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German Pages 182 Year 1984
JOACHIM·M. CADUS
Die faktische Betrachtungsweise
Schriften zum Strafrecht Band 54
Die faktische Betrachtungsweise Ein Beitrag zur Auslegung im Strafrecht
Von
Dr. loachim-M. Cadus
DUNCKER
&
HUMBLOT
/
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahrne der Deutschen Bibliothek Cadus, Joachim-M.: Die faktische Betrachtungsweise : e. Beitr. zur Auslegung im Strafrecht / von Joachim-M. Cadus. - Berlin : Duncker und Humblot, 1984. (Schriften zum Strafrecht ; Bd. 54) ISBN 3-428-05560-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1984 Duncker
ISBN 3-428-05560-8
Meinen Eltern
Vorwort Auf die faktische Betrachtungsweise und die mit ihr eng verwandte wirtschaftliche Betrachtungsweise greift man nicht nur im Rahmen strafrechtlicher Tatbestandsauslegung zurück. Man bedient sich ihrer auch im Zivilrecht und insbesondere im Steuerrecht. Im Zivilrecht sind es die Leistungsbeziehungen des sogenannten Massenverkehrs (Entnahme von elektrischem Strom, Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel usw.) und die fehlerhaften Arbeits- und Gesellschaftsverhältnisse, die unter Zuhilfenahme der faktischen Betrachtungsweise rechtlich beurteilt bzw. abgewickelt werden. Im Steuerrecht ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise als ein allgemeines Prinzip zur Auslegung steuerrechtlicher Tatbestände weithin anerkannt und hat sogar Eingang in die Gesetzesfassungen des § 1 Abs. 2 und Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes 1934 und des § 4 der Abgabenordnung des Jahres 1919 gefunden. Im Strafrecht gewann die faktische Betrachtungsweise mit der "Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken" (Bruns) an Bedeutung. Sie wird in der Regel dann zur Auslegung herangezogen, wenn zivilistische Inhalte bei gleicher Begriffsverwendung im Strafrecht nicht übernommen werden können. In solcher Funktion spielt die faktische Betrachtungsweise in den verschiedensten Zusammenhängen eine Rolle - so z. B. bei der Behandlung der Vertreterhaftungsproblematik, dem Anwendungsbereich der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz und der Auslegung bestimmter Tätermerkmale insbesondere bei den Sonderdelikten. Zu dieser relativ häufigen Verwendung steht die theoretische Durchdringung der faktischen Betrachtungsweise in augenscheinlichem Mißverhältnis: Wenig klar sind schon der Inhalt, die Funktion und der Anwendungsbereich; vor allem aber fehlt es an Untersuchungen über die Notwendigkeit und die Berechtigung einer eigenständigen faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht. Die Arbeit versucht, diese bislang vernachlässigten Fragen zu klären. Im ersten Teil werden der Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise und deren Anwendungsbereich im Strafrecht herausgearbeitet. Der zweite Teil wendet sich der Funktions- und Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise zu. Die Arbeit kommt dabei zum Er-
8
Vorwort
gebnis, daß die faktische Betrachtungsweise keinen "Leistungswert" hat - weder als eigenständiger Begründungsansatz noch als lediglich kennzeichnendes Prinzip. Hinzu kommt der Mangel inhaltlicher Bestimmtheit und Bestimmbarkeit bei der Vielzahl der Fallkonstellationen, die mit ihrer Hilfe gelöst werden. All diese Defizite könnten noch hingenommen werden, gäbe es keine anderweitigen Lösungswege, die einsichtig das begründen, was die faktische Betrachtungsweise nicht zu begründen vermag. Solche Lösungswege jedoch gibt es. Ziel des dritten Teils ist es, diese eigentlichen materialen Lösungsgesichtspunkte für all die Fälle herauszuarbeiten, in denen auf die faktische Betrachtungsweise zurückgegriffen wird. Die Arbeit hat im Sommersemester 1983 der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Mannheim als Dissertation vorgelegen; das Manuskript wurde im Mai 1983 abgeschlossen. Meinen aufrichtigen und herzlichen Dank spreche ich auch an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Frisch aus. Er hat nicht nur den Anstoß zur vorliegenden Untersuchung gegeben und die Arbeit durch mannigfache Anregungen und hilfreiche Kritik ständig gefördert; er stand auch für Besprechungen und lange Diskussionen stets uneingeschränkt zur Verfügung. Er war darüber hinaus der Rechtslehrer, von dem ich während meiner Assistententätigkeit die entscheidenden Anregungen und Kenntnisse auch für meine weitere juristische Ausbildung erhalten habe. Danken möchte ich weiterhin Herrn Prof. Dr. Broermann für seine Bereitschaft, die Arbeit in die Reihe der Schriften zum Strafrecht aufzunehmen. Mannheim, im Dezember 1983
loachim-M. Cadus
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise 1. Faktische und wirtschaftliche Betrachtungsweise im Strafrecht
Standortbestimmung ..............................................
17
1. Das Phänomen "faktische Betrachtungsweise" ..................
17
2. Der Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise ......
20
3. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Strafrecht ............
25
11. Einwände gegen die faktische Betrachtungsweise ..................
27
1. Ablehnende Stellungnahmen....................................
27
2. Faktische Betrachtungsweise und die Normativität eines jeden Auslegungsprinzips ............................................ 30 III. Parallelen zur faktischen Betrachtungsweise in anderen Rechtsgebieten ..........................................................
32
1. Vorbemerkungen
32
2. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht ..........
33
3. Die faktischen Vertragsverhältnisse im Zivilrecht ..............
36
4. Konsequenzen für die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht 39 IV. Die methodische Grundlegung der faktischen Betrachtungsweise ....
40
1. Die methodische Grundlegung im Strafrecht ....................
40
2. Die methodische Grundlegung in der allgemeinen Methodenlehre und Dogmatik.................................................. 42 V. Die faktische Betrachtungsweise - Symptom einer allgemeinen Entwicklung von Generalklauseln .................................... 46 1. Parallelen im Strafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
46
2. Faktische Betrachtungsweise und die Paradoxien der Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
VI. Ergebnis, Konsequenzen, offene Fragen ............................
50
10
Inhal tsverzeichnis Zweiter Teil Funktion und Inhalt der faktischen Betrachtungsweise in Rechtsprechung und Literatur
1. Die Funktion der faktischen Betrachtungsweise ....................
53
1. Vorbemerkungen
53
2. Die Begründungspflicht im Strafrecht ..........................
54
3. Die faktische Betrachtungsweise als Begründungsansatz ........
56
a) Anforderungen an ein methodisches Prinzip b) Anforderungen an ein dogmatisches Prinzip
56 58
4. Die Kennzeichnungsfunktion der faktischen Betrachtungsweise ..
61
II. Inhaltliche Konturierung der faktischen Betrachtungsweise ........
61
1. Extensionale und intensionale Inhaltsbestimmung eines allgemei-
nen Prinzips
.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
61
2. Die faktische Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs ............................
62
a) § 290 StGB - Der öffentliche Pfandleiher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) § 13 Brausteuergesetz - Der Brauer ........................ c) § 286 StGB - Der Veranstalter ..............................
62 64 65
d) § 266 Abs. 1 Ziff.2 a. F. StGB - Der Bevollmächtigte. . . . . . .. e) § 95 a. F. Börsengesetz - Der Kommissionär ................ f) §§ 83 a. F., 84 GmbHG, 244 a. F. KO - Der Geschäftsführer, das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft .................. g) § 31 Abs.2 StVZO - Der Kraftfahrzeughalter ................
66 67 69 71
3. Die faktische Betrachtungsweise als allgemeines Auslegungsprinzip in der Literatur ............................................
72
a) Tatbestände, deren Tathandlungsmerkmale mit Begriffen des Zivilrechts gleichlauten ......................................
74
b) Tatbestände, für die eine "egoistisch-beschränkte Innentendenz" als wesentlich angesehen wird ...................... c) Sonderdeliktstatbestände .................................... d) Tatbestände, die eine gewisse Zuordnung von Vermögensgütern zum Täter voraussetzen ..............................
77 80 87
4. Die punktuelle Verwendung der faktischen Betrachtungsweise. . ..
87
a) Die faktische Betrachtungsweise bei den Gesetzesberatungen .. b) Die faktische Betrachtungsweise in der Literatur ............
88 89
Inhal tsverzeichnis
11
5. Eigene überlegungen zum Inhalt der faktischen Betrachtungsweise ..........................................................
91
a) b) c) d)
Vorbemerkungen zum semantischen Gehalt .................. Indikator einer spezifisch strafrechtlichen Auslegung ........ Indikator für die Identität strafrechtlicher Bedeutungsinhalte Verbot der übernahme bestimmter zivil rechtlicher Bedeutungsinhalte ...................................................... e) Auslegungshilfe bei geänderten Umständen .................. f) Hilfsmittel zur Beurteilung des Sachverhalts ................ g) Hinweis auf eine allgemeinverständliche Auslegung ..........
91 92 93 94 96 97 97
111. Ergebnis ..........................................................
98
Dritter Teil Die eigentliche Problematik der Anwendungsfälle einer faktischen Betrachtungsweise I. Zum weiteren Gang der Darstellung .............................. 101
11. Konstellationen der Organ- und Vertreterhaftung (OuVH) .......... 102 1. Zum Erfordernis einer strafrechtlichen Zurechnungsregelung
104
2. Das "vertretungsberechtigte Organ" einer juristischen Person
110
111. Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz .................. 111 1. Vorbemerkungen
111
2. Zivilistische Merkmale als Ansatz der faktischen Betrachtungsweise .......................................................... 113 3. Handeln "für einen anderen" .................................. 113 4. Die vom Gesetzgeber getroffenen Vorwertungen ................ 114 5. Das bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz vertypte Handeln .............................................. 116 6. Die Ausdehnung des Täterkreises .............................. 117 7. Zusammenfassung .............................................. 118
12
Inhaltsverzeichnis
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen ............... '........... 119 1. Vorbemerkungen
.............................................. 119
2. Die Diffusität der Ergebnisse .................................. 121 a) § 290 StGB -
Der öffentliche Pfandleiher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 121
b) § 286 StGB -
Der Veranstalter .............................. 127
c) § 266 Abs.l Ziff.2 a. F. StGB d) § 288 StGB -
Der Bevollmächtigte ........ 128
Der Vollstreckungsschuldner .................. 128
e) Der sogenannte strafrechtliche Beamtenbegriff des § 359 a. F. StGB ...................................................... 129 f) § 31 Abs.2 StVZO -
Der Kraftfahrzeughalter ................ 130
g) §§ 203 Abs. 1 Ziff.l (300 a. F.), 277 1. Alt., 278 StGB -
Der Arzt 131
h) Ergebnis .................................................... 134 3. "Begründungsansatz" , der falsche Ausgangsfragestellungen verdeckt .......................................................... 135 a) § 290 StGB -
Der Pfandleiher .............................. 135
b) § 13 Abs. 1 Brausteuergesetz c) §§ 284, 286 StGB -
Der Brauer .................. 136
Der Veranstalter ........................ 138
d) § 266 Abs.l Ziff.2 a. F. StGB -
Der Bevollmächtigte ........ 140
e) § 95 Abs.l Ziff.2 a. F. Börsengesetz - Der "Gelegenheits"Kommissionär .............................................. 144 f) §§ 83 a. F., 84 GmbHG, 244 a. F. KO - Der Geschäftsführer, das vertretungsberechtigte Organ ................................ 145 4. "Begründungsansatz", der zu unvertretbaren Ergebnissen führt .. 147 a) § 95 Abs. 1 Ziff.2 a. F. Börsengesetz b) § 288 StGB -
Der Kommissionär .... 147
Der Vollstreckungsschuldner .................. 151 155
5. Ergebnis
V. Tatbestandsmerkmale, die an vertragliche Beziehungen zwischen Täter und Opfer anknüpfen ...................................... 156 1. Die Garantenstellung aus Vertrag .............................. 156 2. § 265 StGB -
Die versicherte Sache; betrügerische Absicht ...... 160
3. § 263 StGB -
Vermögensverfügung, Vermögensschaden
4. §§ 242, 246 StGB -
Literaturverzeichnis
Fremde Sache
........ 163 169
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 172
Abkürzungsverzeichnis a.A. abI. Abs. AcP a.E. a.F. AG ALR Anm. AO AP ArbGG Art.
AT Aufl. BAG BayObLG BB Bd. bearb. BeschI. BFH BGB BGBI BGH BGHSt BGHZ BStBl BT BT-Drucks. BVerfGE bzw. DB ders. d.h.
anderer Ansicht ablehnend Absatz Archiv für die zivilistische Praxis am Ende alte Fassung Aktiengesellschaft Allgemeines Preußisches Landrecht Anmerkung Abgabenordnung Arbeitsrechtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts) Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Allgemeiner Teil Auflage B undesarbei tsgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht Der Betriebsberater Band bearbeitet Beschluß Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt, zitiert nach Teil und Seite Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundessteuerblatt Besonderer Teil Bundestags-Drucksache (die erste Zahl bezeichnet die Wahlperiode) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Der Betrieb derselbe das heißt
14 DR DRiZ DVBl E 1958, 1962 usw. EGOWiG EGStGB Ein!. f., ff. Fn. GA GewO GG GmbHG HGB h.M. HRR hrsg. i. d. F. i. d. S. insbes. i. V.m. JA Jh. JR JuS JW JZ Kap. KG KO Leipz. Komm. LG LH LM MDR m.E.
MRK m.w.N. NF NJW
Abkürzungsverzeichnis Deutsches Recht Deutsche Richterzeitung Deutsches VerwaItungsblatt Entwurf eines Strafgesetzbuchs 1958, 1962 usw. Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Einlei tung folgende Seite, folgende Seiten Fußnote GoItdammer's Archiv für Strafrecht und Strafprozeßrecht Gewerbeordnung Grundgesetz Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Handelsgesetzbuch herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung herausgegeben in der Fassung in diesem Sinne insbesondere in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrhundert Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Konkursordnung Leipziger Kommentar, Lehrkommentar Landgericht Lehrheft Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, herausgegeben von Lindenmaier-Möhring (zit. nach Nummer und Paragraph) Monatsschrift für Deutsches Recht meines Erachtens Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 20.3. 1952 mit weiteren Nachweisen Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift
Abkürzungsverzeichnis Nr. NStZ OHG OLG RG RGBl RGSt Rn., Rnrn. s.
S.
SA s. a. SJZ SK Sp. StGB StPO StuW StVG StVZO Teilbd. u.a. Urt. Verf. vgl. Vorbem. VVG VwGO WiKG z.B. Ziff. zit. ZPO ZSR ZStW z.T. z. zt.
Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Reichsgerich t Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer, Randnummern siehe Seite Sonderausschuß siehe auch Süddeutsche Juristen-Zeitung Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Spalte Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Steuer und Wirtschaft Straßenverkehrs gesetz Straßenverkehrszulassungsordnung Teilband und andere Urteil Verfasser vergleiche Vorbemerkungen Versicherungsvertragsgesetz Verwaltungsgerichtsordnung Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität zum Beispiel Ziffer zitiert Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil zur Zeit
15
Erster Teil
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise I. Faktische und wirtschaftliche Betrachtungsweise im Strafrecht - Standortbestimmung 1. Das Phänomen "faktische Betrachtungsweise"
"Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken"1 - mit dieser "bahnbrechenden" Schrift aus dem Jahre 1938 markierte Bruns den eigenständigen Stellenwert des Strafrechts als einer bislang "nur" akzessorischen Rechtsmaterie. Er machte anhand mannigfacher Beispiele aus dem Strafgesetzbuch deutlich, daß Strafrechtsnormen in vielen Fällen einer vom zivilrechtlichen Denken unabhängigen Betrachtungsweise unterliegen. Dieser Gedanke von der "Eigenständigkeit des Strafrechts" stieß sehr schnell auf breitere Zustimmung und wurde alsbald nicht mehr nur von Bruns allein betont, wenn er auch an der weiteren Entwicklung maßgeblichen Anteil hatte. Bereits in seiner Dissertation hatte sich Bruns mit dem "Abweichen vom Bürgerlichen Recht im Strafrecht"2 befaßt. Zur gleichen Zeit widmete sich Lobe in einem Festschriftbeitrag dem "Einfluß des Bürgerlichen Rechts auf das Strafrecht"3, nachdem er bereits 1898 den "Einfluß des Bürgerlichen Gesetzbuches auf das Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung des Besitzes"4 untersucht hatte. Dort hatte er es in seinem Vorwort noch als "ein zu vermessenes Unternehmen" bezeichnet, "all die zahlreichen Beziehungen des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Strafrecht heute auch nur schon annähernd aufdecken und untersuchen zu wollen". Ebenso hatte Rühl 1930 die "Tendenz zur fortschreitenden Loslösung vom Zivilrecht"5 festgestellt. In seiner Habilitationsschrift zeigte Bruns jedoch zum ersten Mal umfassend die mannigfachen Berührungspunkte des Strafrechts mit 1 2
3 f
6
Brons, Befreiung. Brons, Können die Organe. Lobe, Einfluß des bürgerlichen Rechts, S. 33 ff. Lobe, Einfluß des Bürgerlichen Gesetzbuches. RühZ, JW 1930, 1973 f.
2 Cadus
1. Teil:
18
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
dem Zivilrecht auf und kam zu dem Schluß: Bedeutungsinhalte identischer Begriffe können im Zivil- und Strafrecht durchaus verschieden sein und müssen daher eigenständig ausgelegt werden. Offen blieb allerdings, wie das Strafrecht von seinen "Fesseln" befreit werden sollte. Es gab dafür keine allgemeingültigen Prinzipien, die dem Strafrecht hätten eigene Konturen verleihen und mittels derer dem Rechtsanwender hätten feste Kriterien an die Hand gegeben werden können. Die erste umfangreiche Untersuchung hierzu legte schließlich - nach weiteren kurzen Beiträgen von Bruns6 aus den fünfziger Jahren Wiesener 7 vor, der den Schwerpunkt seiner Ausführungen allerdings auf die Probleme der Organ- und Vertreterhaftung legte. Im Hinblick auf die Frage, wie die Organ- und Vertreterhaftungsproblematik zu lösen sei - ob im Rahmen gesetzlicher Regelungen, wie es seinerzeit in den Gesetzesberatungen vorgeschlagen worden war, oder im Wege einfacher Gesetzesauslegung -, stieß Wiesener auf ein allgemeines Prinzip, von dem er glaubte, daß es schon lange der zivilistischen Auslegung im Zivilrecht entsprechend im Strafrecht gehandhabt würde: die faktische Betrachtungsweise. Nach der Durchsicht etlicher Entscheidungen sowohl des Reichsgerichts als auch des Bundesgerichtshofs kam er zu dem Ergebnis: Die faktische Betrachtungsweise ist bereits seit langem fester Bestandteil der Rechtsprechung. Er überprüfte daraufhin mehrere Tatbestandsgruppen des Strafgesetzbuches und sah sich darin bestätigt, daß es die faktische Betrachtungsweise sei, die an die Stelle der zivilistischen Betrachtungsweise treten müsse. Wiesener machte sich dieses Prinzip für seine Fragestellung zunutze und löste damit auch die Problematik der Organ- und Vertreterhaftung. Die faktische Betrachtungsweise soll nach seiner Auffassung - soweit eine Vertreterregelung durch Gesetz festgeschrieben wird - gar den Rahmen der gesetzlichen Fassung abstecken, die so gestaltet werden müsse, "daß sie mit den Ergebnissen der immerhin auch vom Bundesgerichtshof zum Teil praktizierten Betrachtungsweise vereinbar ist"8. In neuester Zeit war es wiederum Bruns9 , der die Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise als dogmatisches Prinzip nicht nur bestätigt hat, sondern ihr eine Bedeutung zuweist, hinter der der heute geltenden Regelung des § 14 StGB nur noch "deklaratorischer Wert"10 zukomme. Eine Bestätigung der faktischen Betrachtungsweise gar Siehe dazu JZ 1954, 12 ff.; NJW 1954, 1066 ff. und JZ 1958,461 ff. Wiesener, Verantwortlichkeit. 8 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 186. D Bruns, GA 1982, 1 ff. 10 Bruns, GA 1982, 9, 19 ff. 8
7
1. Standortbestimmung im Strafrecht
19
durch den Gesetzgeber sieht er in der Regelung des § 14 Abs. 3 StGB, weil dort "die Unwirksamkeit der Rechtshandlung, welche die Vertreterbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, durch die faktische Innehabung der entsprechenden Stellung ersetzt wird"ll. Die faktische Betrachtungsweise zeige damit den Weg auf, wie der "realistischen Natur des Strafrechts"12 Rechnung getragen werden könne. Ihre Beurteilung soll allerdings von der grundsätzlichen Einstellung abhängen, ob man die begriffliche Akzessorietät des Strafrechts befürwortet oder in dem zivilrechtlichen Perfektionismus einen Rückfall in einen schlechten Gesetzgebungsstil, dagegen in der längst autonom gewordenen strafrechtlichen Eigenbegriffsbildung einen methodologisehen Fortschritt sieht1 3 • Heute hat sich die Auffassung allgemein durchgesetzt, daß das Strafrecht eigenen Regeln und Prinzipien folgt: Die strafrechtliche Eigenbegriffsbildung kann und muß als gefestigtes Allgemeingut angesehen werden 14 . Die von Bruns selbst aufgeworfene und von gewissen Bedingungen abhängig gemachte Frage nach der Beurteilung der faktischen Betrachtungsweise kann damit eindeutig beantwortet werden: Einer Anerkennung der faktischen Betrachtungsweise steht von daher nichts mehr im Wege. Offen bleibt allerdings - und das zu klären wird Aufgabe dieser Arbeit sein - , ob die von Bruns aufgestellten Bedingungen zur Beantwortung der Frage nach Notwendigkeit und Effektivität der faktischen Betrachtungsweise als Auslegungsprinzip im Strafrecht ausreichend bzw. vollständig sind. Neben Bruns 15 und Wiesener gehen auch Roxin16 und Sandrock17 von der Existenz, ja sogar der Nützlichkeit bzw. Notwendigkeit der faktischen Betrachtungsweise aus. Schünemann18 spricht von der "nach wie vor einleuchtenden faktischen Betrachtungsweise". Die Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums vertrauten in den Gesetzesberatungen zum Thema "Handeln für einen anderen" darauf, "daß die Rechtsprechung mit Hilfe einer faktischen Betrachtungsweise zum richtigen Ergebnis kommt"19. 11
12 13 14
Bruns, GA 1982, 12 f. Bruns, GA 1982, 10, 19. Bruns, GA 1982, 23. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129; siehe dazu auch Dreher,
GA 1969, 56 ff. 15 Siehe auch Bruns, JZ 1958,461 ff. 16 Roxin, in: Leipz. Komm., Rnrn. 2, 4, 6 zu § 14; Busch, Rn. 3 zu § 50 a a. F. (9. Aufl.) mit Beispielen. 17 Sandrock, Wirtschaftsordnung, S. 47 ff., insbes. S. 53. 18 Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 142. IG Niederschriften, Bd. XII 1959, S. 544. 2*
20
1. Teil:
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
Die Institutionalisierung einer "faktischen Betrachtungsweise" zur Beantwortung spezifisch strafrechtlicher Auslegungsprobleme in all den Fällen, in denen sich Bedeutungsinhalte von im Zivil- und Strafrecht identischen Begriffen unterscheiden, scheint nicht nur ein interessanter, sondern auch bestechend einfacher Lösungsvorschlag zu sein. Es ist daher erstaunlich, daß eine systematische Stellungnahme zur faktischen Betrachtungsweise unter Einbeziehung methodologischer und dogmatischer Erkenntnisse bisher nicht erfolgt ist. Diese Arbeit versucht, dieses Defizit zu beheben und die faktische Betrachtungsweise in das System strafrechtlich relevanter, methodisch und dogmatisch anerkannter Prinzipien einzuordnen. Sollte die faktische Betrachtungsweise als überzeugendes und einleuchtendes Prinzip dafür aufgewiesen werden können, wie strafrechtliche Begriffe in einem eigenständigen Sinn ausgelegt und damit von ihrem zivilistischen Inhalt befreit werden können, wäre der Klage über "die auch heute noch ungenügende Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken"20 der Boden entzogen. Die faktische Betrachtungsweise bedeutete dann - im Anschluß an die Feststellung, daß die Begriffe des Strafrechts eigenständig ausgelegt werden müssen - die Antwort auf die noch offene Frage, wie diese eigenständige Auslegung zu erfolgen habe, beziehungsweise wie das Strafrecht von den "Fesseln" des zivilistischen Denkens befreit werden könnte. Eine Stellungnahme zu Inhalt und Funktion der faktischen Betrachtungsweise setzt eine Vergegenwärtigung all der Konstellationen und Sachverhalte voraus, in denen die faktische Betrachtungsweise zur Lösung herangezogen werden soll. Der Anspruch, mit dem die faktische Betrachtungsweise versehen wird - Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken - läßt auf einen breiten Anwendungsbereich schließen, der an dieser Stelle freilich nur kurz skizziert wird. 2. Der Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise
Der faktischen Betrachtungsweise scheint aufgrund ihres breiten Anwendungsbereichs und der verschiedenartigsten Fallgestaltungen ein besonderes Gewicht zuzukommen. Bruns21 und Wiesener haben versucht, die unterschiedlichen Gesichtspunkte herauszufinden und zu ordnen. Dennoch erfaßt das dabei aufgearbeitete Fallmaterial nicht das ganze Spektrum möglicher Konstellationen. Dementsprechend werden in dieser Arbeit weitere Fallgruppen untersucht. Das Streben nach möglichst vollständiger Erfassung aller Fälle, bei denen die faktische Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 227. Bruns, Können die Organe, S. 13 ff.; Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 21 ff. 20
21
I. Standortbestimmung im Strafrecht
21
Betrachtungsweise eine Rolle spielen könnte oder spielen soll, verfolgt dabei zwei Ziele: Auf der einen Seite soll aufgezeigt werden, daß der denkbar mögliche Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise gerade im Zusammenhang mit der Eigenbegriffsbildung des Strafrechts sogar weiterreichend ist, als Bruns und Wiesener es angenommen haben. Auf der anderen Seite soll - für den Fall, daß sich weder Notwendigkeit noch Effektivität der faktischen Betrachtungsweise als Auslegungsprinzip im Strafrecht begründen lassen - kein begründeter Zweifel daran bestehen bleiben, ob es nicht vielleicht doch noch oder immer noch einen "Restbestand" an Fällen gebe, deren Lösung sich nur mit der faktischen Betrachtungsweise bewerkstelligen bzw. einsichtig und überzeugend begründen ließe. a) Die erste Entscheidung, die die Vertreter der faktischen Betrachtungsweise für sich reklamierten 22 und auf die auch die heutigen Kommentare 23 verweisen, stammt bereits aus dem Jahre 1883 24 • Es ging um die Frage, ob als öffentlicher Pfandleiher nach § 290 StGB nur der erfaßt werden könne, der im Besitz einer öffentlichen Konzession ist. Das Reichsgericht entschied, daß auch der als tauglicher Täter in Betracht komme, der das Gewerbe tatsächlich betreibe, der also "faktisch" handle. Bruns und Wiesener begrüßten beide obige Entscheidung. Beide diskutierten sie allerdings unter einem ganz anderen Gesichtspunkt als das Reichsgericht. Schwierigkeiten bereitete ihnen nicht die Frage, ob es zur Anwendung des § 290 StGB einer öffentlichen Konzession bedürfe; sie beschäftigte bei der Subsumtion des Begriffs "Pfandleiher" die Tatsache, daß der Angeklagte nicht Inhaber des Pfandleihunternehmens war. Nach ihrer Auffassung bedurfte und bedarf es der faktischen Betrachtungsweise, um auch den Nichtinhaber bestrafen zu können - für das Reichsgericht war diese Frage offensichtlich völlig unproblematisch. Ein weiterer Sachverhalt betrifft den Begriff" Veranstalter" in § 286 8tGB. Der mit diesem Begriff umschriebene Personenkreis soll nicht auf den beschränkt werden, in dessen Namen und auf dessen Rechnung das Geschäft geführt wird: Maßgebend soll sein, wer die Initiative ergreift und die notwendigen Umsetzungsmaßnahmen vornimmt, wer also "faktisch" alle zur Ausführung einer öffentlichen Lotterie erforderlichen Handlungen tätigt 25 • Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 102. Siehe nur Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 2 zu § 290; Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 1 zu § 290. 22
23
24 25
Urteil vom 2. April 1883, RGSt 8, 269 ff. Urteil vom 18. November 1901, RGSt 34, 447 ff., 449.
22
1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
Eine dritte Entscheidung, auf die im gleichen Zusammenhang hingewiesen wird, beschäftigte sich mit dem Begriff des Brauers in § 13 Abs. 1 Brausteuergesetz. Das Reichsgericht 26 stellt dazu fest: "Brauer ist nicht nur der, der im eigenen Namen und für eigene Rechnung arbeitet, sondern auch derjenige, der "thatsächlich" die Stellung desjenigen einnimmt, der die Brauerei betreibt und leitet". - Zu beurteilen war die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vormunds einer Erbengemeinschaft. Die faktische Betrachtungsweise soll es in all diesen Fällen ermöglichen, die Strafbarkeit auch auf den Nichtinhaber "auszudehnen". Sie scheint damit eine Funktion wahrzunehmen, die grundsätzlich von besonderen Zurechnungsnormen ausgefüllt wird. Soweit es um die Organund Vertreterfälle geht, löst diese Fragen heute § 14 StGB. Geht es um die Zurechnung fremden HandeZns wie z. B. in den Fällen der Mittäterschaft oder mittelbaren Täterschaft, wird dies in § 25 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB geregelt. Eine solche Zurechnungsnorm fehlt, wenn der Begriff des "Inhabers" auch auf weitere Personen ausgedehnt werden soll. b) Einen zweiten Typus von Konstellationen betreffen Entscheidungen zum Begriff des Bevollmächtigten in § 266 a. F. StGB, zur GarantensteIlung aus Vertrag und zur Wirksamkeit des Vertrages bei der gegen Feuersgefahr versicherten Sache in § 265 StGB. Es handelt sich um Sachverhaltskonstellationen, die an das Bestehen vertraglicher Beziehungen anknüpfen - Vollmachtsvertrag, GarantensteIlung aus Vertrag, Versicherungsvertrag - , bei denen es jedoch nicht auf deren zivil rechtliche Wirksamkeit ankommen soll. Ein "tatsächliches Verhältnis" soll jeweils ausreichend sein, was festzustellen die faktische Betrachtungsweise zumindest erleichtern würde. So stellte das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 7. März 192727 zum Begriff des Bevollmächtigten des § 266 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. StGB nicht auf die bürgerlichrechtliche Gültigkeit der Vollmacht, sondern auf das "tatsächlich bestehende" Vertrauensverhältnis ab. Auf derselben Linie bewegte sich die Inhaltsbestimmung einer der ehemals "klassischen" drei Säulen28 der GarantensteIlung beim unechten Unterlassungsdelikt: der Garantenstellung aus Vertrag. Entscheidend soll nicht die zivilrechtliche Wirksamkeit des Übernahmevertrages sein, Urteil vom 27. Oktober 1893, RGSt 24, 353 ff. RGSt 61, 228 ff.; nach Bruns, JZ 1954, 15 stellt dies den Muster/all einer faktischen Betrachtungsweise dar. 28 Die überlieferte Einteilung stützte sich auf den Entstehungsgrund der Rechtspflichten (formelle Rechtspflichtlehre). Anerkannt waren danach Gesetz, Vertrag und vorangegangenes gefährdendes Tun. Siehe dazu ID. w. N. Jescheck, Lehrbuch, S. 504 (§ 59 IV 2.). 26
27
I. Standort bestimmung im Strafrecht
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sondern die faktische übernahme einer besonderen Pflichtenstellung29 • Und ebenso soll die Auslegung des Begriffs der gegen Feuersgefahr versicherten Sache in § 265 StGB gedeutet werden: Nicht nur die zivilrechtlich wirksamen Vertragsverhältnisse, sondern alle "tatsächlich" abgeschlossenen Versicherungsverträge sollen erfaßt werden, selbst wenn sie anfechtbar oder gar nichtig30 sein sollten. c) Besondere Bedeutung soll der faktischen Betrachtungsweise bei der Auslegung des Begriffs" Vollstreckungsschuldner" in § 288 StGB zukommen. Nach Auffassung ihrer Befürworter bedarf es der faktischen Betrachtungsweise gleich in zweifacher Hinsicht3 1 : Zum einen obliege die Pflicht, die Befriedigung des Gläubigers bei drohender Zwangsvollstreckung nicht zu vereiteln, auch demjenigen, der das Vermögen "tatsächlich" zu verwalten habe 32 • Zum anderen gehörten zu den Bestandteilen des für § 288 StGB relevanten Vermögens nicht nur die Sachen, die dem Vollstreckungsschuldner vermögensrechtIich zustehen, sondern auch die, die dieser "tatsächlich" in seinem Besitz habe. Zweimal soll die faktische Betrachtungsweise auch bei der Auslegung des Betrugstatbestandes herangezogen werden: sowohl bei der Inhaltsbestimmung der "Vermögensverfügung" als auch bei der des Vermögensschadens. Es sind die Fälle der sogenannten Dritt-"verfügung", die bei der Abgrenzung des Betrugs vom Diebstahl, dessen Charakteristikum die Wegnahmehandlung in bestimmter Absicht darstellt, Probleme bereiten. Nach vorherrschender Meinung soll es 33 - wenngleich unter gewissen Einschränkungen - ausreichen, daß der Verfügende "tatsächlich" in der Lage ist, über fremdes Vermögen zu verfügen. Auch für das Tatbestandsmerkmal des Vermögensschadens sollen weniger rechtliche Zuordnungskriterien eine Rolle spielen als die Tatsache, daß das Vermögen dem Geschädigten rein faktisch zusteht 34 • d) Eine faktische Betrachtungsweise soll schließlich auch bei der Auslegung des Begriffs "Kraftfahrzeughalter"35 (§ 24 Abs. 2 und § 26 Ziff. 2 und 4 a. F. StVG = § 21 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 2 Ziff. 3 n. F. StVG) und bei der Auslegung des strafrechtlichen Beamtenbegriffs anzustellen sein. Siehe dazu Schönke / Schröder, 15. Auf!., Rn. 118 Vorbem. zum AT m. N. Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 7 zu § 265 m. vielen N. 31 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 180 ff. 32 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 181. 33 So z. B. Cmmer, in: Schönke / Schröder, Rn. 55 zu § 263; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 96 zu § 263 m. w. N. in Fn. 150; BGHSt 18, 221. 34 So der wirtschaftliche Vermögensbegriff. Siehe dazu Cmmer, in: Schönke / Schröder, Rnrn. 80, 82 zu § 263; Lackner, in: Leipz. Komm., Rnrn. 143 ff. zu § 263 m. w. N. 35 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 154 ff. m. w. N. 29 30
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
Die Auflistung typischer Fallkonstellationen ließe sich ohne weiteres fortsetzen, soll aber dennoch an dieser Stelle abgebrochen werden. Sie läßt nämlich bereits klar erkennen, daß allen Beispielen ein, wenn auch noch sehr allgemeines Merkmal gemeinsam ist: Die faktische Betrachtungsweise wird immer dann herangezogen, wenn es um die Auslegung von Begriffen geht, die gleichermaßen in anderen Rechtsgebieten, insbesondere dem Zivilrecht, verwendet werden. Während sie dort einen feststehenden, ganz bestimmten Begriffsinhalt haben, soll ihnen im Strafrecht ein vom Zivilrecht abweichender "faktischer Sinn" beizumessen sein. Sobald der Begriffsinhalt des Zivil- oder des Öffentlichen Rechts, aus welchen Gründen auch immer, nicht übernommen wird, soll dieser "einer faktischen Betrachtungsweise" Platz machen. e) Der Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise erschöpft sich jedoch nicht in der Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale. Die faktische Betrachtungsweise soll sogar einen gesetzlichen Tatbestand des Allgemeinen Teils des StGB überflüssig machen 36 , der am Ende der sechziger Jahre in das StGB eingefügt worden ist3 7 : § 50 a StGB a. F., der durch § 14 StGB abgelöst worden ist. § 14 StGB regelt ausdrücklich die Problematik der sogenannten Organ- und Vertreterhaftung im Rahmen der "Strafbarkeit" juristischer Personen. Die Organ- und Vertreterhaftung soll zum einen Strafbarkeitslücken ausfüllen, die sich aus der mangelnden Deckung der eigentlichen (d. h. dogmatisch und kriminalpolitisch sinnvollen) Unrechtsstruktur des Tatbestandes und seiner sprachlichen Fassung im Gesetz ergeben 38 • Darunter fallen nicht nur die bereits oben angesprochenen Fallgruppen, in denen das Gesetz auf einen personalen Status abstellt (Pfandleiher, Kommissionär, Brauer usw.). Von weit größerer Bedeutung ist die strafrechtliche Erfassung der Organe von juristischen Personen. Das heute geltende Strafrecht, durchweg individualistisch geprägt, beschränkt sich auf die Täterschaft und Bestrafungsmöglichkeit natürlicher Personen - societas delinquere non potest. Während auf dem Gebiet des Zivilrechts die Teilnahme der Körperschaft am Handelsverkehr und Wirtschaftsleben durch die Anerkennung der Rechtsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit und Deliktsfähigkeit der juristischen Person eine ausreichende gesetzliche Regelung gefunden hat, wird dieser Tatsache in der Strafgesetzgebung in keinem bzw. nur geringem Maße 38 Nach Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 190 "kann eine gesetzliche Fixierung des Prinzips der Organ- und Vertreterhaftung nur deklaratorische Bedeutung haben". 37 Zur Entstehungsgeschichte des § 50 a a. F. StGB vgl. Blauth, Handeln für einen anderen, S. 46 ff. m. w. N. 38 Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129.
I. Standortbestimmung im Strafrecht
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Rechnung getragen39 • Die dadurch auftretenden Strafbarkeitslücken sollen durch die faktische Betrachtungsweise geschlossen werden. Als Beispiel wird eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. November 1957 40 genannt, in der der Bundesgerichtshof bereits in seinem Leitsatz feststellte: "Ist eine Handelsgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit Kommissionär im Sinne des Handelsrechts, so ist strafrechtlich als Kommissionär anzusehen, wer das Kommissionsgeschäft für sie tatsächlich ausführt." Zum anderen geht es darum, der modernen betriebswirtschaftlichen Organisation auch im Strafrecht Rechnung zu tragen. Für diese ist es kennzeichnend, daß derjenige, der darüber entscheidet, ob eine Straftat, insbesondere eine Wirtschaftsstraftat, begangen wird, nicht mit dem identisch zu sein braucht, der nach seiner Stellung in der Organisation für die Ausführung der Tat "zuständig" ist. Auch in dieser für die strafrechtlichen Verfolgungsbehörden mißlichen Situation soll die faktische Betrachtungsweise Rettungsanker sein. f) Schon nach dieser relativ kurzen übersicht kann festgestellt werden: Es sind nicht allein die Fälle der sogenannten Organ- und Vertreterhaftung, in denen die faktische Betrachtungsweise angewendet wird 41 • Es geht daneben auch um die Auslegung von Begriffen, die aus anderen Rechtsdisziplinen übernommen worden bzw. an diese angelehnt sind. Die bisher skizzierten Beispiele zeigen deutlich, daß der faktischen Betrachtungsweise die unterschiedlichsten Fallgruppen zugeordnet werden, für die jeweils spezifische Sachgesichtspunkte gelten. 3. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Strafrecht
Um ein anderes, wenn auch der faktischen Betrachtungsweise ähnliches "Phänomen" scheint es sich bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zu handeln. Eine wirtschaftliche Betrachtungsweise soll dann anzustellen sein, wenn es um die Auslegung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale mit vermögensbezogenem Charakter geht. Ihr Hauptanwendungsgebiet ist der Begriff des Vermögensschadens in den Ver39 Zwar war in verschiedenen Wirtschaftsstrafvorschriften des Besatzungs·· rechts die Verhängung echter Kriminalstrafen gegen juristische Personen vorgesehen, aber nach der daran auf dem 40. Deutschen Juristentag mit überwältigender Mehrheit geübten Kritik ist schließlich im Außenwirtschaftsgesetz vom 28. April 1961 jede direkte strafrechtliche Haftung einer juristischen Person abgeschafft worden. Siehe dazu Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 156 mit entsprechenden N. 40 BGHSt 11, 102 ff. 41 Dieser Schluß liegt nahe, hält man sich ausschließlich an die Darstellung von Bruns, GA 1982, 1 ff.
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1. Teil:
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
mögensdelikten des StGB. Herausgegriffen sei der Tatbestand des Betrugs in § 263 StGB. Von schon "historischem Wert" sind die Versuche zur Begriffsbestimmung des Vermögensschadens in § 263 StGB: Erinnert sei an den Theorienstreit zwischen juristischer und wirtschaftlicher Vermögenslehre 42 . Nach der wirtschaftlichen Vermögenslehre gehört zum Vermögensschaden "die Gesamtheit der einer Person zustehenden wirtschaftlichen Werte"43. Die juristische Vermögenslehre berücksichtigt demgegenüber nur die Summe der einer Person zustehenden Vermögensrechte und -pflichten. Auch hier scheint es sich wieder um den bereits oben festgestellten Gegensatz zu handeln: Zivilistisches Denken einerseits - vom Zivilrecht befreite strafrechtliche Auslegung andererseits. An Stelle der faktischen Betrachtungsweise, die in den beschriebenen Fällen44 die Funktion der Loslösung wahrnehmen soll, tritt nunmehr die wirtschaftliche Betrachtungsweise45 . Die enge Beziehung zwischen wirtschaftlicher und faktischer Betrachtungsweise zeigt sich nicht nur in ihrem gemeinsamen Anliegen, einer spezifisch strafrechtlichen Auslegung bei Begriffen zum Durchbruch zu verhelfen, die gleichlautend vor allem im Zivilrecht verwendet werden; es kommt hinzu, daß deren Anhänger zum Teil identisch sind. So zählt auch Bruns zu den Vertretern der wirtschaftlichen Vermögenslehre 46 . Aber auch in den Einwänden, die gegen die wirtschaftliche Betrachtungsweise vorgebracht werden, wird diese Verbindung deutlich: "Die Zuteilung von Gütern an ein bestimmtes Vermögenssubjekt kann sich nicht lediglich auf tatsächlich bestehende wirtschaftliche Machtverhältnisse stützen, sondern muß mindestens die rechtlichen "Zuteilungsordnungen" des Zivilrechts und des Öffentlichen Rechts beachten, darf sich jedenfalls zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nicht zu ihnen in Gegensatz stellen."47 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist nur eine besondere Erscheinungsform der faktischen Betrachtungsweise der Begriff "wirtschaftlich" steht synonym für "faktisch". Es sind die wirtschaftlichen Fakten, die die Siehe dazu Lackner, in: Leipz. Komm., Rnrn. 120 ff. zu § 263. Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 27 zu § 263; Blei, Strafrecht, BT, § 61 V 1; Cramer, in: Schönke / Schröder, Rnrn. 78 ff. zu § 263 m. w. N. 42
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Siehe oben 2. Siehe dazu Bruns, Befreiung, S. 226 ff.: "Auch dieser Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und rechtlicher Beurteilung ist nur eine besondere Erscheinungsform der Unterscheidung zwischen juristischer und faktischer Betrachtungsweise." 48 Bruns, Befreiung, S. 226 ff.; ders., Strafrechtsordnung, S. 335 ff., 343 ff. 47 Siehe dazu Cmmer, Vermögensbegriff, S. 90 f.; Lenckner, JZ 1967, 105 ff., 107; Gallas, Betrug, S. 401 ff., 409; anders Bruns, wie Fn. 46; Maurach / Schroeder, Strafrecht, BT 1, § 46 11 A d m. w. N. 44
45
11. Einwände
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"tatsächlich" zu beachtenden Fakten darstellen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist die speziellere insofern, als sie zu erkennen gibt, daß es um die faktische Auslegung eines Tatbestandsmerkmals mit vermögensbezogenem Charakter geht. Gerade bei der Behandlung des Vermögensschadens in § 263 StGB wird sich zeigen, daß die Begriffe faktisch bzw. wirtschaftlich austauschbar sind und auch ausgetauscht werden. Eine in der weiteren Darstellung getrennte Betrachtung erübrigt sich aus diesem Grunde.
11. Einwände gegen die faktische Betrachtungsweise 1. Ablehnende Stellungnahmen
Die faktische Betrachtungsweise blieb allerdings nicht unwidersprochen, wenn auch gegenteilige Stellungnahmen nur vereinzelt und sehr vorsichtig lautgeworden sind. Sie erschöpfen sich in Schlagworten bzw. einer pauschalen Ablehnung, ohne sich mit der faktischen Betrachtungsweise selbst weiter auseinanderzusetzen, und hatten deshalb bisher nur geringe Chancen, als überzeugend aufgenommen zu werden. Es kommt hinzu, daß eine Exemplifizierung am Einzelfall - also in all den Fällen, in denen das "richtige" Ergebnis nach Auffassung ihrer Befürworter nur mit der faktischen Betrachtungsweise gefunden werden kann - nie erfolgt ist. Wiederholt hat sich Tiedemann1 zur faktischen Betrachtungsweise geäußert. Nach seiner Auffassung steht die faktische Betrachtungsweise im Spannungsfeld zweier nur schwer zu vereinbarender Gegensätze: auf der einen Seite der wirtschaftlichen Entwicklungen und Umwälzungen (Veränderungen des Seins), auf der anderen Seite der im Strafrecht notwendigen Tatbestandspositivität innerhalb ausgebildeter Grenzen. Die Rechtsprechung habe zwar versucht, diesem Gegensatz mittels der wirtschaftlichen (faktischen) Betrachtungsweise Rechnung zu tragen, der Vorteil materieller Gleichbehandlung wirtschaftlichtatsächlich gleicher Vorgänge sei jedoch mit einer Ablösung der Strafbarkeit von der Straftatbestandlichkeit erkauft2. Für Tiedemann3 stellt die faktische Betrachtungsweise eine Methode der Analogie dar, die die Ausdehnung des Tatbestands über seinen Anwendungsbereich hinaus zum Ziele habe. Sie sei "keineswegs eine durchgehende Interpretationsmethode des Strafrechts, sondern werde meist nur in Ausnahmeberei1 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 54 ff.; NJW 1977, 777 ff.; NJW 1979, 1849 ff. 2 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 56 f. 3 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 58.
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
chen angewandt" 4. Dabei "vereinige, besser: verberge sie die Gesichtspunkte unterschiedlichster Provenienz"5. Tiedemann beläßt es bei einer schlagwortartig formulierten Kritik, die bisher nie aufgenommen und methodisch durchleuchtet worden ist und so wissenschaftlich hätte bestätigt oder falsifiziert werden können. Ob und inwieweit daran Korrekturen vorgenommen werden müssen, wird sich erst nach der Einzelüberprüfung der Beispiele zeigen. Breiteren Raum schenkt der faktischen Betrachtungsweise Sandrock6 • Ausgehend vom Ursprung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht nimmt er auch zu deren Weiterentwicklung im Strafrecht - in Gestalt der tatsächlichen Betrachtungsweise - Stellung. Als bemerkenswert hebt er hervor, daß diese Auslegungsmethode im Strafrecht im Gegensatz zum Steuerrecht häufig auch ohne eine besondere positiv-rechtliche Legitimation praktiziert werde. Sie sei "von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen als Zaubermittel benutzt worden, um zu Ergebnissen gelangen zu können, die sonst infolge des Verbots der belastenden Analogie nicht zu erreichen gewesen wären"7. Im folgenden referiert Sandrock dann die Anwendung der faktischen Betrachtungsweise an mehreren Beispielen und faßt schließlich zusammen: "Die wirtschaftliche oder tatsächliche Betrachtungsweise ist auch im Strafrecht als anerkanntes methodisches Hilfsmittel etabliert - wenn auch auf etwas unsicherem rechtsstaatlichen8 Boden."9 Eine gegenüber der faktischen Betrachtungsweise betont ablehnende Haltung nimmt BlauthlO ein. Dies wird bereits in einer Überschrift deutlich, in der er von der "sogenannten tatsächlichen Betrachtungsweise" spricht. Blauth nimmt zur faktischen Betrachtungsweise allerdings nur im Zusammenhang mit Fragen der Organ- und Vertreterhaftung Stellung, die er in seiner Arbeit allein untersucht. Seine voll zu unterstreichende Feststellungl1 , die spezifische Aufgabe des Straf4
5 6
Tiedemann, NJW 1979, 1850; s. auch denselben, NJW 1977, 779 f. Tiedemann, NJW 1979, 1850. Sandrock, Wirtschaftsordnung, S. 43 ff., 47 ff. Anlaß für seine Ausführun-
gen war der sogenannte Farbenherstellerbeschluß des BGH vom 17. Dezember 1970, BGHSt 24, 54 ff. Siehe dazu Faller, DB 1972, 1757 ff., insbes. 1759: "Gegen die Methode der faktischen Betrachtungsweise ist unter dem Gesichtspunkt des Analogieverbots nichts einzuwenden, sofern es sich um Sinndeutung innerhalb des tatbestandlichen Rahmens handelt und nicht ,die Form gesprengt wird', in die die Vorschrift ,gegossen' ist." Siehe auch die ergänzenden Bemerkungen von Sandrock, DB 1973, 265 ff. 7 Sandrock, Wirtschaftsordnung, S. 50. 8 Gemeint ist sicherlich: ... auf rechtsstaatlich etwas unsicherem Boden. 9 Sandrock, Wirtschaftsordnung, S. 53. 10 Blauth, Handeln für einen anderen, S. 37 ff. n Blauth, Handeln für einen anderen, S. 39.
11. Einwände
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rechts bringe es mit sich, daß das allgemeine Strafrecht nicht notwendig zivil- oder öffentlich-rechtlich qualifizierte Rechtsgüter zum Gegenstand habe, veranlaßt ihn zu folgendem Schluß: "Eine sinngemäße Auslegung der Tatbestände im Strafrecht kann 12 dazu führen 13 , daß auch der im fremden Interesse handelnde Vertreter erfaßt wird."14 Es sei allerdings unzulässig, "von vornherein eine Auslegung mit dem Ziel anzustreben, daß für alle in Frage kommenden Tatbestände auch das Handeln im Interesse eines anderen tatbestandsmäßig erscheint" 1,. Blauth stellt damit praktisch die Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise zur umfassenden Lösung der Probleme der Organ- und Vertreterhaftung in Frage. Zugleich weist er auf die Gefahr einer unzulässigen Analogie hin, die Hand in Hand mit der Anwendung der faktischen Betrachtungsweise gehe 16 . Die Ausführungen von Blauth legen sicherlich den Finger auf eine empfindliche Stelle der faktischen Betrachtungsweise; sie stellen jedoch keine ausreichende methodologische Auseinandersetzung mit ihr dar17 . Die faktische Betrachtungsweise bedeutet für Blauth nichts anderes als einen Hinweis auf eine "eigenständig strafrechtliche Auslegungsmethodik"18. Die einzige nicht negativ formulierte Feststellung von Blauth, die faktische Betrachtungsweise habe gerade darin eine nicht zu verkennende Bedeutung, als sie Mittel sein könne, scheinbare Lücken im geltenden Recht zu schließen und wahre Lücken aufzudecken 19 , vermag der faktischen Betrachtungsweise keinen positiven Inhalt als Auslegungsprinzip zu verleihen. Nach einer Durchsicht der die faktische Betrachtungsweise ablehnenden Stimmen kann festgehalten werden, daß eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit ihr fehlt. Der Hauptvorwurf gegen die Anwendung der faktischen Betrachtungsweise zielt auf die damit verbundene Gefahr einer Ablösung der Strafbarkeit von der Straftatbestandlichkeit20 • Die faktische Betrachtungsweise könne als eine Interpretationsmethode schon deshalb keine Anerkennung finden, da sie zum einen Bei Blauth gesperrt gedruckt. Sinngemäß zu ergänzen ist: muß es aber nicht. 14 Blauth, Handeln für einen anderen, S. 40. 15 Blauth, Handeln für einen anderen, S. 40. 16 Anzumerken ist an dieser Stelle, daß Wiesener, dem die Dissertation von Blauth vorgelegen hat, auf diese, wenn auch kurzen Ausführungen, nicht eingegangen ist. 17 Dies war auch nicht die Intention von Blauth, zumal er die Arbeit Wieseners nicht kannte. 18 Blauth, Handeln für einen anderen, S. 38. 19 Blauth, Handeln für einen anderen, S. 38. 20 Siehe oben Fn. 2. 12 13
30
1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
nur in Ausnahmebereichen angewandt werde, zum anderen für die unterschiedlichsten Sachgesichtspunkte stehe. Sie sei damit nicht einmal in der Lage, inhaltlich bestimmte Merkmale zu bezeichnen. Die Literatur beläßt es bei diesen pauschalen Abwertungen der faktischen Betrachtungsweise - beispielhaft dafür steht der Vergleich der faktischen Betrachtungsweise mit einem Zaubermitte121 • Eine methodologische bzw. dogmatische Auseinandersetzung mit der faktischen Betrachtungsweise fehlt jedoch ebenso wie eine Beschäftigung mit den einzelnen Fallgruppen, in denen sie nach Auffassung ihrer Befürworter dazu verhilft, überzeugende Ergebnisse gewinnen zu können. Der Befund fordert zu einer eingehenden Beschäftigung mit der faktischen Betrachtungsweise heraus, zumal auch der Blick auf den der faktischen Betrachtungsweise zugrundeliegenden Gegenstand gewisse Zweifel daran aufkommen läßt, daß es sich um ein eindeutiges und von seinem Bedeutungsinhalt her völlig klares Auslegungsprinzip im Strafrecht handelt. Die faktische Betrachtungsweise hat nach Auffassung ihrer Befürworter den Stellenwert eines verbindlichen Rechtsprinzips bei der Auslegung, die sich mit dem Bedeutungsinhalt von "Normen" befaßt. Normen machen daher auch den Gegenstand der faktischen Betrachtungsweise aus. Dies wirft folgende Frage auf: Stellen faktische Betrachtungsweise und die Normativität eines jeden Auslegungsprinzips danach nicht zwei unvereinbare Gegensätze dar? 2. Faktische Betrachtungsweise und die Normativität eines jeden Auslegungsprinzips
Die faktische Betrachtungsweise befaßt sich mit der Auslegung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale, insbesondere mit Begriffen, die gleichlautend in anderen Rechtsdisziplinen verwendet werden. Sie beschäftigt sich also mit "Sprachgebilden" , deren spezifischer Bedeutungsinhalt im Rahmen eines bestimmten Straftatbestandes nicht ohne weiteres verständlich ist. Der Jurist löst diese Probleme durch Auslegung, d. h. in einem Vorgang reflektierten Verstehens, wozu für die in dieser Arbeit angesprochenen Fallgruppen - davon gehen jedenfalls deren Befürworter aus - die faktische Betrachtungsweise das geeignete Lösungsinstrument sein soll. Dem Gegenstand der faktischen Betrachtungsweise kommt daher, ebenso wie dem Gegenstand der Auslegung in der Rechtswissenschaft allgemein, besondere Bedeutung zu. Es besteht in der Methodendiskussion eine gefestigte Auffassung dahingehend, daß dieser die Beschaffenheit des Auslegungsinstrumentariums im Rahmen der Sinnerfüllung und Inhaltsanreicherung bei der Ausle21
Siehe oben Fn. 7.
II. Einwände
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gung einer einzelnen Regelung nicht nur beeinflußt, sondern prägt. Zippelius beginnt seine Methodenlehre mit dem Satz: "Der Gegenstand bestimmt die Methode."22 Nach heutiger Auffassung ist die Auslegung auf die Gewinnung des Inhalts von Normen gerichtet, die in Verbindung mit konkreten Sanktionen in der Sozial welt zu gelten beanspruchen23 • Zugleich müssen die in den Urteilen der Gerichte enthaltenen Entscheidungsmaximen (Präjudizien) berücksichtigt werden, denen wie positiven Normen Geltungskraft zukommt 24 • Unter normativer Geltung 25 versteht man die Maßgeblichkeit oder Verbindlichkeit einer Verhaltensanforderung oder eines Maßstabes, an dem sich menschliches Verhalten messen lassen muß. Dabei läßt sich der Gesetzgeber von bestimmten Regelungsabsichten, Gerechtigkeits- oder Zweckmäßigkeitserwägungen leiten, denen letztlich bestimmte Wertungen zugrunde liegen26 • Diesen Wertungen auf die Spur zu kommen, ist das Anliegen jedes einzelnen (abstrakten) Beurteilungskriteriums. Die Aufgabe der Gesetzesauslegung (und damit auch der faktischen Betrachtungsweise) besteht nun darin, Gesetzesworte nicht nur zu beschreiben, sondern deren Bedeutung zu verstehen 27 • Ein weiteres kommt hinzu: In vielen Fällen führt der Auslegungsvorgang zu mehreren Verständnismöglichkeiten, je nachdem, welcher Auslegungstheorie (objektive Theorie, subjektive Theorie) man im Ein-
Zippelius, Einführung, S. 9. Zippelius, Einführung, S. 10 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 192 ff.; Coing, Grundzüge, S. 273 f.; Müller, Normstruktur, S. 38 a. E. 24 Deren Einbeziehung in den Rechtsfindungsprozeß wird in der neueren Methodenlehre unter dem Stichwort der fallvergleichenden Betrachtungsweise anerkannt. Es geht bei ihr um den Vergleich der problematischen mit den anerkannten Fallagen unter dem Aspekt der je maßgeblichen Entscheidungskriterien (Schutzbedürftigkeit, Schutzwürdigkeit) als Maßstab für die richtige Rechtsfindung. Siehe dazu Larenz, Methodenlehre, S. 277 f., der diese Vorgehensweise vor allem an der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe aufzeigt. Zur Bedeutung von Präjudizien s. dens, S. 347 f.; KTiele, Theorie, S. 251 ff., 269 ff.; HassemeT, Rechtssystem, S. 85. Zur Methode der Fallvergleichung im Rechtsfindungsprozeß s. LaTenz, Wegweiser, S. 275 ff.; Leenen, Typus, S. 66 ff.; FikentscheT, Methoden IV, S. 202 ff. verfährt ebenso anhand der Fallnorm. Siehe dazu auch LaTenz, Methodenlehre, S. 421 ff. 25 Die Auffassung von der Normativität rechtlicher Regelungen hatte nicht schon immer Gültigkeit. Sie steht im Gegensatz zum rechtswissenschaftlichen Positivismus, der durch das Streben gekennzeichnet war, nicht nur alle "Metaphysik", sondern auch die Frage nach einem "Sinn", nach "Werten" oder "Gültigem" als unbeantwortbar aus der Wissenschaft zu verbannen und diese streng auf die "Tatsachen" und deren empirisch zu beobachtende Gesetzlichkeit zu beschränken (LaTenz, Methodenlehre, S. 39; Coing, Grundzüge, 22
23
S. 273 f.). 26 27
Siehe dazu Larenz, Methodenlehre, S. 192 ff. Zippelius, Einführung, S. 10, 56.
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
zelfall folgt. Der Rechtsanwender selbst steht allerdings unter Entscheidungszwang 28 • Er muß unter in der Regel mindestens zwei einnehmbaren Standpunkten einen für zumindest vorzugswürdig halten und damit bewerten. Dem Verstehensprozeß als einem Prozeß normativer Art folgt damit ein weiterer normativer Vorgang. Handelt es sich also bei der Auslegung um einen Vorgang wertender (durch und durch normativer) Art und bestimmt der Gegenstand auch die Methode, so folgt daraus der normative Charakter eines jeden Auslegungsprinzips, sei es methodischer oder dogmatischer Natur. Dies gilt insbesondere dann, wenn das entsprechende Rechtsprinzip zugleich die letztlich verbindliche Verständnismöglichkeit festlegt, d. h. wenn es die Entscheidung für eines der zahlreichen zur Verfügung stehenden Prinzipien abnimmt, nachdem man die mit deren Hilfe gewonnenen Inhalte gegeneinander abgewogen hat. Handelt es sich also bei der faktischen Betrachtungsweise um ein solches normatives Prinzip, ist bereits der Begriff der faktischen Betrachtungsweise zumindest irreführend bzw. widersprüchlich. Die faktische Betrachtungsweise ist dann nämlich eine normative Betrachtungsweise, die bei der Auslegung Fakten - welche auch immer - auf eine ganz bestimmte Art und Weise berücksichtigt. Der Stellenwert der faktischen/wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Strafrecht ist damit markiert. Während allgemeine Auslegungsprinzipien grundsätzlich übergreifend in allen Rechtsdisziplinen Gültigkeit besitzen, scheint die faktische Betrachtungsweise ein spezifisches Charakteristikum strafrechtlicher Auslegung zu sein. Diese Vermutung wird freilich umgehend widerlegt, blickt man in das Steuerrecht bzw. das Zivilrecht selbst, denn beide weisen Parallelentwicklungen auf. Es ist damit nicht nur das Strafrecht, das sich mit einer faktischen Betrachtungsweise konfrontiert sieht.
III. Parallelen zur faktischen Betrachtungsweise in anderen Rechtsgebieten 1. Vorbemerkungen
Im Zivilrecht sind es die sogenannten faktischen Vertragsverhältnisse, die man mit dem herkömmlichen Auslegungsinstrumentarium nicht bewältigen zu können glaubt. Bei der rechtlichen Beurteilung bestimmter Leistungsbeziehungen (faktische Vertragsverhältnisse) sollen nicht vertragliche Vereinbarungen, sondern die "tatsächliche Inan28
Siehe dazu Fikentscher, Methoden IV, S. 395.
III. Parallelen in anderen Rechtsgebieten
33
spruchnahrne" von Leistungen entscheiden - die faktische Betrachtungsweise soll eine solche Beurteilung ermöglichen. Im Steuerrecht ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise ein allgemein anerkanntes Auslegungsprinzip, das bis zum Jahre 1977 sogar im Steueranpassungsgesetz und in der Abgabenordnung positiv verankert war. Dies ist insoweit ungewöhnlich, als Fragen der Auslegung im allgemeinen in einzelnen Gesetzen nicht angesprochen, sondern Methodenlehre und Dogmatik überlassen werden. Während die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht nahezu unbestritten blieb, stieß sie im Zivil- bzw. Steuerrecht auf heftigen Widerstand und wurde deshalb kontrovers diskutiert. Diese völlig unterschiedliche Aufnahme der faktischen Betrachtungsweise in verschiedenen Rechtsgebieten erstaunt um so mehr, als sich die Behandlung von Problemen und Aspekten nach der faktischen Betrachtungsweise i. S. von Steuer- und Zivilrecht mit der der faktischen Betrachtungsweise i. S. des Strafrechts in hohem Maße ähnelt. Auch dort geht es um die Erfassung von Sachverhaltskonstellationen, die mit dem herkömmlichen Auslegungsinstrumentarium anscheinend nicht bewältigt werden können, so daß nach neuen Auslegungsprinzipien Ausschau gehalten werden muß. Gerade wegen der Ähnlichkeit der faktischen Betrachtungsweise im Zivil- bzw. Steuerrecht mit dem Phänomen der "faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht" bietet es sich daher an, einen Blick über die Grenzen des Strafrechts hinaus zu werfen. Er erschließt zugleich zusätzliches Argumentationsmaterial und ermöglicht es, die im Zivil- bzw. Steuerrecht gegen die faktische/wirtschaftliche Betrachtungsweise geltend gemachten Bedenken auch im Hinblick auf die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht zu überprüfen und zu würdigen. Entsprechend der schon früh einsetzenden Anwendung und der größeren Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht soll auf sie zuerst eingegangen werden. 2. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im steuerrecht
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise besitzt im Steuerrecht als einer Disziplin des Öffentlichen Rechts eine lange Tradition 29 • Ihr Anwendungsbereich erstreckt sich auf alle wirtschaftlichen Vorgänge oder Zustände, soweit diese als Grundlage eines steuerpflichtigen Tatbestands dienen. Es soll den Grundsätzen teleologischer Auslegung ent29 Aus der umfangreichen Literatur s. nur Becker, StuW I 1932, 481 ff. mit mannigfachen Beispielen aus der Rechtsprechung; Theis, DB 1954, 706 ff., 728 ff., 749 ff.; Friedlaender, NJW 1956, 1049 ff.; Hübschmann, Wirtschaftliche Betrachtungsweise, s. 107 ff.; Kruse, Steuerrecht, § 9 (S. 98 ff.); Paulick, Steuerrecht, Rnrn. 313 ff.
3 Cadus
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
sprechen, diesen besonderen wirtschaftlichen Gegebenheiten durch eine "wirtschaftliche Betrachtungsweise" Rechnung zu tragen. Das Steuerrecht muß nach Auffassung von Geiler 30 die "faktische Gestaltung der Rechtsverhältnisse" berücksichtigen. Nach Friedlaender hat es - im Gegensatz zum älteren Zivilrecht - von dem auszugehen, "was ist", und nicht von dem, "was sein SOll"31. Betrachtet man die einzelnen Fallgruppen, in denen die wirtschaftliche Betrachtungsweise zur Anwendung kommen soll, läßt sich eine Parallelität zur faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht nicht übersehen: Es geht jeweils um Begriffe aus steuerrechtlichen Regelungen, die dem Zivilrecht entnommen bzw. an dieses angelehnt sind. Tipke 32 definiert denn auch: "Die wirtschaftliche Betrachtungsweise anwenden, heißt prüfen, ob dem Gesetzesausdruck, der synonym ist mit einem Begriff des Zivilrechts, nicht ein vom Zivilrecht abweichender wirtschaftlicher Sinn beizumessen ist." Die Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht geht zumindest formal über die der faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht hinaus. Sie stellt nicht nur ein ungeschriebenes, allgemein anerkanntes Auslegungsprinzip dar - die steuerliche Literatur betonte immer, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise eine rechtliche Betrachtungsweise sei oder doch sein müsse 33 . Die wirtschaftliche Betrachtungsweise fand gar Eingang in die Gesetzesfassungen des § 1 Abs. 2 und Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes 1934 und des § 4 der Abgabenordnung des Jahres 1919 34 . Trotz der positiven Verankerung in den Steuergesetzen selbst blieb die wirtschaftliche Betrachtungsweise als Auslegungsprinzip nicht un30 Geiler, StuW I 1927, Sp. 507: "Während wir unter den Entscheidungen des Jahres 1919 noch immer solche mit ganz zivilrechtlicher Denkweise antreffen, beginnt mit dem Jahre 1920 die sich vom bürgerlichen Recht emanzipierende, mehr die wirtschaftliche Lage und die faktische Gestaltung der Dinge erfassende Beurteilung immer stärker hervorzutreten." 31 Friedlaender, NJW 1956, 1050, 130l. 32 Vgl. Tipke, Steuerrecht, § 8 3 a). 33 Bühler / Strickrodt, Steuerrecht I 1, S. 157 ff.; Becker / Riewald / Koch, Reichsabgabenordnung, Anm. 2 b zu § 1 Steueranpassungsgesetz; v. Wallis, Wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 249 ff., 259 ff. 34 § 4 AO 1919: Bei Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. § 1 Abs. 1 Steueranpassungsgesetz - die Steuergesetze sind ... auszulegen. § 1 Abs. 2 - dabei sind die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Verhältnisse zu berücksichtigen. § 1 Abs. 3 - Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen ... Zur geschichtlichen Entwicklung dieser Norm vgl. u. a. Kruse, Steuerrecht,
§ 9 I (S. 99 f.).
III. Parallelen in anderen Rechtsgebieten
35
widersprochen. Die Auffassungen über die Tragweite des Gebots wirtschaftlicher Auslegung der Steuergesetze gehen freilich schon seit mehr als einem Jahrhundert auseinander und haben im Laufe der Zeit gewechseJt35. Kruse 36 bezeichnet die wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine "der eigenartigsten Erscheinungen" des Steuerrechts. Bis heute besteht keine Einigkeit darüber, welche Funktion und welche Grenzen sie hat 37 • Obgleich sie ein allgemeines Prinzip zur Auslegung steuerrechtlicher Tatbestände darstellen soll, ist von allen diesen Kontroversen in den allgemeinen und in den privatrechtIichen Methodenlehren nichts oder fast nichts zu hören38 • Lediglich in der "Kritik des Zivilurteils" von Hattenhauer39 ist kurz von der wirtschaftlichen Betrachtungsweise die Rede: Sie sei "ehedem eine Kampfformel gegen die Begriffsjurisprudenz" gewesen, heute aber zu einer Leerformel erstarrt. Im Verlauf der Beratungen der heute gültigen Abgabenordnung aus dem Jahre 1977 hat der Finanzausschuß des Bundestages eine dem § 4 AO aus dem Jahre 1919 entsprechende Regelung gestrichen, die in § 3 Abs. 2 der Regierungsvorlage enthalten war 40 - § 3 Abs. 2 sollte weiterhin wie § 4 Abgabenordnung 1919 und § 1 Abs. 2 und Abs. 3 des Steueranpassungsgesetzes 1934 die wirtschaftliche Betrachtungsweise für die Anwendung der Steuergesetze gesetzlich vorschreiben. Der Ausschuß berief sich in übereinstimmung mit der Literatur darauf, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise ein allgemeines Auslegungsprinzip sei, das im Steuerrecht ebensowenig der Kodifikation bedürfe wie in den anderen Rechtsgebieten. Er war der Auffassung, daß die früheren Steuergesetze die wirtschaftliche Betrachtungsweise nur deshalb gesetzlich hätten festlegen müssen, weil sie als Auslegungsprinzip damals noch nicht unbestritten gewesen sei. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise scheint sich damit im Steuerrecht durchgesetzt zu haben, auch wenn Pawlowski 41 angesichts der Änderung der Abgabenordnung die Frage nach dem "Abschied von der wirtschaftlichen Betrachtungsweise" gestellt hat. 35 Siehe dazu Tipke, Steuerrecht, § 8 3 a); Rittner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 9 f. 36 Kruse, Steuerrecht, S. 98. 37 Siehe dazu Friedlaender, NJW 1956, 1299 ff.; Kaiser, StuW I 1961, 269 ff.; Thiel, Wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 195 ff.; aus der neueren Literatur vgl. Pawlowski, BB 1977,253 ff. 38 Vgl. dazu auch Rittner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 13. 39 Hattenhauer, Kritik, S. 101. 40 Vgl. den Bericht von v. Bockelberg, BB 1976, 1185 ff. m. w. N. 41 So der Titel eines Aufsatzes von Pawlowski, BB 1977,253.
36
1. Teil:
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
3. Die faktischen Vertragsverhältnisse im Zivilrecht
Nicht ganz so alt wie die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht ist die Lehre von den faktischen Vertragsverhältnissen im Zivilrecht 42 , die zu zwei völlig verschiedenen Lebensbereichen entwickelt worden ist. Zum einen geht es um die Abwicklung und rechtliche Beurteilung der Leistungsbeziehungen des sogenannten Massenverkehrs, in dem individuelle Vereinbarungen in den Hintergrund treten (a). Typisch dafür ist die Entnahme von elektrischem Strom, die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln wie z. B. Bus und Straßenbahn USW. 43 . Zum anderen entstehen Probleme durch Vertragsverhältnisse, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie - bei mangelhafter Vertragsgrundlage - auf Dauer angelegt und durch ständige Zusammenarbeit und Mitarbeit der "Vertragsbeteiligten" geprägt sind (b). Beispiele dafür sind das Gesellschaftsverhältnis bei den Personalgesellschaften (und der BGB-Gesellschaft) und das Arbeitsverhältnis. In beiden Fällen soll die faktische Betrachtungsweise eine interessengerechte Lösung ermöglichen. Zu a) Die Leistungsbeziehungen des Massenverkehrs weisen von Natur aus Besonderheiten gegenüber Individualbeziehungen auf. Im Bereich der Daseinsvorsorge ist der Individualvertrag durch den Massenvertrag ersetzt, die bereitgehaltenen Nutzungs- und Beförderungsleistungen sind typisiert. Dadurch kann den individuellen Besonderheiten weder auf Seiten der Leistungsempfänger noch auf Unternehmerseite Rechnung getragen werden. Abwägen und Aushandeln des Vertragsinhalts spielen in diesen Bereichen "sozialtypischen Verhaltens" kaum mehr eine Rolle. Der Bundesgerichtshof kam daher im sogenannten Parkplatzfa1l44 zum Ergebnis, daß die Annahme eines faktischen Vertragsverhältnisses der Erscheinung eines solchen typischen Verhaltens in sinnvoller Weise entspreche. In einer weiteren Entscheidung zur Frage, ob ein Energieversorgungsvertrag allein schon durch die tatsächliche Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen zustande komme, hat er diese Auffassung bestätigt: "Sozialtypisches Verhalten kann zur Begründung eines Schuldverhältnisses ausreichen, ja sogar in einzelnen Fällen den einzig möglichen Anknüpfungspunkt bilden."45 In der Literatur beschäftigte sich als erster Haupt in einer grundlegenden Studie mit den "faktischen Vertragsverhältnissen kraft sozia42 Siehe dazu Haupt, Faktische Vertragsverhältnisse; Betti, Faktische Vertragsverhältnisse, S. 253 ff.; Siebert, Faktische Vertragsverhältnisse; Simitis, Faktische Vertragsverhältnisse. 43 Allgemein bekannt ist der sogenannte Parkplatzfall, der einer Entscheidung des BGH - BGHZ 21, 319 ff. - zugrunde lag. 44 Siehe dazu oben Fn. 43. 45 BGH NJW 1957,627 = LM Nr. 2 vor § 145 BGB m. Anm. von Liesecke.
IH. Parallelen in anderen Rechtsgebieten
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ler Leistungsverpflichtung"46. Nicht ein Vertragsschluß, sondern die Tatsache der Inanspruchnahme der Leistung biete die rechtliche und damit selbständige Grundlage der beiderseitigen Rechte und Pflichten47 • Diese Lehre wurde in den fünfziger Jahren von Larenz 48 fortentwickelt und fand teilweise Anerkennung. Larenz selbst sprach von Schuldverhältnissen aus sozialtypischem Verhalten aus der tatsächlichen Inanspruchnahme einer Versorgungsleistung 49 • Zu b) Weniger auf rechtliche, als auf tatsächliche Gegebenheiten soll es auch bei den "durch Zusammenarbeit und Mitarbeit gekennzeichneten Dauerverhältnissen auf mangelhafter Vertragsgrundlage" ankommen. Nach der Lehre von der "faktischen Gesellschaft" z. B. kann die Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit des Gesellschaftsvertrages nach tatsächlichem Beginn der Gesellschaft grundsätzlich nicht mehr zur anfänglichen Unwirksamkeit oder zur rückwirkenden Vernichtung des vollzogenen Gesellschaftsverhältnisses führen 50 • Der tatsächliche Vollzug müsse - wenigstens bis zu dem genannten Zeitpunkt - rechtliche Anerkennung nach sich ziehen, da die Rechtsordnung das tatsächliche Bestehen einer Gesellschaft nicht ignorieren könne. Die Problematik des faktischen Arbeitsverhältnisses entspricht in ihren Grundzügen der der faktischen Gesellschaft51 • Auch hier geht es um die rechtlichen Konsequenzen eines entweder nichtigen oder doch zumindest anfechtbaren Vertragsverhältnisses, in dem zumindest von Arbeitnehmerseite Leistungen erbracht worden sind. Eine Rückabwicklung als Folge einer anfänglich oder rückwirkend herbeigeführten Nichtigkeit wird weitgehend als unmöglich angesehen, weil die geleistete Arbeit und die Summe der dadurch entstandenen Fürsorge- und Treuebeziehungen nicht rückgängig gemacht werden könnten. Des weiteren stehe das besondere Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers einer solchen Rückabwicklung entgegen. Die faktische Betrachtungsweise wird als geeignetes Instrument angesehen, um aus diesem Dilemma herauszuhelfen. Erst die Theorie des faktischen Vertrages ermögliche es, an die Stelle der rückwirkenden Vernichtung (§ 142 Abs. 1 BGB) die Aufhebung mit Wirkung ex nunc treten zu lassen52 • Haupt, Faktische Vertragsverhältnisse. Haupt, Faktische Vertragsverhältnisse, S. 29. 48 LaTenz, Schuldrecht, BT I, S. 31 ff. 49 LaTenz, wie Fn. 48. 50 Siehe dazu Haupt, Faktische Vertragsverhältnisse, S. 17 f.; SiebeTt, tische Vertragsverhältnisse, S. 40 ff., 96 f. 51 Vgl. dazu SiebeTt, Faktische Vertragsverhältnisse, S. 68 ff. m. w. N. 46
47
Fak-
52 Aus der Rechtsprechung s. BAG, Urt. vom 5. Dezember 1957, AP Nr. 2 zu § 123 = NJW 1958, 516.
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1. Teil:
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
Die Lehre von den faktischen Vertragsverhältnissen blieb freilich nicht unwidersprochen. Gegen sie als allgemeines Lösungsprinzip wurden und werden vielfältige Einwände erhoben, obwohl über die typischen Sachverhalte und ihre Lösung im praktischen Ergebnis weitgehend übereinstimmung besteht. Siebert53 bemängelte bereits 1957 in einem Vortrag vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe, es gäbe kein allgemeines, systematisch einheitliches Problem der faktischen Vertragsverhältnisse. Die einheitliche Bezeichnung als "faktisches Vertragsverhältnis" sei daher rechtssystematisch falsch; sie sei allenfalls aus praktischen Gründen vertretbar, wenn man sie als abkürzende Kennzeichnung einer mehr oder weniger weitgehenden Abwandlung des Rechtsgeschäfts und des Vertrages auf den Gebieten der Daseinsvorsorge, des Gesellschaftsrechts und des Arbeitsrechts verstehe. Von den heute erhobenen Einwänden sollen nur einige skizzenhaft aufgeführt werden. Bereits der Terminus "faktisches Vertragsverhältnis" sei - so heißt es - ein Widerspruch in sich, da ein Vertragsverhältnis nach dem Sprachsinn ein durch Vertrag begründetes Rechtsverhältnis sei54 • Die Lehre vom faktischen Vertragsverhältnis sei mit den Grundsätzen des BGB, wonach Verträge durch Willenserklärungen zustande kämen, unvereinbar und lasse sich auch nicht als Rechtsfortbildung rechtfertigen. Die ihr zugrundeliegenden Fallgruppen könnten sachgerecht gelöst werden, ohne daß der Grundsatz aufgegeben zu werden brauche, daß zu einem Vertragsschluß übereinstimmende Willenserklärungen der Parteien erforderlich seien55 • Grundsätzliche Kritik am Instrument der faktischen Betrachtungsweise übt auch Pawlowski56 • Nach seiner Auffassung ist der Hinweis auf das "tatsächliche Verhalten" eher geeignet, die entscheidenden rechtlichen Gesichtspunkte zu verdecken. Die Lehre von den faktischen Vertragsverhältnissen leide unter ihrer inneren Abhängigkeit von dem herrschenden Nichtigkeitsbegriff, nach welchem ein nichtiges Rechtsgeschäft "nicht vorhanden" sei57 • Ein "abgestufter Nichtigkeitsbegriff" ermögliche es, das nichtige Rechtsgeschäft als Rechtsgeschäft teilweise aufrechtzuer haI ten58 • Siebert, Faktische Vertragsverhältnisse, S. 95. Flume, BGB - AT, S. 96. 55 Palandt / Heinrichs, BGB, Rn. 5 a zu Einführung vor § 145. 56 Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, S. 24; sehr anschaulich ist der Hinweis auf S. 22/23, man könne z. B. einen Diebstahl im Selbstbedienungs53
54
laden nicht als "faktischen Kauf" ansehen. Der heimlich eingeschlichene Arbeiter stehe nicht in einem "faktischen Arbeitsverhältnis". Siehe dazu auch Pawlowski, BGB - AT 2, S. 215, 239 f. 57 Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, S. 23. 58 Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, S. 46.
IH. Parallelen in anderen Rechtsgebieten
39
Die Lehre von den faktischen Vertragsverhältnissen wird denn auch heute überwiegend abgelehnt 59 • 4. Konsequenzen für die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht
Der kurze Ausblick in die Nachbardisziplinen reicht aus, um feststellen zu können, daß die faktische/wirtschaftliche Betrachtungsweise keine Einzelerscheinung im Strafrecht darstellt. Während sich die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht offensichtlich durchgesetzt und als allgemeines Auslegungsprinzip etabliert hat, sieht sich die Theorie der faktischen Vertragsverhältnisse mit erheblichen Einwänden konfrontiert. Wird auf der einen Seite die "Befreiung des Vertragsbegriffs aus seiner konsensualistischen Enge"60 gepriesen, so soll das faktische Vertragsverhältnis auf der anderen Seite "Ausdruck des Niedergangs unserer Privatrechtsordnung und insbesondere der Dogmatik des Rechtsgeschäfts"61 sein, "begriffsjuristische Manipulation, der es an praktischer Notwendigkeit fehle"62. Zu Auseinandersetzungen, wie sie bei der Lehre von den faktischen Vertragsverhältnissen im Zivilrecht stattgefunden haben 63 , kam es um die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht nicht. Darin allerdings ein deutliches Zeichen dafür zu sehen, daß sich die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht widerspruchslos durchgesetzt habe, wäre verfehlt. Die auffallende Abstinenz hat vielmehr offensichtlich andere Gründe: Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise steht in engem Zusammenhang mit der "Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken". Ihr Anwendungsbereich ist damit so breit, daß ein Gedanke naheliegt, den bereits Lobe 64 im Jahre 1898 in seinem Vorwort zum "Einfluß des Bürgerlichen Gesetzbuches auf das Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung des Besitzes" geäußert hat. Nach seiner Auffassung sind es die vor allem zahlreichen Fallkonstellationen, die davor zurückschrecken ließen, in eine nähere Untersuchung der faktischen Betrachtungsweise einzutreten. 59 Vgl. nur Palandt / Heinrichs, BGB, Rn. 5 zu Einführung vor § 145; Flume, BGB - AT, S. 95 ff.; Esser / Schmidt, Schuldrecht 1 AT Teilbd. 1, S. 110 ff.; in diesem Zusammenhang ist besonders anzumerken, daß Larenz - Anhänger der faktischen Betrachtungsweise, s. dazu oben Fn. 48 - in den neueren Auflagen (s. ab 11. Aufl.) des Schuld rechts den Abschnitt "Schuldverhältnisse aus sozialtypischem Verhalten" weggelassen hat. 60 Bärmann, Typisierte Zivilrechtsordnung, S. 86. 61 Wolf!, NJW 1953, 1250 f. Lesenswert sind die drastisch ausgemalten Folgen der faktischen Betrachtungsweise für die Privatrechtsordnung. 62 Siehe dazu Nipperdey, MDR 1957, 129 f. 63 Nahezu unüberschaubar ist dazu die Literatur in den fünfziger Jahren. 64 Lobe, Einfluß des Bürgerlichen Gesetzbuches.
40
1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
Die faktische Betrachtungsweise kann auf eine breitere Zustimmung freilich nur dann hoffen, wenn sowohl Funktion als auch Inhalt anhand aller einzelnen Fallkonstellationen herausgearbeitet worden sind. Eine solche Untersuchung existiert allerdings auch heute noch nicht. Einem offenbar breiten Anwendungsbereich steht damit ein erhebliches Defizit ihrer methodischen bzw. dogmatischen Ableitung gegenüber. Das provoziert geradezu die Frage, worum es bei der faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht überhaupt geht. Bevor dazu allerdings eigene Untersuchungen angestellt werden, bietet es sich an, den bereits vorfindbaren Bestand methodischer bzw. dogmatischer Literatur zu sichten. Soll die faktische Betrachtungsweise ein Hilfsmittel bei der Auslegung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale oder Tatbestände sein, könnte ein Blick in die Ausführungen zum Allgemeinen Teil des Strafrechts, insbesondere die Auslegungsgrundsätze, Aufschluß geben.
IV. Die methodische Grundlegung der faktischen Betrachtungsweise 1. Die methodische Grundlegung im Strafrecht
Das bisher zwar angesprochene, wenn auch noch nicht nachgewiesene Defizit methodischer Ableitung läßt sich sehr leicht erklären, führt man sich die Funktion strafrechtlicher Tatbestände, insbesondere deren Verständnis durch Roxin vor Augen. Dieser formuliert unzweideutig und unmißverständlich 1 : "Die Bestimmungen im Besonderen Teil unseres Strafgesetzbuches umschreiben die verbotenen und strafbaren Verhaltensweisen in aller Regel so, daß sich ihr Kernbereich dem Verständnis durch eine bloße Lektüre des Gesetzestextes erschließt. Daß dies so sein soll, folgt aus dem Grundsatz nullum crimen sine lege (Artikel 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB); denn das Prinzip der Gesetzesbestimmtheit hat unter anderem gerade den Zweck, daß der Bürger sich ohne große Mühe aus dem Gesetz darüber soll informieren können, was erlaubt und was bei Strafe verboten ist."
In dieser von Roxin vertretenen Auffassung wird man bestärkt, liest man in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts nach, welche Aufgaben strafrechtliche Normen zu erfüllen haben. Man wird ständig daran erinnert, daß es im Strafrecht darum gehe, nur die Mindestbedingungen menschlichen Zusammenlebens zu schützen - strafrechtlicher Schutz soll nur bestimmten besonders bedeutsamen und zur Selbstentfaltung und -verwirklichung des Menschen unverzichtbaren Rechts1
Roxin, JA 1981, 226.
IV. Methodische Grundlegung
41
gütern gewährt werden 2 • Auch die Formeln von der "Subsidiarität des Strafrechts"3 und der "Verhältnis mäßigkeit der staatlicherseits eingesetzten Mittel"4 belegen dies, so daß der Schluß naheliegt, es müsse jedem Normunterworfenen klar und verständlich sein, was mit jeder einzelnen Forderung und Verhaltensanweisung des Strafgesetzbuches gemeint ist. Die Forderung Roxins nach Allgemeinverständlichkeit strafrechtlicher Regelungen sollte um so mehr gelten, als im Falle der Nichtbeachtung schwere Eingriffe in die Persönlichkeit dessen drohen, der entsprechenden Verhaltensanweisungen zuwider gehandelt hat. Die Beschäftigung der strafrechtlichen Literatur mit allgemeinen Auslegungsfragen müßte nach all dem völlig überflüssig sein. Diese Schlußfolgerung steht allerdings im krassen Widerspruch zur Realität. Sie gibt kein zutreffendes Bild vom Ist-Zustand, sondern formuliert allenfalls eine Wunschvorstellung. Sogar das Bundesverfassungsgericht5 konkretisiert die Anforderungen an die Ausgestaltung strafrechtlicher Normen dahingehend - wiewohl es dies sehr zurückhaltend in einem seiner Obersätze formuliert -, daß strafrechtliche Normen das Verbotene "nur"6 so klar von dem Erlaubten abtrennen müssen, daß Tragweite und Anwendungsbereich im Wege der Auslegung ermittelt werden können und der einzelne von vornherein wissen kann, was strafrechtlich verboten ist. Das Bundesverfassungsgericht läßt es damit zu, daß der Inhalt strafrechtlicher Regelungen nicht aus sich selbst, sondern erst nach der Verwendung strafrechtlicher Auslegungsregeln muß verstanden werden können. Es verwundert daher nicht, daß sich die rechtswissenschaftliche Literatur mit strafrechtlichen Auslegungsfragen beschäftigt hat. Obgleich es in der Rechtswissenschaft grundsätzlich Methodenlehre und Dogmatik sind, die zur Auslegung gesetzlicher Regelungen Handwerkszeug und Spielregeln7 zur Verfügung stellen, hat sich auch die strafrechtliche Literatur selbst mit den Auslegungsregeln insbesondere im Strafrecht beschäftigt. In jedem strafrechtlichen Lehrbuch oder auch 2 Siehe dazu Rudolphi, in: SK, Vorbem. § 1 Rnrn. 1 ff. mit vielen N.; s. insbes. Amelung, Rechtsgiiterschutz; Bundesverfassungsgericht NJW 1975, 576 "elementare Werte des Gemeinschaftslebens"; kritisch Rudolphi, Aspekte, S. 151 ff.; Hassemer, Theorie. 3 Siehe dazu BVerfGE 39, 1 ff., 47 = NJW 1975, 576; Rudolphi, in: SK, Vorbem. vor § 1 Rnrn. 12 ff.; Zipf, Kriminalpolitik, S. 52 f., 101 f. 4 Vgl. BVerfGE 6, 389, 439; 23, 127, 133 f.; 34, 261, 267; 39, 1,47. 5 BVerfGE 14, 245, 251; 25, 269, 285; 26, 42; 41, 314, 319; 50, 142, 164 f.; 57,250 ff. e Dieses Wort wurde vom Verfasser eingefügt. 7 Zur Erläuterung dieser beiden Begriffe siehe unten Zweiter Teil I Fn. 19.
42
1. Teil:
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
Kommentar 8 werden etliche Seiten allgemeinen Auslegungsgrundsätzen gewidmet. Wenn die faktische Betrachtungsweise ein so wichtiges Prinzip bei der Befreiung des Strafrechts darstellt - soll doch die faktische Betrachtungsweise in vielen Fällen die Weichen dafür stellen, wann und wie das Strafrecht vom Zivilrecht abweichende eigene Wege gehen muß - , müßte man eigentlich erwarten dürfen, daß sich zumindest in den strafrechtlichen Lehrbüchern und Kommentaren Stellungnahmen zu ihrem Inhalt und ihrer Funktion finden müßten. Nur dann wäre die "methodische Zurückhaltung" der Anhänger der faktischen Betrachtungsweise verständlich. In dieser Erwartung wird man jedoch in jeder Hinsicht enttäuscht. Nach sorgfältiger Sichtung bleibt nichts anderes übrig als festzustellen, daß das Prinzip der faktischen Betrachtungsweise - zumindest "noch" - nicht verarbeitet worden ist, daß Stellungnahmen über die Abgrenzung zum Zivilrecht mehr als spärlich sind 9 und von der faktischen Betrachtungsweise im übrigen nie die Rede ist. Es bleibt eine letzte Möglichkeit, das Defizit methodischer Aussagen zur faktischen Betrachtungsweise in der allgemeinen strafrechtlichen Literatur zu erklären: Die Darstellung der spezifisch strafrechtlichen Auslegungsgrundsätze orientiert sich immer an den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen und nimmt auf diese Bezug. Die allgemeine Grundlegung der Auslegungsprinzipien erfolgt jedoch nicht im Strafrecht, sondern in der Methodenlehre und der Dogmatik. Dies macht einen Blick auch in diese allgemeinen Rechtsgebiete erforderlich. 2. Die methodische Grundlegung in der allgemeinen Methodenlehre und Dogmatik
Es ist die ureigenste Aufgabe der Methodenlehre, sich mit den allgemeinen Fragen zu beschäftigen, wie juristische Auslegung vor sich zu gehen hat, welcher Mittel sie sich dabei bedient, wie beschaffen deren Inhalte sein müssen und wo die Grenzen der Auslegung liegen. Das Schrifttum dazu ist nahezu unüberschaubar. Zum ersten Male von v. SavignylO im "System des heutigen römischen Rechts" angesprochen, werden diese Fragen heute in den traditionell angelegten Werken wie 8 Siehe nur Maurach / Zipf, Strafrecht AT 1, § 9; Jescheck, Lehrbuch, S. 118 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht - AT, S. 101 ff.; Baumann, Strafrecht AT, S. 148 ff.; Tröndle, in: Leipz. Komm., Rnrn. 41 ff. zu § 1; Schreiber, in: SK, Rnrn. 21 ff. zu § 1. 9 Baumann, Strafrecht AT, S. 154 ff., 156 f. 10 v. Savigny, System I, S. 206 ff.
IV. Methodische Grundlegung
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etwa der "Methodenlehre der Rechtswissenschaft" von Karl Larenz, der "Einführung in das juristische Denken" von Karl Engisch, der Arbeit über "Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung" von Josef Esser, der "Einführung in die juristische Methodenlehre" von Reinhold Zippelius, der "Juristischen Methodik" von Friedrich Müller oder dem fünfbändigen rechtsvergleichenden Werk "Methoden des Rechts" von Wolfgang Fikentscher aufgeworfen und abgehandelt l l . Man findet dort nicht nur den schon als "klassisch" zu bezeichnenden Methodenkanon v. Savignys, von dem man verständlicherweise keine Erklärung für die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht erwarten kann - die faktische Betrachtungsweise ist schließlich ein Produkt neuerer Zeit. Den Kriterien der Ermittlung des Wortsinns der Gesetzesnorm (grammatikalische-), der Feststellung des Bedeutungszusammenhangs der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften (logisch-systematische-), der Ermittlung des Regelungszwecks, den der konkrete Gesetzgeber mit der fraglichen Norm verfolgt hat (historische-) und der Erforschung des Regelungszwecks, wie er in der fraglichen Norm heute objektiv zum Ausdruck kommt (teleologische Methode)12 sind zur Verfeinerung der hermeneutischen Argumentation im Laufe der Zeit weitere Argumentationsmuster hinzugefügt worden. Beispielhaft seien die ontologische Hermeneutik, der normative Induktionismus, der empirische Induktionismus, der pragmatische Diskurs, die Lehre vom Typus oder auch vom Normbereich herausgegriffen l3 . Man stößt schließlich gar auf Tendenzen, die allgemein anerkannten formalen Methoden der Wissenschaftslehre zu übernehmen 14 • Auf der einen Seite ist es Klug 15 , der die Begriffe und Regelungen, die Gegenstand der Rechtswissenschaft sind, nach der axiomatischen Methode ordnen WilP6. Auf der anderen Seite ist es die analytische Dogmatik17 11 Bei Enneccerus / Nipperdey, Bürgerliches Recht AT, S. 311 findet sich eine Literaturübersicht, die eine Auswahl von ca. 300 Titeln enthält - darüber hinaus wird auf weitere Anmerkungen verwiesen. 12 Hassemer, Rechtssystem, S. 84; grundlegend dazu Larenz, Methodenlehre, S. 307 ff.; Fikentscher IV, S. 356 ff. 13 Nachweise bei Schünemann, Prolegomena, S. 120 ff. 14 Dies wurde bereits von den Anhängern der sog. Begriffsjurisprudenz versucht, so insbes. Puchta, der ein begriffliches System nach den Regeln der formalen Logik entwickelte (Genealogie der Begriffe) - näher dazu Larenz, Methodenlehre, S. 20 ff. lS Klug, Juristische Logik, S. 15 ff.; zur axiomatischen Methode in der Rechtswissenschaft siehe Engisch, Studium Generale 1957, 173; siehe weiter Weinberger, Normentheorie. 16 Nach der axiomatischen Methode werden gewisse Aussagen die Axiome - unbewiesen aufgestellt. Alle weiteren Aussagen werden als Theoreme in schrittweisem Fortgang - den Kettendefinitionen - aus den Grundbegriffen unter Verwendung bestimmter Regeln definiert. Ein solch vollständiges juristisches System, in dem alle für eine rechtliche Ordnung über-
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
im Anschluß an eine analytische Philosophie 18 , die die "wissenschaftlichen lVIethoden" in der Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen versucht. Alle diese Versuche, allgemeine Auslegungsgrundsätze zu finden, zu entwickeln oder auch zu erklären, haben im Hinblick auf die faktische Betrachtungsweise eines gemeinsam: Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise als allgemeines Auslegungsprinzip im Strafrecht taucht ebensowenig auf wie in den gängigen allgemeinen Darstellungen und privatrechtlichen lVIethodenlehren. Auch der Gedanke, auf die methodischen Untersuchungen zur wirtschaftlichen bzw. faktischen Betrachtungsweise im Steuerrecht und Zivilrecht zurückzugreifen, muß verworfen werden. Das Zivilrecht regelt andere Bereiche menschlichen Zusammenlebens, hat einen anderen Regelungsgegenstand und folgt daher auch anderen Prinzipien. Untersuchungen zur faktischen Betrachtungsweise in anderen Rechtsdisziplinen kann daher für das Strafrecht keine präskriptive Bedeutung zukommen. Einer Methode im Strafrecht sind andere, weit engere Grenzen gesetzt. Während im Zivilrecht der Grundsatz der Vertragshaupt in Betracht kommenden Prinzipien, Lebenssituationen und deren Eigengesetzlichkeiten enthalten sind, ist jedoch nie entwickelt worden (Coing, Grundzüge, S. 322, 342; Canaris, Systemdenken, S. 21, 26 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 154; Engisch, Studium Generale 1957, 173 ff.; siehe dazu auch Popper, Logik, S. 41). 17 Die analytische Dogmatik, in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen insbes. von den Anhängern des sog. "Wiener Kreises" entwickelt, knüpft an die Grundthese der empiristischen philosophischen Tradition (Locke, Hume, Berkeley) an, wonach alle wissenschaftliche Erkenntnis entweder analytischer oder aber empirischer Natur ist (u. Kutschera, Wissenschaftstheorie I, S. 15). Alles, was nicht empirisch nachvollziehbar ist, ist danach sinnlos. Entsprechend der Beobachtungsevidenz in den Naturwissenschaften dient zur Vermeidung des unendlichen Regresses die Wertevidenz. Ob eine solche existiert bzw. allgemeine Anerkennung findet, ist mehr als fraglich. Unabhängig davon werden auch von dieser Lehre Begriffe verwendet, die empirisch nur schwer bzw. überhaupt nicht nachprüfbar sind. 18 Gegen die übernahme von Ableitungszusammenhängen aus den sog. exakten Wissenschaften (axiomatisch-deduktive Verfahren) spricht das Phänomen des hermeneutischen Zirkels (siehe dazu näher Gadamer, Wahrheit, S. 250 ff., 275 ff.); Hassemer, Tatbestand, S. 107 spricht von der hermeneutischen Spirale. Da der Interpret einer Norm bei der Auslegung der einzelnen Worte bereits auf den erwarteten Sinn des ganzen Gesetzestextes blicken muß, der jedoch anhand der angenommenen Wortbedeutung wieder korrigiert werden kann, kann der juristische Verstehensprozeß nicht wie eine logische Schlußkette linear in einer Richtung zum angestrebten Ziel hin verlaufen. Engisch, Logische Studien, S. 15 spricht in diesem Zusammenhang von einem "Hin- und Herwandem des Blicks"; siehe auch dens., Einführung, S. 216 f. Bei der juristischen Auslegung geht es darüber hinaus nicht nur um Erkenntnisgewinnung, sondern auch um Wertungen und Entscheidungen. Die Erfassung der Sinneinheit Recht kann somit nicht nur logischer, sondern muß auch axiologischer Art sein (Canaris, Systemdenken, S. 22). Dementsprechend läßt sich auch die Folgerichtigkeit verschiedener Wertungen untereinander und der innere Zusammenhang der Wertungen nicht logisch, sondern nur axiologisch erfassen.
IV. Methodische Grundlegung
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freiheit gilt, endet im Strafrecht alle Auslegung und alle Lückenfüllung - oft auch als Rechtsschöpfung bezeichnet - an Art. 103 Abs. 2 GG, dem sogenannten Analogieverbot. Wank 19 drückt dies so aus: "Wo für den ZivilrechtIer der interessante Bereich der Rechtsschöpfung beginnt, bei der Analogie, muß für den Strafrechtler der Spielraum des Rechtsschöpferischen enden." Das steckt auch zugleich die Grenzen einer etwaigen faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht ab. Der Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise wurde bisher zwar nur skizzenhaft dargestellt - dennoch läßt sich bereits daraus die Feststellung ableiten: Die praktische Bedeutung der faktischen Betrachtungsweise ist gerade wegen der Vielgestaltigkeit ihrer Anwendung erheblich. Dem steht allerdings ein entsprechend großes Defizit ihrer methodischen Ableitung und Fundierung gegenüber. Bleibt schon offen, ob von einer Etablierung in der Praxis gesprochen werden kann, so kann davon in der allgemeinen Methodenlehre und Dogmatik jedenfalls keine Rede sein. Bereits die bisher aufgezeigten Bedenken geben hinreichenden Anlaß, vor einer unkritischen Übernahme der faktischen Betrachtungsweise als einem allgemein verbindlichen Rechtsprinzip im Strafrecht zu warnen. Diese Bedenken werden verstärkt, betrachtet man die Entwicklung der faktischen Betrachtungsweise vor dem Hintergrund einer nicht nur im Strafrecht zu beobachtenden Tendenz 20 , bei der Auslegung eher auf "neue" Generalwertungen21 zurückzugreifen, anstatt die "Richtigkeit" der Entscheidung aus der Norm, dem Normzusammenhang bzw. allgemein anerkannten Grundprinzipien abzuleiten. Die Ausbildung einer faktischen Betrachtungsweise läuft damit Hand in Hand mit einer nicht nur im Zivilrecht zu beobachtenden allgemeinen Tendenz zur Bildung von Generalklauseln, die in der Literatur massiven Einwänden ausgesetzt ist. Im Strafrecht sind es insbesondere materielle Prinzipien des Prozeßrechts, wie z. B. die Fürsorgepflicht oder auch die Grundsätze der Waffengleichheit oder der beschleunigten Verfahrensdurchführung, von denen z. B. Blei22 behauptet, es handle
20
Wank, Grenzen, Nach Wieacker,
S. 30. Privatrechtsgeschichte, S. 476 f. führt der "heute immer häufigere Mißbrauch der Generalklausel" zu prinzipienloser Billigkeitsrechtsprechung. Hedemann beklagt diese Erscheinung bereits im Titel seiner Monographie "Die Flucht in die Generalklauseln" . 21 Angesprochen sind hier nicht die von der Rechtsdogmatik bzw. der Methodenlehre bereits systematisierten richterlichen Regeln, die, in das normative Regelsystem bereits eingearbeitet, den Richter faktisch binden und damit den Auslegungsprozeß stabilisieren und differenzieren (Hassemer, Rechtssystem, S. 15 ff.; Hassemer, Strafrechtsdogmatik, S. 146 ff., 176 ff.). 22
Blei, JA 1973, 608.
19
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
sich bei ihnen um unbestimmte allgemeine Prinzipien auf Kosten einer "sauber angesetzten und zu Ende geführten Auslegungsarbeit" . Solche Generalklauseln weisen eine Ähnlichkeit mit der faktischen Betrachtungsweise insoweit auf, als die aus der Rechtsprechung aufgeführten Beispiele zumindest den Verdacht nicht beseitigen können, daß vielleicht auch die faktische Betrachtungsweise nur "eine saubere Subsumtion ersetzt". Auf einige dieser Generalwertungen sei - beschränkt auf den Bereich des Strafrechts - beispielhaft eingegangen.
V. Die faktische Betrachtungsweise - Symptom einer allgemeinen Entwicklung zur Verwendung von Generalklauseln 1. Parallelen im Strafrecht
Die aus dem Verfassungsrecht oder der Europäischen Menschenrechtskonvention23 herausgebildeten Prinzipien des überlangen Verfahrens, der Waffengleichheit, der Fürsorgepflicht oder des fair trial wurden z. T. in Literatur und Rechtsprechung aufgenommen und stießen teilweise auf heftige Ablehnung. Der Hauptvorwurf zielt auf deren mangelnde Konkretisierbarkeit, ein Vorwurf, der auch gegen die faktische Betrachtungsweise erhoben worden ist. Das gilt zunächst für das "Prozeßhindernis" des überlangen Strafverfahrens. Obwohl die Strafprozeßordnung, wenn auch in bescheidenem Umfang, Vorschriften zur Beschleunigung des Verfahrens enthält, verband als erster H. v. Weber 24 mit Art. 5 Abs. 1 MRK die ernste Mahnung an den deutschen Gesetzgeber, die deutsche Strafrechtspflege und die Justizverwaltungen, geeignete Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens zu treffen. Baumann25 leitete aus Art. 2 Abs. 2 GG gar ein Prozeßhindernis (Verwirkung) für den Fall ab, daß der Forderung nach beschleunigter Verfahrensdurchführung nicht Rechnung getragen worden ist26 • Dieser Grundsatz konnte sich allerdings nicht behaupten. Seiner weiteren Entwicklung wurde durch eine Entscheidung des Bundes23 Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet. Sie ist von der Bundesrepublik ratifiziert und durch Gesetz vorn 7. August 1952 mit Gesetzeskraft veröffentlicht worden (BGBI II, S. 685). 24 v. Weber, ZStW 65 (1953), 334 ff., 338 f. 25 Baumann, Bedeutung, S. 525 ff., 540 f. 26 Ebenso Schwenk, ZStW 79 (1967), 721 ff., 736 f.; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, S. 9 ff., 37; Hillenkamp, JR 1975, 136 ff.; Peters, JR 1978, 247 ff.; aus der Rechtsprechung vgl. LG Frankfurt, JZ 1971, 234 ff.; LG Krefeld, JZ 1971, 733 ff.; OLG Koblenz, NJW 1972, 404.
v. Symptom einer allgemeinen Entwicklung
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gerichtshofs Einhalt geboten, der zusammenfaßte 27 : "Aus Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten läßt sich kein Verfahrenshindernis herleiten." Differenziertere Kritik übte Hanack 28 • Nach seiner Auffassung müsse ein solcher Grundsatz zu verfassungswidrigen Konsequenzen führen. Er besitze keine hinreichend präzisierbaren Kriterien, mit deren Hilfe sich ein derartiges Verfahrenshindernis so in die Fülle der widerstreitenden Gesichtspunkte und der gesetzlichen Abwägungen einbauen lasse, daß es ohne Willkür gehandhabt werden könne. Die Befürchtungen Hanacks sollten angesichts möglicher Parallelität zur faktischen Betrachtungsweise besonders im Auge behalten werden. Eine andere Generalklausel hat sich im Strafverfahrensrecht zweifellos etabliert: der Grundsatz der Fürsorgepflicht. Er soll effektiven Rechtsschutz ermöglichen und der Verwirklichung materieller Chancen- und Waffengleichheit2 9 im Strafprozeß dienen30 . Er sei notwendig, da die gesetzlich geregelten Pflichten des Gerichts nicht ausreichten, um den Schutz des Angeklagten im Strafverfahren zu gewährleisten31 . Auch gegen den Grundsatz der Fürsorgepflicht werden Bedenken geäußert. v. Löbbecke sieht in der Fürsorgepflicht als einem eigenständigen Auslegungsprinzip eine Rechtsentwicklung, die "vor lauter Billigkeitsstreben - sei es selbst um den Preis der Durchbrechung gesetzlicher Regelungen - die Rechtssicherheit als notwendiges Korrektiv vernachlässigt"32. Besonders scharf geht Blei33 mit ihr ins Gericht: "Die Fürsorgepflicht ist nichts anderes als eine schöne Aufmachung anderweitig zu gewinnender Auslegungsergebnisse, wenn nicht gar manchmal ein ,Ersatz' für eine sauber angesetzte und zu Ende geführte Auslegungsarbeit." Erwähnt sei schließlich der Grundsatz des fair trial, der sowohl in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als auch des Bundesver27 BGHSt 24, 239 ff. danach soll lediglich eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung in Betracht kommen können; ebenso Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 80; Schäfer, in: Löwe / Rosenberg, Rn. 91 zu Einleitung Kap. 12. 28 Hanack, JZ 1971, 705 ff., 715. 29 Der Grundsatz der Waffengleichheit soll ein weiterer eigenständiger Grundsatz des Strafverfahrensrechts darstellen. Er soll aus dem Grundsatz des "fair trial" abzuleiten sein. Siehe dazu Sandermann, Waffengleichheit, m. w. N. zu Rechtsprechung und Literatur. 30 Siehe dazu Plätz, Fürsorgepflicht, S. 333; zur Rechtsprechung vgl. die umfangreiche Darstellung und Auseinandersetzung, S. 234 ff. 3! Kumlehn, Fürsorgepflicht, S. 178. 32 v. Läbbecke, GA 1973, 200 ff., 206. Beachte auch die kritische Stellungnahme von Maiwald, Fürsorgepflicht, S. 745 ff. 33 Blei, JA 1973, 608.
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
fassungs gerichts anerkannt ist. Heubel 34 stellt in einer methodenkritischen Untersuchung fest, daß der "fair trial" weder über eine erkennbare verfahrensspezifische Funktion noch über hinreichend präzisierbare dogmatische Inhalte verfüge und damit für das Strafverfahrensrecht rechtstheoretisch wie rechtspraktisch entbehrlich sei. Die nur geteilte Zustimmung zu all diesen allgemeinen Prinzipien sollte auch im Hinblick auf die Beurteilung der faktischen Betrachtungsweise zur Vorsicht mahnen. Vor der Übernahme von Generalwertungen bei der Auslegung gerade in einem kodifizierten System warnt denn auch Hassemer 35 : "Wer sich unter einem kodifizierten System wie dem des Strafrechts auf solche Generalwertungen beruft, um seine Entscheidung zu legitimieren, setzt sich dem Verdacht aus, daß er die Kodifikation selbst, die ja eine Konkretisierung der grundlegenden Rechtsprinzipien behauptet, umgehen will." Bei der faktischen Betrachtungsweise handelt es sich, insbesondere unter Berücksichtigung ihres weiten und unterschiedlichen Gesichtspunkten unterliegenden Anwendungsbereichs, um eine solche Generalwertung. Parallelen einer Ausbildung von Generalklauseln bzw. von allgemeinen Auslegungsprinzipien lassen sich somit in größerer Anzahl ausmachen. Ob die faktische Betrachtungsweise vor diesem Hintergrund einer ständigen Ausbildung neuer Rechtsprinzipien die Effektivität der Auslegung fördern kann, erscheint angesichts eines immer dichter werdenden "Methodendschungels" mehr als fraglich. 2. Faktische Betrachtungsweise und die Paradoxien der Methodendiskussion3G
Die Frage nach der Leistungsfähigkeit, d. h. Eignung und Notwendigkeit der faktischen Betrachtungsweise kann im Hinblick auf die bereits anerkannten Institute nur dann richtig beurteilt und beantwortet werden, wenn man sich der Gefahren eines "neuen" Auslegungsprinzips bewußt ist. Hat man sich bisher nach immer neuen Methoden umgesehen, so kann man heute feststellen, daß die Praxis durch ihren willkürlichen oder doch unkontrollierten Methodenpluralismus die Aufmerksamkeit eher auf die "Paradoxien der Methodendiskussion"37 gelenkt hat. Die Versuchung liegt daher nahe, weniger nach der Richtigkeit oder der Schlüssigkeit der Methodenpostulate im einzelnen zu Heubel, Fair trial, m. N. zu Rechtsprechung und Literatur. Hassemer, Rechtssystem, S. 78. 36 So die überschrift des ersten Abschnitts in Kriele, Theorie, S. 24 ff.; siehe auch Esser, Vorverständnis, S. 124. 37 Kriele, Theorie, S. 24 ff. 34 35
V. Symptom einer allgemeinen Entwicklung
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fragen, als sich darauf zu verlassen, daß die immer größere Palette des methodologischen Angebots schon das Richtige bieten werde. Die Folge, daß dann nicht mehr methodische Regeln die Entscheidung, sondern die anderswie gewonnene Entscheidung die Auswahl der vorgeblich bestimmenden Interpretationskriterien bestimmt, könnte der Preis einer solchen Methodeninflation sein38 • Ein Vergleich von Wank 39 sei deshalb meinen weiteren Überlegungen vorangestellt: "So wie der Redner zum Rhetorik-Leitfaden greift, um daraus das Geeignete für seine persönliche Argumentation herauszuklauben, so scheint sich der juristische Interpret der Methodenlehre wie eines Steinbruchs bedienen zu können, aus dem er nach freiem Belieben die Bausteine seiner Argumentation herausbricht."40 Der Pointillismus und die Zufälligkeit methodologisch gerechtfertigter Begründungen würde sicherlich gemindert bzw. entschärft, könnte der Rechtsanwender auf eine bestimmte Reihenfolge der Methoden (Prinzipien) zurückgreifen - in dieser Hoffnung wird er jedoch enttäuscht. Weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur hat sich ein festes Rangverhältnis unter den verschiedenen Methoden und Interpretationskriterien durchsetzen können. Darüber kann auch die schlagkräftige Formulierung J eschecks nicht hinwegtäuschen: "Die Krone der Auslegungsverfahren gebührt der teleologischen Methode."41 Versuche 42 , Kriele, Theorie, S. 26. Wank, Grenzen, S. 17. 40 Auf derselben Linie liegt die als (rhetorische) Frage formulierte These von Struck, JZ 1975, 88: "Ist es aber nicht so, daß sich derzeit die Praktiker aus der Vielfalt der angebotenen Stellungnahmen als Legitimation herausnehmen können, was gerade in das Konzept paßt, und daß das Bemühen um Präzisierung der Methoden umschlagen kann in Affirmation der Methodenlosigkeit?" 41 Jescheck, Lehrbuch, S. 123: "Nur sie steuert unmittelbar auf das eigentliche Ziel aller Auslegung, arbeitet die Zweck- und Wertgesichtspunkte heraus, aus denen der maßgebliche Gesetzessinn letztlich bindend zu erschließen ist." 42 Die Pandektisten Windscheid und Regelsberger (s. dazu Siebert, Methode, S. 38; Engisch, Einführung, S. 82) wollten dem Wortlaut und dem Wortsinn den Vorrang einräumen. Zimmennann, NJW 1956, 1264 versuchte eine Reihenfolge anhand einer überprüfung der Rechtsprechung aufzustellen. Er kam zu dem Ergebnis: Entscheidend für die Auslegung ist der aktualisierte Wille des Gesetzgebers, der Sinn und Zweck des Gesetzes. Lasse sich dieser ermitteln, so komme es nicht darauf an, ob er im Gesetzeswortlaut auch zum Ausdruck gekommen sei. (In dieser Richtung ebenso Reinicke, NJW 1952, 1033 ff.; BGH NJW 1952, 832; BAG AP Nr. 3 zu § 96 ArbGG). Ein weiterer Versuch ist von Siebert, Methode, S. 40 f. unternommen worden. Er stellt den erkennbaren Willen des historischen Gesetzgebers an die Spitze. Erst danach gewinnen der logisch-systematische Zusammenhang und vor allem der objektiv vernünftige Zweck an Gewicht, also diejenigen Gesichtspunkte, die im Zweifel auch vom Gesetzgeber beachtet worden und gewollt seien. 38
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4 Cadus
1. Teil:
50
Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
dem Richter von Fall zu Fall die Anwendung einer bestimmten Methode vorschlagen oder gar vorschreiben zu können, sind fehlgeschlagen. Hob Esser43 noch 1956 die Notwendigkeit einer Lehre von der Hierarchie der Interpretationsmittel hervor - er selbst hat bemerkenswerterweise nie eine solche Reihenfolge aufgestellt -, so stellt er heute fest, daß von "der Unmöglichkeit einer sogenannten Hierarchie von Interpretationsmitteln ausgegangen werden kann"44. Diese Ansicht entspricht auch dem heute allgemein anerkannten Verständnis von den verschiedenen Auslegungshilfen 45 : es gibt keine Meta-Regel der Interpretationsregeln46 .
VI. Ergebnis, Konsequenzen, offene Fragen Als Ergebnis der bisherigen Untersuchung läßt sich festhalten: Die faktische Betrachtungsweise soll Hilfestellung - welcher Art auch immer - zur strafrechtlichen Tatbestandsauslegung leisten. Sie hat offensichtlich einen breiten Anwendungsbereich und wird im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Fallkonstellationen herangezogen, wobei bisher unklar geblieben ist, welche genaue Funktion sie hat. Nach Auffassung ihrer Protagonisten ist sie zumindest z. T. ein Rechtsprinzip, das den Rechtsanwender bei der Auslegung bindet. Es fehlen jedoch Stellungnahmen dazu, welchen Inhalt dieses Rechtsprinzip haben und welchen Regeln es folgen soll. Auch die Durchsicht der überaus zahl- und umfangreichen methodologischen Literatur hat nicht einmal zu einer kurzen Aussage über das Prinzip "faktische Betrachtungsweise", geschweige denn über deren Inhalt geführt. Die Ergebnisse der Untersuchungen zur faktischen Betrachtungsweise z. B. im Zivilund Steuerrecht können schon deshalb nicht ins Strafrecht übernommen werden, weil das Strafrecht einen anderen Regelungsgegenstand hat und damit auch anderen Regeln folgt. Abgesehen davon haben die kontroversen Auseinandersetzungen insbesondere im Zivil-, aber auch im Steuerrecht gezeigt, daß von einer weitgehenden Klärung des Inhalts der faktischen Betrachtungsweise und von einer allgemeinen Zustimmung zu deren Tauglichkeit und Notwendigkeit keine Rede sein kann. Soll die faktische Betrachtungsweise die Qualität eines verbindlichen Rechtsprinzips beanspruchen können, bedarf es der Herausschälung der die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht bestimmenden 43
44
45 48
Esser, Grundsatz, S. 117. Esser, Vorverständnis, S. 124. Siehe dazu Kriele, Theorie, S. 24 f., 85 ff., 93 m. w. N. Hassemer, Rechtssystem, S. 84 m. w. N.
VI. Ergebnis, Konsequenzen, offene Fragen
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Rechtsgedanken47 • Erst im Anschluß daran kann man sinnvoll darüber diskutieren, ob die faktische Betrachtungsweise es im Wege der Abstraktion bzw. Generalisierung ermöglicht, geeignete Sachgesichtspunkte anzugeben, die neben den bereits vorhandenen notwendig sind und sich in das bestehende System einordnen lassen. Inhaltliche Klarheit und damit Eignung, Notwendigkeit, Effektivität und Systemkonformität48 sind die entscheidenden Bedingungen für die Leistungsfähigkeit eines verbindlichen Rechtsprinzips "faktische Betrachtungsweise". Daraus ergeben sich für die weitere Untersuchung folgende Fragen: -
Welche Funktion hat die faktische Betrachtungsweise?
-
Handelt es sich wirklich um eine allgemein anerkannte Auslegungsregel, die nicht nur eine gefällige Floskel darstellt, sondern die Rationalität der Rechtsfindung gewährleistet und auch fördert?
-
Welches sind die Kriterien, denen sich die faktische Betrachtungsweise stellen muß, um als taugliches Instrument zur Sinn- und Inhaltsermittlung rechtlicher Regelungen anerkannt zu werden?
-
Hat sie hinreichend bestimmte Konturen?
-
Ist die faktische Betrachtungsweise geeignet, die entscheidenden Gesichtspunkte präzise abschichten zu können?
-
Bedarf es der faktischen Betrachtungsweise, um die oben angesprochenen Fallgruppen und Fälle lösen zu können? Kann mit ihr das entsprechende Ergebnis einsichtiger begründet werden?
Die Beantwortung all dieser Fragen führt in beiden Fällen - also sowohl bei Bejahung als auch bei Verneinung der Leistungsfähigkeit der faktischen Betrachtungsweise - zu einem begrüßenswerten und nützlichen Ergebnis: Die Feststellung der Leistungsfähigkeit würde die weitere Aufnahme eines dann wichtigen Rechtsprinzips in der Rechtspraxis sicherlich erleichtern. Deren Verneinung würde andererseits zur Lichtung des mancherorts beklagten und beinahe kaum zu überschauenden Methodenpluralismus beitragen helfen. Sie würde der für die Aufnahmebereitschaft von methodischen Erkenntnissen durch die Rechtspraxis resignierenden Feststellung entgegenwirken, die Brändl49 Zur Bildung von Rechtsprinzipien s. Esser, Grundsatz, S. 309. Siehe dazu Ipsen, Richterrecht, S. 44; Esser, Grundsatz, S. 157; Canaris, Systemdenken, S. 107. 49 Brändl, in: v. Staudinger, Rn. 79 zur Einleitung. 47
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4'
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1. Teil: Zum Stellenwert der faktischen Betrachtungsweise
im größten Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch macht: "Der Methodenstreit über die Gesetzesauslegung spielt in der praktischen Rechtsanwendung keine große Rolle, da die Praxis ihre Ergebnisse auf alle Methoden stützen kann." Schließlich würden die wahren Gründe mancher juristischen Argumentation durch den Zwang zum Rückgriff auf geläufige Methoden möglicherweise transparenter, falsche Ergebnisse könnten vermieden werden.
Zweiter Teil
Funktion und Inhalt der faktischen Betrachtungsweise in Rechtsprechung und Literatur I. Die Funktion der faktischen Betrachtungsweise 1. Vorbemerkungen
Der faktischen Betrachtungsweise käme eine besondere Bedeutung insbesondere dann zu, wenn sie ein Rechtsprinzip darstellte, das die Ergebnisse eines Auslegungsprozesses nicht nur begründen kann, sondern im Einzelfall gar finden hilft. Die faktische Betrachtungsweise wäre als ein solcher "BegTÜndungsansatz" für den Rechtsanwender in der Tat unverzichtbar, da der Inhalt einer strafrechtlichen Norm aus sich selbst heraus oft nicht verständlich ist. Auch aus diesem Grunde besteht insbesondere im Strafrecht die Pflicht, jede Entscheidung zu begründen. Die Pflicht zur Begründung ergibt sich aus den verschiedenen Verfahrensgesetzen, so auch der Strafprozeßordnung1 . Eine fehlerhafte bzw. unvollständige Begründung kann ein Revisionsgrund sein - unabhängig davon, daß solche Begründungen den Rechtsgenossen kaum von der Richtigkeit der Rechtsentscheidung überzeugen können. Eine fehlende Begründung gibt dem Betroffenen gar einen absoluten Revisionsgrund 2 • Engisch 3 stellte fest: "Auffindung der Wahrheit (besser: des Richtigen)" - oder im vorliegenden Zusammenhang: der richtigen Auslegung - "heißt ... die rechte, überzeugende Begründung zu finden". Bruns beschäftigte sich mit der methodischen bzw. dogmatischen SalonfähigkeiV der faktischen Betrachtungsweise, was darauf schließen lassen könnte, der faktischen Betrachtungsweise solle die Funktion eines eigenständigen Begründungsansatzes zukommen. Dafür spricht auch die Untersuchung Wieseners 5 , der mit der faktischen Betrach1 2
3 4
5
Vgl. nur §§ 313 Abs. 1 ZPO, 117 Abs. 2 VwGO, aber auch 267 StPO. Vgl. §§ 551 Ziff. 7 ZPO, 338 Ziff. 7 Stpo. Engisch, Studium Generale 1959, 78. Bruns, GA 1982, 13. Wiesener, Verantwortlichkeit.
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
tungsweise die Problematik der Organ- und Vertreterhaftung lösen will. Geringere Bedeutung hätte die faktische Betrachtungsweise allerdings dann, wenn sie lediglich dazu dienen sollte, bestimmte Ergebnisse oder bestimmte Fallgruppen oder Fallkonstellationen zu kennzeichnen. Diese Funktion scheint die faktische Betrachtungsweise insbesondere in der obergerichtlichen Rechtsprechung zu bekleiden. Die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise zur Kennzeichnung von Ergebnissen usw. setzt den Auslegungsprozeß freilich voraus und hat dementsprechend nur dann einen "Leistungswert" , wenn sie über die bereits erfolgte Begründung hinaus weitere Kriterien angeben kann, die deutlich machen, welche Fakten, Ergebnisse oder welche Fallkonstellationen bezeichnet werden sollen. Eine verbindliche Entscheidung der Anhänger der faktischen Betrachtungsweise für eine der beiden aufgezeigten Funktionen läßt sich in keiner Stellungnahme ausmachen. Es läßt sich deshalb auch nicht ausschließen, daß die faktische Betrachtungsweise eine von Fall zu Fall unterschiedliche Funktion wahrnehmen soll. Entsprechend der größeren Bedeutung als Begründungsansatz werden im folgenden die Kriterien entwickelt, an denen sich die faktische Betrachtungsweise messen lassen muß, soll sie als ein zur Auslegung verbindliches Rechtsprinzip bestehen können. Die neuere Methodendiskussion unterscheidet insoweit im Rahmen mehrerer Rechtserkenntnisquellen zwischen methodischen und dogmatischen Prinzipien6 , die ihrerseits auf jeweils verschiedenen Ursprung bzw. unterschiedliche Autoritäten 7 zurückgehen. Diese in der Literatur mehrfach akzeptierte Unterscheidung soll als "Prüfschema" zugrunde gelegt werden, wenn an deren Stelle auch andere Einteilungskriterien durchaus vorstellbar wären. Beide Prinzipien weisen ein gemeinsames Datum auf: Sie sind unverzichtbarer Bestandteil zur Begründung jeder strafrechtlichen Auslegung. Die Bedeutung und die Anforderungen an die Begründung der Tatbestandsauslegung gerade im Strafrecht, aber auch jeder einzelnen Entscheidung überhaupt, seien daher in wenigen Bemerkungen dargestellt. 2. Die Begründungspflicht im Strafrecht
Die Begründungspflicht ergibt sich nicht nur aus § 267 StPO, sondern rangiert an höchster Stelle der "Normenpyramide" . V erfassungs rechtSiehe dazu nur Wank, Grenzen, S. 34 ff. m. vielen weiteren N. Roellecke, Prinzipien, S. 23 f. benutzt das Kriterium der "Autorität", um den sog. "Regressus ad infinitum" zu beenden. Dieser soll dadurch zustandekommen, daß auch Auslegungsregeln der Interpretation bedürfen usf. 8
7
I. Funktion
55
lich wird sie vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips des Artikels 20 Abs. 3 GG behandelt8 • Dessen Ausfluß ist der Grundsatz der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, insbesondere an den Anwendungsfall der Rechtsstaatsidee, die auf weitgehende Öffentlichkeit der Betätigung staatlicher Macht drängt. Die besondere Bedeutung der Begründung einer richterlichen Entscheidung gerade im Strafrecht - soweit es um die Verhängung von Strafe geht, handelt es sich sicherlich um den intensivsten Fall der Betätigung staatlicher Macht - zeigt sich vor allem in den Fällen, in denen eine Verurteilung erfolgt, obgleich der Betroffene das Verbotensein seiner Handlung zumindest dem Buchstaben des Gesetzes nicht unmittelbar entnehmen konnte. In vielen Fällen kann der eigentliche Sinn einer Norm erst durch Auslegung zutage gefördert und damit demjenigen erklärt und auch begründet werden, auf den die Norm im konkreten Fall angewendet wird bzw. der durch sie motiviert werden soll. Der Zweck der Strafgesetze und insbesondere die Ziele des Strafvollzugs sind ohne eine Begründung der richterlichen Entscheidung kaum erreichbar, da der Betroffene nur anhand einer überzeugenden Begründung die Wertungen des Gesetzes und die zu seinem konkreten Fall ergangenen Überlegungen des Richters nachvollziehen kann. Dies gilt zwar für jede Entscheidung; es gilt jedoch dann um so mehr, wenn das Gesetz aus sich heraus nicht ohne weiteres verständlich ist. Nur eine Begründung kann den Angeklagten und auch die Öffentlichkeit überzeugen, daß das Gericht in seinem Fall Recht gesprochen und nicht willkürlich entschieden hat. Daß das durch Auslegung gewonnene Ergebnis nicht willkürlich ist bzw. als willkürlich empfunden wird, kann nur dadurch erreicht werden, daß a) die Mittel, mit deren Hilfe ausgelegt wird, sich ebenso auf eine Legitimation stützen können wie die auszulegende Norm selbst und b) die Argumentationsschritte nachvollziehbar aufeinander folgen, d. h. einsichtig begründet werden. Die richterliche Begründung muß daher eine Form erhalten, die sie intersubjektiverfahrbar macht 9 • Die Ermöglichung einer Richtigkeitskontrolle erfolgt anhand grundsätzlich rational überprüfbarer und nachvollziehbarer Kriterien10 und damit 8 Maunz / Düng / Herzog / SchoZz, Grundgesetz, Rn. 81 zu Art. 103 GG; UZe, DVBl 1959, 542; Schlüter, Obiter dictum, S. 94. 9 Schlüter, Obiter dictum, S. 97. Nach Popper, Logik, S. 18 liegt die Objektivität (hier wohl: Richtigkeit) der wissenschaftlichen Sätze (hier: der Ableitungs- und Begriindungszusammenhänge) darin, daß sie intersubjektiv nachpriifbar sein müssen. 10 Larenz, NJW 1965, 10; Germann, Probleme und Methoden, S. 254; Brüggemann, Die richterliche Begriindungspflicht, S. 63; solche Kriterien liefern die verschiedenen Methoden bzw. dogmatischen Prinzipien.
2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
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eines diskutierbaren Begründungszusammenhangs. Eine überzeugende Begründung beugt dem Vorwurf vor, der Richter begnüge sich mit Alltagstheorienl l , die teils dem allgemein verbreiteten laienhaften Vorverständnis, teils einem ebenso laienhaften juristischen Vorverständnis entspringen. Eine richtige Entscheidung, sagt Engisch12 , ist eine methodengerecht begründete Entscheidung 13 . Diese Grundsätze gelten erst recht bei der Verwendung allgemeiner Auslegungsprinzipien, die zur Konkretisierung auszulegender Normen beitragen sollen. Der Rückgriff auf dogmatische Autoritäten bzw. eine neue Auslegungsmethode für ganz bestimmte Fallkonstellationen setzt daher zumindest voraus, daß bereits zuvor in einer anerkannt methodengerecht begründeten Entscheidung die Zulässigkeit bzw. Statthaftigkeit dieses Prinzips für den konkreten Tatbestand überprüft und einsehbar gemacht worden ist1 4 • Dieser Vorgang stellt eine Parallele zu den in der Wissenschaftstheorie (insbesondere der Deduktion) gebräuchlichen Verfahren dar. "Einen Satz bezeichnet man als "einsehbar" , wenn die Schritte einsehbar sind, die von vorausgesetzten Sätzen aus zu ihm führen."15 3. Die faktische Betrachtungsweise als Begründungsansatz
Die allgemeinen Bedingungen, die für die Begründungsfunktion eines Rechtsprinzips gelten, sind festgestellt. Sie sollen im Hinblick auf die faktische Betrachtungsweise als ein methodisches bzw. dogmatisches Prinzip spezifiziert werden. a) Anforderungen an ein methodisches Prinzip Larenz 16 beschreibt den Gegenstand der Methodenlehre zunächst einmal als die Reflexion dieser Wissenschaft auf ihr eigenes Vorgehen, auf die Denkweise und die Erkenntnismittel, derer sie sich bedient1 7 • Seine Beschreibung lehnt sich an das griechische Wort flEitoöo~18 an, auf 11 12
Wank, Grenzen, S. 54 m. w. Engisch, Wahrheit, S. 14.
N. in Fn. 144.
13 Bei der Vielfalt der Methoden fordert BTÜggemann, Die richterliche Begründungspflicht, S. 72 m. w. N., "Methodenehrlichkeit" . 14 Siehe dazu unten S. 59 f. und Fn. 19. 15 Seiffert, Wissenschaftstheorie, S. 114. 16 Larenz, Methodenlehre, S. 225. 17 Methode ist danach ein dynamischer Prozeß, der sich bestimmter Sachelemente als Erkenntnismittel bedient oder etwas umformuliert: bei der Methodenlehre handelt es sich um unmittelbare praktische Normkonkretisierung, bei der bestimmte Sachelemente herangezogen werden. 18 Fikentscher, Methoden I, S. 22: "Methode bezeichnet das planmäßige, nach überprüfbaren Kriterien vorgehende Verfahren der Erkenntnisgewinnung."
I. Funktion
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das der Begriff "Methodik" zurückgeht. "Methode" bezeichnet wörtlich den Weg, genauer: "das Gehen auf ein Ziel zu". Dabei bekommt der Rechtsanwender bestimmte Sachgesichtspunkte an die Hand, mit denen er nicht das für den konkreten Fall einzig verbindliche und zutreffende Ergebnis, sondern nur denkbar mögliche Ergebnisse finden kann - so bei der grammatikalischen Auslegung den eigentlichen Wortsinn, bei der historisc.lJ.en Auslegung Bedeutung und vor allem Bedeutungswandel der Norm seit deren Setzung unter Einbeziehung der diese beeinflussenden Quellen. Die Anwendung mehrerer dieser Sachgesichtspunkte, die in keiner festgelegten Rangordnung stehen, die aber aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedliche Aspekte und Argumente liefern, kann zu differierenden Ergebnissen führen. Diese werden am Ende des Auslegungsvorgangs gegenübergestellt und wertend gegeneinander abgewogen. Die Inhalte der einzelnen Methoden müssen, wenn sie effektiv sein sollen, mehr leisten als der Wortlaut der auszulegenden Rechtsvorschrift, obgleich sie gerade im Strafrecht streng an die sogenannte Wortlautgrenze gebunden sind - nulla poena sine lege - . Sie unterliegen damit im Strafrecht auch derselben Legitimation wie die zugrundeliegende Rechtsvorschrift 19 • Die Methoden selbst legen den Inhalt der auszulegenden Norm nicht fest, sondern geben nur die Art und Weise, die Form an, wie - unabhängig von einem bestimmten ihr zugrundeliegenden Fallmaterial - mögliche Inhalte gewonnen werden können. Für die faktische Betrachtungsweise ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: Die faktische Betrachtungsweise ist als Methode nur dann tauglich, wenn sie inhaltliche Kriterien an die Hand geben kann, die - unabhängig von bestimmten Fallkonstellationen - die Findung eines Ergebnisses ermöglichen, das wertend den durch andere anerkannte Methoden gefundenen Ergebnissen gegenübergestellt werden kann. Eben diese Voraussetzung erfüllt die faktische Betrachtungsweise nun ersichtlich nicht. Der völlig abstrakte und in seiner Bedeu19 Um so mehr verwundert es, wenn Methodenlehre in der Rechtswissenschaft die Gesamtheit interpretatorischer "Kunstregeln" im Umgang mit Rechtsnormen sein soll, wenn es um nicht mehr gehen soll als um "Handwerkszeug" (Müller, Methodik, S. 23; Fikentscher, Methoden I, S. XIV; bei Canaris, Systemdenken, S. 14 erscheint der Begriff einer "technischen Kunstlehre"; Wank, Grenzen, S. 79 widmet ein Kapitel der "Methodenlehre als Handwerkslehre"). Larenz und Müller (Larenz, Methodenlehre, S. 228 f.; ebenso Müller, Methodik, S. 19) warnen denn auch vor dem Verständnis der Methodenlehre als einer Anweisung zur Technik von Fallösungen. Das im Grundgesetz verankerte Gewaltenteilungsprinzip verbietet es Rechtsprechung und auch Rechtswissenschaft, einer auszulegenden Norm im Strafrecht mit Hilfe von Kunstregeln einen Inhalt beizumessen, der nicht bereits eine Legitimierung in einem förmlichen Verfahren erfahren hat.
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
tung weite (möglicherweise gar nichtssagende) Begriffsinhalt der faktischen Betrachtungsweise läßt es nicht zu, Angaben darüber zu machen, welche Aspekte beachtet werden müssen oder dürfen und in welcher Richtung bzw. auf welches Ziel hin der Auslegungsvorgang vonstatten geht. Denkbar bleibt lediglich, die faktische Betrachtungsweise als ein methodisches Prinzip anzusehen, das Fakten, welche auch immer, berücksichtigt. Versteht man den Begriff "faktische Betrachtungsweise" allerdings in so weitem Sinn, so bleibt sogar offen, ob es sich um "tatsächliche" oder "rechtliche" Fakten20 handelt. Daß Fakten zu beachten sind, das ist Inhalt jeder Auslegungsmethode. Darüber hinaus geben die herkömmlichen Methoden jedoch an, welche speziellen Gesichtspunkte (z. B. mögliche Wortbedeutung bzw. Wortlaut, logische Ableitungszusammenhänge in einem deduktiven Verfahren, Daten aus der Entstehung des Gesetzes, Urteile und Begründungen der Obergerichte in vergleichbaren Fällen21 usw.) zur Begründung herangezogen werden können und zu beachten sind. Wie diese Methoden könnte die faktische Betrachtungsweise als Methode nur dann etwas leisten, wenn sie Angaben darüber machen könnte, welche bestimmten Fakten Berücksichtigung finden sollen oder unberücksichtigt bleiben müssen. Genau das tut sie jedoch nicht. b) Anforderungen an ein dogmatisches Prinzip Die positive Funktion der Dogmatik soll nach Luhmann 22 darin bestehen, daß "durch die Art des Arrangierens von Negationsverboten23 20 Nur am Rande sei zur Illustrierung der Rechtsstreit zwischen C. F. v. Savigny und E. Gans geschildert, der Anfang des 19. Jh. über die Natur des
Besitzes geführt wurde. Behauptete ersterer im Gegensatz zur früheren Darstellung der Besitzlehre von E. Gans, der Besitz sei ein Faktum (6. Ausgabe, S. 94), stellte Gans in der Duplik "Über die Grundlage des Besitzes" fest, daß es im Gebiet des Rechts überhaupt gar nichts Faktisches - kein Faktum gebe, das nicht zugleich in sich eine rechtliche Ader habe. Faktisch sei nur das zu nennen, wodurch gar kein Wille, gar kein rechtliches Geäder mehr ziehe. Diese Feststellung verleitet zu folgendem Schluß: Wenn es demnach kein Faktum gibt, dann kann es erst recht keine faktische Betrachtungsweise geben. 21 Die Orientierung an Präjudizien hat heute allgemeine Anerkennung gefunden; vgl. dazu Kriele, Theorie, S. 243 ff., insbes. S. 249 f. m. w. N. 22 Luhmann, Rechtssystem, S. 165 f. 23 Auch Esser, Vorverständnis, S. 184 und Larenz, Wegweiser, S. 218 gehen davon aus, daß Grundlage der Dogmatik das Vorhandensein zuvor gesetzter Autoritäten ist. Zur KlarsteIlung sei herausgestellt: Diese Prämisse unterscheidet sich grundlegend von dem allgemeinen Sprachgebrauch des im Begriff "Dogmatik" steckenden "Dogma". Danach ist ein Dogma eine als positive Behauptung ausgesprochene Lehrmeinung, die mit dem Anspruch auftritt, unumstößliche Wahrheit auszusagen. Daß der Dogmatik in der Rechtswissenschaft eine solche Bedeutung nicht zukommen kann, ergibt sich bereits aus
I.
Funktion
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die Flexibilität in der Ausbeutung von Gesetzestexten und Erfahrungen auf das erforderliche Niveau gebracht wird". Für den Rechtsanwender bedeutet dies: Der Sinn von Dogmatik besteht nicht in einer Fixierung des ohnehin Feststehenden, sondern in der Ermöglichung kritischer Distanz und der Verarbeitung von Überlegungen, Gründen und Verhältnisabwägungen, mit denen der Rechtsstoff über seine unmittelbare Gegebenheit hinaus kontrolliert und verwendungsfähig aufbereitet werden kann24 . Es müssen Maßstäbe der rechtlichen Bewertung25 gefunden werden, die auch in zweifelhaften Fällen eine durch Argumentation hinreichend abgestützte, nicht aber: jede beliebige Entscheidung ermöglichen. Begründung, Inhalt und Entwicklung dieser Maßstäbe in der Regel Prinzipien, dogmatische Begriffe, Generalklauseln müssen sich dabei an der konkreten Norm festmachen lassen. Die Erarbeitung solch systemimmanenter Beurteilungsmerkmale26 dient einerseits der möglichen Sinnbestimmung der einzelnen Vorschriften im Rechtssystem, andererseits werden ständige Neuargumentationen durch Rückgriff auf eine zuvor erfolgte Selektionsleistung vermieden. Diese Selektionsleistung ist es, die ein dogmatisches Prinzip kennzeichnet, welches für jeweils beschränkte Fallgruppen Geltung beanspruchen, andererseits nur einen bestimmten Teil der Rechtsentscheidungen beeinflussen kann 27 . Bevor ein dogmatischer Begriff eine solche "quasi-Autorität" beanspruchen kann, bedarf er der sorgfältigen Herleitung aus der gesetzlichen Regelung selbst. Dieser Abstraktions- bzw. Konkretisierungsvorgang hat ein gedankliches Verfahren zum Gegenstand, das den Argumentationsabstand zwischen Gesetz, dogmatischem Prinzip einerseits und konkreter Lösung andererseits durch Darstellung der einzelnen Zwischenglieder des Ableitungszusammenhangs überbrücken muß28. Nur so läßt sich Dogmatik im Hinblick auf die Aufgaben der Legislative und der in diesem Zusammenhang zu beachtenden Grenzen der einzelnen Gewalten durch das Gewaltenteilungsprinzip begründen. Erst danach kann an Stelle des gesamten Ableitungszusammenhangs ein Kürzel - z. B. dogmatisches Prinzip, Generalklausel usw. - gesetzt einem so fundamentalen Grundsatz wie dem der Gewaltenteilung. Siehe dazu AcP 172 (1972), 142: "Dogmatik ist auf jeden Fall etwas von Dogmatismus Verschiedenes, wenn sie auch immer Gefahr läuft, in diesen abzugleiten." 24 Luhmann, Rechtssystem, S. 16 m. vielen N. 25 Siehe dazu Larenz, Methodenlehre, S. 213. 26 Esser, Vorverständnis, S. 88. 27 Luhmann, Rechtssystem, S. 21. 28 Siehe dazu Göldner, Verfassungsprinzip, S. 91 ff.; Schlüter, Obiter dictum, S. 97 ff. Simitis,
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
werden, das stellvertretend für diesen, auf einen Blick einsehbar, den Herleitungsvorgang deutlich macht. Will daher die faktische Betrachtungsweise bei der Auslegung bestimmter Fallkonstellationen "Autorität" beanspruchen, so ist es erforderlich, zuvor im Rahmen eines sich auf den Gesetzeswortlaut der jeweiligen Rechtsvorschrift stützenden Ableitungszusammenhangs zu prüfen, ob ihr nach den oben festgestellten Voraussetzungen überhaupt Autorität zukommen darf. Darüber hinaus muß immer wieder, wenn auch nur sporadisch, überprüft werden, ob die einmal begründete Autorität auch bei ihrer weiteren Anwendung noch ihren Anspruch erheben darf 29 • Die faktische Betrachtungsweise wird sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur zur Lösung der verschiedensten Fallkonstellationen herangezogen. Als Begründung dienen dabei regelmäßig ein oder auch mehrere Hinweise auf ihre Anwendung in einem bereits früher entschiedenen Fall. In aller Regel erfolgt ein Rückgriff auf bestimmte Beispiele ohne weitere Begründung. Zuweilen wird das Argumentationsdefizit durch den Hinweis auf Entscheidungen oder einschlägige KommentarsteIlen ersetzt. Dies allein wäre nicht zu beanstanden, wenn das eigentliche Konkretisierungsproblem an den zitierten Stellen gelöst wäre. Das ist jedoch bis heute in keinem Falle geschehen. Inhaltlich kann die faktische Betrachtungsweise nichts Zusätzliches leisten, wenn sie nicht bestimmt und von anderen dogmatischen Prinzipien abgrenzbar ist. Andernfalls stellt sie eine "leere Hülse" dar, in die man letztlich das hineinlegt, was aus ihr herausgelesen werden soll. Sie muß angeben können, warum ein bestimmter Aspekt bei der Auslegung herangezogen wird, und die dahinterstehenden Wertungen erkennen lassen. Erforderlich ist schließlich ihre intersubjektive Nachprüfbarkeit - erst dadurch trägt sie der gerade im Strafrecht gebotenen Begründungspflicht Rechnung. Ein Ergebnis, das auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten zu geben vermag, gäbe deshalb noch keinen Anlaß zur Resignation, im Gegenteil: es würde dazu zwingen, in all den Fällen, die nach Auffassung der die faktische Betrachtungsweise befürwortenden Vertreter nur mit Hilfe der faktischen Betrachtungsweise gelöst werden können, die jeweils maßgebenden Gesichtspunkte herauszufinden. Damit wäre zugleich der Gefahr falscher - d. h. auch: nicht begründeter - Gesetzesanwendung vorgebeugt, der ein ungeeignetes bzw. überflüssiges 29 Die sich laufend ändernden Rechtsverhältnisse könnten möglicherweise auch zu einer Revision des zuvor als verbindlich anerkannten Ableitungszusammenhangs führen.
11. Inhaltliche Konturierung
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Prinzip Vorschub leistet. Die Vielfalt dogmatischer Begriffe würde reduziert bzw. ein Beitrag zu deren Entwirrung geleistet werden. Andererseits ermöglichte die dogmatische Fundierung der faktischen Betrachtungsweise deren Weiterverwendung bzw. -verbreitung auf einer gesicherten Basis. 4. Die Kennzeichnungsfunktion der faktischen Betrachtungsweise
Sollte sich die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise als Begründungsansatz im Rahmen der Auslegung strafrechtlicher Tatbestände nicht bestätigen lassen, stellte dies zwar eine erhebliche Reduzierung ihrer Bedeutung dar, schlösse es allerdings nicht aus, daß die faktische Betrachtungsweise zumindest eine Kennzeichnungsfunktion bekleidete. Die faktische Betrachtungsweise müßte dann die gemeinsamen Kriterien oder Gesichtspunkte entweder bestimmter Fallgruppen oder Einzelfallkonstellationen oder bestimmter Ergebnisse benennen. Dies setzte im Falle der Kennzeichnung von Ergebnissen einen Auslegungsvorgang bereits voraus, der die einzelnen Begründungsschritte vom auslegungsbedürftigen Tatbestand zum schließlich für den konkreten Einzelfall gültigen Ergebnis nachvollziehbar offenlegt. Es müßte deshalb für jeden Dritten deutlich sein, welche Fakten oder Gesichtspunkte darüber hinaus bezeichnet werden. Auch bei der Verwendung als ein "kennzeichnendes Prinzip" hat die faktische Betrachtungsweise daher nur dann einen "Leistungswert" , wenn ihr Inhalt bestimmt ist. Es muß an dieser Stelle offen bleiben, welcher Funktion die faktische Betrachtungsweise zugeordnet werden kann. Eines kann freilich schon jetzt festgestellt werden: Sollte sich herausstellen, daß die faktische Betrachtungsweise lediglich zur Kennzeichnung von Fallgruppen usw. verwendet wird, liefe sie in all den Fällen Gefahr mißverstanden zu werden, in denen sie von ihren Befürwortern als ein verbindliches Rechtsprinzip bei der Auslegung bezeichnet wird.
11. Inhaltliche Konturierung der faktischen Betrachtungsweise 1. Extensionale und intensionale Inhaltsbestimmung eines allgemeinen Prinzips
Die Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise. kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen. In der Sprachtheorie1 gibt es mehrere Prinzipien, mit deren Hilfe der Bedeutungsinhalt eines Wortes bestimmt werden kann: die intensionale und die extensionale Me1
Zu den Aussagen der Sprachtheorie siehe Seijjert, Wissenschaftstheorie 1,
S. 42 ff.
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
thode. Von diesen Prinzipien machen auch die Juristen schon lange Gebrauch. Die Einteilung der Kommentierung sprachlicher Zeichen oder auch Prinzipien und Generalklauseln in deren Intension und deren Extension ist ein typisches Verfahren der Kommentarliteratur2 • Für die faktische Betrachtungsweise bedeutet dies: Deren Inhaltsbestimmung kann durch Angabe von Merkmalen erfolgen, die alle die Fälle aufweisen müssen, die unter das Prinzip "faktische Betrachtungsweise" fallen (Intension), oder durch Aufzählung aller Fälle (Extension)3. Im folgenden werden all die Fallkonstellationen überprüft, in denen Literatur und Rechtsprechung von der faktischen Betrachtungsweise Gebrauch machen. Untersuchungsgegenstand ist somit der Inhalt der faktischen Betrachtungsweise anhand der Extension aller Fälle. In erster Linie geht es um die Konstellationen, in denen die faktische Betrachtungsweise bewußt als ein allgemeines Prinzip verwendet wird. Es sollen jedoch auch die Fälle erfaßt werden, in denen auf die faktische Betrachtungsweise eher beiläufig zurückgegriffen bzw. in denen die faktische Betrachtungsweise bestimmten Autoren oder gerichtlichen Entscheidungen nur zugeschrieben wird. Nur dadurch ist gewährleistet, daß kein "Restbestand" an Fällen bleibt, der zumindest theoretisch die für die Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise entscheidenden Aussagen enthalten könnte. Da sich die Literatur in hohem Maße auf die Rechtsprechung stützt, bietet es sich an, auf die Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs zuerst einzugehen. 2. Die faktische Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs
a) Die erste Entscheidung, die die Befürworter der faktischen Betrachtungsweise für sich in Anspruch nehmen4, betrifft den Begriff des "öffentlichen Pfandleihers" in § 290 8tGB. Folgender Fall lag der Entscheidung des Reichsgerichts 5 zugrunde: Der Angeklagte war Ehemann der mitangeklagten alleinigen Inhaberin und alleinigen Konzessionsberechtigten eines öffentlichen Pfandleihgeschäfts. Das Geschäft wurde von beiden gemeinsam betrieben. Zur Frage, ob das Vergehen aus 2 Siehe dazu Herberger / Koch, JuS 1978, 811; Garstka, Generalklauseln, S.103. 3 Siehe dazu Garstka, Generalklauseln, S. 96 ff., 116. 4 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 102: "Soweit ersichtlich, betraf die erste Entscheidung im Sinne der später ,faktische Betrachtungsweise' genannten Auslegung den Begriff ,öffentlicher Pfandleiher' nach § 290 StGB"; siehe auch Brons, GA 1982, 19. 5 RGSt 8, 269 ff., 270 = Urt. v. 2. April 1883.
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§ 290 nur von demjenigen verübt werden könne, welcher durch Erwerb der Konzession als öffentlicher Pfandleiher anzusehen sei, also von dem Inhaber des Geschäftes, führte das Reichsgericht aus: "daß die gewerbepolizeilichen Voraussetzungen, welche für die Betreibung des Gewerbes als öffentlicher Pfandleiher z. Zt. des Erlasses des Strafgesetzbuches verlangt wurden oder jetzt verlangt werden, zugleich auch Voraussetzungen für die Möglichkeit der Thäterschaft oder Mitthäterschaft des Vergehens aus § 290 seien, kann nicht behauptet werden; es genügt in dieser Beziehung ... der Nachweis der thatsächlichen Betreibung ...". Das Reichsgericht behandelte in dieser Entscheidung ausschließlich die Frage, wie das Tatbestandsmerkmal "öffentlich"6 auszulegen sei. Nach seiner Auffassung sollte dafür entscheidend sein, ob die Strafbarkeit nach § 290 StGB eine gewerbepolizeiliche Konzession voraussetzt. Dies wurde mit obiger "Begründung" verneint - also ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Problematik, warum es einerseits auf die gewerbepolizeilichen Voraussetzungen ankommen könnte 7 , andererseits darauf verzichtet werden könnte oder müßte. Unklar bleibt allerdings, welche Funktion dem Begriff "öffentlich" eigentlich zukommt. "Es genügt der Nachweis der thatsächlichen Betreibung" - dies schließt es begrifflich nicht einmal aus, auch solche Geschäfte zu erfassen, die ein privater Pfandleiher zu Hause mit ausgesuchter Klientel abschließt. Oder: Handelt etwa der nicht "thatsächlich", der zwar Inhaber ist, den Pfand gegenstand allerdings durch seine Aushilfskraft entgegennehmen läßt und dabei nur zuschaut, der also, anders ausgedrückt, nicht selbst Hand anlegt? Die Inhalte der faktischen Betrachtungsweise werden mit keinem Wort umschrieben. Das Reichsgericht "begründet" sein Ergebnis B, ohne die Berechtigung des Rückgriffs gerade auf dieses Prinzip und dessen Bedeutungsinhalt geprüft zu haben. Offen bleibt daher die Frage, warum es gerade nicht einer faktischen Betrachtungsweise entspricht, auf das "Faktum" der gewerbepolizeilichen Konzession abzustellen. Der Entscheidung des Reichsgerichts läßt sich damit lediglich die Feststellung entnehmen, daß der Begriff des öffentlichen Pfandleihers eine 6 Anders bei Wiesener und auch anderen Autoren, für die sich das Problem stellt, ob mit dem Begriff des Pfandleihers notwendig die Eigenschaft des Geschäftsinhabers eines Pfandleihgeschäfts verbunden ist. Auch dafür bzw. ausschließlich dafür (siehe dazu unten Dritter Teil IV 2 a (1); 3 a) soll die faktische Betrachtungsweise herangezogen werden. 7 Man könnte darauf abstellen, daß das Strafrecht nur dann eingreifen soll, wenn auch die gewerbepolizeilichen Voraussetzungen vorliegen - unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung sollen die Voraussetzungen in beiden Fällen (Gewerbe- und Strafrecht) identisch sein. S Bei Ernstnahme dieser "Begründung" im übrigen lediglich ein Ergebnis unter vielen möglichen; zur ausführlichen Behandlung dieser Entscheidung siehe unten Dritter Teil IV 2 a.
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gewerbepolizeiliche Konzession nicht voraussetzt. Alles weitere bleibt im Dunkel, so insbesondere eine Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise und die Beantwortung der Frage, welche Aspekte mit ihr erfaßt und ausgedrückt werden sollen - die faktische Betrachtungsweise hat damit in diesem Fall keine für die Auslegung spezifische Funktion. b) Auch die zeitlich nächste Entscheidung 9 enthält keine inhaltlichen Ausführungen zur faktischen Betrachtungsweise. Sie erging zu dem Merkmal "Brauer" des seinerzeit geltenden § 13 Abs. 1 Brausteuergesetz lO • Nach § 35 Abs. 2 Satz 2 des Brausteuergesetzes wurde der Brauer bestraft, wenn er Stoffe ... entgegen der Vorschrift des § 13 an einem anderen als den dazu angezeigten Orten aufbewahrte. Der Angeklagte war Vormund und betrieb im Namen und für Rechnung l l seines Mündels eine diesem gehörende Brauerei. Er hatte den Betrieb der Brauerei bei der Steuerbehörde nicht nur selbst angemeldet, die behördlichen Erlaubnisse eingeholt und die Art des Betriebes bestimmt, sondern auch den ganzen Betrieb selbst geleitet. Das Reichsgericht hatte darüber zu entscheiden, ob der Angeklagte als "Brauer" im Sinne des § 13 angesehen werden konnte, obgleich er alle Tätigkeiten weder für sich noch für eigene Rechnung vorgenommen hatte. Dazu führte es lediglich aus 12 : "Der Vormund nahm rechtlich und thatsächlich die Stellung desjenigen ein, der die Brauerei betrieb und leitete, und war deshalb auch den Staatsbehörden gegenüber als ,Brauer' i. S. des Brausteuergesetzes anzusehen .. ." Mit der Umschreibung "thatsächliche und rechtliche Leitung" wollte das Reichsgericht klarstellen, daß der Bedeutungsinhalt des Begriffs "Brauer" von der Funktion der Inhaberschaft unabhängig ist. Diese Feststellung läßt genügend Spielraum für weitere Deutungen. Es fällt auf, daß die "thatsächliche Leitung und Betreibung" zur Bestimmung der Funktion des Brauers offensichtlich nicht ausreicht. Daneben soll gleichberechtigt die "rechtliche Stellung" des Vormunds treten, der seinerzeit die Leitung des Betriebs innehatte. Das Tatbestandsmerkmal "Brauer" verlangt somit nicht nur bestimmte tatsächliche Aktivitäten, sondern auch weitere rechtliche Voraussetzungen. Es kann daher von einer faktischen Betrachtungsweise 9 So jedenfalls Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 102; ebenso Bruns, GA 1982, 19 (Fn. 68). 10 RGBl 1872, 153 ff. Gesetz wegen Erhebung der Brausteuer v. 31. Mai 1872. 11 So war der Vormund auch nicht zur Entrichtung der Steuer aus eigener Person verpflichtet. 12 RGSt 24, 353 ff., 354 = Urt. v. 21. Oktober 1893.
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keine Rede sein, und eine solche war vom Reichsgericht auch nicht in tendiert1 3 • c) Zwei weitere Entscheidungen des Reichsgerichts betrafen das Tatbestandsmerkmal "Veranstalter" des § 286 StGBI4. In der ersten Entscheidung 15 stellte sich die Frage, ob der Angeklagte als Veranstalter einer Lotterie angesehen werden könne, wenn er als Prokurist seiner Frau, der Inhaberin der Firma, tätig ist. Er hatte zwei Zeitungsankündigungen entworfen und veröffentlicht, wonach die Firma in je eines von hundert Paketen Kaffee einen Fünfmarkschein legen und mit den übrigen Paketen ohne Unterscheidungsmerkmal in das Schaufenster stellen werde. Das Reichsgericht führte in seiner Begründung aus: "Die Beteiligung einer Mehrzahl von Personen an einem nicht schon bestehenden Unternehmen, durch das gegen einen Einsatz die Hoffnung auf einen Geldgewinn gewährt wird, der von einem ungewissen, allein oder wesentlich vom Zufall zu entscheidenden Ergebnisse abhängt, ermöglicht auch derjenige, welcher in fremdem Namen zum Erwerb der Gewinnhoffnung Gelegenheit giebt, namentlich wenn er über das fremde Vermögen eine ,thatsächliche Verfügungsmacht' hat, welche ihm die Erfüllung seines Versprechens leicht macht." Entscheidend für die Auslegung des Merkmals "Veranstalter" ist danach, wer die zur Ausführung einer öffentlichen Lotterie erforderlichen Handlungen vornimmt, gleich ob er Inhaber oder Vertreter ist oder eine Vertretungsmacht nur vorgibt - die Möglichkeit, die angekündigten Versprechungen zu erfüllen, soll ausreichen. Auch in diesem Urteil fehlen konkrete Aussagen darüber, was mit der faktischen Betrachtungsweise zum Ausdruck gebracht werden soll. Eine Diskussion dieser Entscheidung bleibt dem exemplifizierenden Teil dieser Arbeit vorbehalten l6 • Dennoch sei bereits an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß die Umschreibung "thatsächliche Vertretungsmacht" von anderen rechtlichen Gesichtspunkten getragen wird, als dies in den bereits zuvor aufgezeigten Entscheidungen der Fall war. Deren gemeinsamen Kern festzustellen fällt zumindest nicht leicht. Es fehlen damit nicht nur Aussagen zu Inhalt und Funktion der faktischen Betrachtungsweise; auch das diese Entscheidungen verbindende 13 Angemerkt sei, daß beide Entscheidungen (also sowohl RGSt 8, 269 ff. als auch RGSt 24, 353 ff.) völlig unterschiedliche Tatbestandsmerkmale zum Gegenstand ihrer Beurteilung hatten. Eine Gemeinsamkeit zwischen den Begriffen "öffentlich" und "Brauer", die durch die faktische Betrachtungsweise zum Ausdruck gebracht werden könnte, liegt zumindest nicht auf der Hand. 14 Vgl. dazu Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 54. 15 RGSt 34, 447 ff. = Urt. v. 18. November 1901. 18 Siehe dazu unten Dritter Teil IV 3 c.
5 Cadus
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Element, welches durch das Prinzip "faktische Betrachtungsweise" hergestellt werden könnte, wurde bisher nicht angesprochen bzw. herausgestellt. Gleiches gilt für eine Entscheidung vom 27. Februar 1903 17 , welche von den Befürwortern der faktischen Betrachtungsweise in Anspruch genommen wird 18 • Der Geschäftsführer einer GmbH hatte eine Ankündigung drucken lassen, die materiell einen Lotterievertrag zum Inhalt hatte. Das Reichsgericht bestrafte den Geschäftsführer als Veranstalter nach § 286 StGB, wenngleich er im Namen und für Rechnung der Gesellschaft handelte. Zum Begriff der Veranstaltung sei nicht notwendig, daß das Geschäft auf persönliche Rechnung geführt werde. In dieser Entscheidung wird nicht einmal das Wort "thatsächlich" - aus diesem wird gemeinhin auf die faktische Betrachtungsweise geschlossen - , geschweige denn die faktische Betrachtungsweise zur "Begründung" des Ergebnisses bemüht. d) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 266 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. StGB betrachtet Bruns als MusterbeispieP9 für eine faktische Betrachtungsweise zur Lösung des Stellvertretungsproblems 2o • Nach Wiesener hatte das Urteil des Reichsgerichts vom 7. März 1927 21 eine "in einem eigenständig strafrechtlichen Sinn richtungweisende Auslegung"22 zum Inhalt. Anlaß dieser Entscheidung war die Frage, ob der Gerichtsvollzieher als Bevollmächtigter des Vollstreckungsgläubigers i. S. des § 266 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. anzusehen sei. Aber auch anhand der Rechtsprechung zum Bevollmächtigtenbegriff erhält man keine näheren Stellungnahmen zur faktischen Betrachtungsweise. Schwierigkeiten bereitete eine interessengerechte Auslegung hier deshalb, weil im Zivilrecht bereits eine gefestigte Rechtsprechung zur rechtlichen Stellung des Gerichtsvollziehers bestand. Die Zivilsenate des Reichsgerichts vertraten die Auffassung, daß der mit der Zwangsvollstreckung beauftragte Gerichtsvollzieher bei den von ihm vorzunehmenden Zwangshandlungen lediglich vermöge der in ihm verkörRGSt 36, 124 ff. Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 54; siehe auch Bruns, JZ 1954, 15 (Fn.44). 19 Bruns, JZ 1954, 15 verweist auf die Entscheidungen in RGSt 62, 15 ff., 20; 63,251 ff., 254. 20 Im Jahre 1954 gab es noch keine dem heutigen § 14 StGB entsprechende Regelung, so daß sich das Problem stellte, ob und wie derjenige bestraft werden könne, der, ohne die Sondereigenschaft einer juristischen Person zu besitzen, für diese und in deren Namen handle. 21 RGSt 61, 228 ff. 22 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 103; zur eingehenden Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zum Bevollmächtigtenbegriff durch das Reichsgericht siehe unten Dritter Teil IV 3 d. 17
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perten Staatsgewalt, nicht aber kraft einer vom Gläubiger abgeleiteten Vertretungsbefugnis im Sinne des § 164 BGB handle. Der dritte Strafsenat des Reichsgerichts sah in dieser Rechtsprechung kein Hindernis, das Tatbestandsmerkmal "Bevollmächtigter" in § 266 StGB a. F. eigenständig auszulegen. So entschied er denn auch in folgenden, das Ergebnis zusammenfassenden Sätzen: "... der zum Tatbestand der Untreue nach § 266 Abs. 1 Nr. 2 gehörende Begriff des Bevollmächtigten wurzelt nicht im Bürgerlichen Recht und setzt mithin eine Vertretungsmacht im Sinne des § 164 BGB überhaupt nicht voraus. Er ist strafrechtlicher Art und aus der Vorschrift des § 266 zu entnehmen. Bei ihm handelt es sich um eine in dem ,thatsächlich bestehenden Vertrauensverhältnis' beruhende und deshalb von der bürgerlich-rechtlichen Gültigkeit der Vollmacht oder des sonst zurückliegenden Rechtsverhältnisses unabhängige Pflicht."23 Auch hier umschreibt der Begriff "thatsächlich" lediglich das, was ohne ihn ebenso bezeichnet werden könnte - es kommt auf ein Vertrauensverhältnis und nicht auf die Gültigkeit einer bürgerlich-rechtlichen Vollmacht an. Abgesehen davon, daß damit ein weiterer, für die faktische Betrachtungsweise neuer Aspekt angesprochen wird 24 - die Inhaltsbestimmung zivilrechtIicher Begriffe im Strafrecht, unabhängig von den Voraussetzungen vertraglicher Wirksamkeit - , enthält auch diese Entscheidung keine Aussagen über das "Wesen der faktischen Betrachtungsweise". Entsprechendes gilt für die von Bruns25 angezogenen Entscheidungen, die sich beide den Gründen des Urteils vom 7. März 1927 angeschlossen haben. e) Auch der Bundesgerichtshof hat im Leitsatz seiner Entscheidung vom 19. November 1957 26 eine Feststellung getroffen, die auf die Anwendung der faktischen Betrachtungsweise schließen lassen könnte: "Ist eine Handelsgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit Kommissionär i. S. des Handelsrechts, so ist strafrechtlich als Kommissionär anzusehen, wer das Kommissionsgeschäft für sie tatsächlich ausführt." A hatte als Geschäftsführer einer GmbH einen Kommissionsvertrag abgeschlossen. Die GmbH hatte es darin übernommen, im eigenen Namen für Rechnung des Kommittenten Waren zu verkaufen. A hatte jedoch vertragswidrig zum Nutzen der GmbH verfügt. Streitig war nun, ob der Angeklagte als Kommissionär i. S. des § 95 Abs. 1 Nr. 2 Börsengesetz bestraft werden könne. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage bejaht. 23 24 25 28
RGSt 61, 230. Siehe dazu bereits oben Fn. 13. Siehe oben Fn. 19. BGHSt 11, 102 ff.
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Der Bundesgerichtshof stellte fest 27 , die Verschiedenheit der Rechtsgebiete erfordere es, Begriffe des Handelsrechts nicht schlechthin mit gleichem Inhalt auch ins Strafrecht zu übernehmen - die Verschiedenartigkeit könne gerade das Gegenteil verlangen. So könne an Stelle einer juristischen Person, die im handelsrechtlichen Sinne Kommissionär sei, strafrechtlich derjenige als Kommissionär angesehen werden, der das Kommissionsgeschäft für sie tatsächlich ausführe. "Denn für die strafrechtliche Betrachtung steht im Vordergrund, wer tatsächlich handelt, und nicht, für wen seine Handlung nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wirkt."28 Der Bundesgerichtshof stellt in seiner Begründung maßgeblich auf den Gesichtspunkt des tatsächlichen Handelns ab; die Vertretereigenschaft des Angeklagten soll offensichtlich ebensowenig die ausschlaggebende Rolle spielen wie die persönliche Haftung des Gesellschafters mit seinem ganzen Vermögen. Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise selbst wird nicht verwendet. Soll durch das Hervorheben des "tatsächlichen Handelns" zum Ausdruck gebracht werden, nur der "Handelnde" könne bestraft werden, so bedarf es dazu keiner faktischen Betrachtungsweise. Allerdings kann wohl auch nicht gemeint sein, daß Täter jeder für den Kommissionär Handelnde sei; man denke nur an die Aushilfskraft, die Ware an den Käufer überbringt. Der Bundesgerichtshof hat nichts dazu ausgeführt, wie der von § 95 Börsengesetz erfaßte Täterkreis genau abzuschichten ist. Schließlich ist nicht dargetan, warum in diesem Fall im Strafrecht anders ausgelegt werden darf bzw. ausgelegt werden muß als im Zivilrecht. Der dazu erforderliche Herleitungsvorgang fehlt ebenso wie eine Begriffsbestimmung dessen, was unter dem "tatsächlichen Handeln" zu verstehen ist29 . Bruns30 bescheinigte der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in seiner Urteilsrezension eine "bemerkenswerte Unbekümmertheit". Dennoch stellte er fest 31 : "Diese Entscheidung verdient besondere Aufmerksamkeit, weil sie einen - vor allem methodisch-interessanten Beitrag zur Lösung des grundsätzlichen Problems der Organ- und Vertreterhaftung im Strafrecht leistet, und zwar mit Hilfe der sogenannten tatsächlichen Betrachtungsweise. ... Die tatsächliche Betrachtungsweise ermöglicht es, nun auch im Bereich des Börsengesetzes eine Gesetzes27 28
29
BGHSt 11, 104. BGHSt 11, 104. Zur eingehenden Diskussion dieser Entscheidung siehe unten Dritter Teil
IV4 a.
Bruns, JZ 1958, 462. Bruns, JZ 1958, 461; siehe dazu auch dens., GA 1982, 19: "Diese Auslegungsmethode läßt sich an zahlreichen Beispielen bis in die neueste Zeit verfolgen und hat in BGHSt 11, 102 einen gewissen Höhepunkt erreicht ..." 30
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lücke zu schließen, die bisher als Folge der höchst unvollkommen geregelten Organ- und Vertreterhaftung hingenommen werden mußte." Auch eine weitere, zu einem ähnlichen Sachverhalt ergangene Entscheidung vom 6. September 1962 32 gibt über die faktische Betrachtungsweise keinen Aufschluß, da die Begründung der Entscheidung lediglich aus einem Verweis auf BGHSt 11, 102 ff. besteht. Bestätigt wird jedoch die obige Vermutung, daß die Vertretereigenschaft keine ausschlaggebende Rolle spielte. Der Bundesgerichtshof lehnt sich diesbezüglich an zuvor ergangene Entscheidungen an33 : "Die Rechtsprechung hat selbst bei einem Unternehmen, das als Einzelfirma geführt wird, unter Umständen Personen als taugliche Täter der Untreue angesehen, die weder gesetzliche Vertreter noch tatsächliche Inhaber der Firma waren." f) Eine durchgängige Rechtsprechung zur faktischen Betrachtungsweise belegen nach Auffassung von Bruns34 Entscheidungen sowohl des Reichsgerichts als auch des Bundesgerichtshofs zu §§ 83 GmbHG a. F., 84 GmbHG, 244 KO a. F.35. Entscheidungsrelevant war jeweils die Frage, ob ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft bzw. ein Geschäftsführer einer GmbH in dieser Eigenschaft bestraft werden kann, wenn er die diesen Funktionen zukommenden Aufgaben wahrnimmt, ohne förmlich bestellt oder im Handelsregister eingetragen zu sein. Bereits die Leitsätze insbesondere des Bundesgerichtshofs scheinen die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise zu bestätigen: "Geschäftsführer ist auch, wer ohne förmlich dazu bestellt oder im Handelsregister eingetragen zu sein, im Einverständnis der Gesellschafter die Stellung eines Geschäftsführers tatsächlich einnimmt."36 Die oben angeführten Entscheidungen37 begründen ihr Ergebnis ausschließlich mit einer Sinn- und Zweck-Betrachtung der Begriffe "Geschäftsführer" bzw. "Vorstandsmitglied". Der Bundesgerichtshof folgerte in seiner neuesten Entscheidung vom 22. September 1982 nach einer breiten Darstellung des vom Angeklagten wahrgenommenen Aufgabenbereichs: "Denn Normadressat von § 84 Abs. 1 Nr. 2 ist nicht allein der förmlich zum Geschäftsführer bestellte, sondern auch derjenige, der die Geschäftsführung tatsächlich übernommen hat. ... Eine GA 1964, 130. RGSt 62, 15, 18 ff., BGHSt 13, 330. 34 Bruns, GA 1982, 21 f. 35 Neuestens BGHSt 31, 118 ff.; RGSt 16, 269 ff.; RGSt 43, 407 ff.; RGSt 64, 81 ff.; BGHSt 3, 32 ff.; 21, 101 ff.; BGH 2 StR 768/78 Urt. v. 21. Dezember 1979 MDR 1980,453; vgl. auch GA 1971, 35 f. 36 BGHSt 3, 33. 37 Siehe oben Fn. 35. 32 33
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andere Auffassung würde den Schutz der Allgemeinheit vor unredlicher Handhabung der Geschäftsführung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung unterlaufen. Der auf strafrechtlichen Schutz abzielende Zweck des § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG kommt in dessen Wortlaut auch hinreichend deutlich zum Ausdruck."38 Ein Gegensatz zu einer im Zivilrecht gültigen Auslegung wird hier also ersichtlich nicht hergestellt. Der Bundesgerichtshof beschäftigte sich ausschließlich mit dem Begriffsinhalt "Geschäftsführer", wie er nach Sinn und Zweck des § 84 GmbHG bestimmt werden muß. Die Feststellung, es könne nicht auf die förmlichen Voraussetzungen ankommen, steht dem nicht entgegen. Der Bundesgerichtshof geht in seiner Entscheidung nicht davon aus, daß im Zivilrecht nur von dem als einem Geschäftsführer gesprochen werden könne, der alle förmlichen Voraussetzungen erfüllt. In allen Begründungen spielen zivilrechtliche Vorwertungen vielmehr überhaupt keine Rolle. Verständlich ist deshalb auch, daß keine Ausführungen darüber gemacht werden, warum von zivilrechtlichen Vorwertungen abgewichen werden dürfe oder sogar abgewichen werden müsse. Die Rechtsprechung zu §§ 83 a. F., 84 GmbHG, 244 a. F. KO unterscheidet sich von den bisher dargestellten Beispielen - wie z. B. der Auslegung des Pfandleihers, Veranstalters, Brauers usw. - in den verschiedenen Dimensionen der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen. Sicherlich geht es in beiden Fällen um die Inhaltsbestimmung der entsprechenden Begriffe. Die bisherigen Konstellationen wurden von der Rechtsprechung darauf überprüft, ob die Strafbarkeit eines festumrissenen Personenkreises - des Inhabers eines Pfandleihunternehmens, des Inhabers einer Brauerei usw. - durch Auslegung auch auf den Nichtinhaber ausgedehnt werden kann. Bei der Auslegung der §§ 83 a. F. GmbHG, 84 GmbHG, 244 KO a. F. geht es nicht um eine Ausdehnung des Täterkreises auf weitere Dritte, sondern um die exakte Bestimmung des im Gesetz genannten Topos "Geschäftsführer". Die Urteilsgründe stellen nicht, wie bisher bei der faktischen Betrachtungsweise "üblich", darauf ab, wer "tatsächlich" gehandelt hat, sondern wer "faktisch" die Stellung einnimmt, die im Gesetz dem Geschäftsführer zugeschrieben wird. Das - sicherlich einleuchtende - Ergebnis wird damit zwar festgestellt. Es fehlen jedoch Darlegungen und eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen Frage, was die faktische Betrachtungsweise nun genau zum Ausdruck bringt und welche Kriterien vorliegen müssen, um an eine solche anknüpfen zu können. Dies verwundert schon deshalb nicht, weil der Bundesgerichtshof weder auf eine tatsächliche noch eine fak38
BGHSt 31, 122.
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tische Betrachtungsweise rekurriert. Der Begriff "tatsächlich" dient auch diesmal lediglich zur Umschreibung eines auf anderem Wege gefundenen Ergebnisses. Er hat keine Funktion bei der inhaltlichen Konturierung des auszulegenden Tatbestandsmerkmals und bringt auch keine gemeinsamen Kriterien für die bisher aufgeführten "Beispiele" einer faktischen Betrachtungsweise. g) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs39 bzw. einiger Oberlandesgerichte 40 zum Begriff des Kraftfahrzeughalters41 bescheinigt Wiesener42 , sie stünden längst auf dem Boden der faktischen Betrachtungsweise, wenngleich der Bundesgerichtshof davon nichts ahnend noch rechtstechnische Begrifflichkeit respektiere 43 • Der Begriff des Kraftfahrzeughalters bezeichnet im Zivilrecht - insbesondere in der Rechtsprechung zu § 7 StVG - denjenigen, der das Fahrzeug für eigene Rechnung in Gebrauch hat und die Verfügungsgewalt darüber besitzt, die ein solcher Gebrauch voraussetzt44 • Im Strafrecht geht es dagegen um die Beantwortung der Frage, ob auch Vertreter (Betriebsleiter und andere Angestellte) nach § 31 Abs. 2 StVZO bzw. nach entsprechenden Bestimmungen, die an die Haltereigenschaft anknüpfen, bestraft werden können. Die Rechtsprechung hat in allen Entscheidungen deutlich gemacht und keinen Zweifel gelassen, daß der Begriff des Kraftfahrzeughalters im Strafrecht nicht über den im Zivilrecht festgelegten Umfang ausgedehnt werden dürfe. Eine Strafbarkeit von Vertretern im Rahmen der oben angeführten Tatbestände wurde von der Rechtsprechung seinerzeit ausschließlich über § 151 a. F.45 Gewerbeordnung begründet, der durch § 50 a StGB bzw. dessen Nachfolger § 14 StGB ersetzt wurde. über eine extensive Auslegung der Haltereigenschaft bzw. die faktische Betrachtungsweise im Zusammenhang mit dem Begriff "Kraftfahrzeughalter" hat die Rechtsprechung nicht ein Wort verloren. Ihr BGHSt 8, 139 ff.; neuerdings ebenso BGH MDR 1980,453. OLG Hamm, Urt. vom 11. Februar 1954, NJW 1955, 1162 f.; OLG Bremen, Beschluß vom 4. Mai 1955, NJW 1955, 1163. 41 Die Entscheidungen betrafen jeweils § 31 Abs. 2 StVZO in der damals geltenden Fassung. 42 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 157. Siehe auch Bruns, GA 1982, 19 (Fn.68). 43 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 154. 44 Siehe hierzu Jagusch, Straßenverkehrsrecht, Rnrn. 14 ff. zu § 7 StVG mit vielen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 45 § 151 a. F. Gewerbeordnung: "Sind bei der Ausübung des Gewerbes polizeiliche Vorschriften von Personen übertreten worden, welche der Gewerbetreibende zur Leitung des Betriebes oder eines Teils desselben oder zur Beaufsichtigung bestellt hatte, so trifft die Strafe diese letzteren." 39
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stellte sich ausschließlich die Frage nach der Interpretation des seinerzeit geltenden § 151 a. F. Gewerbeordnung. Auch dort fehlt jeglicher Anhaltspunkt für eine faktische Betrachtungsweise. Die Urteilsgründe der zum "Halterbegriff" ergangenen Entscheidungen machen deutlich, daß die faktische Betrachtungsweise zumindest in diesen Fällen der Rechtsprechung lediglich zugeschrieben wird. Eine Ausnahme bildet ein Urteil des Amtsgerichts Cottbus 46 aus dem Jahre 1940, dessen Begründung allerdings nicht nur unter methodischen Gesichtspunkten keine Zustimmung finden kann47 • Es ließen sich aus der Rechtsprechung noch andere Beispiele anführen, in denen wegen der Worte "tatsächlich" bzw. "faktisch" auf eine faktische Betrachtungsweise geschlossen werden könnte. Allen ist gemein, daß eine - wenn auch nur irgendwie geartete - Erläuterung der faktischen Betrachtungsweise fehlt. Ob die faktische Betrachtungsweise als allgemeines Auslegungs- oder Kennzeichnungsprinzip in der Rechtsprechung Anerkennung gefunden hat, ist danach mehr als fraglich. Fest steht jedenfalls, daß eine Ausbildung der faktischen Betrachtungsweise entsprechend den oben herausgearbeiteten Kriterien fehlt. Dagegen ließe sich einwenden, es sei nicht Aufgabe der Rechtsprechung, in den Urteilsbegründungen der einzelnen Entscheidungen den Herleitungsvorgang eines dogmatischen Prinzips nachzuzeichnen; dies sei die ureigenste Aufgabe der wissenschaftlichen Literatur, die gerade auf diesem Gebiet der Rechtsprechung unterstützend zur Seite treten müsse. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als einen Blick auf die Protagonisten der faktischen Betrachtungsweise in der Literatur zu werfen. Es sollen jedoch auch die Autoren nicht unberücksichtigt bleiben, die nur von Fall zu Fall, wenn auch vorsichtig, mit der faktischen Betrachtungsweise "liebäugeln". 3. Die faktische Betrachtungsweise als allgemeines Auslegungsprinzip in der Literatur
Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise taucht in der Literatur an den verschiedensten Stellen auf - er ist in Lehrbüchern, in Monographien, aber auch in Kommentaren zu finden. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit der faktischen Betrachtungsweise als einem allgemeinen Auslegungsprinzip, insbesondere mit konkreten Fallkon46 Amtsgericht Cottbus, DR 1941, 329 f. "Daß das Verhalten des Angeklagten nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient, kann keinem Zweifel unterliegen." 47 Wiesener hat dieses Urteil im übrigen auch nicht für seine Auffassung gebucht, sondern unerwähnt gelassen.
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stellationen, die nur mit der faktischen Betrachtungsweise gelöst werden können, erfolgt indessen lediglich bei Bruns! und Wiesener2 • Methodische bzw. dogmatische Ausführungen zur Inhaltsbestimmung und Herleitung der faktischen Betrachtungsweise fehlen jedoch auch bei ihnen. Im Mittelpunkt der Diskussion beider Autoren steht die Problematik der sogenannten strafrechtlichen Vertreterhaftung 3 • Bruns und vor allem auch Wiesener glauben, mit der faktischen Betrachtungsweise für diesen Problemkreis ein Lösungsinstrument gefunden zu haben, das sogar einer normativen Regelung überlegen sei. Freilich stellt die faktische Betrachtungsweise nach Ansicht beider ein nicht nur für die Vertreterhaftung taugliches Lösungsmuster dar. Es soll sich bei ihr um ein allgemeines Auslegungsprinzip handeln, das auch auf die Problematik der Vertreterhaftung angewendet werden kann. Das hat zur Folge, daß etliche Fallkonstellationen angesprochen werden, die mit der Vertreterproblematik nichts gemein haben 4 • Des weiteren werden von ihnen Beispiele diskutiert, bei denen unklar bleibt, ob die Verwendung des Begriffs "tatsächlich" Ausdruck eines allgemeinen Auslegungsprinzips ist, oder ob es sich nur um einen beschreibenden - möglicherweise nur klarstellenden - Zusatz handelt. Sowohl Bruns5 als auch Wiesener 6 haben die für die faktische Betrachtungsweise relevanten Tatbestandsgruppen zu ordnen versuchF. Bereits ein flüchtiger Blick auf die in diesem Zusammenhang gebildeten Tatbestandsgruppen macht deutlich, daß es die verschiedensten Aspekte sein müssen, die die faktische Betrachtungsweise bestimmen. übergreifend sind nicht die Probleme der Organ- und Vertreterhaftung, sondern Gesichtspunkte, die auf die allgemeine Thematik "Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken"8 hindeuten. Diese 1
Siehe dazu Bruns, Können die Organe; ders., JZ 1954, 12 ff.; JZ 1958,
461 ff.; G;A 1982, 1 ff.
Wiesener, Verantwortlichkeit. Die Ausführungen erfolgten so denn auch im Rahmen der Einführung des § 50 a in das StGB im Jahre 1968 - einer schriftlichen Regelung der Strafbarkeit von Stellvertretern - und als Bestandsaufnahme (so der Aufsatz von Bruns, GA 1982, 1 ff.) nach mehrjähriger Praxiserfahrung mit einer solchen Regelung. 4 Vgl. dazu nur im folgenden die Beispiele zur Vermögensverfügung und zum Vermögensschaden bei den Vermögensdelikten, zur GarantensteIlung aus Vertrag usw. 5 Bruns, Können die Organe, S. 13 f. e Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 21 ff. 7 Die Einteilungskriterien unterscheiden sich nicht. Wiesen er übernahm das von Bruns stammende Ordnungsschema. 8 So auch der Titel der späteren Habilitationsschrift von Bruns. 2
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
werden schließlich auch für die Fragen der Organ- und Vertreterhaftung fruchtbar gemacht - ob in methodisch bzw. dogmatisch zulässiger Art und Weise, sei an dieser Stelle dahingestellt 9 • Für den weiteren Gang der Untersuchung bietet es sich an, der von Bruns bzw. Wiesener vorgezeichneten Einteilung zu folgen. Sie unterscheiden folgende Tatbestandsgruppen: a) Tatbestände, deren Tathandlungsmerkmale mit Begriffen des Zivilrechts gleichlauten. b) Tatbestände, für die eine "egoistisch beschränkte Innentendenz" als wesentlich angesehen wird. c) Sonderdeliktstatbestände. d) Tatbestände, die eine gewisse Zuordnung von Vermögensgütern zum Täter voraussetzen. Zu a) Tatbestände, deren Tathandlungsmerkmale mit Begriffen des Zivilrechts gleichlauten - mit dieser Formulierung sollen etwa folgende Tatbestandsmerkmale umschrieben werden10 : "Veranstalten eines Glücksspiels" nach § 284 StGB; "Veranstalten einer Lotterie" nach § 286 StGB; "Beteiligung am Glücksspiel"; "Ausgeben von Geldzeichen oder Inhaberschuldverschreibungen" nach § 35 BBankG. Gleiches soll für die Fälle gelten, in denen jemand sich oder einem Dritten etwas versprechen oder gewähren läßt (§ 302 a StGB), in denen jemand Hehlereigegenstände ankauft oder zum Pfande nimmt (§ 259 a. F. StGB) usw. Bereits das dieser Fallgruppe zugrundeliegende Einteilungskriterium kann nicht überzeugen - wo im Zivilrecht z. B. der entsprechende zivil rechtliche Begriff "Veranstalter" geregelt sein soll, bleibt im Dunkel. Gleiches gilt für das Merkmal "Beteiligung am Glücksspiel". Vergleicht man weiterhin die Behandlung der entsprechenden Fallkonstellationen in Rechtsprechung und Literatur, so fällt auf, daß sich die Ansatzpunkte der Diskussion grundsätzlich unterscheiden. In der Literatur werden die Beispiele unter dem Gesichtspunkt der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Vertretern bzw. Organen von juristischen Personen diskutiert. Dem Reichsgerichtl l ging es dagegen um Siehe dazu ausführlich unten Dritter Teil 11 l. Siehe dazu Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 47 ff. bis 84. 11 Vgl. dazu die Auslegung der Merkmale "Veranstalter" und "Pfandleiher" oben S. 68 f., 64 ff. mit entsprechenden Nachweisen. Es sei nochmals herausgestellt, daß es in den der Rechtsprechung entnommenen Beispielen in erster Linie nicht um ein "Stellvertretungsproblem" ging, sondern um die Frage, ob das jeweilige Tatbestandsmerkmal die Inhaberschaft des Betriebes, Geschäftes usw. voraussetzt. o
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II. Inhaltliche Konturierung
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die Klärung der Frage, welche Kriterien das Merkmal "Inhaberschaft" erfordert. Dennoch nimmt die Literatur die Rechtsprechung in Anspruch, wenn es um den Nachweis geht, daß die faktische Betrachtungsweise als Auslegungsinstrument anerkannt sei. Eine solche Problembehandlung ist nicht überzeugend. Hinsichtlich der Auslegung der §§ 284, 286 StGB geht Wiesener einen anderen Weg als die Rechtsprechung. Nach seiner Auffassung ist bereits die Ausgangsfrage nicht richtig gestellt: wenn man erörtere, ob § 284 StGB auf Organe und Stellvertreter anwendbar sei, die "in dieser Eigenschaft" ein Glücksspiel "für" ihren Vertretenen veranstaltet hätten, könne maßgebend nur sein, ob der Tatbestand des § 284 gerade ein Handeln im eigenen Namen und für eigene Rechnung fordere 12 . Eine solche Einschränkung des Tatbestands ist in der Tat nicht notwendig; der Wortlaut fordert keine Differenzierung danach, zu wessen wirtschaftlichen Gunsten und Lasten die Veranstaltung erfolgt 13 . Dies gilt auch für die Frage, in wessen Namen veranstaltet wurde14 . Die Eingangs feststellung Wieseners verdient daher volle Zustimmung. Völlig unvermittelt erfolgt dann allerdings die Feststellung: "Damit muß der faktisch Handelnde als Täter des § 284 StGB angesehen werden .... Wir sehen also, daß nach der faktischen Betrachtungsweise sachgerecht zu entscheiden ist, wer ein Glücksspiel veranstaltet."15 Die faktische Betrachtungsweise soll offensichtlich den Gegensatz zur zivilistischen Auslegung des Begriffs Veranstalter herausstreichen, die die Frage nach dem Partner der Spielverträge stellt 16 . Eine solche zivilistische Auslegungsweise wird in der Tat weder dem Sinn der §§ 284, 286 StGB gerecht, noch wird sie durch diese geboten. In § 284 StGB ist neben dem Veranstalten auch schon das Halten eines unerlaubten Glücksspiels und das Bereitstellen von Spieleinrichtungen mit Strafe bedroht. Diese Aufzählung der einzelnen Handlungsformen zeigt, daß es dem Gesetzgeber offensichtlich darauf ankam, jegliche Ermöglichung des Glücksspiels unter Strafe zu stellen, unabhängig, ob gerade ein Handeln im eigenen Namen und für eigene Rechnung erfolgt. Auch der Wortlaut des Begriffs "Veranstalten" fordert letzteres nicht. 12
Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 50.
Zur Auslegung der §§ 284, 286 siehe unten Dritter Teil IV 3 c. Aus den einschlägigen Kommentaren ergibt sich jedenfalls nichts Gegenteiliges. Siehe dazu Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 11 zu § 284; v. Bubnoff, in: Leipz. Komm., Rn. 11 zu § 284; Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 12 zu § 284; Samson, in: SK, Rn. 10 zu § 284; Lackner, StGB, Rn. 4 zu § 284. 15 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 50 f. 16 Bei einem solchen Bedeutungsinhalt des Begriffs "Veranstalter" machte sich das Organ einer juristischen Person, die eine Lotterie durchführt, nicht strafbar, weil zivilrechtlich gesehen die juristische Person, für die das Organ handelt, Partner der Spielverträge ist. 13
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
Beigepflichtet werden kann daher der Auffassung Wieseners 17 , "die Erwähnung einer Organhaftungsbestimmung im Zusammenhang mit § 284 StGB lenke das Problem unzutreffenderweise auf ein zivilrechtliches Gleis und verstelle den Blick für die richtige Lösung". Es ist allerdings nicht einsichtig, warum im unmittelbaren Anschluß die faktische Betrachtungsweise wie ein deus ex machina erscheint und dem Ergebnis quasi "aufgepfropft" wird, obgleich sie doch die Problematik der Organ- und Vertreterhaftung lösen soll. Die Einsicht, daß nur ein "faktisch Handelnder" Täter des § 284 StGB sein könne, ist zu trivial, als daß es dazu eines neuen allgemeinen Prinzips bedürfte, das im übrigen nicht weiter inhaltlich bestimmt wird. Der bei Wiesener anklingende negative Aspekt der faktischen Betrachtungsweise, der darauf aufmerksam machen soll, daß eine organschaftliche Zurechnung im Strafrecht unbeachtlich ist, sagt nicht mehr aus, als daß im Strafrecht nach strafrechtlichen Kriterien ausgelegt werden muß. Eine modifizierte und zumindest im Ergebnis überzeugende Auffassung vertritt Wiesener auch zur Auslegung des Merkmals "ankaufen" in § 259 a. F. StGB18. Als Tathandlungsmerkmal sei es bei der Auslegung an der faktischen Handlung zu orientieren, die den beabsichtigten "Kauf" des Hehlereigutes bewirke. Es sei deshalb gleichgültig, ob der Täter im eigenen oder fremden Namen, auf eigene oder fremde Rechnung tätig werde. Sicherlich schließt der Umgangssprachgebrauch "ankaufen" mit ein, daß der Kauf auch für fremde Rechnung erfolgen kann. Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob derjenige, der für einen anderen ankauft, auch das Tatbestandsmerkmal "seines Vorteils wegen" erfüllt 19 . Die alleinige Auslegung des Merkmals "ankaufen" nach dem Wortlaut vermag jedoch die Frage nicht zu lösen, ob dieses Tatbestandsmerkmal denjenigen überhaupt erfassen soll, der für Dritte kauft. Die Einbeziehung fremdnütziger Tätigkeit läßt sich - nachdem der Bedeutungsspielraum des Begriffs "ankaufen" geklärt worden ist - nur auf Grund von Reflexionen über Sinn und Zweck der Hehlereitatbestände entscheiden20 • Es wird von Wiesener nicht aufgezeigt, inwiefern die faktische Betrachtungsweise dazu Hilfestellung leisten könnte. Das Ergebnis dieses ersten Abschnitts läßt sich damit zusammenfassen: Auch die Diskussionsbeiträge in der Literatur im Rahmen der so17 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 53; s. a. Blauth, Handeln für einen anderen, S. 130 f. 18 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 80 ff., 82. 19 Siehe dazu unten Dritter Teil II!. 20 Siehe dazu ausführlich Arzt, JA 1979,574 ff. ID. w. N.
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genannten "Tathandlungsmerkmale, die mit Begriffen des Zivilrechts gleichlauten" , haben zu keiner weiteren Klärung des Bedeutungsinhalts der faktischen Betrachtungsweise geführt, geschweige denn konnten Notwendigkeit bzw. Nützlichkeit der faktischen Betrachtungsweise als Auslegungsprinzip nachgewiesen werden. Unklar ist bereits das gemeinsame Einteilungskriterium. Unterschiedlich sind die von Rechtsprechung und Literatur verfolgten Intentionen in der Fragestellung, für die bei beiden die faktische Betrachtungsweise den Lösungsschlüssel enthalten soll. Uneinheitlich sind die Auffassungen darüber, für welche speziellen Fragen die faktische Betrachtungsweise in Anspruch genommen werden soll - erinnert sei nur an die modifizierten Ausführungen Wieseners zur Auslegung der Begriffe "Veranstalter" in §§ 284, 286 StGB und "ankaufen" in § 259 a. F. StGB. Die Erkenntnis, daß nur der "faktisch Handelnde" Veranstalter des § 284 StGB sein kann, sagt nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit: Für das Strafrecht muß nicht maßgebend sein, was nach zivilrechtlichen Grundsätzen einem anderen zugerechnet wird. Die im Strafrecht entscheidende Fragestellung, die ein "tatsächliches" Handeln zum Gegenstand hat, ist bei Tatbeständen, deren Tathandlungsmerkmale "mit Begriffen des Zivilrechts gleichlauten" , unabhängig von der für das Zivilrecht geltenden Organhaftung. Eines neuen Prinzips "faktische Betrachtungsweise" bedarf es dazu nicht. Zu b) Eine weitere Gruppe, in der die faktische Betrachtungsweise soll fruchtbar gemacht werden können, stellen die Delikte mit "egoistisch-beschränkter Innentendenz"21 dar. Dazu zählen die Hehlereidelikte a. F., die Wuchertatbestände a. F., die Zueignungsdelikte und insbesondere Delikte des Nebenstrafrechts 22 . All diese Delikte setzen bestimmte subjektive Absichten und Gesinnungen voraus. Ob deren Anwendungsbereich neben der sogenannten "egoistischen Tendenz" im Rahmen der Auslegung auch auf altruistisch handelnde Täter erstreckt werden kann, wurde und wird noch heute heftig und kontrovers diskutiert. Diese Tatbestandsgruppe ist zwar nicht gerade das Hauptanwendungsfeld der faktischen Betrachtungsweise; sie stellt jedoch eine der "Problemgruppen" im Rahmen der Organ- und Vertreterhaftung dar, und letztere will Wiesener mit der faktischen Betrachtungsweise lösen23 . 21 Dieser Ausdruck stammt von Bruns, Können die Organe, S. 14; siehe dazu auch Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 20 zu § 14. 22 Siehe dazu Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 141. 23 Es sei jedoch bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß es sich nach Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 80 ff., 86 f. bei den Delikten mit "egoistischer Innentendenz" um kein Problem der Stellvertreter- und Organhaftung handelt.
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Einen noch deutlicheren Bezug zur faktischen Betrachtungsweise stellt Bruns24 her. Er führt aus, daß es dem Kammergericht25 mittels der faktischen Betrachtungsweise sogar einmal gelungen sei (!), die Organe einer juristischen Person wegen Hehlerei zugunsten der Körperschaft zu bestrafen. Schwierigkeiten, die entstünden, wenn ein Organ oder Vertreter bzw. Angestellter ausschließlich im Interesse der Gesellschaft oder Firma Hehlereigut erwerbe, habe die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beseitigt26 , indem sie den Tatbestand in tatsächlicher Hinsicht ausgelegt habe. Obgleich die Rechtsprechung damit das Problem des HandeIns "für einen anderen" gelöst habe, stellt Bruns im selben Zusammenhang fest: "Eine solche Gewaltkur verträgt nicht jeder Tatbestand."27 Bruns und Wiesener unterscheiden sich jedoch darin, ob die faktische Betrachtungsweise auch bei dieser Tatbestandsgruppe anzuwenden sei. Wiesener, der die faktische Betrachtungsweise für eine geeignete Auslegungsmethode hält, das Organ- und Stellvertretungsproblem zu lösen, weist überzeugend nach, daß es sich bei der Tatbestandsgruppe "Delikte mit egoistischer Innentendenz" um ein solches Stellvertretungsproblem überhaupt nicht handelt. Er zeigt dies am Beispiel des Hehlereitatbestands, der in zweifacher Hinsicht Gelegenheit zur Diskussion gebe. Soweit es um die Auslegung des Merkmals "ankaufen" in § 259 a. F. StGB geht, kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden28 . Die weitere Frage, ob derjenige, der für einen anderen ankauft, auch das Tatbestandsmerkmal "seines Vorteils wegen" erfüllt29 , kann auch nach Auffassung Wieseners weder mit der zivil rechtlichen noch der faktischen Betrachtungsweise entschieden werden30 • Die gesetzgeberische Wertentscheidung im Besonderen Teil des StGB würde auf den Kopf gestellt, wollte man mit Hilfe einer Organhaftungsbestimmung im Allgemeinen Teil - oder mit der faktischen Betrachtungsweise31 - die Beschränkung der Tatbestände des Besonderen Teils auf ein eigennütziges Handeln wieder rückgängig machen. Bruns, JZ 1954, 15. KG, Urt. v. 3./14. November 1927, Recht 1928, Nr. 435. 26 Bruns, GA 1982, 31. 27 Bruns, JZ 1954, 15. 28 Siehe dazu oben S. 76. 29 Die alte Fassung des § 259 StGB erfaßte im Wortlaut nicht die Bereicherungsabsicht zugunsten eines Dritten. 30 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 83 f. 31 Vom Verfasser eingefügt. 24 25
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Wiesener folgt daher sowohl in der Begründung als auch im Ergebnis der h. M.32. Deren Auffassung gründet auf der Erkenntnis, daß ein subjektives Tätermerkmal - eine Absicht, eine Tendenz oder Gesinnung - nicht schon durch die objektive Tätigkeit in einem fremden Funktionskreis als solche realisiert werden kann, weil die subjektive Einstellung niemals eine bloße Folge aus der objektiven Situation, sondern immer auch ein Produkt der Willkür des Täters ist3 3. Als solche ist sie nicht substituierbar, so daß eine Vertreterhaftung bei subjektiven Tätermerkmalen auch nicht vorstellbar ist. In der Literatur gibt es zur Frage des "Ankaufens" bei § 259 StGB und der Erfassung auch des altruistisch handelnden Täters zwar viele kontroverse Stellungnahmen34, die faktische Betrachtungsweise wird als Lösungsmodell jedoch nie vorgeschlagen. Gleiches gilt für die Fragen der Drittzueignung in §§ 246, 242 StGB35. Es bleiben daher nur die Ausführungen von Bruns, die einen Zusammenhang mit der faktischen Betrachtungsweise herstellen 36 . Er setzt sich dafür ein, die oben geschilderten Probleme mittels der Regelung des § 14 StGB zu lösen 37 , wobei er auf die "Verwandtschaft" der Vertreterregelung des § 14 mit der faktischen Betrachtungsweise hinweist 38 . Diese Auffassung soll durch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs 39 gestützt werden 40 • Eine nähere Betrachtung ergibt frei32 Siehe dazu Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 20 zu § 14; Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 32 f., 140 f. Deutlich wird dies vor allem bei Blauth, Handeln für einen anderen, S. 146: "Auch wenn der Kreis der egoistisch-beschränkten Delikte durch künftige Gesetze erweitert werden sollte, so könnte dies dennoch nicht die Einführung einer generellen Vorschrift" - und damit erst recht nicht im Wege der Auslegung - "rechtfertigen. Denn einer solchen Regelung steht entgegen, daß durch eine allgemeine Vorschrift der Sinn einzelner Tatbestände wesentlich verändert werden könne und die Auswirkungen einer solchen Vorschrift unübersehbar seien." 33 Siehe dazu Schünemann, Jura 1980, 575. 34 Vgl. nur Maurach, JZ 1952, 714 f.; Seibert, MDR 1952, 732 f. u. a. 35 Zu dem dortigen Meinungsstreit siehe nur Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 63 f. zu § 242; Samsan, in: SK, Rnrn. 68 ff. zu § 242 m. w. N. Rudolphi, GA 1965, 41 f., 51 f. und Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 341 ff. (siehe auch Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 94 f. zu § 25) vertreten die Auffassung, daß jede Drittzueignung wegen der darin zum Ausdruck kommenden Anmaßung von Verfügungsmacht genügen solle. Die ständige Rechtsprechung (vgl. etwa BGH NJW 1954, 1295; NJW 1970, 1753; weitere Nachw. bei Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 20 zu § 242) nimmt ein Sich-Zueignen-Wollen an, wenn der unmittelbar Handelnde durch die Drittübereignung zumindest einen mittelbaren Vorteil wirtschaftlicher Art erlangen will. 36 Bruns, JZ 1954, 12 ff., 15. 37 Bruns, GA 1982, 33. S8 GA 1982, 19 ff. 39 BGHSt 2, 262 ff., 267. 40 Bruns, GA 1982, 31.
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lich, daß der Herleitungsvorgang des Bundesgerichtshofs mit der faktischen Betrachtungsweise nichts gemein hat. Die einzige Stelle, an der der Begriff "tatsächlich" verwendet wird, befaßt sich nicht mit Auslegungsfragen, sondern den der Auslegung zugrundezulegenden Umständen. Daß dabei nur "tatsächliche" Umstände zugrunde gelegt werden können, ist selbstverständlich. Der eigentliche Herleitungsvorgang des Bundesgerichtshofs orientiert sich an den gebräuchlichen Auslegungsmethoden, insbesondere der grammatikalischen Auslegung der Begriffe "ankaufen" und "an-sich-bringen". Auch die Entscheidung des Reichsgerichts 4 1, auf die Bruns zur Bestätigung seiner Auffassung verweist42 , enthält nichts, was die Tauglichkeit oder auch nur die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise nachweisen könnte. Das Reichsgericht schildert, wie die Umstände beschaffen sein müssen, damit der Begriff "an-sich-bringen" bei der Hehlerei erfüllt ist. Im übrigen wird nur das Ergebnis der Entscheidung wiedergegeben, jegliche Begründung fehlt. Der methodische bzw. dogmatische Nachweis dafür, daß die faktische Betrachtungsweise nützlich und notwendig sei, fehlt damit auch im Rahmen aller Abhandlungen über die Delikte mit egoistischer Innentendenz. Im Gegenteil: Wiesener selbst, der die faktische Betrachtungsweise grundsätzlich für nützlich und notwendig erachtet, hat sogar nachgewiesen, daß im Rahmen dieser Delikte für die faktische Betrachtungsweise kein Platz ist. Die unterschiedliche Auffassung über den Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise selbst unter deren Befürwortern verstärkt den bereits zu Beginn der Arbeit geäußerten Verdacht 43 , daß sich hinter der faktischen Betrachtungsweise die verschiedenartigsten Fallkonstellationen und Aspekte verbergen44 , und damit die Vermutung, daß die faktische Betrachtungsweise mehr Verwirrung schafft als nützt. Zu c) Eine dritte Gruppe umfaßt die sogenannten Sonderdelikte45 • Für sie ist kennzeichnend, daß nicht der anonyme "Wer" Subjekt ist. Recht 1928 Nr. 435. Brons, JZ 1954, 15. 43 Siehe oben S. 20 ff., 25. 44 Zur Lösung der einzelnen Beispiele siehe den dritten Hauptteil dieser Arbeit. 45 Eine umfassende Darstellung und Kritik der Sonderdeliktsdogmatik bringt Langer (Sonderverbrechen, 1972). Er definiert das Sonderverbrechen "als das wegen seines besonderen tatbestandlichen Unrechts nur von bestimmten Personen begehbare, spezifisch geahndete Delikt .... Die begriffsnotwendige spezifische Strafbarkeit ist dann gegeben, wenn der Intraneus ... mit anderer Strafe bedroht ist als der Extraneus." (S. 456). Die Unterscheidung zwischen dem sog. Intraneus und dem sog. Extraneus macht nach Langer die Besonderheit der Sonderdelikte aus. Der Kreis mögli41
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Auf Grund einer näheren Beschreibung im Tatbestand kommen nur bestimmte Personen46 als Täter in Betracht47 • Beispielhaft dafür seien - soweit für die faktische Betrachtungsweise überhaupt interessant die Tätermerkmale "Bevollmächtigter" im Sinne des § 266 StGB, "Kommissionär" im Sinne des § 95 Börsengesetz, "Gläubiger" und "Schuldner" im Sinne des § 288 StGB, "Kraftfahrzeughalter" und "Gewerbetreibender" aufgeführt 48 • Die Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf einen jeweils durch persönliche Merkmale eingegrenzten Personenkreis bringt es mit sich, daß Schwierigkeiten in all den Fällen auftreten, in denen Organe von juristischen Personen oder Stellvertreter an Stelle von juristischen bzw. natürlichen Personen handeln und die im jeweiligen Tatbestand der Sonderdelikte getroffenen Beschreibungen auf die handelnden Personen nicht zutreffen 49 • Die handelnden Organe bzw. Vertreter können daher als Täter nicht bestraft werden. Eine Teilnehmerstrafbarkeit scheidet ebenfalls aus. Entsprechend dem Grundsatz der "Akzessorietät der Haupttat" setzte dies die Strafbarkeit der juristischen bzw. natürlichen Person voraus, für die gehandelt worden ist. Die Möglichkeit strafrechtlicher Haftung der juristischen Person selbst - entsprechend den Grundsätzen einer Verbandshaftung 50 gibt es im deutschen Strafrecht "noch" nicht. cher Täter soll im Hinblick auf das konkrete Rechtsgutsobjekt oder die konkrete Tatsituation jeweils auf den Intraneus beschränkt sein (s. dazu auch Schmidhäuser, Strafrecht - AT, 8/86). Langer beschäftigt sich in seiner Untersuchung allerdings mit den allgemeinen Fragen des Sonderdeliktstäters - so z. B. Täterschaft und Teilnahme bei Sonderverbrechen, Vollendung und Versuch usw. (S. 459 ff.) - , während es in dieser Arbeit um Abgrenzungsfragen geht, die Langer der besonderen Strafrechtslehre zuordnet (s. dazu S. 470). So geht er auf die Problematik der Organ- und Vertreterhaftung nur mit wenigen Sätzen ein und grenzt sie von dem ab, was Untersuchungsgegenstand seiner Arbeit ist (S. 490 f.). Die, wenn auch breite und ausführliche Darstellung der Sonderdelikte durch Langer gibt daher für die in dieser Arbeit interessierenden Auslegungsfragen nichts her. 46 Siehe dazu Jescheck, Lehrbuch, S. 213 f.; Maurach / Zipf, Strafrecht AT 1, § 21 11 Bund C. 47 Zur Erläuterung sei angemerkt, daß diese Umschreibung nur hinsichtlich der konkreten Situation gelten soll, in der nach der Strafbarkeit einer bestimmten Person gefragt wird. Eine ganz andere Fragestellung verfolgt z. B. Armin Kaufmann, wenn er auf Grund seiner überlegungen über die Norm als abstrakte Denkform rechtlicher Gebundenheit zum Ergebnis kommt, jedermann könne Adressat jeder Norm sein (Normentheorie, S. 48 f., 125). 48 Es handelt sich um die Tatbestandsgruppen, mit der sich auch Bruns und Wiesener auseinandergesetzt haben. 49 So leuchtet es auf den ersten Blick z. B. nicht ein, den in der Eigenschaft als Vollstreckungsschuldner wegen Beiseiteschaffung eigenen Vermögens nach § 288 StGB zu bestrafen, der als Vertreter oder im Auftrag des Vollstrekkungsschuldners im zivilprozessualen Sinne dessen Sache vor dem Zugriff der Vollstreckungsgläubiger versteckt. 50 Siehe dazu oben Erster Teil I Fn. 39. 6 Cadus
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Das Zivilrecht hat in solchen Fällen keine Probleme. Eine zivilistische Auslegung 5 !, die es erforderlich macht bzw. zuläßt, die zur Diskussion stehenden Tätermerkmale auf Personen auch im rechtstechnischen Sinne zu beziehen - seien es natürliche Personen, die willensunfähig sind, oder juristische Personen - kann im Zivilrecht in jedem Fall ein Haftungsobjekt ausmachen. Soll diese zivilistische Betrachtungsweise auch im Strafrecht maßgebend sein - mit der Konsequenz, daß weder die handelnden Organe oder Vertreter, noch die juristische Person belangt werden könnten, da die Tätermerkmale der Sonderdelikte ggfs. nur auf die juristische Person zutreffen - , befürchtet Wiesener gewaltige, von ihm offenbar als unbefriedigend empfundene Tatbestandslücken52 • Wiesener hält die faktische Betrachtungsweise für ein geeignetes Instrument, bestehende Lücken auszufüllen und so die Organ- und Vertreterhaftungsprobleme bei den Sonderdelikten im Strafrecht zu lösen 53 • Im einzelnen begründet Wiesener sein Ergebnis mittels folgender Erwägungen: Aus einer normen theoretischen Diskussion der Sonderdelikte - auf die weiter nicht eingegangen zu werden braucht54 zieht er den Schluß, für die Kennzeichnung der Subjekte der besonderen Normen (Sonderdelikte) kämen nur sachliche Umstände - im Gegensatz zu einem personalen Status - in Betracht. Daraus ergebe sich die besondere Pflichtenstellung der in den Sonderdelikten geforderten Subjekte55 • Deren besondere Pflicht könne allerdings nur eine "höchstpersönliche" Pflicht zur Vornahme oder Unterlassung einer Handlung und keine zugerechnete Pflicht i. S. einer rechtlichen Gebundenheit sein56 • Das nach langer und breiter Erörterung gefundene Ergebnis, der Pflichtbegriff sei im Strafrecht ein anderer als im Zivilrecht, stellt keine neue Erkenntnis dar. Zum Zeitpunkt der Untersuchung Wieseners beinhaltete es eine Selbstverständlichkeit5i . Soll der Inhalt dieser So bezeichnet von Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 100. Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 101. Die vorrangige Frage, ob der Gesetzgeber diese Konstellationen überhaupt hat erfassen wollen, hat sich Wiesener nicht gestellt. 53 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 148. 54 Wiesener setzt sich mit der Pflichtenlehre insbes. Armin Kaufmanns (siehe dazu oben Fn. 47) und Roxins (Täterschaft und Tatherrschaft) auseinander; siehe dazu Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 114 ff. 55 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 125. 58 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 143. 57 Siehe dazu Dreher, GA 1969, 56, der nachdrücklich die Entwicklung einer eigenen Begriffsbildung des Strafrechts befürwortet. Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129: "Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken ist heutzutage Allgemeingut cl"" Strafrechtsdogmatik und Strafrechtspraxis geworden." 51
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Aussagen mit dem Gegenstand der faktischen Betrachtungsweise identisch sein, dann bedeutet dies nicht mehr, als daß die faktische Betrachtungsweise für die Forderung nach einer eigenen strafrechtlichen Betrachtungsweise steht. Als solche bringt sie nicht viel, denn sie müßte erst mit Inhalten erfüllt werden, die bei der Einzelauslegung Hilfestellung geben könnten. Die zweite Feststellung, es könne im Strafrecht nur auf eine "höchstpersönliche" Pflicht ankommen, ist ebenso selbstverständlich. Da es im Strafrecht darum geht, ein Verhalten zu erfassen, das gegen eine den Täter als Person treffende Pflicht verstößt und daher das Handeln als sozialethisch verwerflich ausweist, kann nur eine menschliche Handlung als final-kausale Sinneinheit, als "ein von einem subjektiven Sinn getragenes Verhalten" 58 Gegenstand einer Unrechtsbewertung sein. Dies gilt auch material im Anschluß an die von Welzel und Maurach entwickelte finale Handlungslehre, daß das Strafrecht nur unter Berücksichtigung objektiver und subjektiver Elemente bestimmt werden könne, eine rein objektive Deutung des strafrechtlichen Unrechts also ausgeschlossen sei59 • Wäre in einer rein objektiven Unrechtslehre die Verbandsstrafbarkeit eher vertretbar, so ist sie in einer personalen Unrechtslehre nicht vorstellbar. Der in aller Breite geführte Beweis der Eigenständigkeit des Strafrechts und damit der Notwendigkeit einer eigenständigen Auslegung der strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale hat jedoch nicht notwendig zur Konsequenz, daß es dazu auch neuer, eigener Auslegungsmethoden bedürfte. Ob die faktische Betrachtungsweise ein notwendiges oder taugliches Auslegungsinstrument ist, wäre in einem weiteren Schritt erst noch zu untersuchen. Den naheliegenden Weg, die anstehenden Fragen mit dem herkömmlichen methodischen und dogmatischen Instrumentarium zu lösen, schlägt Wiesener nicht ein. Wiesener stellt ohne weitere Begründung fest, daß sich die faktische Betrachtungsweise anbiete, sobald man zur Erkenntnis gekommen sei, daß die zivilistische Betrachtungsweise nichts zu leisten vermöge 60 • Die vorgelagerte Frage, ob die faktische Betrachtungsweise überhaupt eine geeignete Auslegungsmethode im Strafrecht ist, wird auch in diesem Zusammenhang nicht erörtert. Alles, was sich findet, ist ein Verweis auf zuvor erfolgte Darlegungen. Diese sollten allerdings lediglich die Vgl. Gallas, ZStw 67 (1955), 38. Nach Welzel, Lehrbuch, S. 62 macht der personale Aktunwert gar den generellen Unwert aller strafrechtlichen Delikte aus. Vgl. dazu auch Schaffstein, Handlungsunwert, S. 559; zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs siehe neuestens Gallas, Zur Struktur, S. 155 ff. 60 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 146. 58 59
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Existenz - und somit weder Tauglichkeit noch Notwendigkeit - der faktischen Betrachtungsweise anhand der Rechtsprechung von Reichsgericht und Bundesgerichtshof nachweisen 61 . Ein solcher Verweis reicht nicht aus. Die Überprüfung der Rechtsprechung hat nämlich ergeben62 , daß die faktische Betrachtungsweise dieser schlicht unterlegt wurde bzw. noch heute unterlegt wird. Wiesener beschäftigt sich daher nur noch damit, den positiven Gehalt der faktischen Betrachtungsweise (im Hinblick auf die Sonderdelikte) näher zu präzisieren. Im Anschluß an die Feststellung, daß "der Sonderdeliktstäter sich durch einen besonderen Aufgabenbereich innerhalb der sozialen Ordnung auszeichnet, dieser Aufgabenbereich aber nicht nur den Täter, sondern auch 63 gleichzeitig die Situation des Sonderdelikts umreißt"64, kommt Wiesener zu folgendem Ergebnis: "Wenn dieser Gegenstand ein besonderer Aufgabenbereich ist und wenn die Tatbestandshandlung sich gerade auf die Verletzung dieses Aufgabenbereichs bezieht, dann muß jeder, der den Aufgabenbereich tatsächlich inne hat und deshalb überhaupt zu der Tat des Sonderdelikts qualifiziert ist, allein darum auch als Täter qualifiziert sein."64 Dieser Schluß kann weder in der Begründung noch im Ergebnis überzeugen. Es mag zwar im Hinblick auf umfassenden Rechtsgüterschutz kriminalpolitisch wünschenswert sein, eine Inhaltsbestimmung der Sonderdelikte allein mit Hilfe der tangierten Aufgabenbereiche vorzunehmen - ohne Berücksichtigung eines bestimmten persönlichen Status dieses Täters. Dies ist jedoch nur im Rahmen der Wortlautgrenze 65 möglich. Der Gesetzgeber hat gerade darauf verzichtet, die Strafnormen durch Pflichtenbeschreibungen zu definieren und hat persönlichen "objektiven Tätermerkmalen" den Vorzug gegeben. Es ist denkbar und liegt nahe, daß eine Strafnorm, umschrieben durch Pflichten bzw. Funktionskreise, einen weiteren Anwendungsbereich ermöglicht. Eine solche Auslegung läßt jedoch unberücksichtigt, daß Aufgabe des Strafrechts gerade nicht ist, alle möglichen Rechtsgutsverletzungen zu bestrafen, sondern als "ultima ratio" nur besonders schwere Beeinträchtigungen zu erfassen66 . Die "fragmentarische Natur des Strafrechts"G7 81 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 101 ff. 62 Siehe oben Zweiter Teil II 2. 63 Vom Verfasser hervorgehoben, um bereits damit den falschen Umkehrschluß deutlich werden zu lassen. 64 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 147. 65 Zu den verschiedenen Ausprägungen des nulla-poena-Satzes, der das Postulat der Einhaltung der sog. Wortlautgrenze zum Inhalt hat, siehe Schünemann, Nulla poena, m. w. N. 68 Es können daher im Einzelfall auch Gesichtspunkte der Strafbedürftigkeil sein, die es überhaupt nicht erforderlich machen, Vertreter und "Gehil-
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verlangt, das Instrument der Kriminalstrafe nur in besonders herausgehobenen Fällen zu verwenden; nur dann kann das Strafrecht eine erzieherische, generalpräventive Wirkung ausüben 68 • Der Strafgesetzgeber kann und muß die Teilbereiche herausschneiden, die besonders gefährlich sind. Dazu gehören sicherlich die Täter, denen gewisse Primärpflichten obliegen. Die generelle Einbeziehung der Stellvertreter in die strafrechtliche Haftung der Sonderdeliktstatbestände verkennt, daß "ein grundsätzlicher Unterschied besteht69 , ob der einzelne für seine eigene Person verpflichtet ist, oder ob er gehalten ist, die Pflicht eines anderen für diesen zu erfüllen, d. h. einen Erfolg herbeizuführen, wie er durch ein Handeln des Primärverpflichteten erreicht werden würde"70. Nur so ist erklärbar, daß der Gesetzgeber bestimmte Statusbegriffe gewählt hat. Für eine Bewertung strafrechtlich verbotener Verhaltensweisen, die somit nicht nur an Gesichtspunkten der Sozialschädlichkeit ausgerichtet ist, kann die Person des Täters in ihren Beziehungen zur Tat schon im Bereich des Unrechts vOn wesentlicher Bedeutung sein. Es können daher auch objektive Merkmale des Täters oder seine soziale Stellung sein, die das Unwerturteil entscheidend beeinflussen können 71 • Diesen Aspekt läßt Wiesener völlig außer acht, wenn er allen Sonderdelikten pauschal den Gedanken der Erfassung besonderer PflichtensteIlungen unterlegt. Sein Ergebnis hätte vorausgesetzt, jeden Tatbestand darauf zu untersuchen, ob ein derart umfassender Schutz beabsichtigt ist und ob Sinn und Zweck bzw. das zu schützende Rechtsgut einen solchen überhaupt erfordern. Unabhängig davon hätte man sich die Frage stellen müssen, ob auch der Wortlaut der einzelnen Vorschrift - de lege lata - eine solche ausweitende Anwendung zuläßt. Ohne eine Einzeluntersuchung vorgenommen zu haben, unterstellt Wiesener allen Sonderdelikten unabhängig vOn deren typischer Eigenart einen Anwendungsbereich, der persönlich-sachliche Voraussetzungen unberücksichtigt läßt. Dadurch werden Statusbegriffe zu Funkfen" des Sonderdeliktstäters zu erfassen. Diese Entscheidung des Gesetzgebers darf nicht durch die Auslegung von Straf tatbeständen überspielt werden. 67 Zu der von Karl Binding stammenden Formel von dem "fragmentarischen Charakter" des Strafrechts siehe Maiwald, Zum fragmentarischen Charakter, S. 9 ff.; Maurach / Zipf, Strafrecht - AT Teilbd. 1, § 2 111 A (Zipf spricht von der "sekundären Natur des Strafrechts"). 68 Siehe dazu Vogler, ZStW 90 (1978), 144; Roxin, Schuld und Verantwortlichkeit, S. 181 spricht von "plakathaften Grundsatzverboten" . 69 M. E. ist diese Feststellung dahingehend abzuschwächen, daß "ein Unterschied darin bestehen kann". 70 Blauth, Handeln für einen anderen, S. 81. 71 Vgl. dazu BZauth, Handeln für einen anderen, S. 71.
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
tionsbeschreibungen umgedeutet. Die vom Gesetzgeber gewählten Statusbezeichnungen können jedoch auch nach dem sozialen Sprachgebrauch an der im Gesetz beschriebenen Person haften und sind dann einem funktionalen Verständnis nicht zugänglich. "Ein Arbeitgeber ist nun einmal - und insoweit decken sich zivilrechtliche Bedeutung und sozialer Sprachgebrauch - nicht schon derjenige, der für den Arbeitgeber irgendwelche Funktionen ausübt, sondern allein der Inhaber des Unternehmens selbst."72 Es sei nicht verkannt, daß eine funktionale Auslegung im Einzelfall zulässig oder gar erforderlich sein mag - als generelle These läßt sich die These Wieseners jedoch nicht halten. Das Beispiel des § 288 StGB sei zur Illustrierung erörtert. Der Gesetzgeber hat die Strafbarkeit nach § 288 StGB deshalb auf die Person des Schuldners beschränkt, weil dem geschützten Rechtsgut - dem Vermögen des Gläubigers - von seiten des Schuldners besondere Gefahren drohen. Bei der Durchsetzung seiner Vermögensinteressen will der Gläubiger auf das Vermögen des Schuldners zurückgreifen. Das hat zwangsläufig zur Folge, daß der psychologische Anreiz, Vermögensgegenstände dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen, für den Schuldner sehr viel größer ist als für Dritte - seien es auch Vertreter des Schuldners. Es sprechen daher gute Gründe dafür, als Vollstreckungsschuldner des § 288 StGB nur den aus sachlich-rechtlichem Grund Verpflichteten zu bestrafen. Darüber hinaus verbietet es der Wortlaut denn damit werden die Grenzen der Auslegung verlassen - , den als Schuldner zu bezeichnen, bei dem von einer sachlich-rechtlichen Verpflichtung keine Rede sein kann. Die Bemühungen, in der Literatur Ausführungen über die Herleitung und Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise zu finden, bleiben damit weiter erfolglos. Ausführungen darüber, weshalb gerade die faktische Betrachtungsweise die Organ- und Vertreterhaftungsprobleme bei den Sonderdelikten soll lösen können, fehlen ebenso wie eine Beschreibung des die faktische Betrachtungsweise bestimmenden Bedeutungsinhalts. Die Feststellung, daß es besondere Aufgabenbereiche sind, die "der Täter tatsächlich übernommen hat"73, ist für Wiesener bereits Grund genug, die Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise für die Sonderdelikte zu konstatieren: "Die faktische übernahme begründet die PflichtensteIlung des Sonderdeliktstäters, aus der sich seine besondere Pflicht ergibt, das ihm wegen seiner faktischen Stellung zugängliche Rechtsgut nicht zu verletzen. Das ist der dogmatische Hintergrund der faktischen Betrachtungsweise."73 72 Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 12 zu § 14. 73 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 148.
II. Inhaltliche Konturierung
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Dennoch konnten gerade durch die nähere Befassung mit den Sonderdelikten Erkenntnisse gewonnen werden, die über die allgemeinen Fragen der Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise hinausgehen. Sie zeigen, daß eine schematische Behandlung der Sonderdelikte, wie sie von Wiesener vorgenommen wurde, nicht zulässig ist. Allein das spricht schon gegen die faktische Betrachtungsweise als ein Auslegungsprinzip im Strafrecht. Zu d) Die Gruppe der Tatbestände, die eine gewisse Zuordnung von Vermögensgütern zum Täter voraussetzen, soll lediglich am Rande gestreift werden, zumal Wiesener selbst ihr nur wenige Bemerkungen zukommen läßF4. Sie umfaßt die Tatbestände des "VereiteIns der Zwangsvollstreckung" und des "unbefugten Gebrauchs von Pfandsachen" (§§ 288, 290 StGB)15. Für die faktische Betrachtungsweise sollen insbesondere die Tatbestandsmerkmale "Bestandteile seines Vermögens" und "die von ihnen in Pfand genommenen Gegenstände" von Interesse sein 75 . Die "Notwendigkeit"76 einer strafrechtlichen Erfassung auch der Stellvertreter veranlaßt Wiesener dazu, den Anwendungsbereich des § 288 StGB mittels der faktischen Betrachtungsweise über die Beiseiteschaffung eigenen Vermögens hinaus zu erweitern77 . Da für Wiesener als gesichert feststehF8, daß die faktische Betrachtungsweise immer dann anzuwenden ist, wenn es um die Strafbarkeit von Vertretern und Organen geht - unabhängig davon, welcher einzelne Tatbestand gerade betroffen ist - , erscheint ihm eine eigenständige Begründung nicht mehr erforderlich. Daß die Erfassung von Stellvertretern auch trotz des Tatbestandsmerkmals "Bestandteile seines Vermögens" in § 288 StGB möglich sei, sei nur noch eine "Auswirkung der faktischen Betrachtungsweise von Tätermerkmalen auf den übrigen Tatbestand"79. 4. Die punktuelle Verwendung der faktischen Betrachtungsweise
Diese Untersuchung bliebe unvollständig, würde sie nur alle die Aussagen in der Literatur berücksichtigen, die sich mit der faktischen Betrachtungsweise im Grundsatz beschäftigt haben. Es ist zumindest Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 180 ff. Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 24. 76 Die vorrangige Frage, ob der Gesetzgeber diese Konstellationen überhaupt hat erfassen wollen bzw. ob diese vom Anwendungsbereich der entsprechenden Vorschrift erfaßt werden können, hat sich Wiesener nicht gestellt. 77 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 182. 78 Seine Ergebnisse hinsichtlich der anderen Tatbestandsgruppen haben ihn jedenfalls zu dieser Feststellung veranlaßt. 79 So die überschrift des entsprechenden Kapitels bei Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 180. 74 75
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
denkbar, daß auch kurze Beiträge anderer Befürworter einer faktischen Betrachtungsweise die sie maßgeblich bestimmenden Gesichtspunkte aufdecken könnten. Die bisherige Darstellung beschränkte sich auf Zitate aus Rechtsprechung oder Literatur, die sich mit dem Phänomen "faktische Betrachtungsweise" befassen. Damit ist der Kreis derer, die auf die faktische Betrachtungsweise in irgendeiner Form zurückgegriffen haben, jedoch nicht erschöpft. a) Die faktische Betrachtungsweise
bei den Gesetzesberatungen
Bereits in den Beratungen zum Thema "Handeln für einen anderen" im Jahre 1959 - § 14 E 1958/§ 15 E 195980 - stand die Frage zur Diskussion: Können nach dem Gesetzeswortlaut auch die erfaßt werden, die zwar als Organ bzw. Vertreter gehandelt haben, aber nicht wirksam bestellt worden waren, oder bedarf es dazu einer weiteren Vorschrift? Die Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums glaubten, auf eine zusätzliche Regelung verzichten zu können81 • Sie vertrauten darauf, daß "die Rechtsprechung mit Hilfe einer faktischen Betrachtungsweise, die insoweit angemessen ist, zum richtigen Ergebnis kommt". Ein Hinweis auf die faktische Betrachtungsweise ist allein jedoch nicht ausreichend, dieser einen eigenständigen Stellenwert zu verschaffen. Die Berufung auf Autoritäten vermag dies ebensowenig. Dies gilt um so mehr, als die überprüfung der Rechtsprechung gezeigt hat, daß die faktische Betrachtungsweise ihr schlicht unterstellt worden ist. Schließlich zeigt die Aufnahme einer entsprechenden gesetzlichen Regelung S2 , daß man im Ergebnis gerade nicht auf die Auslegung mittels der faktischen Betrachtungsweise vertraut hat. Die endgültige Klärung dieser Frage im Rahmen einer im Gesetz selbst festgeschriebenen Regelung stellt damit eher eine Absage an die faktische Betrachtungsweise dar s3 • 80
81
Niederschriften, Bd. XII 1959, S. 544 ff. Niederschriften, Bd. XII 1959, S. 544.
82 Durch EGOWiG vom 24. Mai 1968, BGBl I 503 wurde § 50 a a. F. (= § 14 StGB) in das StGB eingefügt. § 50 a Abs. 3 dehnte den Anwendungsbereich der Absätze 1 und 2 auch auf die Fälle aus, in denen die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist. 83 Der Auffassung von Bruns, GA 1982, 12 f., § 14 Abs. 3 (= § 50 a Abs. 3 a. F.) StGB enthalte ein wichtiges und typisches Beispiel für die Anerkennung der tatsächlichen (faktischen) Betrachtungsweise, kann daher nicht gefolgt werden. Im übrigen stellte es auch ein ungewöhnliches Verfahren dar, Auslegungsregeln im Gesetz mit aufzunehmen. Eingehend dazu siehe unten Dritter Teil 11 2.
11. Inhaltliche Konturierung
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b) Die faktische Betrachtungsweise in der Literatur Belege in der Literatur, in denen die faktische Betrachtungsweise als existent zur Kenntnis genommen oder gar als nützlich anerkannt wird, sind spärlich. Eine Verwendung erfolgt jeweils ohne Auseinandersetzung mit ihr, al1enfal1s mit einem Verweis auf Zitate aus der Rechtsprechung. Der Begriff "faktische Betrachtungsweise" taucht nur sporadisch auf, wobei unklar bleibt, ob er nicht nur zur bildhaften Umschreibung eines bereits gefundenen Ergebnisses oder des zugrundeliegenden Sachverhalts dient. Roxin 84 konstatiert die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise durch die Literatur als Auslegungshilfe für die Fäl1e des VertreterhandeIns. Er selbst schränkt ihren Anwendungsbereich ein85 , ohne weiter auf sie einzugehen. Umfassender beschäftigt sich mit der faktischen Betrachtungsweise Sandrock86 , der sie für ein im Strafrecht anerkanntes und etabliertes methodisches Hilfsmittel hält. Seine Auffassung wurde bereits oben dargestellt 87 , so daß es hier keiner weiteren Erörterungen mehr bedarf. Schünemann88 erwähnt die faktische Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Diskussion der Delikte, die den Täterkreis durch eine bestimmte Charakterisierung der Tathandlung begrenzen (z. B. § 286 StGB). Er hält die faktische Betrachtungsweise insoweit nach wie vor für einleuchtend, ohne sich freilich weiter mit ihr auseinanderzusetzen, so z. B. mit der Frage, wie die faktische Betrachtungsweise einzuordnen und welche Bedeutung und welcher Inhalt ihr beizumessen sei. Die starke Einschränkung des Anwendungsbereichs al1erdings läßt vermuten, daß Schünemann kaum von der faktischen Betrachtungsweise als einem al1gemeingültigen Auslegungsprinzip ausgeht, wie sie z. B. von Wiesener oder Bruns verstanden wird. Die für die Lösung der von Schünemann angesprochenen Konstel1ationen überzeugende Begründung sol1 an dieser Stel1e nur angedeutet werden89 • Der faktischen Betrachtungsweise bedarf es nicht, da z. B. § 286 StGB die soziale Funktion oder die Pflicht, an die die Haftung anknüpfen soll, unmittelbar selbst beschreibt. Eine Auslegung nach Sinn und Zweck in den Grenzen des Wortlauts - und damit mit herkömmlichen Methoden - läßt es zu, auch sogenannte Ersatzvertreter 84 85
88 87 88
89
Roxin, in: Leipz. Komm., Rnrn. 2, 4, 6 zu § 14. Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 11 zu § 14. sandrock, Wirtschaftsordnung, S. 43 ff., 47 ff.
Siehe oben S. 28.
Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 141 f.
Siehe dazu ausführlich unten Dritter Teil IV 3 c.
2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
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unmittelbar zu erfassen, solange sie die im Tatbestand aufgestellten weiteren Bedingungen erfüllen. Beachtung findet die faktische Betrachtungsweise schließlich bei Herzberg 90 , der sich jedoch weder für noch gegen sie ausspricht. Herzberg übersieht, daß die faktische Betrachtungsweise als Lösungsprinzip aller Vertreterfälle und Sonderdelikte inadäquat ist. Eine Ablehnung der faktischen Betrachtungsweise setzt er offensichtlich gleich mit der Ablehnung der Eigenständigkeit des Strafrechts und einem Festhalten der Straftatbestände streng an ihrem "ursprünglich zivil- oder verwaltungsrechtlichen Sinn". Es ist leicht einsichtig, daß Herzberg mit dieser Annahme kaum zu einer klaren Ablehnung der faktischen Betrachtungsweise kommen kann. Andererseits muß ihm zum Vorwurf gemacht werden, daß er konkrete Aussagen zum Inhalt der faktischen Betrachtungsweise nicht gemacht hat. Auf die Diskussion weiterer Stellungnahmen zur faktischen Betrachtungsweise kann an dieser Stelle verzichtet werden. Ihre vollständige Erörterung bleibt dem dritten Hauptteil der Arbeit vorbehalten, da sie zur inhaltlichen Fundierung der faktischen Betrachtungsweise nichts weiter beitragen kann. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Versuche, die Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise von der extensionalen Seite her vorzunehmen, erfolglos geblieben sind. Die Durchforstung von Rechtsprechung und Literatur hat gezeigt, daß die faktische Betrachtungsweise als Auslegungsprinzip zwar verwendet wird - wenn sie auch der Rechtsprechung zumeist nur zugeschrieben worden ist -, daß auf der anderen Seite jedoch Aussagen zu ihrer dogmatischen Bedeutung, ihrem Stellenwert und ihren Inhfllten fehlen. Es bleibt damit weiter unklar, was sich hinter der faktischen Betrachtungsweise eigentlich verbirgt. Dies verwundert um so mehr, als eine Paralleldiskussion im Zivilrecht bzw. Steuerrecht mit erheblichen inhaltlichen Auseinandersetzungen bereits geführt worden ist 91 • Auf die "Begründung" der faktischen Betrachtungsweise im Strafrecht blieb diese Diskussion jedenfalls ohne Einfluß. Dieses Ergebnis ist sicherlich enttäuschend, soweit man sich gerade durch eine extensionale Betrachtung Aufschluß über das Wesen der faktischen Betrachtungsweise erhofft hatte. Es ist jedoch zumindest denkbar, daß sowohl Rechtsprechung als auch Literatur durchaus zutreffend von einem inhaltlich hinreichend bestimmten Grundsatz der 90 91
ZStW 88 (1976), 117. Siehe dazu oben Erster Teil III 2; 3.
Herzberg,
11. Inhaltliche Konturierung
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faktischen Betrachtungsweise ausgehen und es bisher lediglich versäumt worden ist, diese Inhalte transparent zu machen. Im folgenden soll daher eine begriffliche Klärung anhand eigener Überlegungen versucht werden. Einer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Möglichkeiten des Begriffsverständnisses der faktischen Betrachtungsweise wird die Untersuchung des semantischen Spielraums vorgeschaltet, der die Grenzen der Auslegung absteckt. 5. Eigene tJberlegungen zum Inhalt der faktischen Betrachtungsweise
a) Vorbemerkungen zum semantischen Gehalt
Wörterbücher der deutschen Sprache umschreiben den Begriff ,,faktisch" mit "tatsächlich, im Hinblick auf die Fakten, in Wirklichkeit"92 oder "den Fakten entsprechend, in Wirklichkeit, tatsächlich, wirklich"93. Im Zusammenhang mit dem jeweils erläuternden Beispiel seiner Verwendung in einem bestimmten Kontext lassen sich folgende Gruppen seines Verständnisses unterscheiden: Zum einen kennzeichnet der Begriff "faktisch" die Verstärkung einer Aussage, eines Zustandes, einer Entwicklung oder ähnlichem94 - so z. B. in der Redewendung "die Verordnung besteht faktisch schon seit einigen Wochen". Daß ein solches Verständnis von faktisch für die faktische Betrachtungsweise nicht in Betracht kommt, ergibt sich daraus, daß diese einen originär eigenen Gegenstand bezeichnen soll. In den Redewendungen "eine schnelle Benachrichtigung war faktisch unmöglich", "die Verordnung ist faktisch aufgehoben" oder "wenn das so weitergeht, müßte ich faktisch auswandern" steht faktisch gleichbedeutend für "so gut wie, eigentlich, praktisch, quasi"95. Auch ein solches Verständnis von faktisch scheidet für unsere Betrachtung ersichtlich aus. Auf der anderen Seite erscheint der Begriff "faktisch" in folgendem Kontext: er kennzeichnet, wie eine Aussage, ein Zustand, eine Entwicklung oder dergleichen bei "realistischer" Betrachtung empfunden und erlebt wird. Folgende Redewendungen bringen dies plastisch zum Ausdruck: "Der faktische Nutzen einer Reform", "faktisch wurde nur der Schein gewahrt" oder "faktisch blieb alles beim alten". "Faktisch" 92 Brockhaus / Wahrig, Deutsches Wörterbuch, S. 655. Duden, Das große Wörterbuch, S. 790. U4 Siehe dazu Klappenbach, Wörterbuch, S. 1199. 95 Beheimatet ist diese Art der Verwendung in der österreichischen Umgangssprache; siehe dazu Duden, Das große Wörterbuch, S. 790 Stichwort "faktisch" b). 93
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
wird hier i. S. von "in Wirklichkeit, den Tatsachen entsprechend" gebraucht. Die faktische Betrachtungsweise brächte, so verstanden, zum Ausdruck, daß dem tatsächlichen Verlauf der Dinge Rechnung getragen werden muß, ohne Beschönigung, ohne Hinzufügen oder Weglassen irgendwelcher vorgestellter oder intendierter und damit täuschender oder gar verfälschender Gesichtspunkte. Klärungs- bzw. präzisierungsbedürftig wäre dann allerdings die Frage, welche Tatsachen bzw. entsprechend welchen Tatsachen "faktisch" ausgelegt werden soll. In den folgenden Abschnitten sollen alle denkbar möglichen Bedeutungsinhalte der faktischen Betrachtungsweise beleuchtet werden. Ausgangspunkt wird dabei ein möglichst weites Verständnis ihres Anwendungsbereichs sein, das schrittweise konkretisiert wird. Die Konkretisierung selbst erfolgt auf Grund eines jeweils spezifischer werdenden Vorverständnisses über den Inhalt dessen, was mit der faktischen Betrachtungsweise ausgedrückt sein kann. Es sollen jedoch auch Möglichkeiten eines Begriffsverständnisses einbezogen werden, die für ein Rechtsprinzip ungewöhnlich sind, um damit alle "Spielräume" des Begriffs "faktische Betrachtungsweise" ausloten zu können. Am Anfang steht eine Betrachtung, die an Inhalt und Intention der herkömmlichen Auslegungsmethoden ausgerichtet ist.
b) Indikator einer spezifisch strafrechtlichen Auslegung Beurteilungsgegenstand bei der Auslegung ist jeweils eine Gesetzesvorschrift. Sie wird unter Einhaltung von Regeln (methodischer oder dogmatischer Art) daraufhin untersucht, ob deren Bedeutungsinhalt einen ihr zur Beurteilung zugrundeliegenden Sachverhalt einschließt. Dazu werden die unterschiedlichsten Aspekte herangezogen. Versteht man die faktische Betrachtungsweise in diesem Sinne, so besagt sie: Es ist auf Fakten zurückzugreifen - das, was tatsächlich, in Wirklichkeit zugrunde liegt. Die herkömmlichen Methoden geben demgegenüber an, welche speziellen Fakten bzw. Gesichtspunkte zu beachten sind. Ohne ein weiteres Vorverständnis 96 kann der faktischen Betrachtungsweise daher kein konkretisierbarer Inhalt beigemessen werden, der den herkömmlichen Methoden, was deren inhaltliche Bestimmtheit angeht, zumindest gleichkommt. Ein solches Vorverständnis könnte sich nun freilich aus folgendem Zusammenhang ergeben: Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise 98 In der Art und Weise, daß der Begriff der faktischen Betrachtungsweise ganz bestimmte Aspekte automatisch ins Bewußtsein treten läßt. Zum Begriff des "Vorverständnisses" siehe Esser, Vorverständnis.
11. Inhaltliche Konturierung
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taucht insbesondere dann auf, wenn es um die "Eigenständigkeit des Strafrechts" bzw. die "Einheit der Rechtsordnung" geht. Daraus könnte man schließen, die faktische Betrachtungsweise sei eine allgemeine Lösungshilfe in allen Fällen, in denen Begriffe aus anderen Rechtsgebieten auch im Strafrecht verwendet werden. Die Aufgabe der faktischen Betrachtungsweise bestünde dann lediglich in einem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß bei der Auslegung im Strafrecht die Bedeutungsinhalte gleichlautender Begriffe aus anderen Rechtsgebieten (Zivilrecht, Öffentliches Recht usw.) nicht automatisch übernommen werden können. Dies besagt nicht mehr als der sicherlich wichtige, wenn auch sehr allgemeine Grundsatz: Im Strafrecht bedarf jeder Begriff einer eigenständigen Auslegung und Bewertung. Dabei ist entsprechend den Zielsetzungen des Strafrechts, seinen Geboten und Verboten zu verfahren. Ein derartiger Grundsatz bedarf heute kaum mehr besonderer Hervorhebung. Zwar wurde seit der Arbeit von Bruns "Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken" um die Durchsetzung dieser Einsicht erst gerungen, heute ist deren Anerkennung jedoch eine Selbstverständlichkeit. Im übrigen bestehen auch Bedenken, die faktische Betrachtungsweise als Merkmal zur Durchsetzung strafrechtlicher Zielsetzungen zugrunde zu legen. Die Er~enntnis, daß das Strafrecht einer spezifisch strafrechtlichen Auslegung bedarf, bringt die Eigenständigkeit des Strafrechts plastischer zum Ausdruck als der Begriff der faktischen Betrachtungsweise. In diesem Zusammenhang verwirrt die faktische Betrachtungsweise daher mehr, als sie an Gewinn bringen könnte. c) Indikator für die Identität strafrechtlicher Bedeutungsinhalte
Im Hinblick auf das oben bereits angezogene Stichwort "Einheit der Rechtsordnung" liegt es nahe, von einer faktischen Betrachtungsweise in all den Fällen zu sprechen, in denen Vorwertungen aus anderen Rechtsgebieten bei gleichlautender Verwendung eines bestimmten Begriffs im Strafrecht als Faktum übernommen werden (müssen). Dagegen sprechen indes nahezu alle Beispiele der Verwendung der faktischen Betrachtungsweise. Das Beispiel des Kommissionärs in § 95 Börsengesetz sei exemplarisch herausgegriffen. Es macht deutlich, daß die faktische Betrachtungsweise diese Intention nicht verfolgt. Bei übernahme der zivilrechtlichen Vorwertung hätte der Begriff des Kommissionärs in § 95 Börsengesetz, in solchem Sinne faktisch betrachtet, folgenden Inhalt: Das Faktum - nämlich der Bedeutungsinhalt des Begriffs Kommissionär in §§ 383 ff. HGB - müßte auch im Börsen-
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
gesetz übernommen werden, so daß eine im Strafrecht eigene "rechtliche" Betrachtungsweise entbehrlich wäre. Kommissionär wäre dementsprechend auch im Strafrecht nur "die Person, die es gewerbsmäßig übernommen hat, Waren oder Wertpapiere für Rechnung eines anderen im eigenen Namen zu kaufen oder zu verkaufen". Zu einem solchen Ergebnis kommen die Befürworter der faktischen Betrachtungsweise gerade nicht. Ihr Ansatzpunkt für die faktische Betrachtungsweise ist ein entgegengesetzter. Der zivil- bzw. handelsrechtliche Inhalt des Begriffs "Kommissionär" soll im Strafrecht nicht übernommen, sondern erweitert werden 97 • Kommissionär im Sinne des § 95 Börsengesetz soll auch derjenige sein können, der als Vertreter einer Personenhandelsgesellschaft das Geschäft für diese und damit im fremden Namen ausführt. Die faktische Betrachtungsweise scheint somit eher ein Auslegungsinstrument für die Konstellationen zu sein, in denen einem in mehreren Rechtsgebieten verwendeten gleichlautenden Begriff ein im Strafrecht eigenständiger, im konkreten Falle unterschiedlicher, weiterer Bedeutungsinhalt zukommen soll. Folgendes Beispiel unterstreicht das: Man könnte z. B. gerade bei der Auslegung des Begriffs "Eigentum" in § 242 StGB daran denken, der Tatsache, daß wirtschaftliches Eigentum nicht geschützt und der Eigentumsbegriff damit streng an zivilistische Voraussetzungen gekoppelt sein soll, durch den Hinweis auf die Notwendigkeit einer faktischen Betrachtungsweise Rechnung zu tragen. Das Faktum des zivilistischen Eigentumsbegriffs auch in § 242 StGB würde durch die faktische Betrachtungsweise markiert - im Gegensatz z. B. zum Steuerrecht, das das wirtschaftliche Eigentum im Gesetz selbst berücksichtigt98 • In diesem Zusammenhang wird die faktische Betrachtungsweise jedoch nie verwendet. d) Verbot der Übernahme bestimmter zi vil reeht lieher B edeu tungsinhalte
Die gerade entgegengesetzte Intention verfolgt ein Verständnis der faktischen Betrachtungsweise als eines Auslegungsprinzips, das in all den Fällen bzw. Fallgruppen Anwendung finden soll, in denen bei gleichlautendem Begriff im Strafrecht die Vorwertungen anderer Rechtsgebiete nicht übernommen werden können. Eine solche Verwen97 Zur Auslegung des Begriffs "Kommissionär" in § 95 Börsengesetz siehe unten Dritter Teil IV 4 a. 98 Zum wirtschaftlichen Eigentum und dessen rechtlicher Bedeutung im Steuerrecht vgl. Pauliek, Steuerrecht, Rnm. 328 ff., 335 (Sicherungsübereignung, Treuhandverhältnis, Eigenbesitz, Gesamthandeigentum); vgl. dazu § 39 Abs. 2 Abgabenordnung.
11. Inhaltliche Konturierung
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dung der faktischen Betrachtungsweise trifft den Bedeutungsinhalt der faktischen Betrachtungsweise sicherlich am besten, obgleich damit nur eine sehr allgemeine Beschreibung der Intension übrigbleibt. Die Funktion der faktischen Betrachtungsweise bestünde lediglich darin, darauf aufmerksam zu machen, daß bei bestimmten Fallkonstellationen die "zivilistischen Anforderungen" nicht übernommen werden dürfen. Bei § 286 StGB etwa hätte die faktische Betrachtungsweise die Funktion, darauf hinzuweisen, daß der Bedeutungsinhalt des Begriffs "Veranstalter" entgegen der "zivilistischen Auslegung" nicht auf den beschränkt sein soll, der im eigenen Namen und auf eigene Rechnung handelt. Die faktische Betrachtungsweise würde damit auf eine Indikatorfunktion reduziert, mittels deren lediglich bereits zuvor gefundene Ergebnisse abgerufen werden. Die faktische Betrachtungsweise kann bei solchem Verständnis nicht angeben, wann anders ausgelegt werden muß und was dabei zu beachten ist. Sie würde das Ergebnis voraussetzen und erhielte einen Stellenwert, der bei weitem nicht mehr den Ansprüchen genügt, die an ein verbindliches Rechtsprinzip gestellt werden 99 • Aber selbst ein derart wenig ertragreiches Begriffsverständnis hält nicht einmal unter dem Aspekt der Ergebnisrichtigkeit einer Überprüfung stand. Die faktische Betrachtungsweise würde (im vorstehenden Sinn verstanden) auch vor der Übernahme zivilrechtlicher Begriffsinhalte dort warnen, wo diese in Wahrheit gerade zu übernehmen sind - vgl. dazu die Beispiele des Vollstreckungsschuldners in § 288 StGB und des Kommissionärsbegriffs in § 95 Börsengesetz 1oo • Die faktische Betrachtungsweise im oben verstandenen Sinn hat damit nicht nur keinen eigenen Inhalt, sondern führt auch zu falschen Ergebnissen bzw. läßt solche zu und versperrt den Weg zu den richtigen Lösungen. Im übrigen zeigt die "Entstehungsgeschichte" der faktischen Betrachtungsweise in den einzelnen Urteilen der reichsgerichtlichen Rechtsprechung, daß ihr eine Indikatorwirkung im Sinne eines Übernahmeverbots von Bedeutungsinhalten bestimmter Begriffe aus außerstrafrechtlichen Gebieten nicht beigemessen wurde. In allen Beispielen waren die Obergerichte im Gegenteil bemüht, im Sinne des Grundsatzes der "Einheit der Rechtsordnung" davon auszugehen, daß Bedeutungsinhalte identischer Begriffe sich decken, auch wenn sie in unterschiedlichen Rechtsmaterien verwendet werden. 99 Daß die entsprechenden Ergebnisse mittels Angabe von Gründen nachvollzogen und damit einleuchtender anhand der herkömmlichen Methoden gefunden werden können, wird die überprüfung der Einzelbeispiele im 3. Hauptteil der Arbeit zeigen. 100 Siehe dazu im einzelnen unten Dritter Teil IV 4 b; a.
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur e) Auslegungshilfe bei geänderten Umständen
Einen ganz anderen Aspekt berücksichtigen die folgenden Überlegungen: Die faktische Betrachtungsweise wird des öfteren dann bemüht, wenn ein Sachverhalt als strafwürdig und strafbedürftig erachtet wird, die herkömmlichen Auslegungsmethoden dessen strafrechtliche Erfassung jedoch nicht zulassen. Dies soll insbesondere dann gelten, wenn der zu entscheidende Fall sich in seinen Auswirkungen von einem vergleichbar strafbaren Fall nur schwer unterscheiden läßt. Beispielhaft sei der "Vollstreckungsschuldner" (§ 288 StGB) genannt, der in der Gestalt einer juristischen Person auftritt, die ihrerseits durch Organe oder Vertreter handelt. Die faktische Betrachtungsweise wäre so verstanden ein Auslegungsinstrument, das veränderten bzw. im Gesetzgebungsverfahren nicht vorhergesehenen tatsächlichen äußeren Umständen - so der Tatsache, daß nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen als Vollstreckungsschuldner auftreten können Rechnung tragen kann. Gegen eine solche Verwendung der faktischen Betrachtungsweise sprechen allerdings grundlegende, spezifisch strafrechtliche Einsichten. Ein Tatbestandsmerkmal wie das des Vollstreckungsschuldners in § 288 StGB hat vor allem unter dem Blickwinkel des Bestimmtheitsgebots strafrechtlicher Tatbestände die Funktion, durch seine Wortbedeutung die vom Gesetzgeber intendierten Sachverhalte so präzise wie nur möglich zu erfassen. Dennoch muß es sich auch eine weitere Auslegung innerhalb des gesamten Spielraums, der zwischen Begriffskern und Wortlautgrenze liegt, gefallen lassen. Damit sind jedoch die Grenzen der Auslegung markiert. Ein Tatbestandsmerkmal hat nicht die Funktion, unter allen Umständen den BedeutungsinhaIt einer Norm anhand kriminal politischer Erfordernisse zu bestimmen, sondern umgekehrt: Die spezifische Funktion der Tatbestandsmerkmale liegt darin, in den Grenzen ihres äußersten Begriffsverständnisses festzulegen, welche Einschränkungen sich die Auslegung auch bei kriminalpolitischer Erforderlichkeit gefallen lassen muß101. Sobald ein Sachverhalt trotz grundsätzlich zu bejahender Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit - nicht mehr vom äußersten Begriffsverständnis gedeckt ist, bleibt lediglich der Ruf nach dem Gesetzgeber. Für die faktische Betrachtungsweise bedeutet dies: Eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung durch die faktische Betrachtungsweise zur Erreichung kriminalpolitisch erstrebenswerter Ziele stellt 101 In einem vergleichbaren Zusammenhang ebenso Frisch, Funktion und Inhalt, S. 656; zu den Grenzen der Auslegung siehe auch Schünemann, Nulla poena, mit vielen Nachweisen.
II. Inhaltliche Konturierung
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keine zulässige Auslegung mehr dar, dringt in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers ein und verstößt eindeutig gegen das Gewaltenteilungsprinzip. So kann also "faktische Betrachtungsweise", sinnvoll verstanden, letztlich nicht gemeint sein. f) Hilfsmittel zur Beurteilung des Sachverhalts
Ein Blickwechsel ist erforderlich, betrachtet man die faktische Betrachtungsweise als ein Instrument im richtigen Umgang mit dem im Einzelfall zu beurteilenden Sachverhalt. "Faktisch betrachten" hieße, die zugrundeliegenden Umstände so zu sehen, wie sie sich tatsächlich darstellen, und nicht, wie sie zu sein scheinen. Die faktische Betrachtungsweise würde so verstanden am ehesten den Ergebnissen der semantischen Vorüberlegungen entsprechen und bildete den traditionellen Gegensatz zur normativen Qualität einer Gesetzesbetrachtung. Eine Auslegungshilfe für den Rechtsanwender im so verstandenen Sinn - mag damit eine lebensnahe Auslegung, eine auch dem Laien verständliche Interpretation oder was auch immer gemeint sein - ist jedoch etwas von einer Auslegungsmethode im herkömmlichen Sinn völlig Verschiedenes. Es handelt sich um das Problem der Interpretation und Bewertung eines unklaren Sachverhalts. Diese Fragen sind jedoch - vom Richter vor der eigentlichen Rechtsanwendung - gern. § 261 StPO nach freier, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (freie Beweiswürdigung) und nicht nach Auslegungsgrundsätzen zu entscheiden. Diese befassen sich nicht mit der Auslegung eines streitigen Sachverhalts, sondern mit der Auslegung von Rechtsvorschriften.
g) Hinweis auf eine allgemeinverständliche Auslegung Es bleibt schließlich die Möglichkeit, unter der faktischen Betrachtungsweise weniger eine rechtliche, normative Auslegungsmethode zu verstehen als im Gegensatz dazu eine Gesetzesauslegung, wie sie vom unbefangenen Normunterworfenen vorgenommen wird - im Gegensatz zum Juristen bzw. Rechtsanwender, der auf Grund seines Vorverständnisses hinsichtlich der Kriterien und Regeln, nach welchen er eine Norm auslegt, als "befangen" angesehen werden müßte. Ein solches Verständnis liegt gerade im Strafrecht als einer Materie nahe, die sub specie des Subsidiaritätsprinzips lo2 nur den Schutz der 102 Zum Subsidiaritätsprinzip allgemein und auch insbesondere für das Strafrecht siehe Kaufmann, Subsidiaritätsprinzip, S. 89 ff., 100 ff. mit vielen weiteren Nachweisen.
7 Cadus
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
Rechtsgüter zum Ziel hat, die die Mindestbedingungen menschlichen Zusammenlebens gewährleisten und daher von allen Normunterworfenen ohne weiteres verstanden werden sollten. Es könnte sich also um eine "endlich" jedermann verständliche und nachvollziehbare lebensnahe Normkonkretisierung von im allgemeinen unverständlichen Normen handeln. Rechtliche - normative - Erwägungen, die beim Bürger oft auf wenig Verständnis stoßen und ihm eher den Vorwurf der Rechtsverdreherei entlocken, blieben im Rahmen einer solchen faktischen Betrachtungsweise ein Fremdkörper. Erreicht wäre sicher ein Fortschritt in Richtung bürgernaher Gesetze, deren Wortlaut dem Laien kaum, oft sogar überhaupt nicht verständlich ist. Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit, die Richtigkeit der Ergebnisse empirisch zu überprüfen und intersubjektiverfahrbar zu machen. Ob eine solche "Methode" zu interessengerechten Ergebnissen kommen kann, muß allerdings bezweifelt werden. Offen ist, wer überhaupt entscheiden SOll103. Offen bleibt weiter, ob eine solche Auslegung zu einem Konsens gelangen könnte und wie dieser im Einzelfall festgestellt werden sollte; man denke nur daran, daß die einzelnen Strafvorschriften in den verschiedenen Bevölkerungskreisen völlig kontrovers diskutiert und daher auch mit völlig unterschiedlichen Intentionen angegangen und nach unterschiedlichen Maßstäben entschieden würden. Abgesehen von all diesen praktischen Schwierigkeiten bestehen auch rechtliche Bedenken. Angedeutet wurde bereits die Frage, wer künftig entscheiden soll. Es muß bezweifelt werden, ob das im Strafrecht grundlegende Prinzip "nulla poena sine lege" im Einzelfall eingehalten würde. Eine solche "Methode" negiert schließlich, daß auch die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals ebenso der Legitimation bedarf wie die Setzung der Norm selbst - auch die Auslegung darf nur nach festgelegten Regeln erfolgen und nicht dem einzelnen überlassen bleiben.
Hf. Ergebnis Die Versuche zur Begriffsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise haben gezeigt, daß sich ein für die Auslegung strafrechtlicher Tatbestände tauglicher Mindestinhalt nicht angeben läßt. Die Durchsicht sowohl der Rechtsprechung als auch der Literatur hat zu keiner endgültigen Klarheit darüber geführt, welche Funktion die faktische Betrachtungsweise bekleiden soll. Aus der Literatur haben sich insbesondere bei Bruns und Wiesener Anhaltspunkte dafür ergeben, daß es 103 Der Rechtsanwender offensichtlich nicht, dessen Urteil wegen seines "normativen Vorverständnisses" als befangen abgelehnt werden müßte.
IH. Ergebnis
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sich bei der faktischen Betrachtungsweise um einen eigenständigen Begründungsansatz handeln könnte. Schwerpunkt soll in diesem Zusammenhang die Problematik der Organ- und Vertreterhaftung sein. Auf der anderen Seite lassen beide Autoren - zumindest in einigen der von ihnen angesprochenen Fallkonstellationen ausreichend Raum, die faktische Betrachtungsweise als ein "nur" kennzeichnendes Prinzip anzusehen. Nach der Überprüfung der Rechtsprechung muß gar offenbleiben, ob das Reichsgericht bzw. der Bundesgerichtshof mit der faktischen Betrachtungsweise überhaupt gearbeitet haben. Man kann vielmehr im Gegenteil davon ausgehen, daß die faktische Betrachtungsweise der Rechtsprechung in vielen Fällen lediglich zugeschrieben worden ist. Aber auch die Versuche einer Inhaltsbestimmung der faktischen Betrachtungsweise haben zu keinem brauchbaren Ergebnis geführt. Bestätigt werden konnte die zu Beginn der Arbeit angestellte Vermutung, daß die faktische Betrachtungsweise insbesondere zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale herangezogen wird, die - wenn auch mit anderem Inhalt - in anderen Rechtsdisziplinen ebenfalls verwendet werden. Es ist jedoch weder der Rechtsprechung noch den Protagonisten der faktischen Betrachtungsweise in der Literatur gelungen, im Rahmen einer methodischen bzw. dogmatischen Ableitung den Nachweis darüber zu führen, welche bestimmten Tatbestandsmerkmale es sind, die abweichend vom Zivilrecht mittels der faktischen Betrachtungsweise ausgelegt werden müssen. Bereits der Begriff "faktische Betrachtungsweise" ist viel zu weit und unscharf, als daß er inhaltliche Kriterien angeben könnte, mit denen ein abstraktes Tatbestandsmerkmal bzw. eine Norm konkretisiert werden kann. Das belegen einerseits die Ausführungen zum semantischen Bedeutungsspielraum des Begriffs "faktisch", andererseits aber auch die eigenen Überlegungen zum Inhalt eines Prinzips "faktische Betrachtungsweise". In keinem Fall ihrer Anwendung konnte deutlich gemacht werden, warum gerade die faktische Betrachtungsweise das zur Lösung geeignete Instrument sein soll, warum mit der faktischen Betrachtungsweise so und nicht anders zu entscheiden war. Die faktische Betrachtungsweise ist bisher in keinem ihrer Beispiele "einsehbar" gemacht worden und trägt damit auch nicht den Anforderungen Rechnung, die an die Begründungsfunktion eines Rechtsprinzips gestellt werden. Der faktischen Betrachtungsweise fehlt somit das, was ein "verbindliches Rechtsprinzip" kennzeichnet. Sie vermag es nicht, gleich einem Kürzel, auf einen Blick einen Ableitungsvorgang im Rahmen der Auslegung strafrechtlicher Tatbestände deutlich zu machen. Nur durch eine solche Selektionsleistung könnte die ständige Wiederholung von Neuargu7'
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2. Teil: Funktion und Inhalt in Rechtsprechung und Literatur
mentationen vermieden und zugleich ermöglicht werden, einen "unklaren Rechtsstoff" über seine unmittelbare Gegebenheit hinaus zu kontrollieren und aufzubereiten. Aber auch als kennzeichnendes Prinzip hat die faktische Betrachtungsweise keinen "Leistungswert" . Es fehlen Stellungnahmen darüber, welche (gemeinsamen) Kriterien es sind, die die mit der faktischen Betrachtungsweise angesprochenen Fallgruppen bzw. Fallkonstellationen oder Ergebnisse eines Auslegungsvorganges kennzeichnen könnten. Es hat sich im Gegenteil bereits bei der bisher nur allgemeinen Betrachtung gezeigt, daß sich all die Einzelbeispiele und Fallgruppen, die im Zusammenhang mit der faktischen Betrachtungsweise angesprochen worden sind, nicht schematisch erfassen lassen. Andernfalls könnte dem Sinn- und Bedeutungsgehalt jedes einzelnen Tatbestandes nicht mehr ausreichend Rechnung getragen werden. Soll die Aufgabe der faktischen Betrachtungsweise darin bestehen, auf die Notwendigkeit einer im Strafrecht eigenständigen Auslegung hinzuweisen - unabhängig vOn einer im Zivilrecht gültigen Begriffsbestimmung -, bringt die Erkenntnis, daß es einer spezifisch strafrechtlichen Auslegung bedarf, dieses Anliegen plastischer zum Ausdruck als die faktische Betrachtungsweise. Soll die faktische Betrachtungsweise allerdings nur einen Appell an den Rechtsanwender darstellen, sich nicht mit juristischen "Methodentricks" vom Sinn des Gesetzes zu entfernen, sondern sich an die Fakten zu halten und entsprechend den Fakten auszulegen und zu urteilen, dann ist eine solche Betrachtungsweise als "Rechtsprinzip" inhaltsleer. Der Mangel inhaltlicher Bestimmtheit könnte noch hingenommen werden, gäbe es keine anderweitigen Lösungswege, die einsichtig das begründen können, was die faktische Betrachtungsweise nicht zu leisten vermag. Solche Lösungswege fehlen allerdings nicht, sie gibt es. Die faktische Betrachtungsweise ist damit nicht nur überflüssig, sondern versperrt - unabhängig vOn den bereits erörterten methodischen Bedenken - den Weg zu den eigentlichen materialen Lösungsgesichtspunkten des Einzelfalles. Diese werden im dritten Teil der Arbeit herausgearbeitet werden. Zugleich wird festgestellt werden, daß mit der faktischen Betrachtungsweise gar unvertretbare Ergebnisse erzielt worden sind - dies freilich kann das Bild vOn der Untauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise als eines leistungsfähigen allgemeinen Prinzips im Strafrecht nur noch abrunden.
Dritter Teil
Die eigentliche Problematik der Anwendungsfälle einer faktischen Betrachtungsweise I. Zum weiteren Gang der Darstellung Ziel dieses letzten Teils der Arbeit ist es, die eigentlichen materialen Lösungsgesichtspunkte in all den Fällen herauszuarbeiten, in denen auf die faktische Betrachtungsweise zurückgegriffen wird. Es soll jedoch auch auf die Konstellationen eingegangen werden, in denen die faktische Betrachtungsweise der Rechtsprechung von der Literatur nur unterstellt bzw. zugeschrieben worden ist. Die Überprüfung der Einzelbeispiele wird weitere gegen die faktische Betrachtungsweise sprechende übergreifende Gesichtspunkte aufzeigen. Diese ergeben ihrerseits die Gliederung der folgenden Ausführungen zu den Fallkonstellationen, in denen der zugrundeliegende Tatbestand besondere Tätermerkmale fordert. Diese machen das Hauptanwendungsgebiet der faktischen Betrachtungsweise aus. a) Die faktische Betrachtungsweise läßt wegen ihres weiten semantischen Spielraums bei vielen Tatbestandsmerkmalen mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu. Die Diffusität der Ergebnisse - und damit zumindest der Anschein der Willkür - spricht gegen die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise. b) Vielen Konstellationen, zu deren Lösung die faktische Betrachtungsweise notwendig sein soll, ist gemeinsam, daß bereits die Ausgangsfragestellungen des Auslegungsvorgangs nicht richtig gestellt worden sind. Die faktische Betrachtungsweise verdeckt die falschen Lösungsansätze und verhindert somit deren Korrektur. c) Gegen die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise sprechen schließlich die mit ihrer Hilfe "begründeten" unvertretbaren Ergebnisse. Die sich im Zusammenhang mit der allgemeinen Organ- und Vertreterhaftungsproblematik ergebenden Fragen werden ausgeklammert und vor der Diskussion der verschiedenen Tätermerkmale erörtert. Gleiches gilt für die Gruppe der Tatbestände mit sogenannter "egoistisch-beschränkter Innentendenz" , die sowohl von Bruns als auch Wiesener im Zusammenhang mit der Organ- und Vertreterhaftung
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
behandelt wird - nur im direkten Nebeneinander beider Problemkreise lassen sich die sie unterscheidenden Gesichtspunkte herausarbeiten. Die Arbeit wird sich zuletzt den Straftatbeständen zuwenden, die an das Vorliegen vertraglicher Beziehungen zwischen Täter und Opfer anknüpfen. Die Aspekte der Diffusität der Ergebnisse und der notwendigen Korrektur der Ausgangsfragestellungen werden abschließend am jeweils zu diskutierenden Einzelbeispiel erörtert.
11. Konstellationen der Organ- und Vertreterhaftung (OuVH) Die mit einer allgemeinen Vertreterhaftung zusammenhängenden Fragen werden ebenso wie die positiv-rechtliche Ausgestaltung des § 14 StGB noch heute kontrovers diskutiert. Schünemann spricht von "der bis heute in der Strafrechtsdogmatik als rätselhafter Fremdkörper wirkenden Vertreterhaftung"l. Es würde zu weit führen und auch am Thema dieser Arbeit vorbeigehen, Stellung dazu beziehen zu wollen, ob § 14 StGB alle praktisch relevanten Konstellationen erfaßt bzw. ob und wie er kriminal politisch sinnvoller hätte formuliert werden können oder sollen 2 • Es geht hier lediglich darum, zu analysieren, welche Funktion und welcher Inhalt der faktischen Betrachtungsweise zur Lösung der Probleme strafrechtlicher Organ- und Vertreterhaftung beigemessen wird und ob sich diese Erwartungen - insbesondere vor dem Grundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG - überhaupt realisieren lassen. Die verschiedenen Stellungnahmen zum Thema "Organ- und Vertreterhaftung" in der Literatur beziehen sich auf unterschiedliche Problemkreise. Bereits die Tatsache, daß nicht einmal Einigkeit darüber besteht, welche der offenen Fragen mit der faktischen Betrachtungsweise gelöst werden sollen, läßt Zweifel an der Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise aufkommen. In den Gesetzesberatungen zum Thema "Handeln für einen anderen" in den Jahren 1956/58 wurde die Frage diskutiert, welche Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal "Organ einer juristischen Person" zu stellen seien. Die Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums vertrauten darauf, daß die Rechtsprechung mit Hilfe einer faktischen Betrachtungsweise, die insoweit angemessen wäre, zum richtigen Ergebnis kommen würde 3 • Schünemann, ZSR 1978, 131 ff., 155. Siehe dazu ausführlich Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 127 ff. mit vielen Nachweisen. Schünemann selbst unternimmt auf S. 137 ff. den 1
2
Versuch, Grund und Grenzen der strafrechtlichen Vertreterhaftung dogmatisch zu bestimmen. 3 Niederschriften, Bd. XII 1959, S. 544. Siehe dazu bereits oben Zweiter Teil II 4 a.
II. Konstellationen der Organ- und Vertreterhaftung
103
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Bruns4, dessen Ausführungen in den Gesetzesberatungen nachhaltige Berücksichtigung fanden, forderte in einem anderen Zusammenhang die Ausdehnung der Vorschrift auf gewillkürte Stellvertreter, weil sonst mit Hilfe der tatsächlichen Betrachtungsweise die Strafbarkeit über die Grenzen des § 14 des Entwurfs hinaus auf Bevollmächtigte erweitert werden würde 5 •
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Wiesener, der in seiner Arbeit vorschlug, mit der faktischen Betrachtungsweise die gesamte Problematik der Organ- und Vertreterhaftung zu lösen 6 , kommt zu dem Ergebnis, "die Fassung des § 50 a StGB7 hätte nicht so gewählt werden dürfen, daß sie mit den Ergebnissen der immerhin auch vom Bundesgerichtshof z. T. praktizierten faktischen Betrachtungsweise unvereinbar ist"8.
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In neuester Zeit ist es wiederum Bruns, der in einem Aufsatz über Grundprobleme der Organ- und Vertreterhaftung feststel1t9, die faktische Betrachtungsweise habe es der Rechtsprechung schon immer ermöglicht, mit Hilfe der sogenannten tatsächlichen Betrachtungsweise - der realistischen Natur des Strafrechts gemäß - die Sondermerkmale in der Person des Vertreters selbst als gegeben anzusehen. Daran habe sich auch nach der Einfügung der §§ 50 a a. F. StGB, 14 StGB nichts geändert. Die faktische Betrachtungsweise behalte auch heute neben § 14 StGB ihre Bedeutung, wenn sie nicht sogar partiell den Vorrang beanspruche 10 • Schließlich werden unter dem Thema "faktische Betrachtungsweise zur Lösung der Organ- und Vertreterhaftung" auch die Fälle diskutiert, in denen es nicht um die Problematik der Zurechnung persönlicher Merkmale auf dritte Personen geht - also um eine Ausdehnung des Täterkreises auf weitere dritte Personen - , sondern in denen die Strafbarkeit des eigennützig handelnden Täters für den Fall ausgedehnt werden soll, daß dieser in fremdem Interesse handelt l1 •
Alle diese unterschiedlichen Gesichtspunkte erwecken keinesfalls den Eindruck, als seien Funktion und Inhalt der faktischen BetrachtungsBruns, JZ 1958, 461 ff. Bruns, JZ 1958, 464. 6 Vgl. dazu Bruns, GA 1982, 19. 7 § 50 a a. F. StGB wurde durch § 14 StGB abgelöst. 8 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 186. 9 Bruns, GA 1982, 19. 10 Bruns, GA 1982, 20. 11 Siehe dazu Bruns, GA 1982, 30 ff.; eine ausführliche Auseinandersetzung erfolgt unten UI. 4
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
weise vollständig geklärt1 2 • Sie lassen zugleich erkennen, daß die faktische Betrachtungsweise selbst im Zusammenhang mit der Problematik "Organ- und Vertreterhaftung" mit verschiedenen Funktionen belegt wird. Zum einen soll sie eine allgemeine Haftungserstreckung auf weitere Personen 13 , insbesondere Vertreter und Organe, ermöglichen (1). Zum anderen soll sie das bereits in den Gesetzesberatungen diskutierte Problem lösen, welche Anforderungen an die Begriffe "vertretungsberechtigtes Organ" bzw. "Mitglied eines solchen Organs" zu stellen sind (2); so z. B. ob das Organ rechtswirksam bestellt sein muß, ob es sich im Rahmen seiner Vollmacht bewegt haben muß usw. Die "Sonderproblematik"14 der Tatbestände mit sogenannter egoistisch-beschränkter Innentendenz fällt aus dem üblichen Rahmen der Organ- und Vertreterhaftung und bleibt daher auch in dieser Arbeit einem eigenen Abschnitt vorbehalten. 1. Zum Erfordernis einer strafrechtlichen Zurechnungsregelung
Das Problem der strafrechtlichen Vertreterhaftung taucht dann auf, wenn der anhand eines personalen Status umschriebene und damit auch dahingehend eingeschränkte Normadressat seine Aufgaben und Pflichten nicht selbst wahrnimmt oder wahrnehmen kann und deshalb andere stellvertretend für ihn handeln15 . Die "eigentliche", (d. h. dogmatisch und kriminalpolitisch sinnvolle) Unrechtsstruktur des Tatbestandes und seine sprachliche Fassung im Gesetz fallen in diesen Fällen auseinander16 . Eine besondere Vertreterregelung ist dann nicht notwendig, wenn die Strafdrohung sich von vornherein auf einen Ersatzvertreter bezieht - so z. B. im Falle des Veranstalters in § 284 bzw. § 286 StGB17. Beide Tatbestände umschreiben umfassend und unmittelbar die soziale Funktion oder die Pflicht, an die die strafrechtliche Haftung anknüpft. Der Wortlaut läßt es zu, die handelnden Organe direkt zu erfassen - im Rahmen einfacher strafrechtlicher Auslegung. Einer "überwälzungsvorschrift"18 bedarf es dagegen dann, wenn auf Grund kriminalpolitischer Einsicht der Wortlaut entsprechender Tatbestände, der auf Ersatzvertreter nicht zutrifft, erweitert werden soll. Dazu bieten sich zwei Vorgehensweisen an: Zum einen eine Erweiterung der jeweiligen 12 Der zweite Teil hat deutlich gemacht, daß von einer solchen Klärung keine Rede sein kann. 13 I. d. S, führt auch Schünemann, ZSR 1978, 136 aus: "Dogmatisch geht es bei der Vertreterhaftung um Zurechnungsfragen." 14 So auch die entsprechende überschrift bei Bruns, GA 1982, 30. 15 Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 1 zu § 14. 16 Schünemann, Untemehmenskriminalität, S. 129. 17 Siehe dazu oben Zweiter Teil II 2 c und ausführlich unten IV 3 c.
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Bruns, JZ 1958, 461.
11. Konstellationen der Organ- und Vertreterhaftung
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Einzeltatbestände, zum anderen eine "Zurechnungsregelung" im Allgemeinen Teil des StGB. Der Gesetzgeber hat sich für eine positive Regelung im Allgemeinen Teil entschieden. Er definiert in § 14 StGB die Voraussetzungen, unter denen ein Täter so behandelt werden muß, als lägen tatsächlich bei ihm nicht vorhandene, nach dem Tatbestand jedoch vorausgesetzte besondere persönliche Merkmale vor19 • So macht sich nach § 288 StGB wegen Vereitelung der Zwangsvollstreckung nur strafbar, wer die dort genannten Handlungen bei einer ihm drohenden Zwangsvollstreckung begeht. über § 14 kann aber auch der Geschäftsinhaber einer GmbH erfaßt werden, obwohl die Zwangsvollstreckung nicht ihm, sondern der juristischen Person droht. Die Rechtsprechung wurde schon sehr früh mit derartigen Problemen konfrontiert. Bereits im Jahre 1874 wurde den Vereinigten Abteilungen für Strafsachen des Preußischen Obertribunals20 die Frage vorgelegt, ob auch ein Vorstandsmitglied einer in Konkurs geratenen juristischen Person auf Grund der §§ 281, 283 StGB a. F. (gültig bis zum 10. Februar 1877) bestraft werden könne, wenn es sich solcher Handlungen schuldig mache, wie sie in den §§ 281 ff. beschrieben sind. In der hierzu ergangenen Rechtsprechung fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Verwendung einer faktischen Betrachtungsweise - im Gegenteil, das Reichsgericht folgte im Jahre 1874 einem eigens angefertigten Gutachten21 und entschied 22 , daß eine Lücke in der Strafgesetzgebung bestehe. Deren Schließung ließe sich durch eine mit dem Wortlaut und der Bedeutung der bestehenden Gesetze nicht zu vereinbarenden Auslegung nicht rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat daraufhin sehr schnell die Konsequenzen gezogen und mit der Neuregelung eine Vorschrift aufgenommen23 , die auch die Mitglieder des Vorstandes 24 einer Aktiengesellschaft oder eingetragenen Genossenschaft erfaßt. 19
Samson, in: SK, Rn. 1 zu § 14.
GA 23, 31 ff. Gutachten für die Beratung der Vereinigten Abteilungen des Reichsgerichts, GA 23, 40: " ... es läßt sich erkennen, daß der Stand der Strafgesetzgebung den Bedürfnissen des redlichen Verkehrs und den Forderungen der Sittlichkeit nicht entspricht. Allein diese Erwägungen können nur zu der überzeugung führen, daß eine Lücke in der Strafgesetzgebung vorhanden ist, nicht aber eine mit dem Wortlaut und der Bedeutung der bestehenden Gesetze nicht vereinbare Auslegung derselben rechtfertigen". 22 GA 23, 43 ff. 23 § 214 KO wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 1879 eingeführt, der seinerseits durch § 244 a. F. KO ersetzt wurde. 24 Diese Tatsache berücksichtigt eine Entscheidung aus dem Jahre 1887 - RGSt 16, 121, 125 - bei der Auslegung des § 288 StGB. Dort wird auf die Motive und Materialien verwiesen. 20 21
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Weitere "Überwälzungsbestimmungen"25 folgten in § 83 a. F. GmbHG, § 39 Depotgesetz usw., bis es schließlich zur allgemeinen Regelung des § 50 a a. F. StGB bzw. heute des § 14 StGB kam. Die geltenden Kommentare zu den §§ 283 ff. StGB26 lassen klar erkennen, daß die Strafbarkeit des gesetzlichen Vertreters einer juristischen Person nur auf § 14 i. V. mit den entsprechenden Strafvorschriften gestützt werden kann. Dennoch steht in der rechtsdogmatischen Literatur auch heute noch die faktische Betrachtungsweise als ein zumindest ebenso geeigneter Lösungsweg zur Diskussion. Für die Auslegung des Begriffs "Schuldner" in § 239 a. F. KO soll allein entscheidend sein, "daß derjenige, der den Aufgabenkreis des Schuldners faktisch übernommen hat, eine Bankrotthandlung verübt hat und daß die Zahlungen aus dem seiner Verwaltung unterliegenden Vermögen eingestellt worden sind"27. Damit läßt Wiesener nicht nur den Wortlaut, sondern auch die Entstehungsgeschichte der sogenannten Haftungserstreckungsvorschriften außer acht. Ebenso untauglich ist der vereinzelte Versuch Fleischers28 , § 283 StGB unmittelbar29 auf den Gesellschafter bzw. Generalbevollmächtigten einer GmbH auszudehnen. Zwar bemüht er dazu nicht die faktische Betrachtungsweise, sondern sicherlich billigenswerte Schutzzwecküberlegungen. Seine Ausführungen lassen jedoch sämtliche anerkannten Auslegungsregeln unberücksichtigt - so auch die im Grundgesetz verankerte Bestimmung des nulla-poena-Satzes. Dieser verbietet es, den weitestmöglichen Wortsinn des Begriffs "Gemeinschuldner", auf den die §§ 283 ff. StGB abstellen, zu überschreiten. Ganz in diesem Sinne hat Binz30 überzeugend aufgezeigt, daß zur Lösung dieses Problems der Gesetzgeber auf den Plan gerufen sei. Im folgenden sei auf die einzelnen Gesichtspunkte eingegangen, die gegen die Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise als eines solchen "Überwälzungsprinzips" sprechen: a) Ein erster Einwand resultiert aus dem unterschiedlichen Verständnis des Begriffs faktische Betrachtungsweise. Der Begriff läßt offen, ob nur gesetzliche Vertreter erfaßt werden sollen, ob auch alle gewil1kürSo Bruns, JZ 1958, 461. Durch das erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29. Juli 1976, BGEl I 2034 sind die Konkursstraftaten wieder in das StGB eingegliedert worden. 27 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 184. 28 Fleischer, NJW 1978, 96 f.; dagegen Binz, NJW 1978, 802. 29 Und das, obgleich § 244 a. F. KO, der durch § 50 a a. F. StGB bzw. § 14 StGB ersetzt wurde, dazu gedacht war, den begrenzten Täterkreis der §§ 283 ff. a. F. StGB zu erweitern. 30 Siehe oben Fn. 28. 25
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11. Konstellationen der Organ- und Vertreterhaftung
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ten Vertreter mit einzubeziehen sind, ob es nur um einen Verzicht auf bestimmte Formerfordernisse bei der Bestellung als Vertreter geht oder ob gar all die Fälle erfaßt werden, in denen schlicht für einen anderen gehandelt wird. Strafbar nach § 288 StGB wäre in letzterem Falle auch der Freund des Vollstreckungsschuldners, der auf dessen Bitten die vollstreckungsbedrohten Gegenstände beiseite schafft - ein Ergebnis, das weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung Zustimmung findet und sie auch nicht finden kann 3!. Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise läßt vielerlei Deutungen zu und wird auch in diesem weiten Umfang angewandt. Er läßt damit alles, was eigentlich an Klärung geleistet werden sollte, offen und ist bereits auf Grund des semantisch sehr weiten und unbestimmten Spielraums untauglich. Dies allein ist schon ausreichend, im Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur von einem untauglichen, sondern auch unzulässigen Auslegungsinstrument zu sprechen. b) Aber auch materiale Erwägungen sprechen gegen die faktische Betrachtungsweise als Lösungsprinzip der Organ- und Vertreterhaftung. Der Gesetzgeber hatte bereits vor einer positiven Regelung im Allgemeinen Teil des StGB in den einzelnen Straftatbeständen differenziert, in welchem Umfang diese strafbares Handeln erfassen sollten. Er hatte die sozialen Pflichten bzw. persönlichen Merkmale, an die die Strafbarkeit knüpft, in jedem Tatbestand unterschiedlich beschrieben. Sobald der Umfang der Strafbarkeit auf Vertreter ausgedehnt werden sollte, hatte er dem durch entsprechende Umschreibungen Rechnung getragen. So wurden Tatbestände unterschieden, die die Strafbarkeit auf gesetzliche Vertreter (einschließlich der Organe juristischer Personen) ausdehnen, und Bestimmungen, die auch gewillkürte Vertreter erfassen 32 • Im Hinblick auf letztere Gruppe wurden zum einen gewillkürte Vertreter nur in gehobener Stellung in den Täterkreis einbezogen; zum anderen genügte es, daß sie ganz speziell dafür bestellt waren, die für den Vertretenen durch einzelne Sondernormen geschaffenen Pflichten wahrzunehmen. Schließlich bleiben Vorschriften, die die Strafbarkeit auf Vertreter schlechthin ausweiteten bzw. die Vertretereigenschaft überhaupt nicht verlangten32 • § 289 StGB ist auch heute noch ein Beispiel für die gesetzestechnische Möglichkeit, das Handeln "für einen anderen" in einem Tatbestand des Besonderen Teils abweichend von Siehe dazu ausführlich unten IV 4 b. Siehe dazu Blauth, Handeln für einen anderen, S. 41 f. mit entsprechenden Nachweisen und Beispielen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung wäre sicherlich interessant, würde allerdings den Rahmen des Themas bei weitem sprengen. 31
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
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einer "Vertretervorschrift" zu regeln. Auch bei § 73 Abs. 3 StGB brauchen, damit sich die Verfallserklärung auch gegen den Nichttäter richtet, zwischen den Beteiligten keine weiteren Rechtsbeziehungen zu bestehen, als daß der Täter "für einen anderen" gehandelt hat. Oben33 wurden bereits die Beispiele der §§ 284, 286 StGB erwähnt, in denen sich die Strafdrohung von vornherein auf einen Ersatzvertreter bezieht. Daneben existieren Tatbestände, deren Täterkreis mit Hilfe von Statusbezeichnungen eingegrenzt wird, die auch nach dem Sprachgebrauch an der Person haften und einem funktionalen Verständnis nicht zugänglich sind 34 - "ein Arbeitgeber ist nun einmal - und insoweit decken sich zivil rechtliche Bedeutung und sozialer Sprachgebrauch nicht schon derjenige, der für den Arbeitgeber irgendwelche Funktionen ausübt, sondern allein der Inhaber des Unternehmens selbst"35. Beispielhaft seien weiter der Kommissionär in § 95 Börsengesetz und der Vollstreckungsschuldner in § 288 StGB genannt. -
Beim Tatbestandsmerkmal "Kommissionär" handelt es sich um einen Begriff des allgemeinen Rechtsverkehrs, der über den im Zivilrecht festgelegten Bedeutungsinhalt hinaus nicht mehr auslegungsfähig ist, da dieser auch dem allgemeinen Sprachverständnis entspricht3 6 • Nach § 383 Abs. 1 HGB ist Kommissionär nur derjenige, der gewerbsmäßig für Rechnung eines anderen im eigenen Namen kauft oder verkauft. Dies schließt es aus, denjenigen als Kommissionär anzusehen, der das Geschäft tür einen anderen (z. B. eine juristische Person) ausführt.
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Vollstreckungsschuldner im Sinne des § 288 StGB kann nur der sein, der dem Gläubiger gegenüber aus irgend einem sachlich-rechtlichen Grund dessen Zwangsvollstreckung in Bestandteile des ihm gehörenden oder seiner Beherrschungsmacht unterliegenden Vermögens zu dulden hat. Das Wortlautargument verbietet es, den als Schuldner zu bezeichnen, bei dem von einer sachlich-rechtlichen Verpflichtung keine Rede sein kann. So ist der völlig selbständige Geschäftsführer eines Unternehmens, dessen Inhaber sich von den Geschäften zurückgezogen hat, nach § 288 StGB dann nicht strafbar, wenn er bei einer dem Geschäftsherrn drohenden Zwangsvollstreckung Bestandteile des Geschäftsvermögens beiseite schafft, da er nicht selbst Vollstreckungsschuldner ist.
Siehe oben Zweiter Teil II 3 a. Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 12 zu § 14. 35 Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129. 36 Siehe dazu Brockhaus, Enzyklopädie, 10. Band, S. 382; Der Große Herder, 5. Bd., Sp. 583 f.; Das Große Duden-Lexikon, Bd. 4, S. 719. 33 34
11. Konstellationen der Organ- und Vertreterhaftung
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All diese Differenzierungen, aber auch Einschränkungen der einzelnen Straftatbestände anhand besonderer persönlicher Merkmale führten dazu, daß straffreie Räume im Laufe der Zeit als Strafbarkeitslücken empfunden wurden. Die heftige und kontroverse Diskussion darüber, ob die Umschreibungen der Straftatbestände beibehalten bzw. welche Vertreter überhaupt in die strafrechtliche Haftung einbezogen werden sollten, zeigt deutlich, daß man sich nicht einmal über den Umfang entsprechender Änderungen, geschweige denn über die Frage des "wie" einig war. Die Gründe aufzuspüren, die nach einer Veränderung der Unrechtsstruktur verlangen, fällt nicht schwer - sie sind kriminalpolitischer Natur. Beigetragen haben vor allem die modernen Organisationsformen der Wirtschaft und die dadurch bedingte weitgehend innerbetriebliche Arbeitsteilung. Damit ist das Problem der strafrechtlichen Vertreterhaftung als ein Problem der strafgesetzlichen Lückenausfüllung erkannt - im Strafrecht erfordert dies eine positive und bestimmte Regelung der erwünschten Straftatbestände. Der Grundsatz "nulla poena sine lege" stellt im Hinblick darauf eine unüberwindbare Schranke für jede Art von Auslegungsversuchen dar. Es ist allein Aufgabe des Gesetzgebers, solch geänderten Anschauungen Rechnung zu tragen. Eine faktische Betrachtungsweise jedenfalls kann die aus neuerer kriminalpolitischer Sicht vom Gesetzgeber unterlassenen Regelungen nicht ersetzen. Diese Einsicht macht die Befürchtung von Bruns aus dem Jahre 195837 , die faktische Betrachtungsweise "überhole" die gesetzliche Regelung, weil diese zu eng sei, gegenstandslos. Die seinerzeit geplante Regelung sollte die gewillkürten Vertreter im Rahmen einer allgemeinen Vertreterregelung nicht erfassen. Bruns selbst trat bereits damals in den Gesetzesberatungen für eine erweiterte Regelung ein 38 • Eine solche erfolgte jedoch weder in § 50 a a. F. noch in § 14 StGB. c) Ein letzter und entscheidender Einwand gegen die faktische Betrachtungsweise zur Lösung des Problems der Organ- und Vertreterhaftung ergibt sich aus den Ausführungen Wieseners. Er leitete die Übertragbarkeit der faktischen Betrachtungsweise auch für die Problematik der allgemeinen Organ- und Vertreterhaftung aus dem "Prinzip faktische Betrachtungsweise" her, das nach seiner Auffassung sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur bereits einen festen Platz im Auslegungsinstrumentarium beanspruchen konnte und anerkannt war. Davon kann nach den Darlegungen des zweiten Teils dieser Arbeit 1958, 464. Siehe neuestens GA 1982, 28 ff. Bruns spricht von der "verfehlten Regelung des § 14 II StGB". 37
38
Bruns, JZ
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
keine Rede sein, womit schon die Prämissen für die von Wiesener gezogenen Schlußfolgerungen entfallen. 2. Das "vertretungsberechtigte Organ" einer juristischen Person
Im Rahmen der bisherigen Darlegungen diente die faktische Betrachtungsweise in all den Fällen als Auslegungsinstrument, in denen die strafrechtliche Haftung auf weitere, dritte Personen ausgedehnt werden sollte - sei es auf Vertreter bzw. auf Organe einer juristischen Person oder auf sonstige, für einen anderen im weitesten Sinne handelnde Personen (erinnert sei an die Beispiele des Pfandleihers, Veranstalters usw.). Eine zweite Art ihres Einsatzes scheint hinzuzukommen - die faktische Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Ausdeutung eines Tatbestandsmerkmals, konkret, der Bestimmung des Begriffsinhalts "vertretungsberechtigtes Organ"30. Es handelt sich dabei um ein der allgemeinen Organ- und Vertreterhaftungsproblematik untergeordnetes Problem, das eine entsprechende grundsätzliche Regelung bereits voraussetzt. §§ 14 Abs. 1 StGB, 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG bestimmen zwar, unter welchen Bedingungen auch vertretungsberechtigte Organe strafrechtlich erfaßt werden können; die Begriffe "Organ, Geschäftsführer, Vorstandsmitglied" usw. bedürfen freilich ihrerseits der Auslegung. In den Gesetzesberatungen im Jahre 1959 40 wurde darüber diskutiert, ob der Gesetzeswortlaut des damaligen § 14 Abs. 1 E bzw. § 15 Abs. 1 E auch die erfaßt, die zwar als Organ bzw. Vertreter gehandelt haben, aber nicht wirksam bestellt worden sind. Vom Wortlaut her bestehen keine Bedenken, auch den als "Geschäftsführer" zu bezeichnen, der für eine GmbH gehandelt hat, dessen Bestellungsakt zum Geschäftsführer jedoch Mängel aufweist. Der allgemeine Umgangssprachgebrauch und auch das Zivilrecht erlauben es ohne weiteres, auch dann von einem Vorstandsmitglied zu sprechen, wenn dessen Bestellung nicht oder noch nicht im Handelsregister eingetragen ist - allein die zivilrechtlichen Konsequenzen mögen im Einzelfall sich von denen unterscheiden, die sich bei einem ordnungsgemäß bestellten Vertreter ergeben. Schließlich fordert der Gesetzeswortlaut lediglich, daß der Betreffende jeweils "als" Geschäftsführer, Organ usw. gehandelt hat und läßt damit eine funktionale Betrachtung zu bzw. fordert eine solche geradezu heraus. Zur Erzielung eines kriminalpolitisch sinnvollen Ergebnisses bedurfte es daher weder einer faktischen Betrachtungsweise noch einer gesetz39 Zur Problematik des § 84 GmbHG siehe bereits oben Zweiter Teil II 2 f; ausführlich dazu siehe unten IV 3 f. 40 Zur Diskussion einer gesetzlichen Verankerung des Bedeutungsinhalts vgl. oben Zweiter Teil II 4 a; zur Auffassung von Bruns siehe GA 1982, 12 f.
III. Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz
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lichen Regelung. Dennoch entschied sich der Gesetzgeber im Rahmen der allgemeinen Vertreterregelung - wohl im Sinne einer KlarsteIlung - für eine positivrechtliche Fixierung. Die Entscheidung, ob der in § 84 GmbHG erfaßte Personenkreis auf diejenigen beschränkt sein soll, die sämtliche Voraussetzungen eines ordentlichen Vorstandsmitgliedes, Organs usw. erfüllen, kann daher unabhängig von einer dem § 14 Abs. 3 StGB entsprechenden Regelung erfolgen. Es würde den kriminalpolitischen Intentionen und damit Sinn und Zweck des § 84 GmbHG widersprechen, den Aspekt der förmlichen Voraussetzungen als maßgeblich herauszustreichen, so daß der "Geschäftsführer auf mangelhafter Vertragsgrundlage" strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könnte. Dazu bedarf es auch keiner faktischen Betrachtungsweise, die nach Auffassung ihrer Befürworter den Gegensatz zu einer "zivilistischen Auslegung" zum Ausdruck bringen soll. Die faktische Betrachtungsweise täuscht einen nicht existierenden Gegensatz vor und verschleiert, daß das kriminalpolitisch sinnvolle Ergebnis mittels einfacher Gesetzesauslegung gewonnen werden kann.
III. Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz 1. Vorbemerkungen Bei der "Organ- und Vertreterhaftung" ging es um eine kriminalpolitisch erforderliche Schließung von Strafbarkeitslücken in all den Fällen, in denen durch einen personalen Status umschriebene Tatbestände die strafrechtliche Erfassung jeder Art von "Ersatzvertretern" verhinderten. Den Zusammenhang zwischen der Organ- und Vertreterhaftung und den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz 41 einerseits und der faktischen Betrachtungsweise andererseits stellte in einem erst jüngst erschienenen Beitrag Bruns42 her. Nach seiner Auffassung verlangt auch die Lösung der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz nach einer einheitlichen Regelung durch eine Organhaftungsbestimmung im Allgemeinen Teil. Auch bei dieser Gruppe handle es sich um das grundsätzliche Problem, "nämlich die Ausdeh41 Zum Begriff der "Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz" und zu deren Darstellung in der Literatur im Zusammenhang mit der faktischen Betrachtungsweise siehe oben Zweiter Teil II 3 b. 42 Bruns, GA 1982, 33. Bruns verweist dabei auf Entwürfe aus den fünfziger Jahren: § b des Umdrucks J 13, Niederschriften Bd. 2 Anhang Nr. 17, S. 43 hatte folgende Fassung: Wer als Organ oder als Vertreter für einen anderen handelt, wird auch dann als Täter bestraft, 1. wenn ... 2. wenn die Strafbarkeit ein Handeln im eigenen Interesse voraussetzt und das Organ oder der Vertreter im Interesse des Vertretenen handelt.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
nung der Strafbarkeit auf nicht voll tatbestandlich handelnde Pflichtenvertreter" 43. Die direkte Gegenüberstellung beider Tatbestandsgruppen ermöglicht es am ehesten, die sie unterscheidenden Kriterien herauszuarbeiten. Die Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz sind ihrerseits nur eine Untergruppe der Delikte mit sogenannter überschießender Innentendenz. Deren Funktion und Stellenwert lassen daher Rückschlüsse auch auf den eigentlichen Inhalt ihrer Untergruppe zu. Bei den Delikten mit überschießender Innentendenz handelt es sich um Tatbestände, deren Wortlaut neben dem eigennützigen Handeln auch das Handeln im Interesse eines anderen für strafbar erklärt. Der Tatbestand der Erpressung z. B. erfaßt sowohl die Bereicherung zu eigenen als auch zu fremden Gunsten. Dasselbe gilt für z. B. §§ 263, 265, 272, 273 StGB. Gesetzesänderungen gerade aus neuerer Zeit machen deutlich, daß die Frage, ob auch ein Handeln zu fremden Gunsten erfaßt wird, nicht willkürlich entschieden wird. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Änderung des § 259 a. F. StGB durch das EGStGB im Jahre 1975. Nach neuem Recht sollen die Fälle des unlauteren Erwerbs für einen Dritten eindeutig als strafbare Hehlerei gekennzeichnet werden44 • Daß die Erweiterung zugleich zum Ziel hat, "den Gewerbegehilfen auch dann bestrafen zu können, wenn er den Vermögensvorteil für seinen Geschäftsherrn erstrebt", wurde in den Motiven ausdrücklich angesprochen45 • Damit ist nicht nur klargestellt, daß fremdnütziges Handeln ausreicht, sondern zugleich deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Frage eigennützigen bzw. fremdnützigen HandeIns nicht durch Auslegung, sondern im Wege positiver Normierung zu entscheiden ist. Bestätigt wird dies durch die Entscheidung des Gesetzgebers, eine entsprechende Änderung bei § 242 StGB nicht vorzunehmen, obgleich Rechtsprechung wie Literatur die strafrechtliche Erfassung auch der Fälle der sogenannten Drittzueignung als ein dringendes Bedürfnis ansahen und auch heute noch eine entsprechende Änderung fordern. Nur so lassen sich die Bemühungen erklären, alle nur erdenklichen Wege oder auch "dogmatischen Tricks" herauszufinden, mittels deren Wegnahmehandlungen auch zugunsten eines Dritten strafrechtlich erfaßt werden können 46 • Der Gesetzgeber hat sich davon offensichtlich nicht beeindrucken lassen. Er will weiter nur die eigennützigen Weg43
44 45
46
Bruns, NJW 1955, 1162; ders., JZ 1954, 15 f.; GA 1982,30 ff. Bundestags-Drucks. 7/550 S. 252. Bundestags-Drucks. 7/550 S. 253. Siehe dazu oben S. 79, insbesondere Fn. 35.
IH. Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz
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nahmehandlungen erfassen. Dies gilt in gleichem Umfang für den Tatbestand der Unterschlagung nach § 246 StGB. In § 146 Abs. 1 Ziff. 2 bzw. § 148 Abs. 1 Ziff. 2 StGB ist erforderlich, daß der Täter falsches Geld sich verschafft hat, d. h. er muß selbständige Verfügungsgewalt über das Falschgeld erlangt haben47 • Der Fall des "In-Verkehr-Bringens" ist in einer gesonderten Ziffer ausdrücklich erfaßt. Gerade die bei den Delikten mit überschießender Innentendenz im Jahre 1975 vorgenommenen (§ 259 StGB) bzw. nicht erfolgten (§§ 242, 246 StGB) Änderungen haben maßgeblichen Einfluß auf die Auslegung auch der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz - und damit auch die Wirkmöglichkeiten der faktischen Betrachtungsweise. 2. Zivilistische Merkmale als Ansatz der faktischen Betrachtungsweise
Die Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz unterscheiden sich nicht nur von der Organ- und Vertreterhaftungsproblematik, sondern auch von allen bisher erörterten Tatbestandsmerkmalen (z. B. Bevollmächtigter, Vollstreckungsschuldner usw.) im Ansatz. Letztere enthalten jeweils Merkmale, die mit gleichlautenden Begriffen des Zivilrechts umschrieben sind. Die Besonderheiten strafrechtlicher Tatbestandsauslegung waren für einige Autoren Grund genug, der zivilistischen Betrachtungsweise eine faktische Betrachtungsweise für das Strafrecht gegenüberzustellen. Bei den Delikten mit egoistischer Innentendenz fehlt bereits der entsprechende Ansatzpunkt - das egoistische Moment im Strafrecht hat kein zivilistisches Pendant. Nicht zur Diskussion steht in diesem Zusammenhang die zwingend notwendige unterschiedliche Auslegung des Zueignungsbegriffs - daß die strafrechtliche Zueignung nicht mit den zivil rechtlichen Konsequenzen eines Eigentumsübergangs verbunden ist, braucht nicht weiter erörtert zu werden. Die unterschiedliche Behandlung war auch zu keiner Zeit Anlaß dafür, die faktische Betrachtungsweise zu bemühen. Gleiches gilt für das Merkmal "Ankaufen" nach § 259 StGB. Dieses kann unabhängig davon bejaht werden, ob der Täter in eigenem Namen oder in fremdem Namen, auf eigene oder fremde Rechnung tätig wird48 • 3. Handeln "für einen anderen"
Ein weiterer formaler Unterschied insbesondere zur Organ- und Vertreterhaftungsproblematik gründet auf der Feststellung, daß ein und derselbe Begriff "Handeln für einen anderen" für verschiedene Bedeu47 Siehe dazu Rudolphi, in: SK, Rn. 9 zu § 146 m. Nachweisen aus der Rechtsprechung. 48 Siehe dazu oben S. 76 die Diskussion der überzeugenden Ausführungen von Wiesener nebst Nachweisen.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
tungsinhalte verwendet wird. In beiden Fällen handelt der Täter für einen anderen - gemeint ist jedoch etwas völlig Unterschiedliches. Bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz geht es um die Abschichtung egoistischen HandeIns von altruistischem Handeln und damit die Kennzeichnung besonderer Absichten. "Für einen anderen" steht für "zum Vorteil eines anderen". Bei der Vertreterproblematik scheidet dieser Aspekt aus, er ist jedenfalls nicht bestimmend. "Für einen anderen" steht dort für "an Stelle eines anderen". 4. Die vom Gesetzgeber jeweils getroffenen Vorwertungen
Auch materiale Gesichtspunkte kennzeichnen die Unterschiedlichkeit beider Problemgruppen. Bereits in den Gesetzesberatungen wurde angedeutet, daß es sich bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz um ein von der Organ- und Vertreterhaftung "sehr verschiedenes Problem"49 handle - wenngleich die Unterschiede nicht im einzelnen herausgearbeitet worden sind. Koffka50 schlug vor, diese Fragen im Besonderen Teil des StGB zu regeln. Wiesener 51 sieht zu den Organhaftungsproblemen Unterschiede grundsätzlicher Art, die eigene Lösungen erforderten. Sein Ergebnis deckt sich mit nahezu allen Auffassungen in der Literatur52 • Schünemann53 hält bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz eine "Vertretung" niemals für möglich - man könne allenfalls darüber diskutieren, ob die Beschränkung des Tatbestands auf egoistisches Handeln kriminalpolitisch sinnvoll sei. Diese eher schlagwort artigen Darlegungen allein reichen nun freilich nicht aus, die grundsätzlichen Unterschiede herauszufiltern. Es ist erforderlich, sich zugleich auf die Funktion und die Hintergründe der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz zu besinnen, um auch die dahinterstehenden Sachgesichtspunkte aufdecken zu können. Exemplarisch soll dies am Beispiel des Diebstahls (a) und der Hehlerei (b) dargestellt werden. a) Nach geltendem Recht ist die bloße Wegnahme einer fremden Sache noch kein Diebstahl, auch dann nicht, wenn dies in der Absicht geschieht, die Sache dem Eigentümer auf Dauer zu entziehen. § 242 StGB verlangt, daß der Täter mit der Absicht gehandelt hat, die fremde Sache sich zuzueignen. Dies soll gelten, obgleich die Rechtsgutsbezogen49 Schäfer, Niederschriften, Bd. IV 1958, S. 555. so Koffka, Niederschriften, Bd. 11 1958, S. 118. 51 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 85 ff., 99. 52 Siehe dazu bereits oben S. 78 f. m. w. N. S3 Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 128.
III. Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz
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heit des Merkmals "Zueignungsabsicht" nur den Enteignungsvorsatz betrifft, während die darüber hinausreichende, auf die Nutzung der Sache zu eigenen oder auch fremden Zwecken gerichtete Aneignungsabsicht54 für die Frage der Rechtsgutsverletzung irrelevant ist 55 • Aus der Klasse aller Wegnahmehandlungen mit Enteignungsvorsatz wird als strafbar nur der Teilbereich herausgeschnitten, der die für den Berechtigten besonders gefährlichen Wegnahmehandlungen betrifft - nämlich Wegnahmehandlungen mit der Aneignungsabsicht zu eigenem Vorteil. Diese kennzeichnet eine typischerweise kriminogene Situation, die im Vergleich zu dem Fall strafbedürftiger ist, in dem zum Vorteil eines Dritten weggenommen wird. Der Gesetzgeber ist der allgemeingültigen Forderung, die an die Wirksamkeit des Einsatzes von Strafe gestellt wird - nämlich nur die schwersten bzw. gefährlichsten Fälle von Rechtsgutsverletzungen zu erfassen - , dadurch nachgekommen, indem er die Fälle der Wegnahme "nur um zu zerstören oder einfach wegzuwerfen" und die "Wegnahme zur schlichten Weitergabe" nicht erfaßt hat. Die Unwertqualifizierung "Dieb" wird plakativ über den Wegnehmenden erst verhängt, wenn er die Sache seinem Vermögen zuführen will. Gerade die Überführung in das eigene Vermögen macht daher das Wesen des Diebstahls aus. Sicherlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, auch derjenige sei ein Dieb, der zugunsten eines anderen handelt. Das Wesen des Diebstahls wäre dann darin zu sehen, daß der Täter mit dem Ziel der endgültig gedachten Vermögensverschiebung vom Bestohlenen zu einem anderen einfach wegnimmt 56 - in diesem Falle bedarf es jedoch einer Änderung des § 242 StGB. In den dreißiger Jahren wurde zwar eine entsprechende Änderung diskutiert; danach sollte die Absicht des Wegnehmenden, die Sache einem anderen zuzueignen, genügen. Man entschloß sich am Ende allerdings dazu, die alte Fassung des § 242 StGB beizubehalten57 • Die Einbeziehung des HandeIns zugunsten eines anderen ist erst recht nicht im Wege einfacher Auslegung - so z. B. mittels der faktischen Betrachtungsweise - zu erreichen58 • Eine solche Auslegung verstieße gegen den Grundsatz nulla poena sine lege. Es kommt hinzu, daß eine derartige Tatbestandsauslegung aus kriminalpolitischen Gründen mittels der faktischen Betrachtungsweise nicht einmal danach 54 Zur Unterscheidung siehe Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 44 zu § 242 m.w.N. 55 Schünemann, ZSR 1978, 155 f. 56 SO Z. B. die schweizerische Regelung in Artikel 137 Strafgesetzbuch. 57 Siehe dazu den Bericht von Schäfer, Niederschriften, Bd. IV 1958, S. 556. 58 Die Stellungnahmen in der Literatur, die deshalb eine gesetzliche Regelung forderten und auch heute noch fordern, sind nahezu unüberschaubar. Nur so sind auch die Versuche erklärbar, diese Lücke auf andere Art und Weise zu schließen, siehe nur oben S. 79 Fn. 35.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
differenzieren kann, ob nur die Fälle strafrechtlich erfaßt sein sollen, in denen der Alleingesellschafter einer GmbH Täter ist oder der Täter X, der einem x-beliebigen Dritten die gestohlene Sache "zueignet". Beide Konstellationen unterscheiden sich in ihrer kriminogenen Motivation erheblich. Der Gesichtspunkt der Diffusität der Ergebnisse fließt damit auch an dieser Stelle in die Beurteilung der Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise mit ein. b) Ähnliches gilt für die Hehlerei. Der Gesetzgeber kann der Meinung sein, daß erst das Handeln des eigenen Vorteils wegen die besondere kriminalpolitische Gefährlichkeit der Tat begründe, weil nur bei Vorhandensein einer solchen Innentendenz das gefährliche Interesse erwache, strafbar erlangtes Gut an sich zu bringen. Diese Auffassung läßt sich durch eine im Jahre 1936 vertretene Ansicht zu einem Änderungsentwurf unterstreichen 59 • Danach entspreche "diese Gestaltung eher den im Volksbewußtsein lebenden Vorstellungen von Hehlerei. Ein Verzicht auf dieses Erfordernis hätte eine allzu weite Ausdehnung der Strafbarkeit zur Folge". Die alte Fassung des § 259 StGB erfaßte so denn auch nur eigennütziges Handeln. § 259 in der Fassung des EGStGB60 stellt demgegenüber auch fremdnütziges Handeln unter Strafe6!. Die überprüfung der einzelnen Tatbestände auf die Frage, ob die egoistische Innentendenz beizubehalten, aufzulockern oder preiszugeben sei, kann somit zu unterschiedlichen bzw. gar entgegengesetzten Ergebnissen führen. Der Gesetzgeber hat denn auch sorgfältig unterschieden, in welchen Tatbeständen es ausschließlich auf egoistisches Handeln ankommt, bzw. in welchen altruistisches ausreicht. Diese vom Gesetzgeber jeweils getroffenen Vorwertungen würden nicht nur verwischt, sondern verschüttet, wendete man die faktische Betrachtungsweise bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz im gleichen Sinne an, wie dies bei der Problematik der Organ- und Vertreterhaftung geschieht. 5. Das bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz vertypte Handeln
Ein weiterer grundlegender Unterschied, der die Untauglichkeit eines einheitlichen Lösungsprinzips für beide Problemgruppen untermauert. besteht in der Beibehaltung bzw. Veränderung des tatbestandlich vertypten HandeIns. 59 So die Meinung zum Entwurf 1936 dargestellt von Schäfer, Niederschriften, Bd. IV 1958, S. 556. 60 In Kraft seit 1. Januar 1975. 61 Vgl. dazu ausführlich Arzt, JA 1979, 574 ff., 577 f.
III. Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz
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Bei der Organ- und Vertreterhaftung werden die in den einzelnen Tatbeständen beschriebenen Handlungen so vom "Pflichtenvertreter" übernommen, wie sie dort beschrieben sind. Der Pflichtenvertreter unterscheidet sich vom "eigentlichen" Sonderdeliktstäter durch das Fehlen der im Tatbestand beschriebenen besonderen persönlichen Merkmale. Die Handlungen an sich, bezogen auf das zu schützende Rechtsgut, bleiben identisch. Eine Vertreterhaftung bewirkt, daß der Vertreter nunmehr auch strafrechtlich für die Erfüllung der von ihm übernommenen Verpflichtungen einstehen muß, was allgemein als billig und notwendig angesehen wird. Mittels einer Zurechnungsvorschrift wird die Sondertätereigenschaft, die der Täter trotz der von ihm vorgenommenen Handlungen in Wahrheit nicht besitzt, rechtlich auch auf ihn übertragen, oder anders ausgedrückt: der Handelnde muß sich besondere persönliche Merkmale eines anderen zurechnen lassen. Im Gegensatz dazu verändert sich der tatbestandlich vertypte Handlungscharakter der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz in dem Moment, in dem auch das Handeln zu fremdem Vorteil mit einbezogen wird. Altruistisches und egoistisches Handeln kennzeichnen zwei grundverschiedene Absichten, die die Handlungsqualität entscheidend beeinflussen. Es geht nicht wie bei der Organ- und Vertreterhaftung um die mangelnde Deckung der eigentlichen Unrechtsstruktur und seiner sprachlichen Fassung im Gesetz 62 , sondern um zwei verschiedene Handlungsalternativen. Bei der Organ- und Vertreterhaftung werden besondere persönliche Merkmale zugerechnet. Bei den Delikten mit egoistischer Innentendenz sollen demgegenüber Absichten zugerechnet werden. Absichten aber lassen sich nicht zurechnen. Als ein Produkt der Willkür des Täters sind sie nicht substituierbar63 • Es ist daher auch nicht vorstellbar, inwiefern tatbestandliche Besonderheiten ein Zurechnungsproblem auslösen sollen. 6. Die Ausdehnung des Täterkreises
Als Ergebnis des letzten Abschnitts konnte festgehalten werden, daß sich in den Fällen der Organ- und Vertreterhaftung die tatbestandlich vertypten Handlungen der einzelnen Straftatbestände nicht verändern. Die durch die faktische Betrachtungsweise intendierte Erweiterung des Täterkreises - Einbeziehung des Vertreterhandelns - wird dadurch gekennzeichnet, daß weitere Dritte, bisher nicht erfaßte Personen, einer Strafbarkeit unterworfen werden. Nicht nur die im Tatbestand mittels 62 63
So Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129. Siehe dazu bereits oben S. 79.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
ihres personalen Status umschriebenen Personen sollen bestraft werden können, sondern auch diejenigen, die den entsprechenden personalen Status zwar nicht besitzen, jedoch als deren Vertreter die im Tatbestand umschriebenen Tathandlungen ausführen. Anders liegt es bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz: Sicherlich kann man auch hier der Auffassung sein, es verändere sich der Täterkreis, wendet man die faktische Betrachtungsweise in all den Fällen an, in denen der Täter nicht egoistisch, sondern altruistisch gehandelt hat. Diese Ausweitung hat jedoch eine andere Dimension. Es geht in Wahrheit nicht um eine Ausdehnung des Täterkreises bei gleichbleibender Handlungsstruktur, sondern um die Ausweitung der strafbewehrten Handlungen (altruistisches kommt zum egoistischen Handeln hinzu). Der bisher aus der Klasse aller Wegnehmenden ausgeschiedene Handlungstypus wird ebenfalls in die Strafbarkeit einbezogen - ein bedeutsamer Unterschied zur Einbeziehung dritter, weiterer Personen. Eine Einschränkung des Tatbestandes durch das Erfordernis besonderer Absichten wird zurückgenommen - bei der Organ- und Vertreterhaftung werden dem bisher erfaßten Kreis aller Täter weitere hinzugefügt. Es ist somit nicht nur erstaunlich, daß die faktische Betrachtungsweise für beide Konstellationen einschlägig sein soll. Es ist besonders mißlich, daß ihr Einsatz die völlig unterschiedlichen Gesichtspunkte, die beiden Fallgruppen zugrunde liegen und die dementsprechend auch eine differenzierte Lösung erfordern, verdeckt. 7. Zusammenfassung
Es sind entscheidende Gesichtspunkte, in denen sich die Probleme der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz von der Problematik der Organ- und Vertreterhaftung unterscheiden. Bis auf den Begriff des "HandeIns für einen anderen" haben beide nichts gemein 64 • Die Ausdehnung des Tatbestands mittels der faktischen Betrachtungsweise auf alle Konstellationen, in denen der Täter zum Vorteil eines anderen handelt, mißachtet die vom Gesetzgeber für die einzelnen Tatbestände getroffenen Vorwertungen. Dies gilt auch für den Fall, daß die Ausdehnung auf all die Fälle beschränkt wird, in denen gesetzliche Vertreter bzw. Organe handeln 65 • Schließlich bringt die Verwendung 64 Siehe dazu Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 128, der eine "Vertretung" bei den Delikten mit egoistisch-beschränkter Innentendenz niemals für möglich hält. 65 So wohl die Intention von Bruns, der die Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz im Zusammenhang mit der Problematik der Organund Vertreterhaftung behandelt - siehe dazu GA 1982, 1 ff.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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der faktischen Betrachtungsweise nicht zum Ausdruck, daß die Sachgesichtspunkte, die hinter der Organ- und Vertreterhaftung und der Problematik der Delikte mit egoistisch-beschränkter Innentendenz stehen, andere sind. Abschließend kann daher, mit einer alten, entsprechend erweiterten Formel von Engisch festgehalten werden 66 : "Vermeide es nach Möglichkeit, für verschiedene Sachverhalte ein und dasselbe sprachliche Zeichen einzuführen", erst recht, wenn das sprachliche Zeichen selbst untauglich, weil zu unbestimmt ist.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen 1. Vorbemerkungen
Die zumindest quantitativ größte Bedeutung hat die faktische Betrachtungsweise bei den Deliktstatbeständen, in denen besondere persönliche Merkmale die Strafbarkeit begründen. Aus diesem Bereich der sogenannten Sonderdelikte1 sind für die faktische Betrachtungsweise die Begriffe relevant, die gleichermaßen in anderen Rechtsgebieten, insbesondere im Zivilrecht, verwendet werden - beispielhaft dafür sind die Begriffe des Bevollmächtigten, des Kommissionärs, des Vollstreckungsschuldners, des Kraftfahrzeughalters oder auch des Beamten. Das Strafrecht verlangt in vielen Fällen nach einer spezifisch strafrechtlichen Inhaltsbestimmung, sobald Begriffe anderer Rechtsgebiete, die dort einen bereits feststehenden Begriffsinhalt haben, auch im Strafrecht zur Anwendung gelangen. In der heutigen Dogmatik ist es eine Selbstverständlichkeit, daß gleichlautende Begriffe in verschiedenen Rechtsgebieten einen unterschiedlichen Begriffsinhalt haben können. Vor 50 Jahren wurde um die Durchsetzung dieser Einsicht noch gerungen, insbesondere soweit es um eine eigenständige Auslegung im Strafrecht ging. Erinnert sei nochmals an die noch heute bedeutsame Schrift von Bruns über "Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken". Zur gleichen Zeit beschrieb Engisch2 den "technischen Widerspruch", den man darin sehen könne, daß an zwei verschiedenen Stellen der Rechtsordnung zwei verschiedene Definitionen desselben Terminus auftauchen, oder daß dieselbe Definition desselben Terminus an verschiedenen Stellen doch nicht dasselbe bedeutet3. 86
1 2
3
Engisch, Einheit, S. 68. Siehe dazu bereits oben Zweiter Teil II 3 c. Engisch, Einheit, S. 43; siehe auch die dort auf S. 44 genannten Beispiele. Siehe auch Engisch, Einheit, S. 72 zur "Relativität der Rechtsbegriffe" .
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Die faktische Betrachtungsweise wurde insbesondere von Bruns, später auch von Wiesener und anderen Autoren als ein Lösungsprinzip dafür angesehen, in welchen Fällen spezifisch strafrechtlich und nicht zivilistisch ausgelegt werden müsse und wie dabei vorzugehen sei. Ein tragendes Prinzip für die Auswahl der Fallkonstellationen wurde jedoch nie herausgearbeitet. Einen positiven Inhalt vermochte die faktische Betrachtungsweise in keinem Fall zu vermitteln. An vielen Einzelbeispielen lassen sich so denn auch die Unterschiede in den Ergebnissen besonders augenfällig demonstrieren. Die faktische Betrachtungsweise bietet in jedem Fall ihrer "Anwendung" eine Palette von Lösungen an, aus denen erst nach einer weiteren normativen Entscheidung das richtige Ergebnis herausgefiltert werden muß. Genau an dieser Stelle erwartet man eigentlich weiteren Aufschluß durch die faktische Betrachtungsweise - vergeblich. Dies spricht im Hinblick auf die Selektionsfunktion eines dogmatischen Prinzips gegen die Tauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise. Kommt man dennoch in den meisten Fällen zum richtigen Ergebnis, ist dies nicht weiter verwunderlich - es wird sich zeigen, daß die faktische Betrachtungsweise funktionslos ist, daß sie in keinem Fall zur eigentlichen Begründung dient, sondern einem wünschenswerten oder auch bereits gefundenen Ergebnis als "Begründung" lediglich "aufgepfropft" wird. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Art und Weise die eigentlichen Sachgesichtspunkte verdeckt werden. Noch schwerer wiegt allerdings die Tatsache, daß die faktische Betrachtungsweise nicht nur zu falschen Ergebnissen führen kann, sondern auch geführt hat. Der folgende Abschnitt soll zum einen an konkreten Beispielen aufzeigen, daß die faktische Betrachtungsweise in vielen Fällen mehrere Lösungsmöglichkeiten gleichzeitig zuläßt, daß sie falsche Ausgangsfragestellungen verdeckt und somit deren Korrektur verhindert. Zum anderen soll die Überflüssigkeit oder gar Untauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise dadurch herausgestellt werden, daß den wirklichen, hinter jeder einzelnen Entscheidung stehenden Gesichtspunkten nachgegangen wird. Zugleich soll dargestellt werden, wie mit den herkömmlichen Methoden überzeugender begründet werden kann, was die faktische Betrachtungsweise zu leisten vorgibt. Schließlich wird sich nachweisen lassen, daß von einem Rechtsprinzip, das sich in der Rechtsprechung herausgebildet haben soll4, keine Rede sein kann. 4 Auf dieser "Erkenntnis" beruhen die Schlußfolgerungen Wieseners für die Lösung der Organ- und Vertreterhaftungsproblematik.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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2. Die Diffusität der Ergebnisse
a) § 290 StGB - Der öffentliche Pfandleiher Als erste Entscheidung im Zusammenhang mit der faktischen Betrachtungsweise führt Wiesener ein Urteil des Reichsgerichts vom 2. April 1883 5 an. Zur Darstellung des Sachverhalts und der rechtlichen Würdigung durch das Reichsgericht kann auf obige Darlegungen verwiesen werden 6 • (1) Die Diskussion durch das Reichsgericht einerseits und die Kommentierung durch Wiesener andererseits erfolgte unter jeweils verschiedener Fragestellung. Das Reichsgericht äußerte sich dazu, ob "öffentlicher Pfandleiher" nur der sein könne, der im Besitz einer öffentlichen (gewerberechtlichen) Konzession sei. Dem Reichsgericht ging es also um die Auslegung des Begriffs "öffentlich". Es kam zum Ergebnis, daß "in dieser Beziehung" der Nachweis der "thatsächlichen" Betreibung genügt7.
Wiesener untersucht dagegen, "ob der Ehemann als rechtlich nicht beteiligter Inhaber des Geschäfts und ohne selbst Konzessionsinhaber zu sein, wegen Ingebrauchnahme von Pfandstücken als Mittäter nach § 290 StGB bestraft werden konnte"8. Ihm geht es ebenso wie einem Großteil der Literatur um das Problem, ob mit dem Begriff des Pfandleihers notwendigerweise die Eigenschaft des Geschäftsinhabers eines Pfandleihgeschäftes verbunden ist. Dies ist auch konsequent, behandelt Wiesener doch die Problematik besonderer persönlicher Tätermerkmale. Unverständlich ist bereits die Vorgehensweise der Literatur, die das Tatbestandsmerkmal "Pfandleiher" in § 290 StGB mittels der faktischen Betrachtungsweise bestimmen will und sich dabei auf eine Entscheidung des Reichsgerichts beruft, das sich mit dieser Frage überhaupt nicht befaßt hat bzw. für welches die InhaItsbestimmung des Begriffs "Pfandleiher" offensichtlich unproblematisch war. Die Literatur hätte sich daher im konkreten Fall nicht auf die Rechtsprechung berufen dürfen, selbst wenn diese ihr Problem - die InhaItsbestimmung des Begriffs "öffentlich" - mit der faktischen Betrachtungsweise gelöst hätte. RGSt 8, 269 ff. Siehe oben Zweiter Teil 11 2 a. 7 Im folgenden wird sich der Verfasser mit den durch Anführungszeichen gekennzeichneten Passagen auseinandersetzen. 8 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 102. 5 6
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
(2) Unabhängig von diesem formalen Einwand ist die faktische Betrachtungsweise auch aus sachlichen Gründen zur Inhaltsbestimmung des Begriffs Pfandleiher ungeeignet. Wenn als Pfandleiher nicht nur der erfaßt werden soll, der Inhaber des Pfandleihgeschäftes ist - von letzterem geht Wiesener offensichtlich aus -, sondern ein größerer Personenkreis, der seinerseits mit der faktischen Betrachtungsweise zu bestimmen sei, dann stellt sich doch die Frage: Wer soll eigentlich genau erfaßt werden? Soll der Täterkreis sich auf die erstrecken, die unabhängig von der Qualität der VertretersteIlung die Funktion eines Inhabers wahrnehmen, oder sollen nur Organe oder gesetzliche Vertreter einbezogen werden? Soll auch derjenige strafrechtlich erfaßt werden können, der den Inhaber während eines längeren Zeitraums vertritt, oder soll die Vertretung während eines Tages ausreichen? Soll jeder gewillkürte Vertreter im Geschäft erfaßt sein, oder soll § 290 StGB gar für jeden gelten, der in einem Pfandleihgeschäft aushilft, unabhängig davon, ob er selbständig Pfandleihverträge abschließen darf? Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise vermag in keiner der aufgelisteten Konstellationen überzeugend anzugeben, warum gerade die eine Gruppe erfaßt werden soll, die andere dagegen nicht. Bereits die Diffusität der Ergebnisse zeigt an diesem Beispiel besonders deutlich die Untauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise. Daß die herkömmlichen Auslegungsmethoden darüber hinaus zu einer einsichtigen Begründung des Ergebnisses führen, werden die späteren Darlegungen zeigen. (3) Einer Lösung harrt allerdings noch die Frage, ob das Reichsgericht zur Lösung seines Problems - der Inhaltsbestimmung des Begriffs "öffentlich" - nicht doch von einer faktischen Betrachtungsweise Gebrauch gemacht hat, wenn es ausführt: "es genügt in dieser Beziehung der Nachweis der thatsächlichen Betreibung". Zwar würde sich eine direkte übertragung auf die Problematik des Pfandleihers verbieten, der übertragung der grundsätzlichen Gesichtspunkte stünde jedoch nichts im Wege, wenn es solche der faktischen Betrachtungsweise eigene grundsätzliche Gesichtspunkte gäbe und diese auch beiden Begriffen zugrunde lägen. Auf eine eingehende Auseinandersetzung kann nicht verzichtet werden. Die Entscheidung des Reichsgerichts zeigte in diesem Fall die Entstehung bzw. den Beginn eines neuen Auslegungsprinzips an, auf das man sich in weiteren Entscheidungen gerne stützt. Die Versuchung liegt nahe, diese erste Aussage in späteren Fällen als Beleg einer bereits als "zulässig" anerkannten neuen
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Auslegungsmethode bzw. eines dogmatischen Prinzips anzuführen. Eine solche Methode oder ein auf solche Art entstandener Begriff wird übernommen, teilweise unreflektiert, und beginnt mit der Zeit eine Eigendynamik zu entwickeln, ja er wird einleuchtend9 oder gar unentbehrlich. Spätestens in diesem Augenblick ist man der Versuchung nicht nur ausgesetzt, sondern erlegen, überhaupt nicht mehr zu reflektieren, ob der Begriff sinnvoll, geschweige denn notwendig ist. Er trägt weniger zur Auslegung bei als zu einer Erweiterung eines Methoden- oder auch Prinzipienkanons, der in seiner Vielgestaltigkeit und Vielfalt kaum mehr geeignet ist, bei der Auslegung konkrete Hilfestellung zu geben. In der Tat wird die Entscheidung des Reichsgerichts als erste Entscheidung unter Verwendung der faktischen Betrachtungsweise dargestellt und zitiert. Die Ausführungen im zweiten Teil der Arbeit haben gezeigt, daß die faktische Betrachtungsweise auf diese Art und Weise "Anerkennung" erlangte, daß sie auch in der Literatur mehrfach verwendet und übernommen wurde, ohne daß es zu einer eingehenden Untersuchung ihrer Zulässigkeit gekommen wäre. Eine überprüfung der Entscheidung des Reichsgerichts zum Merkmal "öffentlich" in § 290 StGB ergibt, daß von der Verwendung eines neuen Auslegungsprinzips keine Rede sein kann. Das Reichsgericht hat von einer irgendwie gearteten faktischen Betrachtungsweise keinen Gebrauch gemacht, um damit den Begriff "öffentlich" in § 290 StGB gegenüber einem im Umgangssprachgebrauch engeren Verständnis - in dem Sinne, daß öffentlich gleichzusetzen sei mit: im Besitz einer obrigkeitlichen (gewerberechtlichen) Erlaubnis - ausweiten zu können. Das Reichsgericht hat die methodische Untersuchung dieser Frage in seinen schriftlichen Gründen nicht dargelegt, sondern ohne weitere Begründung - eingehend auf die Revisionsanträge des Angeklagten festgestellt: "es kommt allein auf das thatsächliche Betreiben an", und damit umschrieben, daß eine gewerberechtliche Konzession zur Betreibung der Pfandleihgeschäfte keine Voraussetzung für die Strafbarkeit nach § 290 StGB ist. Es hat damit auf keinen Fall zum Ausdruck bringen wollen, daß § 290 entgegen einem noch möglichen Sprachverständnis mindere Anforderungen - "es genügt das thatsächliche Betreiben auch ohne Konzession" - stellt, sondern lediglich einen aus der Sicht des Revisionsklägers verständlichen Argumentationsversuch zurückgewiesen. Das Reichsgericht ging zu Recht nicht von einem Verständnis aus, das mit dem Begriff "öffentlich" automatisch die Innehabung einer gewerberechtlichen Konzession verbindet. Würde der Wortlaut (unter 9
Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 142.
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Berücksichtigung aller methodischen Hilfsmittel zu dessen Auslegung, so z. B. der Entstehungsgeschichte) nur ein solches Verständnis zulassen, bedeutete es einen Verstoß gegen den Grundsatz "nulla poena sine lege", wenn der semantische Bedeutungsspielraum des Begriffs "öffentlich" durch eine faktische Betrachtungsweise unterlaufen werden könnte. Von einem derart eingeschränkten Inhalt des Begriffs öffentlich kann nicht ausgegangen werden, im Gegenteil: Die Bedeutung im 8inne von "jedermann zugänglich, jedem offenstehend" tritt zumindest gleichberechtigt daneben. (4) Daß das Reichsgericht in der Entscheidung vom 2. April 1883 an eine faktische Betrachtungsweise nicht gedacht hat, sondern ihm eine solche "Methode" unterstellt wird, dafür spricht eine andere Entscheidung10 , die zwar später ergangen, in der Amtlichen Sammlung jedoch an früherer 8telle abgedruckt ist und auf die in RG8t 8, 269 denn auch verwiesen wird. Dort wird unter Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden festgestellt, was unter dem Begriff des öffentlichen Pfandleihers zu verstehen ist. Nach einem Vergleich mit § 265 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851, der hinsichtlich des Normbefehls (nicht hinsichtlich des Strafmaßes) mit § 290 8tGB von 1871 identisch ist, kommt es zu dem Ergebnis, das Wort "öffentlich" in § 265 des Preußischen 8tGB müsse auf die Offenkundigkeit des Gewerbebetriebes bezogen werden. Dies folge aus der überlegung, daß nach §§ 35, 38 Gewerbeordnung in der Fassung vom 21. Juni 1869 zum Geschäftsbetrieb des Pfandleihers eine Konzession überhaupt nicht erforderlich gewesen war. Dieser Gewerbebetrieb sei erst durch Art. 4 des Gesetzes vom 23. Juli 1879 (RGBl 8. 267) von einer obrigkeitlichen Erlaubnis abhängig gemacht wordenl l • An Privatpersonen, welche eine Konzession zum Betriebe des Pfandleihgewerbes erhalten hatten, könne bei Abfassung des § 290 8tGB daher nicht gedacht worden sein. Das Reichsgericht untermauert seine überlegungen durch einen Blick in die Motive des Entwurfs zu § 286, der der Fassung des § 290 8tGB entsprach. Die Motive ihrerseits begründeten die Ausnahme der 8traflosigkeit des "furtum usus" folgendermaßen: "Wenn dessen ungeachtet der Entwurf die in § 286 enthaltene Bestimmung aufgenommen hat, so ist es der Mißbrauch des öffentlichen Vertrauens durch den öffentlichen Pfandleiher, welcher hier das strafbare Moment bildet." Urteil vom 8. Mai 1883, RG8t 8, 253 ff. Auch heute ist nach der Verordnung über den Geschäftsbetrieb der gewerblichen Pfandleiher vom 1. Februar 1961, BGBl I 1958, 111 7104 - 1 eine Konzession erforderlich, dennoch verneint Eser, in: 8chönke / 8chröder, Rn. 2 zu § 290 das Vorliegen einer Konzession mit einem pauschalen Verweis auf RG8t 8, 253, 270; ebenso Dreher / Tröndle, 8tGB, Rn. 1 zu § 290. 10 U
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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Daraus schließt das Reichsgericht, daß das Wort "öffentlich" auf die Offenkundigkeit des Geschäftsbetriebes bezogen werden müsse, wobei durch die Beschränkung "öffentlich" nur die Personen erfaßt werden sollten, welche das Pfandleihen als ein dem Publikum im allgemeinen zugängliches - öffentliches bzw. jedem offenstehendes - Gewerbe betreiben. Es sollte nicht jeder betroffen sein, der gegen Pfand ein Darlehen gibt. (5) Das Ergebnis dieser Entscheidung wurde mit Hilfe einer Auslegung gewonnen, die die Entstehungsgeschichte des Gesetzes bzw. Sinn und Zweck der Vorschrift einbezog. Es ist auch mit neueren Überlegungen vereinbar, die die sogerrarmte Opferkomponente 12 mit ,einbeziehen. Das allgemeine Wirtschaftsleben zeigt, daß ein Bedürfnis dafür besteht, Pfandleihgeschäfte, soweit sie gewerblich betrieben werden, nicht nur zu tolerieren, sondern auch dafür zu sorgen, daß sie ordnungsgemäß abgewickelt werden können. Dazu bedarf es eines Vertrauensvorschusses für den Pfandleiher, da der Pfandgeber nur schwer, wenn überhaupt die Zuverlässigkeit seines Vertragspartners wird prüfen können oder wegen des damit verbundenen Aufwands wollen, soll das Geschäft für ihn überhaupt noch attraktiv bleiben. Pfandleihgeschäfte gehören zu den sogenannten Massengeschäften des täglichen Lebens, für die die Anonymität der Vertragspartner typisch ist. Der Gesetzgeber hat den dem Pfandleiher entgegengebrachten Vertrauensvorschuß, dem auf der anderen Seite eine besondere Schutzbedürftigkeit des Pfandgebers entspricht, für den Fall des Mißbrauchs mit den Mitteln des Strafrechts sanktioniert. Eine strafrechtliche Sanktion soll allerdings erst dann eingreifen, wenn der Pfandleiher sein Gewerbe als ein jedermann zugängliches betreibt. Es reicht nicht aus, wenn der Pfandleiher "mal" ein Pfand in Empfang nimmt, z. B. weil er seinen Vertragspartner gut kennt. In letzterem Falle erwartet der Wirtschaftsverkehr, daß der Pfandgeber die Zuverlässigkeit seines Vertragspartners auf eigene Gefahr überprüft.
Die Erwägungen zur Auslegung des Begriffs "öffentlich" in § 290 StGB lassen sich anhand der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zum Begriff der "öffentlichen Lotterie" in § 286 StGB untermauern 13 • Bereits im ersten Band ging das Reichsgericht1 4 von einem Bedeutungsinhalt 12 Viktimologische Erwägungen werden heute vielfach zur Auslegung im Strafrecht herangezogen; vgl. dazu z. B. die Habilitationsschrift Hillenkamps, Vorsatztat, der die Rolle des Opferverhaltens im Hinblick auf sogenannte viktimo-dogmatische Ansätze und in der Strafzumessung untersucht hat. Hillenkamp kommt zum Ergebnis, das Verhalten des Opfers könne als "realer Strafzumessungsgrund" fruchtbar gemacht werden (S. 310 ff.); siehe dazu auch aus neuester Zeit Schünemann, Viktimologischer Ansatz, S. 407 ff. jeweils mit vielen Nachweisen. 13 Siehe dazu auch Schild, NStZ 1982, 446 ff. 14 RGSt 1, 357 ff., 358.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
aus, den es mit der griffigen Formel beschrieb: "Dem großen Publikum zugänglich". Auf das in der zugrundeliegenden Revision gleichfalls gerügte "Begriffsverständnis von der obrigkeitlichen Erlaubnis" ist es mit keinem Wort eingegangen. Gleiches gilt für eine ausführliche Inhaltsbestimmung des Begriffs der "öffentlichen Lotterie" aus neuester Zeit von Schild 15 • Schild bestimmt den Begriff "öffentlich" ausgehend von dessen Gegenteil "nicht-öffentlich". Nur eine solche Verstehensweise wird auch dem Umgangssprachgebrauch gerecht. (6) In der heutigen Kommentarliteratur werden zum Begriff des öffentlichen Pfandleihers entweder überhaupt keine Ausführungen mehr gemacht, oder es wird pauschal auf das Reichsgericht verwiesen. Dreher16 , Schäfer 17 und Eser18 betonen ohne weitere Begründung, lediglich unter Verweisung auf RGSt 8, 253, 270, daß es ohne Bedeutung sei, ob die vorgesehene Erlaubnis, die nach § 34 Gewerbeordnung vom 5. 2. 1960 notwendig ist, erteilt ist. Daß der Begriff "öffentlich" faktisch betrachtet werden müsse, mit dieser Feststellung allein ist ein Nachvollziehen der eigentlichen Gründe für die Unbeachtlichkeit einer Konzession nach § 34 Gewerbeordnung nicht möglich. Im Gegenteil, die faktische Betrachtungsweise führt eher in die Irre, da sie den Verdacht aufkommen läßt, das Merkmal "öffentlich" werde unzulässig extensiv interpretiert. Es wird ein Gesichtspunkt problematisiert, der sich mit dem Umgangssprachgebrauch des Begriffs "öffentlich" nicht einstellt. Zugleich wird der Blick vom eigentlichen Problem abgelenkt - nämlich der Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem jedermann zugänglichen Pfandleihgeschäft als einem öffentlichen gesprochen werden kann. Darüber findet man in den Kommentaren jedoch kein Wort. (7) Folgendes Ergebnis kann demnach festgehalten werden:
Es handelt sich bei § 290 StGB um kein Sonderdelikt, das die besondere Pflichtenstellung des konzessionsberechtigten Pfandleihers zum Inhalt hat. Es bedurfte und bedarf keiner faktischen Betrachtungsweise zur Begründung einer Entscheidung im Einzelfall. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts hat zur Inhaltsbestimmung des Begriffs "öffentlich" keine faktische Betrachtungsweise angewandt. Der Begriff der faktischen Betrachtungsweise führt in die Irre, da er den Verdacht aufkommen läßt, das Merkmal "öffentlich" werde unzulässig extensiv interpretiert. 15 16
17 18
Schild, NStZ 1982, 446 ff. Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 1 zu § 290. Schäfer, in: Leipz. Komm., Rn. 3 zu § 290. Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 2 zu § 290.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
127
Die faktische Betrachtungsweise verschleiert den eigentlichen Sinngehalt des Begriffs "öffentlich".
b) § 286 StGB - Der Veranstalter Bei der Auslegung des Begriffs "Veranstalter" in §§ 284, 286 StGB treten vergleichbare Schwierigkeiten wie bei der Auslegung des § 290 StGB auf. Das Reichsgericht setzte sich zweimal mit diesem Tatbestandsmerkmal auseinander 19 • In der ersten Entscheidung ging es um die strafrechtliche Beurteilung eines Angeklagten, der als Prokurist für die Inhaberin einer Firma tätig war; im zweiten Fall handelte der Angeklagte als Geschäftsführer einer GmbH. Zur Bestimmung des Personenkreises, der dem Begriff des Veranstalters eines Glücksspiels bzw. einer Lotterie (§§ 284, 286 StGB) unterfällt, sind wiederum mehrere Abschichtungen denkbar: Die engste Ausdeutung erfaßt lediglich denjenigen als Straftäter, in dessen Namen und auf dessen Rechnung das Geschäft geführt wird. Größer wird der Kreis der strafbaren Personen, bezieht man Organe juristischer Personen mit ein. Eine weitere Ausdehnung bedeutete die Erfassung aller gesetzlichen Vertreter. Die Gedankenkette läßt sich fortsetzen über die Einbeziehung aller gewillkürten Vertreter, weiter all derer, die zwar Vollmacht haben, deren Vollmacht jedoch mit Mängeln behaftet ist bis zu denen, die als Angestellte, stundenweise Beschäftigte oder gar nur gelegentlich Handlangerdienste Leistende im Rahmen eines Glücksspiels oder einer Lotterie tätig sind. Die faktische Betrachtungsweise läßt keine exakte Grenzziehung zwischen dem noch von den Strafnormen erfaßten und dem außerhalb dieser stehenden Personenkreis zu. Die Abschichtung des von den §§ 284, 286 StGB erfaßten Täterkreises nach einsichtigen, begründbaren und nachvollziehbaren Gesichtspunkten ist mit Hilfe der faktischen Betrachtungsweise also nicht möglich. Faktische Verfügungsmacht hat gar der Eindringling, der sich des Nachts unbemerkt oder gewaltsam einen Teil der Lose verschafft, um diese auf eigene Rechnung abzusetzen - daß dieser auf keinen Fall der Strafbarkeit des § 286 StGB unterfällt, ist evident. Ein Auslegungsprinzip "faktische Betrachtungsweise", das derart unterschiedliche Lösungsvarianten ermöglicht, ist bereits unter dem Aspekt der Diffusität der Ergebnisse unbrauchbar 20 • 19 Zur Darstellung der Sachverhalte und der rechtlichen Ausführungen des Reichsgerichts siehe oben Zweiter Teil 11 2 c. 20 Die für die beiden Ausgangssachverhalte adäquate Begründung der im Ergebnis sicher richtig entschiedenen Fälle bleibt dem folgenden Kapitel vorbehalten; die Untauglichkeit des Kriteriums "faktische Betrachtungsweise" kann dort einsichtiger dargestellt werden.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
c) § 266 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. StGB -
Der Bevollmächtigte
Besondere Aufmerksamkeit verdient die faktische Betrachtungsweise bei der Auslegung des Merkmals Bevollmächtigter in § 266 a. F. StGB, soll sie doch "ein Musterbeispiel"21 für die faktische Betrachtungsweise darstellen. Gerade an diesem Beispiel läßt sich jedoch der Gesichtspunkt der Diffusität möglicher Ergebnisse besonders gut demonstrieren. Von einer faktischen Betrachtungsweise könnte sowohl die Rede sein, forderte man eine rechtlich-gültige Vertretungsmacht, d. h. ein Handeln im fremden Namen. Ebenso könnte auch der Aspekt bezeichnet sein, daß ein tatsächlich bestehendes Vertrauensverhältnis vorliegen muß - in der Entscheidung vom 7. Mai 1927 22 z. B. stellte das Reichsgericht auf diesen Gesichtspunkt ab, wenngleich sehr zweifelhaft ist, ob die Beziehungen zwischen Gläubiger und dem "für diesen" vollstreckenden Gerichtsvollzieher in jedem Fall von einem "tatsächlich bestehenden Vertrauensverhältnis" getragen werden. "Faktisch betrachtet" könnte sogar derjenige erfaßt werden, der im eigenen Namen für Dritte handeJt23 - gleichermaßen ließe sich daran denken, daß die faktische Betrachtungsweise lediglich auf den Verzicht der förmlichen Voraussetzungen eines Vertretungsverhältnisses hinweisen soll oder gar nur eine in den konkreten Auswirkungen unbestimmte Loslösung von zivil rechtlichen Kriterien anzeigt. d) § 288 StGB -
Der Vollstreckungsschuldner
Die Funktion der Sonderdelikte wurde, wenn auch in aller Kürze, bereits oben 24 am Beispiel des Vollstreckungsschuldners erläutert. An dieser Stelle geht es darum aufzuzeigen, daß die faktische Betrachtungsweise auch zur Auslegung der einzelnen Tatbestände untauglich ist. Das Spektrum des "möglichen" Anwendungsbereichs der faktischen Betrachtungsweise gerade bei der Auslegung des Begriffs "Vollstrekkungsschuldner" ist sehr weit - in jedem Einzelfall besteht die Möglichkeit, "faktisch" Bestandteile des in § 288 StGB geschützten Vermögens beiseite zu schaffen. Die Palette reicht von dem aus sachlich-rechtlichem Grund Verpflichteten über den gesetzlichen Vertreter, das vertretungsberechtigte Organ bis zu sonstigen Amtsträgern (wie z. B. dem Konkursverwalter 25 ). Im Hinblick auf das in § 288 StGB geschützte Rechtsgut böte sich ebenso an, auch den einfachen Vertreter des Vollstreckungsschuldners einzubeziehen, soweit er faktisch in der Lage ist, 21 22 23 24
25
Bruns, JZ 1954, 15.
RGSt 61, 228 ff. Vgl. RGSt 7, 377 f. Siehe oben Zweiter Teil 11 3 c, insbes. S. 86. Siehe dazu die Ausführungen von Rimmelspacher, JZ 1967,472 ff., 700.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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über das Vermögen zu verfügen. Da zum vollständigen Schutz des Vermögens der Aspekt zivilrechtlicher Bindungen irrelevant ist, gilt das gleiche für den Verwalter, für denjenigen, der die Zwangsvollstrekkung dulden muß, ja sogar den, der die der Vollstreckung unterliegenden Gegenstände lediglich in seinem Besitz oder diese sich gar rechtswidrig verschafft hat. Sie alle sind in der Lage, Bestandteile des geschützten Vermögens beiseite zu schaffen. Das "Prinzip faktische Betrachtungsweise" läßt damit jedes nur wünschbare Ergebnis zu und macht den Gesetzgeber überflüssig. e) Der sogenannte strafrechtliche Beamtenbegriff
des § 359 a. F. StGB
Der Begriff des Beamten im Sinne des § 359 a. F. StGB kennzeichnete die besondere Eigenschaft des Täters bei den Amtsdelikten. Heute entspricht diesem im wesentlichen der Begriff des Amtsträgers, wie er in § 11 Abs. 1 Ziff. 2 StGB definiert ist. Bereits die spezifisch strafrechtliche Begriffsbestimmung im Gesetz selbst zeigt, daß auch der Gesetzgeber davon ausging, daß der staatsrechtliche Beamtenbegriff nicht durch einfache Auslegung entsprechend den strafrechtlichen Zielsetzungen abgeändert, ja erheblich ausgeweitet werden sollte. Die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Regelung ergibt sich daraus, daß die Beamteneigenschaft im staatsrechtlichen Sinne an unabänderbare Voraussetzungen geknüpft ist. Beamter im staatsrechtlichen Sinne ist nur der, der nach den Vorschriften des Staatsrechts in ein Beamtenverhältnis berufen ist. Im Strafrecht soll es nicht auf die formale Beamteneigenschaft ankommen, sondern auf das Vorliegen bestimmter sachlicher Umstände, nämlich die Innehabung bestimmter Amts- und Dienstpflichten, die von der zuständigen Stelle übertragen worden sind. Aber auch zur weiteren Begriffsbestimmung ermöglicht die faktische Betrachtungsweise keine klare Abgrenzung. Vom Verzicht auf förmliche Voraussetzungen angefangen über den Verzicht auf persönliche Voraussetzungen, das Abstellen auf die "tatsächliche" Ausübung hoheitlicher Funktionen (z. B. bei angemaßten Amtsträgern) bis zur Einbeziehung des Vertreterproblems - alle diese Konstellationen können einer faktischen Betrachtungsweise Rechnung tragen. Obgleich es bei der Bestimmung des Beamtenbegriffs weder auf Ernennungs- oder Anstellungsurkunde noch sonstige Formalitäten ankommt, soll der Kreis der angemaßten Amtsträger nach einhelliger Auffassung nicht erfaßt werden. Entscheidend soll die Innehabung, nicht lediglich die Ausübung bestimmter Amtspflichten sein26 • Es sind daher bestimmte normative 26 Auf eine materielle Begründung soll auf Grund der einheitlichen Meinung in diesem Punkt verzichtet werden.
9 Cadus
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Kriterien, die angeben, auf welche Erfordernisse verzichtet werden kann. Die faktische Betrachtungsweise läßt keine Abschichtung der verzichtbaren von den nicht mehr verzichtbaren Voraussetzungen zu. Die Rechtsprechung selbst hat denn auch die faktische Betrachtungsweise zur weiteren Auslegung nicht bemüht. Das Reichsgericht 27 hatte einen Fall zu entscheiden, in dem der Angeklagte infolge strafrechtlichen Urteils die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter verloren hatte - ein Fall, der es im Hinblick auf das Ergebnis nahegelegt hätte, maßgeblich darauf abzustellen, daß der Angeklagte "faktisch" bestimmte Dienstpflichten verrichtet hat. Das Reichsgericht hat sich eine solche "Begründung" nicht zueigen gemacht. Es hat im Gegenteil versucht, die maßgebenden Wertungsgesichtspunkte herauszufinden. So soll die Anstellung seitens der zuständigen Behörde und die Wahrnehmung bestimmter Dienstgeschäfte aufgrund einer Anweisung der zuständigen Behörde entscheidend sein - andernfalls "würde eine Unsicherheit in den Bestand der Amtsgeschäfte getragen, die mit ihrer ordnungsmäßigen Erledigung, also auch mit der Erfüllung der Aufgaben des Staates schlechterdings unvereinbar wäre"28. Entsprechendes soll für einen Fall gelten, in dem die Ernennung nicht in der vorgeschriebenen Form stattgefunden hatte und die Aushändigung einer Ernennungsurkunde nicht erfolgt war 29 • Auch am Beamtenbegriff läßt sich damit zeigen, daß die faktische Betrachtungsweise den unterschiedlichen Wertungsgesichtspunkten nicht Rechnung zu tragen vermag. Diese lassen sich unter einem einheitlichen Etikett "faktische Betrachtungsweise" nicht zusammenfassen. f) § 31 Abs. 2 StVZO -
Der Krajtjahrzeughalter
Bereits oben3o wurde dargelegt, daß die Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs Kraftfahrzeughalter in § 31 Abs. 2 StVZO nie mit der faktischen Betrachtungsweise gearbeitet, sondern im Gegenteil streng am zivilistischen Inhalt des Halterbegriffs in § 7 StVG festgehalten hat, obgleich der Wortlaut gerade des Begriffs "Halter" einen weitaus größeren semantischen Spielraum zuläßt. Die Rechtsprechung zu § 31 Abs. 2 StVZ031 ist ein Beispiel dafür, daß zivilistische Begriffe gerade nicht "faktisch" ausgelegt worden sind. Sie läßt sich auch nicht als GeRGSt 50, 18 f., Urt. vom 30. März 1916. RGSt 50, 19. 29 BGHSt 2, 120. 30 Siehe oben Zweiter Teil 11 2 g. 31 OLG Hamm und OLG Bremen, NJW 1955, 1162 ff.; BGHSt 8, 139 ff.; neuerdings ebenso BGH MDR 1980, 453. 27 28
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
131
währsmann dafür anführen, daß die faktische Betrachtungsweise ein durchgehendes Prinzip darstelle, das immer dann auf die tatsächlichen Verhältnisse abstelle, wenn Begriffe aus anderen Rechtsgebieten ins Strafrecht übernommen würden 32 • Wiesener 33 bescheinigt zwar dem Bundesgerichtshof, längst auf dem Boden der faktischen Betrachtungsweise zu stehen. Der Nachweis gelingt ihm allerdings nicht. Die Rechtsprechung 34 hat die Strafbarkeit z. B. des Angestellten einer GmbH, dem die technische Überwachung des Fahrzeugparks oblag, gerade nicht im Wege einer Auslegung des § 31 Abs. 2 StVZO in Verbindung mit § 21 a. F. StVG - mittels der faktischen Betrachtungsweise - bejaht, sondern nur mit Hilfe der "Überwälzungsvorschrift" des § 151 a. F. Gewerbeordnung 35 • Ohne diese Vorschrift hätte der Angeklagte nicht bestraft werden können. Zur Auslegung des § 7 StVG, der die zivil rechtliche Halterhaftung festlegt, existierte bereits eine feste Rechtsprechung. Danach ist derjenige als Halter anzusehen, der das Fahrzeug für eigene Rechnung in Gebrauch hat und die Verfügungsgewalt darüber besitzt, die ein solcher Gebrauch voraussetzt 36 • Diese Rechtsprechung schließt es aus, denselben Begriff in der entsprechenden Strafvorschrift desselben Gesetzes verschieden auszulegen. Ein weiteres kommt hinzu. Die faktische Betrachtungsweise kann weder Anhaltspunkte noch Gründe dafür angeben, nach welchen Maßstäben unter Berücksichtigung welcher Gesichtspunkte und Kriterien bestimmt werden soll, wieweit der von §§ 31 Abs. 2 StVZO, 21 a. F. StVG umfaßte Personenkreis reichen soll. Solches vermochte ausschließlich § 151 a. F. Gewerbeordnung, der seinerseits durch § 50 a a. F. bzw. § 14 StGB abgelöst worden ist. Auch am Halterbegriff der StVZO lassen sich damit weder Notwendigkeit noch Eigenständigkeit der faktischen Betrachtungsweise nachweisen, wenn auch Wiesener37 glaubt, dies anhand der Rechtsprechung getan zu haben. g) §§ 203 Abs. 1 Ziff. 1 (300 a. F.), 277 1. Alt., 278 StCB -
Der Arzt
Das Tatbestandsmerkmal "Arzt" gehört zwar nicht zum typischen Anwendungsbereich der faktischen Betrachtungsweise. Dessen Ausle32 Zur Inhaltsbestimmung des Begriffs "Halter" in § 284 StGB vgl. auch BayObLG NJW 1979, 2258 f. Das BayObLG orientiert sich an der Auslegung des Begriffs Halter in § 7 StVG, so daß nicht jedes Tätigsein als Croupier ausreicht. Erforderlich soll auch dort Sachherrschaft im eigenen Interesse sein. 33 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 157. 34 Siehe dazu oben Zweiter Teil 11 2 g. 35 Zu dessen Wortlaut siehe oben Zweiter Teil 11 2 g Fn. 45. 36 Siehe oben S. 71. 37 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 151 ff.
9·
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
gung stellt dennoch ein einleuchtendes Beispiel dafür dar, daß eine einheitliche Auslegung mittels der faktischen Betrachtungsweise zu völlig willkürlichen Ergebnissen führt, die dem Schutzzweck der einzelnen Rechtsnormen im Einzelfall zuwiderlaufen. Sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur steht fest, daß der als Arzt auftretende Medizinstudent sich nicht nach § 278 StGB strafbar machen kann, wenn er der kranken Dame, die glaubt, von einem approbierten Mediziner behandelt zu werden, ein unrichtiges Zeugnis über ihren Gesundheitszustand ausstellt. Nach § 277 1. Alt. muß derselbe bestraft werden, selbst wenn er ein richtiges Zeugnis ausstellt. In § 203 Abs. 1 Nr. 1 läßt sich darüber diskutieren38 , ob derselbe Medizinstudent bestraft werden kann, wenn er die bei der Behandlung anvertrauten Geheimnisse offenbart. Die faktische Betrachtungsweise hat keine Schwierigkeiten, in allen drei Fällen den als Arzt zu erfassen, der faktisch als Arzt auftritt und in dieser Funktion tatsächlich praktiziert. Damit würden allerdings die jeweils unterschiedlichen Intentionen der §§ 203, 277 und 278 verwischt. Die entscheidende Frage, welchen Zweck die jeweilige Norm verfolgt, kann mit der faktischen Betrachtungsweise nicht beantwortet werden - sie verdeckt lediglich die maßgebenden Vorwertungen. Sinn und Zweck im Zusammenhang mit dem Wortlaut ergeben bei der Auslegung des § 278 StGB, daß die Allgemeinheit vor einem ganz bestimmten Täterkreis - insofern handelt es sich um ein echtes Sonderdelikt - geschützt werden soll, sobald von diesem bestimmte unrichtige Erklärungen abgegeben werden. In § 277 1. Alt. geht es dagegen nicht um den Schutz vor unrichtigen Erklärungen von Ärzten, sondern um den Schutz der Allgemeinheit davor, daß Gesundheitszeugnisse - unabhängig, ob sie richtig oder falsch sind - von nicht qualifizierten Personen ausgestellt werden. Der Inhalt des in § 203 geschützten Rechtsguts ist streitig39 • Zum einen soll es um den Schutz des Individualinteresses an der Geheimhaltung bestimmter Tatsachen gehen 40 • Zum anderen soll Schutzgut in erster Linie das allgemeine Vertrauen in die Verschwiegenheit der Angehörigen bestimmter Berufe sein 41 • Nicht eine faktische Betrachtungsweise, sondern die unterschiedliche Bestimmung des in § 203 ge38 Gegen eine Strafbarkeit Lackner, StGB, Rn. 2 zu § 203; Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 10 zu § 203; Mösl, in: Leipz. Komm., Rn. 20 zu § 300 a. F. - a. A. dagegen Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 34 zu § 203. 89 Siehe dazu Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 ff., 51 ff. m. w. N. 40 Siehe dazu Lenckner, in: Schönke I Schröder, Rn. 3 zu § 203 m. w. N. U So die heute im Schrifttum überwiegende Auffassung; siehe dazu Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 3 zu § 203 m. w. N.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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schützten Rechtsguts ist entscheidend dafür, ob es ausreicht, daß der Geheimhaltungspflichtige "als Arzt" aufgetreten ist, so daß der Patient ein gerechtfertigtes Vertrauen in Anspruch nehmen konnte, oder ob auf die förmlichen Voraussetzungen einer approbierten Medizinalperson abzustellen ist. Ein Rückgriff auf die historische Auslegungsmethode und damit die Materialien ergibt, daß Gegenstand des Schutzes das private Geheimnis ist, also eine Tatsache, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt ist und an deren Geheimhaltung der Betreffende ein Interesse besitzt4 2 • Erfaßt werden sollen allerdings grundsätzlich nur Angehörige solcher Berufsgruppen, die sozial bedeutsam erscheinen und denen kraft ihrer Ausbildung, ihres Standesrechts oder aus anderen Gründen die Erfüllung gesteigerter Pflichten, nämlich strafrechtlich abgesicherter Geheimhaltungspflichten, zugemutet werden kann. Der Katalog sollte auf solche Berufsgruppen beschränkt sein, denen der Bürger besonderes Vertrauen entgegenbringt, oder denen sich der einzelne weitgehend anvertrauen muß43. Die historische Auslegung tendiert daher eher dazu, die förmlichen Voraussetzungen eines Arztes zu verlangen. Lenckner 44 läßt es im Gegensatz zur h. M., die § 203 als Sonderdeliktstatbestand ansieht, ausreichen, daß der Täter dem Publikum gegenüber als Angehöriger einer der vom Gesetz genannten Gruppen auftritt, d. h. die fragliche Tätigkeit unter Inanspruchnahme der dazugehörenden Bezeichnung (tatsächlich) ausübt. Ob die Voraussetzungen, unter denen dies zulässig ist, im Einzelfall gegeben sind, soll dagegen ohne Bedeutung sein. Täter kann dann auch der "Arzt" sein, der eine Praxis betreibt, ohne je eine Approbation erlangt zu haben. Eine solche Auslegung ist insbesondere dann geboten und auch erforderlich, wenn es darum geht, den Schutz des Privatgeheimnisses effektiv durchzusetzen 45 . Der Wortlaut erlaubt es ohne weiteres, jeden zu erfassen, der "als Arzt" aufgetreten ist und dem im Vertrauen auf die Schweigepflicht Geheimnisse anvertraut worden sind. Strafbar ist danach auch der nicht approbierte Arzt, da der einzelne, der die Dienste der fraglichen Berufe in Anspruch nimmt, meist nicht nachprüfen kann, ob der Betreffende tatsächlich Arzt ist. Vgl. die Beratungen des Sonderausschusses, VII, 9. Sitzung, S. 176. Siehe Fn. 42, S. 176/177; BT-Drucks. 7/550, S. 235 ff., 238. 44 Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 34 zu § 203. 45 Daß eine Beschränkung des Täterkreises überhaupt notwendig und unumgänglich ist, dazu siehe Schünemann, ZStW 90 (1978), 51 ff. So hat auch der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 203 strikt an einer kasuistischen Erfassung der schweigepflichtigen Personen festgehalten. Vgl. ersten Bericht des Sonderausschusses, BT-Drucks. 7/1261, S. 15 unter Berufung auf die Begründung zum E 1962, S. 335. 42
43
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Unabhängig davon, welcher Auffassung im Ergebnis der Vorzug zu geben ist, zeigt das Beispiel des § 203 StGB sehr instruktiv, daß eine faktische Betrachtungsweise zur Lösung nichts beitragen kann. Ob auf die förmlichen Voraussetzungen verzichtet werden kann bzw. verzichtet werden muß - man mag das eine faktische Betrachtungsweise nennen - ist zuerst nach spezifisch strafrechtlichen, normativen Gesichtspunkten zu entscheiden. Aber auch eine Entscheidung dahingehend, daß auf diese verzichtet werden kann, läßt weiterhin offen, wann der Schutz des § 203 eingreifen soll - sicherlich nicht bereits dann, wenn der Patient überhaupt nicht vertrauen durfte, weil sein Gegenüber nichts dazu beigetragen hat, daß der "Patient" gerechtfertigtes Vertrauen in Anspruch nehmen durfte. Eine Entscheidung allein nach dem Kriterium, daß der Patient etwas jemandem anvertraut hat, den er als Arzt angesehen hat, wäre zu grob, um die schutzwürdigen Fälle - mit der Konsequenz der Bestrafungsmöglichkeit des "Arztes" - abschichten zu können.
h) Ergebnis Als Fazit der bisherigen Überprüfung von Einzelbeispielen, die angeblich nur mit der faktischen Betrachtungsweise interessengerecht gelöst werden können, kann festgehalten werden: Hinter der faktischen Betrachtungsweise verbergen sich die unterschiedlichsten Gesichtspunkte. Die faktische Betrachtungsweise selbst kann weder angeben, wann zivilistische Inhalte übernommen bzw. wann zivilistische Begriffe spezifisch strafrechtlich ausgelegt werden müssen, noch ist sie in der Lage, im Falle eines Abweichens von ziviIistischen Inhalten eine Abschichtung danach vorzunehmen, welche Abstriche sich die ziviIistische Betrachtungsweise gefallen lassen muß bzw. welche tatsächlichen Umstände im Einzelfall noch strafrechtlich relevant sind. Darüber hinaus konnte aufgezeigt werden, daß das intuitiv richtige Ergebnis mit den herkömmlichen Methoden weitaus besser und einsichtiger begründet werden kann. In weiteren Konstellationen läßt sich nachweisen, daß die faktische Betrachtungsweise falsche Ausgangsfragestellungen eines Auslegungsvorgangs verdeckt und damit deren Korrektur verhindert. Entweder wurde der Wortlaut entgegen einem semantisch weiten Spielraum reduziert, um ihn dann wieder extensiv auszulegen, oder es wurde ein ziviIistischer Bedeutungsinhalt zugrunde gelegt, der wegen der im Strafrecht anderen Zwecksetzungen nach einer Modifizierung verlangt. Abhilfe soll auch hier wieder die faktische Betrachtungsweise schaffen, wenngleich die Begründung für diese Vorgehensweise verschlossen bleibt.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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3. "Begründungsansatz", der falsche Ausgangsfragestellungen verdeckt
a) § 290 StGB -
Der Pfandleiher
Die Spannweite einer Inhaltsbestimmung des Begriffs Pfandleiher mittels der faktischen Betrachtungsweise wurde bereits dargestellt1. Offen ist allerdings noch die Frage - die sich insbesondere der Literatur stellt - , ob § 290 nur auf den Inhaber eines Pfandleihunternehmens angewendet werden kann, oder ob in dem Sinne faktisch ausgelegt werden muß, daß auch derjenige bestraft werden kann, der lediglich die Geschäfte eines Pfandleihers wahrnimmt, d. h. Pfandleihgeschäfte durchführt, ohne zugleich Inhaber zu sein. Das Reichsgericht hat sich mit dieser Fragestellung nicht beschäftigt2 • Es hat den Nichtinhaber als Pfandleiher bestraft, ohne dazu eine ausdrückliche Feststellung zu treffen. Es ist daher als selbstverständlich davon ausgegangen, daß Pfandleiher jede Person ist, die gewerbsmäßig gegen Verpfändung beweglicher Sachen Geld verleiht 3 • Zur Begründung dieses Ergebnisses bedarf es nach Wiesener 4 der faktischen Betrachtungsweise, die er denn auch dem Reichsgericht unterstellt. Roxin5 geht ebenfalls von einer zivil rechtlichen Statusbezeichnung aus, die auf Ersatzvertreter nicht zutreffe 6 , so daß für deren Strafbarkeit § 14 StGB bemüht werden müsse. Und auch nach Schünemann 7 setzt der Begriff des Pfandleihers einen personalen Status voraus, der sowohl nach der vom Gesetzgeber gewählten Statusbezeichnung als auch nach seinem sozialen Sprachgebrauch die Inhaberschaft des Unternehmens bedinge. Er schließt sich der h. M. an, die die Versuche ablehnt, die durch zivilrechtliche oder soziale Statusbegriffe gekennzeichneten Sonderdelikte im Wege der faktischen Betrachtungsweise umzuinterpretieren8 • Siehe oben S. 121 f. RGSt 8, 269 ff. 3 So auch die heutige Definition in der Gewerbeordnung; s. Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung, Rn. 9 zu § 34. 4 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 101 f.; 146 ff. 5 Roxin, in: Leipz. Komm., Rnrn. 12, 22 zu § 14. Danach handle es sich um einen der wenigen Tatbestände im StGB, in dem § 14 wirksam angewendet werden könne, obgleich im konkreten Fall § 14 Abs. 1 ausscheide und die sehr fragwürdige, weil in Abgrenzung sehr schwierige Bestimmung des Abs. 2 herangezogen werden müsse. 8 Damit meint er wohl den Nichtinhaber, der in gleicher Weise auftritt wie der Inhaber. 7 Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129. 8 Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 130. I
2
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Zur Lösung bedarf es jedoch keines dieser "Umwege". Diese wären erst dann erforderlich, wenn die Auslegung des Begriffs Pfandleiher unter dem Gesichtspunkt "nulla poena sine lege" nur zuließe, den Inhaber eines Pfandleihgeschäftes als Pfandleiher anzusehen. Eine dennoch erfolgende Auslegung mittels der faktischen Betrachtungsweise würde dann freilich einen Verstoß gegen das Analogieverbot darstellen. Weder der soziale Sprachgebrauch noch gesetzliche Definitionen schließen es jedoch aus, unter dem Begriff Pfandleiher jeden zu verstehen, der Pfandleihgeschäfte tätigt und damit einer bestimmten Tätigkeit nachgeht, unabhängig davon, ob er zugleich Inhaber eines Pfandleihgeschäfts ist. Dies gilt zumindest, wenn die entsprechende Person selbstverantwortIich handelt. Davon gehen sowohl Landmann / Rohmer9 in ihrer heutigen Kommentierung, die Gewerbeordnung in den Fassungen von 1879 10 und 1960 als auch das Reichsgericht aus. Eine korrekte Auslegung des Merkmals Pfandleiher zeigt daher im Gegensatz zu einer faktischen Betrachtungsweise, daß es gerade nicht um einen Begriff geht, der in einem anderen Rechtsgebiet einen Bedeutungsinhalt hat, welcher im Strafrecht nicht übernommen werden könnte. Im Hinblick auf die Organ- und Vertreterregelung des § 14 StGB handelt es sich um den Fall, in dem zwar materiell ein Handeln für einen anderen vorliegt, in dem der Handelnde jedoch nach dem betreffenden Tatbestand ohnehin schon Normadressat ist. Es bedarf daher weder einer faktischen Betrachtungsweise, noch müssen die besonderen Voraussetzungen des § 14 StGB erfüllt sein.
b) § 13 Abs. 1 Brausteuergesetz - Der Brauer Der Hinweis auf die faktische Betrachtungsweise überspielt auch bei der Auslegung des Merkmals Brauer die bereits zuvor falsch aufgeworfene Problemstellungll • Wiesener 12 geht offensichtlich davon aus, daß Brauer nur derjenige sein könne, in dessen Namen und für dessen Rechnung das Geschäft betrieben werde. Die faktische Betrachtungsweise soll notwendig sein, um auch den strafrechtlich belangen zu können, der "faktisch" die Stellung desjenigen einnimmt, der die Brauerei betreibt und leitet. Das Gesetz selbst geht von einem solchen engen Begriffsverständnis freilich nicht aus. Es unterscheidet den Inhaber von Brauereien (§ 10 Brausteuergesetz), den Brauer der §§ 9, 13 9
Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung, Rn. 9 zu § 34.
§ 34 Gewerbeordnung vom 23. Juli 1879: "Wer das Geschäft eines Pfandleihers betreiben will ..." und nicht: wer ein Pfandleihgeschäft betreiben will ... - § 34 Gewerbeordnung vom 5. Februar 1960, BGBI 1960 I, S. 61/63 hat insoweit gleichlautenden Inhalt. 11 Zur Darstellung des Sachverhalts siehe oben Zweiter Teil 11 2 b. 12 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 102 f., 146 ff. 10
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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und den Brauereitreibenden des § 38, also den, der die "Brauerei, das Brauen" als ein Gewerbe betreibt. Umschrieben ist damit in § 13 eine bestimmte Tätigkeit und nicht die Person, die Inhaber der Brauerei ist. Das Reichsgericht hat so denn auch den Angeklagten auf Grund seiner Funktion als Brauereitreibenden angesehen und ihn nach § 38 subsidiär verantwortlich gemacht 13 • Zugleich warf es die Frage auf, ob der Angeklagte als Brauereitreibender zugleich Brauer sein könne und damit für eigene Verfehlungen hafte. Der Begriff Brauer bezeichnet all diejenigen, die in der Brauerei tätig sind - er kennzeichnet damit eine bestimmte Tätigkeit und nicht einen besonderen personalen Status. Der Brauereitreibende kann demnach zugleich auch Brauer im Sinne des Brausteuergesetzes sein. Man kann nicht davon ausgehen, daß der Brauereitreibende nur mit einer subsidiären Haftung belegt werden und bei eigenem Zuwiderhandeln gegen die Verpflichtungen aus dem Brausteuergesetz frei sein sollte. Das Reichsgericht hat denn auch folgerichtig den Angeklagten als Brauer und Brauereitreibenden in einer Person angesehen. Dem stand im konkreten Fall der Inhaber der Brauerei gegenüber, das Mündel des Angeklagten. Die Ausführungen des Gerichts, der Angeklagte habe "rechtlich und thatsächlich die Stellung desjenigen eingenommen, der die Brauerei betrieb ...", sollten lediglich dessen Funktion beschreiben. Sie soUten dagegen nicht zum Ausdruck bringen, daß es einer extensiven, besonders zu begründenden Auslegung des Begriffs Brauer bedürfe, um auch den Nichtinhaber strafrechtlich fassen zu können. Mit Hilfe des Wortlauts (Brauer als Tätigkeitsbeschreibung) und der Gesetzessystematik konnte daher der Bedeutungsinhalt des Merkmals Brauer bestimmt werden. Die Frage der Inhaberschaft spielt dabei keine Rolle. Auch das Reichsgericht hat keine Veranlassung dazu gesehen, sich mit dem Problem "Inhaberschaft" auseinanderzusetzen, geschweige denn sah es sich dazu gezwungen, den Begriff Brauer im Wege der faktischen Betrachtungsweise auch auf den Nichtinhaber auszudehnen. Unterstellt, das Merkmal Brauer bezeichnete nur den Inhaber der Brauerei, dann wäre im konkreten Fall neben Bedenken wegen eines Verstoßes gegen das Analogieverbot auch nicht einzusehen, warum der Angeklagte faktisch Inhaber gewesen sein soll - das war er im Gegensatz zur Konstellation, die das Reichsgericht in RGSt 8, 269 14 zu entscheiden hatte, sicherlich nicht. Auch insoweit hätte eine Anwendung der faktischen Betrachtungsweise nicht zur Strafbarkeit des Angeklag13 14
RGSt 24, 354 unten. Siehe dazu oben IV 3 a.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
ten führen dürfen, geschweige denn Gründe angeben können, die einsichtig machen, warum auch der Angeklagte dem entsprechenden Tatbestand unterfallen soll. Einer faktischen Betrachtungsweise bedarf es zur Auslegung des Merkmals Brauer in § 35 Abs. 2 Brausteuergesetz nicht. Die faktische Betrachtungsweise verführt zu einer falschen Fragestellung und versperrt den Zugang zu den ausdifferenzierten Regeln des Brausteuergesetzes. c) §§ 284, 286 StGB -
Der Veranstalter
Auch bei der Auslegung des Merkmals Veranstalter wird des öfteren die Problemstellung ebenso wie beim Pfandleiher und auch Brauer auf die Inhaberschaft reduziert l5 • Dies bedingt freilich im weiteren Gang des Auslegungsprozesses eine Ausweitung, die mit der faktischen Betrachtungsweise bewerkstelligt werden S01l16. Das Reichsgericht 17 stellte sich die Frage, ob neben oder an Stelle einer juristischen Person auch der für diese Handelnde tauglicher Täter des § 286 StGB sein könne. Eine Begrenzung des Bedeutungsinhalts des Merkmals Veranstalter auf den, in dessen Namen und auf dessen Rechnung das Geschäft geführt wird, wäre im Strafrecht nur dann erforderlich, würden Umgangssprachgebrauch und natürlicher Wortsinn keinen weiteren semantischen Spielraum zulassen. Das ist indessen nicht der Fall. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, unter "Veranstalten" auch ein psycho-physisches Handeln zu verstehen - und nur ein solches kann für das Strafrecht relevant sein - , im Gegenteil, diese Auslegung liegt der umgangssprachlichen Bedeutung näher als ein Bedeutungsinhalt, der sich auf die zivil rechtliche Zurechnungswirkung aus haftungsrechtlichen Gründen beschränkt. 15 Zwei Beispiele dafür finden sich in der Rechtsprechung (RGSt 57, 190 ff.; OLG Braunschweig, NJW 1954, 1778 ff.). Beide Entscheidungen belegen, daß die Rechtsprechung gerade nicht mit der faktischen Betrachtungsweise gearbeitet hat. Das OLG Braunschweig ging davon aus, daß Veranstalter der Lotterie nur derjenige sein könne, für dessen Rechnung das Geschäft gehe (NJW 1954, 1779) - im konkreten Fall die Deutsche Klassenlotterie, eine Anstalt des Öffentlichen Rechts. Es war daher zumindest konsequent, von einer Bestrafung des Agenten einer Agentur als Veranstalter abzusehen. Falsch war es dagegen, die Strafbarkeit der Anstalt zu bejahen und den Agenten wegen einer Beihilfehandlung zu bestrafen. Das Reichsgericht betrachtete eine GmbH zwar als Veranstalter, bürdete die strafrechtliche Verantwortlichkeit jedoch dem Geschäftsführer auf. Auch hier hätte gelten müssen: Sobald die Veranstaltereigenschaft des Geschäftsführers abgelehnt worden ist, bedarf es einer strafrechtlichen Zurechnungsvorschrift, um den Geschäftsführer strafrechtlich belangen zu können. 18 So Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 54; ebenso Bruns, JZ 1954, 15 Fn. 44. 17 RGSt 34, 447 ff.; zur Darstellung des Sachverhalts und den Ausführungen des Reichsgerichts siehe bereits oben Zweiter Teil II 2 c.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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Die für die Auslegung des Begriffs Veranstalter sinnvolle Fragestellung lautet deshalb: Kann Veranstalter (auch) der sein, der in fremdem Namen und auf fremde Rechnung handelt, dem also zivilrechtlich das Handeln nicht zugerechnet wird? Unterfällt dieser auch dem Normadressatenkreis des § 286 StGB? - Aufgeworfen ist damit die Frage nach dem in diesem Tatbestand geschützten Rechtsgut. Im Hinblick auf die erste Frage führt Roxin 18 unmißverständlich aus, es bestehe, da nur natürliche Personen im strafrechtlichen Sinne handeln und somit etwas veranstalten könnten, keine Veranlassung, denjenigen, der die Lotterie tatsächlich ins Werk setzt, nicht auch als Veranstalter im strafrechtlichen Sinn (und damit auch im umgangssprachlichen Sinn1D) zu betrachten. Auch nach Blauth20 gehören die §§ 284, 286 StGB entgegen der von Vertretern des Bundesjustizministeriums im Verlauf der Beratungen der Strafrechtskommission geäußerten Ansicht nicht zum Kreis der Deliktstatbestände, auf die eine allgemeine, die strafrechtliche Vertreterhaftung für die Sonderdelikte regelnde Vorschrift Anwendung finden könnte. Erforderlich und ausreichend sei eine eigenständig strafrechtliche Betrachtungsweise21 , so daß auch § 14 StGB nur Verwirrung stifte. Bei der Durchsicht der Kommentare wie auch Lehrbücher fällt auf, daß eine Definition des Begriffs Veranstalter nie gegeben und nur jeweils auf Rechtsprechungszitate verwiesen wird 22 . Das verwundert angesichts des Problems, wie die Strafbarkeit des Täters, der im Namen und für Rechnung einer juristischen Person handelt, begründet werden soll - es bleibt offen, ob im Wege einer "ganz gewöhnlichen und herkömmlichen" Auslegung (d. h. einer in den Grenzen des Wortlauts am geschützten Rechtsgut orientierten Auslegung), ob mit Hilfe einer faktischen Betrachtungsweise23 oder gar mit Hilfe von § 14 StGB24. 18 19
20
21
Roxin, in: Leipz. Komm., Rn. 11 zu § 14.
Vom Verfasser eingefügt.
Blauth, Handeln für einen anderen, S. 130 f. Blauth, Handeln für einen anderen, S. 131. Er zieht diesen Terminus der
faktischen Betrachtungsweise vor und bringt damit zum Ausdruck, daß er ihn nicht nur für überflüssig, sondern auch irreführend hält. Siehe dazu näher Blauth, Handeln für einen anderen, S. 37 f. 22 Dazu nur beispielhaft Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 11 zu § 286; Samson, in: SK, Rn. 4 zu § 286; Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 15 zu § 286; Maurach / Schroeder, Strafrecht, BT I, S. 461 ff. 23 So Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 55 und auch Schünemann, Unternehmenskriminalität, S. 129 f., 142, der in diesem Zusammenhang von der nach wie vor einleuchtenden faktischen Betrachtungsweise spricht. 24 Diesen Weg zieht in einer neueren Entscheidung das BayObLG vor, NJW 1979, 2258 f. Veranstalter ist nach der Auffassung des Gerichts in aller Regel nur derjenige, auf dessen Rechnung das Geschäft geht.
3. Teil: Die eigentliche Problematik
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Oben wurde bereits ausgeführt, daß der Wortlaut einen weiten Auslegungsspielraum läßt. Er läßt es zu, jeden zu erfassen, der die Lotterie aktiv handelnd ins Werk setzt und organisiert, der wesentliche Tätigkeiten, die ein Lotteriespiel erfordert, übernommen hat und in die Tat umsetzt, der, um einen Ausdruck aus der Täterlehre zu verwenden, Tatherrschaft hat 25 und nicht, wem das Ergebnis des HandeIns zivilrechtlich zugerechnet wird. Zur Erfassung des Geschäftsführers einer GmbH bedarf es daher im Gegensatz zu Dreher 26 und Eser 27 auch nicht der Haftungserstreckungsvorschrift des § 14 StGB, da § 286 die soziale Funktion oder die Pflicht, an die die strafrechtliche Haftung anknüpft, unmittelbar selbst beschreibt. Daß der oben beschriebene Personenkreis auch dem Normadressatenkreis des § 286 unterfällt, ergibt sich aus dem in § 286 geschützten Rechtsgut. Spezifischen Gefahren einer unkontrollierten Gewinnauslosung soll begegnet, Manipulationen bei der Weiterleitung und Verteilung von Lotteriegewinnen sollen im Rahmen einer selbständigen Veranstaltung verhindert werden 2B • Solche Überlegungen hat auch das Reichsgericht 29 angestellt, indem es ausführt, der Zweck des § 286 würde erheblich beeinträchtigt werden, wenn straflos bliebe, wer alle zur Ausführung einer öffentlichen Lotterie erforderlichen Handlungen vornimmt, dabei aber als Vertreter auftritt. Es sind daher überlegungen zum semantischen Inhalt des Begriffs Veranstalter und in dessen Rahmen zum Schutzzweck der Rechtsnorm, die Auskunft darüber geben, wer Täter der §§ 284, 286 StGB sein kann. Eine Problematisierung des Kriteriums "Inhaberschaft" verschleiert ebenso wie bei den Begriffen Pfandleiher und Brauer die in Wahrheit maßgeblichen Kriterien der Auslegung. Die faktische Betrachtungsweise bringt allenfalls eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck nämlich daß der Begriff des Veranstalters im Strafrecht nicht nach zivil rechtlichen Kriterien ausgelegt werden darf. d) § 266 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. StGB -
Der Bevollmächtigte
Eine weitere Gruppe bilden die Fälle, in denen die strafrechtliche Problemstellung auf einen Bedeutungsinhalt reduziert wird, wie er in anderen Rechtsdisziplinen herausgebildet worden ist. Der Begriff BeSo v. Bubnoff, in: Leipz. Komm., Rn. 14 zu § 286. Dreher / Tröndle, StGB, Rn. 1 zu § 286. 27 Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 21 zu § 286. 28 v. Bubnoff, in: Leipz. Komm., Rn. 1 zu § 286; Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 1 zu § 286. 25
26
29
RGSt 34, 449.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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amter soll hier nur noch einmal angedeutet werden30 . Eine Problemlösung, die vom staatsrechtlichen Beamtenbegriff ausgeht, ist zu einer extensiven Auslegung nur deshalb gezwungen, weil sie nicht von vornherein spezifisch strafrechtlich ausgerichtet ist; d. h. ausgehend von der Wortsinngrenze - und die geht gerade beim Beamtenbegriff sehr weit entsprechend dem geschützten Rechtsgut den Bedeutungsinhalt bestimmt. Dasselbe Problem stellte sich bei der Auslegung des Merkmals Bevollmächtigter in § 266 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. StGB31. Dessen Auslegung gab dem Reichsgericht besonders oft Gelegenheit zur Bestimmung des Normadressatenkreises32 • § 266 selbst wurde durch Gesetz vom 26. Mai 1933 33 geändert. Die kasuistische Aufzählung wurde durch Begriffe mit eher generalklauselartiger Wirkung ersetzt. Damit verlor die Problematik, ob ein gültiger Vollmachtsvertrag erforderlich ist, zwar an Aktualität. Im Rahmen der dieser Arbeit zugrundeliegenden Fragestellung bleibt dennoch die lohnende Untersuchung, ob das Reichsgericht zur richtigen Lösung bestimmter Fallgruppen eine faktische Betrachtungsweise angewandt hat, ohne die entsprechende Ergebnisse hätten nicht gewonnen werden können 34 . Das Reichsgericht befaßte sich bereits im Jahre 1886 35 mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Bevollmächtigter. Es stellte fest, daß "dabei nichts zur Sache thut, wenn der Auftrag zur Geschäftsführung nicht unter Beobachtung der im Bürgerlichen Recht vorgeschriebenen Formen erteilt ist. Es genügt" - und dabei verweist es auf RGSt 3, 285; 7, 377; 11, 241 und 13, 195 - "wenn die Ausführung derartiger Geschäfte zu den Befugnissen und Pflichten eines übertragenen Amtes gehört."36 Dem Reichsgericht kann nicht unterstellt werden, es habe den zivilrechtlichen Vollmachtsbegriff, der seinerzeit in § 5 I 13 des Allgemeinen 30
31
Zur Auslegung des Begriffs Beamter bzw. Amtsträger siehe oben IV 2 e. § 266 Abs. 1 Ziff. 2: " ... Bevollmächtigte, welche über Forderungen oder
andere Vermögensstücke des Auftraggebers absichtlich zum Nachteil dessen verfügen". 32 Siehe dazu bereits oben Zweiter Teil II 2 d; Dritter Teil IV 2 c. 33 RGBl 1933 I, S. 295 ff. 3< Erinnert sei an ein Zitat von Bruns, JZ 1954, 15, der die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 266 a. F. StGB als lVIusterfall für eine faktische Betrachtungsweise bezeichnete. Für Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 103 bedeutet die Entscheidung des Reichsgerichts vom 7. März 1927 (RGSt 61, 228 ff.) ein weiterer Schritt einer über die Begriffe des Pfandleihers, Brauers, Veranstalters hinausreichenden faktischen Betrachtungsweise, die richtungweisend auch für die Auslegung des Begriffs Bevollmächtigter in einem eigenständig strafrechtlichen Sinn gewesen sei. 35 RGSt 15, 40 ff., Urteil v. 9. November 1886. 36 RGSt 15, 41.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Preußischen Landrechts (ALR) definiert war, entsprechend den spezifisch strafrechtlichen Bedürfnissen mit einer faktischen Betrachtungsweise ausgeweitet. Im Gegenteil, das Reichsgericht hat hervorgehoben, daß der Begriff des Bevollmächtigten auch im ALR viel umfassender verwendet worden ist als zur Beschreibung eines Rechtsverhältnisses, dem eine Vollmacht unter Beobachtung der im Bürgerlichen Recht umschriebenen Formen zugruIl!de liegt (§ 5 I 13 ALR). Auch § 156 I 13 ALR behandelte Personen, welche zur Besorgung gewisser Angelegenheiten öffentlich bestellt waren, beim Abschluß von Geschäften, deren Gegenstand Amtsangelegenheiten waren, als Bevollmächtigte. Nach § 109 I 14 ALR sollte diese Vorschrift auch auf Verwalter fremder Sachen Anwendung finden 37 • Erst nach der Feststellung dieses weiten Anwendungsbereichs des Begriffs Bevollmächtigter im ALR sah sich das Reichsgericht in der Lage, auch im Strafrecht über den Bedeutungsinhalt des § 5 I 13 ALR hinaus auszulegen. Das Reichsgericht betonte bei der Auslegung des Merkmals Bevollmächtigter nach Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 nochmals 38 , es handle sich nicht um eine nach zivil rechtlichen Grundsätzen sich ergebende Rechtsfolge, sondern um eine in einem tatsächlich bestehenden Vertrauensverhältnis wurzelnde, durch seine Natur begründete und deshalb von der zivilrechtlichen Gültigkeit der Vollmacht oder des ihr zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts unabhängige Pflicht. Die Entscheidung vom 7. März 1927 39 , auf die sich Bruns und Wiesener berufen40 , bedeutet daher nicht den Anfang einer faktischen Betrachtungsweise des Bevollmächtigtenbegriffs, sondern setzt eine lange Entwicklung fort. Zu deren Beginn - und der liegt vor Inkrafttreten des BGB - wurde bereits betont, daß sich "der Begriff der Vollmacht im Sinne des § 266 StGB nicht auf den Vollmachts auftrag des Preußischen Allgemeinen Landrechtes, also den Auftrag, ein Geschäft für den Machtgeber und statt seiner zu betreiben41, beschränkt, sondern auch den Fall umfaßt, daß der Beauftragte im eigenen Namen mit dem Dritten handeln soll und deshalb ein Rechtsverhältnis zwischen dem letzteren und dem Auftraggeber nicht entsteht"42. Das Reichsgericht sah sich aus diesem Grunde zu Recht nicht an den Begriff des mittlerweile geltenden § 164 BGB gebunden und führte 37 RGSt 15, 42, wo auf die entsprechenden Bestimmung des ALR hingewiesen wird, heute abgedruckt in einer Neufassung 1970, S. 199, 208. 38 Urteil v. 4. Mai 1908, RGSt 41, 265 ff. 38 RGSt 61, 228 ff. 40 Siehe oben Fn. 34. 41 Inhalt des § 5 I 13 ALR von 1794. 42 RGSt 7, 377 f., Urteil vom 9. Januar 1883.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor Inkrafttreten des BGB aus, der Begriff des Bevollmächtigten wurzle nicht im BGB43. Das Reichsgericht konnte im konkreten Fall zudem - ihm stellte sich die Frage, ob der Gerichtsvollzieher als Bevollmächtigter des Vollstreckungsgläubigers angesehen werden könne - auf eine Entscheidung vom 9. November 1886 44 zurückgreifen, in der ebenfalls ein kraft öffentlichen Amtes Handelnder als Bevollmächtigter angesehen worden war. Bei der Entscheidung des Reichsgerichts im 61. Band handelte es sich daher nicht um eine "neue richtungweisende Auslegung des Bevollmächtigtenbegriffs in einem eigenständig strafrechtlichen Sinn"45, sondern um die konsequente Fortführung einer Rechtsprechung zu § 266 a. F. StGB, die anhand der Gesetzesgeschichte ausführlich begründete, warum der Begriff Bevollmächtigter in § 266 a. F. StGB unabhängig von § 164 BGB ausgelegt werden kann und muß. Sicherlich ist richtig, daß das Reichsgericht in der Entscheidung vom 4. April 1927 - II 951/26 46 - von seiner noch im Jahre 1901 47 vertretenen Ansicht 4B abgewichen ist. Dies bedeutet freilich keine Änderung einer dem "zivilrechtlichen Bevollmächtigtenbegriff verpflichteten Rechtsprechung"49. Auch das Urteil vom 7. März 1901 war nicht am Zivilrecht ausgerichtet. Es verlangte z. B. nicht, daß sich die Vertretungsbefugnis auf einen Vollmachtsvertrag gründen müsse. Die Entscheidung vom 4. April 1927 setzte daher lediglich eine eigenständige Auslegung des Bevollmächtigtenbegriffs fort. Es soll dahingestellt bleiben, ob das Reichsgericht in seiner Entscheidung vom 4. April 1927 die Wortlautgrenze des § 266 verletzt hat. Im Rahmen dieser Arbeit sollte nur aufgezeigt werden, daß es auf keinen Fall der Intention des Reichsgerichts entsprach, zivilrechtliche Begriffe RGSt 61, 230. RGSt 15, 40 f. 45 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 103. 4G Zitiert nach der auf dieses Urteil verweisenden Entscheidung RGSt 62, 15 ff., 20; das Reichsgericht hatte festgestellt, daß nunmehr auch das geschäftsführende Vorstandsmitglied eines Bankvereins mit eigener Rechtspersönlichkeit als Bevollmächtigter des Bankkunden i. S. des § 266 Abs. 1 Ziff. 2 StGB anzusehen sei. 47 Urteil vom 7. März 1901, III StrS, GA 48 (1901), 131 f. 48 Danach war zwischen Auftraggeber und Bevollmächtigtem ein unter den Begriff eines Vertrages fallendes Rechtsverhältnis erforderlich, so daß der Prokurist einer Bankfirma, wenn er über die der Firma von deren Kunden übergebenen Wertpapiere auftragswidrig verfügt, nicht als Bevollmächtigter anzusehen war. 49 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 103. Zur "zivilrechtlich ausgerichteten Auslegung" dieses Begriffs durch die Literatur der damaligen Zeit siehe Bruns, Können die Organe, S. 21 ff. mit entsprechenden Nachweisen. 43
44
3. Teil: Die eigentliche Problematik
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im Strafrecht mittels der faktischen Betrachtungsweise auszuweiten. Die Rechtsprechung zum Bevollmächtigtenbegriff ist auch kein "Musterfall für die Lösung des allgemeinen Vertreterproblems mittels der faktischen Betrachtungsweise"50 - im Gegenteil, gerade mit ihrem ausschließlichen Bezug auf den Bevollmächtigtenbegriff des § 266 Abs. 1 Satz 2 a. F. StGB zeigt sie, daß sie nicht gewillt war, mit einer "faktischen Betrachtungsweise" Lücken zu schließen, die die Vertreterfälle aufwarfen51 . e) § 95 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. Börsengesetz Der "Gelegenheits"-Kommissionär Bei der Auslegung des § 95 a. F. Börsengesetz stellte sich die Frage, ob auch der sogenannte kaufmännische Gelegenheitskommissionär des § 406 Abs. 1 Satz 2 HGB als Kommissionär bestraft werden könne. Die Literatur ging allgemein davon aus, daß dem § 95 Börsengesetz der Bedeutungsinhalt des Merkmals Kommissionär in § 383 HGB zugrunde liege, und versuchte deshalb, durch eine "extensive Auslegung" des § 95 Börsengesetz zu interessengerechten Ergebnissen zu kommen. Es wäre jedoch unzulässig und bedeutete einen Verstoß gegen Artikel 103 Abs. 2 GG, den Kommissionärsbegriff in § 95 a. F. Börsengesetz mit einer faktischen Betrachtungsweise oder welcher Methode auch immer über den Wortlaut hinaus auszudehnen, wenn man erkannt hat, daß Sinn und Zweck die Einbeziehung eines weiteren Personenkreises fordern. Die richtige Problemstellung, unabhängig von einem zivilrechtlichen Bedeutungsinhalt, muß dagegen lauten: Welchen semantischen Spielraum hat der Begriff Kommissionär? Ein vom Kriterium der Gewerbsmäßigkeit des HandeIns unabhängiges Ergebnis führt zur Anschlußfrage, ob das durch § 95 Börsengesetz geschützte Rechtsgut es erforderlich macht - entsprechend den Kriterien der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit - , auch den als Kommissionär zu bestrafen, der nicht gewerbsmäßig handelt. Das Reichsgericht 52 bejahte die Kommissionärseigenschaft auch für den sogenannten kaufmännischen Gelegenheitskommissionär des § 406 Abs. 1 Satz 2 HGB, ohne sich auf eine faktische Betrachtungsweise zu stützen. Es begründete sein Ergebnis ausführlich mit den Motiven des Gesetzgebers53 . Zwar bestimmt § 406 Abs. 1 Satz 2 HGB, daß auch für So Bruns, JZ 1954, 15. Dagegen auch Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 104. Siehe dazu insbesondere die Rechtsprechung zum Kommissionärsbegriff des § 95 Börsengesetz, die ebenso als Beispielsfall einer faktischen Betrachtungsweise aufgeführt wird (Bruns, JZ 1958, 461 ff.); eingehend dazu unten 50
51
IV4 a. 52 53
RGSt 61, 341 ff. RGSt 61, 345.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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Einzelgeschäfte der in § 383 HGB bezeichneten Art die Bestimmungen über das Kommissionsgeschäft gelten sollen, so daß es nahelag, auch den sogenannten Gelegenheitskommissionär in § 95 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. Börsengesetz zu erfassen. Der Wortlaut des § 406 Abs. 1 spricht jedoch ausdrücklich von einem Kaufmann, der nicht Kommissionär ist. Der Gesetzgeber des Börsengesetzes hatte dieses Problem erkannt und sich dennoch in der Begründung des Entwurfs für die Anwendbarkeit des § 95 a. F. Börsengesetz auch auf den Gelegenheitskommissionär ausgesprochen. Er hielt es allerdings für entbehrlich, dies ins Gesetz selbst aufzunehmen. In dieser Auffassung wird er durch einen Blick in ein Wörterbuch der deutschen Sprache bestätigt. Danach ist jeder Kommissionär, der im eigenen Namen und für Rechnung eines anderen kauft - von dem Erfordernis der Gewerbsmäßigkeit des HandeIns ist keine Rede·4 • Eine historische Auslegung in den Grenzen des Wortlauts ermöglichte es daher ohne weiteres, nach § 95 a. F. Börsengesetz auch den zu bestrafen, der Kommissionsgeschäfte in nicht gewerbsmäßigem Umfang getätigt hat. f) §§ 83 a. F., 84 GmbHG, 244 a. F. KO Der Geschäftsführer, das vertretungsberechtigte Organ
Ein Sonderfall der Organ- und Vertreterhaftungsproblematik im weitesten Sinne, der bisher ausgespart worden ist, veranlaßt zu der Frage, ob auch derjenige Geschäftsführer sein kann, der sämtliche Funktionen eines Geschäftsführers wahrnimmt, auch wenn er sich nicht zum Geschäftsführer hat bestellen lassen - sei es, weil er die zivilbzw. strafrechtlichen Konsequenzen umgehen will, sei es, weil er das Amt eines Geschäftsführers wegen vorausgegangenen Konkurses praktisch nicht mehr ausüben kann. Erst in jüngster Zeit hatte der Bundesgerichtshof einen derartigen Fall zu entscheiden". In seiner Begründung stützte er sich insbesondere auf frühere Urteile·6 • Bereits die Leitsätze scheinen auf eine faktische Betrachtungsweise hinzuweisen: "Mitglied des Vorstands einer Aktiengesellschaft kann auch der sein, der im Einverständnis des Aufsichtsrats die Stellung eines Vorstandsmitglieds tatsächlich einnimmt"·7, bzw. "Normadressat von § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG ist auch der tatsächliche Geschäftsführer"·B. Die sorgfältige Lektüre der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ergibt, daß dieser weder auf eine faktische noch tatsächliche Betrach54 55
56
Siehe oben II 1 Fn. 36. BGHSt 31, 118 ff., Urteil vom 22. September 1982. Siehe dazu BGHSt 3, 32 ff.; 21, 101 ff.; BGH GA 1971, 35 f.; BGH 2 StH
768/78 57 58
MDR 1980, 453.
BGHSt 21, 101. BGHSt 31, 118.
10 Cadus
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
tungsweise rekurriert. Der Begriff "tatsächlich" beschreibt lediglich die äußeren Umstände, die vorliegen müssen. Nach einer detaillierten Darstellung des vom Angeklagten wahrgenommenen Aufgabenbereichs kommt der Bundesgerichtshof zu dem Schluß, Sinn und Zweck der Vorschrift würden es gebieten, auch den einzubeziehen, der die Geschäftsführung tatsächlich übernommen hat, wenngleich er nicht förmlich zum Geschäftsführer bestellt worden ist. "Eine andere Auffassung würde den Schutz der Allgemeinheit vor unredlicher Handhabung der Geschäftsführung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung unterlaufen."59 Diese rein teleologische Auslegung läßt sich durch folgende Überlegungen stützen: Die Wertung bzw. Entscheidung der Rechtsgenossen, formal den, den sie mit den Aufgaben des Geschäftsführers betrauen, nicht zum Geschäftsführer zu machen, um ihn auf diese Weise jeglichen - auch strafrechtlichen - Haftungsmöglichkeiten zu entziehen, negiert und mißbraucht bewußt die von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Institute. Sie übernimmt zwar deren äußere Formen, legt diesen jedoch andere Inhalte bei. Dadurch sollen Schutzmechanismen mit entsprechenden Folgen, seien sie zivilistischer oder auch strafrechtlicher Art, umgangen werden, die im Interesse des allgemeinen Rechtsverkehrs aufgestellt worden sind. Die Rechtsordnung übernimmt zwar im Regelfall die von den Rechtsgenossen getroffenen Beurteilungen; im Falle des Mißbrauchs der von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Institute60 kann bzw. muß sie nach den ihr innewohnenden eigenen rechtlichen Wertungen entscheiden. Entscheidend ist daher nicht, wer tatsächlich - faktisch - gehandelt hat, sondern wer materiell - entsprechend den Wertungen der Rechtsordnung, konkret des GmbHG - die Funktion, an die die Strafbarkeit anknüpft, wahrnimmt oder wahrnehmen soll. Dieses Ergebnis ist auch durchaus mit dem Wortlaut des § 84 GmbHG vereinbar und daher von der Wortsinngrenze gedeckt. Dies bringt auch die Begründung in BGHSt 3, 38 zum Ausdruck, "wonach es als ausreichende Bestellung zum Geschäftsführer angesehen werden kann, wenn die entsprechende Funktion im Einverständnis aller Gesellschafter eingenommen wird, zumal die Bestellung nach § 46 Nr. 5 GmbHG Sache der Gesellschafter ist, eine Gesellschafterversammlung keiner förmlichen Einberufung bedarf - § 51 Abs. 3 - und die Beschlüsse der Versammlung zu ihrer Gültigkeit keiner Beurkundung bedürfen". Es ist daher eine teleologische Auslegung in den Grenzen des Wortlauts und gerade nicht eine faktische Betrachtungsweise, die zu einsich59 60
BGHSt 31, 122. Z. B. der Figur des Geschäftsführers einer GmbH.
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tigen und auch begründbaren Ergebnissen führt. Der Hinweis auf die faktische Betrachtungsweise verschleiert in diesem Zusammenhang zudem, daß es um kein spezifisches Zurechnungsproblem wie z. B. bei der Organ- und Vertreterhaftungsregelung geht, sondern die Inhaltsbestimmung des Merkmals Geschäftsführer 61 • § 14 StGB selbst findet im konkreten Fall keine Anwendung; insoweit kann auf die ausführliche Begründung des Bundesgerichtshofs62 verwiesen werden. Allen bisher diskutierten Beispielen war gemeinsam, daß die faktische Betrachtungsweise jeweils nur ein Ergebnis feststellt, in keinem Fall jedoch eine Begründung dafür angeben konnte, warum gerade so und nicht anders auszulegen war. Es lag jeweils ein Begründungsdefizit der eigentlich zu begründenden Entscheidung vor, ein Verstoß gegen eine methodengerecht begründete Entscheidung 63 • Doch hatten die Lösungen immerhin unter dem Gesichtspunkt der Ergebnisrichtigkeit Bestand. Demgegenüber lassen sich auch Beispiele aufzeigen, in denen mittels der faktischen Betrachtungsweise falsche, gegen den Grundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßende Ergebnisse erzielt worden sind. 4. "Begründungsansatz", der zu unvertretbaren Ergebnissen führt
a) § 95 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. Börsengesetz - Der Kommissionär Der Bundesgerichtshof stellte in einer Entscheidung vom 19. November 1957 1 fest, an Stelle einer juristischen Person, die im handelsrechtlichen Sinne Kommissionär sei, sei strafrechtlich derjenige als Kommissionär anzusehen, der das Kommissionsgeschäft für sie tatsächlich ausführe 2 • Die Verschiedenartigkeit des Handelsrechts und des Strafrechts, die schon in der andersartigen Aufgabe begründet liege, ermögliche, ja gebiete es sogar, einen Begriff des Handelsrechts nicht schlechthin mit gleichem Inhalt im Strafrecht zu übernehmen3 • Der Bundesgerichtshof legte damit den Kommissionärsbegriff zum ersten Mal abweichend von der Rechtsprechung des Reichsgerichts aus 4 • Er bezog sich im entscheidenden Punkt zu Unrecht auf ein Urteil des Reichsgerichts vom 5. Juli 19016, das in einem vergleichbaren Fall eine Verurteilung abgelehnt hatte. n Dasselbe Problem kann auch im Rahmen des § 14 StGB auftreten, wenn es um die Bestimmung z. B. des Organbegriffs geht. 62 BGHSt 31, 122 f. 63 Siehe dazu oben Zweiter Teil I 2. 1 BGHSt 11, 102 ff. 2 Siehe dazu ausführlicher oben Zweiter Teil 11 2 e. 3 BGHSt 11, 103. 4 Vgl. dahingehend RGSt 63,251, 255; 69, 65, 73; HRR 1930, 2132. 5 RGSt 34, 374 ff., 378. 10'
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Der Entscheidung des Bundesgerichtshofs kann weder im Ergebnis noch in der Begründung zugestimmt werden. Ein erster Mangel liegt bereits in der falschen Problemstellung. Eine solche hätte die Grenzen der Auslegung aufgezeigt, mochte auch normativ ein Bedürfnis nach dem Einsatz von Strafe vorgelegen haben. Indem der Bundesgerichtshof die Frage stellte, ob es das Strafrecht erforderlich mache, auch den als Kommissionär zu bestrafen, der im fremden Namen handle, urteilte er nicht in der ihm zugewiesenen Rolle als Rechtsanwender, sondern in der des Gesetzgebers. Einem das Gesetz anwendenden Gericht hätte sich die Frage anders stellen müssen: Erlaubt es der Wortlaut des Begriffs Kommissionär in § 95 Börsengesetz, auch den im fremden Namen Handelnden als Kommissionär anzusehen? Erfordert das durch § 95 Börsengesetz geschützte Rechtsgut überhaupt eine solche Ausdehnung? Oder anders formuliert: Verlangt der Begriff des Kommissionärs in § 95 Börsengesetz eine strafrechtliche Sondereigenschaft, die an die Voraussetzungen des in § 383 HGB definierten Begriffs anknüpft, oder kann der Begriffsinhalt weiter gefaßt und auch auf den bezogen werden, der nicht im eigenen Namen tätig wird? Beim Kommissionärsbegriff handelt es sich anders als bei den Begriffen des Pfandleihers, Brauers, Bevollmächtigten (vor Inkrafttreten des BGB) und Veranstalters um einen im Zivilrecht eindeutig definierten Begriff. Soll nach § 383 Abs. 1 HGB Kommissionär nur der sein, der gewerbsmäßig für Rechnung eines anderen im eigenen Namen kauft oder verkauft, so schließt dies aus, denjenigen als Kommissionär anzusehen, der das Geschäft für einen anderen (z. B. auch eine juristische Person) ausführt. Auch die Wörterbücher der deutschen Sprache beschreiben den Inhalt des Begriffs "Kommissionär" in gleicher Weise 6 • Es handelt sich daher um keinen Begriff des allgemeinen Rechtsverkehrs, der im Zivilrecht einen engeren Bedeutungsinhalt hat, als es der Umgangssprachgebrauch bzw. der semantische Bedeutungsspielraum zuläßt. Die Entscheidung des Reichsgerichts 7 , auf die sich der Bundesgerichtshof beruft, hat die vom Bundesgerichtshof aufgestellten Kriterien gerade nicht ausreichen lassen. Die Begründung der ersten Instanz, der Angeklagte sei als der tatsächliche Urheber des Delikts zu betrachten und müsse deshalb für die Begehung des Delikts strafrechtlich verantwortlich gemacht werdenS, hat es zurückgewiesen. Es betonte, die Organe, die in Vertretung der juristischen Person handelten, seien nur 6
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Siehe dazu die Nachweise oben II 1 Fn. 36. RGSt 34, 374 ff.
s RGSt 34, 377.
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unter der Voraussetzung strafbar, daß in ihrer Person und ihrem Tun der gesamte Tatbestand der vom Gesetz mit Strafe bedrohten Handlung erfüllt sei. Erst die persönliche Haftung und der Zweck des Gesetzes rechtfertigten es, auch den Angeklagten als Kommissionär anzusehen 9 • Das Reichsgericht hat damit zum Ausdruck gebracht, daß ein Handeln für die Gesellschaft allein nicht ausreicht 1o • Der Bundesgerichtshof hat demgegenüber, indem er ein tatsächliches Handeln für die Gesellschaft hat genügen lassen, auf die Bestimmung der Kommissionärseigenschaft praktisch verzichtet. Sein Urteil mag im Ergebnis wünschenswert sein, dies rechtfertigt es jedoch nicht, die in § 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG festgelegte Wortlautgrenze zu mißachten. Soll dennoch bestraft werden können, ist der Gesetzgeber aufgerufen - den Gerichten sind de lege lata die Hände gebunden. Der Wortlaut läßt es nicht zu, von einem Kommissionär im faktischen, spezifisch strafrechtlichen Sinn zu sprechen, wenn der Täter nicht im eigenen, sondern fremden Namen gehandelt hat. Im übrigen widerspräche es der Funktion der Sonderdeliktel l , einen Sonderdeliktstatbestand mit der faktischen Betrachtungsweise auf die gerade nicht qualifizierten Organe einer juristischen Person zu erweitern. In einer Rezension forderte Bruns l2 , der dem Bundesgerichtshof sowohl in der Begründung als auch im Ergebnis zustimmte, de lege ferenda, den gewillkürten Vertreter in die Vertreterhaftung einzubeziehen, da sonst mit Hilfe der faktischen Betrachtungsweise die Strafbarkeit über die Grenzen des § 14 des damaligen Entwurfs l3 hinaus auf Bevollmächtigte erweitert werden würde. Eine solche Feststellung macht deutlich, wie bedenklich weit die Möglichkeiten einer faktischen Betrachtungsweise reichen sollen. Die zutreffende Folgerung hätte lauten müssen: Wenn eine Organ- und Vertreterregelung überhaupt notwendig ist, dann können weitergehende Ergebnisse auch nicht mit einer faktischen Betrachtungsweise gewonnen werden. Ist allerdings die faktische Betrachtungsweise zulässig, dann ist eine Vertreterregelung, wie sie heute in § 14 StGB enthalten ist, überflüssig und verwirrend. Daß dies nicht der Fall ist, wurde oben l4 ausführlich dargelegt. RGSt 34, 378. Dem Ergebnis des Reichsgerichts kann gleichwohl nicht zugestimmt werden, weil es die in § 1 StGB festgelegte Wortlautgrenze nicht beachtet hat. Es stieß auch in der Literatur seinerzeit zu Recht auf Ablehnung. Siehe dazu die entsprechenden Nachweise bei Bruns, Können die Organe, S. 19 f. 11 Zu der Funktion der Sonderdelikte siehe oben Zweiter Teil IV 3 C. 12 Bruns, JZ 1958, 461 ff. 13 Abgedruckt bei Bruns, JZ 1958, 462. 14 Siehe oben II 1. g
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
In einer weiteren Entscheidung 15 hat der Bundesgerichtshof auch einen gewillkürten Vertreter, den Prokuristen einer ORG, unter den Kommissionärsbegriff des § 95 a. F. Börsengesetz subsumiert. Mehr als ein Verweis auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. November 1957 läßt sich den in GA 1964, 130 abgedruckten Gründen nicht entnehmen, so daß dieses Urteil ebensowenig Zustimmung finden kann. Wiesener, dessen Intention es ist, die Verwendung der faktischen Betrachtungsweise in der Rechtsprechung und deren allgemeine Tauglichkeit zur Auslegung nachzuweisen l6 , folgt der Rechtsprechung zum Begriff des Kommissionärs nicht1 7 • Bruns bemerkt zwar, der Bundesgerichtshof habe "mit bemerkenswerter Unbekümmertheit" 18 eine "ziemlich kühne Auslegung" 19, eine "Flucht in die tatsächliche Betrachtungsweise", eine Begründung gewählt, "die allgemein nicht überzeugen oder Beifall finden wird"20; im Ergebnis zögert er dennoch auch de lege lata nicht, die faktische Betrachtungsweise als Begründungsansatz zur "extensiven Auslegung" des Kommissionärsbegriffs zu billigen. Das Bestreben einer im Grundsatz sicherlich anerkennenswerten, spezifisch strafrechtlichen Begriffsbildung mittels der faktischen Betrachtungsweise zeigt somit am Beispiel des Kommissionärsbegriffs in § 95 Abs. 1 Ziff. 2 a. F. Börsengesetz besonders deutlich, welche Gefahren eine faktische Betrachtungsweise in sich birgt. Eine faktische Betrachtungsweise mit dem auf den ersten Blick beeindruckenden Argument, das Strafrecht regle andere Interessen als das Zivilrecht und fordere daher eine eigene Wertung, kann allerdings dann nicht mehr als methodengerechte Begründungshilfe im Strafrecht angesehen werden, wenn sie Schranken zu überwinden zuläßt, die sowohl im StGB als auch im Grundgesetz festgeschrieben sind. Grenze der Auslegung kann für sie dann offensichtlich nur die Wünschbarkeit des Ergebnisses sein. Der Bundesgerichtshof hätte sich daher besser an eine Feststellung von Bruns aus dem Jahre 1931 gehalten, die auch 1957 immer noch Gültigkeit hatte: "Soweit die Formulierung des jeweiligen strafrechtlichen Tatbestandes zur zivil rechtlichen Betrachtungsweise ~wingt," - gemeint ist damit zur übernahme des im Zivilrecht geltenden Bedeutungsinhaltes, da auch der Umgangssprachgebrauch keine Ausdehnung zuläßt "muß auf Grund dieser die Tatbestandsmäßigkeit des Randelns der 15 16
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BGH, Urteil vom 6. September 1962, GA 1964, 130. Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 16. Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 106. Bruns, JZ 1958, 462. Bruns, JZ 1958, 46l. Bruns, JZ 1958, 462.
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Ol'gane und die Möglichkeit ihrer Bestrafung aus der jeweilig,en Vorschrift verneint und eine Gesetzeslücke festgestellt werden."21
b) § 288 StGB - Der Vollstreckungsschuldner Zur Bestimmung des Normadressatenkreises von § 288 StGB kann auf eine lange Liste von Entscheidungen des Reichsgerichts zurückgegriffen werden22 . Die Frage, ob nicht nur der Rechtsträger selbst, sondern auch dessen gesetzliche Vertreter, das vertretungsberechtigte Organ einer juristischen Person oder ein sonstiger Amtsträger Vollstrekkungsvereitelung begehen könne, hatte das Reichsgericht bereits im Jahre 1887 23 verneint. Vollstreckungsschuldner sei nur der, der dem Gläubiger gegenüber aus einem sachlich-rechtlichen Grund dessen Zwangsvollstreckung in Bestandteile des ihm gehörenden oder seiner Beherrschungsmacht unterliegenden Vermögens zu dulden habe 24 . Das Reichsgericht25 begründete diese Auffassung zum einen mit den Motiven des Gesetzgebers, zum anderen mit der erst später eingefügten Vorschrift des § 214 a. F. KO, durch die die Strafbarkeit auf dem Gebiet allein des strafbaren Bankrotts auch auf gesetzliche Vertreter ausgedehnt worden war. Eine solche "Zurechnungsregelung" war notwendig, weil §§ 209 - 211 a. F. KO die Identität des Täters mit dem Schuldner voraussetzten, welcher seine Zahlungen eingestellt hatte. Der Gesetzgeber ließ in den Motiven zu § 288 StGB deutlich erkennen, daß entsprechende Erwägungen - Identität des Täters mit dem Schuldner, dem die Zwangsvollstreckung droht - auch bei § 288 StGB angestellt worden waren. Dennoch unterblieb im Rahmen der Zwangsvollstrekkung eine dem § 214 KO entsprechende Regelung, woraus man folgern konnte und mußte, daß es gerade nicht der Absicht des Gesetzgebers entsprach, den Täterkreis des § 288 StGB auf Vertreter und Organe auszudehnen. Bei dieser Rechtsprechung ist es bis zur Gegenwart geblieben und die h. M. in der Literatur26 ist ihr gefolgt, ungeachtet des sicherlich unbefriedigenden Gefühls einer Strafbarkeitslücke, die allerdings durch § 50 a a. F. StGB zumindest teilweise geschlossen worden ist. De lege ferenda bleibt anzumerken, daß § 269 StGB im Entwurf 1962 vorschlug, auch den als Täter zu erfassen, der die Tat bei einer einem
Bruns, Können die Organe, S. 84. Siehe dazu RGSt 68, 108 mit Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung. 23 RGSt 16, 121 ff., Urteil vom 26. Mai 1887. 24 RGSt 68, 108. 25 RGSt 16, 121 ff. 26 Siehe nur Schäfer, in: Leipz. Komm., Rn. 27 zu § 288; Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 24 zu § 288. 21
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
anderen drohenden Zwangsvollstreckung an Vermögensbestandteilen des anderen mit dessen Einwilligung oder zu dessen Gunsten begeht. Dieser Vorschlag wurde auch in Art. 18 Nr. 135 des Entwurfs EG8tGB 197427 übernommen, der Bundestags-8onderausschuß beschloß jedoch, ihn zurückzustellen. 8either erging das erste Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29. Juli 1976 - § 288 8tGB blieb davon freilich unberührt. Diese im Prinzip einheitliche Linie zur Auslegung des Merkmals Vollstreckungsschuldner in § 288 8tGB erkannte auch Wiesener. Er stellte fest 28 , das bei der Auslegung des § 288 8tGB bestehende zivilistische Hindernis sei vielfach als für die faktische Betrachtungsweise unüberwindbar angesehen worden. Dennoch sprach er sich für die Ausweitung des § 288 mittels der faktischen Betrachtungsweise aus, deren allgemeine Tauglichkeit zur Auslegung zivilistischer Merkmale er nachgewiesen zu haben glaubte. Der von Wiesener mit Hilfe der faktischen Betrachtungsweise gefundene Anwendungsbereich29 ist freilich ein Ergebnis der allgemeinen Fragestellung, welche Verhaltensweisen durch welchen Personenkreis unter dem Gesichtspunkt wirksamen Gläubigerschutzes als strafwürdig erachtet werden 30. Dabei handelt es sich wiederum um eine nicht vom Rechtsanwender, sondern vom Gesetzgeber zu beantwortende Problemstellung. Zur Bestimmung des Täterkreises selbst greift Wiesener auf die Pflichtenlehre Roxins zurück 31 , mittels der er die Verhaltenspflicht des § 288 8tGB nicht auf denjenigen begrenzen will, dem das Vermögen rechtlich zugeordnet wird und gegen den der Vollstreckungstitel lautet, sondern auch auf den erstreckt, der das Vermögen tatsächlich zu verwalten hat 32 • Abgesehen davon, daß diese Lehre in der Literatur umstritten ist, verkennt Wiesener die Ausführungen Roxins im entscheidenden Punkt. Roxins Intention ist es gerade nicht, Dritte, die außerhalb der Bindungen des Zwangsvollstreckungsrechts stehen und mit dem Gläubiger unmittelbar nichts zu tun haben, in § 288 8tGB einzubeziehen33 • Er hält es im Gegenteil für sinnvoll, daß der Gesetzgeber denjenigen als Zentralgestalt des Geschehens ansieht, an den sich der 27 28
BT-Drucks. 6/3250 und 7/550.
Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 180.
29 Zur Diffusität der verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten siehe bereits oben IV 2 d. 30 Zur Bestimmung des Normadressatenkreises unter den Gesichtspunkten der Strafwürdigkeit und vor allem der Strafbedürftigkeit siehe bereits oben S.86. 31 Siehe dazu Roxin, Täterschaft, S. 352 ff., 379 ff. 32 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 180. 33 Roxin, Täterschaft, S. 385.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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Gläubiger halten muß, der ihm haftet. Er versucht deshalb mittels des Pflichtgedankens, den Vollstreckungsschuldner, bei dessen Inhaltsbestimmung er sich an die Rechtsprechung und h. M. hält, strafrechtlich auch dann zu fassen, wenn dieser z. B. seinen Freund bittet, der Zwangsvollstreckung unterliegende Sachen wegzubringen 34 . In diesem Falle nimmt er eine der Strafrechtsnorm vorgelagerte Pflicht an. Diese nur dem Vollstreckungsschuldner und nicht etwa auch dessen Vertreter auferlegte Pflicht gebiete es ersterem, sein Vermögen dem Zugriff des Gläubigers offenzuhalten. Das in § 288 StGB strafbewehrte Verhalten des gerade eng begrenzten Täterkreises soll über eine "vorgelagerte Pflicht"35 erweitert werden, um nicht erst über die strafrechtliche Erfassung Dritter den "eigentlichen" Täter bestrafen zu können. Auf die Pflichtenlehre Roxins hätte Wiesener daher sein Ergebnis gerade nicht stützen dürfen. Zur Begründung seiner Auffassung beruft sich Wiesener des weiteren auf die Ausführungen Rimmelspachers36 , wiewohl dieser eine faktische Betrachtungsweise ablehnt 37 • Rimmelspacher stellte fest, daß in den Fällen, in denen gegen ein unter Sonderverwaltung stehendes Vermögen vollstreckt werde, in der zivilrechtIichen Rechtsprechung und Literatur darüber gestritten werde, wer überhaupt als Vollstreckungsschuldner38 anzusehen sei. Von der Entscheidung dieser zivilprozessualen Frage, die von Vertreter-, Amts- und Organtheorie getragen werde 39 , könne unmöglich abhängen, wem i. S. des § 288 StGB die Zwangsvollstreckung drohe 40 . In der Tat gibt die Lösung dieser Streitfrage nichts für die Bestimmung des Täterkreises in § 288 StGB her. Sie soll lediglich im Zivilprozeßrecht die förmlichen Voraussetzungen dafür klären, wer in der Klageschrift und im Urteil als Partei bezeichnet wird. Sie wird denn auch allgemein für die Bestimmung des Täterkreises in § 288 StGB nicht herangezogen. Auf keinen Fall ergibt sich daraus, daß § 288 fak34 Zu diesem in der strafrechtlichen Lehre noch immer umstrittenen Fall siehe Herzberg, JuS 1974,376 f. m. w. N. 35 Roxin, Täterschaft, S. 385. 36 Rimmelspacher, JZ 1967, 472 ff.; dagegen Schmitt, JZ 1967, 698 f.; siehe dazu nochmals Rimmelspacher, JZ 1967, 700 und Schmitt, JZ 1968, 123 ff. 37 Zur Begründung Rimmelspachers siehe JZ 1967,474. 38 Genau genommen geht es nicht um die Frage der Vollstreckungsschuldnerschaft, da im Konkursverfahren an die Stelle des Begriffs Vollstreckungsschuldner der Gemeinschuldner tritt, sondern um die rechtliche Stellung des Konkursverwalters, insbesondere die Frage, ob in der Klageschrift und im Urteil der Gemeinschuldner oder der Konkursverwalter als Partei bezeichnet wird. 39 Jauernig, Zwangsvollstreckungsrecht, § 44 . • 0 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 181.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
tisch anders - wie auch immer - ausgelegt werden müßte. Im übrigen sind die Beispiele des Konkurs- bzw. Zwangsverwalters gerade nicht geeignet, die Fragen der Vertreterhaftung in § 288 StGB beantworten zu helfen. Die obigen Ausführungen haben bereits gezeigt, daß der Gesetzgeber im Falle des Konkurses anders entscheiden wollte als im Falle der Einzelzwangsvollstreckung - und um die allein geht es in § 288 StGB. Ein Teil der älteren Literatur schließlich wollte den Adressatenkreis des § 288 StGB auch über den Vollstreckungsschuldner, d. h. den jenem Rechte persönlich Verfangenen, auf den gesetzlichen Vertreter bzw. auf Organe ausdehnen4!. Es fehlen allerdings Auseinandersetzungen mit der Rechtsprechung, den Motiven und der Frage des vom Wortlaut erfaßten Schutzbereichs des § 288. Es fällt auf, daß Schröder, Maurach, Welzel und Jagusch sich lediglich gegenseitig zitieren, ohne eine Begründung für ihre von der Rechtsprechung abweichende Auffassung zu geben. Allein Binding stellt aus einer de lege lata unzulässigen Sicht fest, daß die einengende Auslegung zu ganz unbefriedigenden Ergebnissen führen würde 42 • überflüssig, ja sogar verwirrend ist der Hinweis auf eine faktische Betrachtungsweise43 , wenn es um die Bestimmung des Gegenstands der Vollstreckungsvereitelung geht. Nach ständiger Rechtsprechung bezeichnet dieses Tatbestandsmerkmal gerade nicht die eigentumsmäßige Zuordnung der Vermögensbestandteile, sondern das der Zwangsvollstreckung unterliegende Vermögen 44 • Für die Auslegung sind die Regelungen des Zwangsvollstreckungsrechts maßgebend 45 • Auch das besitzanzeigende Fürwort "sein" zwingt zu keiner anderen Deutung - es zeigt die im Zwangsvollstreckungsrecht maßgebende Herrschaftsmacht des Besitzers an46 • Eine spezifisch strafrechtliche Betrachtungsweise, wie sie die faktische Betrachtungsweise auf ihre Fahnen geschrieben hat, findet damit gerade nicht statt - es kommt nicht auf irgendwelche U Binding, Lehrbuch I, S. 417; Schönke / Schröder, 13. Auf!., Rn. 24 zu § 288; Maurach, Strafrecht - BT, 4. Auf!., S. 265; Welzel, Lehrbuch, 8. Auf!., S. 309; Jagusch, in: Leipz. Komm., 8. Auf!., Rn. 7 zu § 288. 42 Binding, Lehrbuch I, S. 417. 43 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 180 ff. 44 Schäfer, in: Leipz. Komm., Rn. 15 zu § 288: Vermögen ist im vollstrekkungsrechtlichen Sinn zu verstehen, da es Zweck des § 288 ist, das sachliche
Recht des Gläubigers zur Befriedigung aus dem Vermögen des Schuldners zu sichern - erfaßt ist daher der Machtkreis, in dem der Schuldner nach den Grundsätzen des Vollstreckungsrechts die Vollstreckung zu dulden hat. 45 Siehe dazu RGSt 61, 408. 46 Siehe dazu auch BGHSt 16, 330 ff., der die Frage, ob der Besitz als ein Vermögensgegenstand betrachtet werden kann, bejaht hat.
IV. Delikte mit besonderen Tätermerkmalen
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faktischen Vermögensbestandteile an, sondern auf Vermögensbestandteile, die der Zwangsvollstreckung unterliegen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß eine faktische Betrachtungsweise bei der Auslegung des § 288 StGB nicht nur verwirrt 47 , sondern die eigentlichen Begründungen überspielt und dadurch gar zu falschen Ergebnissen verleitet. Es hat sich damit bei der Auslegung des § 288 die Gefahr realisiert, daß ein "verbindliches Rechtsprinzip faktische Betrachtungsweise", sobald es nur einmal "eingeführt" oder autorisiert ist, ein Eigenleben entfaltet und unkontrolliert in Fällen übernommen wird, in denen die Voraussetzungen der Zulässigkeit einer übernahme im einzelnen nicht geprüft worden sind. 5. Ergebnis
Anhand etlicher Tatbestandsmerkmale mit besonderer Tätereigenschaft sowohl des Strafgesetzbuches als auch einiger Nebengesetze des Strafrechts konnte aufgezeigt werden, daß eine faktische Betrachtungsweise, mag sie auch in bestimmten Fällen zu richtigen Ergebnissen führen, die eigentlichen Wertungen verschleiert. Sie ist damit zur Inhaltsbestimmung auslegungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale untauglich. Der Rechtsanwender wird durch sie nicht entlastet, sondern im Gegenteil dazu verführt, das gewünschte Ergebnis unter einfachem Hinweis auf die faktische Betrachtungsweise ohne weitere Begründung zu präsentieren. Bereits gefundene Entscheidungen mit der faktischen Betrachtungsweise zu "verzieren", ist noch ungefährlich. Die Gefährlichkeit einer faktischen Betrachtungsweise liegt jedoch in der Verlockung zur Nachlässigkeit im Denken, in der Unsicherheit der Ergebnisse und in der Willkür in der Vorgehensweise. Es ist schließlich einfacher, eine Entscheidung mit einer solchen "Scheinmethode" zu begründen, als nach einer detaillierten, mit den Mitteln der Auslegung aus dem Gesetz ableitbaren Begründung zu suchen. Die faktische Betrachtungsweise besagt z. B. bei den Begriffen des Brauers in § 13 Brausteuergesetz, des öffentlichen Pfandleihers in § 290 StGB, des Veranstalters in §§ 284 ff. StGB oder des Bevollmächtigten in § 266 a. F. StGB nicht, wer eigentlich erfaßt werden soll und mit welchen Funktionen der "tatsächlich Handelnde" betraut sein muß. Würde dagegen die Formulierung des jeweiligen strafrechtlichen Tatbestands zur sogenannten zivilistischen Betrachtungsweise zwingen, 47 Zu den möglichen BedeutungsinhaIten, wonach sogar der Freund des Schuldners er faßt werden könnte, der in dessen Auftrag die geschützten Gegenstände beiseite schafft, siehe oben IV 2 d.
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3. Teil:
Die eigentliche Problematik
stellte die Anwendung einer entgegengesetzten faktischen Betrachtungsweise eine unzulässige Analogie zuungunsten des Täters dar. In diesem Falle muß aber eine Bestrafung de lege lata wegen einer Gesetzeslücke unterbleiben. Beispielhaft dafür stehen die Begriffe des Kommissionärs in § 95 Börsengesetz und des Vollstreckungsschuldners in § 288 StGB. Bei einer letzten Fallgruppe, bei der die faktische Betrachtungsweise im Strafrecht zur Anwendung kommen soll, handelt es sich jeweils um Tatbestandsmerkmale, die an das Vorliegen vertraglicher Beziehungen zwischen Täter und Opfer anknüpfen sollen. Die insoweit gegen die faktische Betrachtungsweise sprechenden Gesichtspunkte decken sich mit dem Befund, der bei den Tatbestandsmerkmalen mit besonderer Tätereigenschaft herausgearbeitet worden ist.
v.
Tatbestandsmerkmale, die an vertragliche Beziehungen zwischen Täter und Opfer anknüpfen 1. Die GarantensteIlung aus Vertrag
a) Solange man noch davon ausging, die verschiedenen GarantensteIlungen auf drei Entstehungsgründe - Gesetz, Vertrag und vorausgegangenes gefahrbegründendes Tun (Garantentrias)1 - zurückführen zu können, stellte sich immer wieder die Frage der strafrechtlichen Auswirkungen eines zivil rechtlich anfechtbaren, nichtigen oder auch bereits abgelaufenen Vertrags. Das Reichsgericht stellte bereits im Jahre 1887 2 fest, für die Strafbarkeit eines Vorstandsmitglieds einer eingetragenen Genossenschaft komme es nicht auf die Gültigkeit der Wahl an. Entscheidend sei die Frage, ob der Angeklagte die rechtliche Stellung tatsächlich eingenommen habe. Es begründete dieses Ergebnis mit überlegungen aus der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der entsprechenden Strafbestimmung. In einem weiteren UrteiP sprengte das Reichsgericht den streng vertraglichen Rahmen auch hinsichtlich der zeitlichen Dimension, indem es sich den tatsächlichen Verhältnissen zuwandte 4 • Ungeachtet des Umstands, daß nur der Ehemann den Pflegevertrag 1 So im wesentlichen die Rechtsprechung des Reichsgerichts. Vgl. etwa RGSt 58, 131; 63, 394; 64, 275 f.; siehe dazu Jescheck, Lehrbuch, § 59 IV 2 mit vielen Weiterverweisungen. 2 RGSt 16, 269 ff., Urt. vom 14. Oktober 1887. 3 RGSt 17,260 f., Urt. vom 21. März 1888. 4 Es soll hier nicht erörtert werden, warum diesem Urteil im Ergebnis nicht zugestimmt werden kann. Aufgezeigt werden soll lediglich, wie sich das Reichsgericht von den zivilrechtlichen Bindungen befreite.
V. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
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abgeschlossen hatteS, wurde auch die Ehefrau für den Tod eines Pfleglings strafrechtlich verantwortlich gemacht: "entscheidend ist das tatsächliche Pflegeverhältnis" . In einem Urteil vom 6. Februar 1930 6 bestätigte das Reichsgericht seine frühere Rechtsprechung 7 • Für die Strafbarkeit eines Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft stellte es weniger auf die Rechtswirksamkeit der Bestellung als auf die tatsächliche übernahme der Obliegenheiten ab. Der BundesgerichtshofS schließlich setzte sich auch über die Grenzen der Garantenstellung aus Gesetz hinweg. über die durch Gesetz geschützten Bindungen (ElternKind, Ehegemeinschaft usw.) hinaus anerkannte er eine tatsächliche Lebensgemeinschaft als Rechtsgrund für Garantenpflichten. Obgleich sich bei der Bestimmung der Garantenstellungen seit Armin Kaufmann9 ein grundlegender Wandel dahingehend vollzogen hat, die Garantenpflichten nicht mehr nach Entstehungsgründen - Rechtsquellenlehre - , sondern nach materiellen Gesichtspunkten zu bestimmen Funktionenlehre 1o - , ist ein Gesichtspunkt unverändert erhalten geblieben: die Anbindung an tatsächliche Umstände, an eine tatsächliche Übernahme, ein tatsächliches Bereitstehen, eine faktische übernahme l l , ein faktisches Gewährleistungsmoment 12 • Wiesener t3 betrachtet die Garantenstellung aus Vertrag als ein "weiteres eindrucksvolles Beispiel für die faktische Betrachtungsweise". b) Harte Kritik an dieser Entwicklung hat Schünemann geäußert. Er führt aus, durch die Hervorzauberung der Garantiepflichten aus "rein tatsächlichen"!4 Beziehungen werde eine gefährliche Schleuse geöffnet, wodurch das unechte Unterlassungsdelikt eine Beute der unkontrollierbaren Werterlebnisse des erkennenden Gerichts und die Strafbar5 Zugleich ist darauf hinzuweisen, daß der Pflegevertrag bereits abgelaufen war und beide Eheleute die zuständige Gemeinde wiederholt aufgefordert hatten, ihrerseits wieder Sorge zu tragen. 6 RGSt 64, 81 ff., 84. 7 RGSt 16, 269 ff. s BGHSt 19, 167 ff., 168, Urt. vom 29. November 1963. 9 Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 283 ff. Weitere Nachweise bei Jescheck, Lehrbuch, S. 505 Fn. 32. 10 Die neuere Lehre unterscheidet zwischen Garantenpflichten, die in einer Schutzfunktion für ein bestimmtes Rechtsgut bestehen (Obhutspflichten), und solchen, bei denen dem Garanten die überwachung einer Gefahrenquelle obliegt (Sicherungs- oder Beherrschungspflichten). Dagegen hält Baumann, Lehrbuch, S. 256 immer noch an der alten Einteilung fest. 11 Welzel, Lehrbuch, S. 214 f. 12 Eser, in: Juristischer Studienkurs, Strafrecht II, S. 51. 13 Wiesener, Verantwortlichkeit, S. 149. 14 Von Schünemann selbst in Anführungszeichen gesetzt.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
keit der Unterlassung zu einer Frage der Individualethik geworden seP5. In dem Maße, in dem man von dem Erfordernis eines Vertrages Abstriche machte, drängte sich auf der anderen Seite die Frage auf, ob überhaupt noch materiell am Vertrag als garantenpflichtbegründendem Faktor festgehalten wurde. Gössel stellte fest: "Eine solche Bindung des Strafrechts an die Regeln des bürgerlichen Rechts hat sich aber nicht bewährt, da die Abhängigkeit der Erfolgsabwendungspflicht von den zivilrechtlichen Vertragsvoraussetzungen zu unerträglichen Folgen führt." 16 Der entscheidende Gesichtspunkt liegt jedoch nicht darin, daß sich die Bindung an die Regeln des bürgerlichen Rechts nicht bewährt hat, sondern daß mit der Vertragskategorie eine strafrechtlich prinzipiell unbeachtliche PflichtensteIlung zum Ansatzpunkt einer strafbaren Handlung durch Unterlassen gewählt wurde l7 • Die GarantensteIlung aus Vertrag mußte deshalb "faktisch" korrigiert werden l8 , weil die Verletzung einer Vertragspflicht nur in Ausnahmefällen für das Strafrecht von Interesse ist. Maßgebend für die Garantenfrage ist nicht der zivilistische Vertrag als solcher, sondern nur dessen deliktische Relevanz. Eine solche kann jedoch nur der dem Vertrag zugrundeliegende Vorgang erlangen. c) An die Stelle des Vertrages als eines garantenpflichtbegründenden Tatbestands trat so denn auch die "freiwillige tatsächliche übernahme". Maßgebend soll freilich nicht die freiwillige Vereinbarung allein sein, sondern auch und vor allem der tatsächliche Antritt der Pflichtenstellung l9 • Aber auch dieses Kriterium gibt schon begrifflich zumindest Anlaß zu Mißverständnissen. Einer Relativierung bedarf es bereits, wenn es um die Frage geht, was unter dem "tatsächlichen Antritt" zu verstehen ist. Soll dazu wirklich erforderlich sein, daß die Nachbarin, die auf das Kind aufpassen soll, im Hause der Eltern persönlich erscheint? Die Garantenpflicht entsteht sicherlich bereits dann, wenn die Nachbarin zusagt, sie werde nach dem Kind schauen, und erkennen 15
l'
Schünemann, Grund und Grenzen, S. 22l. Maurach / Gössel/Zipf, Strafrecht - AT 2, §
46 II C 3. So auch OLG Celle, NJW 1961, 1940 - "Der Vertragsbruch als solcher ist strafrechtlich irrelevant." 18 Mit all den Problemen, wie die Korrekturen eigentlich vorzunehmen sind: Soll nur auf die förmlichen Voraussetzungen verzichtet werden; soll es auf den tatsächlichen Antritt ankommen, unabhängig von der Wirksamkeit des Vertrags; soll das Vertreterproblem damit gelöst werden usw.? 19 Vgl. nur Blei, Garantenpflichtbegründung, S. 119 ff., 121 m. w. N.; Maurach / Gössel/Zipf, Strafrecht - AT 2, § 46 II C 3. 17
V. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
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muß, daß die Eltern im Vertrauen hierauf ihre Schutzfunktion aufgegeben haben. Das Kriterium der tatsächlichen Übernahme von Schutzpflichten ist im übrigen auch zu unscharf, um bestimmbare und abgrenzbare Inhalte angeben zu können. Probleme wirft z. B. der Fall auf, in dem der Wanderer an einsamer Stelle auf einen Verunglückten stößt und ihn mit dem Willen und dem Versprechen verläßt, sofort die erforderliche Hilfe herbeizuholen. Jener hat ohne Zweifel "tatsächlich" die Sorge für den Verunglückten übernommen. Er muß deshalb auf Grund eines unechten Unterlassungsdelikts bestraft werden20 , wenn er die versprochene Hilfeleistung unterläßt, obgleich für sein Verhalten Gründe vorstellbar sind, die bis zur Unzumutbarkeit des HandeIns reichen, und der Verunglückte selbst auch aus der Sicht ex post von anderer Seite keine Hilfe mehr erwarten konnte 21 • Dieses Ergebnis wird allgemein als unbefriedigend empfunden. Es fehlt auch nicht an Versuchen, das Kriterium der freiwilligen tatsächlichen Übernahme von Schutzpflichten zu modifizieren. Nach Jescheck22 soll es insbesondere darauf ankommen, daß andere sich im Vertrauen auf die Einsatzbereitschaft des Garanten einer größeren Gefahr aussetzen, als sie es sonst getan hätten, oder auf anderweitigen Schutz verzichten. Gössel 23 setzt auf die tatsächliche Begründung oder Steigerung adäquater Gefahren. Das Oberlandesgericht Celle24 stellte fest, die Übernahme müsse, damit aus ihr eine GarantensteIlung erwachse, zu einer sozialethischen Gebundenheit führen, was auf verschiedenen Gründen beruhen könne. Stree25 bejaht eine Garantenpflicht nur dann, wenn die Übernahme die Gefahr deswegen vergrößert, weil mit Rücksicht auf die Übernahme andere Schutzvorkehrungen unterbleiben. Aber auch anhand all dieser Umschreibungen lassen sich Fallkonstellationen nicht ausscheiden, wie sie z. B. Blei26 aufgezeigt hat. Nach seiner Auffassung kommt es auf die Erweckung von Vertrauen durch den Täter in die Erfüllung der von ihm übernommenen Aufgabe an 27 • EntSo Stree, Garantenstellung, S. 152. Weit besser käme der weg, der von vornherein sich einer Hilfeleistung enthält - ihn würde nur die Haftung nach § 323 c StGB treffen. Ob die Rechtslage allerdings ebenso zu würdigen wäre, wenn der Verunglückte im Vertrauen auf die Zusage anderweitige Hilfe als unnötig zurückweist, mag hier auf sich beruhen. 22 Jescheck, Lehrbuch, S. 505. 23 Maurach / Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 46 II C 3. 24 OLG Celle, Urt. vom 4. Mai 1961, NJW 1961, 1939. 25 Sfree, in: Schönke / Schröder, Rn. 27 zu § 13 m. w. N. 26 Blei, Garantenpflichtbegründung, S. 126; ders., Strafrecht AT § 87 I 3 d. 27 So Blei, Strafrecht AT, § 87 13m. w. N.; dazu neuestens Maiwald, JuS 1981, 473 ff., 481 f. 20 21
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
scheidend sei jedoch, wie die Rechtsprechung die mit Schutzpflichten verbundene Stellung bewerte. Daraus ergibt sich die Frage, warum aus der Vertrauensstellung auch strafrechtlich bewehrte Pflichten erwachsen sollen 28 . Die Ausfüllung dieser Inhalte ist bisher nicht geglückt. Ein Versuch soll auch hier nicht unternommen werden - er würde den Rahmen der Arbeit bei weitem sprengen. Sicher scheint m. E. zu sein, daß eine faktische Betrachtungsweise dazu nichts beitragen kann. Die vielen Versuche, an irgendwelche tatsächlichen Umstände anzuknüpfen, zeigen das nur allzu deutlich. Auch für die Inhaltsbestimmung der bisher durch das Kriterium der "tatsächlichen freiwilligen übernahme" kenntlich gemachten GarantensteIlung gilt eine Feststellung von Schünemann, die er bei der Behandlung der Fahrlässigkeitsdelikte getroffen hat: "An Stelle der trügerischen Sicherheit eines unbestimmten Maßstabes hat die Einsicht zu treten, daß nur durch eine Bewertung ermittelt werden kann ..."29, wann letztlich eine strafrechtlich bewehrte Pflicht aus übernahme erwächst. 2. § 265 StGB -
Die versiclterte Sache; betrügerische Absicltt
a) § 265 StGB scheint der faktischen Betrachtungsweise gleich an zwei Stellen ein Einfallstor zu bieten - es geht um die Merkmale "versicherte Sache" und "betrügerische Absicht". Das erstere gab sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur immer wieder Anlaß zur Frage, ob eine Sache nur dann als gegen Feuersgefahr versichert anzusehen sei, wenn ein rechtsgeschäftlich gültiger und z. Zt. der Tathandlung wirksamer Versicherungsvertrag bestanden habe. Nach ständiger Rechtsprechung und auch h. M. in der Literatur genügt es zur Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes, daß "ein färmlicher Versicherungsvertrag" zustande gekommen ist 30 , daß "die Existenz eines Vertragsverhältnisses vorhanden ist, mag es auch anfechtbar oder nichtig sein"31. Diese Frage sei jedenfalls "unabhängig von der zivilrechtlichen Beurteilung des abgeschlossenen Versicherungsvertrages"32 zu beantworten. Es ist daher zu unterscheiden zwischen den Voraussetzungen strafrechtlichen Einstehenmüssens und der zivilrechtlichen Wirksamkeit des Vertrages - ein typischer Ansatzpunkt der faktischen Betrachtungsweise 28
29
Siehe dazu Blei, Garantenpflichtbegründung, S. 137.
Schünemann, JA 1975, 113 ff.,149.
30 BGHSt 8, 343 ff., 334; siehe auch RGSt 59, 247 ff.; 67, 108 ff.; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 2 zu § 265. 31 Samson, in: SK, Rn. 1 zu § 265; Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 7 zu § 265. 32 Blei, Strafrecht BT, § 62 I 1 b.
v. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
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zur Loslösung von der Begrifflichkeit zivil rechtlicher Topoi und damit zur Erreichung kriminalpolitisch sinnvoller Ergebnisse. Das Merkmal "versicherte Sache" setzt nach einer zivilistischen Auslegung einen sachlich gültigen und z. Zt. der Tathandlung wirksamen Versicherungsvertrag voraus. Der allgemeine Sprachgebrauch und der semantische Bedeutungsspielraum lassen es jedoch zu, vom Gegenstand eines Versicherungsvertrages auch dann zu sprechen, wenn der Vertrag nichtig oder der Versicherungsschutz verloren gegangen ist. Darauf hebt auch der Bundesgerichtshof33 ab, der unter Bezugnahme auf das Reichsgericht zum Ergebnis kommt, es könne nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen sein, die Anwendung des § 265 StGB von der sachlichen Gültigkeit des Versicherungsvertrages abhängig zu machen. Es ist daher ohne weiteres möglich, allein durch die Ausschöpfung des Wortlauts den kriminalpolitischen Wünschen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen, die ein weites Begriffsverständnis des Merkmals "versicherte Sache" fordern 34 • Nicht die faktische Betrachtungsweise erlaubt es daher, auch die Vertragsverhältnisse einzubeziehen, die wegen überversicherung nach § 51 Abs. 3 VVG nichtig sind 35 , bzw. bei denen der Versicherer nach § 39 Abs. 2 VVG wegen Verzugs des Versicherungsnehmers36 oder nach § 38 Abs. 2 VVG wegen Nichtzahlung der ersten Prämie von der Leistungspflicht freigestellt ist, sondern der Bedeutungsspielraum des Begriffs "versicherte Sache". b) Problematisch ist zum anderen, ob die Voraussetzungen des Merkmals "betrügerische Absicht" nur dann erfüllt sind, wenn der Täter dessen Identität mit dem Versicherungsnehmer nicht erforderlich ist eine Versicherungssumme erstrebt, auf die der Versicherungsnehmer keinen oder einen nur teilweise begründeten Anspruch hat 37 • Straflos bliebe dann allerdings derjenige, der eine versicherte Sache in Brand setzt, um über den Versicherungsnehmer, dessen zivil rechtliche Ansprüche bestehen bleiben, die Schadenssumme erlangen zu können. Aus diesem Grunde sind mehrere Lösungswege entwickelt worden, die den kriminalpolitischen Bedürfnissen nach Bestrafung auch solcher Täter Rechnung tragen sollen. Nach Welzel z. B. soll das Merkmal "betrügerische Absicht" auch dann zu bejahen sein, wenn der Täter auf Grund seines tatsächlichen 33
BGHSt 8, 343 ff.
3' Zur Begründung des kriminalpolitischen Bedürfnisses siehe BGHSt 8,
343 ff. m. w. N. zur Rechtsprechung des Reichsgerichts; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 2 zu § 265. 35 So in RGSt 59, 247 f.; BGHSt 8, 343 ff. 38 So in RGSt 67, 108 ff. 37 So die ständige Rechtsprechung und h. M.; Nachweise bei Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 5 zu § 265. 11 Cadus
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Verhältnisses zu der versicherten Sache oder seiner tatsächlichen Stellung zu dem Versicherungsnehmer an der Erlangung der Versicherungssumme ein eigenes wirtschaftliches Interesse hat 38 . Der Kommentar von Kohlrausch / Lange 39 sah es als Nachwirkung eines überholten formal-juristischen Vermögensbegriffs an, wenn die betrügerische Absicht unter der Voraussetzung verneint werden soll, daß der Versicherungsnehmer einen Anspruch auf die Versicherungssumme hat. Bruns40 weist darauf hin, daß es dem Reichsgericht mittels der tatsächlichen Betrachtungsweise gelungen sei, § 265 StGB befriedigend zu lösen41 • Die faktische Betrachtungsweise erlaubt jedoch gerade bei der Auslegung des Merkmals "betrügerische Absicht" ein besonders breites Spektrum vorstellbarer Bedeutungsinhalte. Dieses Spektrum reicht von dem, der über die Sache disponieren kann, über den, der ein wirtschaftliches Interesse hat, der die Zugriffsmöglichkeit hat, der die Sache in Händen hält, bis zur Erfassung aller Vertreterkonstellationen42 . All dieser Ansätze bedarf es nicht. Nach überwiegender Auffassung verlangt das Merkmal "betrügerische Absicht" - das sowohl in § 263 als auch § 265 als eines Spezialfalls des Betrugs gleich zu behandeln ist - das Bestreben, einen rechtswidrigen Vorteil zu erlangen. Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit orientiert sich ihrerseits an den Maßstäben des Zivilrechts43 . In betrügerischer Absicht i. S. des § 265 StGB kann folglich nur dann gehandelt werden, wenn der Versicherer leistungsfrei ist, d. h. dem Versicherungsnehmer kein Anspruch zusteht. Durch § 265 StGB soll nicht jede Vermögensminderung der Versicherung geschützt werden. Eines strafrechtlichen Schutzes bedarf es nur dann, wenn die Versicherung durch Täuschung zur Auszahlung veranlaßt werden soll, obgleich eine Leistungsverpflichtung gerade nicht besteht. Versuche, andere Kriterien zu entwickeln, schließen möglicherweise "eine kriminalpolitisch unbefriedigende Lücke, stellen aber, weil mit dem Gesetzeswortlaut und der systematischen Stellung des § 265 nicht mehr vereinbar, eine unzulässige Analogie dar"44. 38 Welzel, Lehrbuch, S.379; OLG Celle, SJZ 1950, Sp. 682 f. m. Anm. Bockelmann, Sp. 683 ff. 39 Kohlmusch / Lange, Kommentar, Anm. 111 zu § 265. 40 Bruns, GA 1982, 7. 41
Zur Beurteilung der verschiedenen Lösungsansätze vgl. zusammenfassend
Wagner, JuS 1978, 161 ff. 42 Nach Bruns, GA 1982, 6 handelt es sich beim Versicherungsbetrug um
"ein eingeschränktes Beispiel für eine Art strafrechtlicher Organ- und Vertreterhaftung" . 43 Siehe dazu emmer, in: Schönke / Schröder, Rnm. 171 ff. zu § 263; Lackner, in: Leipz. Komm., Rnm. 275 ff. zu § 263 mit vielen Nachweisen auch aus der Rechtsprechung. 44 Lenckner, in: Schönke / Schröder, Rn. 11 zu § 265. Lenckner selbst spricht die Auffassungen an, die es für ausreichend halten, daß der Täter auf Grund seines tatsächlichen Verhältnisses zu der versicherten Sache ...
V. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
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Das Zivilrecht selbst, insbesondere das Versicherungsvertragsgesetz, ermöglichen es, zumindest dem größten Teil der oben angesprochenen kriminalpolitischen Bedürfnisse Rechnung zu tragen. Bei weitergehenden Vorstellungen bleibt nichts anderes übrig als der Ruf nach dem Gesetzgeber, wie dies gerade bei § 265 StGB schon so oft geschehen ist4 5 • Das Zivilrecht bietet vielfältige Möglichkeiten, mittels deren der Kreis der Personen, für die der Versicherungsnehmer einzustehen hat - und damit auch der Kreis der von § 265 erfaßten Täter - , erweitert werden kann. Hervorgehoben sei die Entwicklung der Regeln über die Repräsentantenhaftung und die dadurch extensiv zu handhabende Leistungsfreiheit des Versicherers. Methodisch wird dies durch die analoge Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB oder auch die Figur des Wissensvertreters erreicht 46 • Hinzu kommen die Regeln bei kollusivem Verhalten des Versicherungsnehmers und des "Brandstifters". Es sind somit ausschließlich die im Zivilrecht entwickelten Lösungswege, die den kriminalpolitischen Bedürfnissen bei der Auslegung des Begriffs "betrügerische Absicht" in § 265 StGB Rechnung tragen können. Die faktische Betrachtungsweise vermag dies nicht, so "wünschenswert" die mit ihr erzielbaren Ergebnisse auch sein mögen. Sie überspielt, daß dem Begriff der betrügerischen Absicht in § 265 ein Rechtswidrigkeitsbegriff zugrunde liegt, der an zivilistischen Vorwertungen ausgerichtet ist. Gerade bei der Auslegung des § 265 zeigt es sich, daß bei jedem einzelnen Tatbestandsmerkmal gesondert geprüft werden muß, ob die Voraussetzungen strafrechtsrelevanten Verhaltens die zivilrechtliche Wirksamkeit eines Vertrages bzw. Anspruchs verlangen. Während es bei der versicherten Sache gerade nicht auf die Wirksamkeit des Versicherungsvertrages ankommt, schließt der zivilrechtlich gültige Anspruch des Versicherungsnehmers gegen die Versicherung die betrügerische Absicht aus. Die faktische Betrachtungsweise läßt derartige Differenzierungen nicht zu. 3. § 263 StGB - Vermögensverfügung, Vermögensschaden
Bei einer Durchsicht von Kommentaren und Lehrbüchern zu den Stichworten Vermögensverfügung und Vermögensschaden in §§ 263, 253 StGB fällt auf, daß spezifisch strafrechtliche Darstellungen in den 45 Vgl. dazu Wagner, JuS 1978, 163 mit einer Regelung de lege ferenda, deren Vorbild § 25611 E 1962 darstellt. 4B Siehe dazu Frölls / Martin, VVG, Rn. 8 zu § 6; Bruck / Möller / Sieg, VVG, Rnrn. 70 ff., 74 ff. zu § 61.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Hintergrund treten. Es sind vor allem abgrenzende Erläuterungen zu den im Zivilrecht gleichermaßen verwendeten terminis technicis, mittels deren der Bedeutungsinhalt beider Begriffe beschrieben wird. Inhaltliche Anleihen an die faktische Betrachtungsweise sind dabei unverkennbar. a) Das Tatbestandsmerkmal "Vermögensverfügung"47 soll nicht nur bei zivilrechtlichen Verfügungen 48 erfüllt sein. Nach ständiger Rechtsprechung soll jedes tatsächliche Verhalten ausreichen, wenn es als Einwirkung auf das Vermögen verstanden werden kann49 . Es soll nicht auf die rechtliche, sondern grundsätzlich auf die tatsächliche Wirksamkeit ankommen 5o • Nach Lackner51 zwingt schon der weitgehend wirtschaftlich orientierte Schadensbegriff, dem ein korrespondierender Begriff der Vermögensverfügung entsprechen müsse, auch die Möglichkeit tatsächlicher Einwirkung auf das fremde Vermögen genügen zu lassen. Hinsichtlich beider Begriffe betont er, sie seien nach ganz h. M. überwiegend faktischer Natur52 • Von besonderer Relevanz sind die Fälle der Drittverfügung beim sogenannten Dreiecksbetrug, bei dem Verfügender und Geschädigter auseinanderfallen. Nach ganz h. M.53 soll es ausreichen, daß der Verfügende tatsächlich in der Lage ist, über fremdes Vermögen zu verfügen 54 . Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es einer zivilrechtlichen Verfügungsbefugnis nicht bedarf. Eine solch weite und unbestimmte Umschreibung ist auf keinen Fall ausreichend und macht eine Präzisierung erforderlich. Rechtsprechung und Literatur greifen denn auch auf die verschiedensten Theorien55 zurück, mittels deren die Ausgangsposition nicht nur präzisiert, sondern geradezu neu bestimmt wird. Auch praktische Beispiele belegen eine solche Notwendigkeit. So ist nicht nur 47 Es handelt sich um ein nach einhelliger Auffassung ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Siehe Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 94 zu § 263. 48 Rechtsgeschäfte, die ein subjektives Recht unmittelbar übertragen, aufheben, belasten oder inhaltlich ändern. 49 Siehe dazu Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 96 zu § 263 mit vielen Nachweisen zu Rechtsprechung und Literatur in Fn. 150. 50 Cmmer, in: Schönke / Schröder, Rn. 55 zu § 263. 51 Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 110 zu § 263. 52 Lackner, in: Leipz. Komm., Rd. 113 zu § 263. 53 So z. B. Cmmer, in: Schönke / Schröder, Rn. 55 zu § 263; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 96 zu § 263 m. w. N. in Fn. 150; BGHSt 18, 221. 54 Beachte die hierbei zugrundeliegende Zirkeldefinition. 55 Befugnis- oder Ermächtigungstheorie; Lagertheorie; Theorie, die darauf abstellt, ob der Getäuschte von der ihm gegebenen faktischen Einwirkungsmöglichkeit auf der Seite des Geschädigten und für diesen Gebrauch macht; zu diesen Theorien und weiteren dazu vertretenen Differenzierungskriterien siehe ausführlich Lackner, in: Leipz. Komm., Rnm. 110 ff. zu § 263.
V. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
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die Sekretärin in der Regel in der Lage, über private Gegenstände ihres Chefs tatsächlich zu verfügen, auch wenn ihr die "Verfügungsgewalt" ausdrücklich nicht zusteht. Jedes zu einem Diebstahl in mittelbarer Täterschaft benutzte "vorsatzlose Werkzeug" hat die tatsächliche Möglichkeit, dem Täter eine fremde Sache zu verschaffen56 und damit über alles, was es vorfindet, "tatsächlich zu verfügen". Das Merkmal der Vermögensverfügung als abgrenzendes Kriterium zum Diebstahl ist damit ad absurdum geführt. Das Anliegen der oben57 aufgezeigten Ansätze, den Begriff der Vermögensverfügung vom Bedeutungsinhalt des zivilistischen Begriffs zu lösen, ist zwar berechtigt. Die Ersetzung des zivilistischen Begriffsinhalts durch den wenig aussagekräftigen Terminus "tatsächliche Verfügungsmacht" bringt allerdings keinen Gewinn. Die Notwendigkeit zusätzlicher Differenzierungen zeigt die Untauglichkeit der faktischen Betrachtungsweise zur weiteren Inhaltsbestimmung des Merkmals "Vermögensverfügung" . Ansatzpunkt für eine Umschreibung dieses Merkmals bildet die Erkenntnis, daß es einer Vermögensverschiebung bedarf, die ihrerseits auf einem durch Täuschung herbeigeführten Irrtum beruhen muß. Daneben bedarf es - insbesondere für die Fälle der Drittverfügung - einer weiteren Inhaltsbestimmung58 , um die Abgrenzung des Diebstahls vom Betrugstatbestand durchführen zu können ein normatives und kein faktisches Problem. b) Den Durchbruch einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise schien die Rechtsprechung zum Begriff des Vermögensschadens sowohl in § 263 als auch § 253 StGB in dem Augenblick erzielt zu haben, als sie von der sogenannten juristischen Vermögenstheorie abgerückt war 59 • In einer Entscheidung vom 14. Dezember 1910 stellte das Reichsgericht 60 fest: "Da der Schaden zunächst immer etwas Tatsächliches, etwas dem Menschen wirtschaftlich Fühlbares ist, ist der Vermögensbegriff in erster Linie ein Begriff des wirtschaftlichen Lebens: die Summe der Siehe dazu Raxin / Schünemann / Raffke, Klausurenlehre, S. 257. Siehe oben Fn. 55. 58 Welchen der in Rechtsprechung und Literatur verwandten Kriterien der Vorzug zu geben ist, oder ob nicht vielleicht andere Erwägungen angestellt werden müssen, soll und kann hier dahingestellt bleiben. Es sollte lediglich aufgezeigt werden, daß eine faktische Betrachtungsweise dies jedenfalls nicht leisten kann. 59 Zur juristischen Vermögenstheorie und deren Nachteilen siehe insbesondere Cramer, Vermögensbegriff, S. 71 ff.; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 121 m. w. N.; Binding, Lehrbuch II 1, S. 238 definierte das in § 263 StGB geschützte Vermögen noch als die Summe der Vermögensrechte und Vermögenspflichten, und zwar ohne Rücksicht auf ihren wirtschaftlichen Wert. 60 RGSt 44, 230 ff., 232 f. 58
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Geldwerte und Güter einer Person"61. Die heutige Rechtsprechung vertritt, schenkt man der sie kommentierenden Literatur62 Glauben, einen rein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichteten Vermögensbegriff entsprechend dem Grundsatz: "Für den wirtschaftlichen Vermögensbegriff gibt es kein schlechthin schutzunwürdiges Vermögen."63 Schröder und Eser 64 beurteilen den Vermögensschaden in § 263 nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten, ohne die Schutzwürdigkeit bzw. Schutzbedürftigkeit des Vermögens zu berücksichtigen. Für den unbefangenen Betrachter mag es nur schwer nachvollziehbar sein, "warum es kaum im Sinne des Vermögensstrafrechts liegen könne, bestimmten wirtschaftlich vermögenswerten Positionen strafrechtlichen Schutz vorzuenthalten"65. Folgendes vermag er sicher nicht mehr zu verstehen: Das Zivilrecht selbst gewährt nicht jedem Vermögen bzw. Vermögenserwerb den ihm möglichen Schutz. Mit den Mitteln des Strafrechts kann nach allgemeiner Auffassung nur als ultima ratio (Subsidiarität des Strafrechts), d. h. wenn alle anderen staatlichen Möglichkeiten des Eingreifens nicht ausreichen, eingegriffen werden. Es ist deshalb geradezu widersinnig, daß das Strafrecht im Bereich der Vermögensdelikte umfassender schützen soll als das Zivilrecht, und nicht nach rechtlichen Maßstäben soll entscheiden müssen. Bereits die Ausgangsthese des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 17. November 1955 66 , für den wirtschaftlichen Vermögensbegriff gäbe es kein schlechthin schutzunwürdiges Vermögen, entspringt einem Zirkelschluß67. Unabhängig davon ergibt eine genauere Analyse der Rechtsprechung, daß diese keineswegs streng an einer rein wirtschaftlichen Betrachtung festhielt, sondern in vielen Entscheidungen normative Einschränkungen gemacht hat. So stellte es eine eindeutige Durchbrechung des rein wirtschaftlichen Vermögensbegriffs dar, 61 Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 121 zu § 263 führt zur Abgrenzung gegen die sogenannte juristische Vermögenstheorie aus, "es würde unvertretbare Lücken im Strafrecht aufreißen, wenn alle nur tatsächlichen wirtschaftlichen Werte aus dem Schutzbereich ausscheiden müßten. Es spielen daher für den Vermögensbegriff des § 263 rechtliche Zuordnungskriterien weniger eine Rolle als die Tatsache, daß das Vermögensgut dem Geschädigten rein faktisch zusteht." 62 Samson, in: SK, Rn. 106 zu § 263; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 122 zu § 263; Maurach / Schroeder, Strafrecht - BT 1, § 46 11 A 4 b. 63 BGHSt 8, 254 ff., 256 m. Nachweisen aus der früheren Rechtsprechung. 64 Schröder, JZ 1965, 513 ff.; Eser, Strafrecht IV, S. 116 Rn. 27. 65 Eser, Strafrecht IV, S. 116 Rn. 27. 86 BGHSt 8, 254 ff., 256. 67 Darauf hat deutlich Arzt, Strafrecht - BT 3, S. 142 hingewiesen: "Da sich der Schutz des § 263 sowohl beim juristischen wie beim wirtschaftlichen Vermögensbegriff nach der Definition des Vermögens richtet, gibt es auch für den juristischen Vermögensbegriff kein gegen Betrug ungeschütztes Vermögen."
V. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
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wenn der Bundesgerichtshof68 ausführte, der Hingabe der Dirne komme für das Recht "kein in Geld zu veranschlagender Wert" zu. Gleiches gilt für die Ablehnung eines Vermögensschadens in dem Fa1l69 , in dem sich der Täter vom vermeintlichen Gläubiger mit Gewalt Quittungen für tatsächlich nicht erbrachte Leistungen verschafft hat, ohne die er die entsprechenden Forderungen glaubt nicht abwehren zu können. Schröder 70 folgert im Anschluß an diese Entscheidung, der Bundesgerichtshof stelle damit den sogenannten wirtschaftlichen Vermögensbegriff überhaupt in Frage. Auf derselben Linie liegt die Entscheidung vom 18. Mai 1976 71 (Madonnenfall). Unter Berücksichtigung der §§ 861, 985 BGB72 und damit normativer Kriterien vernachlässigte der Bundesgerichtshof in seiner Betrachtung die faktisch völlige Verdrängung des Berechtigten. Bei einer konsequent wirtschaftlichen oder auch steuerlichen Betrachtungsweise 73 hätte der Bundesgerichtshof zu dem Ergebnis kommen müssen, die wirtschaftliche Zugriffsmacht des Berechtigten bei nahezu Null anzusiedeln und damit einen Vermögensschaden zu verneinen. Die Erlangung eines Gegenstands unter seinem tatsächlichen Wert bedeutete dann, wenngleich zivil rechtlich ein Anspruch auf diesen besteht, weniger einen Vermögensschaden als gar einen Vermögensvorteil. Dagegen kommt die Rechtsprechung74 in den Fällen, in denen eine falsche - in concreto zu geringe - Angabe des Gesamterlöses aus einer strafbaren Handlung zu einer unkorrekten Beuteteilung unter den Tatbeteiligten geführt hat, zu dem Ergebnis, ein Betrug infolge Verschweigens der tatsächlichen Beute sei dann zu bejahen, wenn der "Geschädigte" bei Kenntnis der wahren Sachlage eine faktische Durchsetzungsmöglichkeit gehabt habe. Eine solche Entscheidung widerspricht den Ergebnissen der oben behandelten Fälle. Sie zeigt zum einen deutlich die inkonsequente Handhabung eines bestimmten Vermögensschadensbegriffs, zum anderen läßt sie den Schluß zu, die Rechtsprechung folge anderen Kriterien als einer faktisch wirtschaftlichen bzw. juristischen Vermögenslehre 75 . es BGHSt 4, 373 ff.; siehe dazu kritisch Kohlhaas, JR 1954, 97. so BGHSt 20, 136 ff. 70 Schröder, JZ 1965, 514. 71 BGHSt 26, 346 ff. 7! Pflicht zur alsbaldigen unentgeltlichen Rückgabe gestohlener bzw. gehehlter Gegenstände bzw. Recht des Berechtigten, diese herauszuverlangen. 73 Steuerlich wäre ein solcher Gegenstand abzuschreiben. 74 Vgl. BGHSt 2, 364 ff., 366 mit Anm. Bockelmann, JZ 1952, 485; siehe dazu auch Lenckner, JZ 1967, 105. 75 Zum Vermögensschaden bei verbotenen bzw. sittenwidrigen Rechtsgeschäften siehe Bruns, Rechtsordnung, S. 335 ff.; Franzheim, GA 1960, 269; Lackner, in: Leipz. Komm., Rnm. 240 ff. zu § 263.
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Auch das Reichsgericht nahm nach seiner Entscheidung vom 14. Dezember 1910 76 , die nach Ansicht der Literatur den übergang von der juristischen zur rein wirtschaftlichen Vermögenslehre darstellt, meist auf die juristische Verfügbarkeit Bezug77 • Mit einer wirtschaftlichen Betrachtung hat es denn auch nichts zu tun, wenn die (wirtschaftliche) Existenz eines Anspruchs aus Rechtsgründen verneint78 bzw. der Begriff des Vermögens auf "den Inbegriff der jemandem unter dem Schutz der Rechtsordnung zu Gebote stehenden wirtschaftlichen Werte ... " beschränkt wird 79 • Eine weitere Schwächung erfuhr der wirtschaftliche Vermögensbegriff in all den Fällen, in denen die Rechtsprechung mit Hilfe des sogenannten individuellen Schadenseinschlags arbeitete. Beispielhaft dafür seien der Schulbuch-, Zellwollhose-, Melkmaschinen- oder auch Zeitschriftenwerbungsfall genannt80 . Die bereits in den Leitsätzen enthaltenen normativen Einschränkungen des wirtschaftlichen Vermögensbegriffs81 zeigen sehr deutlich, daß von einer rein faktischen Betrachtungsweise seitens des Bundesgerichtshofs keine Rede sein kann 82 . Daß eine faktische Betrachtungsweise zu unhaltbaren Ergebnissen führt, zeigt auch der sogenannte "Provo-Fall". Hatte der gedungene Mörder, der einen Teil seines "Lohns" bereits im voraus erhalten hatte, von vornherein nicht die Absicht, das ihm benannte Opfer zu töten, so entsteht durch die Zahlung dem Auftraggeber sicherlich ein Vermögensschaden. Von einem für § 263 relevanten Schaden kann nur schwerlich ausgegangen werden. Wo selbst das Zivilrecht keinen Rückzahlungsanspruch und damit keinen Schutz gewährt, ist erst recht ein mit den Mitteln des Strafrechts zu schützender Vermögensschaden auszuschließen. Zusammenfassend ist daher nicht nur festzustellen, daß die Rechtsprechung sich bei der Behandlung des Vermögensbegriffs· in "nicht im ganzen geringfügige Widersprüche"83 verstrickt hat, sondern "faktisch" von einer rein faktisch-wirtschaftlichen Betrachtung völlig abgewichen RGSt 44, 230 ff. Siehe dazu Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 122 zu § 263. 78 RGSt 65, 99 ff., 100: "Voraussetzung wäre immer, daß diese Anspruche rechtlichen Bestand hätten." 79 RGSt 66, 281 ff., 285. 80 OLG Köln, JR 1957, 351; BGHSt 16,220; 16, 321; 23, 300. 81 BGHSt 16, 321. 82 Eine andere Frage ist es, ob es in diesen Fällen nicht an der Stoffgleichheit zum einen und dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Verfügung und Schaden zum anderen fehlt. 83 Samson, in: SK, Rn. 107 zu § 263; Lackner, in: Leipz. Komm., Rn. 122 a. E. 76
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ist. Der Verdienst der Theorie vom wirtschaftlichen bzw. faktischen Vermögensschaden liegt daher sicherlich darin, bei der Auslegung des § 263 StGB die Loslösung von der außerstrafrechtlichen Begriffsapparatur 84 insbesondere des Zivilrechts klargestellt zu haben - in der heutigen Strafrechtsdogmatik freilich eine Selbstverständlichkeit. Im übrigen ist es jedoch das Ergebnis einer jeweils normativen und gerade nicht faktischen Betrachtung, wann eine noch strafrechtlich relevante Verfügung bzw. ein strafrechtlich relevanter Vermögensschaden i. S. des § 263 StGB vorliegt. 4. §§ 242, 246 StGB - Fremde Sache
Auf Grund der bisherigen Ausführungen kann als gesichert festgehalten werden, daß die Auslegung "zivilistischer Merkmale" im Strafrecht zwar in vielen Fällen nach anderen, spezifisch strafrechtlichen Gesichtspunkten ausgerichtet werden muß, daß sich das Strafrecht in einigen Fällen jedoch sehr wohl an zivilistischen Inhalten orientiert85 . Es kann demnach nicht einmal die Rede davon sein, die faktische Betrachtungsweise sei ein durchgängiges Prinzip in all den Fällen, in denen das Strafrecht Begriffe aus anderen Rechtsgebieten mit gleichem Wortlaut verwendet. Zur Verdeutlichung soll zum Schluß mit nur wenigen skizzenhaften Bemerkungen auf das Tatbestandsmerkmal "fremde Sache" in den §§ 242, 246 StGB eingegangen werden. Obgleich dieses in manchen Fallkonstellationen geradezu auffordert, wirtschaftlichen Erwägungen "faktisch" Rechnung zu tragen, haben weder Rechtsprechung noch Literatur auf die faktische Betrachtungsweise zurückgegriffen, um damit zivilistische Schranken überwinden zu können im Gegenteil, sie halten bis auf ganz wenige Ausnahmen 86 am formalen Herrschaftskriterium "Eigentum" des Zivilrechts fest. Nach Eser 87 gibt es kein besonderes strafrechtliches Eigentum. Arzt 88 ist sogar der Auffassung, das Strafrecht begebe sich insoweit in völlige Abhängigkeit zum BGB89. 84
eramer, in: Schönke / Schröder, Rn. BO zu § 263.
Siehe dazu die Ausführungen zu den Begriffen Kraftfahrzeughalter in Abs. 2 StVZO, Bestandteile seines Vermögens in § 2BB StGB, Vollstrekkungsschuldner in § 2BB StGB oder auch betrügerische Absicht in § 263 StGB. 88 Siehe dazu Samson, in: SK, Rnrn. 91 ff. zu § 242. 87 Eser, in: Schönke / Schröder, Rn. 6 zu § 242. 88 Arzt, Strafrecht BT 3, S. 23. 89 Richtig ist daran, daß das in § 242 geschützte Rechtsgut im Gegensatz zu §§ 253, 263 an formalen Herrschaftskriterien ausgerichtet ist, so daß wirtschaftliche Erwägungen ausscheiden. Das bedeutet jedoch zugleich, daß Einschränkungen, die das Zivilrecht bzw. Zivilprozeßrecht machen, für das Strafrecht unberücksichtigt bleiben müssen. Dies relativiert wiederum die Feststellungen von Eser und Arzt. 85
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3. Teil: Die eigentliche Problematik
Das Zivilrecht selbst macht freilich vielerlei Ausnahmen. Während das Strafrecht bei der uneigennützigen Treuhand (VerwaItungstreuhand) den Treuhänder auch gegen Wegnahme durch den Treugeber schützt, kommt dem Treugeber, der faktisch bzw. wirtschaftlich sicherlich der Eigentümer ist, im Zivilrecht § 771 ZPO zugute. Die strafrechtliche Rechtsprechung und Literatur erkennen den geleasten Gegenstand als Schutzobjekt des § 242 StGB gegen unrechtmäßige Übergriffe des Leasinggebers nicht an, da der Leasinggeber zumindest formal Eigentümer bleibt. Der Leasinggeber kann demnach nicht nach § 242 bestraft werden, wenn er den geleasten Gegenstand beim Leasingnehmer heimlich wegnimmt, um ihn gewinn trächtig einem anderen "Kunden" leasen oder gar verkaufen zu können. Der Bundesfinanzhof hat dagegen in Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise das wirtschaftliche Eigentum des Leasingnehmers mit der Konsequenz der Aktivierung in der Steuerbilanz bejaht90 • Der Anwartschaftsberechtigte, der nur noch 1 % der Kaufsumme schuldet, erhält nicht den Schutz des § 242 StGB, obgleich die Zivilrechtsprechung des Bundesgerichtshofs ihm in der Zwangsvollstreckung § 771 ZPO gibt und ihn daher wie einen Eigentümer behandelt. Der Anwartschaftsverpflichtete bleibt somit nach § 242 StGB straffrei, wenn er "seine" Sache "zurückholt", auch wenn er nur noch 1 % des Kaufpreises zu bekommen hat und dieselbe Sache nochmals weiterverkaufen will. Einschränkungen des strafrechtlichen Eigentumsschutzes91 sollen demgegenüber in den Fällen des heimlichen Geldtausches bzw. Geldwechselns oder auch des Auswechselns vertretbarer Sachen92 gemacht werden. Rechtsprechung und Literatur suchen allerdings nicht nach Lösungen unter Zuhilfenahme einer faktischen Betrachtungsweise, sondern nach normativen Begründungenu3 • Daß nur mit deren Hilfe sachgerechte Ergebnisse gefunden werden können, zeigt das Beispiel des starken Rauchers, aus dessen Kasse heimlich die letzten Markstücke gegen VO BFH, E IV 429/62 U BStBl 1964 III, S. 44; ebenso Urt. vom 11. September 1964 - BStBl 1965 III, S. 8. 91 Die Einschränkung des strafrechtlichen Eigentumsschutzes unter dem Gesichtspunkt der materiellen Interessenverletzung steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der modernen Dogmatik der Zueignungsdelikte; siehe dazu umfassend Rheineck, Zueignungsdelikte. 92 Z. B. bei der heimlichen Entnahme von einem Zentner Kartoffeln gegen vier Säcke a 12,5 kg. 93 Zur Diskussion stehen Ansätze, die auf das Fehlen eines entgegenstehenden Willens, das offensichtlich weichende Interesse, die Anwendung des Wertsummengedankens aus dem Zivilrecht, die Verneinung des Schutzbereichs des § 242 StGB usw. abheben.
V. Merkmale, die an vertragliche Beziehungen knüpfen
171
einen Geldschein ausgetauscht werden. Auf diese Art und Weise will sich der "Dieb" selbst die Zigaretten aus dem Automaten ziehen können. Eine Einschränkung der formalen Herrschaftsposition aus normativen Erwägungen ist unter Schutzwürdigkeits- und Schutzbedürftigkeitsaspekten gerade nicht geboten. Ähnliche Überlegungen sind in all den Fällen anzustellen, in denen z. B. bei chronischer Parkplatznot heimlich das letzte Münzgeld ausgetauscht wird. Eine faktische Betrachtungsweise ließe derartige Differenzierungen nicht zu. Auch die Beispiele zur Auslegung des Merkmals fremde Sache in §§ 242, 246 StGB zeigen, daß die faktische Betrachtungsweise ein für den kontrollierten Verstehensprozeß im Rahmen der Auslegung untaugliches Prinzip darstellt. Vor der faktischen Betrachtungsweise ist deshalb zu warnen, weil sie die Gedanken und Gründe bei der Auslegung nicht erhellt, sondern vernebelt. Da sie inhaltlich nicht fixiert ist, verdeckt oder verkürzt sie - in den meisten Fällen sicherlich unbewußt - die wirklichen Gründe der Entscheidung. Sie gefährdet damit die Rationalität der Rechtsfindung und öffnet darüber hinaus das Tor zur (verdeckten) Willkür.
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