werden, hatte der Geist sich noch nicht so weit entfremdet, die totale Entfremdung geschieht erst im Christenthum: Als die Blumen im Verlauf der Geschichte verwelkt, die Ketten durch römische Kraft gebrochen waren, vollendete der Vampyr der geistigen Abstraktion das Werk. Saft, Kraft, Blut und Leben bis auf den letzten Blutstropfen saugte er der Menschheit aus: Natur und Kunst, Familie, Volk und Staat wurden aufgesaugt und auf den Trümmern der untergegangenen Welt blieb das ausgemergelte Ich sich selbst aber als die einzige Macht übrig.« (Otto Friedrich Gruppe 1843: 67)

Doch wie in der Schrift zur Judenfrage war Marx selbst – dem Zeitgeist gemäß – von entsprechenden Metaphern nicht frei, wenngleich er sie in diesem

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Fall nicht auf Judentum oder Christentum, sondern – in seiner nach wie vor brillanten politischen Analyse »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« – auf die bürgerliche Ordnung bezog: »Das Parzelleneigentum in dieser Sklaverei vom Kapital, wozu seine Entwicklung unvermeidlich hindrängt, hat die Masse der französischen Nation in Troglodyten verwandelt. Sechzehn Millionen Bauern (Frauen und Kinder eingerechnet) hausen in Höhlen, wovon ein großer Teil nur eine Öffnung, der andre nur zwei, und der bevorzugteste nur drei Öffnungen hat. Die Fenster sind an einem Haus, was die fünf Sinne für den Kopf sind. Die bürgerliche Ordnung, die im Anfange des Jahrhunderts den Staat als Schildwache vor die neuentstandene Parzelle stellte und sie mit Lorbeeren düngte, ist zum Vampyr geworden, der ihr Herzblut und Hirnmark aussaugt und sie in den Alchimistenkessel des Kapitals wirft. Der Code Napoléon ist nur noch der Kodex der Exekution, der Subhastation und der Zwangsversteigerung.« (Marx 2007: 123)

Obwohl sie sich in vielen Hinsichten gegen Marx stellte, war der deutschen Sozialwissenschaft der Epoche kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg der Gedanke einer Vergemeinschaftung über Blutsbande nicht fremd: Max Weber erläutert dies in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹, wo er sich unter der Thematik der Vergemeinschaftungstypen mit dem Verhältnis von sexuellen Beziehungen in der Hausgemeinschaft hier und den sozialen Bindungen in der ›Sippe‹ dort auseinandersetzt. ›Blutrache‹ und ›Blutschande‹, die in traditionalen Gesellschaften über das tatsächlich durch Sexualverkehr und unmittelbare Abstammungsverwandtschaft miteinander verbundene Haus hinaus gelten, konstituieren kraft der entsprechenden Tabus und Normen ›Sippen‹, die in diesem Sinn keine ›urwüchsigen Gemeinschaften‹ sind. »Als eine« so Weber über den Charakter von Sippen »aus wirklicher oder fiktiver oder künstlich durch Blutsbrüderschaft geschaffenen Abstammung abgeleitete, Pflichtenund Pietätsbeziehung zwischen Menschen, die unter Umständen nicht nur verschiedenen häuslichen, sondern auch politischen Einheiten und selbst verschiedenen Sprachgemeinschaften angehören können, steht die Sippe dem politischen Verband in konkurrierender, ihn durchkreuzender Selbständigkeit gegenüber« (Weber 1985: 219-220). Blutsverwandtschaft, geglaubte oder tatsächlich bestehende, das macht Weber immer wieder klar, ist schließlich nicht zur Gänze mit ethnischer Zugehörigkeit, d.h. Abstammungsglauben bzw. dem ihr entsprechenden Gefühl, identisch. Zwar basierten antike Kultgemeinschaften vor allem im Glauben an eine Verwandtschaft der ihr Angehörigen, gleichwohl konnte die Kraft des Glaubens an diese Götter leicht zu einem Überschreiten der Verwandtschaftsgrenzen führen, mit der Folge, dass schließlich die geteilte kultische Überzeugung eine quasi verwandtschaftliche Verbindung erzeugt.

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Blutsbrüderschaft aber, so Webers Pointe, ist eine Form des willentlich geschlossenen Kontrakts und es ist kein Zufall, dass sich Weber dieser Frage ausgerechnet in der ›Rechtssoziologie‹ zuwendet, wo er das Verfahren, wie Blutsbrüderschaft geschlossen wird, präzise beschreibt: »Die Beteiligten müssen eine andere ›Seele‹ in sich einziehen lassen. Das Blut oder der Speichel müssen gemischt und getrunken werden – ein schon relativ spätes Symbol – oder durch andere äquivalente Zaubermittel muß die animistische Prozedur der Schaffung einer neuen Seele vollzogen werden. Eine andere Garantie dafür, dass die Beteiligten wirklich ihr Gesamtverhalten zueinander dem Sinn der Verbrüderung entsprechend gestalten, ist dem magisch orientierten Denken gar nicht zugänglich.« (Ebd.: 401f.)

Hier ist genau zu lesen: Die nicht auf gemeinsame Abstammung bezogene Verbindung durch die Vermischung von Körpersäften dient der Herstellung nicht einer allgemeinen Verschwisterung, sondern dem der Verbrüderung: Die geschlossene Verbindung resultiert in einer Brüdergemeinschaft, also in einem Männerbund, einem Männerbündnis – über zwischen Frauen geschlossenen Blutsgeschwisterschaften fehlen, soweit ich sehe, historische ethnographische Hinweise. Blut und Speichel sind im Übrigen nur zwei jener Körpersäfte, die zur Vergemeinschaftung unter Männern dienen: Die Ethnologie unterrichtet uns darüber, dass etwa in Neu Guinea Knaben des Stammes der Sambia dadurch zu Männern werden, dass sie vor der Pubertät von ihren Müttern getrennt werden, um dann sieben Jahre lang Tag für Tag auf dem Wege der Fellatio gewonnenes Sperma älterer Jünglinge schluckt (Harris 1991: 228). Dem dürften die kulturell hochgezüchteten homosexuellen Vergemeinschaftsformen der griechischen Polis entsprechen (Reinsberg 1989: 163ff.). Anzufügen ist noch, dass der Blutkreislauf kurz vor der Mitte des 16. Jahrhunderts – 1628 – von William Harvey entdeckt wurde und der Geldkreislauf im 17. Jahrhundert von Francois Quesnay postuliert wurde. Als junger Mann medizinisch gebildet, übertrug Quesnay im fortgeschrittenen Alter den Gedanken des Blutkreislaufs auf die Volkswirtschaft. Als nicht nur symbolische Kraft sollte das Blut auch noch im 20. Jahrhundert als jener Kitt gelten, der Gemeinschaften zusammenhielt. Im christlichen Abendmahl, im christlichen Märtyrerkult wie vor allem im Blutsmythos der NSDAP hat sich eine symbolische, keineswegs immer durch den realen Austausch von Körperflüssigkeiten gekennzeichnete Vergemeinschaftung durch das Blut erhalten. Bei den Reichsparteitagen der NSDAP war es für die alten Kameraden üblich, unter dumpfem Trommelwirbel, in der gleissenden Helligkeit von Albert Speers Lichtdomen die Blutfahne der Bewegung, also jene Hakenkreuzfahne, die angeblich am 9. November 1923 durch die Münchner Innenstadt getragen wurde, zu berühren. Der offizielle Bericht

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vom Reichsparteitag in Nürnberg enthält dazu den folgenden, vom SA Stabschef Lutze verkündeten Text zur Fahnenweihe: »Durch die Berührung der Standarten mit der Blutfahne haben wir das Vermächntnis unserer Toten übernommen, unserer Kameraden, die einst in Reih und Glied mit uns marschierten, und die ihre Treue zur Idee und ihren Glauben an Sie, mein Führer, mit ihrem Blute besiegelten. Würdig dieser Toten haben diese Männer in den vergangenen Jahren des Kampfes und des Sieges gestanden, gearbeitet, gekämpft und geopfert.« (Karow 1997; zit. nach Brumlik 2007: 263)

Indem einzelne SA-Männer selbst diese oder andere Standarten die als blutgetränkt ausgegebene Fahne vom 9.11.1923 berühren, geht ein Teil von deren Heil bringender Kraft in sie über, wobei das Heil, das hier beschworen wird, eben nicht das Heil einzelner Personen ist, sondern das Heil einer übergreifenden Gemeinschaft. Das verweist auf die schon seit Längerem diskutierte These vom Nationalsozialismus als einer politischen Religion wobei sich die Frage stellt, ob Bluts- oder Opferbrüderschaft ein den Religionen spezifischer, von politischer Vergemeinschaftung eigentlich strikt unterschiedener Vergemeinschaftungsmodus ist.

V. D ie E rlösung der V ampyre Es war wiederum Kant, ohne dass ihm das wahrscheinlich bewusst war, der selbst eine dämonologische ›Lösung‹ seines Problems mit den Juden vorschlug. Eine Dämonologie ist nach Kant – wir erinnern uns – eine unbestimmte Theologie, der es an moralischer Konsequenz mangelt: Kants Forderung nach einer Euthanasie des Judentums – die, es sei noch einmal wiederholt, nichts mit den nationalsozialistischen Euthanasiebegriffen und Praktiken zu tun hat – wiederholt dennoch jenen Weg, der die blutsaugenden Untoten von ihren ewigen Umtrieben erlöst. Immerhin – auch der reinen Vernunft ist unter Umständen ein solcher Gnadentod zuzuschreiben, heißt es doch in der Kritik der reinen Vernunft: »Beides ist der Tod einer gesunden Philosophie, wiewohl jener allenfalls noch die Euthanasie der reinen Vernunft genannt werden könnte.« (Kant 1968a: B 434f.) Der Tod, um den es hier geht, ist ›skeptische Hoffnungslosigkeit‹. Sie immerhin hat noch mehr erlösendes Potential als reiner Dogmatismus, der nicht bereit ist, »Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen« (Kant 1968a: A 407).

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Skeptizismus, Juden und Judentum – als rächendes Gewissen sind sie zugleich Zerstörer organischer Gemeinwesen, deren Substanz sie aufzehren.

VI. U nd die G egenwart ? In welcher Hinsicht können nun diese geistesgeschichtlichen Überlegungen dabei behilflich sein, sich in der Gegenwart zu orientieren? Während des Schreibens dieser Zeilen im Juli 2016 tobt an der Humboldt Universität in Berlin eine Art Kulturkampf. Hierzu berichtete die taz am 8.7.: »In einer Stellungnahme kritisiert die Fachschaft für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität (HU) den Professor Ruud Koopmans für ›wissenschaftlich höchst fragwürdige Ergebnisse‹. Diese nutze er, ›um Stimmung gegen Personen muslimischen Glaubens in Deutschland zu machen‹, heißt es in der Erklärung. Neben seiner Tätigkeit als Professor für Soziologie und Migrationsforschung am Institut für Sozialwissenschaften der HU ist Koopmans Direktor der Abteilung ›Migration, Integration und Transnationalisierung‹ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).« Seit Längerem schon weist der aus den Niederlanden stammende, ehemals politisch den GRÜNEN nahestehende Sozialforscher darauf hin, dass seinen empirischen Ergebnissen gemäß Immigrant_innen muslimischer Herkunft sich ›schlechter integrieren‹ – das gilt dann, wenn man wie er Integration in den Arbeitsmarkt bzw. die Bereitschaft, interethnische Ehen einzugehen als Kriterium für gelingende »Integration« (Astheimer 2016, o.S.) ansetzt. Die mit dieser Feststellung verbundene Hintergrundtheorie verweist auf einen mit dem muslimischen Glauben verbundenen massiven Traditionalismus, der – wenngleich in gemäßigten Tönen – als negativ und einer offenen Gesellschaft nicht gemäß beurteilt wird. Studierende der HU haben Koopmans deshalb ›antimuslimischen Rassismus‹ vorgeworfen. Tatsächlich: vor dem Hintergrund der aufsehenerregenden frauenfeindlichen Delikte nicht nur der Kölner Silversternacht, die allem Anschein nach ausnahmslos von jungen Männern nordafrikanischer Herkunft begangen wurden, scheint sich nicht nur in Deutschland das Vorurteil zu verfestigen, dass der Islam als patriarchale Religion derlei Handlungen wenn schon nicht nahe legt, so doch mindestens fördert. Diese Annahme wird auch und gerade von Journalisten und Publizisten, die die Herkunftsregion dieser jungen Männer aus eigener Erfahrung kennen, geteilt. So etwa Samuel Schirmbeck in der FAZ vom 11. Januar 2016.3 In seinem Beitrag setzt sich Schirmbeck unter Berufung auf eine nordafrikanische Feministin mit einer Äußerung der in Deutschland wirkenden Pädagogin Lamya Kaddor auseinander, die zu Recht darauf hinweist, dass derlei gewaltsame sexuelle Übergriffe auch auf dem Oktoberfest geschehen, indem er darauf be-

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harrt, dass die einen Gewalttaten nicht mit den anderen gleichzusetzen seien: »Der Unterschied liegt darin, dass die sexuelle Gewalt in Nordafrika und im Nahen Osten zum Alltag gehört und dass in dieser Hinsicht dort permanent ›Oktoberfest‹ und ›Karneval‹ ist, denen sich keine Frau entziehen kann, indem sie diese Veranstaltungen meidet.« Und diesen Alltag, so ist Schirmbecks Einlassung zu verstehen, bringen diese jungen Männer mit nach Deutschland und sind u.a. deswegen schlechter zu ›integrieren‹. Daran wird nun deutlich, was ›Dämonisierung‹ – mutatis mutandis – im aktuellen Kontext heißen kann: die unausgesprochene Festschreibung und Generalisierung durchaus zu verurteilender, sich massenhaft addierender Handlungen von Einzelnen auf das ›Wesen‹ ihrer Kultur, verbunden mit der Annahme, dass es kaum möglich ist, sich dieses Wesens zu entledigen. Ihren Gipfel erreicht diese Dämonisierung dann, wenn sogar beim Unterbleiben entsprechender Handlungen davon gesprochen wird, dass sich damit ja nicht die innere Einstellung ändere. Das genau entspricht dem Begriff der ›Dämonisierung‹, wie sie am historischen Beispiel herausgearbeitet wurde: dem Beharren auf unveränderlichen, negativen Charakterzügen sämtlicher Angehöriger einer wie auch immer stigmatisierten Bevölkerungsgruppe, Charakterzügen, die ihrer unveränderlichen Kultur zugeschrieben werden.

A nmerkungen 1 In diesen Beitrag sind Passagen früher veröffentlichter Arbeiten von mir eingeflossen (Brumlik 2002/2007). 2 Dazu Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass, München 2002, 280-318. 3 www.faz.net/aktuell/politik/inland/gastbeitrag-von-samuel-schirmbeckzum-muslimischen-frauenbild-14007010.html

L iter atur Astheimer, S. (2016). Migrationsforscher im Gespräch. »Die meisten Menschen wollen unbequeme Fakten nicht hören«. In: Frankfurter Allgemeine. www.faz.net/aktuell/wirtschaft/migrationsforscher-koopmans-haeltmultikulti-fuer-fatal-14202950.html [zuletzt geprüft am 1.8.2016] Brumlik, M. (2002). Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München: Luchterhand.

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Juden: Vampyre – Gemeinschaf tsschädliche Dämonen

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Die Geister, die wir riefen! Europas Terror – Gedankensplitter 1 María do Mar Castro Varela »Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.« (Karl Marx: Das Kommunistische Manifest)

»Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los«, der berühmte Satz aus Goethes »Zauberlehrling« kommt mir in der Hitze dieses Sommers in den Sinn. Tausende von Worten werden in diesen Tagen im Versuch gesprochen und ausgetauscht, der verspürten Sinnlosigkeit zu entkommen. Jeden Tag, so scheint es, ein neuer sogenannter ›Terroranschlag‹ oder ›Amoklauf‹ in einer (europäischen) Stadt. Ich wache morgens auf und denke: »Was wird es heute sein? Wie viele sind heute ermordet worden, weil sie zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren: in Nizza, in einem bayrischen Zug, in einer Kirche, in einem Einkaufszentrum, auf den Straßen von Aleppo, in Kabul oder im kurdischen Qamishlo.« Notorisch wird schlicht von ›Terroranschlägen‹ gesprochen und auf die dringend notwendige Differenziertheit in der Analyse der erschütternden Geschehnisse verzichtet. Es scheint, als wäre es nur möglich, die Ängste und Unsicherheiten zu bearbeiten, indem die europäische Selbstbezüglichkeit die Leitung über die Gedanken und Emotionen übernimmt. Viele Menschen in (West-)Europa tun gerade so, als ob es zuvor nie sinnlose Attacken auf menschliches Leben und Versuche der Zerstörung des Alltags gegeben hätte. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg scheinen so weit entfernt, dass die Erinnerungen an sie verblasst sind. Und selbst die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Zerfall von Jugoslawien scheinen vergessen – vielleicht waren diese in der westeuropäischen Erinnerungslandschaft aber ohnehin nur ein Medienereignis mit erschütternden Bildern – wie dies auch für den Irakkrieg und die Zerstörung Afghanistans gilt. Vergessen wird auch, dass einer der Konsequenzen aus den Kriegen große Fluchtbewegungen in Richtung Deutschland und Österreich waren. Nach Angaben des UNHCR wurden in 1995 allein aus den ehemaligen

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Jugoslawien 734.970 Geflüchtete gezählt. In jenen Jahren hat Deutschland mit 350.000 Menschen die größte Zahl an Geflüchteten aufgenommen (Lederer 1997).2 Es war dies allerdings auch der entscheidende Trigger, um die bis dahin recht liberale Asylgesetzgebung der Bundesrepublik zu verschärfen oder, wie auch gesagt werden könnte, das Recht auf Asyl abzuschaffen.3 Und es war der Beginn eines immer brutaleren Grenzregimes, der später mit Frontex und Eurosur neue Dimensionen der Grenzkontrolle annahm. Ein Prozess, der begleitet wurde von einer kontinuierlichen Disziplinierung von Geflüchteten und Migrant_innen in Deutschland und Europa. Politiker_innen sprachen schon damals von der »Überflutung« Deutschlands und operierten schamlos mit Schreckensszenarien (Jäger 1992, aktuell Hahn 2016). In den 1990er Jahren kam es jedoch nicht nur zu großen Debatten über Flucht und die Verantwortung Deutschlands vis-à-vis geflüchteter Menschen, sondern auch zu wiederholten und massiven Angriffen auf Geflüchtete, Migrant_innen und People of Color (etwa Brodkorb/Schmidt 2002). Es scheint zumindest auf den ersten Blick als wäre die Entscheidung der regierenden Klasse, die Verantwortung für das Leben von Menschen auf der Flucht zu übernehmen, von der deutschen Bevölkerung nicht mehrheitlich getragen worden. Was dann wiederum zu einer kontrollierenden Reaktion der Regierung geführt hat, die sich in striktere Gesetzte, Abschaffung des Asylrechts und verdichtete Grenzen übersetzte. Freilich hatten wir es aber weder in den 1990er Jahren – noch haben wir es aktuell – mit einheitlichen Blöcken und klaren und durchsichtigen Argumentationslinien zu tun. Insofern laufen simplifizierende Aktion-Reaktion-Modelle direkt ins Leere. Das Bild ist undurchsichtiger und komplexer. Angemessene Erklärungen verlangen nach Annäherung an die Komplexität der sozialen Phänomene und politischen Praxen. Erst dann kann festgestellt werden, dass sich etliche Regierungsmitglieder in ganz Europa an einer unglaublichen Hetze gegen Migrant_innen und geflüchteten Menschen beteiligten, ja diese zum Teil initiierten und für ihre politischen Interessen instrumentalisierten. Der bayrische Ministerpräsident, Horst Seehofer, lud gar den rechten ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ein, für den alle Geflüchteten potentiell Kriminelle sind – und erhielt dafür viel Kritik. Aber auch die gebildete Mittelschicht beteiligt sich immer wieder an rassistischen Diffamierungen. So schreibt der Vorsitzende des Philologenverbands von Sachsen-Anhalt, Jürgen Mannke, im Leitartikel der offiziellen Verbandszeitschrift: »Eine Immigranteninvasion überschwappt Deutschland.« Und fragt, wie »wir unsere jungen Mädchen im Alter ab 12 Jahren so aufklären, dass sie sich nicht auf ein oberflächliches sexuelles Abenteuer mit sicher oft attraktiven muslimischen Männern einlassen«. Denn oft kämen diese »ohne ihre Familien oder Frauen und sicher nicht immer mit den ehrlichsten Absichten« (TAZ v. 8.11.2015).4 Die deutsche wie auch österreichische Zivilgesellschaft legen dagegen wahrlich nicht nur rassistische Praxen und Ideologien an den Tag, sondern stellen auch

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in Zeiten, die in die Krise geredet werden, ein enormes Solidaritätspotential – wie auch Widerstand gegen enthumanisierende Praxen – unter Beweis. Während selbst die Regierungsmitglieder, die sich für eine demokratische Praxis der Solidarität mit Geflüchteten aussprechen, zumeist gleichzeitig für eine Verschärfung von Migrations- und Asylgesetzgebungen sind, ohne dass dies als Widerspruch erlebt wird. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel ist hierfür wohl das prominenteste Beispiel. Gleichzeitg hat sich die Zahl der Gruppen, Nichtregierungsorganisationen und Vereinen, die sich dem Wohlbefinden von Geflüchteten widmen, enorm und rapide vervielfältigt. Das Letzteres nicht einfach positiv zu beurteilen ist, liegt natürlich auf der Hand, denn wohlwollende soziale Praxen – das ist bekannt – zeitigen weder immer gute Konsequenzen, noch sind die Ursachen für das Gut-Tun strikt und simpel ›gut‹. Paternalismus und Solidarität gehen zu oft Hand in Hand. Der folgende Beitrag ist im Modus der Ungeduld geschrieben. Eine wütende Ungeduld, die durch zweierlei Terrordiskurse ausgelöst wird, von denen sich einer als naiv und der zweite als enthumanisierend charakterisieren lassen können. Der naive zeigt sich überrascht und reagiert resigniert und ohnmächtig, ob der angeblich neuen Formen der Gewalt, während der enthumanisierende Gewaltexzesse instrumentalisiert, um rassistische Diskurse zu mobilisieren und zu entfalten. Heute ist in der Mitte Europas ein soziales Phänomen allgegenwärtig, welches es in diesem Ausmaß und in dieser Qualität wahrscheinlich tatsächlich noch nicht gegeben hat: Parallel zu den wachsenden Fluchtbewegungen aus Osteuropa und dem globalen Süden kommt es in den Städten Westeuropas und auch in den Metropolen des globalen Südens immer wieder zu grausamen Anschlägen auf menschliches Leben. Bluttaten, die nicht vorhersehbar und nicht berechenbar sind und gegen die man sich kaum entsprechend schützen kann. Viele der Anschläge werden im Nachhinein religiös markiert, weil die Ausführenden, die sich dazu bekennen, ihre Taten religiös begründen oder weil die Mehrheitsbevölkerungen der Annahme sind, dass ein religiöser Wahn der einzige Grund dafür sein kann, dass Menschen barbarische Taten ausführen. Dies ist sicher auch eine Folge eines dominanten anti-muslimischen Diskurses, der das Böse im ›Islam‹ sucht wie auch eines Staatsverständnisses, welches sich schwer tut mit religiösen Praktiken, die von den christlichen abweichen. Oft wird im Zusammenhang mit der Abwehr des ›Islam‹ die Ferne zwischen diesem und dem Christentum angeführt und auf die Inkommensurabilität der Werte, die angeblich die differenten religiösen Strömungen bestimmen, hingewiesen. Doch ist dieses Argument erdenklich schwach. Denn wie, so ließe sich etwa fragen, lässt sich die große Attraktion, die westliche Mittel- und Oberschichten gegenüber dem Buddhismus an den Tag legen, erklären? Woher kommen die unendlich vielen Yoga-Praktizierenden, die ohne Mühe Mantras nachsprechen – freilich ohne zumeist zu wissen, was sie da

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eigentlich sagen. Ist es die ›kulturelle Nähe‹ zu Asien? Wohl kaum. Die Abwehr gegenüber alledem, was als ›muslimisch‹ markiert wird, hat sicher andere Gründe und funktioniert nicht nach einem einfachen ›Fremdenangst-Prinzip‹, vielmehr müssen hierfür, wie Schirin Amir-Moazami in ihrem Beitrag in dem vorliegenden Band vorschlägt, »die Mächte des Säkularen als religionsstrukturierende Matrix liberaler Nationalstaaten Europa in den Blick« genommen werden. Bereits 1996 hatte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in seinem Buch »The Clash of Civilizations« (1996) die Hypothese aufgestellt, dass das 21. Jahrhundert von Konflikten zwischen ›Kulturräumen‹ dominiert sein werde. Eine Hauptkonfliktlinie sah er zwischen der ›westlichen Zivilisation‹ und dem ›islamischen Kulturraum‹. Die Thesen wurden bereits bei Erscheinen des Buches heftig kritisiert. Insbesondere irritierten die essentialistischen Skizzierungen von ›Kulturräumen‹, die Kultur als geschlossen, homogen und statisch beschreiben. Heute müssen wir eingestehen, dass Huntington bis zu einem gewissen Punkt Recht behalten hat: Die Konfliktlinie zwischen einem imaginierten ›Westen‹ und einer phantasierten ›islamischen Kultur‹ bestimmen nicht nur die politische Berichterstattung, sondern auch die Alltagsgespräche im ›Westen‹ und ›Osten‹. Sie sind ein wichtiger politischer Motor. Huntington konnte prädizieren, dass die Mehrheit auf beiden Seiten dieser angenommenen Konfliktlinie sich so simplifizierend zuordnet, markiert und selbstbewusst selbstrepräsentieren. Seine Ausführungen sind in dieser Vereinfachung problematisch, ja, gefährlich – auch weil sie komplexe politische Konflikte als einfach lösbar skizzieren und die ›islamische Kultur‹ wieder einmal als rückständig und barbarisch zeichnet. Vielen gibt sie aber eine Begründung dafür, warum ihre Ängste berechtigt seien. Der Islam und die, die sich als Muslime/Muslima bezeichnen, erscheinen vielen Menschen in Westeuropa als die größte Bedrohung. Wie der Auslandskorrespondent Nicolas Richter (2013) in seinem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung allerdings sehr richtig bemerkt, ist die Welt »unordentlicher«, als es Huntington erwartet hat. »Nicht ›Zivilisationen‹ werden an Einfluss gewinnen, sondern Netzwerke und Koalitionen. Religiöse Leidenschaft zwar Konflikte anfachen, aber sie bestimmt kaum das realpolitische Geschäft der Groß- und Mittelmächte.« (Ebd.) Was allerdings sehr wohl durch einen anti-muslimischen Diskurs erreicht wurde – insbesondere seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im September 2001 – ist, dass Sicherheitsmaßnahmen, selbst wenn sie auf Kosten demokratischer Freiheiten gehen, fast gänzlich ohne soziale Proteste hingenommen werden. War in den 1980er Jahren noch ein breiter Widerstand gegen eine Volkszählung in Deutschland möglich, so werden wir heute fast auf Schritt und Tritt per Video überwacht, unsere privaten Daten gespeichert und analysiert und wir machen uns verdächtig, wenn wir dies nicht als Notwendigkeit hinnehmen. Der Widerstand dagegen ist so geringfügig, dass

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er fast komplett untergeht. Andreas Khol, Kandidat für die Bundespräsidentenwahl in Österreich 2016 für die ÖVP, sprach in einem Interview pointiert von dem »Luxus des Nichtüberwachtwerdens«, den wir uns nicht mehr leisten könnten (Profil v. 16.4.2016).5 Nichtüberwachtwerden ist heute also ein Luxus, ein Privileg, welches einer demokratischen Gesellschaft nicht per se zusteht. Entdemokratisierung wird damit zum Normalzustand. In diesem Beitrag werde ich versuchen, die Zusammenhänge zwischen einem exaltierten westeuropäischen Sicherheitsbedürfnis, der Normalisierung von (diskursiver) Gewalt und der Entdemokratisierung der europäischen Gesellschaften zu skizzieren. Ich nähere mich diesem komplexen Gewebe über die Reaktionen auf einen Akt des Terrors, der viele in Deutschland und in der Welt verstört hat: Ein 18-Jähriger eröffnet an einem Tag im Juli 2016 schwerbewaffnet das Feuer auf unschuldige und ahnungslose Besucher_innen eines Shoppingzentrums in München. Sein Ziel sind vor allem junge Menschen, die er als muslimisch identifiziert. München ist für Stunden im Ausnahmezustand: der Bahnhof wird geschlossen, der Flughafen lahmgelegt, Autobahnzufahrten gesperrt und die Bevölkerung dazu aufgerufen, in ihren Wohnungen und Häusern zu bleiben. Sonderreinsatzkommandos werden benötigt, selbst aus den benachbarten Städten und aus Österreich werden Einsatzkräfte angefragt. Die Reaktionen der Mehrheitsbevölkerungen in der gesamten Republik sind Tränen, Verzweiflung, Hass und Verständnislosigkeit. Es geht mir hier nicht darum, ein Psychogramm des Täters oder der Tat zu zeichnen, stattdessen konzentriere ich mich auf eben diese Reaktionen, die uns einen Blick auf die dominanten rassistischen Diskurse erlauben und eben einen lohnenden Ausgangspunkt für weitergehende sozialpolitische Analysen bieten. Gewissermaßen werde ich einen Vorfall und die Reaktionen darauf fragmentarisch nachzeichnen, um daran die Verquickungen und Interdependenzen von ›Terror‹, ›Sicherheit‹ und die ›europäische Vergessenheitslandschaft‹ auszubuchstabieren, die das Sprechen über Rassismus immer wieder zu verunmöglich drohen und rassistische Strukturen und Praxen gleichsam persistent stabilisieren.

A ngst und M acht »Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.« (Karl Marx: Das Kapital, Band 1)

Bevor ich mich dem konkreten Beispiel widme, will ich noch einige Worte zu Macht- und Herrschaftsstrategien verlieren, die mir, so meine Hoffnung, Möglichkeiten des feineren Lesens ermöglichen. Simplifizierende Annahmen

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sind immer problematisch, doch in Anbetracht einer aktuellen Zeitdiagnose, die die Dominanz solcherlei Thesen evident machen, sind sie darüber hinaus riskant. Einfache Antworten auf komplexe Fragen verführen dazu, die Entdemokratisierung Europas voranzutreiben – oder zumindest nicht zu stoppen. Der viel zitierte Text von Gayatri Chakravorty Spivak »Can the Subaltern Speak?« (2008 [1984]) bietet eine interessante Lesart an, um die Widersprüchlichkeit und Ambivalenzen politischer Manöver und Herrschaftsstrategien freizulegen, die scheinbares Wohlwollen und Unterwerfung miteinander verflechten. Der Text, der leider oft sehr verkürzt rezipiert wird, bedient sich im vierten und letzten Teil zweier historischer Beispiele aus Zeiten der britisch-indischen Kolonialherrschaft, um die Funktion zu erläutern, die Subalternität, als ein »Raum der Differenz« für die imperiale Machterhaltung und Herrschaftsentfaltung spielte. Spivak erläutert an dieser Stelle, wie die Idee der »Befreiung der anderen Frau« von den britischen Kolonialherren instrumentalisiert wurde, um ihre Herrschaft (auch moralisch) zu legitimieren. Ein in der Tat geschickter Winkelzug, denn es ist in liberalen Gesellschaften kaum möglich, ohne dafür Kritik zu ernten, sich gegen emanzipative Argumente zu verwehren. Spivak zeigt in ihrer dekonstruktiven Betrachtung allerdings, wie wenig interessiert die Kolonialherren tatsächlich an der Situation der kolonisierten Frauen waren. Sie legt zudem offen, dass und warum es der Kolonialmacht nicht möglich war, die Handlungsmacht der kolonialisierten und subalternisierten Frau zu erkennen bzw. anzuerkennen. Kurzum: Den Kolonialherren war nicht daran gelegen, die Handlungsmacht der Anderen Frauen – wie auch der Subalternen im Allgemeinen – zu stärken. Am Beispiel des Verbots der ›Witwenverbrennung‹ skizziert die Literaturwissenschaftlerin, wie es der britischen Kolonialmacht gelang, eine autoritative Politik durchzusetzen und diese als eine ethisch begründete zu legitimieren. »Niemals«, so Spivak in Bezug auf die Inhalte des Archivmaterials zur ›Witwenverbrennung‹, »trifft man auf das Zeugnis eines Stimmbewusstseins der Frauen. Ein solches Zeugnis würde natürlich nicht jenseits der Ideologie stehen oder ›völlig‹ subjektiv sein, aber es hätte die Elemente für die Produktion eines Gegen-Satzes [counter-sentence] bereitgestellt.« (Spivak 2008 [1984]: 81) Die Stimmen der (subalternen) Frauen wurden im Ringen um Vorherrschaft gelöscht, während die Andere Frau gleichzeitig instrumentalisiert wurde, um die Macht der Herrschenden zu stabilisieren. Das Verbot der ›Witwenverbrennung‹ fällt nicht zufällig in eine Phase, in der die Briten sich von einer Handelsmacht zu einer Verwaltungsmacht aufschwingen. Das Schlüsselmanöver bildet hier die Konstruktion eines unterdrückten indischen weiblichen Subjekts, welches die Durchsetzung eines modernen und progressiven Regimes des Empires legitimiert. Anstatt die weibliche Handlungsmacht zu verteidigen, nutzte der Kolonialstaat den Körper der Witwen als ideologischen Kampfplatz. Die britischen Kolonialbeamten glaubten zum Teil fest daran, dass durch das Verbot der ›Witwenverbrennung‹ nicht

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nur die indischen Frauen vor einer grausamen Praxis gerettet würden, sondern dies im Allgemeinen eine wichtige Maßnahme bildete, um das ›barbarische Land‹ in eine emanzipierte Moderne zu führen (genauer Castro Varela/ Dhawan 2015: 186ff.). Es ist hier nun nicht der Ort, um das Beispiel genauer historisch und theoretisch zu betrachten. Für das mich hier interessierende Phänomen ist lediglich herauszustellen, dass die Strategie der Herrschenden, sich als ethische Subjekte zu konstruieren, indem vorgegeben wird, nur im Interesse der ›armen unterdrückten Anderen Frauen‹ zu handeln, eine lange Tradition als europäische Herrschaftsstrategie hat. Des Weiteren weist Spivak auf die Problematik hin, dass die andere Seite, in ihrem Beispiel die indische Elite (vertreten durch die Priesterkaste der Brahmanen), konträr behaupteten, die Frauen würden sich freiwillig mit ihrem verstorbenen Mann verbrennen lassen. Die Pointe liegt nun darin, dass es den Anderen Frauen zwischen diesen beiden Ideologien nicht gelingen kann, Handlungsmacht zu entfalten. Sie werden gewissermaßen zwischen zwei different machtvollen Diskursen zum Schweigen verdammt. Inwieweit können diese Ausführungen hilfreich sein, um die aktuellen Phänomene des Terrors und die Rezeption auf die Taten zu verstehen? Und welche Rolle spielen hier Dämonisierungsprozesse, die die Anderen nicht nur zu Anderen, sondern zu dämonischen Anderen macht? Einerseits denke ich, dass Spivaks postkoloniale Dekonstruktion verdeutlicht, wie wichtig die Ebene der Subjektkonstitution ist. Anderseits können Kontinuitäten und Brüche in den Barbarisierungsdiskursen offengelegt werden. Wie Spivak bemerkt, »werden oft einzelne Ereignisse beschworen, die den Buchstaben des Gesetzes brechen«, wenn es darum geht »den Moment zu markieren, in dem aus inneren Wirren eine nicht nur zivile, sondern gute Gesellschaft hervorgeht« (Spivak 2008 [1984]: 81). Und nicht selten ist es die Unterdrückung der Frau, die sich, so Spivak, als solches Ereignis anbietet (ebd.: 81f.). Von Spivaks Betrachtung nicht berührt wird die Produktion von Affekten, die für die Erhaltung von Macht- und Herrschaftsstrukturen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Im Zusammenhang mit heutigen rassistischen und faschistischen Diskursen muss ein besonderes Augenmerk auf die ›Angst‹ geworfen werden. Angst ist ein deutsches Wort, welches als ›angst‹ in den 1940er Jahren auch Eingang in das Englische gefunden hat. Anders als die Furcht, die durch eine äußere, benennbare Gefahr ausgelöst wird, ist die Angst unbestimmt. Es ist diese Unbestimmtheit, die sie als Gefühlscontainer, aus dem eine Reihe von Affekten hervorgehen, für Dämonisierungsprozesse interessant macht. Für Sigmund Freud ist Angst ein Affektzustand. »Affektzustände sind dem Seelenleben als Niederschläge uralter traumatischer Erlebnisse einverleibt und werden in ähnlichen Situationen wie Erinnerungssymbole wachgerufen.« (Freud 1926:  15) In seiner als zweite Angsttheorie bezeichnete Auseinandersetzung mit Angstzuständen ist es vor allem die nicht gelöste

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Spannung zwischen dem Es als Triebinstanz und dem Über-Ich, welches als moralische Instanz das Gewissen repräsentiert und von dem Freud auch als Zensur sprach, die Angstzustände auslösen. Die Klammerung an imaginierte Gemeinschaften (etwa ›das Volk‹) und an Normalitäts- und Reinheitsvorstellungen erlauben es den Subjekten, ein gewisses – wenn auch fragiles – Gefühl der Sicherheit zu erfahren. Dies geht freilich auf Kosten derjenigen, auf die die Ängste projiziert werden. Im Konzept der ›Fremdenangst‹ beispielsweise wird versucht, rassistische Affekte des Ekels, der Abwehr und des Unverständnisses rational zu legitimieren. Dabei wird die Stigmatisierung und Marginalisierung der Anderen zu einer Strategie der Dämonisierung und Selbsterhöhung des weißen europäischen Selbst. Die Anderen erscheinen als gefährlich, bedrohlich – geradezu unmenschlich –, während das westliche Selbst sich als aufgeklärt, rational, human und moralisch entwirft. Die Anderen wecken, so die Ansicht der Mehrheit, berechtigte Ängste. Dies ist in den kritischen Sozialwissenschaften keine neue Erkenntnis. Umso unverständlicher bleibt es, warum sie immer wieder ignoriert zu werden scheint. Stuart Hall hat Anfang der 1990er Jahren festgestellt, dass der machtvolle Diskurs vom Westen und dem Rest »weit davon entfernt [ist], eine ›Formation‹ der Vergangenheit und vom bloß historischem Interesse zu sein«. Im Gegenteil, »er ist in der modernen Welt lebendig und wohlauf. Am erstaunlichsten ist, dass seine Wirkungen nach wie vor in der Sprache, den theoretischen Modellen und den versteckten Annahmen der modernen Soziologie selbst beobachtet werden können.« (Hall 1994: 179) Angelehnt an Homi Bhabha können wir Angst aber auch als Effekt einer konfliktreichen Ökonomie der Macht verstehen. So wird etwa das kolonisierte Subjekt sowohl als »Wilder (Kannibale) und doch zugleich der gehorsamste und würdevollste aller Diener (derjenige, der das Essen bringt) [repräsentiert]; er ist die Verkörperung rasender Sexualität und doch unschuldig wie ein Kind; er ist mystisch, primitiv und einfältig und doch ein gewandter und meisterhafter Lügner« (Bhabha 1994: 82). Für Bhabhas Skizzierung der Fragilität von Macht ist auch das Konzept des permanenten »Entgleitens« entscheidend. Er bringt damit die Idee einer klaren Intentionalität der Mächtigen ins Wanken. Nach Bhabha sind auch auf die Repräsentationskonstruktionen der Anderen niemals uniform. Eine Tiefenanalyse kolonialer Stereotypisierungsprozesse zeige, so Bhabha, dass Stereotype keine simple Abweichung zwischen einer (falschen) Repräsentation und der tatsächlichen Komplexität eines Subjekts darstellen. Vielmehr zeige sich, dass der koloniale Stereotyp selbst in seiner Repräsentation notwendigerweise »komplex, ambivalent und widersprüchlich« wie gleichzeitig »ängstlich und behauptend« (ebd.: 70) ist. Bhabha fokussiert insbesondere die Verhandlungen über die koloniale Grenze hinweg und versucht Homogenisierungen und Totalisierungen zu vermeiden, was ihm durch ein beständiges Bemühen um die Klärung des ›Dazwischen‹ durchaus

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gelingt. Es sei die Zirkulation der Widersprüche des Psychischen, die die kolonialen Beziehungen präge, so Bhabha. Beispielsweise sei der Kolonialherr voller Bewunderung dem Anderen gegenüber und ängstige sich gleichzeitig vor ihm, weil er ihn für unberechenbar halte. Eine solche Feststellung zeigt, dass Identifizierungen und Positionierungen nie stabil und einheitlich sein können, sondern im Gegenteil immer in Konflikt zueinander stehen.

S icherheit-Terror -D ispositiv Drei Dinge erscheinen mir beim Nachdenken über ›Terror‹ und ›Sicherheit‹ aus einer westlichen Perspektive heraus von besondere Relevanz zu sein. Erstens ist es verblüffend, dass immer wieder betont wird, es handele sich bei der erlebten Gewalt in den Städten um ein Novum, etwas noch nie Dagewesenes. Und zweitens muss die Empörung darüber überraschen, dass Menschen im Westen zur Zielscheibe werden und dass davon ausgegangen wird, dass der Quell für Terror immer bei den Anderen liegt. »Es scheint viel einfacher, beschuldigend nach Syrien oder in den Irak zu blicken, als zu untersuchen, welche Faktoren in unseren Gesellschaften solche Vorfälle verursachen. Machen wir uns nichts vor: Diese Gewalt ist ein Produkt unserer eigenen Gesellschaft.« (Shams 2016: o.S.) In diesem Zusammenhang muss auch auf die Affekte, die von ›Willkommensfreude‹ zu Abgrenzung und Gewaltentfaltung changieren, fokussiert werden (Castro Varela/Heinemann 2016). Terror ist der gezielte Angriff auf eine gefühlte, phantasierte Sicherheit. Menschen, die von Terror betroffen sind, fühlen sich nicht mehr sicher. Jeder Gang zum Bäcker könnte tödlich enden; jede Aussage könnte gefährliche Konsequenzen haben. Die Unsicherheit wird von diktatorischen Regimes systematisch genutzt, um die Bevölkerung zu disziplinieren und auf Linie zu bringen. Terror ist mithin Bestandteil einer extremen Praxis in einer Disziplinierungsund Kontrollgesellschaft. Die Bevölkerung verhält sich nicht nur so, wie die Herrschenden es sich wünschen, sie unterstützt sie auch in ihrem verbrecherischen Tun. Widerstand wird unterdrückt, wie auch die Vorstellung davon, es könnte anders sein. »People today are well aware that we live in a world in which terrorism is an ever-present threat. But we are less aware that this world didn’t begin on 9/11. The threat of terrorism has been with us for many decades and will continue into the future.« (Munson 2008: 79). In der Resolution 1566 des UN-Sicherheitsrates vom 8. Oktober 20046 wird ausgeführt, dass »Straftaten, namentlich auch gegen Zivilpersonen, die mit der Absicht begangen werden, den Tod oder schwere Körperverletzungen zu verursachen, oder Geiselnahmen, die mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung, eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu versetzen, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Re-

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gierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen, welche Straftaten im Sinne und entsprechend den Begriffsbestimmungen der internationalen Übereinkommen und Protokolle betreffend den Terrorismus darstellen, unter keinen Umständen gerechtfertigt werden können, indem politische, philosophische, weltanschauliche, rassische, ethnische, religiöse oder sonstige Erwägungen ähnlicher Art angeführt werden, und fordert alle Staaten auf, solche Straftaten zu verhindern und, wenn sie nicht verhindert werden können, sicherzustellen, dass für solche Straftaten Strafen verhängt werden, die der Schwere der Tat entsprechen«. Viele der Anschläge im Sommer 2016 würden von dieser Beschreibung nicht erfasst. Amokläufe beispielsweise fallen nicht darunter, denn weder soll eine Regierung genötigt werden, noch geht es darum eine Bevölkerung einzuschüchtern. Dagegen terrorisieren viele Regierungen auch heutzutage ihre Bevölkerung oder Teile davon. So sind die Angriffe auf die kurdische Minderheit und oppositionelle Intellektuelle in der Türkei bekannt. Ebenso können die gezielten Todesschüsse der US-Polizei auf zum Teil unschuldige Afro-Amerikaner als Terror bezeichnet werden. Die meisten Akte des Terrors gehen von (legitimierten) Staatsmächten aus. Von einem Sicherheit-Terror-Dispositiv können wir sprechen, wenn die Forderung nach Sicherheit mit einer permanent produzierten Angst vor extrastaatlichen Terror einhergeht. Das Sprechen und Imaginieren von Terror, der immer von den Anderen auszugehen scheint, sieht sich dabei dem Versprechen des Staates permanente Sicherheit zu garantieren gegenüber. Im Namen der geheiligten Sicherheit scheint es dabei keine (moralischen) Grenzen zu geben. Paradoxerweise wird so auf dem Altar der Sicherheit die Demokratie selbst geopfert. Michel Foucault versteht unter einem Dispositiv »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Foucault 1978:  119f.) Im Falle des Sicherheit-Terror-Dispositivs finden wir die Zusammensetzung von anti-muslimischen Diskursen ebenso wie verschärfte Grenzregimes, Debatten um das Verbot der Verschleierung in der Öffentlichkeit oder des ›Burkini‹ – einem zweiteiligen Schwimmanzug mit Kopf bedeckung. In diesem Sommer hat die Stadt Cannes (andere Städten entlang der französischen Küsten sind dem Beispiel gefolgt) das Tragen von Burkinis am Strand unter Verweis auf die jüngsten islamistischen Terroranschläge verboten. Der Generaldirektor der städtischen Dienste, Thierry Migoule, begründete dies folgendermaßen: »Es geht nicht darum, das Tragen religiöser Symbole am Strand zu verbieten, sondern ostentative Kleidung, die

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auf eine Zugehörigkeit zu terroristischen Bewegungen hinweist, die gegen uns Krieg führen« (Spiegel Online, 12.8.2016). Wie manifest das Sicherheit-TerrorDispositiv das Denken und Fühlen der westlichen Mehrheit erfasst hat, wird hier überdeutlich. Wie kann ein zweiteiliger Schwimmanzug auf die Zugehörigkeit zu terroristischen Bewegungen hinweisen? Was ist anstößig daran, wenn Frauen nicht ihren Körper in der Öffentlichkeit zeigen und dennoch das Schwimmen im Meer genießen wollen? Ist die Sicherheit tatsächlich in Gefahr? Und steht diese Regelung nicht in Widerspruch mit dem insbesondere in Frankreich so hochgehaltenen Freiheitsgebot? Das Sicherheit-Terror-Dispositiv bringt terroristische Subjekte hervor und Subjekte, die ein Recht auf Sicherheit und Freiheit haben. Es bringt Subjekte hervor, die in beständiger Angst vor Terror leben und jene Dämonen, die ihre Menschlichkeit nicht mehr unter Beweis stellen können – es sei denn sie überadaptieren sich an das, was als europäisch phantasiert wird – etwa das Tragen eines Bikinis.

»I ch bin D eutscher!« R adik alisierung und Z ugehörigkeit »Calling actions evil can be polarizing; so be it. Calling people evil is polemical. Worse than that, it presumes a knowledge of the human soul, where I have no such right.« (Neiman 2011: 338)

Der Sommer 2016 wird vielen in Mitteleuropa als ein Sommer des Schreckens in Erinnerung bleiben. In Reutlingen greift ein 21-Jähriger aus Syrien Menschen scheinbar wahllos mit einer Machete an. Die Gründe für die Tat sind unbekannt. In einem Regionalzug bei Würzburg hatte erst einige Tage zuvor ein 17-Jähriger, der unbegleitet nach Deutschland geflüchtet war, Mitreisende mit einer Axt angegriffen und fünf Menschen schwer verletzt. Und in München erschoss ein 18-Jähriger bei einem Amoklauf neun Menschen und dann sich selbst. Dazu kommen Nachrichten aus Frankreich, Belgien und anderen europäischen Ländern, die alle von versuchten und durchgeführten Anschlägen sprechen – auf Kirchen, auf feiernde Menschen und auf Institutionen. Sie bestimmen die Nachrichten für Wochen. Viele glauben tatsächlich, der ›Rest der Welt‹ attackiere Europa. Und so spricht auch der französische Staatspräsident von einem Kriegszustand. Dass dies hoffnungslos falsch ist, zeigt bereits die Tatsache, dass in Städten wie Aleppo, Qamishla und Kabul im selben Zeitraum hunderte von unschuldigen Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch durch Terrorakte sterben und dass sich die Anschläge auf Geflüchtete, People of Color und Migrant_innen in Europa im selben Zeitraum verdreifachen. Eine Mutter mit Kind wird auf offener Straße von einem Mann geschlagen, weil sie ein Kopftuch trägt. Ein junger Asylbewerber aus Somalia

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von drei Männern zusammengeschlagen. Es macht nun gar keinen Sinn, dass wir das, was wir in Europa beobachten können, verharmlosen, weil hier nur wenige Menschen starben, während im globalen Süden täglich hunderte Menschen Opfer von Terrorakten werden – staatlich und extrastaatlich ausgeführt. Und es ist auch nicht sinnig, in einem kurzen Text wie diesem, eine adäquate Analyse zum Warum dieser Taten zu versuchen oder gar rassistische Attacken mit Anschlägen von Geflüchteten zu vergleichen. Stattdessen interessieren mich die Reaktionen der europäischen Mehrheitsbevölkerungen auf einen Zustand, der durch das Sicherheit-Terror-Dispositiv gerahmt wird. Die Reaktionen der Mehrheitsbevölkerungen geben Auskunft über die dominanten Diskurse und deren Verlinkungen und Verstrickungen und ermöglichen einen Einblick in den Zustand der demokratischen Verfasstheit. »Der gegenwärtige Anstieg des Sicherheitsstaates«, schreibt Achille Mbembe, »ist begleitet von einer Umgestaltung der Welt durch Technologien und einer Verstärkung der Formen rassischer Zuschreibungen. Angesichts der Veränderung der Ökonomie der Gewalt in der Welt glauben die liberalen demokratischen Regime, sich nahezu permanent im Krieg mit neuen schwer zu fassenden, beweglichen und vernetzten Feinden zu befinden. Diese neue Art von Krieg (der das Konzept einer ›totalen‹ Verteidigung und eine Aufhebung der Toleranzschwelle für Ausnahmen und Gesetzesverstöße erfordert) findet im Inneren wie im Ausland statt.« (Mbembe 2014: 52) Dieser Krieg zeitigt sehr differente und heterogene Effekte. Jeder Versuch, diese eindimensional zu erklären, ist nur Symptom von Entdemokratisierung und kommt kaum einer Verteidigung der Demokratie gleich – wie dies oft behauptet wird. Nicht nur Psycholog_innen fragen sich, warum sich ein 18-jähriger junger Mann mit iranisch-deutscher Staatsbürgerschaft schwer bewaffnet, um in einem Einkaufszentrum gezielt auf junge Menschen zu schießen, von denen er glaubt, dass sie nicht Deutsch und nicht christlich seien. Gibt es Erklärungen für das Unmögliche? Nach den ersten Untersuchungen der Polizei war der Amokläufer, David Sonboly, wie die Medien immer wieder betonen, nicht nur ein passionierter Spieler von gewaltverharmlosenden Computerspielen, sondern bewunderte auch Amokläufer wie den Rechtsradikalen Norweger Anders Behring Breivik, der im Sommer 2011 – also genau fünf Jahre zuvor – in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordete. Überwiegend waren dies Teilnehmer_innen am Zeltlager einer sozialdemokratischen Jugendorganisation. »Und dennoch wurde ausgerechnet die Tatsache, dass dieser Junge einen iranischen Hintergrund hatte, zur Schlagzeile in den US-Medien. Die üblichen Verdächtigen forderten sogar, dass führende Muslime und der ganze Islam für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden sollten.« (Shams 2016: o.S.) Anders als bei Anders Breivik wird bei David Sonboly von einer psychischen Erkrankung ausgegangen. Klar ist auch, dass dieser in der Schule über

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Jahre massiv von seinen Mitschüler_innen gemobbt wurde. Wie ein Bekannter in einem Interview berichtet, fanden die Jugendlichen seine Art zu sprechen lustig und seine Art zu gehen seltsam. Scheinbar war David Sonboly ein Einzelgänger.7 In einem kleinen Videoausschnitt, der mit einem Smartphone aufgenommen wurde, wird er noch während der Tat als »Scheiß-Ausländer« und »Kanake« beschimpft, worauf dieser mit den Worten reagiert »Ich bin Deutscher!«. Gleichzeitig erzählt sein Bekannter aus der Computerspiel-Clique, dass Ali, unter diesen Namen war er dort bekannt, immer wieder gegen Türken hetzt und auch antisemitische Äußerungen wiederholt. Sehr viel mehr ist bisher nicht bekannt. Aber es lässt sich doch fragen, warum ein 18-jähriger Sohn einer iranischen Familie, der selber konstant gemobbt wurde, rechtsradikale Gedanken so stark verinnerlicht, dass er dazu bereit ist, Menschen zu ermorden. Bei den vielen Unklarheiten ist eines klar: David Sonboly hat sich als Vorbilder diejenigen gesucht, die sich gewalttätig Aufmerksamkeit verschafft haben und hat sich dafür an rechtes Gedankengut, welches ihm in Deutschland und Westeuropa bereitgestellt wurde, adaptiert. Der Amokläufer von München, der für Stunden eine ganze Stadt in den Ausnahmezustand versetzt hat, hat keine falschen, weil angeblich nicht-europäische Werte vertreten, sondern ein rechtes, menschenverachtendes Gedankengut, welches in Europa immer noch massiv vertreten ist, mobilisiert. Es sind Dämonen, die in Europa geschaffen wurden und die immer noch eine lauernde Gefahr für die demokratischen Errungenschaften darstellen – wie auch die laufenden Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zeigen (Kulaçatan i.d.B.). Doch darüber wird kaum geredet, stattdessen wird der 18-Jährige, der in seinem kurzen Leben unendliche Ausgrenzungserfahrungen gemacht hat, mit ISIS-Kämpfern über einem Kamm geschert. Das passt besser ins Bild und bedient perfekt das Sicherheit-Terror-Dispositiv. »Es scheint viel einfacher, beschuldigend nach Syrien oder in den Irak zu blicken, als zu untersuchen, welche Faktoren in unseren Gesellschaften solche Vorfälle verursachen. Machen wir uns nichts vor: Diese Gewalt ist ein Produkt unserer eigenen Gesellschaft.« (Shams 2016: o.S.) Verschwiegen werden wieder einmal die Geister, die Europa erst zu Europa gemacht haben. Die unendliche Gewalt, die von Europa ausging (Kolonialismus, Nationalsozialismus, zwei Weltkriege etc.) konnte kaum folgenlos bleiben (Castro Varela 2015). Wir haben nun mit den Konsequenzen zu kämpfen. Eine Dämonisierung derjenigen, die sich aus den Giftschrank der europäischen Moderne bedienen, wird das Gift nicht beseitigen. Europa war nie sicher (außer für eine kleine Minderheit) und die Tränen, die jetzt vergossen werden, weil angeblich eine Gewalt nach Europa kommt, die es so noch nicht gegeben hat und die Ängste aktualisiert, die uns den Schlaf rauben, ist lediglich ein Symptom einer fatalen Geschichtsvergessenheit, die sich nur Wenige leisten können.

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S chlussgedanken Wie eine politische Situation beurteilt wird, wer diskursiv als Opfer oder Täter_in hergestellt wird und was als beängstigend beurteilt wird, ist keine Frage des Zufalls, sondern Folge herrschender gesellschaftlicher Zustände. Dämonisierungsprozesse sind immer eingebettet in hegemoniale Diskurse. Wenn die Anschläge, die diesen Sommer Europa erschüttern, eins klarwerden lassen, so ist es, dass die Gewalt, die von Europa ausging und geht auch Effekte in Europa zeitigt. Ich ende mit Paul Gilroy, der als Antwort auf die anhaltende Gewalt und Enthumanisierung der Welt bemerkt: »[T]he only appropriate response to this uncertainty is to demand liberation not from white supremacy alone, however urgently that is required, but from all racializing and raciological thought, from racialized seeing, racialized thinking, and racialized thinking about thinking.« (Gilroy 2000:  40) Diese utopische Forderung muss freilich supplementiert werden mit einer Forderung nach Entwicklung von (auch) institutionellen Rahmenbedingungen, die dies zulassen. Dafür müssen simplifizierende Diskurse und insbesondere das Sicherheit-Terror-Dispositiv ins Wanken gebracht werden. Solange sich die westliche Welt nur als Opfer von Terror sieht und nicht die Verantwortung für den Terror übernimmt, den sie tatsächlich sät und in der Vergangenheit über den gesamten Globus gebracht hat, solange kann nicht damit gerechnet werden, dass wir auch nur einen Fußbreit mehr an Sicherheit gewinnen. Dann können wir nur lernen, mit der Unsicherheit und zunehmenden Gewalt in den Städten umzugehen. Die Dämonen werden nur verschwinden, wenn sie nicht immer wieder reproduziert werden. Alles andere ist unsinnige Sentimentalität und/oder problematisches politisches Manöver.

A nmerkungen 1 Ich danke Natascha Khakpour für das gründliche Gegenlesen des Textes und die vielen wertvollen Kommentare. 2 Siehe auch www.efms.uni-bamberg.de/ds27_2_d.htm (16.8.2016). 3 Bereits 1949 wurde das Recht auf politisches Asyl – auch als Konsequenz auf die Verbrechen während des Nationalsozialismus – im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert. Nachdem die Zahl der Asylanträge – u.a. aufgrund der Kriege im Ex-Jugoslawien – anstieg, wurde im Jahr 1993 das Asylgrundrecht stark eingeschränkt und ein Asylkompromiss vereinbart. Von da an konnten Geflüchtete, die über einen Staat der Europäischen Union oder einen sonstigen sicheren Drittstaat einreisten, sich nicht mehr auf das Asylrecht berufen. Außerdem wird generell vermutet, das in sogenannten ›sichere Herkunftsstaaten‹ keine politische

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Verfolgung stattfindet. Die Liste der ›sicheren Herkunftsstaaten‹ erstellt die Bundesregierung. Zudem müssen Fluggesellschaften Strafen bezahlen, wenn sie Menschen ohne gültige Einreisedokumente befördern. Nach diesen radikalen Einschnitten ins Asylrecht sank die Anerkennungsquote rapide. Eigentlich kann nicht mehr von einem Recht auf Asyl gesprochen werden (Seifert 2012). 4 www.taz.de/!5246298/ (20.8.2016). 5 www.profil.at/meinung/christian-rainer-all-orwell-6321022 (20.8.2016). Im Übrigen proklamiert der ÖVP Politiker auf Facebook »Demokratie allein sichert die Freiheit nicht«; http://derstandard.at/2000033571936/Irritatio nen-ueber-Facebook-Posting-von-Andreas-Khol (20.8.2016). 6 www.un.org/depts/german/sr/sr_04-05/sr1566.pdf (20.8.2016). 7 Berichterstattung auf Spiegel Online vom 24.7.2016 www.spiegel.de/pan orama/justiz/muenchner-amoklaeufer-david-s-er-nannte-sich-hass-a-11044 51.html (20.8.2016).

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Doch wieder! Die Selbst-Barbarisierung Europas Nikita Dhawan

»Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ›geistigen Abenteuers‹ fast die ganze Menschheit erstickt [...] Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, in dem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind […] Brüder, wie sollten wir nicht begreifen, dass wir etwas Besseres zu tun haben, als diesem Europa zu folgen.« (Fanon 1981: 263)

Z wischen E urozentrismus und E urophobie In seiner Wiener Vorlesung mit dem Titel »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie«1 (1935) diagnostizierte Edmund Husserl eine über Europa hereinbrechende Katastrophe, für die der Nationalsozialismus nur ein Symptom gewesen sei, sodass nur eine komplette Umgestaltung Europas ein anderweitig unabwendbares Unglück verhindern könne (Gasché 2009: 2). Husserl bemerkt, dass wenn er von Europa spreche, er dieses nicht auf eine geographische, historische, kulturelle, politische oder wirtschaftliche Entität beschränke, sondern dass Europa vielmehr das Streben nach universeller rationaler Wissenschaft sei. Seiner Meinung nach sei es ein Projekt, dass nicht nur aus Europas Bemühungen sich selbst zu verstehen bestehe, sondern stattdessen sein Antrieb darin zu sehen sei, die ganze Menschheit im Geiste einer universellen Vernunft umzubilden (Husserl 1996 [1936]:  6). Europa wird als allumfassendes Projekt begriffen, welches Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen mit Blick darauf versteht, was es heißt Mensch zu sein, und nicht im Sinne einer bestimmten sprachlichen oder ethnischen Identität (ebd.: 14).

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Als Versprechen und als die europäischen Grenzen transzendierendes Telos betreffe dieses Projekt nicht nur Europa, sondern habe Auswirkungen auf die ganze Menschheit. Insoweit dieses Projekt die Entstehung einer universellen Verbundenheit der ganzen Menschheit fördere, sei es die Triebkraft hinter der Idee von Europa, die Europa von anderen Zivilisationen der Welt abhebe. Husserl gibt zu, dass andere Kulturen ebenfalls an weltumfassenden Ideen interessiert sind und große Erzählungen bieten (ebd.: 280). Trotzdem sind nicht-europäische Perspektiven seiner Meinung nach größtenteils mythisch-religiös und in partikularen Traditionen und Praktiken verwurzelt, die sie daran hindern, universale Gültigkeit zu erlangen (ebd.:  283). Das europäische Streben nach universeller Menschlichkeit sei hingegen von allem Partikularen befreit, wodurch es autoritativ werde und Legitimität erhalte. Husserl argumentiert, dass Europa mit einem Selbstbewusstsein ausgestattet sei, dass historisch einmalig und beispiellos sei. Seiner Meinung nach trägt es die Verantwortung für »die Europäisierung aller fremden Menschheiten« (ebd.: 16), was die Verbreitung europäischer Normen und Werte innerhalb der nicht-europäischen Welt beinhalten würde. Es ist interessant festzustellen, dass der Name ›Europa‹ von den Griechen geprägt wurde, die generell als Geburtsstätte der europäischen Kultur angesehen werden, obwohl sich die Griechen selbst paradoxerweise nicht als Europäer sahen (Gasché 2009: 9f.). ›Europa‹ bedeutet ›der Einbruch der Dunkelheit nachdem die Sonne untergegangen ist‹ und bezeichnet das Land des Abends (Abendland), im Kontrast zum Orient (Morgenland), wo die Sonne aufgeht. Es ist ironisch, dass Europa sich selbst mithilfe eines Namens versteht, welchen es von nicht-europäischen Ursprüngen geerbt hat. Anscheinend kann Europa nur zu sich selbst finden, indem es sich von einem Außerhalb abgrenzt. Husserl ist nicht der Einzige, der Auffassung ist, dass einzig und allein Europa in der Lage sei, dieses die ganze Menschheit umfassende universelle Projekt zu verfolgen. Obwohl Europa angeklagt wird, den Rest der Welt auszubeuten und zu unterdrücken, wird behauptet, dass seine Tradition von Selbstkritik und Selbstbewertung Europa befähige, über seine eigenen Verbrechen und Verfehlungen zu reflektieren und selbstkorrigierend, ethischer und verantwortungsbewusster zu erscheinen. Diese besondere kritische Tradition wird in allen erhabenen Diskursen von Europäer_innen über Europa wiederholt zelebriert. Europas Praxis der Selbsthinterfragung wird gewissermaßen als seine größte Stärke und als das wichtigste Erbe der europäischen Aufklärung betrachtet, welche es von anderen Kulturen unterscheide, die als unfähig zur Selbstkritik erachtet werden. Der Imperativ eines kritischen Selbstbezugs und die daraus hervorgehende Selbstvervollkommnung im Denken und Handeln wird als ausschließlich europäisch proklamiert. Indem sich Europa als exemplarisch hinstellt, versucht es, seine spezifischen Normen universell durchzusetzen. Als Projekt eben, welches es sich zur

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Aufgabe gemacht hat, seine Vorstellungen universal zu setzen, ist das europäische Denken postkolonialen Kritiker_innen zufolge durch und durch eurozentrisch. Das Begehren Europas, die Welt zu zivilisieren, indem es sein Kapital einsetzt, seine Waren absetzt und anderen seine Ideen und Werte aufzwingt, kann nur zelebriert werden, wenn der Zwang und die Gewalt, die diese Praktiken begleiten, geleugnet werden. Das Paradoxon der europäischen Selbstwahrnehmung als ›zivilisierende Kraft‹ liegt darin, dass diese positive Selbstbewertung nur aufgrund einer historischen Amnesie hinsichtlich der Kosten dieser Mission möglich ist. Vergessen wird die Etablierung eines Sklavensystems, die Ausbeutung, die Plünderung und die vielfachen Genozide, die die Kolonialherrschaft begleitet haben und mithilfe militärischer, materieller und epistemischer Gewalt ermöglicht wurden. Rationalist_innen, Modernist_innen und Liberale in Europa haben immer wieder – trotz des Eingeständnisses der begangenen Gewalttaten – hervorgehoben, dass der Kolonialismus letztlich der ›unzivilisierten‹ Welt die Aufklärung Europas, seine Rationalität und seinen Humanismus gebracht hätten. Das Vordringen der europäischen Kolonialmächte wurde konsequenterweise als großartiger Triumph der Wissenschaft und Rationalität über den Aberglauben und das Unwissen gefeiert und wurde als Möglichkeit vorgestellt, den ›Unzivilisierten‹ das ›Licht‹ des ökonomischen Fortschritts und der intellektuellen Errungenschaften zu bringen. Hierfür bediente sich der koloniale Diskurs einer gewaltvollen Repräsentation der Anderen als unverrückbar different und der gleichzeitigen Konstruktion eines souveränen, überlegenen europäischen Selbst (Castro Varela/Dhawan 2015). Trotz dieses schamvollen Erbes, wird der postkolonialen Kritik an Europa und den damit einhergehenden Bemühungen, »Europa zu provinzialisieren« (Chakrabarty 2000) nicht selten mit Misstrauen und Besorgnis begegnet. Bereits Husserl hat Kritiker_innen, die universelle Diskurse als eurozentrisch kritisierten, eines »faulen Verstands« beschuldigt (1996 [1936]: 16). Auf ähnliche Weise wird postkolonialen Wissenschaftler_innen, die Europa und Europäer_innen schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezichtigen, vorgeworfen, Europa als homogene Herrschaftsmacht zu essentialisieren. Es wird unterstellt sie würden Europa zu sehr zu vereinfachen und die Taten und Praxen generalisieren. Meines Erachtens ist der Vorwurf der ›Europhobie‹ gegen postkoloniale Kritik ein schlecht konzipierter Versuch, Aufmerksamkeit von der wichtigen Intervention postkolonialer Wissenschaftler_innen gegenüber dem selbstgefälligen Projekt namens ›Europa‹ abzulenken. Inspiriert von der ersten Generation der Frankfurter Schule und der poststrukturalistischen Kritik an der europäischen Aufklärung, betonen postkoloniale Theoretiker_innen die äußerst tiefgehende Verbindung zwischen Europas imperialen Projekten und der aufklärerischen Verehrung von Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt, welche die Konzeption der Welt als vereinigtes Ganzes erst ermöglicht hat

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(Dhawan 2014). Diese ›Welt-wissenden‹ und ›Welt-erschaffenden‹ Strategien waren das Herzstück des Kolonialismus. Imperialistische Ideologien übersetzten ihr provinzielles Verständnis von Wissen, Normen, Werten und Idealen mit Erfolg in universalistische Begründungsparadigmen. Das universalisierende Projekt der europäischen Auf klärung führte einen uniformen Standard instrumenteller Vernunft zwangsweise ein und privilegierte so europäische Konzeptionen von Wissen und Institutionen. Die im Zuge der Aufklärung durchgesetzten Reformen der Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik in den europäischen Kolonien eröffneten ein neues Kapitel in der Geschichte der Beherrschung der Kolonien anstatt dort, wie oft genug behauptet, Freiheit und Gleichheit einzuführen (ebd.). Dies in Betracht ziehend werden die universellen Aspirationen der europäischen Aufklärung und ihr Glaube an die Macht der Vernunft durch die Geschichte von Terror und Gewalt zweifellos beschmutzt. Die glorifizierenden Narrative von Europa übersehen den zwanghaften Kontext, in dem Europäer_innen als ethische Subjekte in der Gestalt von Rettenden der ›zurückgebliebenen‹ Völker und Verteiler_innen von Freiheit, Rechten und Gerechtigkeit erschienen. Bedauerlicherweise sind Europa und die Europäer_innen, solange sie unfähig und unwillig sind, von ihren historischen Fehlern, Verfehlungen und Verbrechen zu lernen, dazu verdammt, diese zu wiederholen.

S chuld , S chulden und historische A mnesie In seinem Buch The Other Heading: Reflections on Today’s Europe stellt Jacques Derrida fest, dass Europa schon immer dazu tendiert hat, sich als »cultural capital« (von caput, Kopf, Haupt) der Welt zu sehen, die der »Weltzivilisation oder menschlicher Kultur im Allgemeinen« als Orientierung diene (Derrida 1992: 24ff.). Die Rolle der ›Norm-Produzenten‹ (juristisch wie auch soziokulturell), die Europa historisch für sich beansprucht, beinhaltet die Vorstellung, was für Europa gut ist, muss auch für den Rest der Welt gut sein. Diese Überzeugung ist mit einem ausgeprägten Missionsgedanken verbunden, wonach Europa die Verantwortung dafür habe, weltweit europäische Normen zu verbreiten. Die Idee von Europa als Garant für globale Gerechtigkeit und Demokratie stellt eine Kontinuität mit der Vorstellung von der ›Bürde des weißen Mannes‹ her, nach welcher die Europäer die Verantwortung und Pflicht hätten, den Rest der Welt zu ›retten‹ und zu ›erleuchten‹. Nach dieser Logik wurde und wird jegliche europäische Intervention als Prozess der Befreiung legitimiert. Widerstand gegen die Einmischung wird hingegen als Anzeichen der Barbarei gegenüber den Kräften der Gerechtigkeit und Demokratie gelesen, als Ablehnung der europäischen Aufklärung und als ein Ausdruck der Undankbarkeit gegenüber der Güte der Bringer_innen von Rationalität und Modernität, was

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gleichsam die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Gegenwehr in den Augen der Europäer_innen rechtfertigt. Rassistische Diskriminierung, kulturelle Unterordnung und ökonomische Ausbeutung von Nicht-Europäer_innen wurde und wird im Namen der guten Taten für die Welt legitimiert – im Namen von Fortschritt, Entwicklung, Demokratie und dem Schutz von Gleichheit und Freiheit. Moralisches und rationales Handeln von Einheimischen wird nach dieser Logik automatisch als Wohlwollen gegenüber westlichen Interventionen gedeutet. Der europäische Anspruch auf Führung in den Bereichen von Gerechtigkeit und Menschenrechten basiert auf der Behauptung moralischer und der Geltendmachung militärischer Überlegenheit. Dieser Anspruch auf Führung, der festlegt, was richtig und gerecht ist, findet sich im Kern der außenpolitischen Ausrichtung der meisten westlichen Länder. Die ›Geber_innen‹ von Gerechtigkeit beanspruchen für sich die »normative Macht«, entscheiden zu können, was ›gerecht‹ und ›gut‹ ist, wobei diejenigen, die lediglich auf der Seite der ›Empfänger_innen‹ von Rechten und Gerechtigkeit stehen, zu reinen ›Konsument_innen‹ von europäischen Normen gemacht werden. An der Verbindungsstelle zwischen denen, die handeln, und jenen, über welche hinweg gehandelt wird, entsteht eine Vorstellung ethischer Verantwortung, durch welche Europa die Handlungsmacht im Namen des Schutzes und der Übernahme von Verantwortung monopolisiert. Im Gegenzug stellt die Dankbarkeit, die von jenen, deren Unrecht von den moralischen Gutmenschen gerichtet wurde, erwartet wird (und teilweise auch vorhanden ist), eine grausame Erinnerung daran dar, dass aus der formellen Machtübergabe der kolonialen Herrschaft an die einheimischen Eliten weder die Dekolonisierung des globalen Südens noch des globalen Nordens resultierte. Die Konstruktion Europas als normative Macht hinterlässt eine Spur gewalttätiger und ausbeuterischer Systeme im Namen von Modernität, Fortschritt, Rationalität, Emanzipation, Rechten, Gerechtigkeit und Frieden. Nichtwestliche Individuen, Gruppen oder Staaten, die beanspruchen als ›zivilisiert‹ und modern anerkannt zu werden, können einzig und allein das europäische Normensystem nachahmen oder sie riskieren, sich der Gewalt auszusetzen, zwangsweise ›zivilisiert‹ und modernisiert zu werden. Aufgrund ihrer Überlegenheit wird angenommen, dass die europäischen Normen es wert seien, nachgeahmt zu werden; gerade weil die Einheimischen allerdings nur versuchen können, so wie Europäer_innen zu sein, müssen sie scheitern. So kann der Versuch, die europäischen Normen zu imitieren, nur ›schlechte‹, ›schwache‹ oder ›gescheiterte‹ Kopien produzieren, was wiederum die Autorität des europäischen ›Originals‹ untermauert. Wie von postkolonialen Wissenschaftler_innen aufgezeigt wurde, besteht das grundlegende Hindernis für eine Dekolonisierung Europas in dessen Unfähigkeit, die nicht-europäische Welt auf eine nicht-orientalistische und nicht-hierarchische Art und Weise zu behandeln. Diese Herausforderung

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ist zugleich wirtschaftlich, ethisch, politisch, psychoanalytisch und philosophisch. Sie zeichnet sich auch aus durch eine Unwilligkeit zuzugeben, dass das Gefüge Europas zusammengehalten wird durch Europas Beziehungen zu dem, was als nicht-europäisch erachtet wird. Zum Beispiel versäumt es Jürgen Habermas (1990) in sträflicher Weise, wenn er nach Kant, die auf blühende Kaffeehaus- und Salonkultur mit der Entstehung der deliberativen Demokratie in Verbindung bringt, zu erwähnen, unter welch ausbeuterischen und dehumanisierenden Bedingungen Kaffee, Zucker und Tabak produziert wurden. Produkte, die dann für den europäischen Konsum in diesen ehrenwerten bürgerlichen öffentlichen Sphären bereitgestellt wurden. Es ist angemessen, sich an Fanons Bemerkung zu erinnern, dass »Europa buchstäblich eine Erfindung der Dritten Welt« ist (1981: 83). Europas weiterbestehender historischer Analphabetismus wird begleitet von einem wiederholten Verrat an den Aufklärungsprinzipien von Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschlichkeit, Demokratie und Gerechtigkeit. Sowohl Wissenschaftler_innen postkolonialer Studien als auch diejenigen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, hinterfragen den hohlen Mythos von Europas langem Marsch hin zu Freiheit und Emanzipation und umreißen eine gewisse ›Entzauberung‹ der europäischen Idee. Sie misstrauen Europas Selbstrepräsentation als Beschützer der Aufklärung. Diese selbstgefällige Haltung wird angefochten durch die Offenlegung der Selbst-Barbarisierung Europas in der Form von Kolonialismus und Faschismus (Dhawan 2015). Meiner Meinung nach muss Europa, wenn es wirklich eine Quelle normativer Legitimität sein will, diese Kritik ernst nehmen und seine historische Schuld den Anderen gegenüber annehmen. In der Geneaologie der Moral skizziert Friedrich Nietzsche das delikate Zusammenspiel zwischen Schulden (debt) und Schuld (guilt) und somit der Doppeldeutigkeit, welche das deutsche Wort Schuld auszeichnet (Nietzsche 1991 [1887]). Mit Bezug auf Nietzsche argumentiert Derrida, dass Schuldner und Gläubiger eng miteinander verbunden seien, sodass das Geben von Geschenken und das Aufnehmen von Schulden zwei Seiten der gleichen Medaille seien. Gegen den Hintergrund des eng miteinander verwobenen Erbes des Kolonialismus und des Holocausts, besteht ein dringlicher Bedarf nach einer erneuten Beschäftigung mit den Schulden und der Schuld, welche Europa heimsuchen.

E in anderes E uropa ist (un -) möglich! In einem oft publizierten Interview über die griechische Schuldenkrise, beschämt der Star-Ökonome Thomas Piketty2 Deutschland, weil es seine Schulden nie zurückgezahlt habe und klagt diese seiner historischen Amnesie an. Piketty betont, dass während Deutschland ein ausgezeichnetes Beispiel für

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ein Land sei, welches seine externen Schulden nie zurückgezahlt habe, weder nach dem Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg, habe es andere Länder oft dazu gezwungen, ihre Schulden zurückzuzahlen. Seiner Meinung nach hätten Deutschland und die Deutschen immens davon profitiert, dass sie von der Zurückzahlung ihrer Schulden befreit wurden und in den Genuss des Vorteils der Großzügigkeit des Geschenks eines Schuldenerlasses gekommen seien, welchen sie anderen verweigerten. Piketty erinnert uns daran, dass Europa auf dem Prinzip des Schuldenerlasses begründet wurde. Mit Bezug auf den Kolonialismus habe Europa seine Schulden gegenüber ehemaligen Kolonien trotzdem noch anzuerkennen, wenngleich Europa seine eigenen unbezahlten Schulden und Schuld der Einfachheit halber vergeben wurden. Trotzdem erwartet es Dankbarkeit von der nicht-europäischen Welt, wenn es um die Rolle Europas in den Feldern von Flucht, humanitärer Intervention und Entwicklungshilfe geht, die alle Spuren von Orientalismus und Rekolonialisierung aufweisen. Historische Schulden sind jedoch nicht nur einfach eine Sache des Zusammenrechnens von Bilanzen, sondern eine Verpflichtung, die über das, was geschuldet wird, hinausgeht. Es ist interessant zu sehen, wie manche Schulden einbehalten und opportunistisch vergeben werden, während andere bezahlt und mit Zinsen eingetrieben werden. Vor dem Hintergrund des Kolonialismus und des Holocausts muss die Frage der europäischen Verantwortung(slosigkeit) neu überdacht werden und Europas (Un-)Fähigkeit, auf die Provokation der Geschichte zu reagieren, angesprochen werden. Dieses Erbe der Schuldlast – der Last von Schulden und Schuld – ist unbequem, aber unvermeidbar. Die historisch geerbte Schuldlast fordert ein ›reines Geben‹, welches, wie Derrida (2005:  148f.) uns erinnert, sowohl unmöglich als auch unvermeidbar ist, da es zwischen einer Verpflichtung zum Geben und einem Geben aus einer nicht länger ›reinen‹ Verpflichtung heraus hin und her pendelt. Bis Europa seine historische Schuldenlast anerkennt, besteht keine Hoffnung auf eine ethische Beziehung zwischen Europäer_innen und Nicht-Europäer_innen. Eine Ökonomie von Schulden und Schuld bindet diese beiden Parteien auf beiden Seiten der postkolonialen Kluft in einer ungleichen und wechselseitig feindschaftlichen Beziehung weiter aneinander. Wenn Europa jedoch bereit und in der Lage sein sollte, von der Geschichte zu lernen, würde die Herausbildung eines post-imperialen Europas eine Chance und Gelegenheit für eine demokratische Iteration Europas sein. Dieses ›Europa im Kommen‹ wäre den Prinzipien der Aufklärung verpflichtet, während es seinem kolonialen Erbe kritisch gegenüberstünde. Erbschaft hat für Derrida (2005:  9) nichts damit zu tun, dogmatisch an Traditionen festzuhalten oder eine sentimentale Beziehung zu dem, was wir erben, zu haben. Etwas zu erben, beinhaltet nicht nur einfach eine Bestätigung dessen, was uns zu Teil wurde; die Erbschaft fordert von uns vielmehr, dass wir verantwortlich handeln, indem wir das, was an

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uns weitergegeben wurde, sowohl erhalten als auch transformieren. Eine ethische Beziehung mit der europäischen Vergangenheit ist unbedingt notwendig für ein zukünftiges Europa, ein Europa im Kommen. Die Aufgabe besteht aus einer doppelten Bewegung, sich gleichzeitig der Idee Europas zu widmen und diese zu hinterfragen, um nicht die in seinem Namen verübte historische Gewalt zu wiederholen. Europa ist heute zwischen dem ›nicht mehr‹ und dem ›noch nicht‹ gefangen. Die demokratisierenden Kräfte, die an der Arbeit sind, scheinen dauernd von brutalen Nationalismen, Rassismen und Ausschließungen heimgesucht zu werden. Die Nicht-Europäer_innen stellen als Erinnerung und Überrest des Kolonialismus eine Herausforderung für Europa dar. Europa muss sich deswegen der Herausforderung stellen und wählen, ob es auf seinem früheren Weg des Anspruchs auf moralische, wirtschaftliche und militärische Übermacht gegenüber der nicht-europäischen Welt weitergehen will oder ob es der Herausforderung gewachsen ist, ein anderes Europa hervorzubringen, welches verantwortungsvoll und respektvoll gegenüber Differenz und Alterität ist. Das Experiment mit einem veränderten Europa würde die Förderung dessen beinhalten, was Derrida Autoimmunität nennt, in der Form einer Selbstdekonstruktion Europas. Aus der Biologie abgeleitet, bezieht sich Autoimmunität auf jene Elemente, die sich durch eine Art radikaler Kontamination gegen die eigenen Abwehrkräfte richten. Autoimmunität ist jedoch keine Krankheit, sondern ist gleichzeitig eine der Entität eigene Stärke und Verletzbarkeit. Das Autoimmune impliziert, dass das Subjekt sich bewahrt und exponiert, sich schützt und in Gefahr bringt, sich erhält und kompromittiert (Derrida 2005:  40). Es ist daher sogleich selbstzerstörend und selbstschützend, Gift und Gegengift (ebd.:  123). Zum Beispiel führten mehrere EU-Länder Grenzkontrollen wieder ein und regulierten zeitweilig die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger_innen wie auch Nichtbürger_innen. Eines der Gründungsprinzipien der EU wurde so kompromittiert, um angeblich Europa zu schützen und sicher zu machen. Indem es sich schützt, zieht sich Europa in sich selbst zurück und nimmt Züge seiner angeblichen Feinde an, um sich selbst zu beschützen. Diese Beschränkung europäischer Prinzipien von Freizügigkeit und Freiheit impliziert, dass Europa sich gleichzeitig zunichtemacht und sich neu erfindet. Die Anwesenheit postkolonialer Migrant_innen ist zu einem Test geworden für Europas Bekenntnis zu den Aufklärungsidealen des Humanismus und Kosmopolitismus. Derrida erinnert die Europäer_innen daran, dass eine bedingungslose Gastfreundschaft nur bestehen kann, wenn sie ohne die Auferlegung irgendwelcher Bedingungen für den Gast erfolgt. Weiterhin bringt sie eine Restrukturierung der Beziehung zwischen dem Gastgebenden (der_die unvorbereitet und schlecht ausgerüstet sein kann) und dem Gast (der_die unerwartet oder uneingeladen sein kann) mit sich. Dies impliziert nun allerdings ein Überdenken der Vorstellungen der Gastgeber_innen von Heimat.

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Inspiriert durch Sigmund Freuds Theorie, untersucht der postkoloniale Literaturwissenschaftler Homi Bhabha die Unheimlichkeit postkolonialer Migration (1994: 10). In seiner kanonischen Schrift Das Unheimliche argumentiert Freud (1999 [1919]: 231), dass das Gefühl der Unheimlichkeit im Wesentlichen eine unfreiwillige Wiederkehr des Altvertrauten und Familiären ist. Das Unheimliche ist dabei fundamentaler Teil der psychischen Erfahrung. Auch wenn heimlich das Heimische, das Gemütliche darstellt, so hat es eben die Tendenz, sich in das Unfamiliäre zu verwandeln, in das Unheimliche, welches uns von dem entfremdet, was wir am ehesten als unser Eigenes angesehen haben. Das Unheimliche kann demzufolge als eine Möglichkeit gesehen werden, die uns inspiriert, unsere Identitäten zu (re-)evaluieren. Es eröffnet uns den Raum zu überlegen, wie wir zu denen geworden sind, die wir jetzt unweigerlich sind und ermöglicht es den Subjekten, notwendige Fragen über das Selbst und die Anderen zu stellen. Die hybride Identität der Migrant_innnen stellt, so Bhabha, ein Gebilde dar, das durch die unheimliche Fähigkeit gekennzeichnet ist, überall zuhause zu sein – eine Fähigkeit, die immer das Risiko in sich berge, nirgendwo ein Zuhause zu finden. Das Unheimliche, so Bhabha, ist auch das Unheimische (ebd.: 10ff.). Wie die Erfahrung mit dem Brexit zeigt, impliziert die unheimliche Präsenz der Migrant_innen eine Störung des heimischen Gefühls ebenso wie eine Angst vor einem Souveränitätsverlust. Das, was heimlich ist, kann sich so in etwas zutiefst Unheimliches verwandeln und kann uns von dem, was gewohnt und beschützend ist, entfremden. Die Desorientierung durch eine Begegnung mit einem Fremden im eigenen Heim, nämlich die Präsenz postkolonialer Migrant_innen in Europa, wird von manchen Europäer_innen als unheimlich empfunden. Desorientierung kann jedoch auch als Gelegenheit gelesen werden, die Europa wahrnimmt, um seine Annahmen über Territorium und Zugehörigkeit zu überprüfen. Angesichts dieser Unsicherheit würde Europas Verantwortung dem Anderen gegenüber darin bestehen, seine territoriale Autorität und seine Kontrolle über Heim und Welt in Frage zu stellen. Dies bringt die Herausforderung mit sich, eine derart aporetische Verantwortung zu übernehmen, eine Verantwortung die paradox und doppelt ist und, wie Derrida es formuliert, »mich zur Geisel des Anderen macht« (2005: 42). Wie können Europäer_innen, so ließe sich fragen, zugleich Wächter_innen der europäischen Identität sein und sich gleichzeitig der Differenz und Alterität gegenüber öffnen, indem sie Europas tiefste Überzeugungen von Überlegenheit und Vorbildhaftem aussetzen? Verantwortung würde darin bestehen, zwischen den zwei widersprüchlichen Imperativen des Bewahrens und Veränderns dessen, was europäisch ist, zu verhandeln. Um dies zu realisieren, muss Europa sich selbst überschreiten und gegen sich selbst verstoßen, um sich des Experiments und der Erfahrung des Unmöglichen zu unterziehen (Derrida 2005: 84), indem es den nicht-europäischen Anderen als Kraft anerkennt, die

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die Grenzen Europas – materiell und metaphorisch – nachzeichnet. Was von Europa gefordert wird, ist nichts Geringeres als die völlige De-Universalisierung europäischer Normen und Werte. Nur durch den Abbau des Vokabulars westlich-politischen Denkens kann ein neues Politikkonzept und eine radikal andere Ethik entstehen. Die geographische, wirtschaftliche und politische Einheit mit den Grenzen, die wir als Europa kennen, ist das Resultat einer komplexen kolonialen Raumproduktion, die zurück in die Geschichte projiziert wird. Anstatt eines Arguments von Geographie-als-Bestimmung, welches Europa als eine identifizierbare Region mit einer übergeordneten Position innerhalb einer eurozentrischen Weltgeschichte begreift, bestünde die Herausforderung darin, Europa im Sinne seiner Pluralität zu verstehen, nicht als fester Ausgangspunkt, sondern als unmöglicher Horizont der Ankunft. Darin liegt das Versprechen und die Herausforderung eines post-imperialen Europas im Kommen. Europäer_innen täten gut daran, Gandhis Ironie Beachtung zu schenken: Als er von einem Journalisten gefragt wurde »Was halten Sie von der westlichen Zivilisation?«, soll dieser geantwortet haben, »Ich denke, das wäre eine gute Idee.« Aus dem Englischen von Antje Millan

A nmerkungen 1 https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/20Jh/Hus serl/hus_kris.html 2 www.zeit.de/2015/26/thomas-piketty-schulden-griechenland/komplettan sicht

L iter atur Bhabha, H. (1994). The Location of Culture. London: Routledge. Castro Varela, M./Dhawan, N. (2015). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript. Chakrabarty, D. (2000). Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton/Oxford: Princeton University Press. Dhawan, N. (2014): Affirmative Sabotage of the Master’s Tools: The Paradox of Postcolonial Enlightenment. In: Dies. (Hg.): Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World (S. 19-78). Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich. Dhawan, N. (2015). Aufklärung vor Europäern retten. TAZ 05.05.2015 www. taz.de/!5009731/

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Derrida, J. (1992). The Other Heading: Reflections on Today’s Europe. Bloomington: Indiana University Press. Derrida, J. (2005). Rogues: Two Essays on Reason. Stanford: Stanford University Press. Fanon, F. (1981 [1961]). Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Freud, S. (1999 [1919]). Das Unheimliche. In: Ders. (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917-1920 (S. 229-268). Frankfurt a.M.: Fischer. Gasché, R. (2009). Europe or the Infinite Task. A Study of a Philosophical Concept. Stanford: Stanford University Press. Habermas, J. (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Husserl, E. (1996 [1935]). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hamburg: Meiner. Nietzsche, F. (1991 [1887]). Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Nichts als Ideologie? Eine Replik auf die Abwertung rassismuskritischer Arbeitsweisen İnci Dirim, María do Mar Castro Varela, Alisha M. B. Heinemann, Natascha Khakpour, Doris Pokitsch, Hannes Schweiger

1. E inführung : Z um A nliegen des vorliegenden B eitr ags Der Vorwurf, eine Wissenschaftsrichtung bzw. bestimmte wissenschaftliche Vorgehensweisen seien ideologisch, ist eine heutzutage durchaus gängige Form der Disqualifizierung bestimmter Studien. Dies liegt auch daran, dass es ein gültiges Qualitätsmerkmal von Forschung zu sein scheint, ›Ideologiefreiheit‹ anzustreben. Inwiefern kann es aber diese Ideologiefreiheit überhaupt geben? Wie ist ›Ideologie‹ in der Wissenschaft zu verstehen, und wie der Vorwurf, ideologisch zu arbeiten? Welche Fragestellungen, Vorgehensweisen und Interpretationen sind von dem Vorwurf, ideologisch und damit unwissenschaftlich zu sein, betroffen, und warum? Wie lassen sich die Argumente einordnen? Was ist der Unterschied zwischen Ideologie, Ideologiekritik und Ideologievorwurf? Was heißt Erkenntnispolitik in der Wissenschaft und inwiefern gibt es eine neutrale Erkenntnispolitik in Zeiten gesellschaftlicher Kämpfe? Welche Orientierungen gelten als ›kritisch‹ und warum? Wie kann Universität gestaltet werden, um verschiedene paradigmatische Ausrichtungen zu diskutieren, und was sind deren gemeinsame Nenner? Dieser Fragenkomplex soll im Rahmen des vorliegenden Beitrags mit Blick auf die rassismuskritische Arbeit im Feld ›Deutsch als Zweitsprache‹ und auf darüber hinausgehende und allgemein relevante wissenschaftstheoretische Überlegungen diskutiert werden. Rassismuskritisches Arbeiten ist nicht an jedem Universitätsstandort zu finden, an dem ›Deutsch als Zweitsprache‹ (DaZ) verankert ist. Im Arbeitsbereich DaZ der Uni Wien wird versucht, die fachtypischen Gegenstände konsequent rassismuskritisch-reflexiv zu bearbeiten. Diese Vorgehensweise findet zunehmend Akzeptanz, wobei in letzter Zeit auch immer wieder der Einwand formuliert wird, dass diese Arbeitsweise ideologisch und somit unwissenschaftlich sei. Das Argument der

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Nicht-Wissenschaftlichkeit trifft als Wissenschaftler_innen selbst- bzw. fremdpositionierte Personen schwer – auch wenn es vorsichtig vorgebracht wird –, denn es geht doch um den Kern der eigenen Tätigkeit, und es wird die eigene Vorgehensweise durch diese Einordnung – mit durchaus vorwurfsvollen Konnotationen – aus dem Feld der Wissenschaft gewiesen. Wir möchten daher auf diesen Vorwurf bzw. Einwand im Folgenden eingehen und begründen, warum wir die rassismuskritische Arbeit im Feld DaZ nicht nur als legitim erachten, sondern auch als unbedingt notwendig.

2. R assismuskritik und D eutsch als Z weitsprache Wenn wir im Folgenden von Rassismuskritik sprechen, liegt diesem ein Verständnis zu Grunde, welches Rassismus auf der gesellschaftlich strukturellen Ebene verortet und nicht vorrangig als individuelles Phänomen in den Blick nimmt. Rassismuskritik als wissenschaftsparadigmatische Perspektive wurde vor allem in der Erziehungswissenschaft entwickelt und in weitere disziplinäre Bereiche übernommen, die institutionell nicht in der Erziehungswissenschaft verortet sind. Eine pädagogische Konzeption, deren zentraler Bestandteil die Rassismuskritik darstellt, ist die Migrationspädagogik (Mecheril 2004, Mecheril u.a. 2010). An dieser orientieren sich zahlreiche weitere Konzepte und (Forschungs-)Arbeiten (Mecheril/Melter 2009, Rose 2012 u.a.). Rassismuskritische Perspektiven sind insbesondere auch für das interdisziplinäre und durch Migrationsbewegungen konstituierte Fachgebiet Deutsch als Zweitsprache (DaZ) relevant. Die rassismuskritische Perspektive zeichnet sich durch eine Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und den eigenen Verstrickungen darin aus, wobei eine postkoloniale Diskursperspektive eingenommen wird, die von dem Verständnis ausgeht, dass die Machtverhältnisse an Ordnungen gebunden sind, die zeitgemäßen Abwandlungen rassistischer Unterscheidungspraxen folgen. Die rassismuskritische Perspektive berücksichtigt die jeweilige Involviertheit aller in rassistische Verhältnisse (Messerschmidt 2011). Rassistische Unterscheidungspraxen verstehen wir als solche, in denen Rassekonstruktionen anhand diskursiv bestimmter Differenzsetzungen, beispielsweise ›körperlicher‹ und ›kultureller‹ Eigenschaften, festgemacht werden, um Ausschlüsse, Überund Unterordnungen zu plausibilisieren und damit zu legitimieren (Mecheril/ Scherschel 2009). Eine dieser ›Eigenschaften‹, die als Unterscheidungskriterium herangezogen werden, ist im amtlich deutschsprachigen Raum die Sprachkompetenz im Deutschen. Dabei wird das Konstrukt des ›Muttersprachlichen‹ als Norm gesetzt, Abweichungen davon werden abgewertet und delegitimiert. Thematisiert werden diese rassistischen Unterscheidungsprozesse mit Hilfe der Perspekti-

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ve »Linguizismus« (Dirim 2010), die mit rassismuskritischer Theoriebildung kompatibel ist und die auf eine »spezielle Form des Rassismus [verweist], die in […] Sanktionen gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache bzw. eine Sprache in einer […] spezifischen Art und Weise verwenden, zum Ausdruck kommt« (Dirim 2010: 91). Dies gilt insbesondere in der Verschränkung mit rassialisierenden sprachbezogenen Differenzmarkierungen – wie beispielsweise das Sprechen mit ›Akzent‹ –, die gesellschaftliche Ausschlüsse legitimieren. Das Aufdecken und kritische Hinterfragen dieser Praxis ist Teil von Linguizismuskritik (ebd.). Unter der Perspektive der Linguizismuskritik müssen im Kontext DaZ mindestens drei Ebenen in den Blick genommen werden: Dies ist zunächst die Ebene der potenziellen Adressat_innen von Deutschlernangeboten, die linguizismusrelevante Erfahrungen machen. Zweitens geht es darum, in der Gestaltung von Lehr-Lern-verhältnissen die eigene Involviertheit in linguizistische gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren. Daraus erwächst drittens das Dilemma, einerseits an der Stabilisierung hegemonialer Verhältnisse beteiligt zu sein, indem der Fokus auf die Vermittlung der hegemonialen Sprache gelegt wird, und andererseits die deutsche (Bildungs-)Sprache als Schlüssel zu einem gut gesicherten Tor für den Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen zu erkennen und damit in der Verantwortung zu sein, trotz einer hinterfragenden Grundhaltung die deutsche Sprache normgerecht zu vermitteln bzw. dafür zu sorgen, dass sie normgerecht vermittelt wird. Die Eingebundenheit des Deutschen in die Reproduktion einer hegemonialen Gesellschaftsstruktur erfordert die Vermittlung des Deutschen, damit jene, die bezüglich und aufgrund ihrer Sprachbeherrschung im Deutschen benachteiligt sind, in die Lage versetzt werden, in diesem System zu reüssieren. Wichtig ist allerdings etwa, das Deutsche so zu vermitteln, dass auf symbolischer Ebene die Reproduktion von Abwertungen und Ausgrenzungen möglichst vermieden wird – auch wenn dies nicht immer gelingen kann. Die rassismuskritische Reflexion der Arbeit auf dem Gebiet Deutsch als Zweitsprache eröffnet die Möglichkeit, die hegemoniale Instrumentalisierung des Deutschen als Bestandteil von Deutschförderung zu reflektieren, um daraus auf didaktisch-methodischen Ebenen Konsequenzen zu ziehen (bspw. Dirim/Pokitsch 2016).

3. R assismuskritik ist I deologie – die V orwürfe In der Diskreditierung von Rassismuskritik lassen sich unterschiedliche Strategien erkennen: Eine zentrale Argumentationsfigur besteht darin, auf ihre mutmaßlich ›logischen‹ Widersprüche hinzuweisen und sie dadurch als ideologisch zu ›entlarven‹. Voraussetzung für diese Kritik ist die Annahme einer vermeintlich klaren Unterscheidung und Trennung von Ideologie und Wissen-

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schaft. Letztere sei per definitionem nicht ideologisch. Die Polemik gegen Rassismuskritik beruht auf einem Wissenschaftsverständnis, das davon ausgeht, dass Wissenschaft wertungs- und haltungsfrei, also ›objektiv‹ sein könnte. Häufig kommt hinzu, dass nur eine empirische Ausrichtung als ›objektiv‹ und als unabdingbare Grundlage für wissenschaftlich ernst zu nehmende Arbeit dargestellt wird. Wissenschaftlich können, so die Kritiker_innen, demzufolge Aussagen nur sein, wenn sie empirisch, also an der beobachtbaren Wirklichkeit überprüfbar sind (Diefenbach/Klein 2016:  22). Da die Rassismuskritik keine empirische Forschung zur Verifizierung ihrer theoretischen Grundlagen in programmatischer Weise betreibe, sei sie als Ideologie zu klassifizieren. Unwissenschaftlich seien daher die zu Grunde gelegten Begriffe ebenso wie die gesellschaftsanalytischen Befunde und die Zielsetzungen. Rassismuskritik sei ideologisch, weil sie nicht davon ausgehe, dass das Ziel von Wissenschaft in der möglichst objektiven Erforschung von Wirklichkeit liege, auch wenn klar ist, dass es keine positionsunabhängige Wissenschaft gibt. Dieser Kritik liegt ein verkürztes Verständnis von empirischer Forschung einerseits und von Rassismuskritik andererseits zu Grunde. Empirische Forschung ist immer auch geprägt von Interessen und Perspektiven; die Forderung kann daher nicht sein, völlig ohne Perspektive zu arbeiten, sondern vielmehr, die Perspektive offen zu legen und nachvollziehbar zu machen. Empirisch arbeitende Forscher_innen haben gezeigt, dass Forschungsergebnisse von Haltungen beeinflusst werden und je nach Haltung unterschiedliche Ergebnisse zu Stande kommen. KrügerPotratz und Gogolin (2013) etwa zeigen mit einer Analyse von Forschungsergebnissen zur Nützlichkeit von bilingualen Schulmodellen in den USA, dass die Analyse zu denselben Datensätzen einander völlig entgegengesetzte Ergebnisse produziert hat, je nachdem, welche Überzeugung die jeweiligen Forscher_innen haben. Das heißt, auch nicht rassismuskritisch arbeitende Forscher_innen zeigen, dass Empirie nicht bedeutet, von gesellschaftlichen Positionen unabhängig zu arbeiten. Der Fokus auf Fragen der Macht in der Analyse gesellschaftlicher Ordnungen wird als Indiz dafür gesehen, dass aus rassismuskritischer Perspektive keine Machtverhältnisse irgendeiner Art akzeptiert werden, auch wenn es sich dabei um historisch entwickelte und daher vermeintlich legitime handle (Diefenbach 2015: 5). Rassismuskritik strebe auf der Basis ihres Verständnisses von Rassismus als einer Ideologie, die bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse legitimieren und absichern soll, eine marxistisch inspirierte Veränderung der Gesellschaft an. Ziel sei es, eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse zu schaffen, in der Ergebnisgleichheit herrsche – mit anderen Worten: Ziel sei, was man früher ›die Revolution‹ genannt habe (ebd.: 7). Allein die Tatsache, dass Rassismuskritik Perspektiven für gesellschaftliche Veränderungen entwickelt, sei – unabhängig davon, welches die konkreten gesellschaftspolitischen Ziele sind – Anzeichen ihres ideologischen Charakters.

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Wenn Rassismuskritik auf Dilemmata und Widersprüche hinweist (z.B. Mecheril u.a. 2010: 190f.) und betont, wie wichtig die Auseinandersetzung damit im Sinne einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der eigenen Positionen und für eine selbstreflexive Praxis ist, so wird dies von Kritiker_innen als Immunisierungsstrategie oder als Schwäche und Unfähigkeit ausgelegt. Rassismuskritik werde zu einem reinen »Glaubens- oder Bekennungsakt« und immunisiere sich gegen jede Form der Kritik, weil sie auf die »Nicht-Abgeschlossenheit von Reflexions- und Dekonstruktionsprozessen« verweise, und weil sie ihre Prämissen nicht empirisch überprüfe (Diefenbach 2015: 14). Eine weitere Strategie besteht in der Bagatellisierung: Wenn etwa Rassismuskritik eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Sprechweisen fordert, mit dem Ziel, diese zu überwinden, so wird dies als Form der ›Political Correctness‹ abgetan. Und es wird nahegelegt, dass es wichtigere Probleme gebe und dass eine Sprache, die nicht rassistisch ist, ja noch nichts an der Schlechterstellung von Migrationsanderen auf unterschiedlichen Ebenen ändere. Ähnlich wie in der Ablehnung und Diskreditierung von ›Political Correctness‹ wird der Rassismuskritik Betroffenheits- und Empörungsrhetorik vorgeworfen. Vertreter_innen der Rassismuskritik wird nahegelegt, doch nicht so empfindlich zu sein (Çiçek/Heinemann/Mecheril 2015) und es wird gefragt, wie es angesichts einer dekonstruktiven Analyse von Sprache möglich sein kann, dass essentialisierendes Sprechen den Rassismuskritiker_innen so nahe gehe, dass sie mit Empörung darauf reagieren müssten (Dusini/Edlinger 2012: 11). Der Rassismuskritik wird auch vorgeworfen, dass sie Sprachverbote erteile und Menschen vorschreibe, welche Wörter und Wendungen sie aufgrund ihrer diskriminierenden bzw. rassistischen Effekte nicht verwenden dürften. Dafür ist unerheblich, ob in der Anwendung einer rassismuskritischen Perspektive deskriptiv oder präskriptiv über Sprachverwendung und ihre Effekte nachgedacht wird. Reflexartig wird das Thematisieren rassistischen Sprechens als Einschränkung individueller Freiheit verstanden. Suggeriert wird auch, dass Rassismuskritik Indoktrination zum Ziel habe, nicht kritisches Denken und eine selbstreflexive Haltung. Die Diskreditierung der Rassismuskritik läuft letztendlich auf den Vorwurf hinaus, sie reproduziere die rassistischen Kategorien, die sie selbst zu kritisieren vorgibt. Ihr gehe es um den »Umbau der bestehenden Gesellschaft zu einer Gesellschaft, in der Ergebnisgleichheit nach dem Kriterium der kulturellen bzw. ethnischen Zugehörigkeit hergestellt wird« (Diefenbach 2015: 9). Rassismuskritik sei daher selbst »inhärent rassistisch« (ebd.:  11). Heike Diefenbach beispielsweise arbeitet in ihrem Rundumschlag mit Unterstellungen und nicht belegten Behauptungen über die Konzepte, Positionen und Forschungen von Wissenschaftler_innen, die rassismuskritisch arbeiten. Ihre Lektüre rassismuskritischer Texte ist äußerst selektiv, vereinfachend und tendenziell abwertend. Sie versucht der Rassismuskritik auch dadurch Legitimität abzusprechen, dass

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sie ihr scheinbar verborgene Motive und Ziele zuschreibt, ohne dies zu belegen: Diefenbach zufolge gehe es der Rassismuskritik um etwas anderes, als sie vorgibt, nämlich um einen marxistisch inspirierten Umbau der Gesellschaft, der zu mehr Chancengleichheit führen soll. Diese Unterstellung erfolgt weder unter Bezugnahme auf entsprechende konkrete Texte noch wird sie schlüssig hergeleitet und argumentiert. Auf die unterschiedlichen Strategien zur Diskreditierung der Rassismuskritik soll hier nicht im Detail eingegangen werden, weil es uns von dieser exemplarischen Kritik ausgehend vielmehr um grundlegende wissenschaftstheoretische Fragestellungen und um die Implikationen für den generellen Umgang mit dem Ideologievorwurf geht.

4. D ie M acht des I deologie -V orwurfs Ein Ideologie-Vorwurf wird nie wahllos, sondern sehr gezielt geäußert. Er wird gewissermaßen innerhalb der Aushandlung von Machtverhältnissen aktiv zum Einsatz gebracht. Betrachtet man Macht nach Foucault (1983) nicht als Besitz, sondern als Machtbeziehungen, die »gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv [sind]« (ebd.:  95), so stellt sich beim Ideologie-Vorwurf die Frage, welche Position dieser in Machtbeziehungen bzw. innerhalb der Aushandlung von Machtverhältnissen einnimmt. Um eine solche Verortung des Ideologie-Vorwurfs zu ermöglichen, bedarf es der Analyse seiner konstitutiven Elemente: Zunächst wird deutlich, dass hinter dem Ideologie-Vorwurf meist kein klar definiertes Begriffsverständnis von Ideologie zu finden ist, sondern, dass dieser in einem eher alltäglichen Verständnis operiert und dabei Bilder dogmatischer Denkmuster freisetzt, denen sich die so Beschuldigten angeblich zu Gunsten einer gemeinsamen Ideologie unterwerfen (Scheele 2014). Diese Bilder stützen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit, der dem Ideologie-Vorwurf immanent ist und sich in der Diskreditierung von Forschungen und Denkansätzen entfaltet. Die Markierung ›unwissenschaftlich‹ umfasst dabei sowohl die Abwertung von Methoden und theoretischen einzelner Forschender sowie die generelle Infragestellung der Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse aus nicht-hegemonialer. Durch das Aufgeben von wissenschaftlicher Objektivität – so der Vorwurf – wird nicht Erkenntnisgewinn, sondern die Umsetzung eigener ideologischer Ziele angestrebt. Wie Sebastian Köhnen (2014: 51) in Bezug auf den Ideologie-Vorwurf gegenüber den Gender Studies deutlich macht, handelt es sich hierbei um ein Verständnis von wissenschaftlicher Objektivität »als normative Neutralität und Interessenslosigkeit« (ebd.: 51), der die Vorstellung der eigenen Positionslosigkeit zu Grunde liegt. Der Ideologie-Vorwurf beinhaltet gewissermaßen einen Positionierungsvorwurf aus der Position der vorgeblichen Positionslosigkeit. Spannend dabei ist das Verständnis von wissenschaftlicher Praxis und der Forderung nach Objektivität, die als Scheinobjektivität

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von jenen proklamiert wird, die den Ideologie-Vorwurf formulieren. In diesem machtvollen Sprechen werden die Sprechenden zu Repräsentant_innen einer ›guten wissenschaftlichen Praxis‹, die der Objektivität und Empirie verpflichtet ist und ohne Position(ierung) auszukommen scheint (ebd.: 60ff.). Dass sich diese Machtbeziehungen als ein Handeln von einem Standort aus manifestieren, da »Tätigkeiten der Repräsentation […] immer Positionen ein[schließen], von denen aus wir sprechen oder schreiben: Positionen der Artikulation« (Hall 1994: 26), wird dabei im Namen der ›guten wissenschaftlichen Praxis‹ negiert. Dem Ideologie-Vorwurf ist somit auch die Verweigerung inhärent, die eigenen Verstrickungen in Machtbeziehungen anzuerkennen. Wird von einem Begriffsverständnis von Macht als Machtverhältnisse im Sinne Foucaults (1983) ausgegangen, so kann allerdings kaum geleugnet werden, dass soziale Verhältnisse ein »dichtes Gewebe« (ebd.: 97) bilden. Sie wirken nicht von außen und Macht ist ihnen immer inhärent (ebd.: 94). »Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert: die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.« (Ebd.). Durch Negierung von Wissen und Wissensproduktion als Elemente von Machtbeziehungen werden gleichsam Verknüpfungen von Macht und Wissen ignoriert. Das sich selbst als objektiv und kritisch konstruierte Aussagesubjekt, welches einen Ideologievorwurf artikuliert, positioniert sich damit an einem nicht-reflexiven Standpunkt, an welchem die eigene Partialität zugunsten der dichotomen Kategorisierung ›wissenschaftlich/unwissenschaftlich‹ verneint wird. Hier stellt sich die Frage, ob Objektivität tatsächlich durch die Ignoranz der Situiertheit von Wissen und demnach auch der Wissensproduktion zu erreichen ist, oder »eher dadurch, dass partiale Sichtweisen in einen unabschließbaren Prozess dialogisch verknüpft werden.« (Scheele 2014: 48).

5. Z um V orwurf der U nwissenschaftlichkeit »Die Geschichte der Wissenschaften war und ist gleichzeitig auch immer eine Geschichte des Kampfes gegen das Unwissenschaftliche, der Abwehrrhetoriken und Verteidigungsstrategien, der Definition und Markierung vermeintlich divergierender Praktiken als nichtoder pseudowissenschaftlich.« (Rupnow u.a. 2008: 7)

Die Infragestellung der Wissenschaftlichkeit hat im deutschsprachigen Diskurs – und sicher auch darüber hinaus – eine lange Tradition. Dabei sind zwei Argumentationsstränge auseinanderzuhalten. Zum einen wurde all das, was der hegemonialen Forschung nicht genehm war, weil es die eigenen Herangehensweisen, Paradigmen und Vorstellungen in Frage stellte, als un- bzw. pseudowissenschaftlich gebrandmarkt. Zum anderen wurde ein wissenschaft-

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liches Vorgehen, etwa im Zusammenhang mit der antisemitischen Forschung während des Nationalsozialismus, im Nachhinein als pseudowissenschaftlich bezeichnet, um damit die moralische Unantastbarkeit von Wissenschaft zu belegen (Rupnow 2008). Der stetig wiederholte Vorwurf, eine rassismuskritische Wissenschaft sei ideologisch, findet sich nun interessanterweise in der Intersektion dieser beiden Interventionen in das Feld des Wissenschaftlichen. Die Beschreibung einer Herangehensweise und Argumentation als ideologisch bedeutet hier deren Disqualifikation. Bemerkenswerterweise scheint Rassismuskritik deshalb als nicht wirklich wissenschaftlich bezeichnet zu werden, weil sie auf die Korrumpierbarkeit von Wissenschaft selbst hinweist. Und sie tut dies nicht, indem sie sich beispielsweise mit der Inquisition beschäftigt, der tausende von sogenannten ›Ketzer_innen‹ zum Opfer fielen, und auch nicht, indem aus sozial- und geisteswissenschaftlicher Perspektive, andere Wissenschaftsfelder wie etwa die eine epistemische Hegemonie (›Leitwissenschaft‹) beanspruchende Neurowissenschaft, unter die Lupe genommen werden. Rassismuskritik und deren Abwehr ereignet sich vielmehr in einem einzigen Wissenschaftsfeld; es geht mithin nicht allein um ›Aufklärung‹, sondern auch um die Frage, wer als legitime(r) Sprecher_in in einem Feld gilt und wer nicht. Sozialwissenschaftler_innen und Pädagog_innen, Sozialarbeitswissenschaftler_innen, Sprachwissenschaftler_ innen und Kulturwissenschaftler_innen nehmen das eigene Tun und die Diskurse, die ihre eigene Disziplin formieren, kritisch unter die Lupe und werden in Konsequenz von Fachkolleg_innen als ideologisch vorgehend marginalisiert. Rassismuskritik, das ist die direkte Folge der internen Schelte, muss nicht ernst genommen werden. Nein, sie sei bedenklich, wird behauptet. Sie sei eine unprofessionelle Praxis, die methodisch unsauber vorgehe. Die Gedankenschleife hier ist insofern aufschlussreich, als das sie schnell als eine weitere Strategie der ›Reinhaltung‹ des professionellen Feldes entlarvt werden kann. Wer behauptet, dass etwa die Sozial- und/oder Sprachwissenschaften Rassismus stabilisieren, ja, diesem nichts entgegensetzen, sondern ihn perpetuieren, argumentiert eben nicht wissenschaftlich, so der Vorwurf. Die Instrumente, die genutzt werden, um dies zu belegen, sind dabei selbstverständlich von jeder Kritik ausgenommen. Sicher, statistische Erhebungen waren immer schon über jeden Zweifel erhaben. Tatsächlich? Wir könnten durchaus zeigen, wie die Anfertigung von Statistiken, die Michel Foucault so treffend als »Staatswissenschaften« beschrieben hat, immer wieder im Laufe der Geschichte dazu genutzt wurde, um Wahrheiten durchzusetzen und damit gewaltvolle Praxen zu legitimieren. Das klassische Beispiel findet sich nicht zufällig in der rassifizierenden Kolonialherrschaft und im Anschluss daran in den europäischen Migrationspolitiken, denen es vor allem um ein Begrenzen des Unerwünschten geht. Das Sortieren und Kategorisieren von Menschen kann, werfen wir einen raschen historischen Blick auf diese Praxis, wohl kaum als harmlos oder ideologiefrei bezeichnet wer-

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den. Die Produktion des rassistischen Denkens selbst ist ohne die Praxis des Kategorisierens nicht möglich. Und wer hat die Macht, dieses Denken durchzusetzen und die Kategorien a posteriori zu begründen (siehe hierzu etwa Mbembe 2015)? Haben wir es hier wirklich mit einer machtfreien Praxis zu tun? Dergleichen gilt für das Quantifizieren und genaue Präzisieren von sozialen Prozessen, die de facto immer gezeichnet sind von Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten: Forschungspraxen können symbolische Gewalt induzieren und legitimieren. Es war beispielsweise das Statistische Bundesamt der Bundesrepublik Deutschland, welches die Kategorie ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ entworfen und geprägt hat. Ein Begriff, der nicht nur auf eine breite Akzeptanz in den Sozialwissenschaften gestoßen ist, sondern auch kritische Distanzierung erfahren hat (etwa Castro Varela 2015). Diejenigen, die auf sogenannte offizielle Statistiken vertrauen, empfinden Kategoriekritik an dieser Stelle selbstverständlich als anmaßend und irgendwie auch dumm, denn, so die Annahme: Ist die Kategorie logisch definiert, so ist sie zweckdienlich und nicht diskussionswürdig. Tatsächlich? Aber, wer profitiert denn von den staatlich legitimierten Kategorisierungen? Und was sind die materiellen Folgen für die so Kategorisierten? Das sind rassismuskritische Fragen. Und ja, sie sind in der Tat ideologisch konturiert. Allerdings würden wir sie als ideologiekritisch verstehen, in dem Sinne, dass sie die Ideologie des angeblich ideologiefreien Vorgehens offenlegen. Womit wir bei einer zweiten wichtigen Beobachtung angelangt wären: Diejenigen, die den Ideologievorwurf erheben, sind im Grunde Ideologiekritikskeptiker_innen. Um das zu verstehen, muss jedoch zwischen Ideologiekritik und Ideologievorwurf differenziert werden – was bedauerlicherweise selten geschieht.

6. I deologievorwurf vs . I deologiekritik Die Ideologiekritik beginnt im 19. Jahrhundert mit den Reflexionen von Karl Marx und Friedrich Engels, die bereits in ihren Überlegungen zur deutschen Ideologie (1845-46) eine Kritikform entwerfen, die auf die Differenz zwischen Theorie und materiellen Verhältnissen verweist. Es sind Marx und Engels zufolge die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ein spezifisches Denken hervorbringen. Theorien sind damit nie als absolut unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie produziert werden, zu verstehen. Daraus lässt sich die Notwendigkeit einer Kontextualisierung ableiten, die jede theoretische Betrachtung rahmen sollte. Ideologiekritik beschreibt mithin die Ideologien, die die Gesellschaft in Gang halten, die Diskurse, die dafür sorgen, dass einem_r auch Gewalt und Ungerechtigkeit als normal erscheinen.1 Rassismus etwa.

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Geprägt wurde der Begriff bereits im 18. Jahrhundert von dem wenig bekannten französischen Aufklärer Antoine Destutt de Tracy, der ›Idee‹ (griech.: ἰδέα) und ›-logie‹ (griech.: λογία) zusammensetzte – also die Wissenschaft der Ideen. Wir könnten dies auch als einen Aufruf zur Untersuchung unserer Weltbilder verstehen. ›Die Welt begreifen‹ ist, wie wir wissen, ein machtvoller Prozess, den die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak pointiert als worlding (Welt-machen) bezeichnet hat. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang etwa fragen, wer wie repräsentiert wird, was verschwiegen wird, und eben was als unwissenschaftlich diskreditiert wird. Der Ideologievorwurf ist im Gegensatz zur Ideologiekritik eine Geste des Grenzdenkens oder abyssal thinking, wie Boaventura de Sousa Santos (2014:  118ff.) schreibt, ein Denken, welches vorgibt, bestimmen zu können, welche Theorie wertvoll, welche Argumente sinnvoll und welche Methoden korrekt sind. Auf der einen Seite der Grenzen findet sich die ›reine Wissenschaft‹, während wir auf der anderen Seite einem liederlichen Vorgehen begegnen: unsauber, unkorrekt, bedenklich, naiv. Einem solch harschen Vorwurf können wir freilich mithilfe der Ideologiekritik begegnen und fragen: Wer profitiert von der Marginalisierung einer rassismuskritischen Perspektive? Sicher nicht die, die von Rassismus betroffen sind. Die, die von Rassismus betroffen sind, sind aber nicht selten die, die auch zur Zielscheibe des Ideologievorwurfs werden. Zufall? Nun, dazu wäre eine genauere Analyse vonnöten; gleichwohl kann festgehalten werden, dass es Ausdruck wissenschaftlicher Redlichkeit wäre, auf die eigene Positioniertheit, die damit verbundenen Affekte und Interessen zu reflektieren, und diese nicht nur hinter dem Popanz vermeintlicher Objektivität, in der Inszenierung eines göttlichen Blicks, wie dies Donna Haraway (1995:  87) bezeichnet hat, nicht nur zu verbergen, sondern ungebrochen wirksam werden zu lassen. Ideologiekritik betrachtet die Machterfülltheit von Wissensproduktion (Santos 2014) und begegnet dem Ideologievorwurf mit der Spiegelung des eigenen Tuns, der eigenen Diskurse. Sie distanziert sich von einem Wissenschaftsverständnis, welches die Disziplin als Disziplin schont und von kritischer Intervention fernhält. Und sie ist parteilich, weil sie nicht an die Neutralität und Objektivität von Wissenschaft glaubt. Wir schließen uns hier unumwunden Foucault an, der in »Überwachen und Strafen« bemerkt: »Man muß wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. Vielleicht muß man dem Glauben entsagen, daß die Macht wahnsinnig macht und daß man nur unter Verzicht auf die Macht ein Wissender werden kann.« (Foucault 1976: 39)

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A nmerkungen 1 Es sei daran erinnert, dass die Ideologielehre Karl Mannheims (1995/1929) jede Theoriebildung als ideologisch bezeichnet.

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Nationale Bedürfnisse und soziale Ängste Naika Foroutan

Die Welle nationaler Aufmärsche, die als Spaziergänge deklariert, im Herbst 2014 in Dresden zunächst unter dem Label PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) anrollte und sich aus einer heterogenen Bürgerbewegung gegen ›Überfremdung‹ zusammensetzte, erreichte innerhalb von weniger als zwei Jahren das politische Gefüge der Bundesrepublik. Der politische Arm dieser national-konservativen bis völkischen Bewegung – die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) – ist nun in der Hälfte der deutschen Landesparlamente von Osten bis Westen vertreten. Die Kombination aus Nationalorientierung liefernder Elite mit Sozialangst verspürendem ›Volk‹ – die Parteispitze besteht weitgehend aus westdeutschen Akademikern, während die Wahlgewinne gerade in Ostdeutschland aus dem ehemaligen Arbeitermilieu kommen – erweckt Assoziationen an den Aufstieg faschistischer Parteien im Europa der 1930er Jahre. Die etablierten politischen Parteien erscheinen wahlweise ungläubig, orientierungs- und ratlos, teilweise näherten sie sich zu Beginn in einem hektischen Aktionismus den Positionen der Nationalen an und zeigten anbiedernd Verständnis für deren Wählerschaft. Wobei nicht erkennbar wurde, ob das signalisierte Verständnis aus rein wahltaktischen Gründen geschah oder aus einem unterschwelligen breiten Bedürfnis nach mehr nationalem Bekenntnis, das PEGIDA und AfD gleichermaßen einfordern und in den Diskurs einspeisen. Mittlerweile hat sich zwar ein breiter parteiendemokratischer Konsens gegen die AfD formiert, allerdings haben sich quer durch die etablierten Parteien hinweg Friktionen gezeigt, vor allem durch Wählerabwanderung zur AfD. Das lässt darauf deuten, dass nationale Bedürfnisse – also das Bekenntnis zu nationaler Identität, Symbolik und Rhetorik, flankiert mit der Abwehr von Minderheiten, denen die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv verweigert wird – im sozial ungleicher werdenden Deutschland (Fratzscher 2016) zunehmen und sich außerhalb der ihnen über Jahrzehnte zugewiesenen Ränder bis in die Mitte der Gesellschaft hinein etablieren (Decker/Kiess/Brähler 2016). Hier erzeugen sie eine Dynamik der Regression, die in der Lage ist, den über Jahrzehnte mühsam erarbeiteten

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gesellschaftlichen Konsens, eine plurale Migrationsgesellschaft geworden zu sein, nicht nur in Frage zu stellen, sondern insgesamt zu einer Erosion demokratischer Grundwerte zu führen.

D as B espielen von nationalen B edürfnissen National anklingende Positionen der Abwertung, die besonders im Zuge der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ 2015 über die AfD hinaus, von erwartbaren CSU-Aussagen bis zu eher überraschenden Positionierungen wie die des Grünenpolitikers Boris Palmer tief in die Gesellschaft hineinwirkten, dokumentieren trotz der Verknüpfung mit grundlegenden Themen wie Flucht, Asyl und Migration vor allem eine klare Abgrenzungslinie entlang der Zugehörigkeit von Muslime zu diesem Land, die wahlweise als Flüchtlinge, wahlweise als integrationsdistante, verfassungsbedrohende und einzuhegende Gruppe angesprochen werden. Das weckt historische Assoziationen: Das Gerücht der Islamisierung des Abendlandes, welche unmittelbar bevorstünde, wenn sich nicht wehrhafte patriotische Bürger ihr entgegenstellten, erinnert an das Phantasma der Verjudung des Deutschen Reiches, welchem ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls sehr heterogene Bürgerschichten in Deutschland anhingen. Als 1879 der nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke formulierte »die Juden sind unser Unglück« waren frappierend ähnliche Vorwürfe im Raum, wie sie heute gegenüber Muslime salonfähig sind: Die in Scharen nach Deutschland kommenden unproduktiven »Hosenverkäufer aus Posen« seien eine Belastung der heimischen Wirtschaftskraft, die Masseneinwanderung, die Geburtenstärke, die Unterwanderung, die Nicht-Anpassung und Arroganz, die kulturelle Inkompatibilität und die Wahrnehmung, die Juden seien Verursacher internationaler Konflikte, all dies findet derzeit seine entsprechende Artikulation gegenüber Muslime in Deutschland (Shooman 2014). Die schwierige außenpolitische Lage, so damals wie heute, brauche ein »gekräftigtes Nationalgefühl«, jedoch verhindere die politische Korrektheit – bei Treitschke die »weichliche Philanthropie unseres Zeitalters« – dies. Und: Ebenso wie damals die Begründung für den Antisemitismus in den Juden selbst gesucht wurde, werden heute Muslime als verantwortlich gesehen für die Anfeindungen, die ihnen entgegengebracht werden, wenn 51 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, das Verhalten der Muslime sei schuld an den Feindseligkeiten, die ihnen entgegengebracht werden (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014: 78). Wir sollten Sorgen der Bürger vor den Herausforderungen unserer Zeit ernst nehmen, hieß es ziemlich bald von politischer Seite. Die Bevölkerung fühle sich durch die Million Geflüchteter überfremdet, fürchte um die eigene Kultur.

Nationale Bedür fnisse und soziale Ängste

Laut ZDF-Politbarometer gab bereits im Januar 2016 an, dass 42 Prozent der Deutschen durch die Flüchtlinge die gesellschaftlichen und kulturellen Werte bedroht sehe (ZDF-Politbarometer 2016). Und jeder zweite hatte laut ARDDeutschlandtrend die Sorge, dass »der Einfluss des Islams in Deutschland zu stark wird« (Infratest Dimap 2016: 9). Dass die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt steigen werde, machte in der gleichen Umfrage jedoch nur 27  Prozent der Bevölkerung Angst. Die nationalen Ängste überwogen demnach im direkten Vergleich gegenüber sozialen Ängsten. Immer wieder wurden Überflutungs- und Überfremdungsnarrative mit dem Verweis auf eine vermeintlich empirisch nie zuvor erprobte Größenkategorie an Geflüchteten begründet. Für 2015 wird nach Schätzungen des statistischen Bundesamtes derzeit ein Saldo von + 900.000 Personen erwartet. Der Wanderungssaldo läge damit über dem bisherigen Rekordwert des Jahres 1992 mit knapp + 800.000 Personen. Trotz dieses Rekordwertes ist es wichtig anzumerken, dass es eine annähernd große Zahl an Geflüchteten 1992 schon einmal gab, bevor der sogenannte ›Asylkompromiss‹ 1993 herbeigeführt wurde. Allerdings war die Bevölkerung 1992 mit einer unvergleichbar schwierigeren Umbruchsituation konfrontiert: Die Wiedervereinigung war eine strukturelle, soziale, kulturelle und emotionale Herausforderung und in der Paarung von neuen nationalen Bedürfnissen und sozialer Angst entluden sich die rassistischen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln und Hoyerswerda. Volkswirtschaftlich ging es Deutschland im Jahr 2015 mit einer stabilen Wirtschaft, einer annähernden Vollbeschäftigung und einer historisch niedrigen Haushaltsverschuldung bei weitem besser. In dieses Land waren nun 100.000 mehr Menschen im Jahr 2015 eingewandert als im Jahr 1992. Die Aussage von Angela Merkel »Wir schaffen das« kann vielleicht im Rückblick auf diesen Vergleich zwischen 1992 und 2015 analytischer gelesen werden. Auch wenn das Deutschland von 2015 sich durch eine starke Ungleichheit zwischen den reichsten und den ärmsten Schichten auszeichnet und als einer der bildungsungleichsten Staaten im OECD Raum gilt, reichen sozial-strukturelle, ökonomische Erklärungen nicht aus, um die rassistische Abwehr und das kleingeistige Gefühl, überrannt und geflutet zu werden, ausschließlich über soziale ›Ängste‹ zu erklären. Daher muss analysiert werden, was dem noch zugrunde liegen könnte, wenn die etablierte Kernerklärung, dass ökonomische Statusverunsicherung zu Xenophobie führe, nicht mehr ausreichend klingt, jetzt da so reiche Länder wie Deutschland, Österreich, Dänemark, Norwegen oder die Schweiz zunehmende rechtspopulistische Präsenzen bis in die Parlamente hinein vorweisen. Auch die Überflutungsthese und das Momentum reichen als Erklärung nicht aus: 60 Jahre Migration – da passt das Wort ›überrannt‹ nicht. Vielmehr hat sich Deutschland in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich weiter in eine Migrationsgesellschaft transformiert (Broden/Mecheril 2007). Und es macht

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den Anschein, als sei ein Teil der Bevölkerung bei dieser Transformation nicht mitgekommen. Während ein großer Teil sich mit diesem neuen Deutschland identifiziert, es als weltoffen, tolerant und plural wahrnimmt und Deutschsein über Sprache und Staatsangehörigkeit definiert und nicht mehr über Vorfahren, gibt es einen beharrlichen Kern, dem offensichtlich die Integration in diese moderne Gesellschaft nicht gelungen zu sein scheint (Foroutan et al. 2014). Viel zu lange hat sich das Integrationsbemühen in Deutschland ausschließlich auf Migranten und ihre Nachkommen konzentriert. Dass dabei ganze Teile der Bevölkerung aus dem Fokus geraten sind und kulturell nicht mit der neuen Identität des Landes Schritt halten konnten, ist nicht unter dem Gesichtspunkt von gesellschaftlicher Desintegration wahrgenommen worden. Diese Desintegration wird nun durch das Angebot der nationalen Höherstellung kompensiert. Die Rechtspopulisten machen keine ökonomischen Angebote, um soziale Ängste zu beheben. Analysiert man die Parteiprogramme der AfD, so findet sich darin eine eher marktliberale bis deregulierende Mittelstandspolitik, was Arbeitsmarkfragen angeht. Was bedient wird, sind vor allem nationale Ansprachen und exklusive Aufwertungen. So liest man z.B. im Wahlprogramm der AfD Sachsen-Anhalt: »Wir fordern eine Willkommenskultur für den Nachwuchs der einheimischen Bevölkerung!« Die Politik hat es verpasst, dem für vielen Menschen etablierten neuen pluralen Deutschland ein normalisierendes Narrativ zu geben, dass handlungsleitend und integrativ auf die abgehängten Gesellschaftsschichten wirken konnte. Dass Migration ein Phänomen der Globalisierung ist, so wie Exportweltmeister zu sein, wurde ebenfalls nicht mitvermittelt. So hielt sich die Vorstellung von Migration als Ausnahme und Notstandssituation, obwohl längst jedes dritte Kind in Deutschland über einen solchen Hintergrund verfügt – und gleichsam deutsch ist.

S oziale Ä ngste und die K opplung mit antimuslimischen und antimigr antischen F eindbildern Die Bevölkerung wird älter, hat weniger Kinder, keine Pflegekräfte und keine Fachkräfte. Eine Fülle von sehr heterogenen Ängsten geht damit einher, wie die vor sozialem Abstieg, Vereinsamung, Überalterung, Vernachlässigung von Werten und moralischer Verwahrlosung. Diese soziale Verunsicherung – grundiert in der Zunahme struktureller Ungleichheiten – sollten wir in der Tat ernst nehmen: sie werden schon von Beck als Verunsicherungsmomente individualisierter Gesellschaften benannt (Beck 1991). Dass sie sich bei PEGIDA allerdings in einer empirisch nicht haltbaren Angst vor Überfremdung Bahn brechen, das sollten Politiker nicht als berechtigte Sorge durchgehen lassen. Dass Menschen Angst vor radikalisierten Islamisten haben, ist ernst zu neh-

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men – am meisten fürchten sich derzeit weltweit Muslime davor, denn sie sind täglich Opfer der schrecklichsten Massaker. Dass genau diese Religionsgruppe nun auch noch Angst vor PEGIDA-Anhängern haben muss, die noch nie in ihrem Leben einem Muslim begegnet sind, ist allerdings blanker Hohn. Die Finanzkrise und die deutlich neoliberale Werteverschiebung seit Mitte der 1990er Jahre zugunsten von wenigen, die sich rücksichtlos auf Kosten der Gesellschaft bereichern, ohne dass ihnen von staatlicher Seite entschieden Einhalt geboten wird, haben über die letzten Jahre eine tiefe Politik- und Demokratieverdrossenheit in Deutschland und anderen Ländern der Welt entstehen lassen. Dies ist in Ostdeutschland stärker spürbar, wo das Versprechen von Demokratie zu hohen Erwartungen geführt hatte, die sich nun in akuten Frustrationen entladen. Auch haben eine Abwertung ostdeutscher Identität und eine mangelnde Anerkennung der Arbeitsleistung von Ostdeutschen, sowie eine etablierte Arroganz gegenüber ihrer Vergangenheit und Verunglimpfung ihrer Alltagsgeschichten zu einer angestauten Wut und Enttäuschung geführt. Ein Gefühl der Demütigung, gepaart mit dem vielfach formulierten Erfahrungsmoment fremd im eigenen Land zu sein, führt nun dazu, stabile bis subtile Stereotype mit denen Ostdeutsche seit 25 Jahren konfrontiert sind, auf eine andere Minderheit zu kanalisieren – unter anderem dass der Unproduktivität, der Verrohtheit, des unter sich bleiben Wollens und der Opferrhetorik (die sich unter dem Stichwort Jammerossis kurz nach der Wende etabliert hatte). Interessanterweise geht diese antimuslimische ›Wut‹ in Ostdeutschland auch mit dem Aufstieg und der Sichtbarkeit von Muslime im öffentlichen Raum einher – als Politiker, Kabarettisten, Fernsehmoderatoren und Intellektuelle – und mit ihrer Forderung, ein legitimer Teil Deutschlands zu sein. Die seit Jahren anhaltenden obsessive Beschäftigung mit Muslime in Deutschland hat offenbar bei den PEGIDA- und AfD-Anhängern das Gefühl der diskursiven Verdrängung ausgelöst. Die Sehnsucht nach Sichtbarkeit, danach als autonome Subjekte wahrgenommen zu werden und nicht nur als einverleibte ›Deutsche zweiter Klasse‹ wird hier interessanterweise auch durch eine Umwegkommunikation gelöst: durch die Abwertung von Migranten, Muslime, Geflüchteten – die im westdeutschen Gesellschaftsverständnis nicht nur normativ zugehöriger sind, sondern auch empirisch: 95 % aller Migranten und ihrer Nachkommen leben in Westdeutschland – gelingt es auch sich selbst als einzig echte Deutsche zu inszenieren: quasi die Sachsen als die unverschmutzten Deutschen. Derzeit werden dabei vor allem Werte und Normen einer ganzen Religionsgemeinschaft in Frage gestellt, ohne eigene Werte über das abstrakte ›Deutsche‹ hinaus zu formulieren, denn die rechtspopulistische Bewegung ist viel zu heterogen um gemeinsame Werte zu formulieren. Christentum, europäische

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Identität oder kapitalistische und antikapitalistische Motive – sie alle werden in dieser Bewegung von einigen herbeigesehnt und von anderen verdammt. Deswegen formiert sich die PEGIDA- und AfD-Anhängerschaft vor allem auf Basis der Zuschreibung von Gegenwerten: Der Islam ist das, was als homogenes Feindbild die heterogene Masse zusammenführt. Die stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD, Beatrix von Storch, formulierte daher strategisch: »Der Islam wird als ein zentrales Thema im neuen Programm Eingang finden.« Empirisch konnten wir am Berliner Institut für empirische Integrationsund Migrationsforschung in einer repräsentativen Studie feststellen, dass ein Erstarken nationaler Bezugspunkte in Deutschland zu beobachten ist, welches mit exkludierenden Einstellungen gegenüber Minderheiten einhergeht. Beispielhaft zeigte sich das an Stereotypen gegenüber Muslime als der größten religiösen Minderheit in Deutschland: Mehr als ein Viertel (27 %) der Befragten in Deutschland dachte bereits im Jahr 2014, dass Muslime aggressiver seien als sie selber, nur etwas mehr als jeder Zweite (55 %) glaubte, dass Muslime genauso bildungsorientiert seien wie ihre eigene Gruppe. Als eigene Gruppe wurde auf Nachfrage auffallend oft (ca. 40 %) »wir Deutschen«, »die deutsche Bevölkerung«, »die deutsche Gesellschaft« oder Ähnliches genannt. Es wurde deutlich: Muslimisch und deutsch werden überwiegend als Gegenkategorien wahrgenommen und Muslime somit aus dem ›deutschen Wir‹ herausdefiniert. Einstellungen müssen nicht zwangsläufig zu Handlungen führen aber es ist Achtsamkeit geboten: Während die islamfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung derzeit quantitativ ansteigen, nimmt auch die Handlungsbereitschaft zu, wie Moschee-Anschläge und die Hass-Attacken auf muslimische Einzelpersonen und Entscheidungsträger verdeutlichen. Die Qualität der Abwertungen, die auch aus der Mitte der Bevölkerung kommen, verschärft sich. Die Grenzen des Sagbaren waren mit Bezug auf Muslime bereits lange überschritten, bevor PEGIDA und die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ einen neuen narrativen Verknüpfungsraum für die Abwertung dieser Gruppe öffneten. Spätestens seit der Sarrazin-Debatte war eine Entgrenzung und Enttabuisierung zu beobachten, die sich in Feuilletons, Talk-Sendungen und Alltagsgesprächen breitmachte. Bereits zu dem Zeitpunkt konnte erkannt werden, welche Prädisposition für rassistische Abwertungen bei gleichzeitiger Aufwertung nationaler Selbstbilder vorhanden war – lange noch bevor es die AfD oder PEGIDA gab, aber kurz nach dem Aufkommen der Weltfinanzkrise. Eine Verbreitung der Argumente über das Internet hat seitdem eine regelrechte Hasskultur etabliert. Mit Bezug auf das Themenfeld Islam ist es übrigens gleichgültig, ob die Person, die dazu schreibt, forscht oder denkt selbst muslimisch ist oder nicht. Eine positive Bezugnahme oder eine Kritik an Islamfeindlichkeit führt auch gegenüber Nicht-Muslime zu aggressiven Attacken. Sie werden als Gutmenschen und Volksverräter tituliert, die den Muslime Tür und Tor des Abendlan-

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des öffneten und deswegen der Islamisierung Vorschub leisteten. Mit genau einem solchen Argument tötete Anders Breivik in Norwegen 77 Sozialdemokraten. Dort, wo die nationale Identität einen hohen Stellenwert einnimmt, ist auch nachweisbar die Bereitschaft, Muslime kulturell-religiöse, sozialräumliche oder symbolische Rechte vorzuenthalten, signifikant höher. So möchten jene 46 %, für die es besonders »wichtig ist, als Deutsche_r gesehen zu werden« zu 68 % die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen verbieten, zu 55 % den Moscheebau und zu 56 % das Kopftuch einschränken, während es bei jenen, bei denen die Wahrnehmung als deutsch keine Rolle spielt (51 %), deutlich geringere Werte sind: Gegen Beschneidung sind in dieser Gruppe 54 %, gegen Kopftuch 43 % und gegen Moscheebau 35 %. Der Ausschluss aus dem kollektiven deutschen Narrativ findet somit nicht nur auf einer diskursiv-emotionalen Ebene statt, sondern hat Auswirkungen auf die Anerkennung und die Teilhabemöglichkeiten von religiösen Minderheiten – in diesem Falle Muslime. Die Ausweisung von Muslime aus dem nationalen Narrativ sagt dabei mehr über die Bevölkerung in Deutschland aus, als über die Muslime selbst. Wenn wir auf Basis der Datenlage zu der Erkenntnis gekommen wären, Frauen würden aus dem Deutschen Wir herausdefiniert, oder Kinder, oder Juden – würden wir dann ernsthaft die Schuld bei den Frauen suchen? Oder bei den Kindern? Oder den Juden? Stattdessen beschäftigen wir uns in einer regen Obsession damit zu erklären, welche Schuld Muslime daran tragen, dass die deutsche Bevölkerung sie nicht als zugehörig akzeptiert oder ihnen gegenüber feindselig ist. Eine demokratische Einwanderungsgesellschaft lässt sich aber erst am Umgang mit ihren Minderheiten messen. Eine der größten religiösen Minderheiten in diesem Land sind derzeit Muslime. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass der Umgang mit und die Einstellungen gegenüber dieser Gruppe als Seismograph gesehen werden können, um die Einstellungen gegenüber Demokratie, Pluralität und der freiheitlichen Verfassung innerhalb der Gesamtbevölkerung zu messen.

D ie L egitimation der F eindbilder Die teilweise von politischer Seite formulierten Botschaften, man solle die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen, führen auf Grund dessen, dass die artikulierten Sorgen vor Islamisierung, Unterwanderung und Volkstod, dem Verlust von Weihnachten oder davor, dass der Islam Staatsreligion werde, empirisch nicht haltbar sind, in der Konsequenz zu einer Aufwertung und Legitimierung von nationalistischen und menschenfeindlichen Stereotypen. Die politische

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Formulierung bezieht sich zwar auf die vermeintlich den Stereotypen zugrunde liegenden Sorgen – da diese sozialen Ängste von den Anhänger jedoch nicht so aktiv formuliert werden, wie die antimuslimischen, antieuropäischen, antigutmenschelnden etc. bleibt letztlich spekulativ, wie stark diese der Trigger der Fremdenfeindlichkeiten sind, oder ob der Fremdenfeindlichkeit nicht ein über Jahrzehnte etabliertes rassistisches Wissen unterliegt, das nie aufgearbeitet wurde und sich über die Jahre institutionell und emotional ausgebreitet hat (Terkessidis 1998). Einen Beleg dafür liefern die jahrzehntelang durch den Verfassungsschutz gedeckten NSU-Morde und das Untertauchen der Mörder in einem Umfeld, das sie nicht als kriminell wahrnahm. Es erscheint als Hohn und moralische Verwahrlosung, wenn die Angst vor Überfremdung, die nicht auf empirischen Realitäten fußt den aus Armut und Not Geflüchteten als gleichwertige Sorge gegenübergestellt wird – zur Erinnerung: in Ostdeutschland leben weniger als 5 % der in Deutschland lebenden ›Menschen mit Migrationshintergrund‹. Das Recht auf konstruierte Sorgen, die durch mangelnde Aufklärung und latenten Rassismus seit Jahren gären, wird leider legitimiert, wenn der Innenminister und andere ranghohe Politiker mit Verweis auf eine Studie, die belege, dass sich ein Teil der Bürger wie Fremde im eigenen Land fühlten, sagt: »Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen, damit müssen wir uns auseinandersetzen.« Ernsthafter wäre es zu sagen, ›diese Paranoia müssen wir ernst nehmen‹ und lösungsorientierter wäre es zu sagen, ›diese Ressentiments müssen wir ernst nehmen‹. Das Ernstnehmen von Überfremdungsängsten hingegen kommt einer Relativierung der vergangenen Opfer und der Menschen, die durch die Rhetorik der Rechtspopulisten derzeit bedroht und abgewertet werden, gleich. Es ist daher falsch zu sagen, man müsse die Ängste der AfD-Anhänger ernst nehmen – es führt dazu, ein nicht vorhandenes Problem zu einem ernsthaften aufzuwerten und gleichzeitig keine Lösung anbieten zu können, da nun mal bei einer Anzahl von 5 % Muslime an der Gesamtbevölkerung nicht von einer Islamisierung Deutschlands gesprochen werden kann und bei 6  % in Europa auch nicht von einer des Abendlandes. Wie kann man aber ein Problem lösen das keines ist, ohne eine dauerhafte Frustration aus Mangel an Problemlösungskompetenz herbeizuführen? Das richtige und politisch ernsthafte Wort wäre: Man muss die Unwissenheit der Bevölkerung ernst nehmen, um das tradierte rassistische Wissen decodieren zu können, das sich aus der Vorstellung speist, Menschen könnten in Kategoriensystemen von Nation, Grenze, Migration legitimer Weise ungleich behandelt werden. Hier könnte man handeln: Man könnte Schulbücher erneuern, ein Unterrichtsfach einführen wie es z.B. die Junge Islam Konferenz in Hamburg gefordert hat, das »Deutsche Gesellschaft im 21. Jahrhundert« heißen könnte, in welchem die deutsche Gesellschaft insgesamt etwas über plurale Demokratien, Minderheiten, Religionen, Kompetenzen und Ressour-

Nationale Bedür fnisse und soziale Ängste

cen, Konflikte und Herausforderungen erfährt, über Geschichtsschreibung, die nicht nur von Europa aus denkt, über Diskriminierung und Antirassismus-Arbeit und die Entstehung von Stereotypen über Ingroup und Outgroup Strategien, über Staatsangehörigkeit und Rechte und vielzähliges mehr, was man wissen und lernen sollte, wenn man in diesem neuen Deutschland lebt und nicht im vergangenen.

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Die verkannte Angst des Fremden Rassismus und Sexismus im Kontext medialer Öffentlichkeit Meltem Kulaçatan

Zum dreiundzwanzigsten Mal jährten sich am 29. Mai 2016 die Anschläge auf ein Haus in Solingen, das von Menschen mit türkischer Abstammung bewohnt wurde. Damals wurden fünf Menschen von Neonazis getötet, 17 weitere wurden lebensgefährlich verletzt, mit zum Teil schwersten Verbrennungen. Im kollektiven Gedächtnis der türkeistämmigen Bevölkerung sind die tödlichen Anschläge von Mölln 1992 und von Solingen 1993 – wir reden hier von der sogenannten ›Nachwendezeit‹ – schmerzhaft lebendig. Fremdenfeindliche Bürger_innen ließen ihrem Hass freien Lauf. Angesichts des unverhohlenen Beifalls durch breite Teile der städtischen Bevölkerungen, sahen sich die türkischstämmigen Bürger_innen am Katzentisch der deutsch-deutschen Wiedervereinigung wieder. Sie schienen irgendwie nicht mehr dazuzugehören, wenngleich bis dato die Frage noch offen war, inwieweit sie überhaupt je dazugehört hatten, denn: In der gegenwärtigen Wirklichkeitsrekonstruktion der Bonner Republik werden die ehemaligen ›Gastarbeiter_innen‹ und deren Nachkommen als viriler Bestandteil der jüngsten deutschen Geschichte (erst jetzt!) neu entdeckt und gewürdigt, obgleich sie sich bereits ihre Präsentationsnischen in Kunst, Politik, Arbeitswelt und Öffentlichkeit selbst geschaffen hatten. Eine bewusste politische Wertschätzung war erstmalig im Jahr 2008 öffentlich zu vernehmen: Die Bundesregierung hatte die Aktion »Deutschland sagt Danke« initiiert (Bundesregierung, 01.10.2008). Das schien zunächst lobenswert. Und doch dominierte hier abermals die Einteilung in das ›Wir‹ gegenüber dem ›Anderen‹ – und wiederum die Betonung der Besonderheit auf Kosten der erhofften Normalität. Folglich fühlten sich die so Angesprochenen als vom Grundsatz her nicht zu Deutschland gehörig (Bax 2014). Insofern setzte sich die Kette der Enttäuschungserfahrungen fort; eine weitere Chance der echten Anerkennung und Würdigung ihrer Leistungen und ihres Beitrags für die Gesellschaft war vertan. Vergessen bleibt zudem, dass die Gastarbeiter_innen in Deutschland primär als günstige und austauschbare Arbeitskräfte, also

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gleichsam als Manövriermasse verstanden und behandelt wurden. Integrationsangebote wie Sprachkurse gab es nur spärlich, weil Integration nicht erwünscht war; auch die Lebenssituation in heruntergewirtschafteten bzw. vom Krieg noch halb-zerstörten Wohnungen und Häusern gab keinen weiteren Anstoß zu öffentlicher Empörung. Erst in jüngster Zeit beginnen die Angehörigen der ersten Gastarbeiter_innengeneration über ihre Erfahrungen in Deutschland in den 1960er und 70er Jahren zu reden. Sie erzählen vom erlittenen Rassismus am Arbeitsplatz. Sie artikulieren sich eher still, manchmal aber auch laut, wenn die Erinnerungen physisch spürbar werden und sich über das körperliche Gedächtnis ihren Weg bahnen. Eine Mischung aus Verbitterung und Erleichterung kommt etwa darin zum Ausdruck, dass wenigstens die eigenen Kinder ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Diese Narrative der durchweg sehr betagten Menschen finden noch keinen Eingang in die bundesrepublikanischen Gegenwartsdiskurse. Aber das wäre wichtig, denn es geht nicht nur um persönliche Erfahrungen, sondern um strukturelle Gegebenheiten wie etwa diese: Es gab damals ›eigene Leute‹ am Arbeitsplatz, die als Übersetzer_innen eingesetzt wurden. Sie begleiteten die Arbeiter_innen bei einem Arztbesuch. Erst später stellte sich heraus, dass eine Krankschreibung trotz offensichtlicher Krankheit unter allen Umständen verhindert werden sollte. Also ging es trotz schwerster gesundheitlicher Beeinträchtigung auf direktem Weg zurück in die Werkshalle, zurück an das Fließband, zurück in den Akkord. Der Vorwurf, jene Generation hätte über die Jahrzehnte die Integration verweigert, ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Zum einen ignoriert diese Vorstellung die Vielfältigkeit ihrer Lebensstile und ihren Überlebenswillen, andererseits blendet es die Diskriminierungen und Machtstrukturen aus, denen sie sich ausgeliefert sahen. Wer sich integrieren soll, braucht dazu eine erreichbare Zielangabe, und solche Zielangaben müssen gesellschaftlich ausgehandelt werden. Diesem Prozess stand aber ein wirksamer Inhibitor entgegen: Die Bundesrepublik Deutschland stellte einfach in Abrede, ein Einwanderungsland zu sein. Waren ethnische Markierungen und Ausschlusskriterien aufgrund des Gastarbeiterprinzips und des Rotationsmodells zuvor bereits vorhanden, erhielten sie neue Energie und Gewichtung im Zuge der historischen Umbrüche Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Die innerdeutsche Grenze fiel, auch innereuropäische Grenzen wurden durchlässiger; Wege für den Auf bruch in eine neue Freiheit wurden zugänglich. Und dennoch: Der Jubel über die deutsch-deutsche Wiedervereinigung und über die neue transnationale Bedeutung blieb den Menschen im Halse stecken. Das öffentlich inszenierte offensive und gewalttätige Gebaren der Neuen Rechten in Ost- und Westdeutschland, und zwar nicht nur in Hoyerswerda, wurde zuweilen von Beifall und breiter Zustimmung getragen. Richteten sich die Gewalttaten und

Die verkannte Angst des Fremden

Ressentiments in Ostdeutschland gegen Asylbewerber_innen und Geflüchtete, so bildete die türkischstämmige Bevölkerung das Ziel der rechtsradikalen Gewalttäter_innen in Westdeutschland, etwa in Mölln und Solingen. Der NSU war nicht zufällig auf Türk_innen ›fixiert‹. Es ist aus diesem Grund auch nicht nachvollziehbar, weshalb nach der Enttarnung des NSU bevorzugt von einem ›ostdeutschen‹ Phänomen gesprochen wird, bloß weil der enge und öffentlich bekannte innere Zirkel der Täter_innengruppe aus Thüringen stammt (Bax 2014). Schließlich waren (und sind es immer noch) gesamtdeutsche Institutionen und auch die Medien gewesen, die hier versagt haben (Kulaçatan 2016). Nach dem Mauerfall wurden Zuschreibungen der Zugehörigkeit(en) neu ausgehandelt, wobei die Anderen – die Nachkommen der Gastarbeiter_innengeneration – ausgeschlossen wurden (Çil 2010). Insbesondere Türkeistämmige der zweiten Generation sahen sich hier mit massiven Exklusionen konfrontiert, die sie zu ›Zaungästen‹ der deutsch-deutsch Vereinigung degradierten. Das zeigte sich beispielsweise an der problemlosen Erteilung der Staatsbürgerschaftsrechte für die ehemaligen Bürger_innen der Ex-DDR. Die mittlerweile fest etablierte neue türkische Synthese aus neoliberalem Islamismus und verschiedenen Nationalismen in den Köpfen vieler türkeistämmiger Jugendlicher und Erwachsener in Deutschland ist ein Teil der Folgen dieses Ausschlusses. Dieses Vakuum wird gefüllt durch Formen von Zugehörigkeiten aus den Segmenten des türkischen Nationalismus und Islamismus, die eine Anerkennung suggerieren. Es gab also weder eine breite Diskussion über Einbürgerungserleichterungen noch eine politische Diskussion über das eigene Selbstverständnis der pluralisierten Gesellschaft. Deutschland war durch die Wiedervereinigung unerwarteter Weise angewachsen – sowohl topographisch als auch mit Blick auf die Gesamtbevölkerung. Und Deutschland drohte trotz seiner Lichterketten plötzlich hässlich zu werden. Die Ermordung von Menschen in Deutschland während der 1990er Jahre, angetrieben von Hass und Rassismus, scheint von einem Großteil der Dominanzgesellschaft nicht mehr erinnert zu werden. Die Atmosphäre glich damals einer Endzeitstimmung: Endlich sagte mal jemand was. Endlich geschah mal etwas. Endlich wurde dort zugelangt, wo sich der Staat als normative Kraft vermeintlicher Weise aus seiner kultur- und ordnungspolitischen Verantwortung gestohlen hatte. Flugs wurden Erklärungen formuliert, die als Begründungen für die moralische und ethische Entgleisung, den sozialen Neid oder das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, ins Feld geführt wurden. Auch damals waren es bereits die ›Ängste und Sorgen der Bürger_innen‹, die es ernst zu nehmen galt. Dieses maue Erklärungsmuster aus den 1990er Jahren wird in den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Debatten zum x-ten Mal aufgekocht, und damit auch die Beschwörung eines nur in der Fiktion existierenden sozialen Phänotypus: Weil eben ›so viele‹ Anfang der 1990er Jahre in die Bundesre-

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publik flüchteten, sei es kein Wunder, dass die Situation eskalierte und die Menschen Angst hätten – schließlich sei das Boot ja voll, so die polemische Parole aus den Jahren 1991 und 1992 (Der Spiegel 1991: 18-21). Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien führte zu einer Fluchtbewegung von Menschen, die mitten in Europa um ihr nacktes Überleben kämpfen mussten. Die Internationale Gemeinschaft hatte gleich auf zwei Ebenen versagt: Sie konnte und wollte den Krieg mit den ersten Schüssen auf der Brücke in Sarajevo nicht verhindern, und sie konnte die Brutalität dessen, was sie nicht verhindert hatte, nicht eindämmen (Gow 1997, Sopjani 2013). Und heute, mitten in Europa, kämpfen wieder Menschen um ihr nacktes Überleben: Auf der Balkanroute, auf der Peterburgroute, in den verbliebenen Zwischenräumen geschlossener Grenzen, in der Türkei und vor allem auf dem Mittelmeer. Damals, nach der Wende, machte sich unter der türkeistämmigen Bevölkerung ein neues Unbehagen breit, welches greif barer war als die heute beschworenen abstrakten Ängste. Pläne gewannen an Gestalt, die Koffer in die ›Heimat‹ und damit in das für Viele eigentlich fremde Herkunftsland der eigenen Eltern wurden gepackt. Dabei war Deutschland doch das Zuhause. Der Begriff Heimat hingegen erschien zuweilen wie ein leeres Gefäß. Diese ›andere‹ Heimat war geprägt von der verklärten und romantisierenden Erinnerung der Eltern – wurde in dieser Vagheit für die Nachkommen aber doch zu einer abstrakten Gefährtin. Die Furcht vor weiteren Anschlägen klang dann allmählich ab; was blieb war eine Narbe, die sich bestenfalls bei einem Wetterumschwung spürbar macht – und dies auch nur bei den Wetterfühligen. Jene Furcht wurde dann abermals schockartig wieder ins Bewusstsein gehoben, als bekannt wurde, dass es sich beim Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) um manifesten und strukturell weit verzweigten Terrorismus handelte. Nun schlug die türkeistämmige Teilöffentlichkeit Alarm: Wieder war es Zeit darüber nachzudenken, ob es nicht besser wäre, ›zurück‹ zu gehen. Nur kurze Zeit später wurde klar, dass die Beachtung und Bewertung von Angst nach einer Art Zweiklassen-System funktioniert: Im Duktus des gegenwärtigen Diskurses wird Angst ersetzt durch den Begriff ›Sorge‹ und erweitert um den Adressaten des unbescholtenen Bürgers, der ernst genommen werden müsse. Die bloße Formulierung des Begriffs ›Sorge‹ reicht offenbar seit den Demonstrationen aus, zu denen unterschiedliche Gruppierungen wie PEGIDA seit 2014 aufgerufen haben, um politische Ansprüche zu legitimieren, die sich außerhalb des demokratischen Rechtsbewusstseins befinden und auf islamfeindlichen und enthumanisierenden Parolen basieren. Völkische, nationalistische und rassistische Forderungen sind mehr denn je salonfähig. Ein imaginäres Beziehungsohr aus der politischen Elite wird zum einen herausgefordert und zum anderen sinnentleert eingefordert. Die ›Sorge‹ dient hier als Konstruktionsmotiv der sich als rechtschaffen empfindenden Wähler_innen,

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um vom evidenten Rassismus abzulenken. Sie dient dazu, rechten und faschistischen Stimmen in der Öffentlichkeit Räume und auch Sendezeiten zu geben, wo sie ihre kruden Positionen wiederkäuen können. Und dies in einer solchen Einfältigkeit, dass einem das Blut vor schierer Wut und Ohnmacht durch den Bauch und in den Kopf schießt. Worte sind mächtig. Und jeder nur einzeln gewaltvoll geäußerte, wenngleich im Nachhinein relativierte, dann aber wieder neu konstruierte Satz, jede Aussage, jedes nur einzeln geschriebene Wort in dieser Form führt zur Stabilisierung der beschriebenen Diskurse und ihrer Effekte. Dabei wird die Aufmerksamkeit an jene vergeudet, die das Grundgesetz und die Demokratie aushebeln wollen – und damit just jenes System, dem sie ihre Sitze in Kommunal- und Landesparlamenten zu verdanken haben. Erforderlich ist eine kämpferischere Aufmerksamkeit dagegen und ein entschiedeneres Dafür, für mehr Freiheit und mehr Demokratie, auch wenn sie noch so kompliziert sind. Es geht nicht um Toleranz, sondern um das Einstehen für mehr Gleichberechtigung und mehr Partizipation. Wir benötigen mehr Mut, mehr Freundlichkeit und Achtung für diejenigen, die geschützt werden müssen, die marginalisiert werden, deren Stimmen ungehört und deren Angst und körperliche Furcht unbemerkt bleiben (Coates 2015). Wo bleibt die Wahrnehmung der Angst, der Sorge und der Furcht der Bevölkerung nichtdeutscher Herkunft im Zusammenhang mit dem NSU? Was passiert mit Menschen, die erfahren müssen, dass sie aufgrund rassistischer Zuschreibungen und Stereotype als weniger schützenswert angesehen werden, obwohl sie Teil der hiesigen pluralistischen, diversen und multireligiösen Einwanderungsgesellschaft sind? Was ist mit der Angst und Wut all jener, die sich gegen den medialen Usus stellen, rassistische Akteur_innen einzuladen und eine sinnlose Auseinandersetzung zu erzwingen? Was ist mit denjenigen, die für deutlich mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Partizipation eintreten – und deren Porträts auf rechten Webseiten verunstaltet und mit Morddrohungen versehen werden? Der Begriff ›Dönermorde‹ diente der Öffentlichkeit als bagatellisierendes Motiv, um so die unaussprechlichen rassistischen Taten zu exkulpieren. Rassismus geht stets mit der Deutungsmacht und der Kontrolle über Körper einher, die als nicht-zugehörig stigmatisiert werden (Coates 2015, Fanon 1992). Über den dehumanisierenden Effekt des Begriffs ›Dönermorde‹ wurde nach der Aufdeckung des NSU-Netzwerkes ausreichend diskutiert, vor allem im Zusammenhang mit der Medienberichterstattung. Erwähnt sei an dieser Stelle aber noch, dass die türkische Tagespresse den Begriff ›Dönermorde‹ von Anfang an unreflektiert übernahm und lediglich ins Türkische übersetzte. Eine ergebnisoffene Ermittlung hätte den Hinterbliebenen unsäglich viel Leid erspart und eine Trauerzeit ohne zusätzliche polizeiliche Verdächtigungen ermöglicht. So aber führten die schleppenden Ermittlungen zu einer

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Selbstvergewisserung des Status der Dominanzgesellschaft, ohne sich mit der eigenen Gewaltbereitschaft, dem eigenen Rassismus und der Kriminalität im ›eigenen‹ Untergrund auseinandersetzen zu müssen. Die Gewalt wurde in einem migrantischem Milieu imaginiert. Im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen während der Silvesternacht in Köln 2015 wurde der arabischsprachige Begriff taharrush jama’i im Sinne von »gemeinschaftlicher sexueller Belästigung« vom Bundeskriminalamt in den öffentlichen Diskurs eingebracht (Lutz 2016). Wohl auch deshalb, um dem Gewaltphänomen während der Silvesternacht unter Rückgriff auf die Herkunft der zu dem Zeitpunkt mutmaßlichen Täter einen Namen geben zu können. Diese Vokabel zirkuliert seitdem in deutschsprachigen sowie in weiteren europäischen Medien. Ihre Beanspruchung dient vor allem dazu, einen Zusammenhang zwischen dem zugeschriebenen Herkunftskontext der Täter einerseits und andererseits der spezifischen Form der sexuell ausgeübten Gewalt herzustellen – der von Gewalt und Herkunftsmilieu beim Begriff ›Dönermord‹ übrigens nicht unähnlich. Die Vokabel dient zur Arabisierung und Islamisierung sexueller Gewalt im öffentlichen Raum, indem das sexuelle Gewaltpotenzial der Männer in der Dominanzgesellschaft ausgeblendet wird. Offenbar bedurfte es eines erneuten Konstruktionsmotivs, um das Phänomen der sexuellen Belästigungen und Übergriffe genauer bezeichnen zu können, indem die sexuell ausgeübte Gewalt als andersartig und fremdartig markiert wurde. Die betroffenen Frauen und die Polizei berichteten von Männergruppen, die sich geschlossen um ihre Opfer scharrten und sie überfielen. Die Diebstahldelikte, die damit einhergingen, können mit den Begrifen taharrush jama’i oder taharrush jinsi nicht beschrieben oder gar erklärt werden. Ursprünglich wurde dieser Begriff von arabischsprachigen Aktivistinnen in den Menschenrechtsdiskurs eingebracht, um sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt benennen und definieren zu können (Berriane/Dennerlein 2016). Unterschiedliche Ereignisse von taharrush jama’i finden sich weltweit, und zwar unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit der Täter. Feministinnen im arabischsprachigen und im asiatischen Raum diskutieren das als prinzipielles gesellschaftliches Problem der Misogynie. Die dekontextualisierte Verwendung des Begriffs taharrush jama’i hat dagegen den Effek, dass sexuelle Belästigung und Gewalt durch Geflüchtete als ›importiert‹ gelten (Abdelmonem et al. 2016). Die imaginierte Sexualität der Anderen ist in dieser Logik aggressiver, brutaler und unmittelbarer als die Sexualität des ›weißen‹ Mannes (Kulaçatan 2013). Diese Form der Dekontextualisierung wird von Feministinnen und Autor_innen zusätzlich kritisiert, indem sie auf die gleichzeitige Ausblendung von europäischen Untersuchungen verweisen, wonach jede dritte Frau in Europa Opfer sexualisierter Gewalt geworden ist. Eine weitere Kritik richtet sich an die Verschränkung von sexueller Gewalt und rassistischer

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sowie islamfeindlicher Berichterstattungen in Europa. Neben der Konzentration auf die zum Teil nordafrikanische Herkunft der Täter, unter denen im Übrigen auch europäische Männer waren, wird die höchst fragwürdige mediale Darstellung und Inszenierung der betroffenen Frauen außer Acht gelassen: Pornografisch inszenierte körperliche Abbildungen von weißen, blonden und dem gängigen Schönheitsideal entsprechenden jungen Frauen dienten als Folie, um schwarze, folglich nicht-weiße und nicht-europäische Hände auf ihrer Scham und ihren Körpern sichtbar zu machen (Mecheril 2016). Das polnische Magazin »wSieci« bediente sich dieses Mythos, um gegen den Islam und in Europa lebenden Muslim_innen Stimmung zu machen. Hier fungierten dunkelhäutige behaarte Männerarme auf einer hellhäutigen blonden Frau als Antipode zum europäischen Mann. Ihr Körper ist eingewickelt in die europäische Fahne. Auf den dunklen Männerarmen sind Goldkettchen und in Goldtönen gehaltene Armbanduhren zu sehen. Auch italienisch- und englischsprachige Medien berichteten über die ›arabische‹ und ›islamische‹ sexuelle Gewalt, indem sie sich auf Deutschland bezogen. Die Körper weißer Frauen gilt es, zu beschützen, zu verteidigen; sie gilt es, gegen schwarze, andere, fremde Hände zu schützen. Es sind solchermaßen nationalistisch-biologistische Narrative, die der Legitimierung von Gewalt dienen: In Kriegen bedeutet die Vergewaltigung und die Vereinnahmung von Frauen die Sicherung der eigenen Nachkommenschaft sowie die Unterbrechung der Nachkommenschaft des Feindes und seine gleichzeitige Demütigung. Parallel dazu wird eine Folie über die abgebildeten Männer gelegt, deren Symbole – mit Blick auf die Bilder und Textüberschriften – aus dem Rassismus der Kolonialzeit und aus dem europäischen Faschismus des 20. Jahrhunderts stammen. Erinnert sei an dieser Stelle an judenfeindliche Bilder auf Postkarten im Dritten Reich, beispielsweise in Form von angedeuteten Vergewaltigungen und sexuellen Handlungen an weißen deutschen Frauen. Aber auch an Postkarten aus der Zeit der rassistischen Segregation in den USA, auf denen Lynchmorde an Afroamerikanern abgebildet wurden (Davis 1982). Frauen nicht-deutscher Herkunft sehen sich hingegen sowohl mit Rassismus als auch mit Sexismus konfrontiert (etwa Markwardt 2016). Sie werden in ihrer Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit eingeschränkt. Ihre Körper sind in steter Alarmbereitschaft. Die steigende islamfeindliche und misogyn motivierte Gewalt gegen Musliminnen im europäischen öffentlichen Raum findet jedoch kaum Eingang in den öffentlichen Diskurs. Dabei wird eine unsichtbare Trennlinie zwischen den schützenswerten und weniger schützenswerten weiblichen Körpern gezogen. Frauen, die der Dominanzgesellschaft zugeordnet werden, werden vor ›schwarzen‹ Händen geschützt und unter männlich-weiße paternalistische Kontrolle gebracht. Ihre Körper, die mit Reproduktion assoziiert werden, werden einer völkischen und nationalen Scha-

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blone unterworfen, die wiederum den Schutz der Gemeinschaft verdient. Feministische Autorinnen, Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen reagierten prompt und öffentlichkeitswirksam auf das Framing der Berichterstattungen in Bezug auf die Silvesternacht. Sie mahnten zu Recht an, sexuelle Gewalt und Gendergerechtigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Harsche misogyne Kritik sowie entsprechende ›Trolle‹ in sozialen Netzwerken und Internet-Medien ließen nicht lange auf sich warten. Ein scheinbarer Ausnahmefall also, was die Forderungen der Aktivistinnen betrifft, sexuelle Gewalt als gesamtgesellschaftliches Querschnittsthema anzuerkennen und dagegen vorzugehen? Mitnichten: Die Online-Ausgabe des Spiegels bat im Januar 2016 ihre Leser_innen darum, über sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz in Deutschland zu berichten. Laut Spiegel Online sei die Zahl der Zuschriften erdrückend gewesen. Frauen und Männer schilderten anonym ihre Erfahrungen und sexuellen Demütigungen, die sie an ihrem Arbeitsplatz erlebten. Für alle Betroffenen ist grundlegend, dass Sexismus auf der Ausnutzung von hierarchischen Strukturen basiert, indem die als unterlegen konstruierte Person aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit und -identität abgewertet wird. Gleichzeitig wird ihre sexuelle Verfügbarkeit unterstellt. Zu diesem hierarchischen Gefälle gehören überdies Abhängigkeitsverhältnisse, welche die missbräuchliche Intention verstärkten (Kulaçatan 2013). Die Schauspielerin Renan Demirkan wies während einer Einladung der Grünen im bayerischen Landtag anlässlich des Internationalen Frauentags im März 2016 darauf hin, dass es am Kölner Bahnhof »nie richtig schön« sei; sie selbst sei in dieser Nacht rein zufällig dort gewesen und habe sich über die aggressiv aufgeladene Stimmung gewundert. Sie erwähnte auch, dass sie den Karneval in Köln aufgrund früherer sexueller Belästigungen und Übergriffe vermeide. Ein Blick in die Männlichkeitsforschung tut hier Not. Denn es verweist auf eine zusätzliche Problematik, die in der Öffentlichkeit eine randständige Rolle einnimmt: Zwanghafte Gewalthandlungen, die sich unmittelbar auf die Stabilisierung körperlicher Befindlichkeiten bei männlichen Gewalttätern auswirken, sowie ihr Zusammenhang mit sexueller Gewalt und extremistischen Gewaltideologien sind untererforschte Phänomene. Die sexuellen Übergriffe sowie die Diebstähle während der Kölner Silvesternacht sind Teil eines devianten und gleichzeitig sozial akzeptierten männlichen Verhaltens: Es dient der Kontroll- und Ventilfunktion innerhalb der eigenen Gruppe. Die zuvor fehlende Fähigkeit der Teilhabe an der Konsumgesellschaft wird gewaltsam erschaffen. Laut Pierre Bourdieu (2005) handelt es sich hierbei um eine Auseinandersetzung zwischen Männern, und zwar um Macht, Einfluss und Ehre. Die Dominanz über Frauen ist dabei eine Voraussetzung männlicher Kämpfe (Lutz/Kulaçatan 2016). Die Eigentumsdelikte gestatten einen spezifischen Konstruktionsmodus von hegemonialer Männlichkeit, die mit kriminellem Verhalten quasi zurück-

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erobert wird. Effiziente Vorbilder gibt es hier zur Genüge. Beispielhaft sind der Missbrauch von Firmenkapital für Bordellbesuche der Chefetage eines großen deutschen Autobauers oder die organisierten ›Sexparties‹ etwa von Silvio Berlusconi und Dominique Straus-Kahn (ebd.). Der jüngste bekannte Fall betrifft einen deutschen Landtagsabgeordneten: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Politiker wegen sexuellen Missbrauchs, da er ›Sex‹ gegen Bezahlung mit mindestens einem minderjährigen Mädchen hatte (Reister 2016). Die extremste Form der Rekonstitution von Männlichkeit sind Tötungsdelikte sowie öffentlichkeitswirksame kollektive Gewalt, so wie das beispielsweise bei Gruppenvergewaltigungen geschieht (Lutz/Kulaçatan 2016). Die Ausschreitungen während der Silvesternacht in Köln nutzten femonationalistische (Begriff nach Farris 2011) Agitator_innen in der Öffentlichkeit und in der Politik für sich aus, indem sie die Geschlechterverhältnisse in die Mitte der Konstruktion eines antimuslimischen Rassismus stellen. Hier geht es um die Indienstnahme feministischer Ziele durch rechtspopulistische Parteien und Akteur_innen. Çetin hält fest, dass die »Hypersexualität und die Vergewaltigungsbereitschaft des arabischen und nordafrikanischen Mannes seit der Silvesternacht und den sexuellen Übergriffen in Köln und anderen Städten zur banalen Definition des ›Morgenländischen‹« gehöre. »Diese klare rassistische Abgrenzung wird fast auf allen Ebenen der Gesellschaft auch gewaltbereit vollzogen. […] Gewalt, Diskriminierung oder auf der institutionellen Ebene Abschiebung sind nur einige Beispiele jüngst durchgesetzter Antiflüchtlingspolitik.« (Çetin, 2016) Allerdings muss hier einschränkend festgehalten werden, dass der Femonationalismus vergleichsweise fest in der hiesigen Gesellschaft verankert zu sein scheint: Die Ergebnisse der aktuellen Leipziger Mitte-Studie zeigen, dass synchron mit Akzeptanz von Chauvinismus die Ablehnung Homosexueller einhergeht, und dass die Diskriminierung von Frauen in Deutschland stark relativiert wird (Decker/Kiess/Brähler 2016). Zu erwarten ist, dass Rassismus und Sexismus zunehmen werden und dass die humanitären Anliegen von Geflüchteten weiterhin größtenteils ignoriert werden, so wie die Transformation der hiesigen Gesellschaft verhindert werden. Die langjährige politische und historische Eigenverantwortung europäischer Staaten hinsichtlich der Gründe, die zu den regionalen Destabilisierungen und zu den weltweiten Migrationsbewegungen führen, wird weiterhin nicht adäquat adressiert. Es ist zudem mit weiteren Geflüchteten zu rechnen: Menschen, die aufgrund von Umweltzerstörungen und Klimawandel ihr Zuhause verlieren und keine Nahrungs- und Lebensgrundlagen mehr besitzen. An dieser Stelle sei folgende Anmerkung erlaubt: Wir erlauben es uns, jedes Mal neun Liter Trinkwasser durch die Toiletten zu spülen, ohne dass wir eine Strategie für diejenigen hätten, die für einen Schluck Wasser neun Kilometer laufen müssen.

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Woher nehmen Teile der europäischen Politik sowie Teile der europäischen Gesellschaften die Sicherheit und Gewissheit, dass sich die Boote mit Flüchtlingen nicht irgendwann von Norden nach Süden über das Mittelmeer bewegen – zumal ihre Forderungen nach weiteren Grenzschließungen und Abschottungsstrategien auf diese Haltung schließen lassen könnten? Der Gleichzeitigkeit der aktuellen Phänomene, dem Rechtspopulismus in Europa sowie dem Erstarken von (regionalen) Nationalismen kann nur begegnet werden, indem die Deutungshoheit nicht populistischen Vereinfacher_innen überlassen wird. Gefordert ist der Einsatz wider die Angst und für den Schutz derjenigen, deren Seelen und Körper durch den Rassismus verletzt werden.

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Die verkannte Angst des Fremden

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Bedroht, angstvoll, wütend Affektlogik der Migrationsgesellschaft Paul Mecheril & Monica van der Haagen-Wulff »White, masculinist science and epistemology – that is, the basis of Western thought – has been constructed within a set of conceptual dichotomies that gives ›man‹ dominance over the natural world: mind is separated from body, culture from nature, reason from emotion, knowing from being, self from others, objectivity from subjectivity. In each pair, to quote Sandra Harding […], ›the former is set to control the latter, lest the latter threaten to overwhelm the former, and the threatening ›latter‹ in each case appears to be associated with the ›feminine‹ in social hierarchies of masculine dominance, or with non-Europeans in the case of racial dominance‹.« (Ware 1996: 137)

1. D er bedrohliche S e x der A nderen – historische K onte x tualisierung Die Ausübung von Lynchmorden im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika während der Wiederauf bauphase nach Kriegsende zwischen 1880 und 1930 wurde zu einer oft praktizierten, sozial akzeptierten Strategie des Terrors, bei der über 3000 Amerikaner, afrikanischer Herkunft, nach oftmals brutaler Folter durch Lynchen starben (Ketelsen 2000). In dieser Zeit konnten freie afroamerikanische Männer, ehemalige Sklaven, zum ersten Mal in gewissem Maße sowohl ökonomisch von ihrer eigenen Arbeit profitieren als auch am politischen Leben teilnehmen. Diese neue ökonomische Konkurrenz durch die auch politische Partizipation von ›freedmen‹ beunruhigte die bis dahin als unangefochten verstandene weiße Vorrang- und Herrschaftsstruktur und wurde als eine Art Bedrohung dieser Ordnung von denen wahrgenommen, die von dieser Ordnung profitierten (Nagel 2003). Auch die Angst besonders bei Weißen aus dem Süden, dass freie ehemalige Sklaven die Schlechtbehandlung und sexuelle Gewalt gegen schwarze Frauen während der Sklaverei zu sühnen suchen würden, intensivierte das Gefühl der Bedrohung (Gunning 1996). Im Fall der vom Klu Klux Klan an Henry Lowther, einem ehemaligen Sklaven, ausgeführten Kastration und Androhung eines Lynchmordes im Jahre

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1870 waren es seine politische Partizipation in der Republikanischen Partei und sein erfolgreich aufgebautes Lebensmittelgeschäft, das als Umkehrung der ›natürlichen‹ Ordnung und darum als Bedrohung der weißen Dominanz aufgefasst wurde. Die Rechtfertigung des Verbrechens des Klu Klux Klans waren die von Henry Lowther angebliche ausgeübten »sexual disrespect for and illicit relations with white women« (Nagel 2003: 113). Der Topos der Verletzbarkeit weißer Frauen durch den Sex schwarzer Männer »provided cover for white efforts to stop economic competition between whites and blacks, and served as a convenient excuse for white men to reassert their control over black men« (ebd.: 112). Der Sex der Anderen wurde in besonderer Intensität in dem Augenblick als bedrohlich inszeniert und, das schließt sich nicht aus (Manderson/ Jolly 1997), erlebt, als der Andere nicht ebenbürtig, jedoch zu einem potenziellen ökonomischen und politischen Konkurrenten geworden war, zumindest zu werden drohte. In der Zeit vor dem Civil War wurden Afroamerikanische Sklaven eher als ›overabundant‹ (Nagel 2003: 109), mit einer überreichen Körperlichkeit ausgestattet und weniger als sexuell gefährlich imaginiert. Der Sex zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern wurde von weißen Männern vor allem als Ausdruck der von niederer Klassenzugehörigkeit vermittelten moralischen Verdorbenheit der Frauen verstanden und abgewertet: »white ideology about lower-class female sexuality overshadow ideas about the dangers of black male sexuality« (Hodes 1993: 60). Die Kontexte sind also entscheidend dafür, wie die Körper afroamerikanischer Männer und die Körper von Frauen konstruiert, mit Bedeutung und Affekten versehen werden. Die Anklage der Vergewaltigung weißer Frauen durch afroamerikanische Männer wurde nach dem Civil War zum wichtigen Argument der Rechtfertigung und Verteidigung weißer Täterschaft gegen Schwarze1. Wenn es so ist, dass der Sex zwischen weißen Frauen und nicht-weißen Männern auf Formen der Gewalt kolonisierter Männer gegen weiße Frauen beschränkt ist, dann ist der Grund geschaffen, die Bedrohung und die Bedrohenden als solche zu kontrollieren, zu bestrafen und schließlich auszusondern. In diesem männlichen Sex-Wettbewerb wird der Körper der weißen Frau zum Schlachtfeld und die symbolische sexuelle Besitzergreifung ihres Körpers die Trophäe der Eroberung. Weiße Kolonialherren hatten ein begründetes und verständliches Interesse, diesen Wettbewerb zu gewinnen, um ihre Glaubwürdigkeit als ›überlegene Rasse‹ und Kolonialmacht und den Anspruch auf die Verfügbarkeit über die Körper aller, auch der schwarzen und weißen Frauen aufrechtzuerhalten. Weiße Frauen, die Formen sexueller Handlungsmacht an den Tag legten, stellten eine schwerwiegende Bedrohung für den Kolonialherren dar, weil sie damit seine Machtstellung in Frage stellten (McClintock 1995, Stoler 1997, Ware 1996). Sich als Frau für einen nicht-weißen Mann zu entscheiden, war eine Zurückweisung des Empires und eine Verneinung seines

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kulturellen Fundaments (etwa Dietrich 2007, Grosse 2003, Kundrus 2003, Wildenthal 2001). Die Sexualisierung der Anderen und die Zuschreibung der Bedrohung, die von ihrer Sexualität ausgeht und zwar insbesondere für unsere Frauen, ist eine Praxis, die nicht exklusiver, aber charakteristischer Bestandteil solcher gesellschaftlichen Kontexte ist, die unverhüllt rassistisch sind, wie die USA vor etwa 100 Jahren. Die sexualisierte Bedrohungsinszenierung ist aber auch kennzeichnend für solche Kontexte, die in einer rassistischen Tradition stehen, von der sie sich zwar formell entschieden abgesetzt haben, die gleichwohl wirksam ist, wie das Deutschland der Gegenwart. Die kulturelle Bereitschaft, den Anderen erstens zu sexualisieren, zweitens den Sex des Anderen als mächtig und gewaltvoll zu phantasieren und darin als Bedrohung zu erleben sowie drittens diesen phantasierten Sex des Anderen nicht nur als Grund und Rechtfertigung für den eigenen Affekt, die eigene Wut auszugeben, sondern vielmehr auch als Beweisgrund für die Notwendigkeit des disziplinierenden, sanktionierenden Zugriffs auf Andere und ihrer Kontrolle, sind die drei Momente der Affektlogik 2, die gegenwärtig nicht nur im AfD-Milieu, sondern auch in Anti-AfDMilieus, im besorgten Sprechen von Eltern und Beziehungspartnern anzutreffen sind (die Ergebnisse der sogenannten Mitte-Studie: Decker/Kiess/Brähler 2016). Unsere These an dieser Stelle ist, dass erst die historische Kontextualisierung dieser Affektlogik, ihre Aufklärung sozusagen, es möglich macht, sich zu der Herkunft und zum dominanzkulturellen Sinn der eigenen Affekte in ein auf diese Einfluss nehmendes, kultivierendes Verhältnis zu begeben. Damit wäre die Grundlage geschaffen, die Welt etwas klarer zu sehen – auch die sexuelle Gewalt in ökonomisch deklassierten Milieus (in denen sich statistisch häufiger Nicht-Weiße finden) und auch die sexuelle Gewalt in ökonomisch besser gestellten Milieus (in denen sich statistisch häufiger rassistisch nicht Diskreditierbare finden).3 Freilich ist die öffentliche Artikulation rassistischer Bilder und Wendungen in formell antirassistischen gesellschaftlichen Kontexten deutlich komplizierter, da die erwartbare Ächtung nicht nur rassistischer Darstellungen, sondern auch der Sprecherin oder des Autors von diesen bestimmte präventive oder auch Nachsorge-Maßnahmen erforderlich machen und auch die Lust, die an die rassistische Artikulation geheftet ist, die an ihr klebt, nicht nur verringert und einschränkt, sondern fade werden lässt. (Und was ist Lust, wenn sie fade ist.) Entschuldigung, Leugnung, Singularisierung sind probate Mittel der Verhüllung. Auch ist es geschickt, auf Bilder zurückzugreifen. Sie wirken durchaus befreiend. Denn auf Bildern kann dargestellt werden, was nicht (mehr) gesagt werden darf, zum Beispiel, dass der schwarze Mann auf Grund seiner aus seinem Körper herausragenden Natur eine sexuelle Gefährdung unserer Frauen darstellt. Ein kleines heteronormatives Glück am Rande ist, dass die sexua-

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lisierte Thematisierung der weißen Frau in der Thematisierung des schwarzen Sex (des Sexes des Nordafrikaners) so ganz ohne Maßregelung möglich ist. Das Titelbild des Focus vom 8. Januar 2016: Wir haben es hier mit einer weidlich sexualisierten Darstellung einer Frau zu tun. Wir sehen den Körper einer nackten weißen, eher jungen, blondhaarigen Frau, deren Brüste von einem quer über ihren Körper verlaufenden roten Balken verdeckt werden, ihre Scham hingegen verdeckt ihre eigene rechte Hand. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Auf ihrem Körper sind, den Körper stempelnd, ihn in Besitz nehmend, fünf prankenartige Abdrücke von Männerhänden nicht in blauer, nicht grüner, sondern in schwarzer Farbe, ölig und schmutzig zugleich, zu sehen. Die Titelseite fragt: »Nach den Sex-Attacken von Migranten: Sind wir noch tolerant oder schon blind?« Diese Darstellung des Focus ist rassistisch, weil in reißerischer und aufdringlicher, Affekte herauf beschwörender Art und Weise Migranten mit Hilfe sexualisierter Darstellungen dämonisiert werden und darin zugleich ein Wir (Sind wir noch tolerant oder schon blind?) errichtet wird, das weiß ist. Das Titelbild spielt das Schwarz-weiß-Spiel. Die Anderen sind: schwarz, handgreiflich, gesichtslos, schamlos, gefährlich, schmutzig. Wir hingegen sind: weiß, rein, gefährdet, zivilisiert, schamvoll, erhaben. Das Wir, das sich fragt ob es tolerant oder nicht schon blind ist, und an den sich der Focus wendet, besteht aus weißen Frauen, die von schwarzen Migrantenhänden begrapscht werden, und weißen Männern, die unsere Frauen schützen müssen. Die medialen Darstellungen und öffentlichen Kommentare der Kölner Silvesternacht verweisen auf eine tief verwurzelte, historische Amnesie im Hinblick auf rassistische Wirklichkeit. Die subjektivierende und disziplinierende diskursive Praxis, in der Sexualität und natio-ethno-kulturell kodierte Position zusammengebracht werden, ist keineswegs neu. Sie folgt einer bewährten (Affekt-)Logik. Im Gegensatz zu mancher kritischen Feststellung zu den rassistischen Äußerungen, Verlautbarungen und Handlungen auch gegen rassismuserfahrungsbegabte Körper in den letzten Monaten, die dies nicht in den Kontext der Geschichte des Rassismus in Deutschland stellen, muss darauf hingewiesen werden, dass sich Deutschland historisch gesehen gut mit der Sexualisierung natio-ethno-kulturell kodierter Anderer und der Herstellung des schwarzen Sexes auskennt. Um sich dies in Erinnerung zu rufen, ist es nicht einmal erforderlich, sich aus dem Rheinland zu entfernen. Wir müssen lediglich eine Zeitreise in dieses Gebiet unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg unter französischer Besatzung unternehmen. Von den ungefähr 85.000 französischen Soldaten stammen circa 30.000 bis 40.000 aus den französischen Kolonien aus Nord- und Westafrika – Tunesien, Marokko, Algerien, Senegal, auch aus Madagaskar und einigen anderen Regionen. Hier, ähnlich wie im Köln der Gegenwart, war es ein einziges Ereignis, dass das Blatt wendete: ein

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marokkanischer Soldat schießt in eine Runde von Zivilisten und tötet dabei deutsche Staatsbürger (Wigger 2007). Die Konsequenzen dieses Ereignisses waren eine anhaltende, landesweit koordinierte Protestkampagne mit umfassender internationaler Unterstützung gegen die Präsenz von ›farbigen‹ Soldaten im Rheinland. Im nationalen Parlament bezeichneten die Parteien, mit Ausnahme der USPD und der KPD, diese Soldaten und Männer als »eine von exzessiven sexuellen Instinkten gesteuerte schwarze Brut, die das deutsche Volk rassisch verseuche. […] Die ›Wilden‹ sollten ›eine schauerliche Gefahr‹ für Frauen und Kinder darstellen, im besetzten Gebiet massenhaft Mitglieder der weißen Rasse vergewaltigen und somit den gesamten abendländischen Kulturkreis bedrohen« (Wigger 2007: 11). Sie wurden als »eine unauslöschliche Schmach«, »schwarzer Schrecken«, »eine schwarze Plage«, und »eine schwarze Schande« verunglimpft (ebd.: 11f.). Viele Politiker, unter anderem Friedrich Ebert und Adolf Köster, warben im Kampf gegen »die schwarze Schmach« um Unterstützung in der weißen Welt. Ihre Begründung bestand darin, dass »die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher/Bewacher einer Bevölkerung mit hohen mentalen Kapazitäten und großer wirtschaftlicher Bedeutung wie der Rheinländer die Gesetze europäischer Zivilisation« verletzen würde (ebd.: 12). Protestkampagnen fanden europaweit und in den USA statt, und die USamerikanische Eugenikerin und Verfechterin der weißen Vorherrschaft, Ray Beveridge, die in enger Zusammenarbeit mit dem deutschen Professor August Ritter stand, Leiter der von Deutsch-US-Amerikanern getragenen Steuben Society, appellierte während eines öffentlichen Vortrags im Münchener Löwenbräu-Keller leidenschaftlich an die deutsche Gesellschaft, die Lynchjustiz, wie sie in den USA praktiziert wurde, einzuführen, um die schwarze Bevölkerung unter Kontrolle zu halten (ebd.: 15). In der öffentlichen Propagandakampagne gegen die schwarzen französischen Soldaten im Rheinland, entzündete sich gesellschaftliche Empörung an der Bedrohung durch die unbändigen, lüsternen Körper inferiorer kultureller Position. Propagandistische Präsentationen in populären Zeitschriften, Zeitungen, Flyern, Postern, Postkarten, Briefmarken und auch kunstvoll handgefertigten und in Massen produzierten Kupfermedaillen in denen schwarze Männer als Sexualverbrecher, sexuell triebhaft, libidinös unkontrolliert, die Reinheit der Rasse besudelnde Vergewaltiger von weißen Frauen dargestellt waren, wurden zahlreich verkauft und intensiv konsumiert. In diesen Darstellungen wird den schwarzen Soldaten, die in Folge der meist brutalen Geschichte der Kolonisierung afrikanischer Regionen durch Frankreich schließlich zu Franzosen geworden waren, gewaltsam Menschlichkeit, Handlungsvermögen und menschliche Würde in einem letztlich von kolonialem Denken vermittelten und getragenen Versuch der Rechtfertigung und Aufrechterhaltung weißer Vorherrschaft auch in Deutschland abgesprochen. Wer die medialen Präsentationen der zeitgenössischen Ereignisse der

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Kölner Silvesternacht den Bildern der ›Schmach vom Rhein‹ an die Seite stellt, auch ohne Praktiken der Lynchjustiz in Nordamerika im Hinterkopf zu haben, erkennt die Ähnlichkeit der Muster, Rechtfertigungsstrategien, symbolischen Ordnungen und Repräsentationen. Allerdings werden diese Zusammenhänge in Deutschland nicht erinnert und nicht mit den zeitgenössischen (etwa Kölner) Diskursereignissen artikuliert; wir haben es hier mit einem institutionalisierten, historischen Gedächtnisschwund zu tun, mit einer, um es mit dem Konzept Ann Laura Stoler (2011) zu formulieren colonial aphasia. Abbildungen 1 und 2

Links: Das Titelbild des Focus vom 8. Januar 2016. Rechts: Zeichnung »Die Schwarze Schmach: Überfall und Vergewaltigung eines Rheinischen Mädchens durch einen Madagaskar Neger«, in: Franzosen im Ruhrgebiet. 10 Zeichnungen von A.M. Cay Berlin oz. 1923 (Wigger 2007: 87).

Die propagandistischen Bilder der barbarischen, unzivilisierten »ohrenabschneidenden schwarzen Soldaten« (Koller 2001: 208) wurden zunächst von den Franzosen verbreitet, dann aber von der empörten deutschen Öffentlichkeit, die sich unter als demütigend empfundener französischer Besatzung befand, aufgenommen (ebd.). Es waren die Darstellungen der Körper weißer Frauen in rassistisch dämonisierenden Kampagnen, die dazu dienten, die öffentliche Stimmung gegen afro-französische Soldaten zu mobilisieren. In einer klassischen Strategie wurden um eine moralisch empörte Befürwortung des Kampfes sowie eine Bereitschaft, sich in diesen zu begeben, sicher zu stellen, die Körper weißer Frauen diskursiv als unterdrückt und unterjocht, zugleich moralisch ehrenwert, keusch und rein, als unschuldige Hüterinnen der deutschen Nation und deren patriarchalen Schutz benöti-

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gend, inszeniert. Es ist dieser weiße, weibliche Körper, der zum Schlachtfeld wird, auf dem gewaltvoll die Grenzen von ›Rasse‹, Geschlechterverhältnissen, Nation und Klassenzugehörigkeit gezogen werden, die für weiße Frauen zur Subordination und für kolonisierte Männer zur gewaltvollen Exklusion und in extremen Fällen, wie bei der Lynchjustiz in den USA, auch zum Tod führen. Die Vermittlung von Rassekonzepten und rassifizierten Denken über Sex-Bilder und Sex-Diskurse hat (rassistische) Tradition (McClintock 1995; Ware/Back 1992), zugleich wird Sexualität durch Rassekonzepte, Nationalität und Klasse definiert und konstruiert: »Just as ethnicity is sexualised, sex is itself racialised, ethnicized and nationalized.« (Nagel 2003: 55) An diese gewaltvolle Logik der Erniedrigung und Abwertung, der Unterwerfung und Entmenschlichung schließen gegenwärtige Sex-Diskurse an. Männer werden mit Attributen wie ›nordafrikanisches Aussehen‹, ›schwarz‹, ›Migrant‹ belegt und als solche hervorgebracht, um öffentlich zu einer Bedrohung zu werden. Nicht-weiße Frauen, ihr Begehren und ihre (schlechten) Erfahrungen mit weißen oder nicht-weißen Männern, aber auch nicht-heterosexuelle Praktiken kommen in diesen Diskursen kaum vor. Die hier erkennbare Strategie sozialer Kontrolle und gewaltvoller Unterordnung ist darauf gerichtet, eine imaginierte, iterativ aufgerufene, weiß-europäische Überlegenheit mit heteronormativen, nordeuropäischen, weißen, christlichen, aufgeklärten Männern und gleich dahinter ähnlich markierten Frauen an der Spitze zu rechtfertigen und zu verteidigen. Heteronormativ-rassistische Macht- und Begehrensordnungen werden affektlogisch stabilisiert, indem der Andere als Bedrohung wieder und wieder angerufen wird. Gegenwärtige Bedrohungsszenarien und -inszenierungen knüpfen an historische Vorläufer an, führen diese fort, variieren und bekräftigen sie. Wie genau dies im Spannungsfeld von Kontinuität, Tranformation und Diskontinuität geschieht, wäre genauer an ausgesuchten empirischen Ereignissen zu untersuchen. Unsere Annahme ist hierbei, dass die gegenwärtigen Bedrohungsinszenierungen ihre Kraft und Energie letztlich über ihre geschichtliche Bewegungsbahn gewinnen und dass ein guter Teil des dunkeldiffus drängenden Bedrohungserlebens auch damit zu tun hat, dass diese Verbindung nicht thematisiert wird und damit kollektiv unbewusst bleibt. Sexuelle Potenz und Zügellosigkeit, Triebgesteuertheit der Anderen vor der Folie der Keuschheit und Unschuld unserer Frauen als Trägerinnen der überlegenen deutschen und westlichen Kultur, dieser Sex der Anderen ist ein prominenter Typ affektgetragener und affektgenerierender Bedrohungsinszenierung; ein anderer Typ, freilich vom ersten empirisch nicht immer klar zu unterscheiden, ist der der terroristischen Gefahr. Wie ist, wenn es sich bei sexueller oder terroristischer Gewalt faktisch oder vermeintlich um Gewalt durch rassistisch markierte Andere handelt, die Intensität des Affektes, die dieser Gewalt antwortet, die Heftigkeit der Bedrohung, das Ausmaß der Angst

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und die Entschiedenheit der Wut zu verstehen? Womit hängt andererseits das Abflauen und Verflachen der Angst zusammen, wenn es sich bei sexueller oder terroristischer Gewalt um Gewalt handelt, die faktisch oder vermeintlich nicht von rassistisch markierten Andere ausgeübt wird? 4

2. D ie F unk tionalität des A ffek ts »Die Terroranschläge am Brüsseler Flughafen und in der Brüsseler Metro sind ein weiteres Glied in der Kette menschenverachtender Gewalttaten, die wir seit Monaten immer wieder erleben. Die Attentäter haben mit den heutigen Anschlägen in Brüssel bewusst auf das Herz Europas gezielt und ihren blinden Hass auf unsere europäischen Werte gezeigt: auf unsere Demokratie und unsere Freiheitsrechte« (Horst Seehofer, 22. März 2016; www.csu.de/aktuell/meldungen/maerz-2016/anschlag-auf-dasherz-europas-und-unsere-europaeischen-werte)

Affekte und Sprechen in der deutschen Öffentlichkeit, die an rassistische Unterscheidungen zwischen einem natio-ethno-kulturell kodierten Wir und dem (in seinem Sex oder in seinem Terror) gefährlichen, unterbemittelten Nicht-Wir anschließen und diese Unterscheidungen bekräftigen, können als Praktik des Otherings/Selfings mit Rückgriff auf Bedrohungsinszenierungen und -szenen bezeichnet und verstanden werden. Es geht mithin um zwei Seiten einer Medaille: Imagination der Anderen und Sicherung von materiellen und symbolischen Ansprüchen. Die Affektinszenierungen, die wir gegenwärtig beobachten können, die Intensität mit der auf der einen Seite Bedrohung empfunden wird5 und auf der anderen Seite etwa die seit Jahren kontinuierlich steigende Gefahr, Opfer rassistischer Vorkommnisse zu werden,6 affektiv in der Öffentlichkeit weitgehend indifferent bleibt und dethematisiert wird, kann verstanden werden, wenn wir uns klarmachen, dass es um den Kampf um Herrschaft und Privilegien geht und dass in diesem Kampf Bilder und Imaginationen der Anderen notwendig sind. Drei idealtypisch voneinander abgrenzbare Momente des Affekts können hierbei unterschieden werden: (a) mit der Angst vor und der Wut auf die Anderen wird es möglich, berechtigte, zumindest unbequeme, nicht notwendig explizit formulierte, aber ›im Raum stehende‹ Ansprüche Anderer zurückzuweisen: Eine paradoxe Wut über das Leid der Anderen ist gegenwärtig vielen Menschen in Stimme, Mailgebaren und Gesicht geschrieben. Die Logik dieses Affektes kann mit Bezug auf den Typus von Antisemitismus vergegenwärtigt werden, der für Deutschland insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutsam gewesen ist und der ›Sekundärer Antisemitismus‹ genannt wird, also ein Judenhass nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex hat

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dies sarkastisch so auf den Punkt gebracht: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen« (Gessler 2006). In Anlehnung daran: Wir, die wir geopolitisch privilegiert sind, verzeihen den Geflüchteten, dem Abfall der Weltordnung (Bauman 2005, passim), den »disposable populations« (Balibar 2004), eine Ordnung, die nicht unwesentlich von westlichen Akteur_innen und Instanzen errichtet wurde und von der der Westen unermesslich profitiert, wir verzeihen den Geflüchteten nicht, dass sie leiden und uns mit ihrem Leid in den gut eingerichteten Vierteln unseres Wohlstands im wahrsten Sinne zu Leibe rücken. Deshalb müssen sie dämonisiert, herabgewürdigt und letztlich entmenschlicht werden. Die Dämonisierung der Anderen dient der Erhaltung einer globalen Ordnung. In dieser wurde der Wohlstand der privilegierten statistischen Minderheit auf Kosten der globalen Anderen errichtet und wird er auf ihre Kosten bewahrt. Das Europäische Fischereiwesen – die globale Müllentsorgungsindustrie – Mobiltelefone, die ohne Coltan aus dem Kongo nicht funktionstüchtig wären – die Menschen in den an Bodenschätzen reichen Ländern in Afrika leben in bitterer Armut nicht zuletzt auch auf Grund nationaler Lohnarbeitspolitik, auf die transnationale Unternehmen massiv, legal wie illegal, Einfluss nehmen – ökologische Verwüstung – …7 Die Bewahrung der »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2011) des Westens bedarf notwendig der Dämonisierung jener, deren leibliche Anwesenheit und deren narratives Vermögen (sie haben Geschichten über die Weltordnung zu erzählen) für die globale Minderheit wenig erträglich ist, weil es die Unerträglichkeit der Verhältnisse anzeigt, von denen diese Minderheit profitiert. Dem Kapitalismus geht somit (womöglich) nicht nur das für seine beständige Reproduktion notwendige Außen durch die ihm eigene zerstörerische Expansion und Totalisierung verloren (Dörre 2013), der Kapitalismus schafft paradoxerweise auch die Voraussetzungen, dass die als Schattenwesen des Außen Erscheinenden ins Innere gelangen und die Innen-Außen-Trennung bewusst werden lassen. Einigermaßen erfolgreich verhindert werden kann die Formierung dieses individuellen wie öffentlichen Bewusstseins durch die Dämonisierung und symbolische wie faktische Rückführung der Anderen in das Außen, dahin wohin, am besten von ihrem eigenen Willen geführt, sie gehören.8 (b) mit der Angst vor und mit der Wut auf die Anderen wird es möglich, die historische, politische, ökonomische Verantwortung Europas für die globalen Verhältnisse, von denen Europäer_innen relativ profitieren und die zu Flucht und Wanderungsbewegungen beitragen, nicht zu thematisieren und zu verschweigen: Bedrohungen vergemeinschaften. Die grundlegende Krisenhaftigkeit und konkrete Krisen eines natio-ethno-kulturell kodierten Wirs werden durch die In-SzeneSetzung der Bedrohung durch ein Außen, durch ein von außen Kommendes gemindert. Die Konstruktion eines ›gefährdenden Anderen‹ geht Hand in

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Hand mit der des ›gefährdeten Wir‹. Die Generierung von Bedrohung, ermöglicht hierbei »to align bodies with and against others« (Ahmed 2014: 72). Der Abfall der Weltordnung ruft in Erinnerung, dass Europas Wohlstand und seine in globaler Perspektive geltenden Privilegien weniger faktisch9, aber auf einer moralischen Ebene in Frage stehen. In der Dämonisierung der Anderen geht es darum, die eigenen Privilegien und die globale Ordnung, die diese ermöglicht, zu wahren und das heißt auch alle direkten und indirekten Infragestellungen dieser Ordnung zu verhindern, etwa, indem die Boten der Botschaft von der Ungleichheit in der Welt, von der Europa und auch Deutschland sich recht gut nährt, in Diskredit gebracht werden. In seinen Texten und auch in Artikeln und Aufsätzen wie »Insécurité sous la plume d’un barbare« setzt sich MC Hamé/Mohamed Bourakba mit Zusammenhängen von »colonial oppression, exploitation of migrant labour, police violence, and the scapegoating of impoverished urban communities of color in the name of ›zero tolerance‹ and the ›war on terror‹, painting a bleak picture of life in the cite’s« (El-Tayeb 2011: 39) auseinander. Nicht allein der Verweis und die Problematisierung der Polizeigewalt, die zu der Tragödie des in Frankreich lange öffentlich-medial und politisch nicht thematisierten Massakers von Paris 1961 führte, bei dem rund 200 antikoloniale Demonstrant_innen, hauptsächlich Algerier, von der Polizei ermordet wurden und das –auch nach den Anschlägen 2016 – den größten Massenmord im Nachkriegsfrankreich darstellt10 durch MC Hamé, sondern insbesondere der Zusammenhang, auf den er mit Blick auf gegenwärtige alltägliche Polizeigewalt gegen ›people of colour‹ in den cite’s herstellt, brachten den damaligen Innenminister, Nicolas Sarkozy, dazu, eine Klage gegen MC Hamé/Mohamed Bourakba wegen Verleumdung der Polizeikräfte auf den Weg zu bringen. Diese erste Klage wurde abgewiesen, weitere von Sarkozy eingereicht, zuletzt als Präsident Frankreichs, folgten; wegen einer Vielzahl von Belegen, die MC Hamé Aussagen bestätigten, wurden die Anklagen jedes Mal zurückgewiesen. Wie ist Sarkozys Hartnäckigkeit, Energie und durchaus aggressiv vorgetragene Verunglimpfung MC Hamés und einer nicht-weißen Kultur des Protestes zu erklären? »Actions like Sarkozy’s exemplified«, so führt Fatima El-Tayeb aus (2011: 40), »the last attempt to expel them and the past they represent from the clean image of (post)national identity that their very presence is perceived to taint. Hip-Hop is a logical culprit because it expresses challenges from the margins to the sanitized self-image of the centre more forcefully than any other medium, at the same time its violent rhetoric and macho imagery feeds (and is fed off) mainstream fears of violent men of color«.

(c) mit der Angst vor und mit der Wut auf die Anderen wird es möglich, das sakral-positive Selbstimago Europas zu bewahren und zu erneuern: Das Ausmaß,

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in dem in Deutschland und in Europa abfällig über geflüchtete Menschen, nordafrikanische Männer, über Muslime gesprochen wird, die Intensität, in der sexuelle und gefährliche Andere inszeniert werden, erklärt sich, wenn wir uns klarmachen, dass es etwas zu verlieren gibt, nämlich den Status materieller Privilegiertheit und ihre Selbstverständlichkeit, aber auch die Vorstellung einer inhaltlichen Vorrangstellung eines natio-ethno-kulturell kodierten Wir. Es ist – psychoanalytisch gesprochen – nicht allein so, dass an den, nicht zuletzt über Medienbilder, vielfach imaginierten Anderen (›arabisch‹, ›nordafrikanisch‹, ›muslimisch‹), dass an diesen phantasierten Anderen auch das bekämpft wird, was ich an mir selbst nicht zulassen darf (ich als Mann schimpfe so maßlos über den Chauvinismus des vermeintlich muslimischen Mannes, weil ich das, was ich an mir selbst nicht zulassen kann und darf, projektiv an ihm bekämpfe). Vielmehr ist der Affekt gegenwärtig so intensiv, weil es in ihm darum geht, das Eigene, vor allem in der Figur Europa in Überhöhung zu konservieren, es zu sakralisieren. Europa ist widersprüchlich, Europa ist ein Ort und Projekt der Barbarei, des Sklavenhandels, der Shoa, der ökologisch-ökonomischen Ausbeutung der Welt, des Kolonialismus und Europa ist Ort und Projekt der Aufklärung, der Menschenrechte und des Strebens nach einem guten Leben für alle. Europa ist also widersprüchlich (siehe Dhawan, in diesem Band). Freilich wird dieser Widerspruch im Sprechen über die Anderen aufgelöst und unterschlagen. Die Selbstüberhöhung Europas ist Kennzeichen und Bestandteil des Projekts Europa und zeigt darin (wie für ›Großimagination‹, insbesondere solche mit ausgeprägtem Überlegenheitsanspruch, üblich) Europas konstitutive Vulnerabilität und Krisenhaftigkeit an. Diese grundlegende Krisenhaftigkeit wird in spezifischen historischen Konstellationen besonders virulent und thematisch und darin zu einer konkreten Krise. Europa befindet sich aus mehreren Gründen in einer grundlegenden Bedrängnis und inszeniert sich unter Ausblendung oder sagen wir lieber im Spiegel der über 30.000 Toten im Mittelmeer, die dort ihr Leben als direkte Folge Europäischer Grenzpolitik verloren haben, als Ort des auserwählt Guten, der Werte, als Hort der Geschlechteregalität, der Menschenrechte und im Lichte und Spiegel einer ausgeprägten und zunehmenden sozialen Ungleichheit doppelzüngig als Raum der Gerechtigkeit. Für diese Inszenierung brauchen wir die Anderen, ihre Hässlichkeit, ihre Gefährlichkeit, ihre Unzivilisiertheit. An dem phantasmatischen Bild des natio-ethno-kulturell kodierten, muslimischen Anderen, seines Sexes und seiner Kraft, das in Europa und im Westen überhaupt – nicht erst seit dem elften September 2001 – errichtet wurde und fortlaufend aufgerufen wird, bestätigt sich Europa seines Vorzugs. Europas Zivilisiertheit bedarf der Unzivilisiertheit der Anderen, Europas heilige Unschuld bedarf des Sexes der Anderen. Möglich ist dies, da natio-ethno-kulturell kodierte Unterscheidungen ein religiöses Moment in sich tragen. Es ist die sakrale Dimension natio-ethno-

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kulturell kodierter Zugehörigkeitskontexte, die durch den Bezug auf das Religiöse besonders eindringlich mobilisiert werden können. Émile Durkheim (1981) hat Religion auf soziale Gemeinschaft rückgeführt, indem er als Grunddifferenz aller Religionen die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen eingeführt und das Sakrale letztlich als Symbolisierung der Gemeinschaft selbst verstanden hat. Ob dies dem Charakter des Sakralen im Allgemeinen gerecht wird, sei dahingestellt; Durkheims Religionsexplikation führt aber auf eine Spur, auf der wir Sakralität als Symbolisierungsmodus von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit verstehen können. Natio-ethno-kulturell kodierte Kontexte sind imaginierte Räume mit territorialer Referenz. Der Nationalstaat etwa ist ein politisch-imaginärer Zusammenhang, dessen Ziel es ist, ›den Willen‹ einer in einem bestimmten Gebiet lebenden Nation auszudrücken und ihre Interessen zu vertreten (Brubaker 1994: 53). Um dieser Zielsetzung zu entsprechen, ist es erforderlich, erstens einen allgemeinen Willen zu schaffen und zweitens an ihn zu glauben: Folgen wir dem israelischen Historiker und Politikwissenschaftler Shmuel Eisenstadt (2000), so findet im modernen Nationalstaat der Versuch seinen Ausdruck, die Spannung zwischen profaner und sakraler Welt zu überwinden. Der Nationalstaat ist »keineswegs nur ein säkulares Gebilde, sondern nimmt vielmehr die spirituellen Ansprüche der Religion auf, samt den Verpflichtungen, die das Individuum nun gegenüber dem Staat als dem Gesamten hat« (Knoblauch 2009: 35). Natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitspraktiken lassen mithin in einem beachtlichen Maße sakrale Verfahren der Sinnstiftung zu und benötigen diese. Auch aus diesem Grund findet gelegentlich ein Rückgriff auf das Religiöse statt, um das Natio-ethno-kulturelle und Derivate dieser diffusen, aber wirksamen Vorstellungswelt, wie ›Kulturkreis‹, ›Abendland‹, ›Europa‹ zu bestärken, oder um mittels des Religiösen das Natio-ethno-kulturelle zu bestätigen: »Es ist bezeichnend, dass die unmittelbare ›Reaktion‹ auf die Sichtbarkeit des Islam in Europa weniger die Verstärkung der christlichen Kultur ist als die des kulturellen und politischen Nationalismus.« (Ebd.: 37) Offensichtlich besteht ein wirksamer Modus der Bindung von Individuen an nicht vom Einzelnen überschaubare, anonyme Zusammenhänge einer imaginierten Großkollektivität aus zwei Operationen. Zunächst werden diese Zusammenhänge als nicht-kontingente und darin ihre Besonderheit gewinnende Zusammenhänge ausgegeben, an denen, zweitens, zu partizipieren mit einer individuellen Aufwertung im Sinne der Partizipation an einer außerprofanen Realität verknüpft ist. Die Bindung an und die Verbundenheit mit einem natio-ethno-kulturell kodierten Kontext lebt von Unterstellungen auf der Ebene sozialer Vertrautheit und Nähe, die zurückliegende Erfahrungen, eigene, aber auch vermittelte, so in eine Zukunft verlängern, dass diese verlässlich und vertrauenswürdig

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erscheint. Das imaginäre, natio-ethno-kulturell kodierte Wir ist somit auch ein phantasmatisches Wir, das in der Phantasie nicht allein, aber doch überwiegend positive Eigenschaften besitzt. Die als gemeinsam betrachteten und erfahrenen Besitztümer, wie auch ihre Pflege und Entwicklung eignet der Status, wertvoll zu sein. Die vorgestellte und alltagsweltlich bestätigte Verbundenheit imaginiert das ›gute Wir‹. Diese regressive Einbildung stellt die natio-ethno-kulturell kodierte Eingebundenheit in den Verweisungsrahmen früherer, grundlegend asymmetrischer Beziehungen der Bedürfnisbefriedigung und Sicherheit. Wenn dieses regressiv-phantasmatische Moment fokussiert wird und Wir-Verständnisse durch Steigerung des Regressiven mobilisiert werden, dann ist der psychologische Boden dessen geschaffen, dass »Millionen von Menschen für so begrenzte Vorstellungen [wie es Nationen oder das Abendland oder Europa sind] weniger getötet haben als vielmehr bereitwillig gestorben sind« (Anderson 1998: 16).

3. D as V orrecht, W ut und A ngst zu artikulieren »Er hat Zivilcourage gezeigt und bedrängten somalischen Flüchtlingen geholfen – und wurde danach selbst zum Opfer rassistischer Schläger. Ein 39-jähriger gebürtiger Münchner, selbst mit afrikanischen Wurzeln, ist am Freitagabend in Freimann von einer Gruppe junger Männer offenbar in eine Falle gelockt und mit einer Holzlatte niedergeschlagen worden. Anschließend traten die Angreifer brutal auf ihr am Boden liegendes Opfer ein, bis der Lagerist das Bewusstsein verlor. Mit schweren Gesichtsverletzungen liegt der Helfer jetzt in einem Krankenhaus […]« (Bernstein 2016: 28)

Sarah Ahmed erläutert die rassistische Struktur des sozialen Raums, indem sie die bekannte Szene aus Franz Fanons Buch »Schwarze Masken, weiße Haut« zitiert, in der ein kleiner weißer Junge, in seiner Angst, von dem schwarzen Mann gegessen zu werden, in den Armen seiner Mutter Schutz sucht und gerettet wird. Freilich ist es Fanon, der »fears the white child’s fear, who is crushed by that fear, by being sealed into a body that tightens up, and takes up less space« (Ahmed 2014: 69). Das Vermögen, der eigenen Angst einen Ausdruck zu verschaffen und für diese Artikulation ein Gehör zu finden, sind ungleichmäßig verteilt. Die privilegierte Affekt-, Wut- und Angstartikulation beschränkt den Raum der Anderen: »[F]ear works to restrict some bodies through the movement and expansion of others.« (Ebd.) Um die Affekte der Wut und der Angst in hoher Intensität und wiederholt öffentlich zum Ausdruck zu bringen, bedarf es einer doppelten Operation: Man muss den eigenen Affekt absolut setzen und darin die Verletztlichkeit und Empfindsamkeit der Anderen tilgen. Angst und Wut verstehen wir damit einerseits als affektive Erregung und andererseits als das kulturelle Privileg,

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diesen Affekt zum Ausdruck zu bringen, der sich von in dem Affekt zu Objekten/Körpern reduzierten Subjekten abwendet, weil sie mit Gefährlichkeit assoziiert werden und somit bedrohlich sind. Die kulturelle Bedeutung dieser Assoziation und Artikulation von Affekt, Gefahr, Körper erschließt sich durch Historisierung und das heißt für unseren Zusammenhang: durch Bezug auf rassistische, kolonial gebahnte Muster der Wahrnehmung und der Angst, die mit der Gefahr der anderen Körper assoziiert sind. Auf Grund welcher Bedingungen gilt wer als physisch und moralisch gefährlich (diese ›wer‹-Subjekte sind nicht einfach da, sondern werden mittels solcher Assoziationen hergestellt)? Wem kommt auf Grund welcher Bedingungen das Privileg zu, die eigene Angst (im öffentlichen Raum) als absolute Angst zum Ausdruck zu bringen? Der gesellschaftliche und historische Kontext, auf den die Bearbeitung dieser Fragen zu reflektieren hätte, ist ein Kontext, für den die Schwierigkeit, über Rassismus zu sprechen, besonders virulent ist und damit die Schwierigkeit, für rassistisch diskreditierbare Menschen über ihre Wut, ihre Schamgefühle, aber eben auch über Angst (etwa, dass den eigenen Kindern etwas zustoßen könne) zu sprechen. Insbesondere in Deutschland ist es nach wie vor nicht einfach, Rassismus als gegenwärtiges Phänomen zu thematisieren; denn der deutschsprachige Diskurs zu dieser Thematik wird durch eine Engführung von Rassismus auf den Nationalsozialismus und einer hegemonialen Weigerung bestimmt, Formen des gegenwärtigen Rassismus als Rassismus wahrzunehmen (etwa Rommelspacher 2009, Messerschmidt 2010). Aktuell zeigt sich dies beispielsweise in den massiv zurückweisenden Reaktionen auf Hinweise über strukturellen und institutionalisierten Rassismus, wie dieser im Laufe der Ermittlungen zu den Morden durch den NSU deutlich geworden ist (Schmincke/Siri 2013). In diesen Debatten zeigt sich, dass Hinweise, es handele sich bei Vorkommnissen – an denen auch öffentliche Institutionen und Akteure beteiligt sind – möglicherweise um rassistische Vorkommnisse, sehr schnell bzw. zuweilen automatisiert auf Zurückweisung stoßen. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Geschichte hat sich ein abwehrender Umgang mit der Bezeichnung und Analyse rassistischer Gewalt als rassistischer Gewalt etabliert, der zugespitzt dem Muster folgt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wo die Analysemöglichkeit der Kontinuität rassistischer Bilder und sprachlicher Unterscheidungen per se ausgeschlossen ist, entstehen Kontexte, in denen nicht nur schlicht Rassismuserfahrungen gemacht werden. Vielmehr handelt es sich zugleich um Kontexte, in denen solche Erfahrungen nicht zum Thema werden, nicht artikuliert werden können. Dadurch werden diese Erfahrungen nicht nur den Betroffenen abgesprochen, sie womöglich als individuell überempfindlich adressiert. Vielmehr wird, weil Rassismus nicht zum Thema wird, seine Wirkmächtigkeit konserviert. Diese Verhinderung der Artikulation von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen stellt eine

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Missachtungserfahrung dar, die als sekundäre Rassismuserfahrung bezeichnet werden kann (Çiçek/Heinemann/Mecheril 2015). Die verletzende Ansprache in den drei roten Balken, die den begrabschten und befleckten, nackten Körper der weißen Frau durchkreuzen: »Sex-Attacken von Migranten« – macht deutlich, was wir auch bei Alice Schwarzer in ihrem neuen Bestseller »Der Schock: Die Silvesternacht von Köln« erfahren können: »[D]iese Sorte von Männern« verband, dass sie »Nordafrikaner oder Araber, also Muslime […] überwiegend aus Marokko und Algerien, […] also aus Ex-Kolonien, die mit Europa noch eine Rechnung offen haben. bzw. Asylbewerber oder Illegale« (2016: 17f.) waren. Natio-ethno-kulturell signifizierte Andere werden durch die pauschalisierende, kollektivierende und herabwürdigende, also verletzende Ansprache zum Objekt gemacht, da sie beängstigende und bedrohliche Eigenschaften zu verkörpern scheinen. Weiße Frauen, besonders junge, blonde, weiße Frauen (ebd.: 10) sind edle, verletzliche, wertvolle, von Angst eingenommene und unbedingt zu schützende Körper. Ihre Väter, Mütter, Freunde, Ehemänner und die schutzbefohlene Gemeinschaft, die sich weiß und europäisch versteht, ist absolut besorgt und diese Besorgtheit wendet sich in Wut gegen die Bedrohung durch den Körper der Anderen (zu diesem Affekt-Mechanismus auch Hage 1998). Der öffentliche Aufschrei und die aus der diskursiven Silvesternacht resultierende Proklamation der gesellschaftlichen Bedrohung, ist in mehrfacher Weise produktiv: Sie schreibt die Bedrohung in die Körper der nordafrikanischen, arabischen, muslimischen Anderen ein und zieht eine Grenze, die deutlich macht, wer zu den bedrohten und wer zu den bedrohenden Körpern gehört: Der als bedrohlich markierte Körper verwirkt darin das Recht auf Artikulation. Wer unsere Frauen gefährdet, existiert nicht mehr, nicht weiter als in der Körperlichkeit der Bedrohung. Judith Butler verweist darauf, dass es Anreden gibt, die »the social possibility of a liveable existence« (2015: 177) unmöglich machen. Rassistische Anrede – ›Sex-Attacken von Migranten‹ – zerstört und verweist darauf, dass dies ein Leben ist, das nicht wert ist, zu leben. In dem Essay »Violence, Nonviolence: Satre on Fanon« behandelt Butler Satres Einführung zu Fanons Buch »Schwarze Haut, Weiße Masken« und die Verweigerung des Kolonisators den Kolonisierten mit »you« anzusprechen, als Gegenüber zu adressieren und ihm dadurch Menschlichkeit, den Status des Menschseins abspricht: »The face-to-face address of ›you‹ has the capacity to confer a certain acknowledgement to include the other in a potentially reciprocal exchange of speech; without that acknowledgement and possibility for reciprocal address, no human may emerge. In the place of the human, a spectre takes form, what Satre refers to as the ›Zombie‹, the Shadow figure who is never quite human and never quite not.« (2015: 175)

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Die Weigerung, den Anderen als ›you‹ zu adressieren und die Angst, Verletzlichkeit und auch die Wut des Anderen zu hören, ist was Butler als eine »deconstituting ontology or orchestrating a nonlivable life« (Butler 2015: 177) beschreibt. Mit Orlando Patterson kann dies als »social death« (ebd.: 177) oder in Achille Mbembes Worten als »living dead« (2003) verstanden werden. Der Tod der Anderen schafft die Bedingungen der Möglichkeit, die eigenen als kollektiv und individuell zugleich erlebten Affekte auszuagieren, und zugleich töten diese Affekte, machen sie stumm, lassen sie die Stimmen der Anderen im öffentlichen Raum nicht zu und werten sie ins Dämonisch-Monströse ab. Damit der Angst-Komplex (Affekt-Gefahr-Körper) funktioniert, muss der Ursprung und die historischen Dimensionen, die den Komplex gebahnt haben, einer historischen Aphasie und Dethematisierung unterzogen werden. So wird die Angst absolut und konkret. Die propagandistischen Bilder der gefährlichen, schwarzen Körper der Schmach vom Rheinland haften klebrig (Ahmed 2014) an den Körperdarstellungen der als nordafrikanisch und arabisch addressierten Männer11. Die formellen Strukturen des Wiederverwertens, des Recyclings von historischen Stereotypen und Bildern hat Butler in ihrem Buch »Exitable Speech« (1997) untersucht. Sie beschreibt, wie rassistische Sprache und rassistische Sprechakte als eine Art historische Selbstzitation (»citation of itself« [ebd.: 80]) verstanden werden kann. Die Sedimentierung und Musterbildung über die iterative öffentliche Inszenierung des Sexes der Anderen bewirkt nicht nur Affektivität, sondern ihre Selbstverständlichkeit in historischer Unvermitteltheit. Diese historische Aphasie ist möglich und die Ausblendung genealogischer Zusammenhänge besonders erfolgreich, wenn die vermeintliche Unmittelbarkeit des Affektes unmittelbar erlebt wird und der Umstand, dass Affekte als soziale und gesellschaftliche Phänomene verstanden werden müssen und dass dem Sozialen insgesamt der Status des historisch, symbolisch, politisch Vermittelten zukommt, ausgeblendet wird – ein ego- und ›ethno‹-zentrischer Regress. Auch die Unmittelbarkeit des Affektes ist eine vermittelte Unmittelbarkeit, aber der Affekt eignet sich besonders gut, diesem Vermittlungsverhältnis zu entgehen, weil die emotionale Erfahrung des Affekts (etwa die Angst) unbedingt und absolut erscheint, wodurch auch das angsteinflößende und -auslösende Gegenüber imaginär absolut und unbedingt gesetzt wird. In der impulsiv erlebten und in der entsprechend inszenierten Angst wird die Relationalität und Kontingenz des Sozialen zurückgenommen, wodurch meine Angst sowie der gefährliche, bedrohliche, dämonische Status des Gegenüber absolut werden. Jetzt kann man rasend werden.

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A nmerkungen 1 Wie sich herausstellte, waren Lynchmorde als Bestrafung von Vergewaltigungen eine sehr effektive Methode der sozialen Kontrolle, nicht nur über afroamerikanische Männer, sondern auch über weiße Frauen (Ketelsen 2000). Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren öffentliche Lynchveranstaltungen weitläufig bekannt gemachte, massenhaft besuchte, voyeuristische Zuschauerspektakel, die die hegemonialen rassistischen Herrschaftsstrukturen stabilisierten. Obwohl die Vergewaltigung weißer Frauen und die Ermordung weißer Frauen als offiziell dokumentierte Begründung für die Lynchmorde an afroamerikanischen Männern diente, lag diesen Morden doch ein klares politisches und ökonomisches Motiv zugrunde (Nagel 2003, Ketelsen 2000). 2 Der Ausdruck Affektlogik wurde 1982 vom Psychiater Luc Ciompi in seinem gleichnamigen Buch eingeführt, das psychologische und biologische Zugänge zu Empfinden und Affekt in ihrer Auswirkung auf das Verhalten Einzelner wie auf Kollektive zu integrieren sucht. Die Auseinandersetzung damit, in welcher Weise das Erleben und die Performanz von Affekten von der jeweiligen Position im auch durch Herrschaftsverhältnisse strukturierten gesellschaftlichen Raum vermittelt wird, taucht in dem Buch allerdings nicht systematisch auf. 3 58  % aller Frauen in Deutschland geben nach einer Studie des BundesFamilienministeriums von 2004 an, seit ihrem 16. Lebensjahr sexuell belästigt worden zu sein (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2014). Vergleichbare Ergebnisse für Deutschland das Jahr 2014 betreffend liefert auch die Untersuchung der Europäischen Grundrechteagentur zum Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Europa (ebd.). Der erste und häufigste Ort sexueller Belästigungen und Übergriffe sind dabei die eigenen vier Wände, die eigenen (zumeist männlichen) Familienmitglieder. Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen in Deutschland finden also vor allem zu Hause statt, seltener auf der Straße und seltener von Fremden. Das rassistische Bild des ›Sex der Anderen‹ lenkt hiervon ab; auch das ist eine seiner (kulturellen) Funktionen. 4 In einem mit »Das Sommerloch der Ignoranz« überschriebenen Kommentar geht Anetta Khana am 31. Juli 2016 in der Berliner Zeitung nicht auf das Attentat in München, bei dem neun Menschen ums Leben kamen, wohl aber auf die diskursiven Resonanzen ein: »Eines jedoch ist erstaunlich: die schreckliche Tat von München, der Terrorangriff auf junge Leute, ist aus der großen Aufregung, die die anderen Anschläge von Würzburg und Ansbach ausgelöst hatten, verschwunden. Nachdem München für Stunden zur belagerten Stadt geworden war und kalkulierende Hysteriker schon das Ende des Rechtsstaates forderten, weil ein islamistischer An-

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schlag vermutet wurde, wurde es sehr schnell ruhig, als sich herausstellte, dass der Täter kein Islamist war. Damit eignete sich diese Tat nicht mehr für den Terrorkomplex […] Es zeigt, was geschieht, wenn ein Ereignis nicht in die aktuelle gesellschaftliche Gefühlsnorm passt. Terror und psychische Krankheit schließen einander ja nicht aus. Wäre der Mörder Islamist, hätte die psychische Komponente seiner Tat vermutlich niemanden sehr interessiert. […] Der Täter war ein Fan von Breivik, der vor fünf Jahren 77 Menschen umbrachte und stolz auf seinen Rassismus war. Der Täter hat Einwanderer getötet und sein Zimmer war voll von rechtsextremem Propagandamaterial und Waffen. Er hat sich seines Hasses auf Türken und Araber gebrüstet und sich selbst dem arischen Herrenmenschentum zugerechnet. Mit anderen Worten: Der Mörder von München war doch ein Terrorist und zwar genau so, wie er es im Falle eines islamistischen Motivs gewesen wäre! Das Schweigen der Politik über diese Tatsache ist beunruhigend und gefährlich.« (www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/kom mentar-das-sommerloch-der-ignoranz-24483364; Zugriff am 1.8.2016) 5 Die Anzahl und das Ausmaß terroristischer Akte in Europa haben in den letzten 30 Jahren eher abgenommen; ganz zu schweigen davon, dass »die Wahrscheinlichkeit, beim Spazierengehen von einem herabfallenden Ziegel getroffen zu werden, weit höher [ist] als die, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden« (so Wolfgang Bonß 2015 in einem Interview in Zeit Online [www.zeit.de/wissen/2015-02/terrorismus-sicherheit-forschungdeutschland]) 6 So heißt es in einer Pressemitteilung des VBGR (Verband der Beratungsstellen für Betroffene Rechter, Rassistischer und Antisemitischer Gewalt e.V.) vom 09.03.2016: »In den ostdeutschen Bundesländern und Berlin haben sich die Angriffe von 782 auf 1468 nahezu verdoppelt. Mit NordrheinWestfalen legt erstmalig auch ein westdeutsches Bundesland unabhängige Zahlen zur Angriffssituation vor. 279 rechtsmotivierte Angriffe wurden in dem bevölkerungsreichsten Bundesland gezählt, 1747 sind es damit in der Summe. Mindestens 2237 Personen wurden 2015 in den sieben Bundesländern verletzt und massiv bedroht.« (http://verband-brg.de/index. php/presse/48-09-03-2016-pressemitteilung-1747-faelle-politisch-rechtsmotivierter-gewalt-in-ostdeutschland-berlin-und-nrw-unabhaengigeopferberatungsprojekte-veroeffentlichen-gemeinsame-statistik-fuer-2015; Zugriff am 10. August 2016). Weitere Informationen hierzu auch auf: Amadeu Antonio Stiftung: Initiative für Zivilgesellschaft und Demokratische Kultur (www.amadeu-antonio-stiftung.de/). 7 »›Es sind auch eure Waffen, vor denen wir fliehen‹. Ein Satz voller Wucht. Ein Mann in Malta spricht ihn aus, er sitzt vor einem doppelstöckigen Container in einem Flüchtlingslager. Der Mann kommt aus Syrien, er ist in einem Schlauchboot übers Mittelmeer geflohen – und wie viele andere

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Flüchtlinge weiß er, dass deutsche Waffen in Syrien töten. Es ist so offensichtlich: Sämtliche Kriegsparteien kämpfen, schießen, morden mit ihrer Hilfe. Die libanesische Hisbollah, kurdische Kämpfer, die Terroristen des ›Islamischen Staates‹: Sie alle nutzen Gewehre und Raketen, die in der Bundesrepublik entwickelt wurden. Vor allem das G3-Gewehr der Firma Heckler & Koch ist in zahlreichen Filmaufnahmen und auf vielen Fotos aus dem syrischen Bürgerkrieg zu sehen« (Friedrichs 2015). 8 Auf die Frage in einem Interview in der SZ am 27. Juli danach, wo das vereinbarte größere humanitäre Aufnahmeprogramm der EU bleibe, antwortet Johannes Hahn (Hahn ist seit 2014 EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen): »Die Frage ist, wie viele der syrischen Flüchtlinge überhaupt noch nach Europa wollen. Ich war ein paar Mal in Ostanatolien. Was wir dort gesehen und gehört haben: 50 Prozent der Syrer wollen in der Türkei bleiben, und 50 Prozent wollen wieder zurück in ihre Heimat, nach Beendigung des Krieges. Deshalb soll nun ein Teil der zugesagten drei Milliarden Euro für Sprachschulen für Erwachsene verwendet werden. Gleichzeitig wollen wir Mikrokredite bereitstellen, um das Gründen von Klein-Unternehmen zu erleichtern. Syrer und Türken haben den gleichen kulturellen und religiösen Hintergrund, sie unterscheiden sich nur in der Sprache. Wir haben bei unseren Besuchen eine einzige Person angetroffen, die nach Europa wollte, aus gesundheitlichen Gründen.« 9 Dazu besteht kein Anlass: Es ist gegenwärtig weder mit einem Krieg gegen Europa zu rechnen, der etwa von Afrika aus oder aus dem Nahen Osten geführt wird, noch damit, dass Europas Grenzregime in der Abschottung gegen Menschen und der Zurückweisung ihres Anspruchs auf Leben grundlegend versagt. 10 »Täglich wurden Dutzende gefesselter Leichen aus dem Fluß gefischt. In den Wäldern am Stadtrand entdeckten Spaziergänger aufgeknüpfte Menschen. Und im Sportpalast waren 6.600 Männer, von der Außenwelt völlig abgeschirmt, der entfesselten Wut einer Polizei ausgesetzt, die mit Gewehrkolben, Knüppeln und Ochsenziemern auf ihre wehrlosen Opfer eindrosch. All dies ereignete sich […] in der Hauptstadt einer westeuropäischen Demokratie, 16 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, genauer: in Paris am 17. Oktober 1961. Das Massaker, dem über 200 Algerier zum Opfer fielen, war in Frankreich bislang mit einem Tabu belegt, das nun gebrochen wurde dank dem Prozeß in Bordeaux, bei dem Maurice Papon, 1942 bis 1944 Generalsekretär des Departements Gironde, die Deportation von 1.690 Juden zur Last gelegt wird. Derselbe Maurice Papon war 1961 Polizeipräfekt von Paris. Allein im Innenhof seiner Präfektur wurden am 17. Oktober 1961 mindestens 50 Algerier totgeschlagen.« (Schmid 1997)

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11 Ahmed verwendet das von Satre übernommene Konzept des Klebrigen wie folgt: »The sideways movement of fear (where we have a metonymic and sticky relation between signs) is also a backward movement: objects of fear become substituted for each other over time. This displacement of objects also involves the passing by of the object from which the subject seems to flee. Fear creates the very effect of ›that which I am not‹, through running away from an object, which nevertheless threatens as it passes by or is displaced. To this extent, fear does not involve the defence of borders that already exist; rather fear makes those borders, by establishing objects from which the subject, in fearing can flee. Through fear not only is the very boarder between self and other affected, but the relation between the subject and its objects that are feared (rather than simply the relation between the subject and its objects) is shaped by histories that ›stick‹, making some objects more than others seem fearsome.« (Ahmed 2014: 67)

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Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaf t

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B ildnachweise Abbildung 1: Titelbild Focus. http://www.focus.de/magazin/archiv/jahrgang_ 2016/ausgabe_2/ (Zugriff 31/08/2016) Abbildung 2: Cay, A.M.: Franzosen im Ruhrgebiet. https://reader.exacteditions.com/issues/6450/spread/41 (Zugriff 31/08/2016) Race & Class: Journal on Racism, Empire and Globalisation, Volume 51, January – March 2010 – Number 3, p.36

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Die Entrechtung national, religiös oder rassistisch konstruierter ›Anderer‹ Historische Schlaglichter und gegenwärtige Formen Claus Melter

Im folgenden Beitrag werden aktuelle Formen der Entrechtung und Ungleichbehandlung ›Anderer‹ vor der Folie historischer Entrechtungen analysiert, um Echos, Veränderungen und Kontinuitäten von Entrechtung (die sicher je einer genaueren Analyse bedürfen) mit normativen menschenrechtlichen Ansprüchen der Integritäten aller Menschen zu kontrastieren und (Mindest-)Rechte für alle anzustreben. Wenn hier von der nationalen, religiösen und rassistischen Konstruktion der ›Anderen‹ die Rede ist, dann bezieht sich diese auf jene diffusen und wandelbaren Formen der Erzeugung des Gegenparts zu dem sich als säkular, vernünftig und zivilisiert stilisierenden, europäisch-›weißen‹, christlichen, jeweils auch nationalstaatlich definierendem ›Wir‹, das auf die Konstruktion genau dieser ›Anderen‹ angewiesen ist (El Tayeb 2001, Hund 2011).

H istorische S chlaglichter auf E ntrechtung und U ngleichbehandlung ›A nderer ‹ Hannah Arendt sprach nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der Millionen Personen, die offiziell oder de facto als Staatenlose galten, vom Recht darauf, Rechte zu haben: »Daß es etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, indem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen« (Arendt 2003: 614). Das Hauptproblem, das Hannah Arendt in Bezug auf das Thema der Menschenrechte sieht, so Lena Anlauf, »liegt im Inhalt der Menschenrechtserklärungen, wie sie bis zum damaligen

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Zeitpunkt proklamiert waren. Sie kritisiert, dass diese von vorneherein nicht durchsetzbar sind, da sie von einem unrealistischen Ausgangspunkt starten. […] Auch wenn die Menschenrechte für alle gefordert werden, wären sie in der Praxis doch nur Bürgerrechte. Die so formulierten ›Menschenrechte‹ sind nur Rechte für Menschen, die sich in sogenannt Rechtsgemeinschaften befinden.« (Anlauf 2007: 299) Arendt macht im Kontext von Menschenrechten auf den Widerspruch aufmerksam, dass Menschenrechte in der Regel nur von Nationalstaaten durchgesetzt werden, die Personen Zugang zum Rechtssystem erteilen. Allerdings sind es gleichzeitig wiederholt Nationalstaaten, die Menschen teils oder gänzlich entrechten (Arendt 2003: 619ff.). Erstens kann Entrechtung vollzogen werden, indem bestimmte Personen keinen Zugang zum Recht darauf, »Rechte zu haben« (Arendt 2003: 619) erhalten, sie also im Nationalstaat keinen Anspruch auf irgendwelche Rechte bekommen. Historische Beispiele können die Rechtlosigkeit von zu ›Vogelfreien‹ erklärten Personen (Wippermann 1997), von verfolgten Personen nach dem Vernichtungsbefehl von General von Trotha beim Völkermord an den Herero und Nama (Zimmerer 2011) oder die Situation in den Konzentrationslagern im Nationalsozialismus sein (Brumlik 2004). Zweitens kann der Zugang durch Einreise zu Rechtssystemen, in denen Mindestrechte formal und de facto für alle Personen durchgesetzt werden, verweigert werden. Und es können Menschen aus Ländern, in denen Mindestrechte für alle Menschen gewährleistet werden, ausgewiesen und abgeschoben werden. Zurückweisungen an Grenzen und Abschiebungen »sind die massivste Form der Exklusion aus unserer Gesellschaft« (Oulios 2015: 1). Hier ist ein eklatanter Unterschied zwischen dem formalen Recht (laut Grundgesetz das Recht auf Schutz von Leib, Leben und Freiheit, Genfer Flüchtlingskonvention und Aufenthaltsgesetz) zur realen Rechtspraxis festzustellen. Drittens gibt es Rechtssysteme, die Nicht-Staatsbürger_innen systematisch weniger formale Rechte als Staatsbürger_innen zugestehen. Zudem ist die Differenz von formalem Recht zur gerichtlichen, behördlichen und polizeilichen Rechtspraxis zu berücksichtigen. Eine Form der Verweigerung des Zugangs zu einem Rechtssystem ist die Verweigerung der Einreise. Klaus J. Bade weist auf die Konferenz von Evian 1938 hin, auf der Europäische Staaten entschieden, in Deutschland während des Nationalsozialismus verfolgten Personen nur unter sehr erschwerten Bedingungen Visa zu erteilen und die Ausreise aus Deutschland und die Einreise in das eigene Land zu ermöglichen. Den Vertrag zwischen der EU mit der Türkei, die Menschen auf der Flucht die Einreise in die EU verwehren soll, sieht er als Parallele: »Die Schande von Evian 1938 und die Schande von Brüssel 2016.« (Bade 2016) Als nur zwei von vielen Bedingungen von ausgeübten Völkermorden kann in historischer Analyse zum einen die öffentlich-diskursive Einteilung in

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unterschiedliche Menschengruppen angesehen werden und zum anderen die Abwertung oder gar die Dehumanisierung1 von Gruppen gegenüber der Bevorzugung und Idealisierung der national und oder rassistisch konstruierten ›Wir‹-Gruppe (Patemann/Mills 2008). Dies sind oftmals Vorstufen für eine gedanklich und dann real ausgeübte Gewalt gegen ausgegrenzte Gruppen (Semelin 2007). Götz Aly skizziert in seinem Buch »Warum die Deutschen? Warum die Juden?« (2012) wie die Juden und Jüdinnen aus dem Deutsch-Sein in Diskursen zwischen 1800 und 1933 hinaus definiert wurden und ihnen die ›christlich‹ und ›deutsch‹ definierte Mehrheitsgesellschaft gegenübergestellt wurde. Diskutiert wurde, wie viele Juden und Jüdinnen in Deutschland leben sollten, ob und welche Rechte sie haben sollten und ob Anschläge gegen Jüdinnen und Juden und falls ja wie kritisiert werden sollten (Aly 2012). Im Zentrum dieser Diskurskonstellation standen jeweils die als normal und voll berechtigt angesehene Gruppe der ›christlichen Menschen‹, der ›Deutschen‹, der ›Weißen‹ und der ›Sesshaften‹, die jeweils über die zu gewährenden oder nicht zu gewährenden Rechte der zu Anderen Gemachten befanden. In heutigen Debatten zu geflüchteten Personen ist in medialen Repräsentationen in Deutschland eine diskursive Konstellation zu finden, die zumindest zwei Elemente beinhaltet: Die mit Nationenvorstellungen verbundene Konstruktion einer als bevorrechtigt definierten Mehrheitsgesellschaft sowie das Thematisieren der Belastung der Mehrheitsgesellschaft durch eine Gruppe der als ›kulturell‹, ›religiös‹, ›ethnisch‹ oder als ›fremd‹ definierten ›anonymen Masse der Anderen‹. Kolonien (Kilomba 2008, Dietrich/Strohschein 2011, Zimmerer 2013) können ebenso wie die von vielfältigen Migrationspraxen konstituierten europäischen Länder als Migrationsgesellschaften gesehen werden, die durch Ein- und Auswanderung, Trans- und Pendelmigration, die Aushandlung von natio-ethno-kulturellen beruhenden Zugehörigkeitsordnungen (Mecheril 2003) verbunden mit rassistischen und religionsbezogenen Vorstellungen (Hund 2011, Melter 2016) sowie der Hierarchisierung von Menschengruppen. Mittels einer migrationsgesellschaftlichen diskriminierungs- und herrschaftskritischen Perspektive soll im Folgenden untersucht werden, ob, wie und mit welchen Mitteln und Folgen Gruppen von ›Wir‹ und ›die Anderen‹ hergestellt werden, gesellschaftlich positioniert und wie ihnen rechtlich begegnet wird. Susanne Spieker (2015) verortet die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens in der europäischen Expansion und schildert die Kolonisierung Mexikos und die ethnographische und pädagogische Arbeit des Franziskaner-Paters Bernardino de Sahagún. Nach der Eroberung und Unterwerfung Mexikos durch die Truppen von Hernán Cortés kamen in den 1520er Jahren Franziskaner-Pater mit dem Ziel der Missionierung ins Land. Bekannt geworden ist insbesondere Pater Bernardino de Sahagún, der die präkolonialen Sprach- und

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anderen Lebenspraxen der Nahua sowie deren Vorstellungen durch Gespräche mit den Überlebenden der gewaltsamen Kolonisierung rekonstruierte. Die spanische Sprache galt »als wichtiger Teil der Ausweitung und Homogenisierung des spanischen Herrschaftsbereiches« (Spieker 2015: 111) und wurde in den weiterführenden Schulen vermittelt. Die Franziskaner strebten an, die als besonders klug angesehenen männlichen Kinder in Latein, Kastillisch und der christlichen Lehre zu unterweisen. Um effizienter missionieren zu können, wurden auch regionale Sprachen und Gebräuche erlernt, die in spanische Sprache und christliche Religion transformiert bzw. durch diese ersetzt wurden. Bildung wurde der unterworfenen Bevölkerung zugestanden, jedoch stets nur in dem Maße und mit dem Ziel, dass die Herrschaft und die Privilegien der Spanier nicht gefährdet wurden. »Die Unterweisung in der christlichen Religion sah Sahagún als Chance für die kulturelle Weiterentwicklung der Nahua. Darin zeigt sich die gewaltvolle Dimension missionarischer Intervention, denn die Missionare hielten es für unerlässlich, dass die Bevölkerung die christliche Religion vorbehaltlos annahm.« (Spieker 2015: 176) Jeweils eine bestimmte Religion, Kultur und europäische Nationalstaatlichkeit sollten als zusammenführende Konzepte machtförmig über die jeweils ›Anderen‹ und die Angehörigen dieser Gruppen dominieren. Nach der Darstellung einiger Aspekte der frühen europäischen Kolonialund Bildungsgeschichte wird nun ein Beispiel aus einem Land in Europa thematisiert. Die diskriminierende Gesetzgebung im revolutionären und aufklärerischen Frankreich ist ein weiteres historisches Beispiel. Die französische Konstituante verabschiedete 1791, zwei Jahre nach der französischen Revolution, dass Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit für alle (Männer) auf dem Boden Frankreichs galten, aber nicht für die Kolonien, wo weiter der Code Noir gelten sollte (Brumlik 2004: 17). Es zeigte sich die Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeitsforderungen und Ungerechtigkeitspraxen. So starb Olympe de Gouges, die Verfasserin der Erklärung der ›Rechte der Frau und Bürgerin‹ 1793 auf dem Schafott, da der Einsatz für Frauenrechte als gegen die Revolution gerichtet gesehen wurde. Sie hatte sich in ihrem Manifest auch gegen Sklaverei und Kolonialismus gewandt (de Gouges 2003). So galt im Land, welches als eine ›Wiege der Aufklärung‹ gilt, der Code Noir, das rassistische Gesetz über die Personen, die in den von Frankreich unterworfenen und beherrschten Kolonien als ›Andere‹ als ›nicht-französisch‹, ›nicht-christlich‹ und ›nicht-weiß‹ galten. Der Code Noir, der bis 1848 Gültigkeit hatte, galt in den Kolonien und wurde dort gegenüber den unterworfenen Menschen durchgesetzt (Brumlik 2004, Taubira 2015). Im Code Noir finden sich u.a. die Gesetze, dass Sklav_innen römisch-katholisch getauft sein müssen, Juden und Jüdinnen in den französischen Kolonien nicht wohnen dürfen. Jede Religion, außer der römisch-katholischen, wurde verboten und alle Untertanen und Sklav_innen mussten die

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katholischen Feiertage einhalten. Kinder von verheirateten Sklav_innen waren ebenfalls Sklav_innen, sie gehörten dem Herrn der Mutter. Sklav_innen durften vor Gericht nicht als Partei auftreten, und ein Sklave oder eine Sklavin, der oder die den eigenen Herrn, dessen Frau oder Kinder schlug, wurde hingerichtet. Entflohenen Sklav_innen, die länger als einen Monat verschwunden waren, wurden die Ohren abgeschnitten und sie wurden gebrandmarkt. Beim zweiten Mal wurde ihre Achilles-Sehne durchschnitten und sie wurden wieder gebrandmarkt. Beim dritten Mal wurden sie hingerichtet (Sala-Molins 2007, Castaldo/Taubira 2007, Taubira 2015). Im Code Noir wurden versklavten Menschen also weniger bis keine Rechte gewährt, Versklavte und deren Kinder wurden als Besitz der Sklav_innenhalter_innen definiert, die Nicht-Versklavten wurden bevorrechtigt und die römisch-katholische Religion wurde nationalstaatlich durchgesetzt. Micha Brumlik kommentiert die Entscheidung der französischen Konstituante, dass »[w]enn es zutrifft, dass der moderne europäische und nordamerikanische Staat von allem Anfang an theoretisch und praktisch auf Rassekonzepten aufbaute, dann trifft dies für ihrer Kolonien benommene Staaten wie Deutschland ebenfalls zu« (Goldberg 2002). In dem Buch »Codes Noires« (Castaldo/Taubira 2007) ist nachzulesen, wie zwischen 1685 bis 1848 die Gesetzgebung für und in den Kolonien und der Code Noir mehrfach verändert wurden. Christiane Taubira, die schwarze französische Justizministerin, die auch das Gesetz zur Verurteilung der Sklaverei maßgeblich entworfen hat (»Lex Taubira«), spricht in der Einleitung des Buches mit André Castaldo von »La pein de mort privatisée« (Taubira 2007: I), der »privatisierten Todesstrafe« (Taubira 2015), die die Kolonialherrschenden, darunter auch Farmer, legal gegenüber versklavten Menschen ausübten, ohne de facto dafür bestraft zu werden. Auch in Deutschland gab es in den Kolonien ähnliche Gesetze und Entrechtungspraxen. Die Gründung des deutschen Nationalstaates war nach wenigen Jahren begleitet von kolonialen Unterwerfungspraxen, diskriminierender Gesetzgebung und rassistischen Konstruktionen in Deutschland und auch in den von Deutschland unterworfenen Kolonien. Wie waren das Recht und die Rechtspraxis in den deutschen Kolonien? Gab es dort auch privatisierte und legalisierte Rechtshoheit z.B. seitens der deutschen Farmer? De facto ließ die Polizei ihnen aus verschiedenen Gründen viele Handlungsfreiheiten, die diese oft gewalttätig gegenüber den Angehörigen der unterworfenen Bevölkerung ausübten: Im zur Kolonialzeit sogenannten Deutsch-Südwestafrika, das Gebiet des heutigen Namibia, hatte sich ein Typus von deutschen Aussiedler_innen »herausgebildet, der sich ungern von Vorschriften und Beamten in seiner neu gewonnenen afrikanischen Freiheit einschränken ließ« (Zollmann 2010: 32). Ein Offizier beschrieb sie 1906 schmeichelhaft als »[a]rbeitsfreudige Einzelexistenzen, die sich auf ihrem Besitztum

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wie kleine Könige fühlen« (Hauptmann von Wangenheim an Gouverneur 1.02.1906). In Bezug auf Gesetze und Verordnungen (Zollmann 2010: 32), etablierte Deutschland ebenso wie die französische Konstituante nach der Berliner Kongokonferenz (1884-1885), auf der europäische Staaten in Abwesenheit afrikanischer Regierender den afrikanischen Kontinent unter sich zur Kolonisation, Unterwerfung und Ausbeutung aufteilten (Johnson 2009; Zimmerer 2011), ein Rechts- und Verordnungssystem in den deutschen Kolonien, bei dem die »Zweiteilung des Kolonialrechts in ›Europäerrecht‹ und ›Eingeborenenrecht‹ […] grundlegend für die koloniale Herrschaftsordnung [wurde]. Einzig für die Europäer galten die jene Bestimmungen des SGG, die auf das KGG verweisen« (Zollmann 2010: 31).2 Daniel Kariko schreibt zu seinen Erfahrungen: »Unser Volk wurde durch deutsche Händler rundum beraubt und betrogen und das Vieh mit Gewalt genommen. Unser Volk wurde geprügelt und misshandelt und ihm wurde keine Wiedergutmachung zuteil. Die deutsche Polizei unterstützte die Händler, statt uns zu schützen« (zit. in van Dijk 2005: 102). Zollmann beschreibt zum einen anhand von ausschließlich deutschsprachigen Unterlagen also die – durch Gesetze, Verordnungen und Erlasse etablierten – ungleichen Rechte zwischen Kolonialisierenden und den Einheimischen: »Die sachliche und personale Zweiteilung zwischen ›Eingeborenen‹ und ›Nicht-Eingeborenen‹ war der entscheidende Wesenszug des Kolonialrechts« (Zollmann 2010: 97). Neben der in Gesetzen und Verordnungen festgeschriebenen Rechtsungleichheit gab es auch die Gewalt durch Polizei und Gerichte als Form der Rechtspraxis mittels der Prügelstrafe, die nur bei der Bestrafung von Afrikaner_innen legale Rechtspraxis war, hingegen 1851 aus dem Preußischen Strafrecht gestrichen worden war: »Ein Unbehagen jedoch überfiel die Kolonialabteilung angesichts der Auswüchse eines Systems, dass ›Ordnung‹ derart hoch über das herkömmliche deutsche Recht stellte. In Bezugnahme auf die Öffentlichkeit in Deutschland – also nicht aus moralischethischen Bedenken gegenüber der Prügelstrafe bei ›Einheimischen‹ an sich – erging an »General Leuthwein […] der Auftrag, seinen Untergebenen zu vermitteln, dass sie »ihrer Hauptaufgabe, der Eingeborenen, unter thunlichster Einschränkung des Gebrauchs von Strafmitteln gerecht zu werden« (Zollmann 2010: 111) hatten. Da die sogenannten ›Einheimischen‹ erzogen werden sollten und diese ›Erziehung‹ erfolgreich sein sollte, war die massenhafte Anwendung der Prügelstrafe ein Zeichen des Misslingens des kolonialen ›Erziehungsverhältnisses‹. Diese Vorstellung sollte nicht in der Öffentlichkeit in Deutschland dominant werden, daher sollte die Prügelstrafe weniger verwendet werden. Begleitet wurden die juristisch-polizeilichen Gewaltpraxen von einer Missionsund Kolonialpädagogik (Adick/Mehnert 2001), die geschlechtsspezifisch und rassistisch die Schüler_innen kategorisierten, in unterschiedlichen Schulen

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mit verschiedenen Curricula unterrichteten und auf einen bestimmten Platz in der Gesellschaft hin erziehen sollten (Akakpo-Numado 2011). Gegen die Praxen der Entrechtung und Gewalt gab es auch Widerstand. Dies gilt sowohl in den Kolonien (Witbooi 1996), als auch für den Widerstand von Afrikaner_innen in Deutschland (Gerbing 2013: 113ff.). Der von deutschen Soldaten ausgeübte und von General von Trotha befohlene Genozid an den Herero, Nama und Damara (Zimmerer 2011) soll nach über einem Jahrhundert – so ist es jedenfalls für Ende 2016 angekündigt (Chutel 2016) – von der deutschen Bundesregierung als Verbrechen gegen die Menschheit anerkannt werden, ebenso wie der 2016 endlich offiziell anerkannte Völkermord an den Armeniern, an dem Deutschland mitbeteiligt war. Der Völkermord an den Herero, Nama und Damara ging einher mit Praxen von Entrechtung, Todesmärschen, Einrichtung von Konzentrationslagern und dem benannten Vernichtungsbefehl (Zimmerer 2011). Das ideologische, rechtliche und handlungsbezogene Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus ist ein nur in Teilen erforschtes Thema, welches insbesondere in Bezug auf die Frage umstritten ist, ob und wie Wege von »Windhuk nach Auschwitz?« (Zimmerer 2011) hinsichtlich Gewalt- und Herrschaftspraxen zu rekonstruieren sind. Im Nationalsozialismus galt zum einen das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« von 1933 sowie das sogenannte »Blutschandegesetz«3 als Teil der Nürnberger Gesetze von 1935. Beide entsprachen der nationalsozialistischen ›Auslese‹-Ideologie. Die ›Rasse‹-Gesetze und die ›eugenischen‹ Gesetze sind nicht identisch. Gemeinsam sind ihnen jedoch Gedanken und Praxen der ›Auslese‹ sowie dann die Praxen der Verfolgung und Tötung (Hohendorf/Magull-Seltenreich 1990, Silberzahn-Jandt 2015). Der im Nationalsozialismus propagierte »Rassenantisemitismus« (Zimmermann 2011: 42) war eine Verbindung von Religionsvorstellungen mit biologischen ›Rasse‹-Konzepten, die zudem in staatsbürgerlich/nationalstaatlicher Perspektive als Gegensatz zum ›Deutsch-Sein‹ imaginiert und rechtlich fixiert wurden. Ähnliche Konstruktionen wurden bereits in Spanien im 11. Jahrhundert mit der Durchsetzung der »limpieza de sangre« (Wollrad 2005: 56) gegen Muslime, die christianisiert, vertrieben oder getötet werden sollten, angewandt, freilich haben wir es hier nicht mit staatsbürgerlichen Konzepten zu tun. Diese historischen Schlaglichter verdeutlichen sowohl die lange Geschichte der Entrechtung nationalstaatlich, religiös und rassistisch konstruierter ›Anderer‹ als auch die Verbindung von Entrechtung durch Gesetze und Verordnungen sowie durch die Rechtspraxis und ausgeübte Polizeigewalt und die polizeilich geduldete Gewalt gegen so definierte ›Andere‹ durch die Mehrheitsbevölkerung, begleitet jeweils durch hierarchisierende politische und mediale Diskurse der Unterscheidung in ›Wir‹ und ›die Anderen‹.

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Z eitgenössische F ormen der U ngleichbehandlung Die Geschichte der BRD ist durch Geschlechter- und Klassen-Ungleichheiten gekennzeichnet, wie auch durch die rechtliche Ungleichbehandlung von Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Alle formal als nicht-deutsch definierte Personen haben qua nicht vorhandener deutscher Staatsangehörigkeit weniger Rechte als die staatsbürgerlich als Deutsche von den Behörden anerkannten Personen. So kann von einer Stufenleiter geringerer Rechte gesprochen werden. Die allgemeine Hierarchisierung von Rechten – konkret: die teilweise Entrechtung von Personengruppen im Aufenthalts- und Asylgesetz – bedeutet für formal nicht-deutsche Personen bis auf wenige Ausnahmen z.B. die Verweigerung des Rechtes auf das passive und aktive Wahlrecht – Rechte für die u.a. in den USA jahrzehntelang von der Schwarzen Bürger_innen-Rechtsbewegung letztlich erfolgreich gekämpft wurde. Besonders eingeschränkt in ihren formalen und realen Möglichkeiten sind seit der massiven Einschränkung des Asylrechtes 1993 besonders Personen im Asylverfahren und Personen mit einer sogenannten Duldung. Real wurde die Anzahl der als geflüchtete Personen, die einen Asylantrag stellen konnten, durch die Asylrechtsänderung sehr verringert. Die Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich die Feststellung, dass der Staat die Person ausgewiesen hat, jedoch aktuell keine Abschiebung möglich ist und die Person behördlich registriert ist. Trotz des Verbotes von ›Ketten-Duldungen‹, also der seriellen Erteilung von Duldungen, ist dies eine gängige behördliche Praxis. Die rechtliche Gleichstellung von Flüchtlingen gegenüber Staatsbürgern ist nicht gewährleistet. Gesundheitlich behandelt werden Flüchtlinge im Asylverfahren und mit einer Duldung laut Asylbewerberleistungsgesetz nur bei akuten Krankheiten. Die Unterbringungssituation von geflüchteten Personen in Notunterkünften, Landeserstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften ist wegen geringer Größe und teils problematischen Hygienebedingungen menschenwürdewidrig und verstößt zudem vielfach gegen die UN-Kinderrechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention, da das Recht auf Bildung und Unterstützungsmaßnahmen für Menschen, die behindert werden, verwehrt bleibt (Prasad 2011, Bundesverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge 2014, Positionspapier Flüchtlingssozialarbeit 2016). Der Bund hat die Kommunen nicht ausreichend finanziell für angemessene Unterbringungsmöglichkeiten ausgestattet und restriktive Unterbringungs-Regelungen gesetzlich festgelegt, die nicht den Ansprüchen auf Wohnraum für Staatsbürger_innen entsprechen. Das Recht auf Bildung wird bei minderjährigen geflüchteten Personen während des Asylverfahrens nur unzureichend gewährleistet (Bliemetsrieder/Kindermann/Melter 2016), sowie das Recht auf

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Familienzusammenführung massiv eingeschränkt. 2014 plante und realisierte die EU, dass Programm »Mare Nostrum« der italienischen Regierung einzustellen, da sie dies nicht finanziell unterstützen wollte und durch ein wesentlich kleineres Programm der auf Flüchtlingsabschreckung und -überwachung spezialisierten Frontex-Organisation zu reduzieren. Als Folge starben Tausende von geflüchteten Personen im Mittelmeer. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Der »Wettlauf der Schäbigkeiten«, wie Pro Asyl 2013 schrieb, setzt sich in derjenigen kolonialen Tradition fort, die das Leben unterschiedlicher Menschengruppen in ›lebenswert‹ und ›nicht schützenswert‹ entlang rassistischer, nationalstaatlicher und religiöser Kriterien einteilt, unterschiedlichen Personengruppen ungleiche Rechte erteilt und sich de facto nicht für die Menschenrechte aller Personen einsetzt (Pro Asyl 2013). Formen der nationalstaatlichen Diskriminierung gehen dabei stets einher mit diskriminierenden staatlichen Praxen des ›Racial Profiling‹, wie im Folgenden erläutert wird. Amnesty International stellt fest, dass Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt systematisch alleine lässt und Flüchtlingsunterkünfte unzureichend schützt und nicht entschieden gegen rassistische Straftäter ermittelt (Amnesty International 2016, Amadeu-Antonio-Stiftung 2012). Es gibt zudem vielfach Übergriffe von gewalttätigen Mitarbeitenden von Sicherheitsfirmen in Flüchtlingsunterkünften neben den systematischen rassistischen Übergriffen auf Unterkünfte von geflüchteten Personen. Alle Personen, die in Deutschland als ›nicht-weiß‹ und entsprechend rassistisch-nationalstaatlicher Imaginationen als ›nicht-deutsch‹ kategorisiert werden, machen gegenüber als ›weiß‹ und ›zu Deutschland zugehörig‹ phantasierten und behandelten Personen überproportional häufiger Rassismuserfahrungen in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Justiz und Polizei. Die nach rassistischen und nationalstaatlich diskriminierenden Logiken ausgeübten Handlungspraxen von Polizei und Justiz zeigten sich auch in der langjährigen Nicht-Verfolgung der rassistischen Terrorgruppe NSU. Selbst im ersten, von allen Parteien einstimmig verabschiedeten Abschlussbericht des Bundestages zur NSU (Bundestag 2013) wird von systematischen Behördenversagen gesprochen. Dies hatte jedoch keine öffentliche und transparente Auseinandersetzung mit der Frage von institutioneller Diskriminierung und institutionellem Rassismus in den Gremien und Behörden der Polizei und in der Regierungspolitik zur Folge. Es kann von einer de facto realisierten Verschränkung nationalstaatlicher und rassistischer Praxen bei Polizei, Staatsanwaltschaften, Justiz und Polizei gesprochen werden. In Großbritannien wurde Stephen Lawrence Anfang der 1990er Jahre rassistisch ermordet. Polizei und Staatsanwaltschaft haben nachlässig ermittelt, Beweise nicht gesichtet, Zeugen nicht verhört. Auf Druck der Schwarzen britischen Community wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet (Macpherson 1999, Bünger 2002). Institutioneller Rassismus in Deutschland kann

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in Anlehnung an die Stephen Lawrence Inquiry in Großbritannien verstanden werden als »von Institutionen/Organisationen (durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen und Zugangsregeln sowie Arbeitsweisen, Verfahrensregelungen und Prozessabläufe) oder durch systematisch von Mitarbeiter_innen der Institutionen/Organisationen ausgeübtes oder zugelassenes ausgrenzendes, benachteiligendes oder unangemessenes und somit unprofessionelles Handeln gegenüber ethnisierten, rassialisierten, kulturalisierten Personen oder Angehörigen religiöser Gruppen sowie gegenüber so definierten ›Nicht-Deutschen‹ oder ›Nicht-Christ_innen‹« (Melter 2006: 27) oder als ›nicht seßhaft‹ kategorisierten Personen (Strauß 2011: 4). In der verwendeten Definition werden nationalstaatliche Diskriminierung und rassistische Diskriminierung als sich überlappende Diskriminierungsformen gesehen, wobei analytisch einige Formen nationalstaatlicher Diskriminierung nicht notwendig als rassistische Diskriminierung zu fassen sind. Allerdings ist oftmals die Definition von Staatsangehörigkeit seitens der Polizei bei Ermittlungen mit rassistischen Konstruktionen verbunden: Praxen des Racial Profiling bei Polizeikontrollen und Ermittlungen (Cremer 2013, Migrationsrat Berlin-Brandenburg 2011, KOP 2014 a, b). Das Ergebnis der Stephen Lawrence Inquiry, auch Macpherson-Report genannt, war: Institutioneller Rassismus in der Polizei wurde systematisch nachgewiesen und in der Folge umfangreiche Gegenmaßnahmen umgesetzt. Und in Deutschland? Dort haben NSU-Terroristen über viele Jahre auf rassistische Weise neun Menschen mit Migrationshintergrund getötet und eine Polizistin ohne Migrationshintergrund. Nicht geklärt sind neben zahlreichen anderen Beispielen auch der Fall von Oury Jalloh im Polizeigewahrsam in Dessau (https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/). Dennoch gab es in Deutschland – eine Ausnahme ist die Justizstudie von Glet (2010) – keine systematische Untersuchung zu Rassismus und rassistischer Polizeigewalt in Deutschland, wie es der Stephan Lawrence-Inquiry in Großbritannien ansatzweise entsprechen würde. Notwendig braucht es für Deutschland eine bundesweite Oury-Jalloh-Kommission, die ethnisierende, kulturalisierende und religions-bezogene Diskriminierung und den institutionellen Rassismus in Behörden in Deutschland systematisch untersucht, Gegenstrategien darlegt und deren Umsetzung überwacht bzw. deren NichtUmsetzung sanktioniert (Migrationsrat Berlin-Brandenburg 2011).

F azit Zu untersuchen ist, wie natio-ethno-kulturell sowie religiös und rassistische Unterscheidungen in wechselnden Verbindungen zu diskriminierenden und privilegierenden Zugehörigkeitsordnungen von den Akteur_innen hergestellt

Die Entrechtung national, religiös oder rassistisch konstruier ter ›Anderer‹

werden und in diesen Gesellschaftskonstellationen Praxen der Entrechtung und physischer Gewalt gegen die als ›Andere‹ beschriebenen Personen ausgeübt und die Integritäten von Personengruppen systematisch verletzt werden, wie dies kritisiert und diesen Praxen widerstanden wird. Eine Form des Widerstands ist der juridische und juristische Kampf für möglichst gleiche Rechte. Überzeugende Forderungen, mit »Recht gegen Gewalt« (Prasad 2011) – also Klagen, um Menschenrechte und UN-Konventionen oder die Europäische Sozialcharta justiziabel zu machen – vorzugehen, sowie die vielfachen Proteste gegen die Nicht-Verfolgung rassistischer Polizeigewalt (Initiative Oury Jalloh) und Widerstandsstrategien der zu ›Anderen‹ gemachten Personen (Seukwa 2006, Aikins 2009), brauchen einen gemeinsamen politischen Kampf, der mit den Jahrhunderte alten kolonialen, rassistischen und nationalstaatlich-diskriminierenden Praxen bricht, sie einschränkt und anzustrebenswerter Weise – auch wenn es nie erreicht werden wird – beendet. Relevant können auch Kooperationen und Bündnisse mit Teilen und Organisationen der privilegierten, jedoch kritisch ambitionierten Teile der Mehrheitsgesellschaft sein, die sich gegen die rechtliche Verletzung von (Menschen-)Rechten einsetzt. In historischer und aktueller Perspektive erscheint sowohl eine Zurkenntnisnahme der Gewalt- und Entrechtungspraxen als notwendig, als auch der verstärkte Einbezug von Stimmen derjenigen, die ausgegrenzt, benachteiligt und angegriffen wurden und einen Weg des Überlebens und Sich-Wehrens gesucht haben und suchen. Analytisch weiterführend erscheinen die Analyseperspektiven der natio-ethno-kulturell sowie religionsbezogenen und rassistischen Zugehörigkeitsordnungen sowie Auseinandersetzungen mit den Verletzungen von Integritäten als fruchtbare Perspektiven, um Formen von Diskriminierung, Rassismus und der Herstellung und Wahrung von Integritäten zu untersuchen. Die Zusammenschau vertiefender historischer Analysen von Gewaltverhältnissen und die Befragung des Verhältnisses u.a. von Kolonialismus, Nationalsozialismus zu Rassismus in postnationalsozialistischen Gesellschaften erscheint gewinnbringend für die Fundierung einer gegenwartsbezogenen menschenrechtlichen Argumentation, die die Rechte und Integritäten aller Menschen in das Zentrum ihrer Forderungen und Ziele stellt.

A nmerkungen 1 Genannt seien die antisemitischen Praxen der Benennung der Juden und Jüdinnen als Tiere im Kontext des ›Rassen-Antisemitismus‹ der NS-Zeit (Zimmermann 2011). 2 SGG heißt Schutzgebietsgesetz und KGG Konsulargerichtsbarkeitsgesetz (Zollman 2010: 30).

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3 »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« [Das »Blutschutzgesetz« ist Bestandteil der »Nürnberger Gesetze«] vom 15. September 1935: »Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: § 1 (1) Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind. (2) Die Nichtigkeitsklage kann nur der Staatsanwalt erheben. § 2 Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.« https://de.wikipedia.org/wiki/Rassenschande#/media/ File:Blutschutzgesetz_v.15.9.1935_-_RGBl_I_1146gesamt.jpg (Zugriffsdatum 02.05.2016).

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›Nach Köln‹ – Zusammenhänge von Sexismus und Rassismus thematisieren1 Astrid Messerschmidt

Im Folgenden skizziere ich einige aus meiner Sicht relevante Gesichtspunkte für die rassismuskritische Argumentation unter dem Eindruck einer überhitzten Öffentlichkeit nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015/2016 von ›Köln‹. Die Stadt ist zu einem Topos für eine angeblich zu durchlässige Migrationspolitik geworden. Im Spiegel wurde Navid Kermani danach gefragt, ob Köln eine ›failed city‹ sei.2 Das spiegelt die Aufladung wider, die in der medialen Repräsentation der bis heute unzureichend aufgeklärten Eigentumsdelikte und sexuellen Übergriffe vor dem Kölner Hauptbahnhof sowie in Hamburg, Stuttgart und anderen Städten zu beobachten war. Bis heute dienen diese Ereignisse als Bezugspunkt für migrationsfeindliche Artikulationen.

R eine S elbstbilder Eine aus dem Ruder gelaufene Silvesternacht erschütterte im Januar 2016 die Republik. Es hat sich so etwas wie der ›Einbruch des Realen‹ abgespielt, wie Slavoj Žižek das mit Lacan bezeichnen könnte. Vielleicht handelt es sich hier tatsächlich um eine »stumme Verkörperung eines unmöglichen Genießens« (Žižek 1991: 57) – etwas, das verboten und begehrt ist, verdrängt und präsent zugleich. Es geht um das Reale der normalisierten sexualisierten Gewalt gegen Frauen und Mädchen, das Reale der zum Milieu gewordenen Kleinkriminalität und der organisierten Drogenkriminalität. Das mediale Sprechen über diese Wirklichkeiten ist allerdings weniger auf diese konkreten Probleme bezogen, sondern konzentriert sich – zumindest in den massenwirksamen Medien – auf die kulturelle und nationale Zuordnung eines (vermutlich großen) Teils derjenigen, die diese Taten verübt haben (sollen). Es wäre kompliziert, über diese Realitäten genauer zu sprechen, weil dann die Kontexte der Männer, die hier zu Tätern geworden sind, angeschaut werden müssten: illegalisierte Einwanderung, soziale Marginalisierung bereits im Herkunftsland, Lebensbedingungen

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auf der Straße, Kriminalität als Einkommensperspektive, Männlichkeitsphantasien, die Selbstwert vermitteln sollen, Dynamiken in Männerbünden etc. Doch die Ereignisse bieten eine Gelegenheit, um etwas Anderes zu tun: nämlich den nationalen Innenraum als unschuldig zu repräsentieren. Unschuld ist eine Obsession in der Bundesrepublik Deutschland, Ausdruck einer postnationalsozialistischen Resonanz. Es verknüpfen sich darin zwei Stränge eines nicht überwundenen Reinheitsideals: zum einen das Ideal einer abstammungsbezogenen Reinheit, die Spuren einer völkischen und rassistischen Gemeinschaftsprogrammatik beinhaltet; zum anderen das Ideal moralischer Reinheit, der paradoxe Effekt einer Aufarbeitungsgeschichte, die das Erforschen und Reflektieren der NS-Verbrechen und ihrer Folgen zur Entlastung des Selbstbildes nutzt. Die Deutungen der Ereignisse in Köln, Hamburg und Stuttgart bieten einen Resonanzboden, auf dem Reinheit und Unschuld proklamiert und beansprucht werden können. Diese Proklamationen beziehen sich auf das Phantasma eines reinen Innenraums, der durch Migration verunreinigt worden ist. Die Sehnsucht nach eindeutigen Identitäten führt zur Naturalisierung jeder Differenz. Das Andere hat natürlich anders zu sein, genetisch nachweisbar und eindeutig. In der Tendenz zur Vereindeutigung geschlechtlicher Identität kommt eine Sehnsucht nach Natur zum Ausdruck, ein Wunsch, sich einer biologisch gegebenen Identität zu vergewissern, das Soziale nach wie vor biologistisch zu strukturieren und jede Uneindeutigkeit auszuschließen. Die Naturalisierung von Differenz bildet ein Merkmal mehrerer gruppenkonstituierender Diskriminierungspraktiken. Sie bezieht sich auf Geschlechterdifferenzen wie auf kulturelle Differenzen, wobei das Kulturelle zu einer bevorzugten Bühne für ausgrenzende und abwertende Identitätsmarkierungen geworden ist. Das Konzept der ›Leitkultur‹, das neuerdings wieder öffentlich beansprucht wird, lässt keinen Raum für die innere Pluralität der Gesellschaft und suggeriert eine Nationalkultur, die sich längst global fragmentiert hat. Doch gerade deshalb ist die Sehnsucht nach einer national-kulturellen Identität immer wieder ansprechbar. Die faktische Pluralität der Gesellschaft ist für Teile der Gesellschaft eine Zumutung, und diese Teile verschaffen sich Gehör in der Öffentlichkeit. Unmöglich wird es, gleichberechtigt und zugleich verschieden zu sein. Die Sorge um die Möglichkeit, verschieden leben zu können, ohne fremd gemacht zu werden, formuliert Theodor W. Adorno in den Minima Moralia als Vision, »ohne Angst verschieden sein« zu können (Adorno 2001 [1951]: 131). Das Plädoyer gegen die Angst ist derzeit ausgesprochen relevant – angesichts der Beanspruchung von Angst, die als allround-Begründung gegen jede Form der Begrenzung und Verhinderung von Einwanderung eingesetzt wird. Ängste zu äußern führt in der politischen Öffentlichkeit zu reflexartigen Beteuerungen des Ernstnehmens, was sich ausschließlich an Etablierte richtet und kaum an diejenigen, die alle Sicherheiten verloren haben.

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Dennoch hat sich in den letzten Jahren in Deutschland auch eine kritische Öffentlichkeit herausgebildet, die die Tatsache der Migrationsgesellschaft in ihr Selbstbild integriert. Ablesbar ist das an zahlreichen Projekten und Initiativen, die sich seit vielen Jahren gegen Ausgrenzung und Rassismus engagieren und die auch dazu beigetragen haben, dass in Teilen der Öffentlichkeit nationalistische und national-kulturelle Selbstbilder keinen Anklang mehr finden. Bspw. zeugt der Aufruf »ausnahmslos«,3 den Feministinnen über soziale Netzwerke verbreitet haben, davon, dass die rassistische Instrumentalisierung feministischer Anliegen von Teilen eines kritischen Feminismus nicht hingenommen wird. Die Initiatorinnen um Kübra Gümüşay und Anne Wizorek wenden sich »gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall«. Sie argumentieren auf dem Niveau eines Feminismus, der seit den 1990er Jahren die Kategorie ›Frauen‹ nicht mehr als ein entkontextualisiertes Wir beansprucht und der sich selbstkritisch mit den eigenen Ausblendungen auseinandersetzt.4. Sie fordern: »Sexualisierte Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die vermeintlich Anderen sind.« Zugleich sollten reflexive Formen für die Auseinandersetzung mit sexistischen Gewaltphänomenen gefunden werden, die nicht kulturrassistisch argumentieren, sondern Faktoren, die Gewalt legitim erscheinen lassen, in soziale Situationen einordnen. Soziale Bedingungen, die Kleinkriminalität und sexualisierte Übergriffe begünstigen, lassen sich analysieren und verändern. Wer dagegen mit Identität argumentiert, hat schon aufgegeben und geht von der Unveränderbarkeit derer aus, die als abweichend markiert werden.

G lobale K onte x tualisierung Die sozialen Bedingungen, die Gewaltphänomene hervorbringen sind im globalen Rahmen zu reflektieren: Etwa 65 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, davon 86 Prozent zwischen und innerhalb von Ländern des globalen Südens.5 Nach Europa kommt also keinesfalls die ganze Welt, sondern nur ein kleiner Teil derer, die sich aus existenziellen Notlagen heraus über Grenzen bewegen und die dies überhaupt tun können. Wechselwirkungen von politischen Konfliktlagen und ökonomischer Ungleichheit haben in einer Vielzahl von Ländern zu unerträglichen Lebensbedingungen geführt. Zu den globalen Fluchtursachen gehören neben Bürgerkriegen und politischen Konfliktlagen auch die Ausbeutungswirklichkeiten in den globalisierten, postkolonialen Industrien und Landwirtschaften sowie die damit verbundenen Folgen, von denen die europäischen Staaten und Konsument_innen zumeist profitieren, die aber häufig unerträgliche und perspektivlose Verhältnisse schaffen, welche zur Auswanderung führen.

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In dem Aufruf für eine solidarische Bildung6 haben rassismuskritisch arbeitende Wissenschaftler_innen aus Erziehungswissenschaft und Sozialer Arbeit hervorgehoben: »Das universelle Bedürfnis nach angemessenen Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch die vielfache wechselseitige, praktische Verwiesenheit der Weltbevölkerung aufeinander, verbindet geflüchtete Personen und etablierte Bewohner_innen der relativ privilegierten Zielorte dieser Welt. Darauf kann eine zeitgemäße Solidarität aufbauen. Der Impuls, der von Migrationsbewegungen ausgeht, ist weitreichender als Integrationsmaßnahmen und ›Willkommenskulturen‹ suggerieren. Mit einer migrationsgesellschaftlichen und kritischen Pädagogik verbindet sich ein politisches Projekt, das die Ordnung der pädagogischen, ökonomischen und sozialen Organisationen und der Bildungsinstitutionen theoretisch, konzeptionell und praktisch zum Thema macht und revidiert«.

Der Aufruf grenzt sich von einer integrationslogischen Sichtweise ab, die Migration als äußeres Problem betrachtet, das es zu organisieren und zu verwalten gilt und nicht als Aufforderung zu einer Veränderung des Bewusstseins und des institutionellen Innenraums der Gesellschaft. Die real vorhandene und von den verschiedensten Gruppierungen ausgeübte sexualisierte Gewalt bietet Gelegenheit, das zu dethematisieren, womit Geflüchtete die Etablierten und relativ Privilegierten konfrontieren: das »Elend der Welt« (Bourdieu 1997). Paradoxerweise wird das Ereignis frauenverachtender Belästigungen in der medialen Verarbeitung der Silvesterereignisse dazu genutzt, um nicht über die Ausübung dieser Handlungen selbst zu sprechen, sondern über etwas Anderes – nämlich über die Defizite der Kultur, der Religion und der Erziehung der Anderen – also derer, die fremd bleiben sollen. Die konkreten Handlungen bieten einen Konfliktstoff, der nicht neu, sondern jahrelang banalisiert worden ist: Auswirkungen alltäglicher sexueller Belästigungen, wie sie bspw. in dem Aufruf »Aufschrei« 7 von 2013 thematisiert worden sind. Insbesondere die Exekutive und die Judikative in der Bundesrepublik haben Nachholbedarf im Ernstnehmen derartiger Erfahrungen – also gerade die Institutionen, die jetzt als Retter angerufen werden. Das Sexualstrafrecht ist in der Bundesrepublik reformbedürftig, weil es bei sexueller Gewalt zu einer Opfer-Täter-Umkehr neigt. Die meisten Opfer sexueller Gewalt erstatten deshalb keine Anzeige.

A ntimuslimische A rtikulationen Im Zusammenhang von Migration und Interkulturalität wird die Geschlechterkategorie immer dann zum Thema, wenn es darum geht, ein nationales Selbstbild aufgeklärter Fortschrittlichkeit zu behaupten. Kontrastiert wird diesem

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emanzipierten Selbstbild das Fremdbild der muslimischen Frau als Ausdruck kultureller Rückständigkeit und religiöser Unterdrückung (Rommelspacher 2009) bzw. des muslimischen Mannes als Frauenfeind oder als aggressiver Junge (Fegter 2013). Im Kontext der Migrationsgesellschaft ist die Geschlechterforschung auf neue Weise herausgefordert, sich geschlechterpolitisch zu positionieren und sich gegen die migrationsfeindliche Instrumentalisierung von geschlechterbezogenen Emanzipationsanliegen zu wenden (Messerschmidt 2015). Dafür sind die Wechselwirkungen mehrerer Kategorien der Unterscheidung zu beachten. In der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft 8 wird gegenwärtig die Unterscheidung von Muslime und den als ›abendländisch‹ adressierten Deutschen eingesetzt, um Grenzen der Zugehörigkeit zu markieren. Als Prototyp für die ›Fremden‹ dient dabei die muslimische Frau, die sich mit islamischen Attributen ausstattet. Sie gilt als defizitär, unemanzipiert und rückständig, insbesondere dann, wenn sie das ›Kopftuch‹ trägt. Als orientalisierte Andere symbolisiert sie das, was westliche Frauen und die westliche Gesellschaft hinter sich gelassen zu haben glauben. Sie kann als Kontrastfolie eingesetzt werden für ein Selbstbild emanzipierter Fortschrittlichkeit. In letzter Zeit werden ungerechte oder gewalttätige Verhältnisse zwischen den Geschlechtern kaum noch hinsichtlich der weißen – nach wie vor über Abstammung definierten – deutschen Gesellschaft diskutiert, sondern in erster Linie auf die muslimische Minderheit projiziert. Familienmacht, Ehe, sexuelle Gewalt erscheinen als Probleme der Muslime. Es kommt zu einer Sexualisierung im Diskurs um den Islam, wobei die Geschlechterverhältnisse der Anderen abgewertet werden, um die eigene Situation zu idealisieren (Rommelspacher 2009: 401). Emanzipation wird dabei nicht mehr an der Ungleichverteilung von Arbeit, Einkommen und Status bemessen, sondern »am Abstand zwischen der westlichen und der muslimischen Frau« (ebd., Hervorh. im Original). Dabei kommt es zu einer Frontstellung in sich homogener kultureller Einheiten, die zudem bevorzugt mit genetischen Charaktereigenschaften in Zusammenhang gebracht werden (Karakaşoğlu 2009: 297). Antimuslimische Sichtweisen berühren sowohl das Bildungsverständnis wie auch das Verständnis von Geschlechterverhältnissen. Bleibt eine integrationskritische Auseinandersetzung aus, dann wird die gesellschaftliche Zugehörigkeit von Muslime daran gemessen, »inwiefern sie in ihrem Lebensstil den Commonsense der Mehrheit (als einer Art ›Nationalkultur‹) übernommen haben« (ebd.: 294). Dieser Commonsense wird auch einem Bildungsverständnis zugrunde gelegt, das eine habituelle Übereinstimmung der Lernenden mit einem bürgerlichweißen und mittelschichtsorientierten etablierten Bildungsangebot einfordert. Paul Mecheril bezeichnet das anknüpfend an Pierre Bourdieus Habitus-Konzept als »habituelle Disponiertheit« (Mecheril 2004: 149). Wer sich in einem Kontext aufhält, in den er eigentlich nicht passt, fühlt sich nicht zugehörig. Viel zu oft wird in schulischen Kontexten erwartet, die ›Mitgliedschaftsrolle‹

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bereits mitzubringen. Dieses dominante Mitgliedschaftsverständnis wird zunehmend konfrontativ gegenüber Muslime in Stellung gebracht, verbunden mit der Botschaft, dass ›sie‹ nicht zu ›uns‹ gehören. Geschlechterverhältnisse bilden thematische Aufhänger für diese Frontstellung. Das Selbstbild emanzipatorischer Fortschrittlichkeit wird dem Fremdbild patriarchaler Rückständigkeit gegenübergestellt (Messerschmidt 2010).

R assismuskritische G eschlechterforschung In der deutschsprachigen pädagogischen Geschlechterforschung geht die Thematisierung von Rassismus auf die diskriminierungskritischen Analysen und gesellschaftlichen Interventionen der amerikanischen schwarzen Frauenbewegung zurück. Im Zusammenhang der sozialen Kämpfe um eine Antidiskriminierungsgesetzgebung entwickelte die Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw bereits in den 1980er Jahren das Konzept der intersektionellen Wirkungen mehrdimensionaler Diskriminierungen (Crenshaw 1989). Insbesondere werden mit dem Intersektionalitätskonzept soziale Ungleichheitspositionierungen durch die Kategorien von Race, Class und Gender betrachtet (Leiprecht/Lutz 2009: 189ff.). Rassismus, Klassismus und Sexismus werden als wirkungsvolle zusammenhängende Praktiken in gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen analysiert und kritisiert. Alle drei Unterscheidungs-, Kategorisierungs- und Diskriminierungspraktiken sind im antimuslimischen Diskurs miteinander verknüpft. Rassistisch artikuliert sich dieser Diskurs, wenn er die Muslime als ethnische Gruppe homogenisiert und dabei zugleich abwertet; klassistische Sichtweisen kommen zum Ausdruck, wenn Muslime implizit als ›bildungsfern‹ und unterschichtszugehörig adressiert werden, wobei beides meistens hinter der kulturalisierten Religionsidentität eher indirekt und als Andeutung zum Ausdruck kommt; sexistische Zuschreibungen kommen zum Ausdruck, wenn Muslime pauschal ein traditionalistisch-patriarchales Geschlechterverhältnis zugeordnet wird, das im Kontrast zu einem modernemanzipatorischen Selbstbild als fremd und anders positioniert wird. Letzterem liegen dichotome Denkweisen von Modernitätsdifferenzen zugrunde, die keinerlei Kritik an den modernen Bedingungen dieser Denkweisen zulassen und keine Reflexion der kolonialen Muster ermöglichen, aus denen die europäische Moderne hervorgegangen ist. Europäische Gewaltgeschichte wird in dieser Sichtweise von vornherein dethematisiert; sie kommt als Problem nicht vor. In der Pädagogik spiegelt sich das bis heute darin, dass die Geschichte von Erziehung und Bildung im Zeitalter der Auf klärung unter Ausblendung der gleichzeitig ausgeübten kolonialen Herrschaftspraktiken erzählt wird. Eine herrschaftskritische Sicht auf die Gegenwart benötigt eine Perspektive, die sich vom reinen Selbstbild eigener Fortschrittlichkeit verabschiedet und dieses

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Bild uneindeutiger und brüchiger werden lässt. In der Geschlechterforschung ist die kritische Analyse der Nachwirkungen von Herrschaftspraktiken insbesondere durch die allmählich und nach einer langen Ausblendungsgeschichte durchgesetzte Thematisierung von Rassismus und Nationalismus entwickelt worden (Yıldız 2013, Yuval-Davis 2001). Eine kritisch-intersektionale Analyse dominanter Geschlechterordnungen betrifft gesellschaftliche Selbstbilder und deren historische Hintergründe. Die Einordnung geschlechtertheoretischer Konzepte in einen größeren Zusammenhang herrschaftskritischer Analysen fordert Christine Klapeer ein, wenn sie vor einer »methodologischen und politischen Verengung des Konzeptes der Heteronormativität« (Klapeer 2015: 26) warnt. Sie betrachtet Geschlechterkonzepte in ihrer Verwobenheit mit der Geschichte der Aufklärung, der Nationalstaaten und der globalen Ungleichheitsstrukturen. Um »Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept« zu stärken, erinnert sie an das umfangreiche feministische und lesbisch-feministische Archiv mit den bereits in den 1980er Jahren formulierten Positionen von Audre Lorde, Monique Wittig und Adrienne Rich, die Gewalt gegen Frauen in Zusammenhängen von Heterosexualität, Rassismus und Klassenungleichheit reflektiert und sich politisch dagegen engagiert sowie wissenschaftstheoretisch dagegen interveniert haben (ebd.: 31).

S e xualität und A ufkl ärung Das öffentliche Sprechen über sexualisierte Gewalt ist eingebunden in eine Geschichte des Sprechens über Sexualität. Michel Foucault warnte bereits in seiner »Histoire de la sexualité« in den 1970er Jahren vor der Sichtbarkeit, die eine Falle sei und vor dem Glauben an die befreiende Kraft der sexuellen Revolution (Foucault 1983). Seine Machtanalyse rekonstruiert, wie seit dem Viktorianischen Zeitalter in Europa aus dem Sex ein Diskurs gemacht worden ist, eingebunden in Technologien von Geständnis, Gewissen, Beichte und Therapie. Mit diesem analytischen Wissen im Gepäck wäre zu erwarten, dass eine Skepsis entsteht gegenüber jeder Annahme einer erreichten, wirklich ›emanzipatorischen Emanzipation‹. Doch diese Annahme wird andauernd zu einer Sicherheit erhoben, wenn das Selbstbild einer geschlechtergerechten und sexuell emanzipierten Gesellschaft gezeichnet wird. Ein Selbstbild, das dazu dient, in Stellung gebracht zu werden gegenüber einem kulturalisierten und rassifizierten Gegenbild frauenverachtender und patriarchal erzogener Fremder. Die Reaktionen auf die Ereignisse in Köln und Hamburg zeigen, wie aus dem Glauben an die Befreiung unserer selbst ein reaktionärer Gewinn gezogen werden kann. Offensichtlich eignet sich das Dispositiv der Sexualität für mehrere Kontrollbedürfnisse. Neben der Kontrolle der Perversionen bietet es

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ein Machtfeld, auf dem unerwünschte Einwanderung begrenzt und rückgängig gemacht werden kann. Als Gegenmittel gegen die Instrumentalisierung geschlechter- und sexualitätspolitischer Probleme steht allen, die rassismuskritisch und migrationsgesellschaftlich argumentieren wollen, ein geschichtstheoretisches Wissen über die Zwiespältigkeit europäischer Kulturgeschichte zur Verfügung. Die innere Dialektik der europäischen Aufklärung oder modernisierungstheoretisch gefasst die »Ambivalenz der Moderne« (Bauman 1995) hat Frauen ein zwiespältiges Erbe hinterlassen. Denn trotz des universalen Anspruchs auf die Gleichheit aller Menschen waren sie vom Allgemeinen des Subjektseins ausgeschlossen; eine »Sonderanthropologie« (Honegger 1991) wurde auf sie angewendet. Die Zweitrangigkeit der Frau ist ein konstitutiver Bestandteil des Aufklärungsdenkens und nicht ein bedauernswerter Überrest vormoderner Traditionen. Um das zu verstehen, ist eine dialektische Bildung erforderlich, die ich für eine Voraussetzung rassismuskritischer Reflexivität halte. In der Abwertung der Frau spiegelt sich die »Wut auf die Differenz« (Horkheimer/Adorno 1987: 238) als Produkt einer projektiven Abspaltung. Das Irrationale, das in der Weiblichkeit symbolisch repräsentiert wird, muss eingedämmt werden. Im rassistischen Modus wird dieses Irrationale nun nicht mehr der Frau zugeordnet, sondern dem fremden Mann, dem Orientalen, der ganz und gar anders zu sein hat als ›wir‹. Diese Wendung auf den Orientalismus vollziehen auch einige Feministinnen nach, was ihnen zu größerer Popularität verholfen hat, als mit jedem frauenpolitischen Anliegen jemals zu erreichen gewesen wäre. Die orientalistische Projektion überträgt eigene, nicht erfüllbare Sehnsüchte nach dem Genießen weiblicher Körper auf einen männlichen Repräsentanten, der ›nicht ich‹ ist – kulturell fremd und geografisch fern. Die Wucht, mit der das Sprechen über ›arabische bzw. nordafrikanische Männer‹ im öffentlichen Raum aufgetreten ist, kann ich mir kaum anders erklären. Das »Nicht-Ich« (Braun 2003), das Christina von Braun in der phantasmatischen Figur der hysterischen Frau verkörpert sah, hat einen neuen Topos gefunden, den orientalischen Mann, der dem Animalischen näher sein soll als dem Zivilisatorischen. Geschlecht wird dabei vereindeutigt und vervollständigt, der anthropologische Gehalt des Geschlechtlichen als Hinweis auf unsere universale Unvollständigkeit wird abgewehrt (Rendtorff 1998). Dagegen fasst Barbara Rendtorff die Erfahrung von Geschlechtlichkeit als Ausdruck für die »Unassimilierbarkeit des Anderen« (ebd.: 87). Der Andere des anderen Geschlechts drückt in dieser Perspektive die »Unmöglichkeit von abgegrenzter Identität überhaupt« aus (ebd.: 88, Hervorh. im Original). Diese_r Andere entzieht sich jeder identitären Besetzung. Um in Forschung und Bildungsarbeit den in der Öffentlichkeit vermehrt auftretenden identitären Artikulationen etwas entgegenzusetzen, sind alte und neue Verknüpfungen von postkolonialer, migrationspädagogischer und feministischer Theorie erforderlich (Schirilla

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2003), wie sie in intersektionaler Geschlechterforschung erarbeitet und erprobt werden (Hess et al. 2011).

Tabubehaup tungen Ein Mittel zur Verbreitung von Ressentiments besteht in der Behauptung von Schweigegeboten und Tabus. Die damit Adressierten können sich in der unschuldigen Position der Betrogenen und in ihrer Redefreiheit Unterdrückten wiederfinden. Das ist offensichtlich attraktiv, weil man sich damit unangreifbar machen kann. Der Mechanismus ist aus dem sekundären Antisemitismus bekannt: Im sekundär antisemitischen Modus wird behauptet, man dürfe gegen Juden und gegen Israel nichts sagen – wegen des Holocaust. Das Ressentiment setzt sich aus einem Selbstbild zusammen, das die Vorstellung bedient, von einer übermächtigen Instanz unterdrückt, gegängelt und in der Ausübung der eigenen Freiheit eingeschränkt zu werden. Im gegenwärtigen Anti-Migrations-Rassismus kommt dieses Muster in vielen Varianten vor. ›Nach Köln‹ wurde schnell verbreitet, dass Polizei und Medien die ›Herkunft‹ der Übeltäter verschleierten – dass also die anständigen Bürger über die wahren Vorgänge im Unklaren gehalten würden. Die Unterstellungen des systematischen Kolportierens der Unwahrheit öffnen alle Türen für die Produktion und Verbreitung von Gerüchten. Wenn die öffentlichen, die staatliche Macht repräsentierenden Institutionen ›lügen‹, dann werden die populären Gegenbehauptungen zur Wahrheit, die das ›Volk‹ kennt, die ihm aber vorenthalten wird. Ressentiment und Gerücht verstärken sich gegenseitig und erzeugen eine gefährliche Spirale des Populismus, der staatliche Instanzen als illegitim erscheinen lässt. Das schadet der Demokratie – mehr als jede Straftat ihr schaden könnte. Die antirassistische, politisch links sozialisierte Szene trifft im Verhältnis zu den Institutionen auf ihre eigene Staatsfeindschaft. Wenn die Wirklichkeit des Rassismus innerhalb staatlicher Institutionen – vor allem in Schule und Polizei – als Staatsrassismus aufgefasst wird, entsteht ein verzerrtes Bild über die Zustände des öffentlichen Lebens, das mit anderen Vorzeichen als im Rechtspopulismus ebenfalls zu einer Reserviertheit gegenüber der Demokratie beiträgt. Doch die Institutionen dieser Demokratie bieten den Boden, auf dem Antirassismus und Rassismuskritik artikuliert und praktiziert werden können. Diese Institutionen haben vielfach ein verdrängtes Rassismusproblem, doch sie sind nicht programmatisch rassistisch aufgestellt und können deshalb verändert werden.

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A lternative P erspek tiven Bündnisse sind einzugehen mit den fortschrittlichen antisexistischen Bewegungen in aller Welt. Analytische Ressourcen zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kultur und Religion zur Sexualität sind aufzugreifen, bspw. die Arbeit »La Sexualité en Islam« von Abdelwahab Bouhdida, bereits 1975 erschienen; oder »A Taste of Honey: Sexuality and Erotology in Islam« von Habeeb Akande (2015); oder »Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt« von Shereen El Feki (2013). Kenntnisse sind zu erwerben über feministische Diskurse im modernen Islam und über Frauenbewegungen in islamisch geprägten Gesellschaften. Muslimisch-feministische Stimmen haben es heute schwer in vielen Ländern, doch sie kommen auch hierzulande kaum zu Wort – allerdings werden ihre Vertreterinnen hier nicht von staatlichen Institutionen bedroht – ein Unterschied, der manchmal hervorgehoben werden muss. Der Islam, der zu Deutschland gehört braucht die ganze Bandbreite muslimischer Artikulationen, um gegen das vereindeutigende Bild der zu einer Gruppe gemachten Muslime wirken zu können. Selbstkritische Stimmen zum Umgang mit Tradition, Religion, Geschlechterverhältnissen und Sexualität sind vorhanden und haben sich auch schon Gehör verschafft, bspw. bei einer Demonstration vor dem Kölner Hauptbahnhof, an der sich insbesondere Geflüchtete beteiligt und darauf hingewiesen haben, dass sie derartige frauenfeindliche Verhaltensweisen ablehnen und sich davon distanzieren. Auch wenn es erschütternd ist, dass solche Klarstellungen notwendig geworden sind, bringen sie andere Stimmen zu Gehör. Was langfristig benötigt wird, ist eine nicht identifizierende Thematisierung von Frauenverachtung und sexualisierter Gewalt bzw. sexueller Belästigung. Diese nimmt nicht die Identitäten der Akteure in den Blick, sondern die Verhältnisse, die diese Gewalt begünstigen und ermöglichen. Lösungsansätze bietet nach Michael Tunç eine »rassismuskritische Männerpolitik« (Tunç 2016: 18), die Rassismuserfahrungen von Männern sowie rassistische Einstellungen und Praktiken von Männern gleichermaßen aufgreift. Voraussetzung dafür ist ein intersektionales Denken, das Rassismus und Sexismus in ihren Wechselwirkungen bewusstmacht. Wer Alternativen zum populistischen Sprechen ausarbeitet, fängt nicht bei null an. In Teilen der Öffentlichkeit gibt es längst eine viel differenziertere Diskussion, als es die populistischen Teile der Medienlandschaft vermuten lassen. Die Orte der Kritik sind nur leider nicht so gut ausgestattet wie die Talkshows und Plattformen, auf denen Hass und Verachtung artikuliert werden können. Das Projekt einer Gegenhegemonie steht weiterhin aus, und dabei handelt es sich um ein Projekt, das alle verbindet, die gegen Sexismus und Rassismus und gegen die rassistische Instrumentalisierung der Geschlechtergleichheit eintreten.

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A nmerkungen 1 Erweiterte Fassung eines Vortrags bei einer vom Netzwerk für Rassismuskritische Migrationspädagogik in Baden Württemberg organisierten Veranstaltung an der Universität Tübingen am 28. Januar 2016. www.rassis muskritik-bw.de/ 2 Der Spiegel 4/2016, S. 119. 3 #ausnahmslos. Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall.: http://ausnahmslos.org/ 4 Von männerpolitischer Seite kommt die Kampagne »Nicht mit mir – Männer gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus«: www.nichtmitmir.eu 5 www.unhcr.de/service/zahlen-und-statistiken.html (08.07.2016). 6 www.aufruf-fuer-solidarische-bildung.de (2015) (22.08.2016). 7 #aufschrei (2013) 8 Die Begriffe Einwanderungsgesellschaft und Migrationsgesellschaft unterscheiden sich, da Migration auf die Komplexität von Ein- und Auswanderungsprozessen, Remigration, Pendelmigration und Transmigration verweist, was mit dem Begriff der Migrationsgesellschaft angemessener erfasst werden kann. Dennoch verwende ich auch die Bezeichnung Einwanderungsgesellschaft, wenn es darum geht, den innergesellschaftlichen Diskurs um Migration aufzugreifen, der in Europa vor allem Einwanderungsphänomene betrifft.

L iter atur Adorno, T. W. (2001 [1951]). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Akande, H. (2015). A Taste of Honey. Sexuality and Erotology in Islam. London: Rabaah. Bauman, Z. (1995). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a.M.: Hamburger Edition. Bouhdiba, A. (2003 [1975]). La Sexualité en Islam. Paris: Quadrigue. Bourdieu, P. et al. (1997). Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag. von Braun, C. (2003 [1985]). Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido. Frankfurt a.M.: Neue Kritik. Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. In: The University of Chicago Legal Forum 1989 (1), S. 139-167. El Feeki, S. (2013). Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt. Berlin: Hanser.

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Fegter, S. (2013). Von raufenden Jungs und türkischen Jungmännern. Oder: Wie männliche Aggressivität Erziehungswirklichkeiten in der Migrationsgesellschaft ordnet. In: Diehm, I./Messerschmidt, A. (Hg.): Das Geschlecht der Migration. Bildungsprozesse in Ungleichheitsverhältnissen (S. 23-41). Opladen/Berlin: Barbara Budrich. Foucault, M. (1983 [1977]). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hess, S./Langreiter, N./Timme, E. (Hg.) (2011). Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld: transcript. Honegger, C. (1991). Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfurt a.M.: Campus. Horkheimer, M./Adorno, T. W. (1987 [1947]). Dialektik der Aufklärung. In: Horkheimer, M. (Hg.): Gesammelte Schriften 5. Frankfurt a.M.: Fischer. Karakaşoğlu, Y. (2009). Islam als Störfaktor in der Schule. Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und Alltagskonflikten. In: Schneiders. T. G. (Hg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (S.  289-304). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Klapeer, C. M. (2015). Vielfalt ist nicht genug! Heteronormativität als herrschafts- und machtkritisches Konzept zur Intervention in gesellschaftliche Ungleichheiten. In: Schmidt, F./Schondelmeyer, A.-Ch./Schröder, U. (Hg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Lebenswirklichkeiten, Forschungsergebnisse und Bildungsbausteine (S. 25-44). Wiesbaden: Springer VS. Leiprecht, R./Lutz, H. (2009). Rassismus – Sexismus – Intersektionalität. In: Melter, C./Mecheril, P. (Hg.): Rassismuskritik Band 1: Rassismustheorie und -forschung (S. 179-198). Schwalbach/Taunus: Wochenschau. Mecheril, P. (2004). Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. Messerschmidt, A. (2010). Differenzverhältnisse. Ansätze zur Kritik von Geschlechterordnungen und Impulse für die politische Bildung. In: Außerschulische Bildung 3 (2010), S. 234-241. Messerschmidt, A. (2015). Sprechen über Andere? Thematisierungen von Geschlechterverhältnissen in der Migrationsgesellschaft. In: Hoyer, B. (Hg.): Migration und Gender. Bildungschancen durch Diversity-Kompetenz (S. 6979). Opladen: Budrich UniPress. Rendtorff, B. (1998). Geschlecht und différance. Die Sexuierung des Wissens. Königstein: Ulrike Helmer. Rommelspacher, B. (2009). Feminismus und kulturelle Dominanz. Kontroversen um die Emanzipation der muslimischen Frau. In: Berghahn. S./ Rostock, P. (Hg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopf-

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tuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz (S.  395-411). Bielefeld: transcript. Schirilla, N. (2003). Autonomie in Abhängigkeit. Selbstbestimmung und Pädagogik in postkolonialen, interkulturellen und feministischen Debatten. Frankfurt a.M.: IKO. Tunç, M. (2016). Männlichkeiten und (Flucht-)Migrationserfahrungen. Kritik und Emanzipation. Überblick. Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 1, S. 15-19. Yıldız, S. (2013). Die Macht der Nation: Zur Vergeschlechtlichung der Migration. In: Diehm, I./Messerschmidt, A. (Hg.): Das Geschlecht der Migration. Bildungsprozesse in Ungleichheitsverhältnissen (S. 61-75). Opladen/ Berlin/Toronto: Budrich. Yuval-Davis, N. (2001). Geschlecht und Nation. Emmendingen: die brotsuppe. Žižek, S. (1991). Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin: Merve.

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Stop Slumming! Eine Kritik kultureller Bildung als Verhinderung von Selbstermächtigung Carmen Mörsch

Im Zusammenhang mit einer ›Dämonisierung des Anderen‹ über kulturelle Bildung1 zu schreiben, erscheint zunächst wenig naheliegend. Das in diesem Arbeitsfeld vorherrschende Selbstverständnis bezeichnet genau das Gegenteil: Kulturelle Bildung beinhaltet das Versprechen der Ermächtigung von Minorisierten. Sie soll ihnen ›eine Stimme gegeben‹, sie bei ihrer ›Integration‹ fördern und sie dabei unterstützen, ihre besonderen Fähigkeiten zu entfalten; gesamtgesellschaftlich soll sie Kohäsion, ›ein friedliches Miteinander‹ erzeugen; ein Klima, in dem ›Vielfalt als Bereicherung‹ gefeiert wird. Die zumeist weißen, weiblichen, gut mit symbolischem Kapital ausgestatteten kulturellen Bildungsarbeiter_innen respektive die Institutionen, die sie (denkbar schlecht) bezahlen, haben dabei in den letzten Jahren besonders die Migrationsanderen als Zielgruppe ins Visier genommen. Eine (und wie zu zeigen sein wird, nicht die erste) Welle von Aktivitäten, beispielsweise, ›Migrant_innen ins Museum‹ zu holen oder den Leistungsausweis von ›Brennpunktschulen‹ verbessern zu helfen, entstand nach dem Anschlag auf die New Yorker Twin Towers 2001. Eine zweite baut sich zum Entstehungszeitpunkt dieses Textes auf und betrifft insbesondere Projekte der kulturellen Bildung im Kontext Flucht. Mit wenigen Ausnahmen, auf die ich noch kommen werde, lassen sich bei diesen Aktivitäten die gleichen, historisch gewachsenen Dominanzverhältnisse eines »rassistischen Humanismus« beobachten, wie Jean Paul Sartre ihn 1961 in seinem Vorwort zu Frantz Fanons Schrift »Die Verdammten dieser Erde« bezeichnete.2 Kurz zusammengefasst, artikuliert sich dieser im Entwurf der Anderen als gegenüber dem dominanten Subjektentwurf bürgerlicher, weißer, westlicher Gesellschaften grundsätzlich Unterlegene, die der Hilfe und Anleitung bedürfen. Ziel dieser Hilfe und Anleitung ist es, sie dem Vorbild möglichst weit anzunähern, sie also zu zivilisieren – nicht, um ihren Anspruch auf gleiche Rechte und Ressourcen zu behaupten, sondern

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um die Bedrohung, die von ihnen ausgeht, zu zähmen und damit die eigenen Vorrechte und Privilegien zu sichern. Bei Aktivitäten in der kulturellen Bildung reaktualisiert sich dieses Verhältnis beispielsweise so: Der größere Teil von Projekten mit migrationsgesellschaftlichem Fokus wird von Mehrheitsangehörigen vorangetrieben, welche sich über als migrantisch markierte Teilnehmende freuen, aber die Jobs im Kulturbetrieb gerne weiterhin selbst besetzen wollen: Die Forderung »Migrant_innen ins Museum« beispielsweise meint in der Regel nicht das Direktor_innenzimmer oder überhaupt nur irgendeinen Arbeitsplatz mit Gestaltungsmöglichkeiten jenseits der unteren Dienstleistungsbereiche wie Aufsicht, Maintenance, Garderobe. Der Deutsche Museumsbund scheut sich nicht, im Jahr 2015 eine fast fünfzigseitige Handreichung für Museen zu »Migration und kultureller Vielfalt« herausgeben, in dessen Autor_innen- und Redaktionsteam, folgt man der Namensliste, kaum etwas von dieser zu vermuten ist – erst in der Liste der zur Beratung Hinzugezogenen finden sich minimale Spuren der real existierenden gesellschaftlichen Pluralität. Auch in der deutschen Kunstpädagogik ist das Thema ›Transkulturalität‹ oder ›Kulturelle Vielfalt‹ in den letzten zehn Jahren von weißen mehrheitsangehörigen Fachleuten entdeckt worden, die sich damit profilieren und akademische und politische Positionen besetzen. Erkenntnisse aus einem sich gegenwärtig international etablierenden Forschungsbereich, der sich mit den Ein- und Ausschlussmechanismen in der Ausbildung an Kunsthochschulen und in den Kulturberufen beschäftigt, bestätigen folgerichtig den Verdacht, dass das kulturelle Feld gar nicht per se dazu angetan ist, soziale Kohäsion und gesellschaftliche Teilhabe zu erzeugen. Stattdessen: Egal in welchem (europäischen und nordamerikanischen) Land und in welcher künstlerischen Disziplin unternommen, verweisen die Ergebnisse entsprechender Studien auf ähnliche Probleme: Kein anderes gesellschaftliches Spielfeld ist so exklusiv wie die Künste. Wer darin auf welche Weise auftaucht, entscheidet sich im Rahmen komplexer Selektionsprozesse (ich verwende absichtlich das unappetitliche Wort), die sich über das Zusammenwirken von mit den Kategorien Race, Class, Gender, Ability und Age verbundenen, machtvollen Zuschreibungen strukturieren. Ausgerechnet der Bereich also, in dessen Selbstverständnis es auf Verlautbarungsebene stets nur um ›Talent‹, um die Entfaltung von Persönlichkeiten und die Förderung von Begabungen geht, ist in allerhöchstem Maße von sozialer Reproduktion und von multiplen Erfahrungen diskursiver Gewalt geprägt. Wenn ernstzunehmende Öffnung darin geschieht – und das heißt bei einem so begehrten Bereich, dass welche Platz machen müssen – so aufgrund der Mobilisierung der Ressourcen derer, die in diesen Welten nicht vorgesehen sind. Sie unternehmen große individuelle und kollektive Anstrengungen, um zuweilen – und in einigen urbaneren Gegenden auch immer öfter – hineinzukommen. Wenn

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sie hineingekommen sind, dann geschieht in der Regel zweierlei: Zum einen geht der Spaß des sich Hineinreklamierens drinnen weiter, denn viele Türen innerhalb der Kulturwelten erweisen sich als Ausgänge, Treppen und Leitern stoßen an gläserne Decken. Zum anderen bedeutet ihr Beharren eine zunächst unbequeme, doch am Ende für den Mehrwert gut verwertbare Horizonterweiterung für dieses »preserve of the privileged« (Rohini 2005). Konfliktive und nicht immer gewünschte Horizonterweiterungen ereignen sich entsprechend auch im Arbeitsfeld der Kulturellen Bildung: Nicht zuletzt die herrschenden Förderlogiken animieren gegenwärtig institutionelle Akteur_innen zur Arbeit mit Geflüchteten, die nicht über das geringste Wissen zu Antidiskriminierung oder Dekolonisierung verfügen. Die Förderstellen und die Politik erwarten von ihnen ein Engagement in diesem Feld, weitgehend ohne dafür Sorge zu tragen, wie und unter Beteiligung von wem ein solches Wissen aufgebaut werden könnte. Die Projekte werden wiederum von mehrheitsangehörigen Kulturschaffenden gestaltet, welche die Verwendung der Ressourcen, die Inhalte, die Praktiken und die Repräsentationen kontrollieren. Refugees ist dabei der Platz von hilfebedürftigen, in dominante Konzepte von Kultur zu integrierenden Problemfällen zugewiesen. Gleichzeitig werden sie als exotische Ressource verniedlicht und kommodifiziert und ihre Situation gewaltvoll verharmlost, wenn beispielsweise Designer_innen mit ihnen Prototypen für ›Souvernirs‹ entwickeln, deren Ästhetik und Gebrauchswert sich aus einem von den Fachleuten orchestrierten Mix der ihnen zugeschriebenen ›verschiedenen Kulturen‹ speist. Oder wenn ein Künstler in einem sogenannten partizipatorischen Kunstprojekt tatsächlich unter dem Vorwand der Sensibilisierung und Aufklärung Besichtigungstouren zu den Lagern anbietet, in denen sie interniert sind und dabei authentische Begegnungen verspricht.3 Schon in den Artikulationen zur Motivation dieser Projekte finden sich Zuschreibungen und koloniale Methaphern: So äußerte beispielsweise ein Kollege, ein unweit seiner Kunsthochschule entstehendes Containerlager für Geflüchtete sei »ein hervorragendes Experimentierfeld« für die Studierenden der Kunstpädagogik; ›Neugier‹ an der Begegnung mit dem Fremden und ›Entdeckerfreude‹ sind vermeintlich unschuldige, unverändert positiv besetzte Tropen, die zur Begründung für ein Engagement mit Geflüchteten mobilisiert werden. Wenn Refugees diese ihnen zugewiesenen Plätze verweigern und andere Forderungen oder Vorstellungen haben – seien diese über kommunikative Konventionen einer bürgerlichen Vorstellung von Öffentlichkeit (»ich stelle hiermit eine Forderung zur Diskussion«) artikuliert oder über andere Formen (»ich komme nicht mehr zum Projekt oder nutze das Projekt für nicht darin vorgesehene Praktiken«), respektive wenn sie sich schlicht nicht so benehmen, wie es von ihnen erwartet wird – sind die entsprechenden Projektemacher_innen schnell in einer Krise. Dann brechen sich kulturalisierende, rassisierende

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Zuschreibungen im Mantel von Ratlosigkeit und Frustration Bahn: Autoritäres Vorgehen und Ausschluss verdrängen dann die vorher zelebrierte Gastfreundschaft, Neugierde und Offenheit. Betrachte ich dieses Szenario im Jahr 2016, so assoziiere ich ein ums andere Mal eine als ›Slumming‹ bezeichnete Praxis, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im viktorianischen London etablierte. Der von Beginn an ironisch abwertend gebrauchte Begriff kam in den 1880er Jahren in der Presse auf, um eine Praxis von weißen Angehörigen der Middle- und Upperclass zu bezeichnen, die darin bestand, die Armenviertel der Stadt zu besuchen, um durch die Begegnung mit weniger Privilegierten den eigenen intellektuellen, sozialen und sexuellen Horizont überschreitende Erfahrungen zu machen. Angesichts der großen Nachfrage entstand eine kommerzielle Variante von Slumming, organisierte touristische Busreisen mit geführten Spaziergängen und herbeigeführten Begegnungen mit den Bewohner_innen, die in der Presse in kolonialer Manier als Wilde und ihre Wohngegenden als Dschungel bezeichnet wurden. Informelle Varianten waren heimliche Exkursionen von durch sicher nicht nur von ›Neugier und Entdeckerfreude‹ getriebene Gentlemen und die häufig durch einen Geistlichen geleiteten Ausflüge bürgerlicher Frauen im Zeichen der Wohlfahrt und Missionierung. Diese Praxen entwickelten sich zur gleichen Zeit wie die Sozialwissenschaft und sind mit dieser verbunden: In den gleichen urbanen Gegenden, in welche die organisierten Slummingtouren angeboten wurden, entstanden auch die ersten soziodemographischen Studien über die Effekte materieller Armut und die ersten Ethnographien ›at home‹. Sie waren nicht immer klar unterschieden von einer florierenden literarischen und investigativ-journalistischen Textproduktion, welche die gleichen Verhältnisse und Bevölkerungsgruppen für ein breites Publikum konsumierbar machte und wesentlich zur öffentlichen Meinungsbildung über die Bedrohung und die Faszination, die gleichermaßen von ihnen ausging, beitrugen.4 Denn der bürgerliche Blick auf diese Viertel und ihre Bewohner_innen war ambivalent, oszillierte genau wie heute zwischen Angst und Begehren: Begehren nach den Entfaltungsmöglichkeiten und Horizonterweiterungen, welche die ›Begegnung mit dem Fremden‹ und die Abwesenheit des strengen viktorianisch-bürgerlichen Verhaltenscodex in diesen Räumen versprach; Angst, es könnten aus den geografisch naheliegenden Vierteln heraus eine Revolution oder zumindest vereinzelte Riots entstehen, welche den eigenen Besitzstand, die eigenen Privilegien bedrohten. Die Erfahrungen mit dieser Bedrohung waren zu diesem Zeitpunkt, Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, bereits zahlreich; Aufstände in den Kolonien und in den Straßen der europäischen Städte hatten deutlich gemacht, dass erbeuteter Besitz nichts Gottgegebenes und durch die vermeintliche eigene Überlegenheit dauerhaft Legitimiertes ist, sondern beständig geschützt und verteidigt werden muss. 1848 war das kommu-

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nistische Manifest erschienen und verschiedene Gruppierungen waren dabei, sich das Recht politisch zu wählen und wirksam zu werden zu erstreiten. Die möglichen Positionierungen des liberalen Bürgertums waren – ebenfalls wie heute im Kontext der Fluchtbewegungen – geprägt von Scham angesichts der ungleichen Besitzverhältnisse, von Gerechtigkeitssinn und einer damit einhergehenden politisch kämpferischen Position, vom Interesse an der eigenen, persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung im Rahmen dieser Kämpfe, von Furcht vor dem Verlust von Privilegien, von der Faszination am ›Anderen‹ und einer Lust an sozialer und sexueller Transgression, von einer Romantisierung dieses Anderen als authentisch, sowie von einem mit alledem einhergehenden, kaum gebrochenen, wenn auch heuer selten explizit artikulierten Überlegenheitsgefühl, das die Lösung der sozialen Frage letztlich im Paternalismus verortet, die Anderen sich durch Erziehung ähnlich zu machen. Ein Ort ist für die Reflexion von historischen Kontinuitäten der Machtverhältnisse spezifisch in der kulturellen Bildung dabei besonders interessant: Als erster Ort der aufsuchenden Sozialarbeit und gleichzeitig der kulturellen Bildung entstand 1884 das ›social settlement‹ Toynbee Hall, gegründet von einem Pastorenehepaar, Canon und Henrietta Barnett, die sich als christlichliberal verstanden. Der Ort befand sich im Londoner East End, der sozial verarmten Hafengegend der Stadt. Das East End war ein Hot Spot des Slummings und gleichzeitig ein Ort, von dem aus sich der Widerstand der Arbeiter_innen organisierte und wesentliche soziale und demokratische Errungenschaften ihren Anfang nahmen. Angehörige von Universitäten, reiche Gönner_innen, linke Parlamentsmitglieder und Leiter_innen bereits bestehender sozialer Einrichtungen unterstützten Toynbee Hall, dessen erklärter Zweck es war, Bildungs- und Freizeitangebote für die Bevölkerung des East End vorzuhalten, Forschung zu den Lebensbedingungen der Armen zu betreiben und darauf basierende Hilfsmaßnahmen zu treffen. Die Arbeit von Toynbee Hall fußte wesentlich auf der temporären Ansiedlung von Studierenden aus Oxford und Cambridge, sogenannte ›residents‹, die dort ihre Ferien oder ein Semester verbrachten und sich in die verschiedenen Aktivitäten involvierten. Darüber hinaus wurden Mitglieder der lokalen Bevölkerung als Helfer und Intermediäre einbezogen. Der Trägerverein von Toynbee Hall finanzierte erste sozialwissenschaftliche Studien über die Lebensbedingungen der Bevölkerung im East End. Aus Toynbee Hall heraus entstanden unter anderem die erste Mieter_innenschutzvereinigung, die Einführung von lokalen Mittelschulen sowie die Versorgung des Viertels mit Wasser und Strom. Es war Versammlungsort für die verschiedenen migrantischen Gruppen des Viertels, genauso wie für die sich in dieser Zeit bildenden Gewerkschaften und Kooperativen. Viele der Toynbee residents waren in die Arbeitskämpfe involviert. Jedoch plädierten die Gründer_innen für eine Reform, die sie mit ›practicable socialism‹ titulierten.

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Die Grundlage für das Gelingen des practicable socialism sei die individuelle Ausbildung von ›character‹, den respektablen Eigenschaften des ›common man‹ als das Fundament, auf dem die britische Gesellschaft ruhe. Practicable socialism würde durch allmähliche Reformen und relative Verbesserung von Lebensbedingungen dazu führen, dass jede_r den jeweils von Gott zugewiesenen Platz in der Gesellschaft anerkennen würde, so dass sich Aufstände und Revolutionen erübrigten. Die Betreiber_innen von Toynbee Hall grenzten sich in Vorgehensweisen und Selbstverständnis explizit vom Slumming ab; sie zeigen Analogien zu den Vorgehensweisen der christlichen Mission in den Kolonien, wie auch die Programmatik, durch das Leben mitten unter den zu erziehenden ›Wilden‹ ein gutes Beispiel zur Orientierung Letzterer zu geben. Jedoch waren die Grenzen zum Slumming fließend, denn auch und gerade die Solidarisierung in sozialen Kämpfen boten Raum für grenzüberschreitende Begegnungen, für Horizonterweiterungen und den eigenen Verhaltenscodex sprengende Entfaltungsmöglichkeiten. So waren in die Aktivitäten von Toynbee Hall auch viele Künstler_innen involviert, motiviert durch eine Mischung aus Faszination für das Fremde und sozialem Engagement. Die Überzeugung, dass die Beschäftigung mit ›dem Schönen‹ ein unverzichtbares Werkzeug des practicable socialism bei der bürgerlichen Zivilisierung der verarmten Bevölkerung sei, bildete die Grundlage für diese frühen Artikulationen kultureller Bildungsarbeit. Es ging darum, ›sehen zu lernen‹, im Sinne des Erkennens der in der eigenen Elendssituation vermeintlich verborgenen Schönheit, als auch im Sinne einer Fähigkeit zum Erkennen einer höheren Wahrheit. Predigtartige Vermittlungsarbeit vor Kunstwerken in den von Toynbee Hall veranstalteten, von der lokalen Bevölkerung stark besuchten Kunstausstellungen, die Unterweisung in der künstlerischen Dekoration und im Sauberhalten der ärmlichen Behausungen im Viertel bis hin zu Kunstreisen nach Italien mit den besonders bildungswilligen Bewohner_innen waren Bestandteil dieses frühen Projektes der kulturellen Bildung. Ähnlich wie die Kolonien, boten ›Siedlungen‹ (Settlements) wie Toynbee Hall insbesondere für bürgerliche Frauen neue Entfaltungsmöglichkeiten. Gerade auch Künstlerinnen wurde so ermöglicht, im sonst männlich dominierten Kunstbetrieb an einem hegemonial als kohärent empfundenen Platz – an der Schnittstelle zwischen Kunstproduktion und Sozialarbeit – Sichtbarkeit zu erlangen. Mit ihrem künstlerischen Wissen und Können und den ihnen zugeschriebenen ›weiblichen Tugenden‹ trugen sie zu dem bei, was Eileen Yeo als »social mothering« bezeichnet hat (1992: 63ff.): die Erziehung der gesellschaftlich als ›Kinder‹ entworfenen Anderen – der verarmten Industriearbeiter_innen genauso wie der Kolonisierten – durch eine Mischung aus Diziplinierung, Fürsorge, Trost und Ansporn. Migrationsandere waren bereits damals, Ende des 19. Jahrhunderts, ein zentraler Fokus dieser Bemühungen. In Toynbee Hall genauso wie in der – von zwei Frauen, einer Künstlerin und

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einer Soziologin und Journalistin gegründeten und geleiteten – Schwesterorganisation Hull House in Chicago bestand eine wesentliche Motivation des Bildens durch Kunst in der Assimilierung von neu eingewanderten Gruppen in die national-identitären Werte des Aufnahmelandes. Die Herstellung von inferiorer Alterität – von als benachteiligt und unterlegen entworfenen Anderen, die es zu heilen, zu verbessern, zu bilden gilt – als legitimatorisches Fundament für die Arbeit in der kulturellen Bildung resultierte in diesen Institutionen in Widersprüchen, die sich bis heute in der kulturellen Bildung reaktualisieren: Der Wunsch, die Lebensbedingungen der Anderen zu verbessern, ohne in letzter Konsequenz auf eigene Privilegien zu verzichten, führt in den Widerspruch, trotz einer möglichen Solidarisierung aus der eigenen Position nicht herauszukommen. Der Widerspruch, dass Kunst im Sinne einer universalen Sprache für sich selbst sprechen und allgemein verständlich sein sollte und sie gerade deswegen ein soziale Ungleichheit versöhnendes Potential beinhalte, aber sie gleichzeitig doch erklärt werden müsse, damit sie ›richtig‹ verstanden würde genauso wie der Widerspruch, Teil des sozialen Kontextes, in der die kulturelle Bildung angesiedelt ist, zu sein und gleichzeitig deren moralisch, ökonomisch und intellektuell überlegenes Vorbild sein zu wollen, resultierten häufig in einer distinktiven ironischen Distanznahme gegenüber den Perspektiven und dem Verhalten der zu erziehenden Anderen, gleichzeitig aber auch zu einer romantisierenden Idealisierung von deren vermeintlicher Authentizität. Beides impliziert ein paternalistisch strukturiertes ›Verstehen‹ und Beurteilen der Perspektiven der Anderen und ihrer Entwicklung. Die diesen Praktiken und den mit ihnen verbundenen Widersprüchen zu Grunde liegenden Wurzeln der Idee, dass Kunst ein probates Mittel zur Bildung (im Sinne von ›Erziehung‹ und ›Herstellung‹) disziplinierter bürgerlicher Subjekte sei, reichen bis in die Zeit der ersten Formierung des autonomen künstlerischen Feldes zurück. Im Sinne ästhetischer Kenner_innenschaft wurde ›Geschmack‹ als Kultur, verbunden mit Bildungsabsichten bereits seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts für das national-identitäre Selbstverständnis einer vom Adel unabhängig werdenden, besitzenden Schicht in Anschlag gebracht. Damit aufs Engste verschränkt wurde das Konzept für ein kolonial geprägtes Weltverständnis, in rassistischen Taxonomien im Sinne von ›eigener‹ und ›fremder‹ Kultur verwendet. Solche Abgrenzungsfunktionen – die zwischen gesellschaftlichen Schichten und die, welche das vermeintlich ›Eigene‹ und das vermeintlich ›Fremde‹ festzuschreiben und voneinander hierarchisch zu unterscheiden sucht – sind in den heutigen Verwendungen von ›Kultur‹ wie von ›Bildung‹ wirkmächtig, genauso wie Kapitalismus und Kolonialismus, die für die Entstehung des Konzeptes den Rahmen bildeten (Mörsch 2015: 17-29). Doch bereits bei ihrem begrifflichen Aufkommen gehörten ›Kultur‹ und ›Bildung‹ niemals nur einem Teil der Gesellschaft. Karnevalistische Überschrei-

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tungen und Satire, Aneignungen und Umarbeitungen, politische Interventionen und Allianzen genauso wie philosophische Debatten sorgten dafür, dass die Grenzen zwischen denen, die sie wähnten zu besitzen und denen, die vermeintlich zu ihnen hin erzogen werden mussten, von Beginn an niemals ganz scharf gezogen werden konnten. Im Gegensatz zu Herrschaft ist Macht überall vorhanden. Und so war und sind Kultur und Bildung doch auch immer wieder dafür gut, Veruneindeutigungen und Regelüberschreitungen zu ermöglichen sowie Raum für Existenzen und Artikulationen jeweils der gerade gültigen Normalität zu schaffen. Sie dienten und dienen nicht nur für die Befriedung sozialer Spannungen im Interesse von Privilegierten, nicht nur zum Verweis auf die angestammten sozialen Plätze, sondern auch als Vehikel für soziale Mobilität, als Raum zur Entfaltung von Selbstermächtigung und als Schauplatz und Instrument für soziale Kämpfe. So regte sich bereits zu Zeiten von Toynbee Hall auf Seiten der ›Zielgruppen‹ Widerstand: die von den kunstsinnigen Missionar_innen propagierten Gartenanlagen wurden verwüstet, es wurde ihnen widersprochen und es wurde sich über sie lustig gemacht; politischer Kampf und Selbstorganisation wurde dem Chorsingen, den Kunstreisen und dem Dekorieren der Behausung vorgezogen, respektive Letztere wurden zu Räumen für Ersteren umfunktioniert. Für Prozesse der Aneignung von kultureller Bildung für die eigene Sache stehen zudem und damit verbunden auch andere Teile der Geschichte. Beispielsweise die europäischen Bewegungen der Arbeiterbildung, die im anglophonen Raum aus der Erwachsenenbildung und den Bürgerrechtsbewegungen heraus entstandenen Cultural Studies, die sich gegen die ›musische Bildung‹ abgrenzende ›kulturelle Bildung‹ in der BRD der 1970er Jahre, die lateinamerikanische Befreiungspädagogik oder die Widerstandsbewegungen der Dekolonisierung und der Indigenen prägten und prägen einen erweiterten Kultur- und Bildungsbegriff, der mit Praktiken und Sichtbarkeiten in ein bürgerlich-westlichen Verständnis interveniert und es herausfordert, dabei immer wieder von ihm einverleibt wird, um sich ebenso regelmässig im Zeichen von Unverdaulichkeit zu erneuern. Kultur und Bildung so verstanden, sollen den Kampf gegen Ungleichheit unterstützen und Privilegien umverteilen, anstatt diese zu bestätigen und zu reproduzieren. Unverzichtbar für dieses Verständnis waren und sind Perspektiven aus dem Globalen Süden. Genauso wie die mitunter sich ereignende praktische Öffnung des Kulturbetriebs genauso wie das Bildungswesen dem Insistieren von Ausgeschlossenen zu verdanken und daher nicht im Mindesten eine großzügige Geste derjenigen ist, die sie regulieren, so sind Kultur- und der Bildungsbegriff in den vergangenen Jahrzehnten vor allem durch postkoloniale, diasporische und migrantische Interventionen verunsichert und erneuert worden. Kultur und Bildung in dieser Perspektive sind konflikthafte Praxen, sind Prozesse – etwas, das innerhalb von historisch gewachsenen Verhältnissen kontinuierlich sozial hergestellt wird. Kultur und

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Bildung sind dann also nichts, das man hat, noch etwas, das von alleine etwas könnte – zum Beispiel integrieren oder emanzipieren, sondern sie bedeuten ein Ringen um Hegemonie, bei dem Welt gemacht wird. Auch in heutigen Projekten der kulturellen Bildung mehren sich die Initiativen, Projekte, Vernetzungsforen und Organisationen, in denen die seitens der Mehrheitsgesellschaft als integrationsbedürftig markierte Gruppen selbst Regie führen.5 Die meist hohe Präkarität ihrer Arbeitsbedingungen spricht für sich; sie mindert jedoch nicht die transformative Wucht der Unterbrechnungsleistung, die sie erbringen. Sie geben leicht verständliche Hinweise, um zu beurteilen, ob ein Projekt der kulturellen Bildung Selbstermächtigung verhindert oder ob es bei ihm um eine gegenüber bürgerlicher, mehrheitsweißer Zurichtung widerständige Praxis handelt: Die im kulturellen Feld nicht Vorgesehenen sind die Akteure. Sie kontrollieren die Inhalte, Zielsetzungen, Formen, Ressourcen und Repräsentationen. Das heißt, sie entscheiden auch selbst, ob, wie und von wem sie dargestellt werden. Beteiligte Mehrheitsangehörige arbeiten in den Projekten wenn überhaupt, dann nachweislich an einer aktiven Umverteilung von Mehrwert und Privilegien. Es existieren Zeit und Raum für eine kritische Reflexion und Bearbeitung der jedes Projekt durchziehenden Machtverhältnisse. Wobei diese kritische Reflexion nicht in Lähmung resultiert und dadurch selbst zum Alibi für den Erhalt von Privilegien führt. Findet das Projekt in einer Kulturinstitution statt, so trägt es dazu bei (zum Beispiel, indem es dies zur Bedingung macht), dass sich Diversifizierung von Strukturen wie zum Beispiel Personalzusammensetzung, Programmierung oder Curricula ereignet, nicht nur von Sichtbarkeiten im Werbematerial. Die verschiedenen zur Zeit zu beobachtenden diskursiven und praktischen Ausprägungen und Repräsentationen von Projekten kultureller Bildung im Kontext Migration und Flucht lassen sich vor dem Hintergrund des hier Dargelegten als Symptome lesen, für Kämpfe um Hegemonie und für die Machtund Herrschaftsverhältnisse, in die sie eingebettet sind.6 Zunehmend gibt es für Neuankömmlinge radikale Wegleitungen in Bezug auf den Umgang mit der Bürokratie und den damit verbundenen strukturellen Rassismen oder zum Auffinden informeller Hilfestellungen, so sollten auch Informationen bereit gestellt werden, woran zu erkennen ist, ob es sich bei einem sich an sie richtenden Angebot der kulturellen Bildung um ein Projekt zur potentiellen Verhinderung ihrer Selbstermächtigung handelt, das vor allem das Ziel verfolgt, im Sinne der historisch etablierten Praxis des Slumming für das gute Gewissen, die Befriedigung der Neugierde und der Horizonterweiterung der Anbieter_innen zu sorgen.

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A nmerkungen 1 Ich verwende den in Deutschland etablierten Begriff ›kulturelle Bildung‹ in diesem Text zur Bezeichnung eines diskursiven Raums und damit gleichzeitig als Schirmbegriff für unterschiedliche Felder der pädagogischen Arbeit über und mit den Künsten – vom Kunstunterricht in der Schule über die institutionelle Kunstvermittlung bis zur außerschulischen kulturellen Bildung. Dies erachte ich als legitim, weil die hier geschilderten diskursiven Verwerfungen und Herrschaftsverhältnisse auf alle genannten Subfelder der Praxis zutreffen. 2 »Nichts ist bei uns konsequenter als ein rassistischer Humanismus, weil der Europäer nur dadurch sich zum Menschen hat machen können, dass er Sklaven und Monstren hervorbrachte.« (Sartre 2008: 22). 3 Die in diesen Text eingeflochtenen Beispiele zur Veranschaulichung sind nicht fiktiv. Sie sind anonymisiert, um zu verdeutlichen, dass es nicht um fehlgeleitete Einzelfälle geht, sondern um systemimmanente, strukturelle Verwerfungen. 4 Beispiel für Fiktion (Beasant 1882); und für eine sozialwissenschaftlich sich genrierende Veröffentlichung des gleichen Autors (Beasant, 1899). 5 Hierzu gab es in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Kulminationspunkte, an denen solche Initiativen sichtbar wurden und sich vernetzten. Dazu gehörten die Zusammenarbeit zwischen dem Projekt »Ferlernen« und der Vermittlung der Shedhalle Zürich unter dem Titel »Das Gedächtnis als Dekolonisierungsstrategie« im November 2014 (www.shedhalle.ch/2016/de/421/Das_Ged%C3%A4chtnis_als_Deko lonisierungs-strategie; https://ferlernen.wordpress.com); die Veranstaltungen »Counter/Acting: SElf-Organized Universities« im Dezember 2015 in Wien (https://www.akbild.ac.at/Portal/institute/kunstlerisches-lehramt/ konferenzen/2015/counter-acting-self-organized-universities?set_langua ge=de&cl=de) und »Interventionen« in Berlin im Juni 2016 mit dem Titel »Selbstorganisation Solidarität Strategien Zugänge« (http://interventionenberlin.de/interventionen/) (alle URLs zuletzt abgerufen am 10.8.2016). 6 Als ein veranschaulichendes Beispiel, das sich als Übungsfeld für diskursanalytische und repräsentationskritische Übungen anbietet, ist die Internetplattform »Kultur öffnet Welten«, als »eine gemeinsame Initiative von Bund, Ländern und Kommunen, künstlerischen Dachverbänden und Akteuren aus der Zivilgesellschaft« sowie gefördert von der Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien zu nennen (www.kultur-oeffnetwelten.de/positionen.html) (zuletzt abgerufen am 10.8.2016).

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Auch die Migrationsgesellschaft wird Rassismus nicht los. Die tägliche und nie abgeschlossene Neuaushandlung des Eigenen und des Fremden, der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit oder der Bedeutung von Mobilität und Immobilität schafft oder wiederholt machtvolle Unterscheidungen, Ausschlüsse, Überlegenheiten und Verletzungen. Mehr oder weniger deutlich werden dabei auch rassistische Ideologien artikuliert und verändert, z.B. beim Umgang mit den Erfahrungen von zunehmender Diversifizierung der Bevölkerung oder von neuer Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt. Selbst in einem Land wie Deutschland, das nach der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Mechanismen der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« (Heitmeyer 2002) heute die lange verleugnete oder übersehene Migrationsrealität offiziell als gesellschaftliche Normalität anerkennt und internationale Wanderungen als eingebettet in sozialen Wandel oder gar als konstitutiv für diesen beschreibt, verlieren rassistische Beobachtungsformen und Handlungsweisen nicht an Bedeutung. Bisweilen stellt sich eher der gegenteilige Eindruck ein. Rassistische Positionen scheinen wieder stärker – seit 2001 zunehmend im Gewand des Anti-Islamismus – in den öffentlichen Raum einzutreten. Vom Rand der Gesellschaft, wo sie ein lange überhörtes und übersehenes Schattendasein fristeten, sind sie längst auch in ihr Zentrum gewandert, wo sie z.B. in Fernseh-Talkshows, auf rechtspopulistischen oder rechtsextremen Demonstrationen in Großstädten (Beispiel PEGIDA oder PRO KÖLN), in städtischen U-Bahnen oder von Studierenden an Universitäten (Kassis et al. 2014) artikuliert werden. Wie Rechtsextremismus- und Rassismusforscher_innen wiederholt feststellten, handelt es sich bei dieser ›Normalisierung‹ des Rassismus um keine deutsche Eigenentwicklung, vielmehr ist sie aus vielen Ländern bekannt (Zick/Küpper/Hövermann 2011). Beobachtet man rassistische Kommunikation und rassistische Praxis genauer, fällt ihre räumliche Dimension auf. Die abgewerteten Anderen werden oft mit Bezug auf Herkunfts- oder Wohnräume markiert. Umgekehrt wird der

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angestrebte Schutz der Zielländer und ihrer Städte vor den imaginierten Anderen nicht selten durch eine dezidiert raumbezogene Kontrolle zu erreichen versucht, so z.B. bei der Abschottung Europas durch ›sichere Drittstaaten‹, durch die Wiedereinführung von nationalen Grenzkontrollen innerhalb von Schengen-Europa, durch Kontrollen vor der Grenze des nationalen Territoriums und im Territorium selbst (z.B. an Häfen, Flughäfen, Bahnhöfen, in Botschaften und Konsulaten; Belina 2014), durch die Einführung einer Wohnsitzauflage für neuankommende Geflüchtete in Deutschland oder durch polizeiliche Patrouillen in bestimmten Stadtgebieten. Auch rassistische Gewalttaten tragen unverkennbar einen räumlichen Index. Sie finden häufig an bestimmten, nicht zufällig ausgewählten Orten statt, so z.B. im Falle von Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte in Deutschland oder im Falle der Polizeigewalt und der systematischen polizeilichen Diskriminierung von People of Color in ›schwarzen Stadtteilen‹ US-amerikanischer Großstädte (von Petersdorff 2016). Während die internationale Forschung diese Geographien des Rassismus schon seit geraumer Zeit beleuchtet, ist die diesbezügliche Beschäftigung in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft noch nicht sehr ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund machen die nachfolgenden Ausführungen auf drei vielversprechende Analyserichtungen aufmerksam.

D ie verr äumlichende R epr äsentation der A nderen Rassismus strukturiert die Wahrnehmung, die Kommunikation und damit das soziale Geschehen. Als Ideologie und Beobachtungsschema hierarchisiert Rassismus Personen und die ihnen zugeschriebenen Identitäten. Er schafft Dichotomien (z.B. ›wir‹/›die Anderen‹) und Zugehörigkeitsordnungen. Ganz ähnlich der Raum. Immer wenn Räume beschrieben oder sozial in Anspruch genommen werden, wird unterschieden, geordnet und, wenn auch nur implizit, verglichen, wird ein ›hier‹ von einem ›dort‹ differenziert, ein ›innen‹ von einem ›außen‹, ein ›oben‹ von einem ›unten‹. Nicht selten wird das so Unterschiedene und Beschriebene unterschiedlich bewertet und derart in eine asymmetrische Ordnung gebracht. Aufgrund ihrer dichotomisierenden Beobachtungsweise sind sich die Konstruktionen ›Raum‹ und ›Rasse‹ nicht unähnlich. Auch Räume ›sind‹ nicht einfach da, auch sie sind nicht automatisch sozial relevant. Dies hat die mehrjährige und fachübergreifende Spatial Turn-Debatte eindrucksvoll gezeigt (Döring/Thielmann 2007). Ihre Formen und sozialen Bedeutungen resultieren vielmehr aus spezifischen Konstruktionsprozessen. In ihnen und durch sie werden Grenzen gezogen bzw. werden Unterscheidungen wie hier/dort, innen/außen oder nah/fern gültig gemacht und mit anderen Unterscheidungen wie Nationalität, Kultur, Identität, Einkommen etc. ver-

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knüpft. Räume sind, mit anderen Worten, kontext- und beobachtungsabhängige Unterscheidungen. Es sind soziale Herstellungsleistungen. Mit ihrem Bezug auf Materialität, Territorialität oder ausgewählte Stellen auf der Erdoberfläche suggerieren Räume gleichwohl Beobachterunabhängigkeit. Sie kommunizieren einen Wahrheitsanspruch. Wer etwa daran zweifelt, dass es Bielefeld gibt, kann sich ›vor Ort‹ vergewissern. Wie die Körpersemantik nehmen auch Raum- und Ortssemantiken Wahrnehmung in Anspruch. Dies verleiht ›Orten‹ und ›Räumen‹ ein großes Gewicht, ganz ähnlich wie den Konstruktionen ›Geschlecht‹, ›Körper‹, ›Rasse‹ oder ›Hautfarbe‹. Denn ›Orte‹ kann man – wie ›Frauen‹ oder ›Schwarze‹ – sehen, und indem oder während sie gesehen werden, erscheinen sie als real (Nassehi 2003: 231ff.). Im Beobachtungsakt wird üblicherweise nicht gleichzeitig ihre Konstruktion reflektiert, es wird ›übersehen‹, dass man das, was man sieht, nur so sieht, weil man es so – aufgrund eines bestimmten Beobachtungsschemas – und nicht anders sieht. In diesem Sinne wirkt Raum als Kontingenzvernichter. Mit seinem Verweis auf extra-soziale Gegenstände behauptet er Eindeutigkeit und Realität (wie immer konstruktivistisch Soziologen und andere Beobachterinnen ihn beschreiben mögen). Räumliche Bezugnahmen dienen daher neben der Herstellung von Ordnung nicht zuletzt der Ontologisierung und Naturalisierung des mit ihrer Hilfe Unterschiedenen und Bezeichneten. Dies macht sie für jegliche Identitätskonstruktion besonders attraktiv und zum Bestandteil der alltäglichen politics of identity (Bondi 1993). Für viele Formen der Identitätskonstruktion – auch der rassistischen – sind Körper und deren Beziehungen zu Orten oder Räumen bedeutsam. Körper, Orte und Räume lassen sich als wichtige Medien der Herstellung, Verfestigung und Kontrolle, aber auch der Veränderung von Identitäten interpretieren. Sie machen Identitäten sichtbar. Und da sie alltagsweltlich als natürlich vorgestellt werden, fungieren sie zugleich als Garanten von Authentizität und Objektivität (Pott 2007: 29f.). Aufgrund ihrer verwandten Eigenschaften überrascht es nicht, dass sich rassistische und spatialistische Konstruktionen wechselseitig stützen. Die charakteristische und oft umkämpfte Ko-Konstitution von Raum und kollektiven Identitätsformaten fasst Don Mitchell wie folgt zusammen: »Race, like gender und sexuality, is a geographical project. Race is constructed in and through space, just as space is often constructed through race. As a geographical project the co-production of race and space is never uncontested, and thus the spatiality of race often needs ordering and policing.« (Mitchell 2000: 230)

In die wechselseitige Stabilisierung von ›race‹ und ›space‹ gehen auch ›Kultur‹ und ›Nation‹ oft mit ein. Die traditionsschwere Deckungsgleichheit von ›Volk‹, ›Territorium‹, ›Identität‹, ›Kultur‹ und ›Nation‹ ist auch unter den Bedingun-

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gen der Welt- und Migrationsgesellschaft noch sehr wirkmächtig. Dem und der rassisierten (und migrierten oder geflohenen) Anderen werden Kulturen und Räume oder nationalstaatliche Territorien zugewiesen und als definitorische Merkmale zugeschrieben. Seine_Ihre Identität wird nicht nur mit Bezug auf Biologie, Genetik, Natur oder Abstammung, sondern auch auf kulturellterritorial-nationale Zugehörigkeit oder eben Nicht-Zugehörigkeit (re-)produziert. Dabei wirken flächenräumliche Bezüge – seien es Nationalstaaten oder andere Regionen – nicht nur komplexitätsreduzierend und essentialisierend, sondern auch homogenisierend. Man denke z.B. an den ›Orient‹ und seine Bewohner_innen, an Kriegsregionen, Transiträume, Aufnahmelager, segregierte Stadtviertel, inner- oder randstädtische ›Parallelgesellschaften‹ oder ›Brennpunkte‹. ›Die Syrer‹, ›die Araber‹, ›die Muslime‹, ›die Ghettobewohner‹ oder ›die Flüchtlinge‹ werden ebenso wie ›die Deutschen‹, ›die Europäer‹ usw. durch dichotome Kultur-Raum-Verweise hervorgebracht. Erst vor diesem diskursiven Hintergrund erscheinen sie und ihre Körper in anderen als den ihnen als ›eigenen‹ zugeschriebenen Räumen wie ›deplatziert‹ oder eben nur vorübergehend ›gelagert‹. Erst so kann den Anderen, Andersartigen und Fremden unterstellt werden, sich »nicht am richtigen Ort« zu befinden (Mecheril/Melter 2010: 153).

K onte x t- und regionsspe zifische R assismen Einerlei ob ›klassischer‹ biologistischer Rassismus oder ›kultureller Rassismus‹, der statt auf die genetische Vererbung auf die angebliche Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen abhebt (Balibar 1990: 28) – der Befund vieler Untersuchungen bleibt der gleiche: Rassismus ist im Plural zu denken, er variiert historisch sowie nach sozialen und geographischen Kontexten. Vergleichende Forschungen weisen die Vielfältigkeit und Varianz rassistischer Formen und Praktiken nach. Je nach Land, Region, Stadt oder Wohnviertel können ›gleiche‹ rassistische Unterscheidungen Unterschiedliches bedeuten oder eben je andere Unterscheidungen relevant sein (Back 1996, Jackson 1987, Jackson/Penrose 1993, Dwyer/Bressey 2008). Abwertende Konstruktionen des Anderen sind ebenso wie die gesellschaftlichen Strukturen und Kräfteverhältnisse, in denen sie entstehen, keine statischen Phänomene. Sie unterliegen einem permanenten Wandlungs- und Aushandlungsprozess. Daher ist das Forschungsfeld sehr groß. Auch welche Bedeutung bestimmten Orten oder räumlichen Konfigurationen bei der Reproduktion von Rassismus zukommt, ist eine empirisch offene Frage. Als Ziel der Analyse kontextspezifischer Rassismen halten Jan Penrose und Peter Jackson schon früh fest: »to understand how specific places are incorporated into specific constructions of ›race‹ and

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nation and their associated assumptions about the nature and function of space.« (Penrose/Jackson 1993: 206) In diesem Sinne untersuchte z.B. Susan Smith als eine der Ersten das, was seitdem »racialisation of space« genannt wird. Am Beispiel der Migrationsund Wohnungspolitik zeigt sie, wie die im Rahmen dieser Politik hervorgebrachten Identitäten auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt und durchgesetzt werden, von der städtischen Nachbarschaft bis zur Nation und darüber hinaus (Smith 1989). Diese Mehrebenen-Verschränkung wird analytisch oftmals durch eine relationale Identitäts- und Raumkonzeption ergänzt. So betont etwa Jane Jacobs in ihrer postkolonialen Geographie der Londoner Stadtentwicklung (1996): Man dürfe die Entwicklung der City of London (also des Finanzzentrums, des ›heart of empire‹) in der Analyse nicht trennen von der Erforschung der Ränder der »racialized inner-city neighbourhoods« – gemeint ist vor allem das an die City angrenzende Spitalfields mit seinem hohen Anteil bangladeschstämmiger Bevölkerung. In vergleichbarer Weise betonen Les Back (1996) oder Michael Keith (2008) in ihren Arbeiten über London das »metropolitan paradox«, i.e. das frappierende und teilweise widersprüchliche großstädtische Nebeneinander von interkultureller Offenheit und rassistischer Ausgrenzung. Ihre relationalen Analysen lassen erkennen, wie diese spezifischen Geographien des Rassismus besondere Formen des Wandels und des Konflikts generieren.

O rte des R assismus Rassistische Ordnungen werden durch räumliche Bezüge und Verortungen geschaffen, stabilisiert und auch verändert. Rassismus wird in Orten und durch spezifische Orte reproduziert. Versuche, die materielle Ausprägung und Veränderung von Rassismus und rassistisch induzierter Ungleichbehandlung zu erfassen, werden daher auf räumliche Konfigurationen aufmerksam. So wie städtische Segregationsverhältnisse stellen auch Erstunterbringungen für Geflüchtete oder Gemeinschaftsunterkünfte in oder fernab von Städten Marginalisierungs- und Exklusionsstrukturen dar. Die Orte der Anderen, die durch körperliche Verortung sowie durch visuelle, oft massenmedial verstärkte Darstellungen hervorgebracht werden, erfüllen strukturierende Funktionen. Sie können disziplinieren, exkludieren, abschrecken oder Auffälligkeiten generieren. Asylbewerber_innen, die in den negativ konnotierten Räumen eines Aufnahmelagers untergebracht werden, werden zugleich separiert und stigmatisiert. Die Lagerunterbringung erzeugt Besonderheiten und spezifische Sichtbarkeiten »durch bestimmte physische und innere Strukturen (z.B. Konzentration von Menschen auf engstem Raum, Verlust der Privatsphäre,

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Abhängigkeit von Betreuenden bei der Verrichtung alltäglicher Aktivitäten, erzwungene Erwerbslosigkeit etc.)« (Kreichauf 2016: 36). Die kartographische Erfassung und Visualisierung der Orte des Rassismus und der Konstruktion der Anderen kann aufschlussreich sein und neue Fragen anregen. Der Untersuchungsbericht über Polizeigewalt in der US-amerikanischen Großstadt Baltimore belegt etwa, dass die Opfer polizeilicher Diskriminierung auch deshalb angegriffen wurden, weil sie sich zur falschen Zeit am falschen – i.e. rassistisch konnotierten – Ort aufgehalten hatten (von Petersdorff 2016). Und während die Verortung von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten in Deutschland, von Pöbeleien, physischen An- und Übergriffen oder von registrierten Brandanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte lange Jahre darauf hindeutete, dass diese Form rassistischer Gewalt primär ein ostdeutsches Phänomen war, werden spätestens seit 2014 signifikante quantitative Zunahmen insgesamt und Verschiebungen nach Westdeutschland sichtbar (siehe die gemeinsame Chronik von PRO ASYL und der Amadeu Antonio Stiftung, die Übergriffe auf und Demonstrationen gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte dokumentiert: www.amadeu-antonio-stiftung.de/). Karten bergen jedoch auch Gefahren. Durch ihre Territorialisierung und Visualisierung reduzieren und verdinglichen sie Komplexität. Das Problemfeld von Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Rassismus kann dann leicht auf einzelne Orte und Regionen beschränkt erscheinen, als wären die Phänomene außerhalb der ausgezeichneten Orte nicht existent oder relevant. Wegen der unzureichenden Reduktion auf Sichtbarkeit und territoriale Konkretion (›hier und nicht dort‹) lehnte es z.B. der Afrika-Rat im Juli 2006 ab, eine Karte für ausländische WM-Besucher_innen zu veröffentlichen, in die sogenannte No-Go-Areas in Ostdeutschland eingezeichnet sind, vor deren Besuch gewarnt wird. Zweischneidig kann die kartographische Visualisierung auch deshalb sein, weil sie starke Parallelen zu den zu untersuchenden rassistischen Praktiken selbst aufweist. Diese sind häufig ebenfalls durch spezifische Verräumlichungen und exkludierende Ortsaneignungen gekennzeichnet. In puncto Raumbezug sowie Verschmelzung von Territorium und Gruppenidentität, die bestimmte Gruppen ausschließt, lassen sich beispielsweise klare Analogien zwischen der Rede von ›No-go-Areas‹ und den von Neonazis proklamierten ›national befreiten Zonen‹ ausmachen (Döring 2008: 82ff.). Mehrdeutig wirken Orte im Kontext rassistischer Verhältnisse schließlich auch in einer anderen Hinsicht. Orte wie der Kölner Bahnhofsvorplatz nach den sexuellen Übergriffen der Silvesternacht 2015 oder Orte terroristischer Anschläge können infolge massenmedialer Kommunikation und Verstärkung zu neuen Chiffren werden. Sie können als Belege für die Andersartigkeit der imaginierten Anderen, ihre Unzivilisiertheit, Grausamkeit oder Gewaltbereitschaft fungieren und dadurch ihrer Abwehr Vorschub leisten.

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F azit Die Beispiele zeigen, dass Orte und ihre Bilder sich in vielfacher Weise in Migrationsverhältnisse und rassistische Beziehungen einschreiben können. Repräsentationen von Orten und die Repräsentation der Anderen sind eng miteinander verwoben. Sie ermöglichen, prägen oder modifizieren einander. Diese Geflechte mit konkretem empirischem Bezug aufzuschlüsseln, ist die Aufgabe einer raumsensiblen Analyse. Die drei skizzierten Untersuchungsperspektiven auf die Geographien des Rassismus sind ersichtlich nicht trennscharf. Sie markieren gleichwohl unterschiedliche Schwerpunkte und Richtungen der Analyse. Folgt man ihnen, bedeutet Rassismuskritik der Gegenwart stets auch Kritik an den pauschalisierenden Verräumlichungen des Migrationsdiskurses und den impliziten wie expliziten Ortsbezügen des alltäglichen Othering. Die Rekonstruktion der Hervorbringung kollektiver Identitäten qua Raum kann so zur Dekonstruktion der Dämonisierung der Anderen beitragen.

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Unsere Farm in Zhengistan Koloniale Muster in der Gegenwart 1 Aram Ziai Alle Tiere sind gleich. Aber einige Tiere sind gleicher als Andere. George Orwell, Farm der Tiere

Ich möchte mit einer historischen Fiktion beginnen: Nehmen wir an, der chinesische Seefahrer Zheng He, der durch mehrjährige Expeditionen Anfang des 15. Jahrhunderts bekannt wurde, hätte den asiatischen Kontinent gegen den Uhrzeigersinn umrundet anstatt im Uhrzeigersinn. Nehmen wir weiterhin an, er wäre auf den Gedanken verfallen, der Westzipfel dieses Kontinents wäre eigentlich ein eigener Kontinent, und dieser wäre nach ihm benannt worden. Nehmen wir drittens an, Zheng He wäre dem Irrtum erlegen, die von ihm ›entdeckte‹ Region sei eigentlich Hinter-Äthiopien und die dort lebende Bevölkerung würde infolge dieses Irrtums fortan entsprechend bezeichnet – wir lebten heute als Äthiopier_innen in Zhengistan. Zugegeben, die Geschichte erscheint doch sehr weit hergeholt, aber sie ist es natürlich nicht – jedenfalls im Hinblick auf Amerika, Amerigo Vespucci, Kolumbus und die ›Indianer_innen‹. Sie verdeutlicht, dass 500 Jahre Kolonialismus Spuren hinterlassen haben: Spuren einer Ära, in der die Europäer_innen 85  % der Erdoberfläche unterwarfen, im festen Bewusstsein, dass sie von Gott oder durch ihre Zugehörigkeit zur ›weißen Rasse‹ ausersehen waren, über andere Völker zu herrschen. Das fängt schon bei den Landkarten an: auf denen ist Europa in der Regel weit größer dargestellt, als es tatsächlich ist. Etwa so groß wie Lateinamerika beispielsweise, während es in Wirklichkeit nur wenig mehr als halb so groß ist (9,7 im Vergleich zu 17,9 Mio. km 2). Dass Europa auf diesen Karten in der Mitte der Welt und ›oben‹ liegt, passt dazu. Unsere ›Weltsicht‹, genauer: die der meisten Europäer_innen, ist auch heute noch in manchen Teilen von der Ära des Kolonialismus geprägt.

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Diese Prägung beeinflusst, was wir wissen und was wir nicht wissen. Wir wissen, dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg die Nazis besiegt haben. Was die Wenigsten von uns wissen, ist, dass dabei auch Millionen von indischen und afrikanischen Soldaten beteiligt waren. Als nach der Befreiung von Paris allerdings die Bevölkerung der alliierten Truppen zujubelte, hatte de Gaulle vorher die Entfernung der nichtweißen Soldaten angeordnet, das sog. »Blanchissement« (»Weißmachen«) – man wollte die Stimmung nicht dadurch verderben, dass man die Weißen damit konfrontiert, unter anderem von Schwarzen befreit worden zu sein (Rheinisches JournalistInnenbüro 2005: 110). Wir wissen auch, dass Aufklärung und Menschenrechte in der Neuzeit durch die Französische Revolution von 1789 erkämpft wurden. Unter der Parole »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit« wurden Feudalismus und Gottesgnadentum zugunsten von Vernunft und gleichen Rechten für Alle abserviert. Was die Wenigsten von uns wissen, ist, dass die französische Regierung 1791 ihre Truppen in die Kolonie Saint Domingue schickte, als dort die versklavten Schwarzen ebenfalls gleiche Rechte einforderten – und in einer blutigen Auseinandersetzung auch erkämpften, bis 1804 die Republik Haiti ihre Unabhängigkeit verkündete. Die Französische Revolution erkämpfte gleiche Rechte nur für weiße Männer mit Besitz, die Haitianische erkämpfte gleiche Rechte für Alle – oder genauer: alle Männer. Dass wir über die eine Revolution viel mehr in der Schule gelernt haben als über die andere, ist kein Zufall, sondern auch ein koloniales Muster (Trouillot 2002). Auschwitz, Wannsee-Konferenz, Vernichtungskrieg im Osten, Nürnberger Rassegesetze – das alles sind Begriffe, die wir aus dem Geschichtsunterricht kennen. Aber dass auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884 Bismarck und andere Europäer den ganzen Kontinent unter sich aufteilten – wer weiß das schon? Dass die deutschen Kolonien – als ›Schutzgebiete‹ verharmlost – sechsmal größer waren als das Deutsche Reich? Dass es in ihnen – lange vor den Nazis – bereits Konzentrationslager gab, in denen Tausende (nahezu jeder Zweite!) durch Zwangsarbeit zu Tode geschunden wurde? Wer von uns hat in der Schule die Rede von Generalleutnant von Trotha gelesen, in der er 1904 den Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika ankündigte (»Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen«), den die deutschen Truppen gehorsam ausführten (Zimmerer/Zeller 2004)? Die Herero warten bis heute auf eine Entschuldigung des deutschen Staates, ebenso wie auf Entschädigungszahlungen. Und bis vor einigen Jahren mussten sie sogar auf die Rückgabe geraubter Schädel ihrer Vorfahren warten. Sicher, der Kolonialismus ist lange vorbei, die meisten ehemals kolonisierten Länder sind seit Jahrzehnten unabhängig. Aber auch heute noch sind in Namibia (dem früheren Deutsch-Südwestafrika) 70  Prozent der fruchtbaren Böden im Besitz der Nachfahren ausländischer Kolonialherren (Kuß 2004: 28). Und auch in der heutigen Weltwirtschaft sind Freihandelsimperialismus und

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Neokolonialismus keine Hirngespinste: der IWF diktiert Dutzenden von Regierungen seine Vorstellungen von ›gesunder‹, d.h. neoliberaler, Wirtschaftspolitik (Stiglitz 2002). Mittlerweile auch in Europa, zusammen mit EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank – siehe Griechenland. Dort wurde kürzlich sogar eine demokratische Volksabstimmung nach Kräften ignoriert – unter tatkräftiger Mithilfe der Bundesregierung. Gerechtfertigt wurde das mit denselben Stereotypen, die im Kolonialismus auf die ›Eingeborenen‹ angewandt wurden: die ›Pleite-Griechen‹ sind unreif, faul und können nicht vernünftig mit Geld umgehen. Im Spiegel wurde die griechische Regierung explizit mit pubertierenden Jugendlichen verglichen (Fleischhauer 2015),2 genau wie z.B. im Versailler Vertrag knapp 100 Jahre früher die Kennzeichnung kolonisierter Völker als noch nicht in der Lage, unter den schwierigen Bedingungen der modernen Welt auf eigenen Füßen zu stehen (Rist 2014: 60), dem selben politischen Zweck diente: ihre Entmündigung durch vermeintlich erwachsenere und rationalere AkteurInnen zu rechtfertigen. Hier sind wir beim Kern des kolonialen Denkens: Es geht um die Verweigerung gleicher Rechte mit der Begründung, die Anderen seien einfach nicht so rational wie wir, sondern rückständig, unterentwickelt oder unzivilisiert. Mit anderen Worten: Koloniales Denken erlaubt es, in der nachkolonialen Ära einerseits gleiche Rechte für Alle zu propagieren, andererseits aber gute Gründe zu finden, warum einige Menschen doch gleicher sind als andere und Letztere doch nicht die gleichen Rechte bekommen sollten. Dieses Denken finden wir auch heute bei manchen, die sich für aufgeklärt halten und dennoch meinen, ›die da unten‹ seien nicht in der Lage, sich vernünftig selbst zu regieren, im Extremfall sich angesichts vielfältiger Probleme im globalen Süden sogar nach der zivilisierenden Herrschaft der Europäer sehnen. Sie vergessen dabei Details wie die Befehle des Generalleutnant von Trotha oder dass unter dieser Herrschaft 70 der 80 Millionen Einwohner Amerikas der europäischen Invasion zum Opfer fielen (Todorov 1999: 133).

G leicher als A ndere : 3 Ü ber doppelte S tandards und Z ivilisationsbrüche Die Befreiung vom Nationalsozialismus führte nicht nur zur Vertreibung von vielen Millionen Menschen aus den vermeintlich befreiten Gebieten, sondern auch zu Gräueltaten rachsüchtiger Mobs: verbrannte Kinder und schwangere Frauen, denen die Babys aus dem Bauch gehackt worden waren. Es gibt glaubhafte Berichte von alliierten Soldaten, die Säuglinge am Spieß geröstet haben. Die russischen Soldaten verwandelten sich in Horden, die gründlich vergessen hatten, dass sie Menschen waren. Nur Zyniker, die kein Mitleid kennen, können das Ende des Nationalsozialismus daher als Befreiung bezeichnen. In

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allen anderen erwächst der verzweifelte Wunsch, dass die stabile Herrschaft des Nationalsozialismus zurückkehren möge. Könnte es sein, dass die große Geschichtserzählung, die wir alle eingetrichtert bekommen haben, nach der der Nationalsozialismus von Anfang bis Ende nichts als ein Übel war, falsch ist? Die Befreiung vom Nationalsozialismus war – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – eine Katastrophe. Wer im Deutschland des Jahres 2016 einen solchen Text wie den letzten Absatz veröffentlichen würde, müsste mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer Anzeige wegen Volksverhetzung rechnen. Tatsächlich sind diese bzw. sehr ähnliche Sätze Ende letzten Jahres ohne größeres Medienecho in der Tageszeitung »Die Welt« veröffentlicht worden – mit einem entscheidenden Unterschied: statt von der Befreiung vom Nationalsozialismus, schrieb der Autor Hannes Stein vom Ende des Kolonialismus – v.a. in Indien, aber seine These beanspruchte auch Geltung für »viele andere ehemalige Kolonialländer« (Stein 2015). Natürlich, Nationalsozialismus und Kolonialismus weisen bestimmte Unterschiede auf – aber immerhin geht es in beiden Fällen um rassistisch begründete, gewaltsam aufrecht erhaltene und kriegerisch ausgeweitete Herrschaft über Andere, die selbst vor Völkermord nicht zurück schreckt. Warum der Versuch der Rehabilitierung einer solchen Herrschaft im Fall der deutschen Herrenmenschen nur ein Fall für in der Öffentlichkeit weitestgehend geächtete Nazis, im Fall der europäischen Kolonialherren jedoch in einer angesehenen Tageszeitung publizierbar ist, erscheint erklärungsbedürftig. Ebenso erklärungsbedürftig wie die unterschiedliche Darstellung von Kolonialismus und Nationalsozialismus in Schulbüchern. In einer entsprechenden Untersuchung mit meiner Kollegin Elina Marmer (Marmer/Ziai 2015) ist deutlich geworden, dass auch heute noch Darstellungen vorherrschen, die positive wie negative Seiten des Kolonialismus gegenüberstellen und seine gewaltförmigen Aspekte herunterspielen. Ein ›Pro und Kontra Nationalsozialismus‹ hingegen ist in deutschen Schulbüchern undenkbar. Es würde als eine Beleidigung der Opfer empfunden, so als ob die Autobahnen und der Wirtschaftsaufschwung möglicherweise die Konzentrationslager aufwiegen würden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das ist auch gut so, der Ausschluss solcher Abwägungen aus dem Bereich des Sagbaren in der deutschen Öffentlichkeit ist ein Zeichen von Menschlichkeit. Auffällig ist allerdings schon, dass diese Sensibilität sich nicht auf die Opfer kolonialer Völkermorde und Massaker erstreckt, wie der Artikel aus der Welt illustriert. In ihm darf ungeniert von der Herrschaft der Weißen über die barbarischen Nichtweißen geschwärmt werden, da Letztere ja offensichtlich nicht in der Lage sind, ohne Mord, Totschlag und verbrannte Kinder sich selbst zu regieren. Wird hier nicht, wie im Volksverhetzungsparagrafen ausgeführt, »eine Gruppe […] beschimpft, böswillig verächtlich gemacht und verleumdet«? Und

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werden hier nicht stillschweigend die ungezählten Massaker, Folterungen und Völkermorde im Kolonialismus übergangen und verharmlost? Der antikoloniale Theoretiker Aimé Cesaire hat schon 1950 über den europäischen »ach so distinguierten, ach so humanen, ach so christlichen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts« behauptet: »[…] daß im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen am Menschen, daß es nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern daß es das Verbrechen gegen den weißen Menschen ist, daß es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonisatorischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.« (Césaire 1968: 12, Herv.i.O.)

Andernfalls hätten die Europäer_innen auch kaum die zahllosen Verbrechen und die Erniedrigung Nichtweißer im Kolonialismus hingenommen. Tatsächlich hat die Ausrottung bestimmter Gruppen von Menschen erst dann zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt, als es sich um weiße Europäer_innen gehandelt hat. Und auch heute noch scheint die Verklärung rassistischer weißer Vorherrschaft kein Fall für die Staatsanwaltschaft zu sein, sofern es nicht um den Nationalsozialismus geht – der Justitiar der Universität Kassel hielt eine Klage wegen Volksverhetzung für aussichtslos, mit dem expliziten Hinweis auf die Undenkbarkeit einer Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kolonialismus. Césaire weist darauf hin, dass in der hier impliziten politischen Theorie des Westens unterschiedliche Standards angelegt werden, je nachdem, ob die Opfer eines Verbrechens weiße Europäer_innen oder andere Menschen sind. Auch lange nachdem die Französische Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet hat,4 sind zwar vermeintlich alle Menschen gleich, aber einige eben gleicher als Andere. Diese Anwendung unterschiedlicher ethischer Standards für unterschiedliche Menschengruppen bei gleichzeitiger Propagierung gleicher Rechte für Alle kann als koloniale Heuchelei bezeichnet werden, und diese bietet eine Erklärung für die unterschiedlichen Standards, die – in dem Artikel der Welt ebenso wie in den Schulbüchern – an die Verbrechen des Kolonialismus und die des Nationalsozialismus angelegt werden.5 Diese unterschiedlichen Standards finden sich nicht nur bei konservativen Tageszeitungen, sondern durchaus auch und gerade in der politischen Linken. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat die Tradition der kritischen Theorie die Shoah oder als pars pro toto Auschwitz als »Zivilisationsbruch« bezeichnet (Diner 1996) – zuletzt auch Samuel Salzborn (2015) in seiner Geschichte politischer Ideen.6 Dies setzt unweigerlich das Vorhandensein einer ungebrochenen, intakten Zivilisation vor Auschwitz oder zumindest vor der Naziherrschaft seit 1933 voraus. Selbst wer den Zivilisationsbegriff

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ungeachtet seiner zentralen Rolle für die Legitimation kolonialer Herrschaft nicht problematisieren will, muss sich dennoch die Frage gefallen lassen, was für eine Gesellschaft angesichts von über vier Jahrhunderten europäischer Eroberung und Unterjochung anderer Weltregionen, angesichts von religiös-fundamentalistisch und rassistisch gerechtfertigter Gewaltherrschaft, angesichts von Massakern und Völkermorden von der beinahe vollständigen Ausrottung der Indigenen Nord- und auch Südamerikas bis zum Genozid an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika (Chalk/Jonassohn 1990, Zimmerer/Zeller 2004, Moses 2008) da als intakte Zivilisation bzw. als zivilisiert bezeichnet werden soll. Selbst in einer zurückhaltenden Formulierung ist der europäische Kolonialismus eine zutiefst undemokratische Herrschaft über als minderwertig definierte Menschen gewesen. Die ausschnittartige Schilderung der in ihm begangenen Gräueltaten bei Rosa Amelia PlumelleUribe (2004) verursacht Übelkeit und Fassungslosigkeit. Wer vor diesem Hintergrund erst in Auschwitz einen Zivilisationsbruch sieht, kann dies nur mithilfe der kolonialen Heuchelei tun: Einige Opfer sind gleicher als andere. Und die Forderung, Auschwitz in den Mittelpunkt einer linken Theoriebildung zu stellen, kann nach einem Vergleich der zeitlichen und räumlichen Dimensionen von Nationalsozialismus und Kolonialismus bestenfalls als eurozentrisch bezeichnet werden. Die noch so gründliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus führt ohne ebenso gründliche Aufarbeitung des Kolonialismus nur zu einer Reproduktion dieser doppelten Standards. Diese doppelten Standards haben sich nach den sexuellen Übergriffen heterosexueller und überwiegend migrantischer Männer in Köln Silvester 2015 erneut gezeigt. Die jährlich wiederkehrenden sexuellen Übergriffe (und Vergewaltigungen) überwiegend weißer deutscher Männer beim Oktoberfest oder im Karneval haben nicht annähernd ein solches Medienecho erfahren. Patriarchale Gewalt wird auf diese Weise ethnisiert und als Import dargestellt (Lohaus/Wizorek 2016). Auch einige Täter sind gleicher als andere. Postkoloniale Studien haben sich zum Ziel gesetzt, bestehende politische Konzepte, Akteur_innen und Prozesse auf ihren kolonialen Gehalt, auf ihre Nähe zu kolonialen Denkmustern und Strukturen zu befragen – auf dass uns diese Muster und Strukturen zukünftig ebenso absurd erscheinen, wie das Argument, hier bei uns in Zhengistan seien zwar alle Menschen gleich, aber manche halt gleicher als andere.

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A nmerkungen 1 Der Text beruht auf der Einleitung des von mir herausgegebenen Bandes Postkoloniale Politikwissenschaft (transcript, 2016). 2 Diesen Hinweis verdanke ich Anna Brüggemann und Christian Huth. 3 Der Text bezieht sich nicht auf die mit diesem Titel verbundene preisgekrönte (und in der politischen Theorie weit unterschätzte) Grundlegung der freien Kooperation von Christoph Spehr, der zufolge einige Menschen tatsächlich freier und gleicher als Andere sind, weil sie in freiwilligen und verhandlungsbasierten Zusammenschlüssen und Beziehungen leben (Spehr 2003). 4 Dies galt – dem universalistischen Selbstverständnis zum Trotz – weder für Nichtweiße, noch für Frauen oder Besitzlose. 5 Die Diskussion über die Singularität des Holocaust kann hier nur angerissen werden. Über die Singularität jedes historischen Ereignisses hinaus ist aus der Perspektive einer vergleichenden Genozidforschung festzuhalten, dass der Holocaust hinsichtlich der Bürokratisierung und Industrialisierung des Massenmordes tatsächlich historisch einzigartig ist (Chalk/ Jonassohn 1990). Hinsichtlich der Brutalität seiner Praktiken kann dies erschreckenderweise nicht behauptet werden. Auch die (vom Verfasser früher selbst vertretene) These, dass die Vernichtung der Juden durch die Nazis im Unterschied zu anderen Genoziden nicht Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich war, muss angesichts der Forschungen zum mit Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung verbundenen Raub (Aly 2005) als umstritten gelten. 6 Dies obwohl er sich lobenswerterweise auch mit antikolonialen Theoretiker_innen wie Fanon oder Nkrumah auseinandersetzt.

L iter atur Aly, G. (2005). Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a.M.: Fischer. Césaire, A. (1968 [1955]). Über den Kolonialismus. Berlin: Wagenbach. Chalk, F./Jonassohn, K. (Hg.) (1990). The History and Sociology of Genocide. Analyses and Case Studies. New Haven/London: Yale University Press. Diner, D. (Hg.) (1996). Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a.M.: Fischer. Fleischhauer, J. (2015). Das Geld der anderen. Der Spiegel 29. www.spiegel.de/ spiegel/print/d-136184565.html Kuß, S. (2004). Der Ausgang ist ungewiss. Die Folgen der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia. iz3w 275, S. 26-29.

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Lohaus, S./Wizorek, A. (2016). Die Rape Culture wurde nicht nach Deutschland importiert – sie war schon immer da. www.vice.com/de/read/die-rapeculture-wurde-nicht-nach-deutschland-importiert-sie-war-schon-immerda-aufschrei-118 Marmer, E./Ziai, A. (2015). Racism in the teaching of ›development‹ in German secondary school textbooks. Critical Literacy 9 (2), S. 64-84. Moses, A. D. (Hg.) (2008). Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation and Subaltern Resistance in World History. New York/Oxford: Berghahn. Plumelle-Uribe, R. A. (2004). Weiße Barbarei: Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis. Zürich: Rotpunktverlag. Rheinisches JournalistInnenbüro (2005). »Unsere Opfer zählen nicht« – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Berlin: Assoziation A. Rist, G. (2014). The History of Development. From Western Origins to Global Faith. London: Zed Books. Salzborn, S. (2015). Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Ideen im Kontext. Baden-Baden: Nomos. Spehr, C. (2003). Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. Berlin: Dietz. Stein, H. (2015). Die Entkolonialisierung war eine Katastrophe. Die Welt online. www.welt.de/149662414 Stiglitz, J. (2002). Die Schatten der Globalisierung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Todorov, T. (1999 [1982]). The Conquest of America. The Question of the Other. Norman: University of Oklahoma Press. Trouillot, M.-R. (2002). Undenkbare Geschichte. Zur Bagatellisierung der Haitianischen Revolution. In: Conrad, S./Randeria, S. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften (S. 84-115). Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Zimmerer, J./Zeller, J. (Hg.) (2004). Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) und seine Folgen. Berlin: Ch. Links Verlag.

Autor_innen

Amir-Moazami, Schirin, Dr., promovierte im Department Social and Political Sciences am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, seit 2009 Professorin für Islam in Europa am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin und Principal Investigator an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Forschungsschwerpunkte: Religionspolitiken in Europa, Säkularismus, Politische Theorie, Geschlechterfragen und islamische Bewegungen in Europa. Momentan schreibt sie an ihrem Buch »Interrogating the Muslim Subject. Liberal-Secular Power and the Politics of Integration in Contemporary Germany«. Brumlik, Micha, Dr. phil., Professor Emeritus, derzeit Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Nach Professuren in Hamburg und Heidelberg hatte er von 2001-2013 eine Professur für Theorien der Bildung und Erziehung an der Goethe Universität in Frankfurt a.M. inne. Jüngste Publikationen: »Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition« (2013); »Wann wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums« (2015). Castro Varela, María do Mar, Dr. rer. soc., Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Diversity an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Zurzeit ist sie als Senior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Arbeitsschwerpunkte: Postkoloniale Theorie, Critical Education, Kritische Migrations- und Fluchtforschung, Gender und Queer Studies. Aktuelle Publikation: »Verlernen. Historische Gewalt als pädagogische Herausforderung« (erscheint 2017). Dhawan, Nikita, Dr. phil., Professorin für Politische Theorie mit thematischer Akzentuierung im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung sowie Direktorin der Interfakultären Forschungsplattform Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Postkoloniale Studien, Gender und Queer Studies. Ak-

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tuelle Publikationen: »Negotiating Normativity. Postcolonial Appropriations, Contestations and Transformations.« (2016); »Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung«, 2. komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. (2015). Dirim, İnci, Dr. phil., Universitätsprofessorin für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Spracherwerb unter Bedingungen von Migration, Didaktik und Methodik des Deutsch als Zweitsprache-Förderunterrichts und der sprachlichen Bildung, bilinguale und mehrsprachige Unterrichtsmodelle, migrationspädagogische DaZ-Didaktik, hegemonietheoretische und postkoloniale Zugänge zum Forschungs- und Arbeitsgebiet »Deutsch als Zweitsprache«. Foroutan, Naika, Dr., Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin und stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM), Vorstandsmitglied im Rat für Migration, einem Zusammenschluss von über 100 deutschsprachigen Wissenschaftler_innen, die mit ihrer Forschungsexpertise in den öffentlichen Raum hinein intervenieren, um zur Versachlichung der Debatte um Migration und Integration beizutragen. Forschungsschwerpunkte und Lehrtätigkeit: u.a. Migration, Integration und postmigrantische Gesellschaften; Islam- und Muslimbilder in Deutschland; sowie Identitäts- und Hybriditätsperformanzen. Aktuelle Publikation: »Changing perceptions? Effects of multiple social categorisation on German population’s perception of Muslims. « Journal of Ethnic and Migration Studies, 2016. van der Haagen-Wulff, Monica, Doctorate of Creative Arts (DCA) – University of Technology, Sydney, ist Lehrende im Bereich Erziehungs- und Kultursoziologie am Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies, Postcolonial Studies, Gender, Migration, Globalisation, Global Cities, Performance Studies, Theories of Embodiement, Fictocritical Writing, Critical Heritage und Historical Memory Studies. Monica van der HaagenWulff hat zu Verflechtungen von kultureller Praxis (Kunst) und neue Formen der (theoretischen) Wissenserzeugung in internationalen Journals publiziert, aber versteht auch ihre Tanz- und Performance-Aufführungen als theoretische Leistungen. Heinemann, Alisha M. B., Dr. phil., Diplom-Pädagogin, hat in der Erwachsenenbildungswissenschaft promoviert und arbeitet aktuell als Postdoc Universitätsassistentin im Arbeitsbereich Deutsch als Zweitsprache der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Deutsch als Zweitsprache, Literalitäts- und

Autor_innen

Adressatenforschung in der Erwachsenenbildung sowie kritische Migrationsforschung. Khakpour, Natascha, studierte Germanistik und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Deutsch als Zweitsprache der Universität Wien. Sie promoviert zu Fragen der Rolle der hegemonialen Sprache bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Schule. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind migrationspädagogische Perspektiven und Deutsch in der Migrationsgesellschaft. Kulaçatan, Meltem, Dr., Politikwissenschaflerin und Religionspädagogin (Islam) an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.; im WS 2016/17 Gastprofessorin an der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: religiöse Selbstpositionierungen von Musliminnen im Kontext von Gender, Islam und Pädagogik, Politik und Religion in der modernen Türkei, Feminismus und Gender im Islam. Mecheril, Paul, Dr. phil. habil., Professor am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Direktor des Center for Migration, Education and Cultural Studies, Sprecher des Promotionskollegs Migrationsgesellschaftliche Grenzformationen. Er beschäftigt sich unter anderem mit dem Verhältnis von Zugehörigkeitsordnungen, Macht und Bildung. Aktuelle Forschungsprojekte (u.a.), Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft (Förderung: Mercator-Stiftung), Repräsentation migrationsgesellschaftlich relevanter Themen in Schulbüchern und ihre Bedeutung für das schulische Geschehen (Förderung: Land Niedersachsen). Melter, Claus, Dr., seit September 2016 Professor an der Fachhochschule Bielefeld, 2011-2016 Professor an der Hochschule Esslingen. Arbeitsschwerpunkte: Diskriminierungs-, barriere- und rassismuskritische sowie menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit in der postkolonialen/postnationalsozialistischen Migrationsgesellschaft, genderreflexive, inklusions- und gerechtigkeitsorientierte Ansätze. Aktuelle Publikationen: »Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Praktische Herausforderungen, Rahmungen und Reflexionen.« (2015). Messerschmidt, Astrid, Dr. phil. habil., Erziehungswissenschaftlerin und Erwachsenenbildnerin; Professur für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität Wuppertal; Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Migrationsgesellschaftliche Bildung, Diversität und Diskriminierung, Geschlechtertheorien und geschlechterreflektierende Bildung; Antisemitismus und Rassismus in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus.

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Mörsch, Carmen, Dr. des., seit 2008 Professorin und Leiterin des Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste. Von 2004-2008 Juniorprofessur für Materielle Kultur und ihre Didaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte, Theorie und Praxis der Kunstvermittlung mit Schwerpunkt postkoloniale und queere Perspektiven. Pokitsch, Doris, studierte Afrikanistik und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien. Seit 2016 ist sie Doktorandin am Fachbereich Deutsch als Zweitsprache an der Universität Wien. Forschungsinteressen: Migrationspädagogik und Postkoloniale Theorien; Fragen zu migrationsgesellschaftlichen Differenzordnungen im Kontext sprachlicher Zugehörigkeit(en) und damit verbundener Macht-/Wissensstrukturen. Pott, Andreas, Dr. phil. habil., Professor für Sozialgeographie und Direktor des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Aktuelle Forschungsinteressen: Geographien der Migration, Migrations- und Fluchtregime, Aufstiegsmobilität in der zweiten Migrantengeneration, superdiverse Städte. Für weitere Informationen siehe: www.imis.uni-osnabrueck.de. Schweiger, Hannes, Dr. phil, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und Lehrbeauftragter im Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/DaZ) am Institut für Germanistik der Universität Wien sowie im Universitätslehrgang DaF/DaZ der Universität Graz; seit 15 Jahren in der Lehrer_innen-Fortbildung (Schwerpunkte: Literaturvermittlung, Kultur- und gesellschaftsbezogenes Lehren und Lernen) als Referent, Seminarorganisator und Autor von Lehrmaterialien tätig. Ziai, Aram, Dr. habil., Heisenberg-Professor und Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel. Er hat zuvor an zahlreichen Universitäten geforscht und gelehrt u.a. in Wien, Amsterdam und Accra. An diesen Orten ist er auch tatsächlich als deutsch wahrgenommen worden.

Zeitdiagnosen bei transcript Fatima El-Tayeb

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September 2016, 256 S., kart., ca. 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: ca. 17,99 € Nach Jahrzehnten scheinbarer Stabilität stolpert Europa in jüngster Zeit von Krise zu Krise. Hier zeigen sich die Folgen einer einseitigen Geschichtsaufarbeitung, die nach dem Mauerfall postfaschistische und postsozialistische Narrative zu einer westlich-kapitalistischen Erfolgsgeschichte verband, während die koloniale Vergangenheit unbeachtet blieb. Fatima El-Tayeb zeigt die Auswirkungen dieses Prozesses anhand des Beispiels deutscher Identität: Immer wieder werden rassifizierte Gruppen – insbesondere Schwarze, Roma und Muslime – als »undeutsch« produziert, als Gruppen, die nicht nur nicht zur nationalen Gemeinschaft gehören, sondern diese durch ihre Anwesenheit gefährden. Ein postmigrantisches Deutschland braucht daher nicht nur neue Zukunftsvisionen, sondern auch neue Vergangenheitsnarrative.

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